Literaturdidaktik - bücher.de · 2020. 11. 7. · Literaturdidaktik ist die Wissenschaft vom...

20

Transcript of Literaturdidaktik - bücher.de · 2020. 11. 7. · Literaturdidaktik ist die Wissenschaft vom...

  • Literaturdidaktik

  • Akademie Studienbücher

    Literaturwissenschaft

  • Martin Leubner, Anja Saupe, Matthias Richter

    Literaturdidaktik

    Akademie Verlag

  • Die Autoren:Prof. Dr. Martin Leubner, Jg. 1961, Professor für Didaktik der deutschen Literaturan der Universität PotsdamProf. Dr. Anja Saupe, Jg. 1963, Professorin für Didaktik der deutschen Sprache undLiteratur am Institut für Germanistik der Universität LeipzigStudiendirektor Dr. Matthias Richter, Jg. 1957, Fachleiter am Studienseminar Cellefür das Lehramt an Gymnasien, Celle

    Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der DeutschenNationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.d-nb.de abrufbar.

    ISBN 978-3-05-004542-9© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2010

    www.akademie-studienbuch.dewww.akademie-verlag.de

    Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706.Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. KeinTeil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeinerForm – durch Fotokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren – repro-duziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen,verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden.

    Einband- und Innenlayout: milchhof : atelier, Hans Baltzer BerlinEinbandgestaltung: Kerstin Protz, Berlin, unter Verwendung von Lesendes Mädchen

    (Girl with Book) © Steve Joester.Satz: Druckhaus „Thomas Müntzer“ GmbH, Bad LangensalzaDruck und Bindung: CS-Druck CornelsenStürtz GmbH, Berlin

    Printed in Germany

  • Literaturdidaktik

    1 Was ist Literaturdidaktik? 91.1 Literaturdidaktik als wissenschaftliche Disziplin 111.2 Die Arbeitsbereiche der Literaturdidaktik 121.3 Zur Geschichte der Literaturdidaktik 151.4 Kompetenzorientierung als Herausforderung 22

    2 Ziele des Literaturunterrichts 252.1 Funktionen von Literatur 272.2 Textverstehen als zentrales Ziel 332.3 Lesemotivation und Wissen über Literatur 362.4 Bildungsziele und Ziele des Literaturunterrichts 37

    3 Ziele und Kompetenzen 413.1 Sind Ziele Kompetenzen? 433.2 Ein Kompetenzmodell für das Textverstehen 443.3 Eine Erweiterung des Kompetenzmodells 503.4 Exkurs: Alternative Textverstehensmodelle 52

    4 Kompetenzen und Lernen 574.1 Textverstehenskompetenz und Lernen 594.2 Textanalyse, Interpretation und Wirklichkeitsbezug 604.3 Strategieorientierte Texterschließung 674.4 Textverstehen, Wissenserwerb und Unterrichtsplanung 70

    5 Kompetenzen und literarische Sozialisation 735.1 Literarische Sozialisationsforschung 755.2 Verlaufsformen literarischer Sozialisation 755.3 Faktoren literarischer Sozialisation 805.4 Verlaufsformen von Kompetenzerwerb 83

    6 Epische Texte 896.1 Ziele 916.2 Textauswahl 946.3 Kategorien für die Textanalyse 976.4 Die methodische Gestaltung von Unterricht 101

    7 Lyrische Texte 1057.1 Ziele 1077.2 Textauswahl 1117.3 Kategorien für die Textanalyse 1137.4 Die methodische Gestaltung von Unterricht 117

    5

  • 8 Dramatische Texte 1218.1 Ziele 1238.2 Textauswahl 1268.3 Kategorien für die Textanalyse 1298.4 Die methodische Gestaltung von Unterricht 131

    9 Literaturgeschichte und Kanon 1359.1 Warum ältere Texte? Bestandsaufnahme und Ziele 1379.2 Kanon und Textauswahl 1399.3 Text und Kontext 1419.4 Literaturgeschichtliches Überblickswissen 144

    10 Methoden: Das Wie des Unterrichts 15110.1 Methoden, Sozialformen und Arbeitstechniken 15310.2 Das Unterrichtsgespräch 15410.3 Die Textanalyse und verwandte Verfahren 15710.4 Handlungs- und produktionsorientierter Unterricht 159

    11 Phasierung des Unterrichts 16711.1 Phasenmodelle im Überblick 16911.2 Phasen im Überblick 17011.3 Phasierung von Unterrichtssequenzen 17711.4 Exkurs: Textwiedergabe 179

    12 Aufgabenanalyse und -konstruktion 18112.1 Aufgabentheorie 18312.2 Aufgabenformat und Lenkung 18512.3 Offenes und geschlossenes Format: Leistungen 18912.4 Zum Schwierigkeitsgrad von Aufgaben 192

    13 Literaturunterricht als Medienunterricht 19713.1 Mediendidaktik Deutsch 19913.2 Filmdidaktik 20313.3 Kategorien für die Filmanalyse 20613.4 Die methodische Gestaltung von Unterricht 210

    14 Herausforderungen 21314.1 Fächerübergreifender Unterricht 21514.2 Lernbereichsintegration 21714.3 Interkultureller Literaturunterricht 22014.4 Zum Schluss: Die gute Lehrerin, der gute Lehrer 222

    6

    INHALT

  • 15 Serviceteil 22715.1 Allgemeine bibliografische Hilfsmittel 22715.2 Institutionen und Verbände 22815.3 Unterrichtsentwürfe für Sequenzen 22915.4 Unterrichtsentwürfe für Einzelstunden 232

    16 Anhang 23716.1 Zitierte Literatur 23716.2 Abbildungsverzeichnis 24816.3 Sachregister 25016.4 Glossar 253

    7

    INHALT

  • 1 Was ist Literaturdidaktik?

    Abbildung 1: Bertolt Brecht: Apfelböck oder Die Lilie auf dem Felde (1919), Fotografie(Tafelanschrieb) (2010)

    9

  • Der Deutschlehrer Gerhard Hiecke schrieb in seiner Klasse in Rei-chenbach /Vogtland diese Zeilen an die Tafel und fragte seine Schü-ler: „Ist das ein Gedicht?“. Dieser Unterrichtseinstieg fand um 1970statt. Unter den Schülern war der spätere Schriftsteller Jürgen Fuchs,der sich fast zwanzig Jahre danach noch deutlich an diesen Unter-richtseinstieg erinnert: „Wir waren schockiert!“ (Fuchs 1992, S. 11).Dem Lehrer war ein Coup gelungen: Literatur – hier der Beginn vonBertolt Brechts Ballade „Apfelböck oder Die Lilie auf dem Felde“(1919) – ermöglichte den Schülern eine offenbar atemverschlagendeErfahrung. Der Fortgang der Unterrichtsstunde ist leider nicht über-liefert. Vermutlich aber haben die Schüler das Gedicht erschlossenund dabei die auch im Text angelegte, durch den Unterrichtseinstiegfokussierte Verneinung literarischer (und moralischer) Konventionendurch die Darstellung eines motiv- und reuelosen Elternmordes erar-beitet. Natürlich sollen Deutschlehrer nicht in jeder Literaturstundeeinen derart provokanten Text auf provokante Weise vermitteln.Doch sollen sie den Unterricht so gestalten, dass die Schüler die vonder Literatur gebotenen Möglichkeiten zu überraschenden und mit-unter schockierenden Erfahrungen nutzen können. Damit Unterrichtdieser Art nicht nur den seltenen ‚geborenen‘ Lehrern (zu denen Hie-cke zählen dürfte) gelingen kann, ist eine literaturdidaktische Grund-legung des Unterrichts notwendig.

    Die Literaturdidaktik befasst sich mit Lehr- und Lernprozessen, dieLernende in einem ergiebigen Umgang mit Literatur fördern sollen.Im Folgenden wird sie in systematischer und historischer Perspektivevorgestellt: Was macht ihren Charakter als wissenschaftliche Diszi-plin aus? Welche Aspekte des Umgangs mit Literatur untersucht sie?Welche Konzeptionen und welches Selbstverständnis hat sie im Laufihrer Geschichte entwickelt? Der historische Abriss stellt teilweise bisheute wirkungsmächtige Ansätze vor und zeigt die Folie auf, vor dergegenwärtige Konzeptionen entstehen und sich bewähren müssen.Zur historischen Dimension gehört neben dem knappen Blick zurückauch der Blick auf aktuelle Herausforderungen der Literaturdidaktikund die Frage, wodurch sich eine zeitgemäße literaturdidaktischeKonzeption auszeichnet.

    1.1 Literaturdidaktik als wissenschaftliche Disziplin1.2 Die Arbeitsbereiche der Literaturdidaktik1.3 Zur Geschichte der Literaturdidaktik1.4 Kompetenzorientierung als Herausforderung

    10

    WAS IST LITERATURDIDAKTIK?

  • 1.1 Literaturdidaktik als wissenschaftlicheDisziplin

    Literaturdidaktik ist die Wissenschaft vom Lehren und Lernen derLiteratur. Diese Definition folgt dem gängigen weiten Begriff von Di-daktik als Wissenschaft vom Lehren und Lernen (vgl. Kron 2008,S. 36) und benennt die Literatur als spezifischen Gegenstand derLehr- und Lernprozesse (vgl. Zabka 2007a, S. 446). Die entsprechen-den Prozesse finden – zumindest soweit es sich um solche des be-wussten Lehrens und Lernens handelt – vor allem im Literaturunter-richt im Rahmen des Deutsch- oder Fremdsprachenunterrichts statt.

    Die Literaturdidaktik hat zum ersten die Aufgabe, theoriegestützteKonzeptionen für die Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen imLiteraturunterricht zu entwickeln. Die entsprechenden Konzeptionendienen der kritischen Analyse der aktuellen Unterrichtspraxis undder Entwicklung von Modellen und Prinzipien, die für die Gestaltungdes Unterrichts genutzt werden können. Diese Aufgabe verpflichtetdie Literaturdidaktik auf Praxisnähe und einen Beitrag zur Verbes-serung von Unterricht.

    Die Entwicklung von didaktischen Theorien wird zum zweiten er-gänzt durch empirische Forschung bzw. erfolgt im Zusammenspielmit ihr. Die Literaturdidaktik erforscht aktuellen Unterricht: Ins-besondere die Praxistauglichkeit der theoretisch entwickelten Unter-richtsmodelle und -prinzipien sowie die Verstehensleistungen undLernstände von Schülern; außerdem werden Unterrichtsmaterialienwie beispielsweise Lehrbücher untersucht. Die Ergebnisse dieser Un-tersuchungen werden vor allem dafür genutzt, neue Theorien zu ent-wickeln, die die Unterrichtspraxis verbessern sollen.

    Ein dritter Aufgabenkomplex umfasst die Auseinandersetzung mitder eigenen Disziplin. Diese Auseinandersetzung ist zum einen wissen-schaftstheoretisch angelegt. Dabei ist sie teils theoretisch orientiert, in-dem sie Selbstverständnis, Methodologie und Terminologie der Litera-turdidaktik reflektiert, teils historisch, indem sie die Geschichte derLiteraturdidaktik und des Literaturunterrichts untersucht. Zum ande-ren richtet sich die Auseinandersetzung auf eine unmittelbar gesell-schaftliche Frage: Die Literaturdidaktik beteiligt sich an der Diskussionüber den Stellenwert von Literaturunterricht in unserer Gesellschaft.

    Die Literaturdidaktik ist eine junge Wissenschaft; erst in den1960er- /1970er-Jahren konnte sie sich als wissenschaftliche Disziplinan Universitäten etablieren. Bei ihrer Entwicklung von theoretischenKonzeptionen und ihren empirischen Untersuchungen kann sie das

    Entwicklung vonKonzeptionen

    EmpirischeUntersuchungen

    Selbstreflexion

    Literaturdidaktik alsWissenschaft

    11

    LITERATURDIDAKTIK ALS WISSENSCHAFTLICHE DISZIPLIN

  • Instrumentarium anderer Wissenschaften als Unterstützung nutzen;aber dieses Instrumentarium kann eigene Forschungsverfahren nichtersetzen.

    Es ist strittig, wo die Literaturdidaktik im Ensemble der Wissen-schaften zu verorten ist. Besonders plausibel ist ihre Zuordnung zurLiteraturwissenschaft: Die Literaturwissenschaft wird definiert alsWissenschaft, deren Gegenstand die Literatur ist; die Literaturdidak-tik ist eine der Teildisziplinen der Literaturwissenschaft, indem sie –als angewandte Literaturwissenschaft – diesen Gegenstand unter derPerspektive von Lehr- und Lernprozessen untersucht. Die Eigenstän-digkeit der Literaturdidaktik mit eigenen Forschungsinteressen und-methoden wird durch diese Zuordnung aber nicht infrage gestellt.

    Zugleich ist die Literaturdidaktik eng auf Forschungen bezogen,die sich mit Lehr- und Lernprozessen vorzugsweise im Unterricht be-fassen. Weil es eine ‚Lehr- und Lernwissenschaft‘ oder ‚Unterrichts-wissenschaft‘ jedoch nicht als eigenständige Disziplin an deutschenHochschulen gibt, sind andere Disziplinen als engere Bezugswissen-schaften zu nennen: Die Pädagogik /Erziehungswissenschaft mit derTeildisziplin der Allgemeinen Didaktik und die Psychologie mit denTeildisziplinen der Entwicklungspsychologie, der pädagogischen Psy-chologie, der Lernpsychologie und der Kognitionspsychologie, diedas Verstehen von Texten untersucht. Als weitere Bezugswissenschaftkommt die Medienwissenschaft hinzu; sie spielt durch die zunehmen-de Integration von Medien in den Literaturunterricht eine wichtigeRolle für die Literaturdidaktik. Zudem nutzt die Literaturdidaktikweitere Wissenschaften, etwa die Soziologie und die Theaterwissen-schaft. Von besonderer Bedeutung ist die Kooperation mit derSprachdidaktik in grundlegenden Fragen des Deutschunterrichts(>ASB BUDDE/RIEGLER /WIPRÄCHTIGER-GEPPERT).

    Weil die Lehr- und Lernprozesse im Literaturunterricht eine Viel-zahl von Aspekten betreffen, die durch ganz unterschiedliche Dis-ziplinen erforscht werden, muss die Literaturdidaktik (auch) interdis-ziplinär ausgerichtet sein. Diese Ausrichtung lässt jedoch eineZuordnung der Literaturdidaktik zur Literaturwissenschaft nicht hin-fällig werden.

    1.2 Die Arbeitsbereiche der Literaturdidaktik

    Es gibt unterschiedliche Faktoren, die Lehr- und Lernprozesse positivoder negativ beeinflussen. Die Didaktik untersucht diese Faktoren;

    Literaturdidaktikals Teil der

    Literaturwissenschaft

    Interdisziplinarität

    12

    WAS IST LITERATURDIDAKTIK?

  • dementsprechend ergeben sich die Arbeitsbereiche der Literaturdi-daktik, indem die für den Literaturunterricht entscheidenden Fak-toren systematisiert werden. Dabei kann die Literaturdidaktik aufModelle der Allgemeinen Didaktik zurückgreifen (vgl. etwa Heimann1970). Die folgenden Faktoren sind für Lehr- und Lernprozesse imLiteraturunterricht wesentlich (vgl. Zabka 2007a, S. 446f):1. Ziele2. Inhalte /Gegenstände3. Methoden und Medien4. Schüler bzw. Lernvoraussetzungen der Schüler5. institutionelle und normative Rahmenbedingungen.Die Faktoren eins bis drei sind für das sogenannte Entscheidungsfeldmaßgeblich: In diesem Feld müssen didaktische Entscheidungen fürdie Planung von Unterricht getroffen werden. Die Faktoren vier undfünf bestimmen das Bedingungsfeld, das für die Unterrichtsplanungzu berücksichtigen ist: die individuellen Bedingungen (die Schüler alsSubjekte in Lernprozessen) und die überindividuellen Bedingungen(die Gesellschaft, die einen organisatorischen und normativen Rah-men für den Unterricht festlegt).

    1. Die Ziele des Literaturunterrichts werden traditionell auf derGrundlage von Funktionen der Literatur und von bildungstheoreti-schen Konzeptionen diskutiert. Dabei wird berücksichtigt, welcheWissensbestände, Fertigkeiten, Fähigkeiten und Haltungen die Schü-ler erwerben sollen. Der Literaturunterricht zielt, so der literaturdi-daktische Konsens, auf eine ergiebige Beteiligung an der literarischenKommunikation ab, die unterschiedliche Arten der Produktion undRezeption literarischer Texte umfasst. Insbesondere wird auf dasVerstehen der Texte Wert gelegt (> KAPITEL 2). Die allgemeinen Zielewerden den Besonderheiten von Schülern und Texten entsprechendkonkretisiert, es werden Ziele für Jahrgangsstufen, für einzelne Gat-tungen etc. festgelegt.

    Aktuell diskutiert wird vor allem der Stellenwert von Kompeten-zen als Ziele des Literaturunterrichts (> KAPITEL 3). Dabei wird dieEntwicklung von Kompetenzmodellen angestrebt, die Antworten aufdie Frage geben, welche Verstehensleistungen literarische Texte erfor-dern und wie sich diese Verstehensleistungen unter Berücksichtigungvon Teilleistungen und Anforderungsniveaus systematisieren lassen.Diese Kompetenzmodelle sollen dann die Grundlage für normativeEntscheidungen über Ziele des Literaturunterrichts bilden.

    Wir wissen nicht, inwiefern der Lehrer Hiecke für die Planung sei-ner oben erwähnten Unterrichtstunde zu Bertolt Brechts Ballade Ap-

    Arbeitsbereiche derLiteraturdidaktik

    Ziele

    13

    DIE ARBEITSBEREICHE DER LITERATURDIDAKTIK

  • felböck oder Die Lilie auf dem Felde auf Zielbestimmungen der zeit-genössischen Literaturdidaktik zurückgegriffen hat. Doch dürften fürdie Unterrichtsstunde neben dem Ziel der Texterschließung auchübergeordnete Bildungsziele maßgeblich gewesen sein, und zwar dieEntwicklung von Haltungen, wie sie Jürgen Fuchs später erläuterthat. Eine „Suchhaltung, die nicht aufgibt“, und eine „humane Orien-tierung“, die nichts anderes heiße „als klar zu wissen, dass der eineauch der andere sein könnte. Und dass wir alle immer partiell imIrrtum leben, dass keiner – und zu keiner Zeit – die Wahrheit fürsich gepachtet hat.“ (Fuchs 1992, S. 7)

    2. Die Literaturdidaktik fragt nach dem bildenden Potenzial vonliterarischen Texten und Textgruppen bzw. nach dem Beitrag, densie zum Erreichen von Zielen (für bestimmte Jahrgangsstufen) leistenkönnen. Dazu werden die Texte mithilfe literaturwissenschaftlicherVerfahren erschlossen und auf dieser Grundlage dann didaktisch re-flektiert. Diese Reflexion soll auch die Frage beantworten, welcheTexte und Textgruppen überhaupt Eingang in den Unterricht findenund welche für den Unterricht kanonisch sein sollen (> KAPITEL 6, 7, 8,9). Dabei ist die Frage nach der Integration von Medienproduktionenwie Spielfilmen in den Unterricht zu berücksichtigen (> KAPITEL 13). –Hiecke dürfte für seine Unterrichtsstunde Brechts Ballade selbst er-schlossen haben. Vermutlich hat er dabei vor allem die in ihr ange-legte Kontrastierung eines motiv- und reuelosen Verbrechens mitVersatzstücken traditioneller Naturlyrik und konventioneller Ansich-ten über die Familie als didaktisch relevant eingeschätzt.

    3. Die Literaturdidaktik erforscht die Verfahren, mit deren HilfeLernprozesse – für den Umgang unterschiedlicher Lerngruppen mitunterschiedlichen Texten – gestaltet werden sollen, damit Lernzieleerreicht werden können. Dabei werden außer Methoden und Sozial-formen (> KAPITEL 10) auch unterschiedliche Möglichkeiten berücksich-tigt, wie sich Lernprozesse strukturieren lassen (> KAPITEL 11). In einemweiteren Sinn gehören auch Aufgabenstellungen zu den Verfahren, diefür Lernprozesse maßgeblich sind (> KAPITEL 12). Außerdem werdenLernmedien wie Lesebücher auf ihre Funktion für Lernprozesse hin un-tersucht. – Für den überraschenden Einstieg der Unterrichtsstunde zuApfelböck oder Die Lilie auf dem Felde hat sich der Lehrer Hiecke –sicherlich mit Bedacht und vielleicht unter Rückgriff auf methodischeKonzeptionen – für ein Unterrichtsgespräch im Rahmen des sogenann-ten Frontalunterrichts entschieden.

    4. Die Literaturdidaktik beschäftigt sich mit den Lernvorausset-zungen, die Schüler in den Unterricht mitbringen, insbesondere mit

    Gegenstände

    Methoden …

    … und Lernmedien

    14

    WAS IST LITERATURDIDAKTIK?

  • den folgenden Fragen: Welche Verstehensleistungen können sie inwelchem Alter erzielen? Welche Interessen, welche Motivation undwelche Fähigkeiten zum Umgang mit Literatur bringen sie in denLiteraturunterricht mit? In welchen Bereichen soll der Unterrichtinsbesondere versuchen, unterschiedliche Lernvoraussetzungen derSchüler auszugleichen? Zur Beantwortung dieser Fragen nutzt die Li-teraturdidaktik Forschungen der Entwicklungspsychologie, der Lern-psychologie und der Lesesozialisationsforschung (> KAPITEL 4, 5). –Hiecke hat seinen Schülern (und nicht nur dem wohl literarisch be-sonders interessierten Schüler Fuchs) offenbar aufgrund ihres Altersund ihrer literarischen Vorbildung zugetraut, die doppelte Provokati-on durch die Ballade Brechts und das besondere Unterrichtsarrange-ment produktiv zu nutzen.

    5. Die Literaturdidaktik reflektiert die institutionellen und norma-tiven Bedingungen, die den Rahmen für Entscheidungen über Ziele,Gegenstände und Methoden des Literaturunterrichts vorgeben. Dieinstitutionellen Rahmenbedingungen richten sich auf die äußere Or-ganisation von Unterricht: die Struktur des Schulsystems (Dauer derSchulzeit, Gliederung in Schultypen) und die Struktur der Unter-richtsorganisation (Orientierung an der etablierten Unterscheidungvon Schulfächern, Abkehr von ihnen z. B. durch Hinwendung zurProjektarbeit unter Integration des Literaturunterrichts). Die norma-tiven Rahmenbedingungen bestimmen die Ziele des Unterrichts unddie Verfahren, nach denen Evaluationen und Prüfungen vorgenom-men werden sollen. Solche Rahmenbedingungen (vor allem Bildungs-standards und Lehrpläne) entstehen auf der Grundlage der gesell-schaftlichen Anforderungen an die Schule und werden von denBildungsministerien verantwortet. – Der Literaturunterricht Hieckesin der DDR der 1970er-Jahre wurde von Lehrplänen mit engen Vor-gaben bestimmt; er bot aber auch Freiräume, beispielsweise für dieBeschäftigung mit dem kaum im sozialistischen Sinne deutbaren Textvon Bertolt Brecht.

    1.3 Zur Geschichte der Literaturdidaktik

    Einen institutionalisierten Literaturunterricht gibt es an deutschenSchulen erst seit dem 19. Jahrhundert. Dennoch hat auch schon zu-vor literarisches Leben und Lernen in den Schulen stattgefunden. Soetablierte sich im 17. Jahrhundert in der Folge der Reformation inden protestantischen Ländern das Schulspiel. Einzelne pädagogisch

    Lernvoraussetzungender Schüler

    Institutionelle und …

    … normativeRahmenbedingungen

    Schulspiel im17. Jahrhundert

    15

    ZUR GESCHICHTE DER LITERATURDIDAKTIK

  • auf der Höhe der Zeit stehende Lehrer wie Gottfried Hoffmann, der inLauban und Zittau wirkte, schrieben Dramen, die von ihren Schülernaufgeführt wurden. Hoffmann hat sich auch programmatisch zumSchulspiel geäußert und damit (ähnlich wie auch die im Folgenden ge-nannten Autoren) Literatur didaktisch reflektiert, lange bevor sich dieLiteraturdidaktik als Wissenschaft etablierte. Zwar hat er dabei vor al-lem die Eignung seinerWerke für die Vermittlung religiöser Lehren dar-gelegt, zugleich jedoch bereits in grundsätzlicher Weise den Nutzen ei-ner Beschäftigung mit Literatur in der Schule aufgezeigt.

    Als in der Aufklärung eine spezifische Kinder- und Jugendliteraturentwickelt wurde, haben einzelne Aufklärer bzw. Philanthropen(Menschenfreunde) wie Christian Gotthilf Salzmann in Schnepfenthal(Thüringen) und Eberhard von Rochow in Reckan (Preußen /Bran-denburg) Lesebücher mit moralischen Erzählungen geschrieben – zu-nächst für die von ihnen selbst gegründeten und für ihre Zeit muster-gültigen Schulen. Vor allem von Rochows Textsammlung DerKinderfreund (1776) hat Epoche gemacht. Die kurzen Lesestücke indiesem Werk bieten Beispielerzählungen, in denen die Tugendhaftenbelohnt und die Lasterhaften bestraft werden. So konnten die Schülerbeispielsweise in der Erzählung Die neidische Nachbarin lesen, dasseine Bauersfrau, die keinem Menschen etwas Gutes gönnte, offenbarals Folge ihrer Missgunst stets kränkelte – und schließlich in ihrenbesten Jahren starb, als sie hörte, dass eine andere Frau im Dorf100 Taler geerbt hatte. Über diese und andere Erzählungen, die je-weils von einem Laster oder auch einer Tugend handeln, wurde invon Rochows Schule mit den Schülern gesprochen. Von Rochow hatmit dem von ihm eingestellten Lehrer Heinrich Julius Bruns – derspäter mit einem Denkmal mit der Inschrift „Er war ein Lehrer“ ge-ehrt wurde! – eine Zeitlang täglich entsprechende Gespräche geübt,wobei sich beide in den Rollen von Lehrer und Schüler abwechselten.Die Schüler sollten, so die Absicht und Kunst des Gesprächs, den mora-lischen Gehalt der Erzählungen verstehen und unter Nutzung von Bei-spielen aus der Lebenswirklichkeit auf ihre eigene Realität anwendenkönnen. Von Rochow und andere Philanthropen haben auf diese WeiseLiteratur als einen Gegenstand im Unterricht etabliert, der Schülern beider Orientierung in der Welt (der Erwachsenen) helfen sollte, und siehaben dabei auf ein methodisches Verfahren gesetzt, mit dessen HilfeSchüler durch eigenes Nachdenken ein Verständnis von Texten – mitallerdings nur geringemDeutungsspielraum – entwickelten.

    Die preußischen Reformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurdenim Bildungswesen von dem neuen Bildungsideal geleitet, dass die

    Epoche derAufklärung

    Der Kinderfreund

    19. Jahrhundert

    16

    WAS IST LITERATURDIDAKTIK?

  • Schule ihre Schüler zu selbstständigen Menschen mit vielfältigen Inte-ressen erziehen sollte. Zugleich konnte sich die Überzeugung von derbildenden Kraft von Sprache und Literatur durchsetzen – mit demErgebnis, dass sich (zunächst) am Gymnasium ein muttersprachlicherLiteraturunterricht herausbildete. Für den neu etablierten Unter-richtsgegenstand wurden in der Folge didaktische Konzeptionen ent-wickelt.

    Robert Heinrich Hiecke, Konrektor des Merseburger Gymnasi-ums, legte 1842 eine Epoche machende programmatische Schrift,Der deutsche Unterricht auf deutschen Gymnasien, vor. Hiecke plä-diert darin für eine systematische Beschäftigung mit deutschsprachi-gen literarischen Texten auch der jüngeren Vergangenheit am Gym-nasium. In den von ihm empfohlenen „Interpretationsstunden“sollen die Schüler sich durch Textanalyse und -interpretation ebensomit dem „Warum der erzählten Handlungen und Begebenheiten, derThatsachen, Situationen und Behauptungen“ wie mit dem „Warumder Darstellung“ beschäftigen (Hiecke 1842, S. 101f.). Der Interpre-tationsunterricht zielte nicht nur auf ein Verständnis der untersuch-ten Werke, sondern auch auf das Lernen grundlegender Merkmaleliterarischer Texte und – etwa durch Textvergleiche – auf ein kriti-sches Urteilsvermögen in Bezug auf die Qualität von Texten.

    Fast zeitgleich, 1843, erschien von dem Gymnasiallehrer PhilippWackernagel ein dreibändiges Lesebuch, dem unter dem Titel DerUnterricht in der Muttersprache grundlegende didaktische Erläute-rungen beigefügt waren. Wackernagel plädiert darin für einen Litera-turunterricht, der ein Gegengewicht zur rationalen Erschließung vonPhänomenen unterschiedlicher Art in verschiedenen Fächern bildet:mit „ganzer Hingebung und Theilnahme“ sollten Werke deklamiertund memoriert werden, um eine „innerliche Vereinigung“ des Her-zens des Schülers mit der Dichtung zu fördern. Der Lehrer solle dieWerke nicht „zerklären“ (Wackernagel 1843, S. 92, 97f., 99). DieseAblehnung von Textuntersuchung und kritischer Reflexion hatte Fol-gen: „Das Präfix ‚zer-‘ in ‚zerreden‘, ‚zerklären‘ und ‚zerpflücken‘wird zum Signum einer Haltung“, so der Flensburger Germanist undLiteraturdidaktiker Horst-Joachim Frank in seiner grundlegendenGeschichte des Deutschunterrichts (1973), „die dem Fühlen denhöchsten Wert zuspricht, dem ‚zersetzenden‘ Verstand aber zutiefstmisstraut. Es ist die Haltung eines traditionellen deutschen Irrationa-lismus, der den Geist als Widersacher der Seele begreift und be-kämpft.“ (Frank 1973, S. 301) Einer angemessenen Verbindung derTextuntersuchung und der Berücksichtigung von Empfindungen im

    „Interpretations-stunden“

    „Hingebung undTheilnahme“

    17

    ZUR GESCHICHTE DER LITERATURDIDAKTIK

  • schulischen Umgang mit Literatur ist eine solche einseitige Haltungnicht förderlich gewesen.

    Im deutschen Kaiserreich wurde Hieckes Anliegen, literarischeTexte in der Schule zu untersuchen und kritisch zu reflektieren,zudem durch nationalkonservativ geprägte didaktische Entwürfe be-schädigt. Für den Deutschunterricht wurden „deutschkundlich“ ori-entierte Konzeptionen entwickelt, die die Vermittlung von „deut-schem Volkstum“ als zentrale Aufgabe des Unterrichts bezeichneten.Nach 1900 wurden jedoch von der Reformpädagogik zukunftswei-sende Konzeptionen erarbeitet. Aus diesen Konzeptionen ging diekurz nach dem ersten Weltkrieg veröffentlichte Schrift Vom Deutsch-unterricht in der Arbeitsschule (1922) von Lotte Müller hervor. Mül-ler betont, dass der Lehrer „nicht Übermittler des Stoffs“ sei. DerLehrer stellt den Stoff „nur bewußt und planmäßig bereit“, „er istnicht Leiter des Arbeitsvorgangs, der durch Fragen und Befehle denVerlauf der Unterrichtsstunde bestimmt; aber er schult die Klassederart, daß sie selbst die Führung zu übernehmen vermag.“ (Müller1922, S. 1). Die Schüler sollen also selbstständig mit Texten arbeiten– und das können sie nach Müller auch:

    „Eine Erzählung z. B. gibt durch sich selbst Veranlassung zumWiedererzählen, zum Herausfinden des Problems, zum Ausschmü-cken von Situationen, zum Forschen nach Ursachen und Gründen,zur Vertiefung in das Seelenleben u. dergl. m.“ (Müller 1922,S. 4)

    In der Weimarer Republik, der ersten deutschen Demokratie, konn-ten sich keine grundlegend neuen Konzeptionen für den Literatur-unterricht durchsetzen. Nur vereinzelt wurde für einen lebensweltlichausgerichteten Unterricht plädiert, der Schüler durch die Behandlungmoderner Literatur mit der literarischen und gesellschaftlichen Mo-derne vertraut machen sollte. Entsprechende didaktische Entwürfe,etwa von Walter Schönbrunn, blieben allerdings ohne große Reso-nanz und konnten so keinen Beitrag zu einer Hinwendung der Ju-gend zur demokratischen Republik leisten.

    Die Herrschaft der Nationalsozialisten führte zu einer entschiede-nen Politisierung des Deutschunterrichts, der jetzt als Propagandains-trument für völkische Ideologien dienen sollte. Angestrebt wurdenun, so Johann Georg Sprengel in seinen Vorschlägen für die Neu-gestaltung des Unterrichts an höheren Schulen im nationalen Staat(1933), das „Eintauchen der jugendlichen Seelen in die Werteweltder deutschen Nation“ (Sprengel 1933, S. 578). Die kritische Reflexi-on war dabei so wenig gefragt wie die Literatur der Aufklärung.

    1871–1918Kaiserreich

    Weimarer Republik1918–33

    Nationalsozialismus

    18

    WAS IST LITERATURDIDAKTIK?

  • Staatlich vorgegebene Literaturlisten sorgten für die Auswahl vonWerken, die im Sinne der Nationalsozialisten gelesen werden konn-ten.

    In der Zeit von 1945 bis zum Beginn des neuen Jahrtausends las-sen sich fünf bedeutsame literaturdidaktische Strömungen unterschei-den:

    I. In der Nachkriegszeit begründeten literaturdidaktische Konzep-tionen den schulischen Umgang mit Literatur durch ihre sinnstiftendeFunktion: Sie erlaube die Auseinandersetzung mit „über Zeiten undRäume hinweg […] immer gleichen, immer von neuem aufbrechen-den Grundfragen“, für deren Darstellung jede Zeit „ihre eigenenSymbole“ nutzt (Essen 2002, S. 314). Literatur könne, so auch Ro-bert Ulshöfer, der neben Essen bedeutendste Didaktiker der Zeit, hu-mane Werte vermitteln und dem Individuum eine Art Lebenshilfebieten. Die bedeutenden Werke von Robert Ulshöfer und Erika Essenempfehlen die werkimmanente Interpretation und betonen zugleichdie Bedeutung des subjektiven Erlebens von Literatur (vgl. Ulshöfer1952; Essen 1956). Sie konzentrieren sich allerdings auf der Grund-lage dieser Überzeugungen auf die Vermittlung von Unterrichtsver-fahren, das heißt, sie sind im Wesentlichen Methodiken. – In derDDR gab es neben einer Konzentration auf methodische Fragenebenfalls eine Hinwendung zur Lebenshilfe-Didaktik; diese Orientie-rung ging im Laufe der 1950er-Jahre allerdings mit einer zunehmen-den Politisierung einher, mit der Forderung, den Unterricht an sozi-alistischen Idealen auszurichten (vgl. Göbel 1992).

    II. Anfang der 1960er-Jahre erfolgte in der Beschäftigung mit Lehr-und Lernprozessen, wesentlich durch den ErziehungswissenschaftlerWolfgang Klafki initiiert, die fällige Wende von der Methodik zur Di-daktik: Das Primat der Didaktik, für das Klafki eintritt, zielt darauf ab,vor den Methoden die Ziele und Inhalte zu bestimmen (vgl. Klafki1963). In der Deutschdidaktik hat Hermann Helmers mit seinerDidak-tik der deutschen Sprache aus dem Jahr 1966 ein systematischesModelldes Deutschunterrichts unter Berücksichtigung von Inhalten, Zielenund Methoden vorgelegt. Nach diesem Modell spielen Gattungen ne-ben Epochen eine zentrale Rolle für didaktische Überlegungen: derLehrplan sei, so Helmers, „primär aufzubauen nach dem System derGenres oder Epochen“ (Helmers 1971, S. 304); die Schüler sollen einBegriffsinstrumentarium erwerben, um Texte gattungs- und epochen-orientiert angemessen zu erschließen.

    Die genannten Entwicklungen erlaubten die Herausbildung derwissenschaftlichen Literaturdidaktik als Universitätsdisziplin – flan-

    Epoche nach 1945

    Lebenshilfe-Didaktik

    Sachstruktur-orientierte Didaktik

    19

    ZUR GESCHICHTE DER LITERATURDIDAKTIK