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6 Schwerpunktthema: HEIMAT Heimat von Dorothea Koch-Thalmann Heimat ist der selbstverständlichste Platz der Welt, der bei der Geburt einem Menschen zugeteilt wird. Dort bekommt man schon in früher Kind- heit die Prägung der Persönlichkeit, die man lebenslang nicht verliert. Wohl dem Menschen, der sich dessen gewiss ist und zu dem Ort, dem Land „ja“ sagt. Das macht lebensfä- hig. Schmerzlich, wenn Menschen aus dieser Geborgenheit durch frem- de Macht herausgerissen werden, denn sie werden lebenslang eine Schädigung davontragen, bewusst oder unbewusst und diese Belastung auch in die Gesellschaft hineintragen. Wie das bei mir seinen Anfang nahm, erzählt folgende Geschichte (Auszug aus meinem Buch „Mein Dorf oder die Reise rückwärts“, Ingrid Lessing Verlag). An einem wunderschönen Frühlings- sonntag (30. April 1946) liefen die Leute in Wüstewaltersdorf (Eulenge- birge, Schlesien) noch einmal in die Kirche, um einen Abschiedsgottes- dienst zu feiern. An der Gemeinde- verwaltung hatte plötzlich ein großes Plakat gehangen. Darauf stand zu lesen „Ab sofort müssen alle Deut- schen Schlesien verlassen“, also auch die Leute von Wüstewaltersdorf. „Amen!, schallte es durch die Kir- che, die bis auf den letzten Platz ge- füllt war. Der Gottesdienst war vorü- ber. Die Leute standen wohl auf, aber verließen nur zögernd die Kirche. Der Pfarrer hatte durch Predigt und Litur- gie versucht, Trost zu spenden, denn niemand wusste genau, was da ei- gentlich geschah und wie alles vor sich gehen sollte. Menschen sahen sich an, wischten sich die Augen, fielen sich in die Arme, gaben sich die Hände, Kinder wurden gestrei- chelt, Kopfnicken und Grüßen hin und her, Gespräche. Die Orgel hatte nicht aufgehört zu spielen, das dämpfte ein wenig den Abschieds- schmerz, den die Leute zunehmend nicht mehr voreinander verbargen. Das Weinen und Seufzen, schließlich das Schreien wurde immer lauter und die Leute, die schon fortgegangen waren, strömten zurück in das Got- teshaus. Plötzlich ordneten sich die Orgelklänge zu einem Lied. “Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen, er hilft uns frei aus aller Not, die uns jetzt hat betroffen“. Zu- erst zögerlich, dann lauthals sang die Gemeinde mit fester Stimme das Lied, ja alle Strophen, die bekannt waren. Es war wie ein Schwur, den die Menschen mit tränennassen Ge-

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6 Schwerpunktthema: HEIMAT

Heimat von Dorothea Koch-Thalmann

Heimat ist der selbstverständlichste Platz der Welt, der bei der Geburt einem Menschen zugeteilt wird. Dort bekommt man schon in früher Kind-heit die Prägung der Persönlichkeit, die man lebenslang nicht verliert. Wohl dem Menschen, der sich dessen gewiss ist und zu dem Ort, dem Land „ja“ sagt. Das macht lebensfä-hig. Schmerzlich, wenn Menschen aus dieser Geborgenheit durch frem-de Macht herausgerissen werden, denn sie werden lebenslang eine Schädigung davontragen, bewusst oder unbewusst und diese Belastung auch in die Gesellschaft hineintragen. Wie das bei mir seinen Anfang nahm, erzählt folgende Geschichte (Auszug aus meinem Buch „Mein Dorf oder die Reise rückwärts“, Ingrid Lessing Verlag).

An einem wunderschönen Frühlings-sonntag (30. April 1946) liefen die Leute in Wüstewaltersdorf (Eulenge-birge, Schlesien) noch einmal in die Kirche, um einen Abschiedsgottes-dienst zu feiern. An der Gemeinde-verwaltung hatte plötzlich ein großes Plakat gehangen. Darauf stand zu lesen „Ab sofort müssen alle Deut-schen Schlesien verlassen“, also auch die Leute von Wüstewaltersdorf.

„Amen!“, schallte es durch die Kir-che, die bis auf den letzten Platz ge-füllt war. Der Gottesdienst war vorü-ber. Die Leute standen wohl auf, aber verließen nur zögernd die Kirche. Der Pfarrer hatte durch Predigt und Litur-gie versucht, Trost zu spenden, denn niemand wusste genau, was da ei-gentlich geschah und wie alles vor sich gehen sollte. Menschen sahen sich an, wischten sich die Augen, fielen sich in die Arme, gaben sich die Hände, Kinder wurden gestrei-chelt, Kopfnicken und Grüßen hin und her, Gespräche. Die Orgel hatte nicht aufgehört zu spielen, das dämpfte ein wenig den Abschieds-schmerz, den die Leute zunehmend nicht mehr voreinander verbargen. Das Weinen und Seufzen, schließlich das Schreien wurde immer lauter und die Leute, die schon fortgegangen waren, strömten zurück in das Got-teshaus. Plötzlich ordneten sich die Orgelklänge zu einem Lied. “Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen, er hilft uns frei aus aller Not, die uns jetzt hat betroffen“. Zu-erst zögerlich, dann lauthals sang die Gemeinde mit fester Stimme das Lied, ja alle Strophen, die bekannt waren. Es war wie ein Schwur, den die Menschen mit tränennassen Ge-

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sichtern sangen. Schließlich hörte das Orgelspiel auf. Eine große Stille trat ein. Schweigend verließ die Gemein-de ihre Kirche. Ich stand allein da und weinte. Ab dem 4. Mai 1946 begann die Ver-treibung, der Weg in eine ungewisse Zukunft! Sieben Trecks (Leiterwägel-chen mit dem Nötigsten an Hab und Gut) verließen das Dorf. Am 19. Au-gust 1946 war auch für uns, meine Familie, Vater, Mutter, Schwester und mich der Tag gekommen. Polnische Miliz auf Pferden bewachte den „Auszug“. Vier Wochen dauerte die „Umsiedlung“, ehe wir uns in Siegen in einem winzigen Dachzimmerchen „wieder fanden“. Leid und Kummer versteckten wir, um endlich wieder ein normales Leben führen zu kön-nen.

Viele Jahre später besuchten wir das „Daheeme“, das ja polnisch gewor-den war. Die Luft, die Wälder, die Berge, die Kirche (nicht mehr alle Häuser) waren ja noch vorhanden und schafften ein starkes, glückliches Ur-gefühl. Ja, Gott hatte uns gehol-fen, so wie wir es damals gesungen hatten. Ich frage mich nur, was ist mit dem Leid, das wir durch den Krieg Men-schen und Ländern angetan haben. Leningrad, Stalingrad, Auschwitz seien hier nur stellvertretend genannt. Heute wird gefragt: „Was hat das eigentlich alles mit dir persönlich gemacht?“ Ich wollte, will es nicht wahrhaben. Aber ich merke, dass ich doch immer mal wieder der Traurig-keit anheimfalle. Das ist zu akzeptie-ren und bei Gott aufgehoben.

Februar 1945 –

eine Flucht aus Breslau von Barbara Wiegel

Anfang Februar 1945 ging meine Mutter mit uns drei Kindern (Heinrich - 8 Jahre, Martin - knapp 5 Jahre und mir, Barbara - 1 Jahr 4 Monate), un-serem Kindermädchen (Margret - 18 Jahre) von Fünfteichen bei Breslau aus auf die Flucht nach Göttingen zu

meinen Großeltern. Begleitet wurde sie dabei von Frau Tippel mit Sohn Uli, 2 Jahre alt. Mein Vater war Werksleiter des Berta-Werks von Krupp in Fünfteichen. Er verließ das Werk erst bei Einmarsch der Russen ins Werk und folgte dann mit Auto,

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Fahrrad und letztlich zu Fuß dem organisierten Werkstreck nach Langenbielau. Tippels waren Flücht-linge vom Baltikum, die mit in unse-rem Haus untergebracht worden wa-ren. Herr Tippel war Ingenieur und arbeitete ebenfalls im Werk. Aus dem Nachlass eines Onkels er-hielten wir Geschwister die Kopie eines Briefes unserer Mutter, in dem sie – noch sehr bewegt – über unsere Flucht nach Göttingen berichtet:

Göttingen, 17. Feb. 1945

Liebe Tante Else, liebe Tante Emmy,

na, Gott sei Dank wieder eine gute Nachricht. Habt Dank, dass Ihr ge-schrieben habt. Von Bruder Ulrich in Gnesen habe ich noch nichts gehört. Aber Tante Agnes hat eine Karte, jetzt aus Braunschweig, geschrieben. Ihre Wohnung in Teschen ist schon geplündert. Heute, soeben, kam auch vom Vati aus „Langenbielau, Krupp Werke Eulengebirge“ Post. Endlich hat er Nachricht bekommen, dass wir gut hier angelangt sind. Von sechs meiner sieben Karten ist nur eine angekommen, drei Telegramme an ihn kamen zurück. Keine Verbindung, keine Absatzmöglichkeit, es war schrecklich. Ich wusste, wo er steck-te. Er jedoch hatte uns zwar in den Zug in Fünfteichen gesetzt, wusste aber nicht, ob wir aus Breslau(!) rausgekommen waren. Dazu war er dauernd auf der Straße unterwegs und hat dort all das Elend gesehen. Sie haben vom Werk aus auch einen

Zug zusammengestellt für Frauen und Kinder. Der war 3 Tage unterwegs. War schon besser so, wie wir uns zur Flucht entschlossen hatten. Also bei uns ging‘s so los: Mittwoch-abend hörten wir beim Abtrocknen den Wehrmachtsbericht – wie immer. Und hörten, dass die Russen schon bis Tschenstochau waren. Da war die Flucht klar für uns. Und die Herren kamen vom Werk und bestätigten uns, dass wir jetzt alles dafür vorbe-reiten mussten. Noch am selben Abend haben wir Fluchtgepäck ge-macht. Zunächst Notgepäck – Provi-ant und Kinder, soviel man eben tra-gen kann, wenn es zu Fuß geht. Am nächsten Tag wurde alles für eine planmäßige Evakuierung vorbereitet, also Koffer, die im Zug mitgenom-men werden konnten. Als drittes Ge-päck kamen dann Koffer mit Wäsche, Betten usw. dran, die in den Waggon kamen. Am Donnerstagabend Alarm: russische Flieger. Freitag früh um 4.41 Uhr ging der Zug. Das Waggon-Gepäck wollte Vati dann besorgen, da noch in der Schwebe war, wie der Transport ablaufen sollte: ab Werk, ab Dorf oder so. Furchtbarer Sturm. Wir schafften trotz Hilfe von Vati und Herrn Tippel nur soeben das Gepäck und die Kinder. Eiskalt. Kein Zug nach Breslau. Also wir zurück. Am ganzen Freitag kein Zug westwärts, wir passten auf. Alles rollte ostwärts. Aus Breslau die Nachricht: Alles ver-stopft. Aus Militsch, Kreuzberg, Litzmannstadt flohen die Menschen über die Straße nach Westen. In Bres-

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lau freier Fahrkartenverkauf. Wir hat-ten schon Fahrkarten nach Göttingen zu den Großeltern. Überall wurde fieberhaft gearbeitet. In der Nacht sollte gerüchteweise das Aufgebot1 zum Treck aus dem Dorf kommen, aber zu uns kam nichts durch. Was kümmerte das Dorf die Werks-Siedlung. Es war immer so, in allem. Am Abend kam Vati zum Abendbrot. Wir saßen gerade. Tele-fon! Vati horcht, wiederholt: jawohl, alles fahrbereit machen usw. Wir standen auf, Vati hängt ein. Wohin? Ich muss zum Werk. Fort war er. Also, wir die Kinder geweckt, ange-zogen, was übereinander ging. Jedem seinen Tornister übergehängt, Brot und Butter drin. Wir dann auch, Wä-sche, Kleider doppelt. Ich mit Hand-tasche, Köfferchen mit Papieren und Babs auf dem Arm. Margret mit ih-rem kleinen Koffer, Proviant und Bärbels Sachen. Nachricht vom Vati: Aufbleiben, mit Werkstreck mitfahren etwa eine halbe Stunde später. Da noch etwas vom Notgepäck auf dem Bahnhof war, gingen Margret und ich es holen. Frau Tippel sollte mit den Kindern vorgehen zum Werkstreck. Wir also bei Sturm und Kälte mit Rädern los. Unterwegs hörten wir das Schießen der Panzer und sahen Licht aufflammen. Wir gingen weiter. Es blieb still und wurde stiller. Das war, wie sich später herausstellte, 20 - 25 km von uns entfernt. Zurückgekom-men, kam Vati vorbei, er ist etwas

1 Der Aufruf

stiller. Um 24 Uhr Nachricht: Mit Kleidern hinlegen und weitere Nach-richt abwarten. Alles ruhig. Also wir zum großen Entsetzen der Kinder mit Schuhen ins Bett. Um 4 Uhr morgens kam Vati, und wir beschlossen, unab-hängig von Dorf- oder Werks-Treck allein loszufahren. Unterwegs trafen wir die Leute aus dem Dorf, die jetzt zum Treck aufriefen. Doch schon in einer Stunde sollten alle fertig sein. Davon allein eine halbe Stunde für den Weg zum Dorf. Wir entschieden uns daher, doch allein zu fahren und es war das Beste. Nun warteten wir in Fünfteichen auf einen der regelmäßi-gen Werkszüge. Der kam und fuhr nun mit uns nach Breslau. Die Män-ner gingen zurück ins Werk.

Breslau Hauptbahnhof (alte Ansichtskarte)

In Breslau kam ein Zug nach Dres-den. Da ich den Bahnhof gut kannte, standen wir günstig, und zum Glück auch gerade vor dem Griff unseres Wagens. Mit etwas Ellenbogen und ein paar Redensarten stopfte, zog ich Frau Tippel mit Uli, dann die Kinder, dann Margret mit Gepäck ins Abteil. Und zum Schluss nahm ich einem BDM-Mädel durchs Fenster die Babs

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ab – und wir waren alle drin. Nach zwei Stunden fuhr der Zug ab, mit uns. Furchtbare Szenen noch an der Tür. Volkssturm und Urlauber wurden aufgeboten2. Auf den Treppen Mensch an Mensch, furchtbar. Der Zug ging bis Leipzig. Da er vom Be-schuss bei Militsch Maschinenscha-den hatte, fuhr er langsam, aber es war warm und wohlig. In Liegnitz gab es Platz. Nur noch acht Frauen – drei davon werdende Mütter – und zwölf Kinder in unserem Abteil. Es ging alles. Frau Tippel war in Dresden ausgestiegen. In Leipzig kamen wir um 2 Uhr an, fanden einen bereit stehenden Zug nach Hildesheim, leg-ten uns 1. Klasse hin und verpusteten. Dann wurde es voll, um 7 Uhr fuhren wir los, allerdings nur bis Goslar. Wollte in Hildesheim und Hannover nicht in Alarm geraten und übernach-tete bei der NSV3 in einer Turnhalle. Margret mit Bärbel und Martin im ersten Bett, Heinrich mit mir im zwei-ten Bett. Dazu um uns herum viele Flüchtlinge aus Gnesen, Kattowitz usw. Am anderen Morgen nach Krei-ensen. Dort setzten wir Babs mit Er-folg auf den Topf zur großen Freude aller Landser und Väter und unserer. Ein Soldat half beim Um- und Ein-steigen. Ein verspäteter D-Zug nach

2 mobilgemacht 3 Nationalsozialistische Volkswohlfahrt

Göttingen brachte uns endlich an unser Ziel. Hier waren sie überrascht und froh, dass wir gesund da waren. Unser angeschossener Zug war der letzte gen Westen vor Einnahme von Breslau durch die Russen.

Bahnhof Göttingen 1945 (Stadtmuseum Göttingen)

Das ganze Haus half sofort. Alle brachten Betten, Decken usw., sodass wir jetzt alle fünf schlafen können. Nun müssen wir weitersehen. Wir haben nichts. Müssen ganz von vorn anfangen. Vati ist mit dem Werks-treck nach Langenbielau. Weiß nicht, ob er noch was von unserem Gepäck hat – zwei Koffer vielleicht. An Margrets Korb ist der Henkel gerissen und ist so im Werk liegengeblieben. Wir haben keine Sommersachen und hier gibt’s auch keine. Na, ist auch egal. Alles kommt schon wieder ir-gendwie zurecht. Wir sind gesund, das ist die Hauptsache. Alles Gute für Euch, bleibt gesund, schreibt, wenn es neue Nachrichten gibt,

Eure Uschi und Kinder

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Verlust von Heimatgefühl –

Entwurzelte Seelen von Katharina Peter (news.de – 15. Oktober 2009)

So altmodisch der Begriff „Heimat“ auch klingen mag, jeder braucht ihn, um sich geborgen zu fühlen. Wem die Heimat dagegen verloren geht, der ist anfälliger für psychische Belas-tungen, Depressionen oder gar Psy-chosen.

Heimat muss nicht mehr ein bestimm-ter Ort sein, wie es früher verstanden wurde, sagt Heimatexpertin und Psy-chologin Professor Beate Mitzscher-lich. „Heimat ist ein inneres Kon-strukt und nicht unbedingt ein realer geographischer Ort.“ Dieses Kon-strukt kann aus sozialen Beziehungen zu Freunden oder der Familie beste-hen, sich auf Geschmack, Gerüche oder Geschichten und Erinnerungen beziehen.

Manche Menschen finden ihre Hei-mat in ihrer Arbeit oder etwa über Sport in ihrem Körper. „Manche Menschen sagen auch: Meine Heimat bin ich.“, so Mitzscherlich. Diese innere Beheimatung kann etwa durch Yoga, Meditation oder Religion er-reicht werden. Auch muss dieses Konstrukt ein Leben lang immer wie-der erarbeitet werden und kann sich auch stetig wieder ändern.

Heimat wird von vielen Wissenschaft-lern und Psychologen als Basis von Identität gesehen. „Man braucht ei-nen Ort der Zugehörigkeit, um sich entwickeln und abgrenzen zu kön-nen“, so Mitzscherlich. Aus der Migrantenforschung wisse man, dass die Entwurzelung, der direkte Verlust der örtlichen Heimat, zu wesentlich höheren Depressionsraten führt. Das gelte besonders für Frauen.

Das trifft aber auch auf Migranten zu, die ihre Heimat freiwillig verlassen haben und nicht unbedingt durch Krieg, Folter oder Verfolgung ge-zwungen waren zu gehen. Dieser Verlust von Heimat kann in bedrohli-chen Situationen sogar bis zur Psy-chose führen und die Psyche völlig entwurzeln. Ob aber Migration und Entheimatung immer per se eine Traumatisierung darstellen, darüber ist sich die Wissenschaft nicht einig.

Traditionen als Puffer in der Fremde

Viele Migranten der ersten Generati-on konzentrieren sich am neuen Ort verstärkt auf ihre Traditionen, Bräu-che und Speisen, um einen Puffer gegenüber dem Neuen zu bilden. Besonders, wenn der Unterschied

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zwischen den Kulturen oder dem Erscheinungsbild, etwa der Hautfarbe, signifikant ist. Kommen sie allerdings gar nicht erst in der neuen Heimat an, weil sie nicht integriert werden oder die Sprache nicht lernen, sondern bleiben zwischen den Welten hängen, dann kann dies zu psychischen Er-krankungen führen.

„Sich einer neuen Umgebung anpas-sen zu müssen, ist immer eine psy-chologische Belastung“, so Mitz-scherlich. Frauen empfinden das Um-ziehen viel stärker als Verlust von einem sozialen Netzwerk. Männer dagegen sehen dies oft als Chance. Besonders, wenn der neue Ort einen Sprung nach oben auf der Karrierelei-ter bedeutet. Untersuchungen hätten ergeben, dass die psychische Belas-tung in allen Gruppen dann nachlässt, wenn Integration anfängt zu greifen.

Da durch den Arbeitsmarkt inzwi-schen oft Mobilität vorausgesetzt wird, besteht die Gefahr, dass Bin-dungen nicht mehr geknüpft werden können und kein funktionierendes soziales Netzwerk aufgebaut wird. „Wer sein Leben lang alle zwei Jahre von einer Stadt zur nächsten gezogen ist, hat dies vielleicht nicht mehr“, gibt Mitzscherlich zu bedenken und fügt hinzu: „Nicht mehr zu wissen, wo man hingehört, zumindest immer wieder zeitweise, ist ein sehr moder-nes und verbreitetes Gefühl.“

Dabei sind soziale Bindungen wichtig für die Gesundheit. „Ein funktionie-rendes soziales Netz ist eines der sichersten Mittel gegen Depression“,

sagt die Psychologin. „Es ist zwar keine Garantie, dass psychische Ein-brüche verhindert werden, aber es fängt am besten auf.“ Das bezieht sich nicht nur auf die Psyche, sondern auch auf den Körper. Denn: Auch Heilungschancen bei schweren Krankheiten sind dann am besten, wenn Menschen da sind, die Halt und Kraft geben.

Beheimatet in Hotelketten und Flugzeugen

Bindungen nehmen psychologisch gesehen viel Arbeit ab. Schließlich müsse man dann nicht mehr ständig die Frage stellen, ob die Position, in der man sich im Leben gerade befin-det, wirklich die richtige ist. Das kos-tet sonst viel Energie. Beziehungen zu anderen Menschen vermitteln dage-gen das Gefühl, angekommen zu sein.

Menschen, die wegen ihres Berufs ständig unterwegs sind, entwickeln Strategien, um sich dennoch in der Fremde irgendwie beheimaten zu können. Das Bedürfnis von Vertraut-heit manifestiert sich dann etwa da-rin, immer mit der gleichen Fluglinie zu fliegen, die gleiche Hotelkette aufzusuchen oder bestimmte Rituale zu entwickeln.

Auch bei einem einfachen Umzug in eine neue Stadt gibt es Strategien, die Beheimatung vorantreiben. „Etwa das Einrichten der neuen Wohnung“, so Mitzscherlich. Oder Verantwortung, die man vielleicht im Verein oder in der lokalen Politik einnimmt.

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Für Psychologen hat der Heimatbe-griff vor allem eine emotionale Quali-tät. „Dies ist ein Ort, fiktiv oder real, an dem man sich geborgen, aufgeho-ben und sicher fühlt“, sagt Mitzscher-lich. Unsicherheiten im Job und damit im Wohnort sowie instabile Bezie-hungen bringen nicht nur eine örtli-che, sondern auch eine psychologi-sche Entwurzelung mit sich. „Dieses ewige Auf-dem-Sprung-Sein nimmt

die Fähigkeit, sich zu entspannen“, sagt Mitzscherlich und vermutet darin den Grund in der gestiegenen Stress-wahrnehmung.

Es wird gerne die These aufgestellt: Wenn die Welt wieder heimatlicher wird, wird der Einzelne auch wieder gesünder. „Ich denke, da ist was dran“, sagt Mitzscherlich. „Auch wenn das natürlich eine stark verkürz-te Sicht ist.“

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Psalm 137 Neue Genfer Übersetzung

An den Flüssen von Babylon saßen wir und weinten, wenn wir an Zion dachten. An die Weiden dort hängten wir unsere Zithern. Die uns gefangen hielten, forderten von uns, eines unserer Lieder zu singen, unsere Peiniger verlangten von uns, fröhlich zu sein: „Singt uns eines eurer Zionslieder!“ Doch wie könnten wir ein Lied für den Herrn auf fremdem Boden singen?

Jerusalem, wenn ich dich je vergesse, dann soll meine rechte Hand mir ihren Dienst versagen! Meine Zunge soll mir am Gaumen kleben, wenn ich nicht mehr an dich denke, wenn Jerusalem nicht mehr meine allergrößte Freude ist!

Herr, vergiss den Edomitern nie, was sie am Unglückstag Jerusalems getan haben, als sie riefen: „Reißt die Stadt nieder, reißt sie nieder bis auf den Grund!“ Du Stadt Babylon, die du einst verwüstet sein wirst – wohl dem, der dir einmal vergelten wird, was du uns angetan hast! Wohl dem, der deine Kinder packt und sie am Felsen zerschmettert!

An den Wassern Babels (unbekannter Künstler – Ende 19., Anfang 20. Jahrhundert)

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Ein Jahr fern der Heimat von Jana Gutzeit-Greth

„Moi! Nimeni on Jana, olen kuusi-toista ja kerron teille kokemuksistani vaihto vuonna.“ Ja… also, das war Finnisch und ich habe mich am Anfang ähnlich gefühlt wie ihr euch wahrscheinlich gerade. Echt, die Sprache ist der Wahnsinn! Naja, noch mal auf Deutsch: „Hallo! Mein Name ist Jana, ich bin sechzehn und möchte euch etwas über meine Erfahrungen erzählen, die ich bei meinem Schüleraustausch gemacht habe.“ Ich war in der Mitte von Finn-land, im nördlichsten Distrikt, in einer kleinen Stadt namens „Haapavesi“ mit gerade 8000 Einwohnern, wo jeder jeden kannte. Also, viel Spaß mit meinem Abschlussbericht.

Bevor ich in meiner ersten Gastfami-lie ankam, war ich in einem Camp in Karkku, mit all den anderen neuen „Inbounds“. Dort haben wir viele Sachen über Finnland gelernt und wie man sich in verschiedenen Situatio-nen verhalten sollte. Zum Beispiel haben wir die wichtigsten Sätze der finnischen Sprache gelernt und was man tun soll, wenn man einen Bären sieht. Ich muss zugeben, dass mich das am Anfang ganz schön beunru-higt hat, aber ich bin glücklicherweise nie einem Bären über den Weg gelau-fen (auch wenn Elche schlimmer wä-

ren). Außerdem hatten wir da auch unsere erste finnische Sauna und haben einen kleinen Ausflug nach Tampere (eine der größten Städte in Finnland) gemacht. So konnten wir die anderen Austauschschüler ein bisschen kennenlernen und auch schon ein paar Freunde finden.

Es war sehr hilfreich, schon ein paar Freunde zu haben, bevor ich an den Reisen teilnahm, denn da war ich so beschäftigt, dass ich mir kaum Ge-danken darüber machen konnte. Die erste Reise fand im Winter statt und ging hoch in den Norden von Finn-land, nach Lappland. Da wir nach der langen Fahrt alle recht müde waren, haben wir am ersten Abend nicht mehr viel gemacht, aber dafür ging es am zweiten Tag sofort richtig los: Wir waren den ganzen Tag auf der Ski-Piste. Man durfte sich vorher aussu-chen, ob man lieber Ski, Snowboard oder Crosscountry fahren wollte. Das war für mich sehr aufregend, weil ich das alles vorher noch nie ausprobie-ren konnte, aber es hat echt viel Spaß gemacht. Da wir den ganzen Tag dort waren, konnten wir die anderen Sa-chen erst am zweiten Tag machen. An diesem Tag war ich mit meiner Gruppe zuerst in einem Museum, in dem wir etwas über Lappland und die Menschen, die da wohnen ('Saami'),

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gelernt haben. Beim nächsten Halt durften wir Rentier- und Huskyschlitten fahren, ich fand die Huskywelpen allerdings am besten. Da das die letzte Reise für unsere „Oldies“ war, haben wir uns am Abend alle noch einmal zusammen-gesetzt und sie verabschiedet.

Auf der Reise nach Sankt Petersburg im März haben wir dann die neuen Austauschschüler kennengelernt und auch in einigen von ihnen neue Freunde gefunden. Aber auch wenn es für sie die erste Reise war, war es für mich leider die letzte…

Am ersten Tag waren wir in einem der größten Museen überhaupt, der Eremitage. Man bräuchte eigentlich etwa drei Tage, um alles zu sehen, allerdings hatten wir nur drei Stun-den. Deswegen wurden uns nur die wichtigsten Räume gezeigt. Danach haben wir traditionelles russisches Essen bekommen, was meiner Mei-nung nach sehr lecker war, aber nicht besser als finnisches Essen. Am Abend haben wir uns das Ballett 'Gi-selle' angesehen und da ich früher selbst Ballett getanzt habe, hat mir

das besonders gefallen. Am nächsten Tag waren wir zunächst zum „Sight-seeing“ unterwegs und durften da-nach Souvenirs shoppen. Auch an diesem Tag haben wir eine Tanz-Show besucht, allerdings war es diesmal russische Folklore, was ich auch super fand.

Neben den Reisen, die der Rotary-Club organisiert hat, gab es auch Meetings, an denen ich teilnehmen musste. Das war aber nicht so schlimm, wie es jetzt klingt, einige haben sogar Spaß gemacht! Am An-fang meines Austauschjahres gab es zum Beispiel einen Angel-Wettbewerb. Ich habe eigentlich im-mer gedacht, angeln wäre langweilig, aber es war trotzdem toll.

Das Eis-Fischen fand ich sogar noch besser. Es ist eine komplett andere Erfahrung, auf dem Eis mitten im See zu stehen und da einfach ein Loch zu bohren, um zu angeln. Außerdem war das etwas, von dem ich in Deutsch-land nie auch nur auf die Idee ge-kommen wäre, es auszuprobieren. Dann war da noch die Distrikt-Konferenz in Oulu. Die war wirklich

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etwas ganz Besonderes, weil da wich-tige Leute von Rotary kamen, sogar aus Taiwan. Allerdings war ich bei diesem Meeting etwas aufgeregt, weil ich dort Kantele spielen musste und zwar vor all den wichtigen Menschen. Kantele ist ein traditionelles finni-sches Instrument. Ich schreibe später mehr dazu. Es war das letzte Mal, dass ich meine Austauschfreunde aus diesem Distrikt sehen konnte.

Ich hatte nie Zeit, mich zu langweilen oder Heimweh zu bekommen. Da war zum Beispiel der 'wanhat tanssi'. Das ist ein Tanz für die zweite Klasse des Lukio (entspricht einer High School),

bei dem gefeiert wird, dass die dritte Klasse bald ihren Abschluss macht und die Zweitklässler dann endlich die Ältesten sind. Obwohl ich dort die erste Klasse besucht habe, durfte ich mittanzen, weil ich eine Freundin in der zweiten Klasse hatte, die dann meine Tanzpartnerin war. Ich habe dort viele neue Leute kennengelernt und mich auch mit einigen ange-freundet. Es hat riesigen Spaß ge-macht und am Vorstellungstag habe ich hinterher sogar noch mit meinem Gastpapa und meiner Gastschwester getanzt. Weil es zwei Vorstellungsta-ge gab und wir am Ende sechs Mal die gesamte Aufführung getanzt ha-ben, taten mir hinterher die Füße weh.

Ich hatte dort auch ein paar Hobbies. Ich war in dem kleinen Chor an unse-rer Schule, der sogar auf der Ab-schlussfeier des dritten Lukio-Jahres aufgetreten ist. Außerdem war ich in einem Tanzkurs, zu dem mich ein paar Freunde aus der Schule mitge-nommen hatten. Ich habe auch häufig mit meiner Gastschwester Minna Musik gemacht. Aber ich glaube, das Interessanteste war, dass ich Kantele spielen gelernt habe. Ich habe sogar ein eigenes Instrument zum Geburts-tag bekommen und mit zurück nach Deutschland gebracht, sodass ich auch hier noch spielen kann. Es war praktisch, dass ein Mitglied des dorti-gen Rotary-Clubs es mir beibringen konnte. Außerdem spielt mein ältester Gastbruder auch Kantele – er ist wirklich gut darin.

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Wie ihr seht, konnte ich viele neue Sachen ausprobieren, die manchmal für mich sehr eigenartig, aber auch witzig waren. Da war z. B. der erste Tag in der Schule, an dem die dritte Klasse 'King' war und wir, die Erst-klässler, waren 'Müll'. Oder der Tag, an dem meine Gastfamilie mich mit-genommen hat zum Crosscountry-Skiing. Ich fand das echt schwierig und glaube, dass ich es immer noch nicht so ganz raushabe, aber es hat Spaß gemacht. Ich finde es außerdem echt klasse, dass Finnen manchmal in den Wald gehen, nur um 'makkarra' (finnische Würstchen) zu grillen. Ein Mal sind wir mit dem Sportkurs in der Schule Eis-Schwimmen gegan-gen. Das heißt, wer wollte, hat sich die Badesachen angezogen und dazu die Wollmütze, Handschuhe und So-cken übergezogen, und dann ging es los. Beim Eis-Schwimmen macht man ein Loch in den noch zugefrorenen See und badet dann für einen Mo-ment darin. Ich fand, das klang so

komisch, dass ich es einfach auspro-bieren MUSSTE und das Erlebnis war … naja … kalt! Besonders, als ich aus dem schon 4 °C kalten Wasser zurück musste in die noch deutlich kältere Luft.

Ich habe dort den eigenartigsten und witzigsten Winter meines ganzen Lebens erlebt! Normalerweise gehe ich nicht bei Minusgraden in kurzer Hose und barfuß in den Schnee oder nur auf Socken, und normalerweise habe ich auch keine gefrorenen Wimpern, sobald ich das Haus verlas-se.

Mir wurde aber auch der schönste Sommer ermöglicht. Ich durfte 'Palju' ausprobieren. Palju ist ein großes, rundes Holzgefäß, das ein bisschen aussieht wie ein Fass, in das sich vier bis fünf Personen setzen können. Darin ist Wasser, welches mit einem Ofen angeheizt wird. Außerdem hatte ich die Möglichkeit, draußen noch nach Mitternacht die Sonne zu genie-

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ßen. Es war im Sommer sogar warm genug, um draußen schwimmen zu gehen - auch wenn man sich das kaum vorstellen kann, wenn es im Winter zum Teil -30 °C kalt wird.

Mir ist außerdem aufgefallen, wie anders in Finnland Weihnachten und Ostern gefeiert werden. Es war für mich das erste Mal, dass mich 'joulupukki' (finnischer Weihnachts-mann) zu Hause besucht hat. Das Weihnachtsessen hat mir nicht be-sonders geschmeckt. Immerhin habe ich es probiert, habe dann aber die warme Leber mit Rosinen nicht aufgegegessen. Der Schinken und die Kartoffeln dazu waren besser.

Zu Ostern gibt es in Finnland auch eine andere Tradition als Eier suchen: Es hat mich ein bisschen an die Heili-gen Drei Könige erinnert. Die Kinder

verkleiden sich als Hexen und gehen von Haus zu Haus. Dort wünschen sie den Bewohnern Gesundheit für das Jahr und bitten sie, ihr Geschenk anzunehmen. Im Gegenzug wünschen sie sich auch eine Kleinigkeit. Dies wünschen sie mit den Worten 'virvon varvon tuoreeks terveeks tulevaks vuodeks vitsasulle palka mulle'. Als Geschenk gibt es einen kleinen Ast, der mit Federn und Bändchen ge-schmückt wurde, was den Frühling symbolisieren soll. Im Gegenzug be-kommen sie dann Süßigkeiten. Es gibt auch zu Ostern ein traditionelles Essen, besser gesagt einen traditionel-len Nachtisch. Es wird Mämmi ge-nannt und sieht zwar nicht gerade appetitlich aus, schmeckt aber meiner Meinung nach richtig gut. Besonders mit Vanille-Soße.

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Ich bin ziemlich froh, dass ich in ei-ner kleinen Stadt zu Gast war, denn so war ich die einzige Austauschschü-lerin des Rotary-Clubs. So konnte ich mich nicht einfach an die anderen „Inbounds“ hängen und habe so auch viele finnische Freunde gefunden. Aber trotzdem glaube ich, dass meine Gastfamilien am wichtigsten für mich waren. Beide Familien haben mich aufgenommen, als wäre ich ihre ei-gene Tochter und so habe ich mich sofort wohlgefühlt. Es hat wahr-scheinlich auch ein bisschen gehol-fen, dass ich schon, bevor mein Aus-tausch überhaupt richtig angefangen hat, Kontakt zu ihnen hatte. Und wenn ich ihnen erzählt habe, was ich von Finnland sehen wollte, haben sie mich mit Freude dahin mitgenom-men. Sie haben mich auch zu Orten gebracht, bei denen sie dachten, es wäre interessant und schön für mich, obwohl es gar nicht meine Idee war.

Zum Beispiel ist meine erste Gastfa-milie mit mir nach Rovaniemi gefah-ren, um 'Santa‘s Village' zu besuchen. Da durfte ich dann bei joulupukki auf dem Schoß sitzen. Außerdem war ich am Polarkreis. Dort sind wir dann auch in einen Zoo gegangen, wo ich Tiere gesehen habe, die ich noch nie in deutschen Zoos gesehen hatte. Außerdem wirkte es mehr, als wären wir Menschen gefangen und nicht die Tiere. Zudem haben sie mich im Sommer mit nach Lappland genom-men. Da oben hatten wir immer noch ein bisschen Schnee und die Sonne ist gar nicht mehr untergegangen. Sie

haben mir dort viele Sachen gezeigt. An einem Tag waren wir beispiels-weise Gold waschen und ich habe sogar etwas gefunden, aber nur ganz, ganz kleine Stückchen. Besonders witzig fand ich, dass auf einmal ein Rentier mitten auf der Straße vor unserem Auto stand. Es hat sich von uns auch gar nicht beirren lassen und ist einfach langsam weitergegangen. Und wir hatten gerade Rentier-Salami-Chips gegessen… Huch!

Ich muss zugeben: Ich hatte ein biss-chen Angst davor, meine Gastfamilie zu wechseln. Zum Glück hat meine zweite Familie mich aber genauso herzlich aufgenommen und hat auch sehr viel mit mir unternommen. In den Ski-Ferien (ja, SKI-Ferien – also zwischen Weihnachts- und Osterferi-en!) haben sie mich mit nach Vuokatti genommen, um (wer hätte es gedacht?) skifahren zu gehen.

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Schwerpunktthema: HEIMAT 21

Im Sommer haben sie mich dann zum Angry-Birds-Park gebracht, weil sie wussten, dass ich da unbedingt mal hinfahren wollte. Danach haben sie mir gezeigt, wie die Ski-Piste im Sommer aussah, was fast so schön war wie im Winter, aber eben sehr anders. Ich habe sie im ersten Mo-ment auch kaum wiedererkannt!

Leider war es schwierig, dort finnisch zu lernen. Da man in Finnland in der Schule nicht die Aussprache bei Fremdsprachen übt, sondern mehr das Rechtschreiben und Verstehen, haben viele sich gefreut, endlich mal mit jemandem englisch oder sogar deutsch zu sprechen. Deswegen habe ich nicht sehr viel Finnisch-Sprechen gelernt, sondern hauptsächlich Ver-stehen. Ich denke, ich muss dann wohl oder übel noch mal nach Finn-

land fahren, um mehr von der Spra-che zu lernen!

Ich werde mein Austauschjahr sicher nicht vergessen. Es hat mich in vielen Dingen weitergebracht. Ich bin jetzt offener für Neues und gehe mit Freu-de und Spannung darauf zu. Es hat mir den Mut gegeben, häufiger über meine Grenzen hinauszuschauen - sowohl über die persönlichen als auch über die geographischen. Ich habe das Gefühl, selbstständiger zu sein und selbstbewusster auf andere Men-schen zuzugehen und dass ich moti-vierter bin, die Schule zu beenden. Ich denke, seit ich ein ganzes Jahr in einem fremden Land überstanden habe, kommen mir andere Dinge einfacher vor. Oder anders gesagt: Ich habe mich in diesem Jahr vielleicht verändert, aber zum Positiven (und 5cm gewachsen bin ich auch ).

© David Liuzzo / Wikipedia