Literaturwettbewerb 2015 komplett

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Literaturwettbewerb 2015 Eingegangene Werke mit freundlicher Genehmigung der Autorinnen und Autoren

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Literaturwettbewerb

2015

Eingegangene Werke

mit freundlicher Genehmigung der Autorinnen und Autoren

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Nr Name Vorname Titel

a 1 Segessenmann Georg Schutzengel

a 2 Schär Enrico Eine aussergewöhnliche Begegnung

a 3 Mäder Roland Das göttliche Treffen

a 4 Häubi Lisbeth Aussergewöhnliche Begegnung

a 5 Anselmi Verena Mutz mit oder ohne

a 7 Gerber Heinz keine Freigabe

a 8 Vetter Franziska (*) Eine aussergewöhnliche Begegnung

a 9 Füllemann Fiona Hummel und Spinat

a 10 Fallegger Verena Susanne Meier Mazda

a 11 Leuenberger Tanja Geschichte

a 12 Siegenthaler Silvia Marina

a 15 Burkard Anita Geisterzug

a 16 Matter Nathalie 13 aussergewöhnliche Begegnungen

a 19 Hunziker Claudia Mit einem Rollstuhl

Junioren

b 6 Trüssel Natascha Engel Love

b 13 Marti Tina (*) Die Begegnung mit Schneebi

b 14 Marti Jessica Schwarzer Schlaf

b 17 Berger Silvana Eine aussergewöhnliche Begegnung

b 18 Venditti Ephraim Eine aussergewöhnliche Begegnung

* Kategoriensieger

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Schutzengel

Begegnungen.

Begegnungen?

Na was denn?

Na wem denn?

Mir selber vielleicht? Keine schlechte Idee, meine ich. Denn es ist ab und zu ganz amüsant, sich selber zu begegnen, sich selber kennen zu lernen, sich selber kritisch unter die Lupe zu nehmen, sich so versuchen zu sehen, wie einen die Anderen wohl sehen werden, ironisch, hemmungslos, vorurteilslos, schonungslos sich selber begegnen.

Aber wie geht das denn? Hat denn nicht Jeder das Bestreben, sich selber zu schonen, sich selber in einem Lichte zu sehen, das ihm eher einen Lichtkranz über dem Haupte kreiert, als eine Handvoll Asche über demselbigen?

Anhand der nachfolgenden Geschichte versuche ich, den Lichtkranz mit der Asche zu vermengen, einen neuen, meinen, sozusagen aschfahlen Lichtkranz zu schaffen.

****************************************

Der Durst drängt mich in eine Gartenbeiz am Rande meines Wanderweges. Ich setze mich in den Schatten eines mächtigen Kastanienbaumes, dessen Früchte bereits üppig gerundet durch das Blattgrün äugen. Die Serviererin stellt mir das soeben mit letzter Kraft bestellte kühle Bier auf den blechernen Dreibeintisch. Mit einem einzigen langen Zug leere ich das Glas zur Hälfte und lehne mich dann, wohllüstig rülpsend, nach hinten. Ich schliesse meine Augen und entspanne mich.

Nach einer Weile öffne ich die Augen, unwillig und irritiert, weil ich das Gefühl habe, ich würde beobachtet. Da sitzt tatsächlich auf dem Stuhl gegenüber ein seltsames Wesen. Gewandet ist es in einen tüllartigen Schleier; das Gesicht ist merkwürdig bleich, als wäre es durchsichtig; auf dem Rücken gewahre ich, schemenhaft gleichsam, zwei Auswüchse: Flügel?

Wir schauen uns lange in die Augen. Das heisst, eigentlich schaue ich durch die Augen meines Gegenübers hindurch in die Unendlichkeit. Langsam verzieht sich das ernste Gesicht zu einem angedeuteten Lächeln, welches ich wie

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unter Zwang erwidere. Das Geistwesen hat vor sich ebenfalls ein Glas Bier, welches es nun langsam hebt, mit einem leisen „Prost!“ an die Lippen setzt und in einem Zuge austrinkt. Dann streckt es das leere Glas in Richtung Wirtschaft. Und schon kommt die Serviererin mit einem vollen Glas und wechselt es gegen das leere aus. Kaum abgestellt verschwindet der Inhalt in der Kehle des Geistwesens. Ich staune, denn wieder wird das Glas innert Sekunden gegen ein volles ausgetauscht. Meinen vor Staunen leicht geöffnetem Lippen entfährt ein leises „Ohhhh Gott!“. Der Engel – kein Zweifel, um einen solchen handelt es sich bei meinem Gegenüber – lässt ein leises Mecker-Kichern hören. Dann wischt es den Rest des Schaumes ab, der auf seiner Oberlippe verharrt ist, und sagt: „Lass meinen Chef aus dem Spiel….“ „Entschuldige“, stottere ich. „Ich musste nur……“ „Na da staunst du, was?“, unterbricht mich das Wesen. Ich schlucke dreimal leer, dann wage ich eine Frage: „Bist du wirklich ein Engel?“ „Aber sicher!“, kommt es von drüben. „Aber nicht ein gewöhnlicher. Nein, ich bin ein Schutzengel!“ „Ja, aber warum sitzt du denn hier?“, wende ich verblüfft ein. „Ein Schutzengel sollte doch nicht saufen, entschuldige: trinken, sondern auf jemanden aufpassen?“ „Da hast du natürlich Recht“, erwiderte der Engel. „Aber ich bin so überfordert, dass ich einfach den Bettel hingeschmissen habe und mir nun zuerst einmal ein paar Bierchen genehmigen muss, damit ich den Stress des Aufpassens wieder verkraften kann! Meine Aufgabe ist es nämlich, auf ein kleines Kind aufzupassen – dort auf der Schaukel sitzt es übrigens. Kannst du dir vorstellen, was das heisst?: Vierundzwanzig Stunden am Tag und in der Nacht immer an der Seite oder hinter einem kleinen Kind, das über die Strasse rennt, am Weiher spielt, unter die Schaukel rennt wenn andere darauf schaukeln, aus Flaschen trinkt, die die Mutter mit Putzzeug gefüllt hat, auf den Fenstersims klettert und-und-und....! Aber das schlimmste daran ist erst noch, dass die Mutter, die doch selber weiss, was einem kleinen Kind passieren kann, in wahnwitzigem Tempo mit dem Kind ohne Kindersitz in ihrem Auto über die Strassen flitzt, an parkierten Autos entlang, wo doch jeden Augenblick ein Kind hervor rennen könnte. Ich sitze dann jeweils auf dem Hintersitz und kann manchmal nur noch die Hände vor die Augen schlagen vor Angst und Schrecken, weil uns das Reagieren auf solche Geschwindigkeiten einfach nicht einprogrammiert worden ist!“

Der Engel rollt seine Augen und greift nach dem siebten vollen Glas, das wie von Geisterhand wieder hingestellt worden war, während der Engel sich in Rage redete. Da wage ich es, eine Frage zu stellen, die mir schon die ganze Zeit unseres Gespräches auf der Zunge liegt: „Sag mal......., habe denn auch ich alter Mann noch einen Schutzengel?“ Mein Gegenüber schaut mir gedankenverloren in die Augen. Dann erwidert der Engel leise und dabei geheimnisvoll mit dem Zeigefinger über meine rechte Schulter deutend: „Natürlich; dreh dich doch mal um!“ Langsam drehe ich mich um und sehe am Tisch hinter mir eine ebenso weisse Gestalt sitzen, die in der einen Hand ein Glas Bier und in der anderen ein grosses Schnapsglas hält. Auf dem Tisch stehen eine ganze Reihe leerer Bier- und Schnapsgläser. Das Gesicht der Gestalt ist merkwürdig grau und runzlig. Erschrocken drehe ich mich wieder zu meinem Gegenüber und raune: „Was, das soll mein Schutzengel sein? Warum sieht der denn so frustriert in die Welt?“ Da höre ich in meinem Rücken meinen eigenen Schutzengel raunzen: „Ja glaubst du denn, es mache mir Spass, auf einen solch langweiligen Stubenhocker aufpassen zu

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müssen? Ooooh Gott, mein Gebieter, was habe ich denn verbrochen, dass du glaubst, mich so strafen zu müssen?!“

Ich spürte wie ich bleich wurde. Es konnte ja sein, dass dieses Geistwesen tatsächlich mein Schutzengel hätte sein können. Aber was berechtigte ihn dann, mich so ungnädig abzuqualifizieren? Was hatte ich dem Kerl denn angetan, dass er sich erfrechen durfte, über mich ein solch vernichtendes Urteil zu sprechen?

Ich rief nach der Bedienung und verlangte die Rechnung. „Aber die Schnäpse und Biere des unflätigen Kerls dort hinten bezahle ich dann etwa nicht“, knurrte ich. Die Serviererin guckte zuerst in die von mir angezeigte Richtung, runzelte die Stirn und sah mich dann zweifelnd an. Ich konnte direkt in ihren Augen lesen, dass sie mich insgeheim für verrückt erklärte – weil sie offensichtlich das nicht sah, was ich sah. Schnell nahm sie das von mir hingezählte Geld und verschwand eiligst, nicht ohne mich nochmals mit einem mitleidig-entgeisterten Blick zu bestrafen.

Ich erhob mich, ohne meinen angeblichen Schutzengel nochmals eines Blickes zu würdigen und machte mich auf meinen Heimweg. Unterwegs aber begann es in meinem Hirn zu arbeiten: Langweiler? Stubenhocker? Ich? Aber je mehr und länger ich über mich selber nachdachte, desto mehr musste ich vor mir selber zugeben: Ja, ich bin tatsächlich ein langweiliger Bünzli. Oder was Besonderes hatte ich denn in meinem Leben schon geschaffen oder gemacht? Früher, ja, in meiner Jugendzeit, da hatte ich noch Träume, Vorsätze und Wünsche. Damals, ja damals las ich noch so wunderbare Heldentaten von einem Amundsen, von einem Scott, von einem Christoph Kolumbus. Und auch später hatte ich noch meine Vorstellungen. Aber all diese Wünsche und Vorsätze waren in den Jahren der Berufsarbeit und mit den Pflichten des Gatten, des Vaters und des Vereinskollegen vergessen gegangen. Kein neuer Kontinent entdeckt; keine neue Galaxien und keine 8-Tausender im Himalaja erobert. Ja, wenn ich wenigstens ein paar Zehen abgefroren hätte wie der Reinhold Messmer. O.K., das hätte ich ja eigentlich auch gar nicht gewollt. Und eigentlich plagierte der Reinhold Messmer ja nie mit seinen abgefrorenen Zehen; ja, es schien ihm wohl sogar eher peinlich zu sein, dass ihm, dem berühmten Himalaja-Kraxsler solches passieren konnte. Aber so einen verrückten Bart hätte ich mir doch wenigstens wachsen lassen können, damit ich etwa so aussah, wie man sich einen grossen Abenteurer vorstellt?

Inzwischen war ich einige Dutzend Kilometer gewandert ohne mir dessen bewusst zu werden; ich sah weder die schönen Blümchen am Wegesrand, noch hörte ich die Glocken der weidenden Kühe und Kälber, noch roch ich den wunderbaren Duft der Gülle, die ein Bauer direkt neben mir mit seinem Druckfass auf die Wiese spritzte. Erst als ich auf dem Feldweg in eine braune Pfütze trat und die Brühe mir in die Schuhe lief, kam ich wieder zu mir selber. Ich riss mich selber aus dem unsinnigen Sinnieren und befahl mir selber, mich wieder um das Drumherum zu bekümmern.

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Zuhause angelangt goss ich mir zuerst mal ein Glas Bier in einem Zug die ausgetrocknete Gurgel hinunter. Dann sah ich die Flasche mit dem köstlichen Birnenschnaps, den ich auf einer meiner Wanderungen einem Bauern abgekauft hatte, weil der gerade am Schnapsbrennen war und mir ein Gläschen zum Verköstigen anbot. Seither waren Jahre vergangen, ohne dass ich mal eine würdige Gelegenheit gefunden hätte, die Flasche zu entkorken. Heute aber schien nun diese würdige Gelegenheit endlich gekommen zu sein. Ahhhhhh, der erste Schluck war wirklich himmlisch – und brannte so teuflisch die Kehle runter. Und ich konnte meinen Schutzengel voll verstehen, der seinen grossen Kummer mit solch „scharfer Munition“ bekämpfen musste. Nach dem zweiten kam noch ein drittes Gläschen Birnenschnaps. Dann ging ich Duschen und, weil es draussen inzwischen dunkel geworden war, schlüpfte ich in die Federn.

Wie ein Stein schlief ich. Aber ich musste wohl ganz übel geträumt haben, mehrmals schrak ich auf, in Schweiss gebadet und mit Brummschädel. Etwa um 3 Uhr hatte ich ausgeschlafen und begann zu sinnieren: Hatte ich denn nicht soeben geträumt, ich sei als Astronaut auf dem Mond gelandet? Es war mir, ich röche noch den Mondstaub, der mir beim ersten Schritt auf dem Erdtrabanten um den Kopf gewirbelt war und mir die Sicht auf die Steinbrocken und Felsen im Hintergrund verwehrte. Und hatte ich nicht soeben laut „Huston, wir haben ein Problem!“ gerufen? Und hatte ich nicht noch soeben das Kichern des Mannes im Mond gehört, der bei meiner Landung hinter einem dieser Felsbrocken verschwunden war?

Und da war doch noch ein anderer Traum: Ich hing im Himalaja an einer steilen Felswand. Über mir sah ich einen Felsbrocken sich lösen; er fuhr mir haarscharf am linken Ohr vorbei und landete unter mir auf einem Felsenband, auf dem ein Adlerpärchen seine Jungen fütterte. Aufgeschreckt flogen sie hoch, sahen den hilflos im Seil Hängenden, umkreisten ihn mit schrillen Schreien und zogen ihre Kreise bedrohlich immer enger. Sollte ich hier wohl das Ende jenes griechischen Helden wiederholen müssen, dem die bösen Raubvögel die Leber immer und immer wieder aus dem Leibe frassen, derweil diese Leber ihm täglich wieder nachwuchs?

Und während diese bösen Träume langsam wieder verblassten, kamen neue bruchstückweise in mein waches Bewusstsein. Aber sie waren wirklich so bruchstückhaft, dass sie insgesamt keinen Sinn mehr ergaben. Aber ich merkte, dass mir da wohl jemand oder etwas einen Fingerzeig geben wollte oder musste. Vielleicht war es ja mein schrulliger, frustrierter Schutzengel, der mir einen letzten Liebesdienst erweisen wollte, bevor er seinem Arbeitgeber seine Demission einreichen wollte?

Fazit der Träumerei: Etwas in meinem Leben musste ich ändern. Aber was? Ich konnte mir ja nicht ein paar Zehen abfrieren lassen wie der Reinhold Messner oder ein Ohr abschneiden wie der Vincent Van Gogh, oder? Aber irgendetwas, irgendetwas ganz Verrücktes musste ich tun, das wusste ich und es

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liess mich nicht mehr ruhen. Und endlich kam mir die zündende Idee. Und ich wunderte und ärgerte ich, dass mir diese Idee nicht schon längst bewusst geworden war, musste sie doch schon Jahrzehnte lang in mir geschlummert haben. Flugs sprang ich aus dem Bett und setzte mich an meinen Computer: Etwas Verrücktes, ja etwas ganz irrsinnig Verrücktes kam über mich: ich begann zu schreiben. Und was glauben Sie wohl, was ich da in die Tasten haute? Richtig:

Diese Geschichte!

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Eine aussergewöhnliche Begegnung Ich bin bei Musik Hug St. Gallen Abteilungsleiter Klaviere/Flügel und Keyboards(Tasteninstrumente). Daneben habe ich mit Hrn. Eddie Lüber, der die Piano-Reparatur-Werkstatt führt, eine anerkannte Persönlichkeit in der Restaurierung von ‚ historischen Tasteninstrumenten wie Cembalos, Clavinettes, Harpsichords und Hammerflügel. Man kennt Ihn in ganz Europa. Wir schreiben das Jahr 1987. Eines Tages morgens im Herbst(es ist neblig) hält ein Lastwagen der Firma Berger Transporte bei uns an der Spitalgasse. Zwei Männer verlangen nach mir und wollen ein offensichtlich desolates Tasteninstrument ausladen. Ich bin überrascht. Denn ich habe keiner Transportfirma den Auftrag für eine Abholung eines für mich völlig unbekannten Instrumentes aus Basel gegeben. Herr Lüber ist gerade nicht im Hause, denn er ist ausser, neben seinen fachlichen Qualitäten Auch ein ausgezeichneter Klavierstimmer. Und gerade in einer Musikschule am stimmen. Also entscheide ich, dass die Transporteure das unbekannte Objekt in die Werkstatt stellen sollen. Dann muss ich aber wieder zurück in mein Büro, denn das Telefon klingelt. Ein Kundengespräch. Am Nachmittag als Herr Lüber seine Stimm-Tour beendet hat, finden wir zwei endlich Zeit miteinander zu sprechen. Jeder von uns meint, dass der andere den Auftrag für dieses Im Moment noch unbekannte Tasteninstrument gegeben hat. Es wird im Gespräch offensichtlich, dass weder Hr. Lüber noch ich, oder die Firma Hug von einem solchen Auftrag weiss.! Einen Tag später nach der unerwarteten Lieferung, haben wir endlich Zeit das unbekannte Objekt genauer in Augenschein zu nehmen. Mit Kennerblick und bedeutungsvollem Kopfschütteln erhalte ich von Hrn. Lüber die Facts.

1. Das Instrument ist wirklich eine Rarität. 2. Es stammt aus dem 15. – 16. Jahrhundert 3. Es ist ein Cristofori-Cembalo. 4. Der Zustand ist katastrophal. Details: Die Tastatur ist zum grossenteil feucht,

angemodert, es fehlen wichtigste Teile zur Bewegung der Tasten. Hammer und Kapseln. Hebeglieder sind in der 2. Oktave fehlerhaft, vermodert oder sonst desolat.

5. Das Instrument ist nicht spielbar. Daher meine Ueberlegung, was mache ich mit dem unbrauchbaren Objekt……… Das Holz des Cembalos besteht aus massivem Wurzelmaser und war zu dieserZeit sehr in Mode. Herr Lüber fühlt sich beim Anblick dieses historischen Instrumentes nicht recht wohl. Ich merke es an seinem eigenartigen Benehmen. Als er über das Instrument streicht schüttelt er wieder den Kopf. Ich frage ihn was ist los mit diesem Instrument? Wörtlich nach längerem Zögern schaut er mich fast verlegen an und meint, dieses Instrument strahlt eine unglaubliche Kälte aus. Es schaudert mich wenn ich es berühre. Jetzt ist es an mir zu staunen. Herr Lüber geht es ihnen nicht gut, dann gehen sie besser nach Hause und ruhen sich mal aus. Nein, nein mit mir hat es nichts zu tun. Es ist einfach dieses Objekt, das mir Sorgen bereitet. Sagt er. Ich werde mir heute Abend die Zeit nehmen und jede einzelne Taste markieren und mit Zahlen und Zahlenschlüssel versehen. Dann werde ich bei der Firma J.C. Neupert in Deutschland die fehlenden Teile bestellen und das Instrument eventuell restaurieren.

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Stop, sage ich. Das müssen wir noch einstweilen verschieben, bis sich der wirkliche Auftrag-Geber meldet. Ich werde jedenfalls unseren Filialleiter informieren. Ich spreche mit unserem Filialleiter Hrn. B. Pfister. Er informiert Frau Erika Hug. Vier Tage später Nach der Filialleiter-Sitzung in Zürich informiert mich Hr. B. Pfister bei der Rückreise von Zürich nach St. Gallen telefonisch, das dieses Instrument restauriert werden soll, komme was wolle. Es gibt in St. Gallen ein Museum für historische Tasteninstrumente. Falls sich der Auftraggeber nicht meldet. wird dieses Instrument auf Kosten von Musik Hug restauriert, wenn es nicht restauriert werden kann bringt es im Museum auf jedenfal so oder sol gute Werbung für Musik Hug. Jetzt möchte ich wirklich endlich mal wissen, wem dieses musikalische Kleinod gehört hat. Also rufe ich die Firma Berger, die den Transport ausgeführt hat an. Als ich den offensichtlich verlegenen Chef am Telefon habe. Bekomme ich als Antwort etwas so unglaubliches zu Hören, wie der Transport deses unerwarteten Objekts. Der Auftraggeber sei eine Dame. Jedenfalls die Stimme war weiblich. Sie hat eine genaue Beschreibung wo das Instrument jetzt steht, uns gegeben. Dies alles höre ich gespannt von Hrn. Berger. Als wir dort ankommen, stehen wir verdutzt vor einem alten Haus das jetzt endlich abgerissen wird., dies Gebäude war für den Abbruch schon vorbereitet,das mitten in Basel schwierig die Zufahrtund mitten in der Altstadt.Meine Leute hatten keine Freude, das kann ich Ihnen sagen. Das Gebaude stammt aus der Zeit des Rokkoko. Und soll herrschaftlich gewesen sein. Man sagt, dass dieses Haus sei unheimlich, verhext mit einem schrecklichen Unglück belastet.. Es wäre gruslig und niemand hätte Lust dort zuwohnen also steht es seit Jahrzehnten leer.. Dies alles erfahre ich über Umwege. In den Analen findet Hr. Lüber eine Geschichte die uns beiden nicht behagt. Dieses Instrument hat eine schreckliche Bluttat erfahren. Als wir dies alles wissen fällt plötzlich eine ungewisse Unruhe über mich und Hrn.E. Lüber. Wir beschliessen den Filialleiter über alles zu informieren. Als wir unseren Filialleiter informieren, meint er süffisant, das hält uns nicht davon ab das instrument zu restaurieren ‚ gälledsi Herr Lüber, mer bschtelled diä Teili bim Neupert.’ Herr Lüber lacht einbischen verlegen und informiert den Chef von Hug St. Gallen, dass er alles nötige zur Wiederherrstellung des Instrumentes veranlassen wird, und bei der Firma J.C. Neupert in Nürnberg sämtliche fehlenden Tasten in originaler Form wie auf Bildern über das Cristofori Cembalo zusehen sei bestellt, und verlange , dass die weissen Tasten Elfenbein sein müssen. Auch sei der Tastenschlüssel unbedingt genauso zu berfolgen wie es der Auftrag (Hrn. E. Lüber) verlange.. Das freut Hrn B. Pfister. Er entfernt sich wieder aus der Werkstatt um anderen Dringlichkeiten nach zugehen. Als ich mit Hrn. Lüber wieder alleine in der Werkstatt bin zeigt er mir schweigend etwas für ihn unglaubliches…. Mit zittternder Hand weist er auf einen grösseren dunklen Fleck im Stimmstock hin und meint Das hätte sich richtig eingefressen und lasse sich nicht mal mit Bienenwachs-Oel entfernen. Was meinen Sie? , frage ich Ihn. Es könnte Blut sein, murmelt er vor sich hin.Er schüttelt wieder den Kopf. ‚Aber Hr. Lüber, das kann ich nicht glauben, dass so etwas nach so langer Zeit, noch sichtbar sein soll? Sage ich zu ihm. Als ich am Abend wieder in die Reparaturwerkstatt gehe, um abzuschliessen. Sitzt Hr. Lüber immer noch gebeugt vor dem desolaten Objekt und zeichnet beharrlich und genau den wichtigen Tastenschlüssel auf. Taste, Zahl, Taste, Zahl usw.

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‚Es ist jetzt schon halb Sieben abends Hr. Lüber’, sage ich und entwinde ihn seiner filigranen Arbeit. Kommen Sie, wir gehen noch etwas Trinken und dabei Können wir uns unterhalten, ich lade sie ein. Nach 2 Bündnerteller und reichlich Wein, ist Hr. Lüber in der Stimmung, um mir zu erzählen, das er Nachts von diesem ‚verfluchten Instrument träumt.’ Als ich mit Ihm das Gasthaus verlasse. Geht jeder in Gedanken versunken nach Hause. Nun sind es schon 10 Tage her. Es meldet sich niemand. Die offene Rechnung für den Transport habe ich inzwischen zur Zahlung frei gegeben. Es ist Donnerstag. Die Firma Kraus & Papst hat von Nürnberg endlich die benötigten Teile gebracht. Und nach dem filigranen Plan von Hrn. Lüber, steht nun ein Duplikat der Tastatur in Elfenbein in der Werkstatt. Wir überprüfen den Tastenschlüssel und die Zahlen. Es stimmt perfekt. Herr Lüber misst die Oktavsteller aus’ die Measure stimmt. Es liegt alles bereit für den Einbau.!!!!!!!!!!!! In den 10 Tagen hat Hr. Lüber das Aussengehäuse stabilisiert aufgefrischt und poliert. Der Mahagoni u. Wurzelmasser haben sich wunderbar ergänzt. Die Stukatur ist herrlich geworden. Der Name Cristofori ist deutlich und klar ersichtlich. Nur der Stimmstock ist noch im selben Zustand wie bei der Anlieferung. Der grosse dunkle Fleck ist immer noch zusehen. Nun das Ende mit Schrecken oder soll ich sagen Horror oder eher wie die Priester Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde als sich unsere Schulweisheit träumen lässt.!!!!!! Am Freitag morgen ruft mich Hr. Lüber aufgeregt und mit zitternder Stimme in die Klavierwerkstatt. Seine Hände zittern und er muss seine Herztropfen nehmen. Herr Lüber ist seit einem Jahr in Behandlung wegen eines Herzinfarktes. Die neue Tastatur ist weg!! Gestern Abend beim Verlassen haben wir beide noch die Tastatur mit feinem Karton Zugedeckt und angeschrieben: ‚neue Tastatur’. Dann haben wir die Reparaturwerkstatt abgeschlossen und ich habe die Türen zur Piano-Abteilung ebenfalls abgeschlossen und sind dann nach Ladenschluss nach Hause gegangen.

1. Ich informiere den Filialleiter. O Schreck lass nach meint er, ich muss Frau Hug informieren.

2. Der Hauswart muss antraben. Wir quetschen ihn aus. Er ist auch zugleich der Chauffeur für Musik Hug St. Gallen und fährt alles mögliche mit dem VW-Bus.

3. Die Putzfrauen werden gefragt. Sie haben die Tastatur nicht gesehen. Ich erkläre ihnen, dass die Tastatur in einer dünnen Kartonverpackung auf dem restaurierten Instrument gelegen hat. Das Cembalo haben sie sofort gesehen, aber nicht die Tastatur!!!???

4. Der Hauswart ruft bei der Müllabfuhr an sie erlauben uns den Papier- Kehricht von der Musik Hug AG (Inhalt des Containers zu durchsuchen) Wir finden nichts, Kein Karton, keine Schachteln Keine Tastatur.!!!

5. Es ist zum Verzweifeln. Wie kann so etwas geschehen, von Donnerstag Nacht auf Freitag morgen. Ich gehe durch alle Abteilungen von der Notenabteilung bis zur Plattenabteilung dann durchsuche ich alle Kartons meiner Orgelabteilung. Nichts!

6. Die Klavierwerkstatt stellen Hr. Lüber und ich auf den Kopf, nichts ist zu finden.

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**Hrn. Lüber geht es schlecht ich schicke Ihn sofort nach Hause und informiere den Filialeiter. Der Wind könnte dieses sehr leichte Material schon wegblasen. Aber nirgends auf dem Boden oder auf dem Arbeitstisch, deutet daraufhin, dass der Wind die Teile wegblasen haben könnte. Das Fenster war einwenig geöffnet. Aber ein Dieb hätte keine Möglichkeit gehabt einzudringen. Denn die Klavierwerkstatt befindet sich unter dem Boden der Hauptstrasse Spitalgasse/Marktgasse.. Die Gitter sind abgeschlossen. Nur ein Kind wäre fähig in der Spitalgasse in die Kelleröffnung einzudringen. Aber an dieser Strasse rollt immer Verkehr! Die Teile dieser Duplikate sind teuer. Ich will nicht über den Preis sprechen. Der ideelle Schaden der durch den Verlust entstanden ist mit nichts zu vergleichen. Dazu die Krankheit von Hrn. Lüber, seine vielen Arbeitsstunden. Seine nervliche Anspannung gekoppelt mit Unwohlsein mit dem Wissen, das dieses Instrument nicht mehr spielbar ist, falls Hrn. Lüber etwas passiet hängt wie ein Damokles-Schwert über uns. Was ich nicht erwartete, traf ein, Hr. Lüber musste ins Spital eingeliefert werden. Gibt es eine Vorsehung. Soll das Instrument einfach gesagt nicht mehr zu Leben erweckt werden. Soll oder darf dieses einmalige Instrument nicht mehr erklingen. Was wissen wir über Aussergewöhnliches? Ich will vorsichtig beginnen. Ich schwöre,was ich hier nun auf Papier bringe, entspricht der Wahrheit wie die ganze bis dahin erzählte Begebenheit. Es ist Samstag.Hr. Lüber ist nun schon seit 3 Wochen im Kantonspital. Nachher soll er zur Kur irgendwo im Graubünden… Also Samstag ist in der Musikbranche immer ein guter Tag um Verkäufe zu tätigen. Am Morgen sind einige junge Leute in die Keyboards vertieft. Sie spielen was ihnen gefällt. In der Zwischenzeit konnte ich ein Piano vermieten. Eine Familie interessiert sich für einen Flügel. Die eine Tochter spielt schon wirklich gut Klavier. Die Familie ist sehr interessiert. Dann erreicht mich ein Telefon. Als ich abnehme, meldet sich eine Frauenstimme. Die weibliche Stimme möchte das Cembalo, dass bei uns in der Werkstatt steht besichtigen. Sie sei bald da. Als ich nach Name oder Adresse fragen will, wird aufgelegt. Ich komme mir wie im falschen Film vor. Erstens ich kann fast nicht glauben, dass dieses Telefon stattgefunden hat. Ziemlich verwirrt bin ich wieder bei der Familie zurück. Das einzig Gute in diesem Moment ist die Entscheidung des Vaters der Familie, diesen Yamaha C3 180cm Flügel in Miete/Kauf zu nehmen. Ich kläre die Liefersituation, Standort, wieviele Stockwerke, etc. Zum Glück ist es Parterre und erst noch über den Gartensitzplatz zu liefern in ein Einfamilienhaus. Alles Klar. Wir regeln die vertraglichen Bedingungen und der Mann unterschreibt. Ich mache noch den Termin für die erste Stimmung mit der Familie ab. Inzwischen ist es nach 14.00 Uhr geworden. Am Stand hole ich an der Marktgasse ein Sandwich.

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Bemerkung Um zu der Klavier/Keyboard-Abteilung zu gelangen sind bis ins Sousoul zwei Treppenreihen nach unten zu gehen. Ein rüstiger Mann oder rüstige Frau braucht ca. 1 Minute. Eigentlich egal was ich jetzt erklären will entbehrt jeder Logik. Mittlerweile ist es 15 Uhr geworden. Der angesagte telefonische Besuch hat noch nicht stattgefunden. Ich kaue an meinem Bürotisch am diskret eingepackten Sandwich und trinke Kaffee aus dem Papierbecher….. Wie magisch angezogen schaue ich plötzlich zur offenen Treppe hoch. Es erscheint eine Gestalt. Die Kleidung entspricht nicht unserer Zeit. Die Dame trägt eine Art Filzgarderobe mit einer Krinoline. Das Kleid ist dunkel. Die Dame lässt sich nicht bestimmen. Das Gesicht ist nicht richtig erkennbar. Die Augen sind wie leblos. Sie geht nicht die Treppe runter, nein sie hat einen schwebenden Gang das Kleid ist so lange das man die Schuhe oder Füsse nicht sieht. Sie bewegt sich schnell. Zielbewusst steuert sie auf die Türe der Werkstatt zu. Ich öffne die Türe wie im Traum. Dann höre ich die weibliche Stimme, sie sagt ‚dies ist mein’ Dann dreht sie sich um zu mir. Ich muss es ihr sagen irgend etwas drängt mich dazu. ‚Gälled si sie sind nöd würklich’!!!!! Das einzige was ich von dieser Dame höre ist „Sie sind der Satan“. Schockiert über diese Bemerkung versuche ich die Dame zu beschwichtigen. Doch sie ist so schnell weg, dass ich ihr diese Treppenstufen nur keuchend nachfolgen kann, und als ich auf die Marktgasse springe ist die Gestalt verschwunden. Wie in Luft aufgelöst. Ich kann beeiden, dass ich dies im Herbst 1987 in St. Gallen als Abteilungsleiter Klaviere und Keyboards erlebt habe. Nachsatz: Was ist es, wenn wir über Dinge sprechen. Die der Mensch in seiner Einfachheit nicht begreifen kann u/oder will. Claudigat Ingenium, oder es wankt der Sinn. ** Hrn. Eddie Lüber ist ein Jahr später gestorben er hat sich nie mehr erholt.

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Das göttliche Treffen

Ich wache auf aus einem Schlaf voller Träume. Ein seltsames Geräusch hat mich geweckt. Meine

Augen müssen sich zuerst an das düstere Licht gewöhnen. Die Umgebung wirkt bedrohlich fremd. Ich

liege nicht in meiner vertrauten Umgebung. Um meine geschwungene Hüfte schlingt sich ein farbiger

Kanga, ein afrikanisches Wickeltuch. Meine Haut ist dunkel und weiblich. Zögernd fahre ich mit den

Händen über meinen Körper. Ich habe Brüste und ein ausladendes Becken. Ich bin eine Frau.

„Wer bin ich und warum ist meine Haut schwarz?“, frage ich mich selbst.

Ich versuche, mich nicht zu bewegen, denn neben mir liegt eine Gestalt, eine fremde Gestalt. Männlich

und nach Atem ringend. Er gibt Geräusche von sich wie eine monotone Maschine; er schnarcht. Alles

ist mir fremd.

Wie kommt er neben mich oder ich neben ihn?

Obwohl ich die Augen wirklich geöffnet halte, frage ich mich, ob ich träume. Eher ein schlechter

Traum. Ich stecke in einem schwarzen Körper fest. In einem Frauenkörper. In dem Raum, in dem ich

mich befinde, gibt es keine richtigen Fenster und nur quer stehende, aneinander befestigte Bretter

betonen die Türe.

Ich bin nicht im richtigen Leben und alles um mich herum ist falsch. Ängstlich schliesse ich die

Augen, um von hier zu verschwinden, mich aufzulösen und irgendwo anders wieder aufzuwachen. In

einem anderen Traum. Einem schönen Traum: Eine grosse Eichentüre öffnet sich und ich trete in eine

gewohnte Umgebung ein. Der Boden ist mit Marmorfliesen bedeckt und ich schreite darüber wie eine

Prinzessin. Ein riesiges Sofa zieht meinen Blick an. Es ist mit dunklem Leder eingefasst. Schwarz wie

Ebenholz. Davor steht ein rauchgläserner Salontisch mit einer runden Schale aus Olivenholz darauf.

Sie ist gefüllt mit verschiedenen Früchten. Bananen, Ananas, Mangos und Papayas. Ein fruchtiger

Duft findet den Weg in meine Nase, das Wasser läuft mir im Mund zusammen. Ich habe alles, was ich

mir vorstellen kann, und bin es mir nicht bewusst. Es ist alles selbstverständlich, aber leider nur ein

schöner Tagtraum.

Ich halte den Atem an und zähle auf zehn, aber nichts geschieht. Das monotone Geräusch liegt immer

noch neben mir. Zögerlich öffne ich die Augen und mit Überwindung richte ich meinen Blick auf den

Mann. Sein Bauch ist viel zu gross und behaart.

Ernsthaft überlege ich mir, aufzustehen und von hier zu verschwinden. Jedoch, wenn ich ihn

aufwecke, befinde ich mich dort, wo ich nicht sein will. In einem Spiel von Fragen, die vielleicht

niemand beantworten kann.

Und wenn ich tatsächlich eine Frau bin und mich nicht mehr erinnern kann? Was war letzte Nacht

geschehen? Hatten wir zu viel Alkohol oder Drogen konsumiert? Alles ist möglich. Alles.

Obwohl ich mir Mühe gebe, kann ich meine Gedanken nicht an gestern anknüpfen, ich kann sie nicht

einordnen. Ganze Sätze fehlen mir und die Worte sind verschwommen. Das Einzige, das mir dazu

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~ 2 ~

einfällt, ist unmöglich! Das bin nicht ich, das ist nicht mein Leben. Das hört sich irre an. Es ist irre.

Das ganze Leben ist irre.

Ich sitze im Leben drin, in diesem Zug, der irgendwohin fährt, dabei habe ich keine Ahnung, wo er

anhält und wo ich aussteigen möchte.

Die Matratze, auf der wir liegen, liegt auf dem lehmigen Boden. Es gibt keinen Tisch und keinen Stuhl

und unsere Kleider sind auf dem Boden verstreut. Ein muffiger Geruch umhüllt meine Nase und ich

habe das Gefühl, wir befinden uns in einer Hütte, die für Tiere gemacht wurde. Wäre ich ein Tier,

vielleicht ein Huhn, wäre es mir in dieser Umgebung wohl.

Das Leben kommt mir vor wie schweres Wasser, das wie Regen vom Himmel fällt. Es erdrückt mich,

zwingt mich in die Knie und nur auf allen Vieren komme ich vorwärts. Wie ein Tier.

Wenn ich es mir so überlege, muss ich sagen, irgendetwas läuft hier falsch. Aber was?

Und dennoch. Wäre es nicht schön, nach einer gewissen Zeit der Welt zu entfliehen? Sich in eine

andere Zeit zu katapultieren und gleichwohl die Erfahrungen von heute zu geniessen? Oder von

gestern.

Das monotone Geräusch bewegt sich. Sein Atem hat sich verändert. Es ist die Aufwachphase. Und ich

bin mir sicher, etwas Aussergewöhnliches wird jetzt geschehen. Ob ich will oder nicht. Habe ich eine

andere Möglichkeit?

Mit seinen grossen Augen schaut er mich verblüfft an. Dieser Blick sagt mir: Er kann sich ebenfalls an

nichts erinnern. Mit den Fingern reibt er sich den Schlaf aus den Augen oder um mich verschwinden

zu lassen. Weil er denkt, es sei immer noch ein Traum. Aber ich bin immer noch hier.

„Wo bin ich?“, fragt mich die tiefe Männerstimme. Während er mich sehr genau fixiert. Dabei stellt er

fest, dass er hilflos nackt neben mir liegt. Er hält sich die Hände vor seine Blösse und wird sich soeben

bewusst, wie sinnlos es ist.

Eine Frau und ein Mann gemeinsam in einem Bett. Was gibt es da noch zu verschleiern?

„Wer bin ich?“, frage ich ihn, weil ich weiss, dass ich nicht dort bin, wo ich sein sollte.

Erstaunt schaut er mich sehr genau an, um sich zu erinnern, was vorgefallen ist. Vielleich steckt in der

Erinnerung die Wahrheit.

Er faltet die Stirn und ist sich am Überlegen, was das alles soll. Eine Stille durchflutet die Hütte und

ich halte den Atem an.

„Du bist ich“, gibt er mir zur Antwort.

Seine Antwort verwirrt mich, aber verwirrt bin ich, seit ich aufgewacht bin.

„Wie kann ich du sein, wenn ich neben dir liege?“

Wie ich es mir gedacht habe, etwas läuft hier falsch.

Er sitzt auf und verweilt auf dem Rand der Matratze. Den Kopf in die Hände gelegt, weil die

Gedanken zu schwer sind.

„Ich weiss, es ist schwer zu verstehen, aber hör mir zu.“

Page 15: Literaturwettbewerb 2015 komplett

~ 3 ~

„Was muss ich verstehen?“, frage ich ungeduldig, weil ich weiss, wie viele Dinge es gibt, die nicht zu

verstehen sind. Sie sind ausserhalb unserer Vorstellungskraft.

Einen Moment herrscht zwischen uns Schweigen, weil er nach Worten sucht.

„Es sind fünf Jahre vergangen“, beginnt er zögerlich.

Ich habe keine Ahnung, was er damit meint.

„Warum sind fünf Jahre vergangen?“, frage ich ihn erwartungsvoll, weil ich endlich wissen will, was

hier vor sich geht. Und er beginnt zu erzählen.

„Vor acht Jahren kam ich nach Afrika, weil ich genug hatte von unserer Konsumgesellschaft. Für

mich war es hier das Paradies. Herrliche Sandstrände mit Palmen, immer warmes Wetter und lachende

Menschen. Aber die Schwarzen hatten auch nicht immer Grund zum Lachen. Grosse Arbeitslosigkeit,

Hunger und der Run auf das Geld waren ihre Probleme, fast wie in unserer westlichen Welt.

Ich dachte, ich sei im Paradies, aber dies stellte sich als eine Illusion heraus. Ich sass eines Abends an

einer offenen Bar und trank zu viel. Die Sonne war am Horizont verschwunden und die Grillen zirpten

im Chor. Zu viele Fragen durchflossen mein überreiztes Hirn. Warum nur wird mit dem Älterwerden

alles schwieriger?

Aber wem wollte ich auch diese Fragen stellen? Ausser dem Barmann war niemand da. Der lachte

sowieso die ganze Zeit über mich. Vielleicht, weil ich betrunken war, oder er sah das viele Geld, das

ich bei ihm liegen liess.

Also konnte ich mein Leid niemandem erzählen, dabei dachte ich, wenn man sein Leid erzählt, lindert

man es.

Er macht eine Pause, um sich zu vergewissern, dass ich ihm zuhöre. Dabei schaut er mich genau an,

mit einem Blick, der mich aufwühlt.

„Da dachte ich“, beginnt er wieder, „vielleicht hört Gott mir zu. Warum ich in dem Moment an Gott

dachte, wusste ich nicht. Denn ich dachte schon lange nicht mehr an ihn. Erst wenn es uns Menschen

schlecht geht, denken wir an Gott.“

Ich richtete mein Blick gegen den dunklen Himmel, der mit vielen Sternen übersät war, und schickte

meine Worte hinauf.

Wenn es dich gibt, dann melde dich.

Ahnungslos bestellte ich den nächsten Drink und der Barmann lachte. Ich nahm einen grossen Schluck

und liess den Kopf hängen. Die Augen fielen mir vor Müdigkeit zu. Ich schlummerte ein.

„Wer den Kopf hängen lässt, sieht wenig“, weckte mich eine Stimme.

„Wer bist du?“, fragte ich den neben mir Stehenden.

„Du hast mich gerufen“, gab er mir zur Antwort.

„Oh Gott!“, rief ich fast ein bisschen zu laut.

Page 16: Literaturwettbewerb 2015 komplett

~ 4 ~

Der Barmann lachte und ich rieb mir die Augen. Vermutlich war ich in einem Traum oder der Alkohol

war schuld.

Ich fragte Gott: „Warum ist alles so, wie es ist, und warum bist du schwarz und nicht weiss?“

Er war ein Schwarzer mit einem weissen Bart und kein Weisser, wie es uns immer auf den Bildern

gezeigt wurde. Das irritierte mich, weil ich es anders gewohnt war. Jedoch, wer konnte uns mit

Gewissheit sagen, wie er aussah? Denn die, die ihn gekannt hatten, lebten längst nicht mehr auf dieser

Welt. Also konnte man niemanden nach seinem Aussehen fragen. Wir konnten nur glauben, was uns

erzählt wurde.

Schliesslich wurde in den mehr als 2000 Jahren viel erzählt. Allerdings haben die meisten eine

Meinung und keiner eine Ahnung.

„Ich bin Gott und ich bin überall“, gab er mir rechthaberisch zur Antwort.

Dabei dachte ich nur: Er muss es ja wissen, wo er überall ist. Ich möchte manchmal auch wissen, wo

ich bin.

„Warum tut man das, was man tut, das Gute wie das Böse?“

Wie bei einem guten Freund legte er seinen Arm um meine Schulter. Ich nahm ihn fast nicht wahr,

weil er sich federleicht anfühlte.

„Das Gute verlangt mehr Willenskraft als das Böse und das Böse kommt von meinem Gegenspieler“,

gab er mir zur Antwort.

„Dem Teufel“, sagte ich und er nickte.

Weiter sprach er: „Fast alles, was du tust, ist eigentlich unwichtig, aber es ist doch sehr wichtig, dass

du es tust.“

Weise Worte, dachte ich für mich.

„Diese weisen Worte sind übrigens nicht von mir“, klärte er mich auf, „sondern von Mahatma

Ghandi.“

Gott schaute mich mit seinem durchdringlichen Blick an, als würde er mir in die Seele schauen. Ich

sass einfach da und hörte ihm zu. Seine Worte waren Balsam für meine Seele.

„Wenn du könntest“, fragte er mich, „wie würdest du die Welt verändern?“

Gott fragte mich, wie ich die Welt verändern würde. Ich war überrascht und dachte über diese mir

gestellte Frage nach. Wenn man unter Seinesgleichen war, wusste jeder irgendetwas, um die Welt zu

verändern, obwohl es uns ja gut ging. Aber jetzt fragte mich der Mann, der angeblich die Welt in sechs

- oder waren es sieben? - Tagen erschaffen hatte.

Der Barmann schaute mich an und lachte. Ich bestellte ein Glas Wasser, denn Alkohol hatte ich genug

in meinem Blut.

Der schwarze Mann mit dem weissen Bart sass neben mir und wartete auf meine Antwort. Vielleicht,

wenn ich eine gute Idee habe, kann er sie umsetzen.

Ich überlegte mir, wenn niemand Fehler macht, wäre der Welt und den Menschen schon viel geholfen.

Page 17: Literaturwettbewerb 2015 komplett

~ 5 ~

Als ob er meine Gedanken lesen konnte, sagte er zu mir: „Fehler sind wie Berge. Man steht auf dem

Gipfel seiner eigenen und redet über die der anderen.“ Ich musste ihm Recht geben, also überlegte ich

weiter.

„Das Geld abschaffen“, sagte ich ihm mit kräftigen Worten, damit er sie auch sicher hörte.

„Nicht schlecht“, seine bescheidene Antwort.

„Denn viele Menschen geben Geld aus, das sie nicht haben, für Dinge, die sie nicht brauchen, um

Leuten zu imponieren, die sie nicht mögen.“

Weiter drängte er mich.

Ich nahm einen grossen Schluck Wasser und richtete meinen Blick auf den Barmann, dessen

Aufmerksamkeit ebenfalls auf mich gerichtet war, als wäre auch er neugierig auf meine Antwort.

„Ich würde die Welt verändern“, begann ich, „indem ich eine Menschenrotation vornehmen würde.

Alle fünf oder zehn Jahre würde ich die Armen reich machen, die Schönen hässlich, die Dünnen dick

und aus Frauen würde ich Männer machen und umgekehrt und aus Weissen Schwarze. Jeder wäre das

Gegenteil von dem, was er gerade war. So wüsste jeder, wie es ist, so zu sein, wie man einmal war.

Kein Neid würde mehr sein, weil man irgendeinmal wieder so wird, wie man einmal war.“

„Super, sehr gut“, lobte er mich. Ich hätte das Zeug, Gott zu sein, gab er mir lächelnd zu verstehen.

Ich musste auch lachen und auch der Barmann lachte. Immer noch.

Er nahm seinen Arm von meiner Schulter und die anfänglich federleichte Last, die mich je länger je

mehr drohte, zu Boden zu drücken, wich von meinem Rücken. Entspannt hörte ich auf seine letzten

Worte.

„Geh in die Welt hinaus und liebe alle Menschen, vor allem die, die du hasst. Und denk daran, du

ähnelst denen, die du hasst, mehr, als du denkst und darum denkst du, dass du denen, die du liebst, nie

ganz nahe bist.“

Er zitierte noch ein afrikanisches Sprichwort: „Du weisst nicht, wie schwer die Last ist, die du selber

nicht trägst.“

Der Mann, der neben mir liegt, dessen Name ich nicht kenne, der, wie er behauptet, ich ist, hat

aufgehört zu erzählen. Er hat sich zu mir umgedreht und seinen Kopf auf den Arm gelegt. Neugierig

schaut er mich an, um mich zu beobachten. Vielleicht, ob er eine Regung in meinem Gesicht entdeckt.

Seine Augen bohren sich in meine und er steigt auf der Treppe hinab zu meiner Seele. Tritt um Tritt.

Tiefer und tiefer.

„Was denkst du über meine Geschichte?“, fragt er mich, weil ich schweige, nachdem er aufgehört hat

zu erzählen.

Die Geschichte ist unglaublich und es fällt mir schwer, sie zu glauben. Ich weiss daher nicht, was ich

ihm für eine Antwort geben soll. Vorausgesetzt, er erwartet eine.

Mein Grossvater pflegte immer zu sagen, wenn ich argwöhnisch gegenüber unglaublichen Dingen

war: „Du musst nur daran glauben und dann geschehen Wunder.“

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~ 6 ~

Tatsache ist, ich bin eine schwarze Frau in einer Hütte, in der es nach Tieren stinkt, und neben mir

liegt ein Mann, der behauptet, ich zu sein.

Schliesslich ist es unwichtig, was ich von dieser Geschichte halte. Ich finde mich mit diesem Schicksal

ab, das mir widerfahren ist, und mache das Beste daraus. Möglicherweise habe ich diesen Weg selbst

gewählt, also werde ich ihn gehen, bis zum Schluss. Wer weiss, vielleicht wird in einigen Jahren ein

Wunder geschehen und ich werde wieder ein Mann sein mit den Erfahrungen und Gedanken einer

Frau. Dann werde ich die Frauen als Mann besser verstehen, weil ich weiss, wie es ist, eine Frau zu

sein.

Gehören nicht alle Dinge zusammen und sind sie nicht miteinander verbunden?

Der Mann steht auf und sammelt seine Kleider, die auf dem Boden verstreut sind, auf, um sich

anzuziehen. Bevor er die Hütte verlässt, kniet er vor mich hin auf die Matratze, wartet einen Moment

und drückt mir einen zärtlichen Kuss auf die Stirne.

Er öffnet seine Lippen, um mir etwas zu sagen, und mein Blick ist auf seinen Mund gerichtet, als

könnte ich die Worte sehen, die jetzt aus seinem Mund kommen werden.

„Wenn du nicht mehr weiter weisst, dann leg ein Ohr auf den Erdboden, somit ist das andere für den

Himmel offen. Denn der Himmel und die Erde gehören zusammen wie der Tag und die Nacht.“

Er steht auf und ohne sich noch einmal umzudrehen, verschwindet er aus meinem Sichtfeld.

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1

Aussergewöhnliche Begegnung - oder

was zuviel für Anna Bühler war

Die achtzigjährige Anna Bühler trat als Patientin ins Spital ein. Ihr linkes Knie musste

durch eine Prothese ersetzt werden.. Sie war nur allgemein versichert. Ihr wurde

ein Bett im Viererzimmer zugewiesen

Anna Bühler war bekannt in der Stadt als Samariterin, Mitglied des Kirchgemeindera-

tes und des Theatervereines. Trotz ihres Alters war sie aushilfsweise als freiwillige

Helferin in der Kaffeestube des Altersheimes tätig und begegnete den Leuten stets

freundlich und hilfsbereit. Ihr schneller Schritt und ihre geschickte Hand waren ihr

Markenzeichen. Ihre humorvolle, optimistische Verhaltensweise in spannungsrei-

chen Situationen wirkte wohltuend auf ihre Mitmenschen und brachte ihr ausschliess-

lich Sympathien ein. Sie fand immer das richtige Wort zur rechten Zeit und ihre Arbei-

ten verrichtete sie trotz ihres Alters speditiv und absolut selbständig und zuverlässig.

Der Spitaleintritt wegen der Knieverletzung war für sie ein notwendiges Übel, das

sie so schnell als möglich hinter sich zu bringen gedachte.

.

Bevor die Krankenschwester die Türe zum Patientenzimmer öffnete, um Anna Bühler

ins Zimmer zu führen, drang durch diese ein dumpfes Geräusch wie von einem

Pressluftbohrer, einer Bandsäge und dem Schnarchen eines Pferdes, das aber au-

genblicklich verstummte, als die Schwester die Türe ganz öffnete und die beiden

Frauen eintraten.

Anna Bühler verstaute ihre Sachen in den ihr zugewiesenen Schränken, entkleidete

sich für die bevorstehende Untersuchung durch Labor und Narkosearzt und harrte

der Dinge die da kommen sollten.

Von den vier Betten war das dem ihren gegenüberliegende bereits besetzt. Darin lag

die siebzigjährige Ida Wüest. Sie war schon vor einigen Tagen mit dem Krankenwa-

gen direkt von ihrem letzten Kuraufenthalt hier ins Spital auf die chirurgische Abtei-

lung eingeliefert worden. Vier Transporthelfer und zwei Krankenschwestern waren

Page 20: Literaturwettbewerb 2015 komplett

2

nötig, um die 135 Kilo schwere Person von der Bahre ins Spitalbett zu hieven. Es

gab keinen Bettheber, in welchen die schwabbelnde Fettmasse hineingepasst hätte,

berichtete eine junge Praktikantin später Anna Bühler.

Anna Bühler war zunächst offen für die neue Situation und humpelte zu Ida Wuest,

um sich vorzustellen und die Mitpatientin zu begrüssen, bevor sie ihr eigenes Bett

bezog.

„Grüss Gott, - ich bin die Anna Bühler und werde morgen operiert. Ich bekomme ein

neues Knie! Sie haben es wohl schon hinter sich?“

„Ääch! Ääch! Ääääch!“ Aus einer weit aufgerissenen Mundhöhle kam Anna Bühler

einige Male nur ein krächzendes Räuspern entgegen.

Ein Arzt kam mit einer Pflegerin ins Zimmer und stellte Ida Wüest und der zuständi-

gen Pflegefachfrau noch einige Fragen.

Sie war demnach 1.53 Meter gross und 151 Kilo schwer. Dieses Gewicht, so sagte

sie, hätte sie schon in jungen Jahren gehabt. Sie habe halt immer gerne gegessen.

Ihre Mutter habe gut gekocht und Essen sei ihr Lieblingssport gewesen. Trotzdem

hatte sie es geschafft, drei Kinder zu empfangen und zu gebären, die ebenso wie sie

zu Körperfülle neigten. Die Ärzte wirkten etwas schockiert, was Ida Wüest zu einem

verlegenen Gekicher reizte. Neben dem Bett stand Idas Ehemann, dessen Bauch

von den Essgewohnheiten der Familie Zeugnis abgab.

Sie atmete schwer beim Sprechen, da sie wegen des riesigen Bauches ganz flach

liegen musste. Ihr fettes Schwabbelfleisch bedeckte die ganze Bettoberfläche.

Anna Bühler sah von ihrem Bett aus nur den grossen Kopf mit struppig kurzem Haar,

zwei kleinen Äuglein, dazwischen eine grosse, lange Knollennase und rechts und

links davon zwei steile Falten nach unten bis zum Kinn, eingerahmt von dicken Ba-

cken. Alles ging halslos direkt in den Brustkorb über.

Ab und zu kam ein dicker Arm mit einer unheimlich grossen, fleischigen Hand zum

Vorschein, mit der sich Ida Wüest am Bettbügel hochzog und dabei ein lautes Stöh-

nen von sich gab. In ihren anderen Arm war eine Infusionsleitung gesteckt und aus

der Nase ragte ein Sauerstoffschlauch.

Anna Bühler fühlte in sich ein ganz ungewohntes Gefühl von Widerwillen und Antipa-

thie hochsteigen, dessen sie sich aber sofort schämte und sich selbst mit den Worten

Page 21: Literaturwettbewerb 2015 komplett

3

beschwichtigte: „Ach die arme Frau, die hat ja schwer zu tragen!“ und sich mit dem

Durchblättern einer Zeitung zu beschäftigen Versuchte. .

Im Laufe des späten Nachmittags traten zwei weitere , jüngere Patientinnen ein, die

am nächsten Morgen an den Schultern auch operiert werden mussten und mit Anna

Bühler alsbald im Gespräch Kontakt gefunden hatten. Dann kam der Narkosearzt,

machte mit den drei Frauen die üblichen Abklärungen und gab die nötigen Informati-

onen für den morgigen Operationstag.

Ida Wuest sollte ebenfalls operiert werden. Ihre Abklärungen waren schon am Vortag

getroffen worden. Ihr Oberschenkel war spontan gebrochen, als sie sich bei ihrem

letzten Kuraufenthalt von einem Stuhl erhoben hatte. Durch die lebenslange Bewe-

gungsarmut und ihr enormes Übergewicht waren ihre Knochen defekt und brüchig

geworden. Sie lebte seit Jahren von einem „Unfall“ und anschiessendem Kuraufent-

halt zum nächsten Sie litt dadurch auch an schwerer Blutarmut und musste mehrere

Bluttransfusionen haben. Der dadurch gewonnene Energiegewinn löste aber bei ihr

keine neue Initiative aus. Sie erstickte alle Erwartungen an sie gleich mit einem „Das

kann ich nicht, das geht nicht, das will ich nicht!“. Ihr gefiel das Leben, so wie es war.

Stuhl- und Urin - Entleerungen waren ihr ohne fremde Hilfe nicht möglich. Im Grunde

fand sie ihren Zustand selbstverständlich und gar nicht abnormal. Er verschaffte ihr

ein bequemes Leben und befreite sie von Verpflichtungen. Ihr Interesse beschränkte

sich auf Krankheiten, ihre eigenen und die ihrer Mitmenschen.

In Spitälern und Kurhäusern war sie zu Hause. Die Kosten schienen sie nicht zu be-

schäftigen. Dem Pflegepersonal und den Mitpatienten gegenüber hatte sie einen

freundlichen Umgangston, solange man sie nicht auf Selbstverantwortung ansprach.

Da konnte sie sehr giftig werden.

Die erste Nacht vor dem Operationstag der drei anderen Frauen brach an. Sie be-

kamen nichts mehr zu essen, um für die Narkose nüchtern zu sein.

Ida Wuest Bett wurde einwenig hochgestellt, das Tischchen herangerückt und ihr

das Essen serviert. Man sah den grossen Kopf hinter dem Bauchberg auftauchen

und die fleischige Hand liess Brocken für Brocken in dem, zu einer grossen Höhle

gewordenen Mund verschwinden. Dann liess Ida Wuest das Bett mit dem Motor

gleich wieder hinunter und man hörte nur Schmatzgeräusche. Dieses Auf und Ab

Page 22: Literaturwettbewerb 2015 komplett

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wiederholte sich mehrmals, bis sie endlich das Tischchen wegstiess und wieder

flach lag. Dann war es eine Zeit lang ganz still.

Plötzlich ertönte wie mit einem Paukenschlag der erste dröhnende, unmenschliche

Schnarchzug aus Idas Bettecke.

Anna Bühler und die beiden anderen Frauen fuhren erschrocken hoch und sahen

einander entsetzt an. In periodisch sich steigernden Stössen fuhr Ida Wuest mit dem

Schnarchen fort, das, in der Intensität sich steigernd, dem Gebrüll eines Löwen, dem

Schnarchen mehrerer Pferde, dem Kreischen einer Bandsäge, unterbrochen durch

den lauten Aufschrei eines Säuglings, glich. Eine der beiden jüngeren Frauen drück-

te vor Schreck auf die Glocke. Sobald jedoch die Tür sich öffnete und die Pflegerin

eintrat, war es in Idas Ecke augenblicklich still! Das Türöffnen musste bei ihr einen

Reflex auslösen, der ihren entspannten Schlafzustand und damit das brünstige

Schnarchgebrüll sofort unterbrach.

Anna Bühler versuchte der Pflegerin zu erklären, um was es da ging. Diese zeigte

aber nur ein professionell kühles Mitgefühl, fand, damit müsse man sich im Mehrbett-

zimmer einfach abfinden und teilte Schlaftabletten und Ohrenstöpsel aus. Letztere

waren überhaupt nicht schalldicht nach aussen und verstärkten nur das eigene

Herzklopfgeräusch.

Über jedem Bett war ein kleiner Fernsehschirm mit Kopfhörern. Anna Bühler und ihre

Mitgenossinnen schluckten brav die Tabletten, schlummerten kurz ein und schreck-

ten aber nach kurzer Zeit wieder auf, wenn Idas Schnarchgedröhne einsetzte.

Alle zwei Stunden kam eine Nachtschwester und machte die üblichen Kontrollen. Da

war es in Ida Wuests Ecke jeweils mucksmäuschenstill, höchstens, dass sie mit der

Schwester mit tapfer leidender Stimme ein paar freundliche Worte wechselte.

Die drei Operationskandidatinnen zappten sich mangels Schlafmöglichkeit bis in die

frühen Morgenstunden durch die Fernsehprogramme und waren froh, als eine nach

der anderen abgeholt wurde und sie im Operationssaal in den endlich erlösenden

Narkoseschlaf sinken konnten.

Kaum erwachten sie nach überstandener Operation am Nachmittag in ihren Betten,

mit Infusionsleitungen in den Armen und Kathetern in der Blase, war das erste Ge-

Page 23: Literaturwettbewerb 2015 komplett

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räusch, das sie hörten, Ida Wuests Geschnarche. das wurde nur unterbrochen, wenn

Besuch oder Pflegepersonal ins Zimmer kam. Idas Besuche brachten ihr immer

Esswaren mit. Dazwischen waren die drei Frauen der Lärmfolter hilflos ausgesetzt.

Sie resignierten, denn niemand nahm sie ernst. Zufolge Idas Schnarchstopreflex

konnten sie keinen Beweis erbringen. Die Narkose war für lange Zeit ihr letzter

Schlaf gewesen.

Schliesslich wurde Ida Wuest’s an und für sich harmloser Beinbruch von einem muti-

gen Chirurgen auch operiert. Es dürfte für ihn nicht einfach gewesen sein, durch das

Fett der Oberschenkel mit einem Durchmesser von gut einem halben Meter sich bis

zu dem Knochen hindurch zu arbeiten. Fünf kurze Stunden waren den drei Frauen

Stille und einwenig Schlaf gegönnt. Dann wurde Ida zurückgebracht und das

Schnarchen ging mit verstärkter Heftigkeit los. Die Operation ermöglichte ihr erneut

absolute Bettruhe und Betreuung von oben bis unten.

Anna Bühler und die beiden anderen Frauen mussten bereits am ersten Tag nach

der Operation ohne Katheter wieder aufstehen und übten mit allen Kräften und Hilfe

von Therapeuten ihre Selbständigkeit. Bei Ida Wuest wurde am zweiten Tag ein Auf-

stehversuch unternommen. Zwei Therapeutinnen und zwei Pflegerinnen versuchten,

sie an den Bettrand zu heben. Als Ida schliesslich mit weit gespreizten Beinen den

Boden berührte, sank sie gleich den beiden Pflegerinnen in die Arme, diese gingen

unter dem Gewicht zu Boden. Zwischen Idas Beinen hing die untere Fettschürze bis

zu den Knien, während der obere Überhang des schwabbeligen Fettbauches gegen

die Nasen der zu Boden gesunkenen Pflegerinnen drückte. Die Alarmglocke wurde

betätigt. Schliesslich waren sechs Personen mit allen Kräften beschäftigt, Ida wie-

der ins Bett zu ziehen, wo man sie für die nächsten Tage in Ruhe liegen liess und

weiterhin von Kopf bis zu den Füssen wusch und ihre Entleerungen besorgte.

Nach fünf schlaflosen Nächten konnten die jüngeren Patientinnen das Spital verlas-

sen. Die allein in einem Haushalt lebende, alte Anna Bühler musste neun Nächte

ausharren. Die beiden Betten waren leer geblieben. In jeder schlaflosen Nacht stei-

gerte sich in Anna’s an und für sich menschenfreundlichem Gemüt das Gefühl von

verzweifelter Wut, Abscheu und Empörung bis ins Masslose. Eine bis jetzt unge-

wohnt heftige Aggression gegen Fettleibige machte sich in Anna breit Ihre Gedanken

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kreisten nur noch um die Erwartung von Idas Schnarchen. Wenn es nachts einmal

eine Schnarchpause gab, war Ida mit raschelndem Auspacken von mitgebrachten

Esswaren und deren Verschlingen beschäftigt. Es schlug Anna auf den Magen und

verursachte Zuckungen in ihren Händen. Die nächtelange Schlaflosigkeit zeigte ihre

Folgen. Die zunehmende Aggression weckte in der friedlichen Anna Mordphanta-

sien. Jedesmal, wenn Ida Wuest Esswaren auspackte, das Papier raschelnd zu Bo-

den fiel und sie schweineartig schmatzend, keuchend und dazwischen hustend und

speiend die Sachen verschlang, fühlte Anna Huber in ihren Händen ein Kribbeln auf-

steigen, das langsam sich zu einem Krampf entwickelte, der erst Erlösung fand,

wenn sich die Hände in einer Art Würgebewegung um einen Zipfel ihrer Bettdecke

schlossen.

Als Anna in ihrer letzten Nacht auf die Toilette humpelte, ¨überfiel sie, vielleicht zufol-

ge der langen Schlaflosigkeit ein Schwindelgefühl. Sie schwankte gegen Ida Wuests

Bett. Verschwommen sah sie die grosse Mundhöhle zwischen den dicken Backen,

aus der das grauenhafte Geschnarche herausgurgelte. Zwanghaft langte sie vom

nebenstehendem, leeren Bett ein Kissen und drückte dieses auf Idas Kopf.

Alle Güte, alle Mitmenschlichkeit, alle Vernunft, alle Verantwortlichkeit waren aus

dem Gemüt der sonst so liebenswürdigen, geduldigen und humorvollen Frau ver-

schwunden. So unvorstellbar es klingen mag, - sie fühlte nur noch Mordlust und

Hass. Dabei knickte sie auf ihrem operierten Knie schmerzhaft ein und musste sich

eine Weile auf das Kissen abstützen, um sich wieder aufrichten zu können. Dann

legte sie wie in Trance das Kissen auf seinen Platz zurück, ging Wasser lösen und

begab sich hinkend in ihr Bett. Ein Schwindel trübte ihr Bewusstsein und sie fiel in

den frühen Morgenstunden nach neun durchwachten Nächten in einen traumlosen

Schlaf.

In Idas Ecke war es jetzt still, ganz still.

Anna Bühler erwachte, als ein Arzt und einige Pflegerinnen um Ida Wuests Bett leise

redend herumstanden und etwas von „cardial.....“ oder so Ähnlichem murmelten.

Schliesslich schoben sie das Bett samt der verstummten Ida aus dem Zimmer. Rich-

tig wach wurde Anna erst, als es wieder ungewohnt still im Zimmer war. Idas Bett war

tatsächlich weg.

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Anna Bühler bekam noch ihr letztes Spitalfrühstück. In ihrem Kopf war eine grosse

Leere. Den Albtraum der letzten Nacht mit den möglichen Konsequenzen verdrängte

sie. Das Vierbettzimmer gehörte in diesen Momenten ihr alleine. Ganz tief in ihrem

Inneren tauchte die Frage „Bin ich eine Mörderin?“ auf. Den Gedanken verdrängte

Anna sofort. Sie wollte gar nichts wissen, nichts fragen, nur weg von hier, nur hinaus,

nur nach Hause! Anna packte ihre Sachen ein und eine Pflegerin begleitete sie zum

Ausgang und wünschte ihr alles Gute. Niemand merkte, dass Anna unter Schock

stand. Ein Freund holte sie mit dem Auto ab und brachte sie samt neuem Knie und

Krücken heim, begleitete sie noch in die Wohnung und verabschiedete sich rasch.

Sie brauchte einige Tage und Nächte, um sich von dem Schnarchtrauma zu erholen.

Der vermeintliche Mord blieb ihr Geheimnis.

Nach acht Wochen ging Anna wieder zur Arbeit in der Kaffeestube des Altersheimes.

Freudig wurde sie von den Kolleginnen begrüsst. Sie wandte sich der Theke zu und

sah zu den Gästen.

Im Gegenlicht vor dem Fenster sah sie die kegelförmige Rückseite einer sitzenden

Person im doppelbreiten Rollstuhl, deren Hinterbacken mindestens zwei Sitzflächen

bedeckten.

„Wir haben gestern eine neue Patientin für die Pflegeabteilung bekommen. Sie kam

direkt aus der Rehabilitationsabteilung vom Spital. Ida Wuest ist ihr Name“, erklärte

ihr die Heimleiterin.

Anna Bühler erbleichte, fiel in Ohnmacht und verstarb am gleichen Tag an einem

Herzinfarkt.

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Mutz mit und ohne...

Das Haus, in dem Rena aufuuchs, befand sich an einer Geschäftsstrasse. Die

Passanten hatten es immer eilig. Das Mädchen hatte einen lieben Papa und ein

herzensgute Mama, aber diese waren als Geschäftsleute immer so beschäftigt, dass

sie wenig Zeit übrig hatten für ihre einzige Tochter. Sie war deshalb oft allein und

eignete sich dadurch ungeahnte Fähigkeiten an, um sich selber zu beschäftigen.

Als Rena dann zur Schule ging, wurde sie oft als Träumerin hingestellt. Nachdem sie

das ABC gelernt hatte, war Deutsch ihr Lieblingsfach. In die verlangten Aufsätze

konnte sie hervorragend ihre ganze Phantasie und all ihre Träumereien einfliessen

lassen. Oft entsprachen die Geschichten aber auch der Wirklichkeit, denn die Eltern

bemühten sich sehr, sich wenigstens an den Wochenenden etwas mehr um ihr

geliebtes Töchterlein zu kümmern und zeigten ihr die Sehenswürdigkeiten und

Schönheiten des ganzen Landes. Demzufolge entstanden dann, unter der immer

geübteren Hand von Rena, die reinsten Reiseberichte, und die Lehrer konnten nicht

mehr unterscheiden zrarischen Wahrheit und Dichtung.

Rena hatte einen äusserst kurzen Schulweg, denn hinter ihrem Wohnhaus befand

sich gerade der Pausenplatz und das Schulhaus sowie die Turnhalle. In der grossen

Pause konnte Rena das Stück Brot und den Apfel vom elterlichen Balkon aus in

Empfang nehmen. Sie wurde flir diesen Vorteil so oft gehänselt von den MitschÜlern,

bis sie schliesslich darauf verzichtete.

In der angrenzenden Turnhalle waren in der Ferienzeit oftmals Soldaten einquartiert.

Eines Tages, während des Krieges, rollten etliche Panzer auf den Pausenplatz. Das

musste die momentan unbeaufsichtigte, gwundrige Rena unbedingt sehen und mit-

erleben. Sie war so aufgeregt und hatte es eilig hinter das Haus zu kommen - und

schon war es passiert. Rena stolperte, fiel hin und schlug den Kopf an einem

scharfkantigen Sockel auf. Rena schrie laut vor Überraschung und Schmerz.

I,l/l

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Nachbarn eilten herbei um zu helfen. Es war kein schöner Anblick; überall Blut - viel

Blut. Die Eltern wurden alarmiert und rannten entsetzt herbei. Ein sofortiger Gang

zum Arzt war unerlässlich. Die kleine Rena war so zappelig, dass sie von vier

Personen gehalten werden musste beim Nähen der Wunde dicht über dem Auge.

Sie hatte eigentlich grosses Glück gehabt bei dem Unfall, aber Rena betrachtete das

als grosses Unglück und konnte es fast nicht verkraften. Es war das erste Mal, dass

ihr so etwas Schreckliches passierte. Sie verstand die Welt nicht mehr, und obwohl

die äusserliche Wunde relativ schnell heilte, war sie immer traurig und zog sich in ein

Schneckenhaus zurück.

lrgend jemand musste den verzweifelten Eltern einen guten Tip gegeben haben wie

man diese fast unerträgliche Situation ändern könnte, denn eines Tages tauchte ein

kleines, wollknäuelartiges Wesen auf; ein heziges Kätzlein. Da hellte sich das

Gesicht von Rena schnell wieder auf und sie kroch nach und nach aus ihrem

Schneckenhaus heraus. Bisher hatte sie nur mit steifen Puppen gespielt, nun hatte

sie etwas Niedliches, Lebendiges zu betreuen. Trotzdem das Büsi schwarz-weisse

Farbe aufwies, erinnerte es mit seinen langen seidigen Haaren an einen Bärimutz

und so wurde es kurzerhand Mutz getauft und von nun an so gerufen.

Besonders auffällig war der buschiger Schwanz der kleinen Katze. Der sollte ihr

später helfen, vom immer etwas offen gelassenen Küchenfenster aus, über einen

etwa zwei Meter breiten Durchgang, auf Nachbars niedriges Dach zu springen, sich

mit samtigen Pfoten hinunter zu tasten und über eine Holzbeige hinab zu steigen.

Auf dem gleichen Weg kam sie auch wieder herein; wahrhaft ein Meisterstück! Und

so hatte die Katze die Freiheit, ein und aus zu gehen wann immer sie wollte.

Für ihr Fressen machte Mutz alles. Ein- bis zweimal die Woche kam sie in den

Genuss von Lunge, die Rena beim Metzger kaufen durfte. Diese war in einem

dünnen, stark knisternden Papier verpackt. Nach kurzer Zeit kannte Mutz dieses

-7L-

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Geräusch und man konnte sie damit in Windeseile in den 2. Stock des Hauses hinauf

locken und in die Küche, wo in einer Ecke ihr Fressrrapf stand. Manchmal wurde

diese Reaktion auch missbraucht, und Mutz wurde durch knittern einer Zeitung

hinauf gelockt, auch wenn nur Hörnli in ihrem Teller waren. Es klappte jedesmal.

Papa und Rena liebten das putzige Tier abgöttisch, Mama war nicht so begeistert.

Mutz war zwar stubenrein, aber immer wenn sie ein oder zwei Nächte weggeblieben

war, also nach der ,,Katzenhochzeit", wollte sie ein paar Tage nicht mehr ins Freie

gehen für ihre Notdurft. Mama fand dann jeweils die Bescherung ziemlich schnell.

Als dann offensichtlich wurde, dass Mutz bald Mutter werden würde, gewöhnte man

sie ganz eindeutig an einen kleinen Wäschekorb, mit alten, sauberen Decken

gepolstert, in einem Raum im Untergeschoss. Da auch dort das Kippfenster immer

ein wenig geöffnet war, hatte Mutz diese Bleibe schon früher ausgesucht, wenn sie

nicht gestört werden wollte. Was lag näher, als ihr dort das Kinderzimmer

einzurichten.

Mutz war eine gutmütige, anhängliche Katze und war offensichtlich zufrieden mit

ihrer Betreuerin, dem Mädchen Rena. So war es nicht venruunderlich, Dass Mutz

Rena auf die nahende Geburtsstunde aufmerksam machte. Sie schlich auffällig um

die Beine des Mädchens, miaute und lockte Rena richtiggehend ins Untergeschoss.

Mutz wollte Rena ganzeindeutig bei der Geburt der Kätzchen dabei haben.

Freudig unterrichtete Rena die Eltern vom bevorstehenden Ereignis und diese gaben

ihr den Rat, wenn Mutz es zulassen würde, sollte ihr Bauch mit sanftem Druck

gestreichelt werden. Die Katze war dankbar für die Hilfe und blinzelte Rena im

Halbdunkel zu und schnurrte sogar zwischen zwei Geburten. Es brauchte viel

Geduld, aber am Schluss lagen vier feuchte, blinde Wollknäuel neben Mutz. Man

brachte ihr schwachen Milchkaffee mit Brotbrocken ans Wochenbett, aber nach zwei

Tagen bestand sie darauf, wieder an ihrem angestammten Platz zu fressen.

-)

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Von nun an wusste man genau, wo man Rena suchen musste. Sie verbrachte ihre

ganze Freizeit im Untergeschoss und beobachtete genau die Entwicklung der kleinen

Wesen. Mutz war eine gute Mutter und betreute ihre Nachkommen vorbildlich. Nach

etwa einer Woche öffneten sie die Augen und begannen sich tolpatschig zu

bewegen. Nun konnte man auch schon erkennen in welcher Farbe sie gezeichnet

waren. Es waren ganz verschiedene: ein ganz schwarzes, ein schwaz-weisses, wie

die Mutter, und zwei getigerte.

Mit grossem Interesse verfolgte Rena die Fortschritte der Katzenkinder und natürlich

kamen sie auch in ihren Aufsätzen vor. Das Mädchen hatte viel gelernt beim

genauen Beobachten der Aufzucht der Jungtiere, unter anderem auch, dass man

sich im Leben immer wieder von etwas Liebgewonnenem trennen muss. Die nun

selbständig gewordenen jungen Katzen mussten an Freunde und Bekannte

weitergegeben werden.

Bei einem totalen Umbau des Hauses musste die ganze Familie für etwa ein Jahr in

ein Häuschen in einem anderen Quartier umziehen. Zwischen den beiden

Wohnorten lag eine viel befahrene Strasse und die Bahnlinie. Die vorübergehende

Bleibe lag am Rande des Dorfes und war von einem Garten umgeben. Auf dem

Nachbargrundstück standen Obstbäume und es war viel ruhiger dort. Das gefiel

natürlich nicht nur Rena und ihren Eltern ausserordentlich gut, sondern auch Mutz.

Sie konnte auf Bäume klettern, sich im Garten tummeln oder dort an der Sonne

dösen. Sogar Mäuse konnten mit einiger Geschicklichkeit gefangen werden. War das

ein Katzenleben!

Nur allzu schnell kam die Zeil, da man wieder in die Dorfmitte zügeln musste, weil die

Renovation abgeschlossen war. Mutz war verständlicherweise gar nicht

einverstanden damit, und zwei Tage später war die gute Katze unauffindbar. Nach

zwei weiteren Tagen machte sich die ganze Familie auf, das geliebte Tier zu suchen.

Page 30: Literaturwettbewerb 2015 komplett

Ob es wohl Mutz in das herrliche Revier mit Bäumen und Mäusen zurückgezogen

hatte? Aber das schien unmöglich; - die Strasse, die Bahnlinie und der weite Weg.

Doch siehe da, Mutz kam nach einigem Rufen aus einem Schlupfwinkel jener

Gegend. Wahrscheinlich war sie froh, dass man sie gefunden hatte, und sie trottete

gemächlich hinter ihrer Betreuerin her, den ganzen Weg zurück ins Dorf. Mutz

wiederholte den Ausflug noch mehrere Male, und es war schon zum Ritual

geworden, sie zurück zu holen. Manchmal lief sie auch voraus und wahrscheinlich

hätte sie den Weg auch allein gefunden.

Mutz wurde älter und ihre Eigenheiten immer ausgeprägter. Sie sass gerne vor der

Tür am Hauseingang und beobachtete die Leute die vorbei hasteten. Wegen des

nahen Schulhauses war es auch der Heimweg vieler Kinder. Diese wollten das

herzige Büsi immer streicheln, aber das liebte Mutz gar nicht. Sie wehrte sich, indem

sie die Schüler in die Hand biss. Das ging solange, bis sich Beschwerden von der

Schulbehörde und den betroffenen Eltern häuften. Wie sollte man das Problem

lösen? Einsperren konnte man Mutz nicht, einschläfern wollte man sie nicht. Sie war

Rena und ihrem Papa so ans Hez gewachsen. Aber es kamen immer wieder böse

Reklamationen und man mussfe sich von Mutz trennen.

Zum Leidwesen von Rena entschied Papa, das sonst gutmütige Tier bei entfernt

Verwandten auf dem Bauernhof einzuquartieren, wo man es vielleicht gelegentlich

besuchen konnte. Das neue Heim von Mutz lag etwa 30 Km entfernt. Ein grosses

Stück Wald und der Fluss lagen dazwischen. Am nächsten Wochenende, als man

nach der liebe Katze sehen wollte, bedauerten die Verwandten, sie hätten Mutz am

nächsten Tag nicht mehr gefunden und seither sei sie verschwunden. Rena war sehr

traurig, als Mutz auch in den nächsten Tagen nicht zu finden war. Sie wollte nicht

wahr haben, dass ihr Liebling so mir nichts - dir nichts wie vom Erdboden verschluckt

sein sollte. Es dauerte eine geraume Weile bis sie sich halbwegs damit abfinden

Page 31: Literaturwettbewerb 2015 komplett

konnte, aber da war nichts zu machen, Mutz war und blieb verschwunden. Rena und

ihr Papa verdrängten die Gedanken an Mutz nach dem Motto ,,die Zeit heitt Wunden".

Nach etwa einem Jahr sass plötzlich eines morgens eine Katze vor der Haustür. Sie

machte einen sehr verwilderten Eindruck und duckte sich ständig, aber sie glich Mutz

wie eine Zwillingsschwester. Beim Erwähnen des Namens miaute sie leicht und

stand auf. Oh weh, was für ein schrecklicher Anblick! Das arme Büsi hatte keinen

Schwanz mehr, sondern nur noch einen Stummel. Mein Gott, was muss diese arme

KaEe wohl durchgemacht haben!

Rena und die anderen Familienmitglieder rätselten, ob es sich hier um Mutz handeln

könnte. Man musste es testen! Als ihr die Tür einladend geöffnet wird schleicht sie,

immer noch geduckt, die Treppe hinauf in den zweiten Stock. Sie geht schnurstracks

in die Küche und auf den Platz zu, wo früher ihr Fressnapf gestanden hatte. Nun

bestanden keine Zweifel mehr; das konnte nur Mutz sein. Welche andere Katze

würde sich so gut auskennen. Rena hüpft vor Freude und fällt allen um den Hals. Sie

ist überglücklich, sie hat ihren verloren geglaubten Liebling wieder. Am nächsten Tag

funktioniert sogar der alte Trick mit dem Fleischpapier. Sehr erstaunt waren

allerdings alle, als Mutz den Zweimetersprung vom Fenstersims zum Nachbardach

wagt, wo man doch sagt; Katzen würden ihre Sprünge mit dem Schwanz steuern.

Rena und Mutz, ohne Schwanz, durften noch ein paar glückliche Jahre miteinander

verbringen. Fremden Menschen jedoch wich das malträtierte Büsi fluchtartig aus. Ob

ein bösartiges menschliches Wesen der Katze dieses Leid angetan hatte, oder ob es

ein Unfall war? Rena würde es nie erfahren.

Page 32: Literaturwettbewerb 2015 komplett

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Eine aussergewöhnliche Begegnung (Begegnung mit der Ewigkeit)

Ich schrak aus einem Traum hoch.

Mit geschlossenen Augen blieb ich unbeweglich liegen. Der Eindruck der inneren

Bilder lastete schwer auf mir, mein Puls raste. Unbehaglich horchte ich in mich hinein,

versuchte mich an das Traumgeschehen zu erinnern.

Langsam materialisierte sich eine Szenerie vor meinem inneren Auge: Ich sah mich

am Fenster stehen. Draussen, in einiger Entfernung, befand sich eine Strasse. Ich sah

eine Ambulanz, gefolgt von einer weiteren.

Zwei sich nähernde Ambulanzen mit Blaulicht.

Dieser mein Traum machte mich frösteln. Ich holte tief Luft, wollte mich entspannen,

doch das ungute Gefühl wich nicht von mir. An Schlaf war nun nicht mehr zu denken,

so stand ich auf und trat ans Fenster.

Hauenstein, eine kleine Passgemeinde im Solothurner Kettenjura, lag noch ganz

verschlafen im diffusen Oktoberlicht. Von der Rankwog über das Rankbrünneli krochen

Nebelfetzen das Trimbacher Tal herauf, zogen in rascher Folge an den Behausungen

der Menschen vorüber. Ab und zu war ein Blick auf eine blasse Sonnenscheibe zu

erhaschen, ehe diese sich wieder in graue Schleier hüllte. Die Nebel ─ getrieben von

kühlen Luftströmen ─ rüttelten an Dächern und Fenstern und ich ahnte die baldige

Wiederkehr der gefürchteten Herbststürme.

Dann endlich, die Stunde hatte soeben zwölf Mal geschlagen, öffnete sich der

Himmel, das goldene Herbstlicht kehrte zurück.

Ich atmete auf. Wenngleich die Freude am Licht von kurzer Dauer sein würde, da

die Oktobersonne die Nebel nur wenige Stunden in Bann zu halten vermag.

Ein Hauch von Melancholie lag über den bunt gefärbten Wäldern der Jurahöhen.

Die Luft war erfüllt von der betörenden Süsse der Herbstrose, darunter mischte sich als

würzige Note der Pilz ─, heimlicher Bewohner des herbstlichen Waldes.

Ich nutzte die Gunst der Stunde zu einem Spaziergang. In den Wald wollte ich mit

meinem Mann Konrad, das beschauliche Schlendern durch ein Bett aus raschelnden

Blättern bereits vor Augen. Es galt, zeitig aufzubrechen, denn die Dunkelheit bricht früh

herein über herbstliches Land.

Ich wünschte mir eine schöne, eine idyllische Sonntagswanderung, nichts

Page 33: Literaturwettbewerb 2015 komplett

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Anstrengendes, ohne übermässigen Verschleiss von Kräften. Nur etwas Licht und

frische Luft, den Lebensgeistern Gutes zu tun.

Hauenstein erstreckt sich in unmittelbarer Nähe der Jurawälder. Weniger Schritte

bedurfte es und bereits waren wir im Wald, tauchten ein in dessen dunkles Reich. Der

durch die Baumkronen streichende Wind liess das in Rot erglühte Laub in einem

anmutig schaukelnden Tanz auf uns herabschweben; wir freuten uns über dieses

schöne Bild und hätten am liebsten versucht, wie in Kindheitstagen möglichst viele der

Blätter noch im Fluge zu fangen.

Wir gingen den Lichtberg entlang nach Unter Wald und zu unserer Rechten,

zwischen den Buchen, sahen wir Abschnitte des Dorfes und der Passstrasse. Begleitet

wurden wir vom Dröhnen des dichten Ausflugsverkehrs, das sich mit dem Bimmeln der

glockenverzierten Kühe zur sonntäglichen Kakofonie mischte.

Nach einigen Minuten entspannten Flanierens erreichten wir einen Rastplatz mit

kleiner Feuerstelle und drei Sitzbänken. Hier war es ruhig und friedlich, der Lärm der

Zivilisation drang nicht an diesen Ort. Einer der Bänke war nahe einem Felsvorsprung

errichtet worden und wir nahmen diese Sitzgelegenheit gerne wahr. Tief unter uns

verlief das Trimbacher Tal, im Hintergrund blitzten die Fluten der Aare. An klaren

Tagen konnte man eine wundervolle Fernsicht geniessen über das Mittelland und die

Voralpen bis zu den Eisriesen Eiger, Mönch und Jungfrau. Wir wagten uns vor zur

Spitze des Felsens und warfen einen ängstlichen Blick in die Tiefe, dabei malten wir

uns aus, wie herrlich es jetzt wäre, einem Vogel gleich abzuheben.

Als hätte ihn jemand herbeigerufen, erschien über unseren Köpfen ein grosser

Mäusebussard. Die Aufwinde aus dem Tal ermöglichten ihm ein müheloses Gleiten.

Ohne mit den Flügeln zu schlagen, zog der Vogel einen grossen Kreis und entschwand

wieder unseren Blicken.

Sekundenbruchteile später riss uns ein schrilles „pijääh!“ jenseits des Blätterdachs

aus unserer gemütlichen Idylle. Ich kannte den Ruf des Bussards, und hierbei handelte

es sich klar um einen Alarmruf. Irgendetwas schien den Greifvogel zu beunruhigen. Ich

verspürte leises Unbehagen. Schnell stand ich auf, es war Zeit diesen Ort zu

verlassen.

Vielleicht war es der Schrei des Vogels gewesen, der den Impuls in mir auslöste,

unseren Spaziergang nicht in gewohnter Weise fortzusetzen, indem wir den

bewaldeten Hügel hinauf zur Frohburg weiterzogen. Stattdessen deutete ich auf einen

Page 34: Literaturwettbewerb 2015 komplett

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schmalen Pfad, der den Abhang hinabführte. „Seit Jahrzehnten durchstreifen wir die

Wälder, diesen Weg jedoch habe ich bislang übersehen. Wohin der wohl führt?“,

erkundigte ich mich bei Konrad. Er zuckte mit den Schultern. „Ich kann mich vage

erinnern, diese Wegstrecke vor Jahren mal gegangen zu sein, allerdings aus

entgegengesetzter Richtung, vom Tale her kommend.“ Augenzwinkernd fügte er hinzu:

„Aber das ist eine halbe Ewigkeit her, ich könnte mich täuschen.“ Sein Blick ruhte auf

mir.

Erneut überkam mich dieser unbestimmte Impuls, der so eigentlich nicht zu mir

passt.

„Diese Route führt wohl kaum ins Nirgendwo. Finden wir es heraus!“

Es ging abwärts, bereits nach einem guten Dutzend Schritten aber war es, als hätte nie

ein Pfad existiert. Die Vegetation hatte das, was einst ein Weg gewesen war, beinahe

komplett überwuchert. Wir beratschlagten uns kurz. Sollten wir weiter geradeaus

gehen oder eher nach rechts abbiegen, wo ein zweiter schmaler Trampelpfad zu

erkennen war?

Der Entscheid, auf unserem ursprünglichen Pfad zu bleiben, fiel einstimmig.

Zügig ging Konrad voraus. Während ich ihm folgte, hielt ich Ausschau nach

geeigneten Holzstecken als Gehhilfe. Der starke Regen der vergangenen Tage hatte

das Herbstlaub auf dem Waldboden in eine glitschige Masse verwandelt. Die Stecken

waren schnell gefunden und bald waren wir froh darüber, da der Abstieg sich

schwieriger gestaltete als gedacht. Steil ging es bergab, und immer wieder sahen wir

uns gezwungen, mühselig über flechtenbewachsene Baumstämme zu klettern, die uns

wie Schlagbäume am Zoll den Weg versperrten.

Hier musste vor einigen Jahren ein schlimmer Sturm gewütet haben, wegen der

grossen Anzahl gefällter Bäume. Und der Mensch hatte die Bäume an Ort und Stelle

belassen. Ich vermutete, um den zahlreichen Organismen des Waldes Nahrung und

Schutz zu ermöglichen. Spechte, Ameisen, Pilze und Moos ─, alle sind sie angewiesen

auf Totholz.

Über uns ertönte erneut ein Warnruf, dieses Mal war es die raue Stimme des

Eichelhähers.

Mein Gefühl des Unbehagens war zurück.

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Endlich wurde das Gelände weniger abschüssig und vor uns öffnete sich eine Lichtung

am Sockel einer Felswand. Auch hier war der Wald zurückgedrängt worden, sei es

durch Sturmschlag oder Menschenhand. Zahllose verstreut umherliegende

Felsbrocken bildeten einen anspruchsvollen Hindernisparcours, der unsere

Kletterkünste auf die Probe stellte. Vorsichtig balancierten wir über das Gestein und

über Reste gefallener Bäume, auf denen üppige Büschel von Stockschwämmchen

wuchsen. Ringsum wucherte eine Pflanzenwelt, die an diesem sonnigen Platz vielfältig

gedieh. Die Sträucher der Hagebutte, der Vogelbeere und der Himbeere drängten sich

auf kleinem Raum und wir kosteten von den reifen süssen Himbeeren. Wir gönnten

uns nur eine kurze Rast, die Zeit drängte, zudem fühlten wir uns geradezu bedrängt

von der spriessenden Vegetation. Während mein Mann weiter vorausging, hielt er sich

mit seinem Stock die von allen Seiten an ihn heranrückenden dornenbewehrten

Ranken vom Leib. Auch ich wurde nicht verschont. Immer wieder verlor ich beinahe

das Gleichgewicht, da ich mich mit aller Kraft von Schlingpflanzen losreissen musste,

die mich wie unsichtbare Fangarme an den Unterschenkeln gepackt hielten. „Zutritt zu

diesem Reich ist unerwünscht“, murmelte ich und beeilte mich, zu Konrad

aufzuschliessen.

Unterdessen stapften wir durch ein Meer aus hohem Gras, abgeblühten Pflanzen

und stacheligen Samenkörpern. Ganz in der Nähe erhoben sich die krächzenden

Stimmen einer Kolonie Krähen. Immer mehr der ruffreudigen Vögel stimmten ein in das

aufgeregte Konzert. Die Wesen in diesem abgelegenen Bereich des Waldes verfügen

über ein lückenlos funktionierendes Alarmsystem gegen menschliche Eindringlinge,

sinnierte ich.

Konrads Stimme riss mich aus meinen Gedanken. „Da vorne ist ein Weg, der diesen

Namen auch verdient!“ Die Erleichterung stand ihm im Gesicht geschrieben und auch

ich war froh darüber.

Wie hätten wir ahnen können, dass die Prüfung erst bevorstand?

Der neue, breite Waldweg führte bergauf und wir marschierten los. Schon bald würden

wir auf vertrautes Gelände stossen, bald schon… Die Zuversicht beschwingte unsere

Schritte.

Zwei Minuten später löste sich der Weg buchstäblich in nichts auf. Unmittelbar vor

unseren Füssen stürzte eine Erdwand mindestens zwanzig Meter steil in die Tiefe.

Page 36: Literaturwettbewerb 2015 komplett

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Ernüchtert tauschten wir Blicke. In dieser Gegend gab es verschiedene Deponien zur

Lagerung von Schlacken und Bauschutt. Hier also war eine davon, inmitten von

diesem verzauberten Stück Wald. Wir sahen hinunter auf die weitläufige Sortieranlage

mit den Containern, in denen säuberlich getrennt die verschiedenen Materialien

lagerten. In einer Ecke des Deponiegeländes funkelte ein kleiner Weiher. Aus dieser

Entfernung sah er aus wie ein Biotop für Amphibien und Reptilien. Wäre schön, sagte

ich mir, ein Refugium für bedrohte Arten, und das ausgerechnet in einer Deponie.

Einen Moment lang dachte ich daran, mir einen Weg nach unten zu suchen, mich

genauer umzusehen. Doch verwarf ich dieses Vorhaben schnell wieder; die Zeit

drängte, zudem sind Deponien nichts für Unbefugte.

Da wir beide nicht wieder umkehren wollten, suchten wir nach einer Fortsetzung

unseres eingeschlagenen Weges. Und tatsächlich entdeckten wir nach einigem

Suchen einen Pfad, der die Böschung überquerte.

Er war sehr schmal, es bedurfte genauen Hinsehens, ihn als solchen zu erkennen.

Erneut ging Konrad voraus. Der Pfad schlängelte sich die Abbruchkante des steil

abfallenden Geländes entlang. Oberhalb des Pfades war der Hang übersät mit

Gehängeschutt und nur einige wenige kleine Gebüsche fristeten ein kümmerliches

Dasein an diesem steilen, unwirklichen Ort. Rund zwanzig Meter schräg über uns

begrenzte dichter Wald die Deponie. Sehnsüchtig blickte ich hinauf; die Bäume waren

so nah und doch so fern…

Wir kamen nur sehr langsam voran, da der instabile Grund wenig Halt bot. Bei

jedem Schritt lösten sich Klumpen aus Erde und Gestein, die dumpf polternd in die

Tiefe stürzten. Ich widerstand dem Drang, nach unten in die Grube zu schauen.

Stattdessen heftete ich meine Augen auf Konrads Rücken, der sich achtsam einen

Weg durch das Geröll bahnte.

Doch da war etwas, das mich davon abhielt weiterzugehen. Ich war wie gelähmt,

nichts ging mehr. Beklemmung kroch mein Rückgrat hoch und ein Gedanke machte

sich in meinem Kopfe breit: Hatten wir uns zu weit vorgewagt? Ich warf einen Blick

zurück. Nein, ein Zurück war nicht mehr möglich, dazu war es zu spät. Wir befanden

uns ziemlich genau in der Mitte der Halde, sodass es keinen Unterschied machte, in

welche Richtung wir uns bewegten. Plötzlich empfand ich nur noch Angst, fühlte mich

wie eine Katze, die vom Baum gerettet werden muss. Bald würde die Dämmerung

hereinbrechen, und wir würden uns gezwungen sehen, die Nacht hier zu verbringen,

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bewegungslos, am Rande des Abgrundes.

Das würde das sichere Ende bedeuten.

Ich riss mich zusammen. Panik war das Letzte, was ich jetzt gebrauchen konnte.

Eine Flut von Gedanken stürmte auf mich ein. Wenn meinem Mann etwas passiert,

wenn ich meinen Mann jetzt verliere, niemals werde ich mir das verzeihen!, schoss es

mir in den Sinn. Nun barst der Damm, und Panik überschwemmte mich mit nie da

gewesener Wucht.

Wir spielen hier mit unserem Leben!

Diese Erkenntnis raubte mir den Atem, das Herz krampfte sich schmerzhaft

zusammen. Wir sind verloren, verloren… war alles, was ich noch denken konnte. Wie

in einem Mahlstrom drehten sich die Gedanken im Kreis.

In diesem Augenblick brach Konrads Stock mit einem hässlichen Klang. Entsetzt

musste ich zusehen, wie mein Mann das Gleichgewicht verlor, zu Boden stürzte, und

während er dem Abgrund entgegenrutschte, wühlte er mit seinen Händen im Geröll,

verzweifelt nach Halt suchend.

Einen Moment später gelang es ihm, sich wieder aufzurichten. Wenige Zentimeter

nur trennten ihn vom Abgrund. Er hatte zwei Schürfungen am Bein und eine

Schnittwunde an der Hand davongetragen. Aber er lebte.

Ich zitterte am ganzen Körper. Das Grauen hielt mich in seiner eisigen Klaue

gefangen –, es ist nichts unerträglicher, als hilflos zusehen zu müssen, wie ein

geliebter Mensch um sein Leben kämpft!

Wir waren dem Tod begegnet, hatten ihm ins Auge geschaut, und ein weiteres Mal

würde er uns nicht entwischen lassen, dessen war ich mir bewusst.

Nach wie vor waren wir in grosser Gefahr. Wir mussten unbedingt weg von der

Geröllhalde. Ich versuchte meine Stimme fest klingen zu lassen. „Wir müssen hinauf

zum Wald, hier unten gibt es null Weiterkommen.“ Konrad widersprach mit keiner Silbe

und war sofort bei mir. Das Gelände war derart steil, dass wir vor jedem Schritt mit den

Schuhen eine kleine Stufe ins Geröll schlagen mussten. Jede Bewegung war eine

erneute Herausforderung an das Schicksal. Schwitzend stiegen wir Meter für Meter

aufwärts und waren dankbar für die vereinzelten kleinen Gebüsche, an denen wir uns

festhalten konnten.

Es grenzte an ein Wunder, dass wir es schafften. Endlich schloss sich dichtes

Unterholz um uns. Die Geröllhalde hatten wir jetzt zwar hinter uns gelassen, allerdings

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konnten wir uns nicht freuen darüber, da wir uns an einem Ort wiederfanden, der kaum

minder unwirtlich war. Das Gelände im Wald war einmal mehr fast senkrecht

ansteigend und überall verhinderten liegende Baumstämme ein Fortkommen.

Der Schrecken nahm kein Ende. Und wir mussten schnell weiter, bald würde es

eindunkeln. Konrad kletterte über das erste hölzerne Hindernis und bot mir seine Hand.

Ohne ihn wäre ich verloren gewesen, denn meine Kräfte reichten nicht mehr, um mich

ohne fremde Hilfe auf die glitschigen Stämme zu hieven. Nachdem sich das Dickicht im

Innern des Waldes etwas gelichtet hatte, konnten wir uns wieder aufrecht bewegen.

Nach wie vor führte das Gelände schroff aufwärts. Wie lange noch würde unser

Martyrium andauern?

Konrad half mir über Baumleichen, lotste mich an morschen Strünken vorbei. Wir

handelten nur noch mechanisch, jeder Schritt zehrte an letzten Kraftreserven. Unter

keinen Umständen durfte unsere Konzentration nachlassen, denn jede kleine

Nachlässigkeit, jede falsche Bewegung würde unser Schicksal besiegeln.

Doch das Schicksal hatte ein Einsehen mit uns.

Eine dominante Steilwand kam uns bekannt vor, und nachdem wir einige Meter

ihren Fuss entlanggegangen waren, realisierten wir beide gleichzeitig, wo wir uns

befanden. Es handelte sich um jene Felsplattform, von der aus wir unseren Abstieg

begonnen hatten. Wir waren im Kreis gelaufen!

Die letzten Meter überbrückten wir auf Windesflügeln, und oben angelangt war ich

versucht, den Boden unter meinen Füssen zu küssen.

Unser Herzschlag war noch immer beschleunigt, als wir uns auf eine Sitzbank mit

Sicht über Hauenstein setzten. Still sahen wir zu, wie die Konturen der Belchenflue

sich im Zwielicht der hereinbrechenden Nacht langsam verwischten. Ein Gefühl tiefen

Friedens erfüllte uns. Wir waren am Leben.

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Hummel und Spinat

Margarete Hummel war 80 Jahre, einen Monat, zwei Wochen, dreizehn Stunden und

34 Minuten alt, als sie plötzlich ernsthaft begann ihr Leben zu hinterfragen. Sie sass

im Speisesaal des Seniorenwohnheims Sonnenschein, in demselben, mit senfgelbem

Stoff überzogenen Sessel, in dem sie immer sass und starrte auf die schwarze Tafel,

auf die mit weisser Kreide in übertrieben optimistisch geschwungenen Buchstaben

das Tagesmenü angepriesen wurde. Spinat stand da. Eigentlich noch eine ganze

Menge sonst, doch ihre Augen klebten nur an diesem einen Wort fest. Spinat, 6

Buchstaben, ein ganz normales Wort, Spinat. Aber Heute schien es ihr, als hätte sie

gerade ein Jahrhunderte altes Geheimnis gelöst. Als wäre sie gerade hinter den

tieferen Sinn des Wortes Spinat gekommen. Eigentlich stand dort Rahmspinat, aber

Rahm hatte sie noch nie interessiert, sie war sowieso Laktose intolerant. Obwohl sie

sich anfangs strikt geweigert hatte bei diesen Allergie- und Unverträglichkeitstrends

mitzumachen. Und genau an diesem Tag, diesem Freitag im Juni entlarvte Margarete

dieses unscheinbar wirkende Gericht als das was es wirklich war. Geschmackloser,

von Kindern auf der ganzen Welt leidenschaftlich gehasster, grüner Matsch mit der

Konsistenz von verdautem Salat.

Margarete Hummel hatte genau zwei Möglichkeiten. Sie konnte sich dem labbrigen

Blattgemüse stellen oder fliehen. Sie entschied sich für Letzteres. Langsam erhob sie

sich aus dem Sessel, schlenderte so unauffällig wie es eben ging wenn man auf

einen Stock als Gehilfe angewiesen war, durch den Flur und verschwand durch die

Tür. Margarete wusste, dass ca. 100 Meter vom Wohnheim entfernt eine

Bushalltestelle stand. Das war ihr Ziel und der zweite Teil ihrer Flucht. Ihre Beine

waren zwar langsam, dennoch erreichte sie die Bushalltestelle, welche aus nichts

weiterem bestand als einer grün gestrichenen Bank und einem Abfalleimer, aus dem

eine an gematschte Bananenschale hing. Die grüne Sitzgelegenheit war nicht ganz

leer. Eine junge Frau sass darauf. Sie hatte langes, braunes Haar, trug Jeans, einen

grauen Pullover und machte allgemein den Eindruck als versuchte sie mit der Bank

unter ihr zu verschmelzen um, wenn irgendwie möglich, den Gipfel der Unauffälligkeit

zu erreichen. Ihre Knie hielt sie fest zusammengedrückt, wodurch sie so verkniffen

wirkte wie Margarete selbst wenn diese früher in der Kirche gesessen hatte, peinlich

genau darauf bedacht mit Hilfe ihres Rocks jedes noch so kleine Stück Haut zu

bedecken.

Als Margarete sich neben die Frau setzte, hob diese den Kopf und lächelte rasch.

Margaretes Erziehung verlangte eine Erwiderung. Sie lächelte zurück. Die junge Frau

zog ein Mobiltelefon aus ihrer Hosentasche und sah auf den Display. Dann steckte

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sie es weg, zog es wieder hervor und blickte erneut darauf, so als erwartete sie, dass

sich während der letzten zehn Sekunden jemand bei ihr gemeldet hätte. Schliesslich

begann sie das Telefon ohne Unterbruch in den Händen hin und her zu drehen.

Margarete versuchte das Schauspiel zu ignorieren. Sie hatte nie ein Mobiltelefon

besessen. Wozu auch? Es gab eigentlich niemanden den sie anrufen wollte. Genau

so wenig gab es jemanden der sie anrief. Ihr reichte es völlig aus, zu wissen, dass im

Flur des Seniorenwohnheims, direkt neben den Besuchertoiletten ein Telefon an der

Wand hing.

Die junge Frau unterbrach ihren Jonglage Akt um zu seufzen und dann weiter zu

mache wie bisher. Margarete konnte sich nicht länger zurück hallten. Diese junge

Frau und ihr Mobiltelefon versauten ihr ihre Flucht. Das konnte sie nicht einfach so

hinnehmen. „Kindchen, bitte seien Sie so gut und stecken Sie das Ding wieder weg.

Das machst mich ganz nervös.“ Eines der wenigen Vorteile die man genoss wenn

man 80 war, man durfte so gut wie jeden anderen Menschen Kindchen nenne, weil

praktisch alle jünger waren als man selbst. Der zweite Vorteil, niemand konnte einer

alten Dame böse sein. Die junge Frau lächelte wieder, dieses Mal etwas verlegener.

„Ja natürlich, bitte entschuldigen Sie das war unhöflich.“ Sie steckte das Telefon

wieder in die Hosentasche und begann stattdessen ihre Finger zu kneten. „Was

macht Ihnen solche Sorgen?“, fragte Margarete freundlich. „Es geht um meinem

Freund, wir sind seit fast zwei Jahren zusammen.“ Margarete lächelte aufmunternd

wie man einem Kind zulächelt das gerade zum ersten Mal das Töpfchen Thema in

Angriff nimmt. „Das ist ja schön, zwei Jahre.“ Die Frau nickte. „Ja, sehr schön. Aber

letzte Woche hat er mich gefragt ob ich mit ihm zusammen ziehen will. Und ich bin

mir nicht sicher. Ich weiss es einfach nicht.“ „Warum?“, fragte Margarete. Weit und

breit noch kein Bus. „Ich weiss es nicht“, antwortete die Frau die ihre Finger

hektischer knetete als je zuvor. „Lieben Sie ihn denn nicht?“ Normalerweise war

Margarete nicht so forsch. Das war nicht ihr Stil. Doch jetzt befand sie sich auf der

Flucht, keine Zeit für umständliche Formulierungen. „Doch, doch ich liebe ihn sehr.

Ich bin mir nur nicht sicher ob es gut ist, wissen sie. Vielleicht ist es ein Fehler,

vielleicht sogar der grösste Fehler meines Lebens. Was wenn wir plötzlich nur noch

streiten. Können Sie das verstehen?“ „Eigentlich nicht. Ich habe zwei Ehemänner

überlebt, streiten war bei beiden meine zweit liebste Beschäftigung.“ Die junge Frau

nickte betrübt. „Ich weiss oft nicht genau was ich will, das ist ein grosses Problem.

Nicht nur wegen meinem Freund, auch wegen anderen Sachen. Meinen Job zum

Beispiel. Ich arbeite in einem Kaufhaus und verkaufe Grusskarten, doch eigentlich

möchte ich viel lieber etwas anderes machen.“ „Warum tun Sie es dann nicht?“ Immer

noch kein Bus. „Ich weiss es nicht genau. Ich denke ich habe einfach zu grosse

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Angst. Wenn ich meinen Job aufgebe und etwas anderes mache und das dann nicht

klappt, dann habe ich gar nichts mehr.“ Margarete nickte mit dem Kopf weil sie nicht

wusste was sie sonst tun sollte. „Und ich will ein Tattoo. Irgendetwas Kleines,

unauffälliges das nicht jeder sehen kann, vielleicht auf dem Rücken. Aber ich habe

Angst. Was wenn ich älter werde und es mir dann nicht mehr gefällt? Das geht ja nie

wieder weg.“

Margarete holte tief Luft. Dass der Bus sie so lange warten liess machte sie langsam

ein wenig wütend. „Also wenn ich das richtig verstanden habe Kindchen, dann wissen

Sie nicht ob sie mit dem Mann zusammen leben wollen den Sie lieben, den Job

kündigen sollten den Sie hassen und den Körper verunstalten sollen der Ihnen

gehört.“ Die junge Frau nickte wieder. „Ich habe einfach solche Angst, vor so vielen

Sachen. Ich bin mir nie ganz sicher ob das was ich tue richtig ist.“ Margarete

schüttelte den Kopf. „Wie alt sind Sie Kindchen?“ „Ich bin 25 Jahre alt.“ Margarete

schlug sich beherzt auf eines ihrer Beine, welche in hautfarbenen Strümpfen

steckten. Es klatschte. „Jetzt hören Sie mal zu Kindchen. Sie sind 25 Jahre alt und

vermitteln den Eindruck, dass sie am liebsten unsichtbar wären. Sie sind leise und

ängstlich obwohl sie laut sein sollten und voller Leben. Auffällig und voller Tatendrang

jeden Tag neue Fehler zu machen. Wenn Sie den Mann lieben, dann ziehen sie mit

ihm zusammen weil sie sonst nie herausfinden ob er zu Ihnen passt. Wenn Sie ihren

Job nicht mögen, dann kündigen Sie und machen Sie etwas anderes. Und wegen

dem Gekritzel auf Ihrer Haut, Falten sehen doch alle gleich aus. Sie können warten

wenn Sie wollen, weil sie Angst haben das ihnen ihr Tattoo später nicht mehr gefällt.

Und irgendwann ist dann später und dann ist es zu spät.“ Die junge Frau hörte

aufmerksam zu. Es war das erste Mal dass sie Margarete in die Augen sah. „Ich

denke Sie haben Recht.“ „Und ob ich Recht habe Kindchen.“

Margarete sah aus den Augenwinkeln wie ein Pfleger ganz in weiss gekleidet auf die

Strasse trat und hektisch in beide Richtungen der Strasse sah. „Sie müssen nicht auf

mich hören wenn Sie nicht wollen, aber glauben Sie mir, irgendwann sind Sie nicht

mehr 25, dann kommt vielleicht der Tag am dem Sie 80 Jahre, einen Monat, zwei

Wochen, dreizehn Stunden und 34 Minuten alt sind und sich wünschen Sie hätten all

die Dinge getan vor denen Sie sich immer gefürchtet haben. Irgendwann wenn Sie alt

sind und Sie sich nur noch über Spinat aufregen können und Sie feststellen müssen,

dass Sie plötzlich keine Angst mehr haben weil es nichts mehr gibt wovor es sich

lohnen würde Angst zu haben.“ Die Frau nickte wieder. „Und dann erkennen Sie dass

es immer nur Ihre Angst war die Ihnen im Weg stand und dass sich dahinter in

Wirklichkeit gar nichts verbirgt. Und sie werden schrecklich traurig sein Kindchen,

traurig und einsam weil Sie nie den Mut hatten etwas zu riskieren.“ Der Pfleger trat

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neben Margarete und sah sie freundlich an. „Guten Tag Frau Hummel. Ich habe Sie

schon überall gesucht. Wollen wir nicht rein gehen. Es ist schon fast Zeit fürs

Mittagessen.“ Margarete Hummel nickte, erhob sich langsam, straffte die Schultern

und folgte dem Pfleger langsam zurück zum Seniorenwohnheim. Als sie sich

umdrehte sah sie gerade noch wie die junge Frau in den Bus ein stieg der gerade vor

der Bushalltestelle gehalten hatte. „Wo wollten Sie denn Heute hin Frau Hummel? So

kurz vor dem Mittagessen. Heute gibt es doch Spinat.“

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Übrigens..... „Lass dich nicht anquatschen...!“

Kürzlich befand sich Susanne Meyer auf dem Heimflug Hamburg ins Niederamt. Sie ist ein

wenig verrückt, anfangs Fünfzig, brünett, in blauen Jeans und schwarzem Pulli, dicker Jacke

und Schal. Schwer bepackt mit Koffer und einem Korb voller Hamburger-Tassen und

sonstigen Spezialitäten ist sie unterwegs mit der U-Bahn S1 zum Flughafen. Susanne hatte

ihre Freunde in der Hansestadt besucht und befand sich nun auf dem Heimweg in die

Schweiz. Noch klangen ihr die Worte ihres Freundes Albrecht im Ohr: „... und lass dich nicht

anquatschen und quatsch nicht alle an...!“ Susanne besitzt das Flair sehr schnell mit

Menschen in Kontakt zu kommen. Bei ihren Urlaubsreisen steigt sie in ein Flugzeug, checkt

in ihrem Hotel ein und kennt bereits die Lebensgeschichten der anderen Feriengäste. Mit

einem Lächeln im Gesicht und ihrer Hilfsbereitschaft passieren ihr die abstrusesten Sachen,

so eben auch im hanseatischen Flughafen Fuhlsbüttel.

Zwei Hanseaten reisen ins Gäu

Gemütlich genehmigte sich Susanne in der Abflughalle an der Theke beim Gate 29 eine

heisse Tasse Kaffee und eine letzte Zigarette. Nicht die allerletzte Zigarette, sondern die

letzte Zigarette vor dem Abflug. Gedankenversunken sass sie da und liess die schönen

Erlebnisse der vergangenen Tage noch mal Revue passieren, als zwei Herren sich an der

gleichen Stehbar mit O-Saft und Kaffee dazu gesellten. Beide korrekt angezogen mit Anzug,

Hemd und Kravatte, Schal und Mantel. Die Schlussfolgerung von Susanne: „dies sind

Geschäftsherren“. Der jüngere hörte auf den Namen Torsten von Bergedorf und der ältere

auf den Namen Peter Wagner. Torsten erzählte seinem Chef – wie sich später herausstellte

- ein unglaublich lustiges Erlebnis aus London. Das war so witzig und bunt erzählt, dass

Susanne mitlachen musste und sich eine ihrer berühmt berüchtigten Bemerkungen einfach

nicht verkneifen konnte. Wie es so ist, kamen die drei ins Gespräch: „Wohin fliegen Sie?“

„Geschäftlich oder privat?“ Dabei es stellte sich heraus, dass der Geschäftstermin der beiden

Herren genau in die Gegend von Susanne Meyer führte, nämlich ins Gäu, nach Neuendorf.

Wer sich in der Schweizer Geografie auskennt, der weiss, dass das Gäu ein Bezirk im

Kanton Solothurn ist und Neuendorf ein kleines Dorf. „Zwei Hanseaten reisen ins Gäu“,

schmunzelte Susanne vor sich hin, denn sie würde nicht freiwillig ins Gäu ziehen, nur so

nebenbei bemerkt. „Vom Tor zur Welt ab ins Kaff“. Susanne ist bei ihren Freunden als sehr

spontan bekannt und so machte sie Peter Wagner und Torsten von Bergedorf das Angebot

vom Basler Flughafen Mulhouse nach Olten in ihrem Wagen mit zu fahren: „Am Bahnhof

setze ich euch ab. Es fahren regelmässig Busse oder Taxis nach Neuendorf.“ „Abgemacht!

Das ist doch ein toller Vorschlag“, antworteten die beiden Herren der Schöpfung begeistert.

Page 44: Literaturwettbewerb 2015 komplett

Der Flug Hamburg-Basel hob mit einer halbstündigen Verspätung ab und landete

dementsprechend auch um eine halbe Stunde später. Ein Smal-Talk über den Wolken

verkürzte die Zeit der drei Reisenden. Nach der Landung bei der Gepäckabgabe bekam

Susanne Meyer ihren ersten Schreck: „Uppps, wie bekomme ich Wagner und von Bergedorf

plus drei Koffer plus meine vollgestopfte Reisetasche und den Korb in meinen Wagen?“ Sie

blieb jedoch ganz cool, liess sich nichts anmerken. „Versprochen ist versprochen und das

kriegen wir schon hin“, dachte sie.

Wenn das Möckli streikt

Es ist noch zu sagen, dass Susanne Meyer erst seit etwa acht Wochen wieder einen Wagen

besitzt. Er ist ihr ganzer Stolz, denn für 1500 Franken ein Auto, erst noch von der

Motorfahrzeugkontrolle geprüft, das ist eine Glanzleistung und ein Schnäppchen besonderer

Art. Andere bezahlen viel mehr und haben erst noch kein Schiebedach. Meyers Auto hat

nämlich ein Schiebdach. Aber das ist eine Geschichte für sich. Das weisse Auto von

Susanne Meyer nicht allzu gross ist – ein Mazda 121. Es sieht aus wie ein Ei und hat den

Beinamen „Möckli“. Wohlbehütet stand der Wagen seit fünf Tagen auf Parkplatz S3, Reihe

D, hinten, ganz rechts aussen. Immer noch damit beschäftigt, wie alles wohl in das Auto

reinpasst, wurde der Kofferraum geöffnet und Torsten von Bergedorf bot sich als Kavalier an

und hievte ein Objekt nach dem andern in den Stauraum. Nur der Rollkoffer von Susanne

musste auf der hinteren Sitzbank verstaut werden. Der geflochtene Korb mit den Tassen

fand auf den Knien des Co-Piloten seinen Platz. Also Peter Wagner vorne als Beifahrer,

Torsten von Bergedorf liess sich in den Fond fallen. Susanne Meyer als Chauffeuse drehte

den Schlüssel. Krrrrr – krrrrr – krrrr! Der Motor knirschte und stotterte vor sich hin und kam

nicht auf Touren. Wieder krrrr – krrrr! Susanne Meyer wäre am liebsten zur Briefmarken

geworden, hätte sich auf einen Luftpostbrief nach Australien kleben, abstempeln und

losschicken lassen – möglichst noch als Express. Peinlich, peinlich. Susanne wurde nicht zur

Briefmarke, sie blieb in voller Grösse im Auto sitzen und pumpte mit dem Gaspedal, drückte

die Kupplung beinahe durch den Boden. Nichts, aber auch wirklich nichts ging. Kurzer Hand

bot sie schwach lächelnd Peter Wagner den Autoschlüssel an: „versuchen Sie es bitte.“

Auch Wagner gelang es auch nicht, den Madza zum Laufen zu bringen. Susanne schlug den

Herren vor, sie sollen wieder zurück zum Flughafen, um sich dort einen Kaffee zu

genehmigen oder sich gar mit dem nächsten Bus zum Bahnhof aus den Staub zu machen.

Doch Thorsten von Bergedorf lachte: „wir sind die drei Musketiere und wir bleiben

zusammen.“ Susanne dachte, „der will doch nur sehen, wie ich zu Grunde geh vor lauter

Peinlichkeit.“

Page 45: Literaturwettbewerb 2015 komplett

Der TCS wurde aufgeboten und nach gut dreissig Minuten traf der rettende gelbe Wagen

ein. Der Mechaniker Martin Hüsler hob die Motorhaube auf, knallte sie gleich wieder zu und

schleppte den Mazda – gefüllt mit Susanne am Lenkrad, Peter Wagner in Co-Pilotsitz und

Torsten von Bergedorf im Fond – vom Parkplatz. Motorhaube auf, an einzelnen

Motorenteilen wurde gerüttelt und geschüttelt, Schläuche geprüft und dann der

entscheidende Griff zu den Kerzen. Herausschrauben, putzen, entstauben und wieder

reinschrauben und dann der magische Moment... springt das Möckli an oder springt er nicht

an? Torsten von Bergedorf liess es sich nicht nehmen mit der Kamera einige „peinlichst

Fotos“ zu schiessen, mit dem fröhlichen Kommentar: „das glaubt mir sonst keiner!“ Und der

Motor sprang an und wie, jetzt bloss noch den Rapport des TCS unterschreiben, das

wohlklingende Motorengeräusch nicht abwürgen, sondern sorgfältig losfahren.

Susanne Meyer peilte auf der Autobahn die richtige Spur an und düste in Richtung Härkinger

Kreuz. Sie fuhr immer am Limit – manchmal auch etwas darüber – um die verlorene Zeit

etwas einzuholen. Peter Wagner und Torsten von Bergedorf hatten den Kunden in

Neuendorf orientiert, dass sie etwas später eintreffen würden. Susanne Meyer entschied

wieder einmal ganz spontan die Herren nicht am Oltner Bahnhof aussteigen zu lassen,

sondern sie direkt an die Industriestrasse in Neudorf genau vor den Eingang des Kunden zu

chauffieren. Hier wurden sie bereits sehnsüchtig erwartet, denn mittlerweile ging es auf die

Gespensterstunde zu. Die Fahrt gestaltete sich kurzweilig, denn Peter Wagner und Torsten

von Bergedorf trugen ihr Schicksal – der Susanne Meyer über den Weg gelaufen zu sein –

mit Humor!

Wer ihr einmal begegnet ist….

Peter Wagner und Torsten von Bergedorf nahmen Susanne beim Abschied das Versprechen

ab, sie müsse sich unbedingt melden, wenn sie wieder in der Hansestadt sei: „Dann könnten

wir gemeinsam um die Häuser zu ziehen.“ Wagner und von Bergedorf werden mit diesem

Erlebnis genug Gesprächsstoff für eine gemütliche Runde unter Freunden haben.

Etwa zwei Monate später, besuchte Susanne wieder einmal mehr ihre hanseatischen

Freunde im Westen von Hamburg. Sie liess es sich nicht nehmen Peter Wagner, Direktor

einer grossen Firma, wirklich anzurufen. „Hier ist Suanne Meyer, erinnern Sie sich an mich?“

fragte sie scheu. „Und ob“, lachte Wagner über die Leitung, „wer ihnen schon mal begegnet

ist, vergisst sie nicht so schnell wieder…“ und sie verabredeten sich auf der „Rickmer

Rickmers“ im Hafen von Hamburg für einen gemütlichen Abend und lösten das Versprechen

ein.

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Wenn Susanne bloss nicht immer Leute anquatschen würde... und doch ist es gut, denn so

entstehen Geschichten, die das Leben schreibt.

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Aussergewöhnliche Begegnungen Ich blickte ihm in die gelb leuchtenden Augen. Das Maul stand offen und entblösste eine Reihe weisser, messerscharfer Zähne. Und ich fragte mich……..was macht dieser Dinosaurier in meinem Schrank?!?! Haben sie Kinder? Erleben sie auch täglich Aussergewöhnliche Begegnungen, Situationen und Gespräche. Neben Plastik Saurier zwischen der Unterwäsche und Monster Fratzen die mit Farb Stift an die Tür gekritzelt werden, begegnet man wohl der aussergewöhnlichsten Spezies Mensch tagtäglich an verschiedenen Orten. Ich Rede von der ganz besonderen Gattung Mensch. Mütter und Väter! Gerne schildere ich ihnen meine Aussergewöhnlichen Begegnungen. 1.Namenwahl Rechts von mir sehr nahe an meinem Ohr, ruft eine Mutter das vierte mal nach ihrem Kind. Äiliiiiin, Äiliiiiiin! Das etwa 4 Jährige Mädchen mit dem wohlklingenden Namen Eileen, der, wie es mir gerade scheint in Englisch Sprachigen Ländern deutlich besser klingen würde, würdigt der Mutter keines Blickes. Liegt es wohl am Namen? Da Spielt sie mit Nick, Andreas und Sarah und nur weil Mama und Papa einen coolen aussergewöhnlichen Namen wollten, schauen die anderen Kinder einem Doof an und fragen sich, warum dieses Mädchen wie ein Ei heisst?! Wunderbar sind auch Begegnungen mit Namen die es gar nicht gibt! Naja, also jetzt gibt es sie, aber die Kinder werden ihr Leben lang ihren Namen erklären, buchstabieren und verteidigen müssen. Beispiel……Bitteschön! „Marlic heisst er und ist schon 15 Monate alt“ stolz streckt die Mutter mir ihren Junior entgegen. Der kleine Lockenkopf ist ja süss, aber den Namen habe ich nicht verstanden. Da ich wohl sehr fragend aussehe, Buchstabiert sie mir in aller ruhe, und sicher nicht zum ersten mal den Namen. M A R L I C. Ich lächle, nicke und habe ihn immer noch nicht verstanden! Zu meiner Entschuldigung muss ich erwähnen, dass ich in einem Raum stehe mit ca. 12 klein Kindern und der Lärm Pegel ist entsprechend hoch! Ich setzte mich zu einer bekannten und spreche sie auf den kleinen Locken Kopf an, deren Name mir immer noch ein Rätsel ist. Sie kennt ihn und kann mir endlich in aller Ruhe den Namen sagen. Marlic heisst der kleine Mann. So, noch nie gehört und mit meiner zugegeben starken Neugier sitze ich auch wenig später neben Marlics Mama. Nach etwas Small Talk über die beste Windelmarke, den aktuellen Milch Zähne Stand und todsicheren Erziehungs Tipps, frage ich höflich nach, wie sie zu so einem aussergewöhnlichen Namen gekommen sind? Der Hintergrund der Namens Wahl ist sehr simpel! Ihr Vater heisst Marlo und der Schwiegervater heisst Eric also gaben sie dem Bub von beiden Vättern ein Stück Namen Mar…lic. Mama Marlic strahlt mich an, als hätte sie eine neue Namens Marktlücke entdeckt! Ich aber wurstle in meinem Kopf die Namen meines Vaters und Schwiegervaters zusammen. René und Hans. Also, könnte unser Sohn also Reha oder Hanré heissen und wir haben ihm so einen langweileigen Namen gegeben Janik! Da ich noch eine Tochter habe, geht die Fröhliche Namens Lotterie weiter. Ruth und Ida sind die Mütter, also wäre das…….Ruida oder noch besser Idaru! Na das werde ich doch meinem Mann vorschlagen, falls es bei uns noch ein drittes Kind gibt! Ich darf ihnen hier aber mitteilen, dass es kein drittes gab und mein Mann absolut gegen die Namens Idee war,…. Und ich eigentlich auch. 2.Mahlzeit! Essen! Ein haupt Thema bei der Kinder Erziehung! Auf jeden fall bei uns. Wir finden von allem etwas ist das Gesündeste, es darf auch Süsses dabei sein. Unser Sohn findet, Schokolade und Süsses gehört eindeutig zu den Grund Nahrungs Mitteln! Nieder mit Broccoli und co. Ein hoch auf Mars und Kaugummi!

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Eine ganz aussergewöhnliche aber clevere Idee hatte eine Freundin von mir. Sie ist Mutter von 3 Kindern und bei einem Besuch, sah ich doch tatsächlich eine ganze Schüssel Süssigkeiten auf dem Tisch. Stellen sie sich vor! Smartis, Gummibärli, Schöggeli und co. Offen in einer Schüssel bei 3 klein Kindern! „Wow, du hast aber auch Mut!“ ich stand Geschockt vor der Schüssel! Aber dies war keineswegs fahrlässig von ihr sondern pure absicht! Sie versicherte mir, dass die Kinder nur die ersten 2-3 Tage gierig an der Schüssel kleben. Danach ist es nicht mehr Spannend und der Reiz ist weg. Voila! Keine Diskussionen mehr über das Thema Süssigkeiten. Super!!! Noch etwas skeptisch fuhr ich nach Hause. Eine Woche später ging ich mit meinen Kindern wieder zu Besuch. Die Schüssel war zu ¾ voll. Aha! Sie musste sicher wieder nachfüllen! Aber nein! Sie versicherte mir, dass die Schüssel nicht aufgefüllt wurde und tatsächlich, ausser 4 Kinder Hände griff niemand in die Schüssel mit Süssigkeiten. Anbei bemerkt, meine 2 Kinder waren auch zu Besuch = 4 Kinder Hände. Wieder zuhause angekommen war meine erste Mission, Schüssel hervor und Süssigkeiten rein! Meine Kinder verstanden die Welt nicht mehr und ich musste sie gerade dazu auffordern, in die Schüssel zu greifen! Zaghaft mit Seiten Blicke zu mir landeten die ersten Smartis im Mund. Da von mir tatsächlich keine wiederworte kamen, griffen meine kleinen immer kräftiger zu! Schokoladen Sabber lief aus den Mundwinkeln, klebrige Hände hielten sich am Sofa fest und Gummibärli flogen durch die Luft. Ich konnte nicht hinsehen, aber da musste ich wohl durch! Bald werden sie genug von diesem klebrigen Süssem Zeug haben und ich geniesse Ruhe und Frieden am Mittags Tisch! Dass meine Kinder am ersten Versuchs Tag die Hauptmahlzeiten mehr oder weniger ausliessen muss ich wohl nicht erwähnen. Der zweite Tag würde sicher schon anders aussehen! Tag 2: Es ist früher Nachmittag und die Schüssel leer! Gut, ich gebe im Gedanken an einem grossen Teller Gemüse vor jedem Kind am Tisch nicht auf und fülle die Schüssel erneut auf. Tag 2 Abends: Schüssel immer noch sehr beliebt und ich hinterfrage doch langsam diese Methode! Tag 3: Beide Kinder klagen über Bauchweh. Bingo! Die Schüssel bleibt an diesem Tag unberührt! Wir haben es geschafft! Tag 4: Nachmittag Schüssel leer, Mutter hat das Experiment abgebrochen. Tag 5: Tränen, Diskussionen, Tobsuchts anfälle, die Kinder möchten Süssigkeiten! 3. Absolut aussergewöhnliche Begegnungen! Also die aussergewöhnlichsten, unglaublichsten, absurdesten Begegnungen hatte ich mit Mütter, die doch tatsächlich Behaupten sie haben genug Schlaf mit einem Säugling. „Meine kleine Schläft schon durch, seit sie 6 Wochen alt ist.“ Die junge Mutter schaut strahlend zu mir rüber und zu allem ärger schaut sie auch wirklich ausgeschlafen und frisch aus! So, könnte ich auch aussehen. Ich würde sicher noch besser aussehen, wenn ich anstatt 2 gute 4 Stunden am Stück in der Nacht Schlafen könnte! Nur 4 kleine Stunden……4……das wäre Super….wow 4 Stunden. Schon nur an diesen Gedanken von 4 Stunden Schlaf, Seufze ich Glücklich auf meinem Stuhl in der Kinder Krabbel Gruppe auf. Die Mutter mit dem Super Schlaf Kind hat mein Sekunden Glücksgefühl wohl falsch Verstanden und fragt mich doch tatsächlich ob mein Sohn (zu diesem Zeitpunkt 8 Monate alt) auch so gut Schläft, dass ich so Strahle. Dass war jetzt zuviel für mich. Meine Mundwinkel fallen schlagartig nach unten, die fettigen seit 5 Tagen nicht Gewaschenen Haare fallen mit ins Gesicht und ich könnte Schwören, dass Gift Pfeile aus meinen Augen Schiessen. Einen Bruchteil einer Sekunde überlege ich, mit einer vorwärts Rolle über den Tisch zu Hechten und sie an der Gurgel zu Packen! Wie kann sie sich Erlauben von ihrem Schlafenden Kind zu Erzählen! Das finde ich eine absolute Frechheit! Die vorwärts Rolle über den Tisch lasse ich aus. Aber auch wirklich nur weil ich Anstand habe und weil ich…..zu Müde bin! Als sich meine Wut legt, kommen die Tränen. Ich sitze nun wie ein häufchen Elend auf dem Stuhl und könnte losheulen! Aber ich weine nicht, weil ich keine Schwäche zeigen will und weil ich…..zu Müde bin. Ich habe die nächsten zwei Treffen in der Krabbel Gruppe geschwänzt. Ich fand es klüger diese Zeit zum Schlafen zu nützen. Aber wissen sie was, 4 Jahre später sitze ich wieder mit dieser Mutter am Tisch. Wir beide haben ein zweites Kind bekommen. Sie sieht schlecht aus! Ihre zweite Tochter Schläft Schlecht! Sie wache alle 3-4 Stunden auf und weint. Und ich, tja ich habe auch eine Tochter bekommen und…..meine 4 Stunden Schlaf am Stück!

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4. Die Erziehung Zuerst schien es ganz Einfach. Macht das kleine Monster etwas, dass es nicht darf sagt man Nein. Falls es nicht aufhört sagt man das Nein etwas lauter und bestimmter! Beim allenfalls dritten mal Mei,mei hebt man zusätzlich den rechten Zeigefinger und schwingt diesen in der Luft leicht hin und her. Klappte bei mir Tip Top! Kinder Erziehung ist ja Einfach! Der kleine wird vor diesem Nein plus erhobenen Zeigefinger Respekt haben bis er zwanzig ist. Tja, da alle die das Lesen jetzt den Kopf schütteln und boshaft vor sich hin Grinsen gebe ich es halt zu. Es wirkte halbwegs bis er 2 Jahre alt war. Mein Sohn hatte plötzlich diese Ohren Krankheit entwickelt, bei der bestimmte Wörter das Gehör nicht mehr erreichen! Sein Name mit der Verbindung von Wörter wie: Nein, nicht anfassen, Spuck es aus, nicht Hauen, bleib stehen etc. kamen einfach nicht mehr bei ihm an?!?! Als ich nach anfänglicher Angst vor einem schlimmen Ohren Leiden merkte dass wiederrum andere Wörter wie: Schokolade, Spielplatz, Traktoren oder wir gehen zu Oma auch leise Gesprochen sehr gut gehört wurden, machte ich mir keine Sorgen mehr! Aber leider ist diese „Krankheit“ ansteckend! Es trifft so ziemlich alle klein Kinder ab dem ersten Lebensjahr. Meine Tochter (bald 3 Jahre) hat es auch erwischt! Den Zeigfinger hebe ich immer noch, aber aus lauter Gewohnheit. Wahrgenommen wird er nicht mehr, vielleicht müsste ich mal einen anderen Finger probieren oder den Fuss in die Luft?! Ganz schwierig wird die Erziehung sobald die kleinen Sprechen können!! Bei der Erklärung warum meine kleine die heisse Tee Tasse nicht anfassen darf folgt ein „Warum“? Beantwortet man das“ Warum“ Kind gerecht folgt ein weiteres „Warum“ auch das weiterführende „Warum“ wird beantwortet, aber bringt die ganze Sache weiter ins Rollen! Das sieht dann etwa so aus: „Nora, fass Bitte nicht die Tasse an, es ist heiss“ „Warum?“ „Weil heisser Tee in der Tasse ist“ „Warum“ „Ich habe Durst und mir einen Tee gemacht und der ist heiss“ „Warum Tee“ „Weil ich gerne Tee habe“ „Warum….heiss??“ „Ja, er ist heiss“ „Warum“ „Eben…..weil Tee heiss ist“ Es ist kurz ruhe, weil sie durch ein Geräusch von draussen abgelenkt wurde…. „Warum Tee heiss?“ Seufz!“ Nora, willst du nicht etwas Spielen?!“ „Jaaaaaa….. Bäbi Spielen…..warum Tee heiss?“ Der einzige Ausweg aus dieser Situation waren Gummi Bärli! Sie war abgelenkt das Päckli zu öffnen und ich schlürfte heimlich in der Küche meinen lauwarmen Tee. Später, etwa mit 4 Jahren oder Spätentens im Kindergarten Alter, sind die Kinder ihrer Meinung nach Klüger als die Erwachsenen! Wir werden belehrt über das Strassen Verhalten, Umgang mit der Schere und Fussball Regeln etc. etc.! Schliesslich sind sie im Kindergarten ja keine Babies mehr! Und wehe sie kommen in den grossen Kindergarten, ja jetzt sind sie gleichgestellt mit uns Erwachsenen! Mein Sohn kam anfangs grossem Kindergarten nach Hause und schimpfte über die neuen kleinen Kindergärtler! „Die sind sooooo klein und können noch nicht mal alleine über die Strasse!“ Das er vor 2 Monaten selber noch ein „kleiner“ war behielten ich und mein Mann für uns…..ich sage nur endlose Diskusionen!! Auf jeden Fall wird die Erziehung um einiges schwieriger, weil die kleinen werden ja auch klüger! Was ja gut ist , aber auch anstrengend! Ich möchte nicht, dass mein 6 Jähriger alleine zu seinem Freund der immerhin gute 8 Minuten und 2 überquerende Strassen weit entfernt Wohnt geht. Also gehe ich mit, was er für Peinlich und absolut unnötig findet! Als ich ihn aber zwei Tage später bitte alleine beim Bauer Eier holen zu gehen findet er diesen Weg zu gefährlich! Der Bauer ist unser Nachbar und es ist keine Strasse zum überqueren nötig!! Aber für das sei er zu klein!!! Er muss ja schliesslich an der Strasse entlang Laufen und ein Auto könnte ihn überfahren wen er nicht genau am Rand läuft. Aber am Strassenrand wo er laufen muss ist Gras und da es geregnet hat, ist das Grass Nass und der Boden schlammig und er käme mit dreckigen Schuhen heim und ich würde über seine

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dreckigen Schuhen Schimpfen!! Poing! Was will man da sagen! Ich hätte bei der Disskusion Verloren! Manchmal muss man als Mutter das weisse Handtuch werfen! Die Eier holte ich selber, mit Begleitschutz von meinem Junior. Alleine zuhause bleiben wollte er nicht, es könnte mir ja etwas passieren und er wäre dann für immer alleine Zuhause. Er müsste Kochen, die Wäsche waschen und auf die kleine Schwester aufpassen!! Was man halt als grosser Bub so alles machen muss! Armes Kind. 5. Das perfekte Kind Man sollte ja nie Kinder miteinander vergleichen! Aber mal ehrlich……man macht es doch! Ich knirsche heimlich mit den Zähnen, wenn das Kind im selben Alter wie meine Tochter schon aufs WC geht und tagsüber keine Windeln mehr braucht. Rede zuhause mit Engelszungen auf die Kleine ein, doch nur ein mal aufs Häfi zu Sitzen. Das ist lustig und dann sei sie aber eine liebe , brave , grosse Maus! Und falls ein Pippi oder Gaggi ins Häfi landet gibt es ein Gummibärli!! Das darf ich niemanden verraten! Pädagogisch sehr schlecht! Belohnung bei Dingen die selbstverständlich sein müssen Psssssst!!! Doch je mehr ich auf sie Einrede, desto mehr Bockt sie! Also, lassen wir das! Ich versuche es in 2 Tagen wieder! Als mein Sohn in die Spielgruppe ging, begegneten wir dem perfekte Kind! 4 ½ Jahre, er konnte Velo Fahren ohne Stützräder, Sprach deutlich und klug, konnte bis 10 auf Englisch Zählen und die Schuhe alleine zubinden! Wow! Mein Sohn konnte nichts von dem allem! Was mache ich falsch? Muss ich zuhause anstatt dass Leiterli Spiel Scrabbel mit ihm Spielen? Anstatt Fussball, Seiltanz für das Gleichgewicht üben?! Die Kartoffeln auf seinem Teller muss er mir zuerst auf Englisch zählen bevor er sie Essen darf? Ich grüble, wie ich meinen 4 Jährigen fördern kann, damit er auch so klug wird und es evt. Später im Leben leichter hat. Er möchte aber einfach nur Spielen und nicht Englisch lernen, Velo Fahren mit Stützräder und Kartoffeln nicht Zählen und eigentlich auch nicht Essen. Ich akzeptierte es, zwingen möchte ich meinen kleinen nicht. Aber ich schaute doch immer noch etwas neidisch auf den kleinen Jungen, wenn er alleine zur Spielgruppen Türe hinein kam, seine Schuhe und Jacke auszog und perfekt an den Haken hängte, während mein Sohn sich den Jacken Reisverschluss eingeklemmt hat und vor Wut in die Jacke biss. Doch eines Tages, als die Mutter ihr perfektes Kind abholte, war es nicht mehr perfekt! Der kleine Mann stieg ins Auto, gurtete sich selbstverständlich alleine an und…….steckte sich einen Nuggi in den Mund! Ha!! Mit 4 ½ noch einen Nuggi?! Das passt aber gar nicht zu Mister Perfekt! Zufrieden und erleichtert, dass ich nicht das Looser Kind zuhause habe machte ich mich mit einem breiten Grinsen und einem maulenden Bub ( er kann nicht gut Laufen, weil er die Schuhe falsch herum anhat) auf den nach Hause Weg. Ich vergleiche immer noch ab und zu meine Kinder mit anderen, aber ich habe gelehrt, dass es kein perfektes Kind gibt! Auch keine perfekte Mütter und Väter. Und das ist auch gut so! 6. Geschwister Wir haben das Glück, zwei Gesunde Kinder zu haben. Sie entwickeln sich prächtig und jedes hat seine eigene Persönlichkeit. Und diese eigenen Persönlichkeiten geraten jetzt immer öfter aneinander. Es herrscht Krieg im Kinderzimmer! Sohn 7 Jahre, Tochter 3 Jahre. Aktuell hat die kleine Zimmer verbot beim grossen, weil sie sich auf ein Lego Kunstwerk gesetzt hat. Sie aber versteht das Wort Zimmer verbot nicht und versucht sich mit allen Mitteln Eintritt zu verschaffen! Also wird an der Tür vom grossen geschrien, gekreischt und mit den kleinen Fäusten an die Türe gehämmert! Er öffnet Xmal die Türe um ihr mitzuteilen, dass sie Zimmer verbot hat, was sie ja wiederrum nicht versteht. So geht die Geschichte , bis ich die Treppe hinauf brülle sie sollen ruhig sein! Da meine Tochter es gar nicht mag, wenn auch ich einmal Laut werde, fängt sie an zu weinen, was den grossen aus dem Zimmer lockt, damit er seine Schwester als Heulsuse betiteln kann, was sie so wütend macht, dass sie noch lauter anfängt zu heulen und den Bruder am Pulli packt um ihn zu Hauen. Er findet es lustig und äfft sie nach. Sie bekommt jetzt die absolute Kriese und ich hechte um schlimmeres zu verhindern während dem Kochen nach oben. Meine Schlichtungs Versuche bleiben zuerst erfolglos, weil keines der beiden

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Kinder mir zuhört. Sie schieben sich gegenseitig die Schuld zu und ich stehe nickend daneben mit offenem Mund, da ich ja eigentlich etwas kluges Helfendes sagen möchte. Als sich die Lage etwas beruhigt und keines der beiden mir eigentlich sagen kann um was es geht, höre ich von der Küche her ein lautes Piepsen. Hmmmm…was könnte das wohl sein? Das kommt mir irgendwie bekannt vor……das klingt wie der Alarm wen etwas auf der Herdplatte überkocht…..! Wahnsinn, wie schnell ich die Treppe runter laufen kann! Natürlich stand der halbe Koch Herd unter Wasser und die Elektronik hat alles automatisch ausgeschaltet. Macht ja nichts, die Spagetti werden jetzt knusprig gegessen und Gemüse ist ja eh Vitaminreicher wen es noch roh ist. Dafür stehen jetzt beide Kinder kichernd neben mir und schauen die Misere, die Mama gemacht hat an. Sie gehen zusammen kopfschüttelnd ins Zimmer von Janik und Spielen irgend ein Lego Turm Zerstörer Spiel. ENDE Sind dies aussergewöhnliche Begegnungen? Ja, für mich schon! Tagtäglich Begegne ich aussergewöhnlich schönen, anstrengenden, lehrreichen, aufregenden, nachdenklichen Situationen die das Leben schreibt. Ich versuche, jeder Begegnung offen entgegen zu gehen und hoffe dies auch meinen Kindern mitzugeben.

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Marina, Marina, Marina

„Ist das nicht der Sänger von gestern Abend?“

Hanspeter sitzt im Flugzeug von Atlanta nach Zürich. Er erinnert sich noch genau

an den Refrain des Liedes:

„Marina, Marina, Marina,

dein Chic und dein Charme, der gefällt.

Marina, Marina, Marina,

du bist ja die Schönste der Welt.

Wunderbares Mädchen, bald sind wir ein Pärchen,

komm und lass mich nie alleine, oh no, no, no, no, no.“

***

Sechs Tage früher:

An einem kühlen, nebligen Herbsttag im Oktober 1978 ist Hanspeter am frühen

Morgen auf dem Weg an seinen Arbeitsplatz bei der Brown Boveri & Cie (BBC) in

Baden. Noch weiss er nicht, was ihn an diesem normalen Montag alles erwarten

wird. Kaum ist er in seinem Büro im vierten Stock direkt über der Bahnlinie

angekommen, wird die Türe dynamisch aufgerissen und sein Vorgesetzter, Herr

Reto Widmer, stürmt herein.

„Guten Morgen Hanspeter hattest Du ein gutes Wochenende?“

„Ja, danke! So hoher Besuch am frühen Morgen, was ist denn los?“

Und schon platzt Reto mit der grossen Neuigkeit heraus:

„Das Kernkraftwerk Hatch im Staate Giorgia in den USA braucht dringend Deine

Hilfe. Es gibt offenbar Probleme mit einer der Turbinen für die Wasserkühlung.

Wäre es Dir möglich, morgen den Mittagsflug nach Atlanta zu nehmen?“

Hanspeter überlegt einen kurzen Moment und sagt dann:

„Ja, das sollte für mich möglich sein. Ich nehme an, die Organisation des Visums

und die Buchung des Fluges und des Hotels wird von Deiner Perle erledigt, oder?“

Reto ist die Erleichterung anzusehen und er entgegnet:

„Ja natürlich, Du musst Dir keine Sorgen machen, das wird alles organisiert.“

Nachdem Hanspeter seine Frau telefonisch über seine baldige Abreise informiert

hat, beginnt er mit seiner gründlichen, beinahe schon perfektionistischen Art, die

technischen Unterlagen der Turbine bereit zu machen. Beim Mittagessen zuhause

wird er dann noch mit seiner Frau besprechen, was alles in seinen Koffer muss.

Schliesslich sollte er für einige Tage bis maximal eine Woche genug Kleider dabei

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2

haben. Und auch seine Kinder wollen sicher noch „Bestellungen“ aufgeben,

schliesslich geht der Vater nicht so oft auf Geschäftsreise und schon gar nicht

nach Amerika. Er bringt üblicherweise immer irgendwelche Geschenke von seinen

beruflichen Reisen mit nach Hause.

***

Inzwischen ist Mittwochmorgen und Hanspeter wird von einem Chauffeur des

Kernkraftwerkes Hatch im Hotel Hilton in Atlanta abgeholt und nach Baxley

gefahren. Auf der 3-stündigen Autofahrt dorthin studiert er nochmals die

Unterlagen der Turbine. Nach einem kurzen Zwischenhalt im Best Western Hotel

in Baxley, wo er während seines Einsatzes wohnen wird, geht es gleich weiter zu

seinem vorübergehenden Arbeitsplatz. Im Eingangsbereich werden sie bereits von

zwei grossen, breitschultrigen, dunkel gekleideten Sicherheitsbeamten erwartet.

Während Mister Donald, der Chauffeur von Hanspeter, seinen „staff badge“ zückt

und mit einem lockeren Spruch die Eingangspforte passiert, wird der kleine

Schweizer mit Bart und hoher Denkerstirn auf Herz und Nieren geprüft. Während

einer der beiden „Gorillas“ ausführlich den Reisepass von Hanspeter studiert,

befragt der andere den temporären Mitarbeiter aus der Schweiz nach

Körpergewicht und Grösse. Wie schwer er ist, weiss Hanspeter ganz genau und er

antwortet wahrheitsgetreu mit „70“. Sein Gegenüber schaut ihn daraufhin von oben

herab an und schnauzt ihn genervt an:

„Machen Sie keine Witze! Ein anständiger Kerl wiegt mindestens 190!“

Hanspeter schaut unschuldig drein und antwortet dann:

„Ach so, Sie möchten die Gewichtsangabe in amerikanischen Pfunden haben und

nicht in Kilogrammen?“

Schnell rechnet er im Kopf nach und verkündet dann triumphierend:

„Ich wiege 154 Pfund und bin 5 ½ Fuss gross!“

Jetzt scheint der Beamte zufrieden zu sein, jedenfalls verschwindet er in seinem

Bürokabäuschen und kommt nach einer gefühlten Ewigkeit wieder mit einem

provisorischen Badge heraus. Inzwischen ist auch bereits ein Mitarbeiter des

Kernkraftwerkes eingetroffen, der Hanspeter mit einigen freundlichen Worten

begrüsst und ihn unverzüglich zu einer ersten Lagebesprechung in ein

Sitzungszimmer führt.

***

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3

Seit vielen Jahren fahren Hanspeter, seine Frau und die drei Kinder am

Samstagmorgen mit dem Zug nach Baden, um beim „orangenen Riesen“ den

Wochenendeinkauf zu erledigen. Da die Familie über kein Auto verfügt, braucht

sie beim Grosseinkauf jede helfende Hand, auch wenn sie noch so klein ist. Nach

einer Viertelstunde durch das Labyrinth der Einkaufsgestelle sind vier

Einkaufskörbe bis oben gefüllt und der Einkaufstross bewegt sich langsam in

Richtung Kasse. Wie immer darf Hanspeter bestimmen, bei welcher Kassiererin

das Geschäft abgewickelt werden soll. Er hat da so seine Favoritinnen. Die Namen

der jeweiligen Damen kennt er nicht, aber er weiss mit sehr grosser Sicherheit,

welche Augenfarbe sie haben. Heute wählt er die Kassiererin mit den leuchtend

blauen Augen. Schon seit eh und je ist Hanspeter von den verschiedenen

Augenfarben fasziniert und bei einer neuen Begegnung schaut er immer zuerst auf

die Augen. Hat er einmal ein Augenpaar in seinem Kopf abgespeichert, vergisst er

es nicht mehr und kann auch Monate später noch präzise die Augenfarbe

beschreiben. Andere Leute haben ein gutes Namensgedächtnis und Hanspeter

eben ein gutes Erinnerungsvermögen an Augenfarben.

***

Die Schwierigkeiten mit der Turbine im Kernkraftwerk Hatch hat Hanspeter

inzwischen beheben können. Es ist Samstagabend und er ist wieder im Hotel

Hilton in Atlanta eingetroffen, wo er die letzte Nacht vor der Rückreise in die

Schweiz verbringen wird. Für seine Kinder hat er den neuesten Asterix-Band

(selbstverständlich auf Englisch) im Buchladen um die Ecke erstanden, für seine

Frau ein Seidenfoulard in einer schicken Boutique gekauft und bereits alles

sorgfältig in seinen Reisekoffer gepackt. Faul liegt er nun gemütlich gekleidet auf

dem Bett und schaut sich die Samstagabendshow im amerikanischen Fernsehen

an. Neben Darbietungen von Zauberern und langfädigen Interviews mit

irgendwelchen prominenten Persönlichkeiten gibt es dazwischen auch immer

wieder musikalische Einlagen. Soeben betritt ein gut aussehender Mann um die 40

die Bühne. Er trägt einen eierschalenfarbenen, sehr eleganten Anzug mit einem

enganliegenden, dunkelbraunen T-Shirt darunter. Mit lockerer Hand hält er das

silbrige Mikrofon, wippt im Takt der Backgroundmusik mit dem rechten Fuss und

beginnt dann zu singen:

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„Bei Tag und Nacht denk ich an dich, Marina,

du kleine zauberhafte Ballerina.

Oh, wärst du mein, du süsse Caramia,

aber du gehst ganz kalt an mir vorbei.“

Nach drei Strophen ist die Darbietung zu Ende und Hanspeter beschliesst, den

Fernseher nun auszuschalten und mit dem Refrain dieses wunderbaren

Liebesliedes in den Ohren einzuschlafen.

***

Um 16 Uhr trifft Hanspeter am Flughafen in Atlanta ein. Nachdem er seinen Koffer

aufgegeben hat, begibt er sich in den Wartebereich mit Duty free-Shops,

Restaurants, riesigen WC-Anlagen und weichen Wartesesseln. Er hat noch viel

Zeit, bis die Swiss-Maschine zum Einsteigen bereit ist. Er vertieft sich in den

Agatha-Christie-Kriminalroman, den er von zuhause mitgenommen hat. Die

Geschichte ist spannend und er bemerkt gar nicht, wie schnell die Zeit vergeht.

Schliesslich ist es so weit und das Flugzeug kann bestiegen werden. Kaum hat er

es sich in seinem Business-Sitz am Fenster bequem gemacht, trifft auch schon

sein Sitznachbar ein. Nachdem dieser sein Handgepäck und seinen Mantel im

Ablagefach deponiert hat, begrüsst er Hanspeter mit einem breiten Lächeln auf

dem Gesicht freundlich mit „good evening, sir“ und setzt sich. Wie wenn ein Blitz

durch Hanspeter hindurchschiessen würde, denkt er sich:

„Diese stechend blauen Augen, wie sie auch James Bond hat, hat doch auch der

Sänger in der gestrigen Samstagabendshow im Fernsehen gehabt.“

Und da er ja ein sehr gutes Erinnerungsvermögen an Augenfarben hat, ist er sich

sehr sicher, dass es diesen Sänger sein muss. Er fasst sich ein Herz und spricht

seinen Sitznachbar auf Deutsch an:

„Entschuldigen Sie bitte. Kann es sein, dass ich Sie gestern Abend im Fernsehen

gesehen habe?“

Der Angesprochene schaut ihn mit einem „Ich-nichts-verstehen-Gesicht“ an und

antwortet dann:

„Excuse me, do you speak English?”

Damit hat Hanspeter jetzt überhaupt nicht gerechnet, da sein Gegenüber das

Liebeslied auf Deutsch gesungen hat. Er wechselt deshalb auf Englisch und stellt

seine Frage nochmals. Er erfährt dann von Herrn Miller, dass er kein Deutsch

Page 56: Literaturwettbewerb 2015 komplett

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spricht und nur für diesen einmaligen Auftritt in der gestrigen Fernsehshow den

Text des Liedes „Marina, Marina, Marina“ auswendig gelernt hat. Für Hanspeter ist

es beinahe unerklärlich, wie man ein Lied in einer fremden Sprache, die man nicht

beherrscht, absolut akzentfrei und mit den richtigen Betonungen darbieten kann.

Herr Miller ist seinerseits erstaunt, dass ihn Hanspeter nur aufgrund seiner

Augenfarbe wieder erkannt hat und dass der Zufall es so wollte, dass sie im

Flugzeug die Sitze nebeneinander haben. Eine wirklich aussergewöhnliche

Begegnung.

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1

Eine aussergewöhnliche Begegnung - Der Geisterzug

Eigentlich macht Daniela fast täglich eine aussergewöhnliche Begegnung. Zumindest von

Montag bis Freitag. Und zumindest kommt es ihr so vor. Was die Begegnung jedoch noch

viel aussergewöhnlicher macht ist, dass die Begegnungen innerhalb dieser Begegnung auch

immer aussergewöhnlicher werden. So aussergewöhnlich, dass Daniela langsam anfängt,

an sich zu zweifeln. Bildet sie sich das alles nur ein? Kann sie die Begegnungen

beeinflussen? Ja gar verhindern? Und wenn ja, will sie das überhaupt?

Seit einem halben Jahr arbeitet Daniela in Lenzburg. Und jeden Abend besteigt sie um 17.32

Uhr dort am Bahnhof den Zug, der sie nach Hause bringt. Ungewöhnlich ist Lenzburg nicht.

Ein kleines, malerisches Altstädtchen, ein Schloss oberhalb, viel Industrie und ein

schmutziger Bahnhof mit schmutzigen Unterführungen. Nicht, dass der Bahnhof nicht

regelmässig geputzt würde. Aber er ist viel frequentiert, viele Leute lassen viel Abfall liegen.

Also nichts Aussergewöhnliches.

Es ist auch nicht aussergewöhnlich, dass Daniela jeden Abend um 17.32 Uhr den Zug nach

Hause nimmt. Und der Zug selber sieht auch nicht aussergewöhnlich aus. Manchmal fragt

Daniela sich jedoch, ob der Zug denn tatsächlich existiert?

Alle Züge am Bahnhof Lenzburg werden auf zwei Anzeigetafeln angezeigt. Der Zug, der um

17.32 Uhr auf Gleis 4 fährt, wird jedoch lediglich auf einer Anzeigetafel angezeigt. Wenn

Daniela also aus der Unterführung den Treppenaufgang nimmt, sieht sie die Anzeigetafel.

Nimmt sie jedoch die Rampe, also den Aufgang auf der anderen Seite der Unterführung,

sieht sie zwar die Anzeigetafel für Gleis 5. Die Anzeigetafel für den Zug auf Gleis 4 fehlt

jedoch.

Während sie auf ihren Zug wartet, hört Daniela ständig Lautsprecherdurchsagen. Die

ankommenden Züge auf Gleis 3 und Gleis 5 werden mehrmals angesagt. Auf Gleis 5 fahren

gar 2 Züge: 17.33 Uhr in den Sektoren A und B der nach Wohlen und Rotkreuz; 17.37 Uhr in

den Sektoren C und D der nach Zofingen. Vom 17.32 Uhr-Zug auf Gleis 4 kein Wort. Nie.

Vielleicht zu unkompliziert, da auf diesem Gleis nur ein Zug fährt. Was für Gleis 3 jedoch

keinen Unterschied zu machen scheint: Auch der Zug, der dort um 17.28 Uhr nach Aarau

fährt, wird doppelt angezeigt und zusätzlich angesagt. Nur der ihre auf Gleis 4 nicht.

Aussergewöhnlich.

Um 17.31 Uhr hört sie jeweils das letzte Mal, dass auf Gleis 5 in den Sektoren A und B der

Zug nach Wohlen/Rotkreuz einfahren wird. Kurz darauf nimmt sie jeweils das leise Surren

der Geleise wahr. Und dann sieht sie auch schon von weitem den Zug kommen: Aus der

Page 58: Literaturwettbewerb 2015 komplett

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Ferne tauchen drei Lichter auf, oberhalb, auf einem Felsen, steht das Schloss, gespenstisch

anmutend, und blickt still auf die Geschehnisse am Bahnhof herunter …. Der herannahende

Zug hält jedoch nicht, wie im Lautsprecher angesagt, auf Gleis 5, nein, es ist ihr Zug, der auf

Gleis 4 einfährt.

Mittlerweile fragt sich Daniela, ob es den Zug denn tatsächlich gibt oder sich um eine Art

Geisterzug handelt.

Eigentlich ist Daniela ein rational denkender Mensch. So etwas wie Geisterzüge gibt es

nicht. Das weiss sie ganz genau. Trotzdem, so sehr sie sich konzentriert und eine zweite

Anzeigetafel sucht oder sich darauf achtet, ob der Zug nicht doch angesagt wird – nichts.

Diese täglich sich wiederholende Erfahrung regt ihre Fantasie an und sie fragt sich, ob es

nicht doch Geisterzüge gäbe? Sie fragt sich das, während sie in Richtung des bald

ankommenden Zuges blickt. Oberhalb der Gleise steht stumm und starr und grosszügig

beleuchtet das Schloss….ob die Geister wohl daher kommen?

Nein, natürlich nicht, das weiss Daniela.

Wenn sie dann in ihrem Zug sitzt, an Feierabend, sich auf einen gemütlichen Abend freut,

sieht sie immer diese Kameras, die jedes Abteil scannen. Eigentlich sehen sie nicht aus wie

Kameras, eher wie zwei grosse, schwarze Kugelaugen. Sie beobachten alles, was im Zug

vor sich geht. Ob sie wohl auch den Ton aufzeichnen? Und sich genauso amüsieren, wie

Daniela, wenn sie ihre Mitreisenden belauscht? Zum Beispiel zwei junge Männer, zirka 17

jährig. Beide sind ähnlich gekleidet: Weite Hosen, den Bund beinahe bei den Kniekehlen,

Baseballcap, sportliches Jäckchen, Kopfhörer in den Ohren, Kaugummi kauend. Der Akzent

lässt eine Herkunft aus dem Balkan vermuten, es kann sich jedoch auch um den gängigen

Slang der heutigen Jugend handeln, so genau weiss Daniela das nicht. Interessiert sie auch

nicht. Herkunftsländer sind ihr egal, für sie zählt der Mensch. Doch das Thema, das die

beiden „coolen Typen“ abhandeln, wundert sie. Sie sprechen über den heutigen

Berufsschulunterricht. Wie interessant dieser war. Und dass sie beide unbedingt noch für

den nächsten Test lernen müssen, bei dem sie eine gute Note wollen. Und deshalb am

Samstag nicht ausgehen können! Aussergewöhnlich, und so gar nicht dem entsprechend,

was die Medien über die heutige Jugend berichten: Verzogen und faul, kriminell und

gewalttätig. Daniela fragt sich in solchen Momenten, ob dieses aussergewöhnliche Erlebnis

im Geisterzug Realität ist. Oder ob sie sich, wegen dem aussergewöhnlichen Zug, der weder

angezeigt noch angesagt wird, lediglich einbildet, dass dieses Gespräch, welches sie

belauscht, aussergewöhnlich ist? Oder ob die Berichterstattung der Medien wohl einseitig

aussergewöhnlich ist?

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Oder Jens. Sehen die Kameras Jens? Hören tun sie ihn jedenfalls kaum. Jens trifft sie

jeweils mittwochs am Bahnhof, während sie auf den Zug wartet. Er ist ein ruhiger, um nicht

zu sagen, in sich gekehrter Mensch. Er grüsst sie nur, wenn sie ihn zuerst grüsst. Ein paar

Mal hat sich Daniela im Zug zu ihm gesetzt. Die Fahrt schien jeweils unendlich lang. Jens

sprach kaum, antwortete nur knapp auf Danielas Fragen. Es war ihr so richtig unangenehm.

Nachdem sie diese Erfahrung dreimal über sich ergehen liess, hat sie beschlossen, ihm aus

dem Weg zu gehen. Wenn sie ihn nun am Bahnhof von weitem sieht, übersieht sie ihn

bewusst. Dumm nur, dass Jens sie sieht und sich immer zu ihr setzt. Um dann kaum mit ihr

zu sprechen. Wirklich aussergewöhnlich.

Eine Zeitlang nahm Daniela daraufhin mittwochs den anderen Aufgang aus der

Unterführung, die Rampe. Damit Jens sie nicht sieht. Aber der Rampenaufgang ist, weil der

Zug dort nicht angeschrieben ist, noch aussergewöhnlicher. Was wiederum Danielas

Fantasie zu sehr anregt: Ist der Zug real? Ist Jens real? Oder geht sie einer Art Gespenst

aus dem Weg? Etwas, das es ihrer Überzeugung nach eigentlich gar nicht gibt? Ist es

tatsächlich so, dass er nicht mit ihr spricht, und sich trotzdem neben sie setzt? Ist dies

aussergewöhnlich? Oder bildet sie sich alles nur ein und sie ist die Einzige

aussergewöhnliche?

Manchmal fragt sie sich auch, ob sie sich unsichtbar machen kann. Oder gar unsichtbar ist.

Dies deshalb, weil sie beim Einsteigen ständig angerempelt wird. Würde ja zu einem

Geisterzug passen! Wobei….den gibt es ja gar nicht, oder? Und am Bahnhof angerempelt zu

werden ist ja schliesslich nichts Aussergewöhnliches. Aber es würde erklären, warum Jens

nicht mit ihr spricht. Obwohl…. spricht Jens mit überhaupt jemandem?

Einmal hatte Daniela am Bahnhof Jens‘ Schwester getroffen. Sie ist das pure Gegenteil von

ihm. Sie redet ununterbrochen, eine richtige Quasselstrippe. Daniela wundert sich seither

eigentlich nicht mehr, dass Jens kaum spricht. Wahrscheinlich kam er als Kind kaum zu Wort

und dies hat er beibehalten. Also auch nicht sehr aussergewöhnlich. Und eine Erklärung

dafür, dass sie eben doch nicht unsichtbar ist.

Letztens belauschte Daniela auf dem Heimweg zwei ältere Damen. Sie regten sich darüber

auf, dass man für Hunde ein halbes Billett lösen muss, Kinder im Kinderwagen jedoch gratis

fahren. Schliesslich nimmt ein Hund weniger Platz weg als ein Kinderwagen. Daniela fand

dies eine äusserst aussergewöhnliche Sichtweise – schliesslich fahren Kinder bis sechs

Jahre gratis. Auf der anderen Seite wundert sie eine so aussergewöhnliche Sichtweise in

dem aussergewöhnlichen Zug eigentlich nicht mehr.

Daniela muss sich jeden Tag, während sie auf den Zug wartet sagen, dass es Geisterzüge

nicht gibt. Dass eine Anzeigetafel weniger nicht aussergewöhnlich ist. Und dass es

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organisatorische Gründe haben kann, warum ein Zug nicht angesagt wird. Wie mehr sie sich

das sagt, desto sicherer wird sie sich, dass sie nicht verrückt ist und dass an dem Zug, der

17.32 Uhr auf Gleis 4 in Lenzburg fährt, nichts aussergewöhnlich ist.

Jedoch immer dann, wenn sie sich ganz sicher ist, dass alles ganz normal ist, passiert

wieder etwas Aussergewöhnliches. Zum Beispiel folgendes: Eine Gruppe Teenager spielt im

überbesetzten Zug laut Videos auf ihren Handys ab und kommentiert diese laut. Sehr laut!

Alle Passagiere scheinen sich aufzuregen. Nur der ältere Herr, der ihr direkt gegenüber

sitzt….mit bis anhin säuerlicher Mine, scheint sich darüber zu amüsieren und lacht herzhaft

mit. Aussergewöhnlich!

Daniela hat sich jetzt täglich über ein halbes Jahr lang Gedanken darüber gemacht, ob es

sich bei ihrem Zug um einen Geisterzug handelt, ob er real ist, ob die Passagiere darin real

sind, ob sie sicht- oder unsichtbar ist… Dabei ist sie schier wahnsinnig geworden! Sie hat

versucht, sich mit ihrer Handykamera während der Zugfahrt zu filmen, um zu sehen, ob sie

sichtbar ist und die Zeit auch tatsächlich vergeht. Sie hat diverse, zugegebenermassen

aussergewöhnliche, Internetforen durchstöbert, in denen sich User mit solchen und noch

aussergewöhnlichen Themen beschäftigen. Hat sich ein persönliches Horoskop erstellen

lassen (was sie sich in diesem Zusammenhang erhofft hatte, weiss sie mittlerweile selber

nicht mehr). Schliesslich kam sie etwas zur Besinnung, wollte sich auf Fakten konzentrieren

und hat statt der Esoterikwebsites die der SBB durchforstet, beziehungsweise deren

Fahrplan: Ihr 17.32 Uhr-Zug ab Lenzburg war überall ordnungsgemäss aufgeführt. Auch

Jens traf sie letztens im Kino und auch er konnte sich an die Begegnungen mit ihr im Zug

erinnern. Ob er dieselben aussergewöhnlichen Beobachtungen machte wie sie selber

getraute sie sich ihn allerdings nicht zu fragen.

Also besuchte sie einen Kurs in autogenem Training, absolvierte, während sie auf den Zug

wartete jeweils Erdungs- und Achtsamkeitsübungen. Mit der Absicht, sich am Bahnhof

jeweils entspannen zu können, ganz bei sich zu sein, und keiner Täuschung zu unterliegen.

Bis zu dem Tag, an dem sie sich fragte, warum ein rational denkender Mensch wie sie so

etwas brauchte? Weshalb so ein Mensch derart viele Bemühungen unternahm. Und sie

weiss bis heute nicht, ob es ihr überhaupt gelang, ihr magisches Denken loszuwerden. Oder

ob sie das überhaupt wollte? Denn wie mehr sie versuchte, sich zu entspannen, sich zu

erden, sich zu konzentrieren, die fehlende Anzeige und die fehlende Ansage auszublenden,

das unheimliche Schloss nicht zu beachten… desto mehr ging die Magie des Moments, in

dem sie den einfahrenden Zug kommen sah, verloren. Desto weniger aussergewöhnliche

Gespräche im Zug nahm sie war. Alles war normal und langweilig. Kein schweigender Jens,

keine wissbegierigen Teenager, keine lachenden, griesgrämigen alte Männer, keine

empörten reife Damen…. Sogar die Kameras wirkten wie ganz gewöhnliche Kameras.

Page 61: Literaturwettbewerb 2015 komplett

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Immerhin wurde sie beim Ein- und Aussteigen noch angerempelt, was ihr schlussendlich zu

einer Entscheidung verhalf:

Es ist ihr egal! Es ist egal, ob es Geisterzüge gibt oder nicht. Ob sie unsichtbar ist oder nicht.

Und sie will es auch gar nicht wissen. Denn was macht schon den Heimweg einer Pendlerin

spannender als die Frage, ob sie sich gerade in einem Geisterzug befindet?

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13 AUSSERGEWÖHNLICHE BEGEGNUNGEN

Ich lasse einen Apfel fallen und lege ihn wieder zurück. Die Frau an der Kasse schaut böse.

Ich weiss nicht warum, denn ich finde Apfelflecken schön. Es ist ungerecht, dass sie sich

nicht vermehren dürfen.

Der Inder mit der Zahnspange bietet mir Schokolade an. Ich lehne ab, denn seine

Zahnspange ist mir unsympathisch. Kleine Fotoapparate sind in ihr versteckt, da bin ich mir

sicher. Jedenfalls blitzt es immer, wenn er lacht.

Es fehlt nicht viel, dass sein Gesicht schön ist. Der Kiefer versaut alles. Man könnte

begründen, dass es ihn ausmacht. Ich meine, der schiefe Kiefer. Wäre die Nase auch schief,

dann würde es passen. Doch die Nase ist ziemlich steil. Sie ist in einer ganz anderen Liga.

Der Kiefer nimmt es gelassen, denn er hat einen Scheissplatz, sowieso.

Der, mit den Tränensäcken hockt auf meinem Mantel und merkt es nicht. Wenn ich mich

bewege, dann bewegt er sich mit. Das heisst, ich muss für mindestens 30 Minuten

stillsitzen. Wenn der Zug ankommt, stehe ich mit einem Schwung auf. Ich muss stark

schwingen, denn der Mann ist ziemlich schwer. Zum Glück mache ich jeden Dienstag und

Freitag Krafttraining.

Antonio streckt mir eine Traube hin. Antonio ist ein Schleimer. Er blickt runter auf meine

kaputten Schuhe. „Ich kaufe dir neue “, meint er. Ich habe nichts dagegen. Meine Wahl fällt

bestimmt auf Rollschuhe, denn Rollschuhe können andere Schuhe überfahren. Jedenfalls

die von Antonio.

Der DJ heisst Manuel. Manuel macht es gut, denn alle tanzen. „Weiter Manuel, weiter

Manuel“, rufen alle. Manuel fühlt sich gut und will auf einen Knopf drücken. Der Knopf will

nicht runter. Im Saal ist es plötzlich ganz still. Alle rufen: „Manuel, Musik, Manuel, Musik“.

Manuel hat den Überblick verloren. Er sieht keine Knöpfe mehr, er sieht nur noch Lichter.

Das gelbe Licht gefällt ihm besonders gut, diesem rennt er hinterher. Manuel ist jetzt

Lichtberater. Er hat eine eigene Firma mit vierzehn Angestellten. Einer ist bereits gestorben.

Hitzetod, hiess es.

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Francesca hat eine Liste mit Dingen, die sie noch nie gemacht hat. Da steht zum Beispiel:

den Daumen in die Luft strecken und gleichzeitig „Adé“ rufen. Francesca kann das „Adé“

durch viele Wörter ersetzen. Zum Beispiel: Luftröhre oder Dickte. Dickte bezeichnet die

Breite eines Buchstabens. Francesca mag alle Buchstaben, ausser das B. Das B hat zu viele

Kreise, findet sie. In dem Diktat macht Francesca zu viele Fehler, findet die Lehrerin. Darum

arbeitet Francesca an einer Schrift, die in den Arm kneift, wenn man z.B. höhren statt hören

schreibt. Jetzt schreibt Francesca nur noch 6er. Die Lehrerin fragt sich aber, warum

Francesca langärmlige Hemden trägt, selbst im Sommer.

Der Stoffsessel ist gemein, denn er lässt die Frau kontrastarm aussehen. Zu allem Übel

meint die Frau, dass der Mann mit ihr flirtet. Ich habe aber genau gesehen, wie er dem

Stoffsessel zugezwinkert hat. Wäre ich die Frau, würde ich spätestens jetzt den Platz

wechseln.

Der Zugkontrolleur fragt irgendetwas nach einem Tunnel aus der Region. Ich habe keine

Ahnung, wovon er spricht. Das müsste ich abklären, antworte ich und versuche gescheit zu

wirken. Ich nehme mein Funkgerät und wähle die Nummer meiner Grossmutter. Grossmutter

ist Chef der Tunnels. Sie hat eine grosse Karte auf ihrem Stubentisch ausgebreitet. Dort sind

auch die Tunnels eingetragen, von denen wir nichts wissen dürfen. Geheime Tunnels quasi.

Der Zugkontrolleur ist kein Experte, denn er kennt keine Fakten. Kein Grund zur Aufregung

also. Grossmutter wird ihn trotzdem überwachen. Sicher ist sicher.

Mama backt einen Zimtstern. Er ist grösser als mein Kopf. Mama möchte weitere 100

backen und diese an Verwandte verschicken. Die Verwandten leben in Spanien. Mama allein

ist schuld daran, dass alle Spanier denken, ihre Zimtsterne wären normal hier. Nächsten

Winter wird es streng, denn Mauro und Daniela besuchen uns. Das heisst, Mama wird den

Dorfladen stürmen. Wer A sagt, muss auch B sagen, erklärt sie. Ich gebe Mama Recht.

Lisa hiess ursprünglich Kathrin. Kathrin tönt blöd, fand Beate. Dann entschied sie sich

anders zu heissen. Leonie. Das ist ein schöner Name, fand Betty. Sarah hat

Stimmungsschwankungen, meint der Hausarzt. Der Hausarzt kratzt sich am Kopf, denn sein

Computer ist abgestürzt. Klara’s langer Name ist schuld. Im engen Kreise wird Sophie auch

die Systemsprengerin genannt. Teodora ist das aber scheissegal.

Page 64: Literaturwettbewerb 2015 komplett

Die alte Dame hält einen Schirm in der rechten Hand. Plötzlich lässt sie ihn fallen. Der

Schirm liegt eine Weile auf dem Trottoir. Dann bückt sich die Dame und hebt ihn auf.

Blitzschnell. Das ganze wiederholt sich dreimal. „Was man nicht alles für den Rücken tut“.

Sie zwinkert mir zu als wir in den Bus steigen.

Die Frau an der Kasse heisst Kowal. Das weiss ich von ihrem Schild. Ich habe sie aber noch

nie mit ihrem Vornamen angesprochen, denn da gibt’s keinen. Ich finde es schade, dass ihre

Eltern das verschwitzt haben. Vielleicht wollten sie Zeit sparen, denn das Geburtstagslied

ohne Namen geht viel schneller.

 

Page 65: Literaturwettbewerb 2015 komplett

Meine aussergewöhnliche Begesnung - mit einem Rollstuhl !

Was für ein Leben ! Sitze gerade in meinem Rollstuhl und frage mich was der liebe Gott

wohl noch so alles mit mir vor hat. Was will er mir sagen ? War ich ungezogen und böse ?

Ein schlechtes Karma vorhanden ? lm früheren Leben eine grausame Hexe, die kleine Kinder

bestialisch umgebracht hat ? Oder ist dieser plötzliche Schlaganfall darauf zurück zu führen ,

dass mein Lebenswandel wohl etwas zu ausschweifend war ? Nun, nach kurzem

nachdenken komme ich zum Schluss, dass es wohl letzteres sein muss. Mit ein paar Kilos

zuviel auf den Rippen und Diabetes sitze ich in der 1. Reihe für Schlaganfälle oder

Herzinfarkte oder sonstigem, lebenverändertem Siechtum. Selber schuld, sag ich da nur.

Wandern und ähnliche schweisstreibende Bemühungen gehörten auch nicht gerade zu

meinen Hobbys. Nun ja, jetzt ist es geschehen und ich wünschte ich hätte gesünder gelebt,

ab und zu mich etwas mehr bewegt. Statt den Bus zur Arbeit zu nehmen, wäre ich vielleicht

doch besser bis ans andere Ende der Stadt zu Fuss gegangen. Jetzt rolle ich mühsam mit

meinem Ferrari, so heisst nämlich mein rollender Untersatz, im Garten der Klinik umher, in

der ich noch ein paar Wochen bleiben muss und beobachte andere Leute, Tiere und bunte

Blumen. Gott ist das langweilig ! lch könnte schreien bei dem Gedanken, was ich gerade in

diesem Moment alles auf der Welt verpasse ! Würde am liebsten meinen Ferrari im nahe

gelegenen Fluss versenken und gemütlich durch die Stadt schlendern, mich mit meinen

Freundinnen treffen und im Biergarten ein, zwei Biere zwitschern. Stattdessen bekomme

ich um sechs Uhr Abends ein Diätmenu das nach nichts schmeckt und einen kalten Tee.

Mist I Um diese Zeit bin ich früher erst nach Hause gekommen von der Arbeit und machte

es mir auf der Terrasse bequem mit Zeitung und einem Glas Weisswein. Habe Mann und

Katze gestreichelt und war mit mir und der Welt zufrieden. Am späteren Abend, so gegen

20 Uhr bin ich dann langsam zum Kühlschrank geschlurft und hab was Feines rausgeholt

zum essen. Aber hier in diesem Spital liege ich bereits fix und fertig zum schlafen in meinem

Krankenhausbett, wohlverstanden es ist erst 20 Uhr !!! lch schaue in meinen Mini-

Fernseher, der nicht grösser ist als ein A-4-Blatt. Natürlich mit einem Kopfhörer versehen

damit die alte, sehr sehr alte Dame nicht gestört wird neben mir. Sie ist schon zum 3. Mal

hier, bricht sich ständig ihre Knochen und spricht nur französisch ! lch verstehe kein

Französisch und auch sonst keine Fremdsprachen. Hätte ich mal besser aufgepasst in der

Schule und etwas gelernt. Mir ist ja sowiso das italienische parlare viel symphatischer,

obwohl ich auch diese Sprache nicht wirklich kann, aber ich mag sie. Erinnert sie mich doch

an die herrlichen Toscana-Ferien. Oh was würde ich für eine Pizza hergeben. So eine

zusammengeklappte, nach Tomaten und Oregano duftende, knusprige Calzone, wo der

zarte Mozzarella in meterlangen Käsefäden herausläuft. Das Leben meiner Kinder ! Nein

natürlich nicht oder doch ? Haha .. Nach den 3 kleine Kartöffelchen und den 2 Salatblättern

zum Abendessen, bin ich schon wieder hungrig. Aber ich habe vorgesorgt. Bin ja nicht doof.

ln meinem Nachttischchen habe ich so einiges gebunkert. Angefangen von süssen Bananen,

Salamistangen, die aussehen wie kleine Hunde-Snacks, und Schockolade in jeglichen

Geschmacksrichtungen. Muss nur aufpassen das die strenge Nachtschwester nicht gerade

ins Zimmer kommt, wenn ich diese genüsslich verdrücke. Aber meistens klappt das auch.

Madame schnarcht vis-a-vis und ich sehe gespannt zu wie ihr Kinn langsam wegsackt und

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I

den Blick auf ihr zahnloses lnnenleben ihres Mundes freigibt. lch sollte unbedingt noch

meine Zähne putzen, nicht das es mir gleich ergeht. Nein meine Beisserchen behalte ich

besser noch. Aber dann müsste ich der Schwester klingeln, da ich nicht alleine aus diesem

Bett komme, das sogar auf einer Seite vergittert ist, damit ich kein Sturzflug mache in der

Nacht. Fast wie im Knast. Schaue mir jetzt noch die Helene Fischer-Show an und dann kann

das Sandmännchen kommen. Zähne putzen... morgen !

lch hatte geträumt in dieser Nacht,ich sei springend ins Meer gehüpft und statt Fische die

dort schwammen, waren es kleine Schockoladestückchen mit ganzen Nüssen und Eiskugeln

in den schönsten Farben !! Langsam wundere ich mich, zu was mein Hirn doch noch fähig

ist. Sehr kreativ mein interner Computer. Hat man mir doch damals erklärt, nach dem

Schlaganfall, dass mein Hirn quasi ein Computer sei, der grade mal abgestürzt ist. So in der

Art, Festplatte gelöscht. Kann nicht sein. Das Ding arbeitet gut, ist einfach nicht mehr so

schnell wie früher.

Der nächste Morgen ist ja fantastisch. Die Sonne scheint in unser veraltetes Krankenzimmer

und die nette Schwester Monika misst bei mir schon mal den Blutdruck und scheint mit

dem Ergebniss sehr zufrieden. Und meine französische Nachbarin erzählt mir irgend etwas

und kichert wie ein kleines Mädchen. Keine Ahnung was sie mir erzählen will, aber ich

lächle zustimmend zu ihr rüber. Es ist sehr früh am morgen, gerade mal halb sieben. Für

mich mitten in der Nacht. Jetzt könnte ich schlafen wie ein Murmeltier, aber nichts da. Ein

straffes Programm steht auf dem heutigen Plan. Ergo-Therapie, Physio-Therapie, dann

Logopädie mit der feschen Trixi, damit mein Mund endlich aus der Schieflage kommt, in dem

er seit jenem Tag ist. Frühstücken ist aber zuerst angesagt. Wir zwei Damen rollen dann mal

gemütlich in den sterilen Ess-Saal. Viele andere Patienten, denen es sichtlich schlechter

ging, waren schon dort und warteten, bis man sie fütterte. Zum Glück können Madame und

ich dies noch selber. Es ist zwar anstrengend, wenn man nur noch eine gesunde Seite hat,

die macht was sie muss. Es dauert halt, aber ich habe jede Menge Zeit. Die Schwestern

allerdings nicht. Was ihren Gesichtern manchmal anzusehen ist.

Die gute Trixi, eine quirlige junge Frau mit hübschen Zapfenlocken, übt mit mir seltsame

Sätze, mit a,e,i,o und ist ganz begeistert von meinen Fortschritten. lch allerdings merke

kaum etwas davon. Aber sie meint in ein paar Wochen sehe ich wieder ganz normal aus.

Also mein schiefes Lächeln würde sich dann wieder in mein zauberhaftes Lachen

verwandeln. Das mit dem zauberhaft stammt von meinem Mann. ln dieses Lachen, in das

sich mein Mann vor über 20 Jahren so verliebt hatte, als er mit schmerzverzerrtem Gesicht

in der Zahnarztpraxis, in der ich meine Lehre als Zahnarztgehilfin absolvierte, auf dem Stuhl

sass und wartete bis die Spritze endlich seine Wirkung tat. Der Weisheitszahn wars, den ihn

so plagte. lch war wenig erfreut, als er kurz vor Feierabend unangemeldet in der Praxis

stand. Alle lnstrumente waren sterilisiert, alles tiptop aufgeräumt und ich freute mich auf

meine Verabredung im nahen Cafe. Auf meine tolle , lang ersehnte Verabredung. Er war

hübsch, dunkle halblange Haare, braune schöne Augen und er hatte mir schon länger

mächtig Eindruck gemacht mit seiner Art. Ein charismatischer junger Mann mit einem

kleinen Sportwagen. Wirklich schick ! Und nun musste ich ihn warten lassen und dies alles

wegen einem blöden, ins Zahnfleisch eingewachsenen Zahn. Aergerlich ! lch kam dann mit

einer Stunde Verspätung zu meiner Verabredung. Doch mein Gigolo war gerade mit einer

blonden Frau am flirten. Das ging ja gar nicht! lch ging frech und stolz an den Tisch und

Page 67: Literaturwettbewerb 2015 komplett

stellte mich vor. Leider half alles nichts. Wir verbrachten den Abend zu dritt. So ein

eingebildeter Lackaffe. Da war ich dann doch froh, dass ich meinen angehenden Ehemann,

der als Notfallpatient ein furchtbar schlechtes Gewissen hatte, weil ich Überstunden

machen musste, kennen gelernt hatte. Als ich mit ihm auf die Chefin wartete, die dann den

Zahn zog, fragte er mich wie er denn dies wieder gut machen könne. Als ich so gelangweilt

aus dem Fenster schaute, wir hatten die Praxis im Erdgeschoss, sah ich ein grosses , tolles

Motorrad draussen stehen auf dem Parkplatz. Es glänzte und funkelte in der Abendsonne.

Es sah aus wie eine Harley. Ein Traum von einem Motorrad.Und ich fragte ,ob dieser Traum

aus blau-metalis6 ihm gehörte, was er dann nickend bejahte. Das wollte ich schon immer,

Motorrad fahren und jetzt hatte ich die Möglichkeit dazu und erklärte ihm Banz

unverblümt, dass er das wiedergutmachen könne, indem er mich auf eine Biketour

mitnehmen könnte. Er grinste, so gut das halt ging mit einem Sauger und Wattebällchen im

Mund, und meinte das sei ein sehr guter Deal. Am Sonntag gings los. Punkt 14 Uhr fuhr

mein Notfallpatient bei meinem Elternhaus vor. Aufregend ! Mit engen Jeans,

Cowboystiefeln und einer gestrickten kurzen Jacke stand ich vor ihm und er meinte dann, so

kommst du sicher nicht mit. Punkt. Warum das denn ? Naja, Lederjacke wäre ein Mussl

Hatte ich aber nicht. Mein erster Motorradausflug schien gerade wie eine Seifenblase zu

zerplatzen. Er aber hatte eine ldee und fuhr davon. Nach 20 Minuten warten hörte ich ihn

schon von weitem. Mit dabei eine Motorradjacke ! Ausgeliehen von einer guten Bekannten.

Was für ein Glück. Und dann stand nichts mehr im Weg für einen unvergesslichen Höllenritt

!! Was für ein Abenteuer. Hätte mir beinahe in die Hosen gemacht. Das war der Anfang

einer grossen Liebe....zu Motorrädern !

Ja gut, auch jetzt hatte ich zwei Räder unterm Po. Einfach etwas langweilig so ohne Ps und

lautem Geknatter. Und der Wind blies mir auch nicht um die Ohren, da muss ich noch üben

und schneller werden mit meinem Ferrari. Wird wohl nie klappen. Es ist auch so schon

anstrengend genug. lch hatte meine Therapien durch und hoffte auf Besuch am

Nachmittag. Aber es kam niemand, also machte ich alleine einen Ausflug in den Garten.

War gar nicht so einfach. Die Gänge des alten Spitals waren unübersichtlich und jeder Lift

führte irgendwie ins nirgendwo. Bis dann ein junger Mann, auch im Rollstuhl, plötzlich

neben mir stand, oder besser gesagt sass. Er fragte wohin ich denn wolle und ich erklärte

ihm mein Vorhaben. Geschickt und wendig fuhr er vor mir den gelb gestrichenen Wände

entlang und zeigte mir den Lift, der uns in die Freiheit brachte. So fühlte es sich jedenfalls

an. Herrlich, die warme, saubere Luft, die Vögel die zwitscherten. Fast wie in einem

Rosamunde Pilcher-Film. lch fuhr Richtung Restaurant, die Tische und Stühle standen

einladend in der Sonne und die Menschen genossen sichtlich den schönen Frühlingstag.

Einige kannte ich aus dem Speisesaal, sie sassen mit ihren Lieben und ihren Freunden da,

tranken Cappucino oder assen ein Stück Kuchen. Darauf verzichtete ich, allerdings nicht

freiwillig. lch war noch nicht so gut im Transport mit Esswaren auf meinem Schoss,

irgendetwas fiel mir ständig runter, sei es mein Portemonnaie oder eben die gerade

erfolgreich von der Theke heruntergehangelte Torte oder ähnliches. Natürlich war immer

jemand sofort zur Stelle und half mir, aber diese mitleidigen Blicke jedesmal ertrage ich

nicht. Also schnappte ich mir ein Plasticfläschchen mit gesundem lnhalt, sprich Wasser.

Hätte lieber ein Glas italienischen Rotwein, so wie es ihn in der Toscana gibt.

lch erinnere mich an dieses wunderschöne Städtchen Cecina mare, in der Toscana. Wir

waren so oft dort und ich konnte mich kaum satt sehen an diesen am Meer gelegenen Ort.

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Schon die Hinfahrt von der Schweiz bis nach Genua war immer ein Erlebniss und plötzlich

tauchte es auf. DAS MEER ! ich muss dann wie immer meinen Arm aus dem Fenster

strecken, wenn wir dem Meer entlang fahren, denn ich habe eine seltsame Angewohnheit.

lch lecke mir dann mit der Zunge über meinen Arm, denn die Haut ist so herrlich salzig.

Habe bis jetzt noch niemand kennen gelernt, der sowas macht. Vielleicht hilft ein Psychiater

? Woher kommt eigentlich diese Sehnsucht nach dieser grossen Pfütze ? Nein, das war jetzt

nicht nett! Einmalig die Schönheit des Thyrennischen Meeres, so heisst das Meer nämlich

dort, habe mich selbstverständlich erkundigt. Muss ja wissen, worin ich plantsche und

wessen Salzwasser ich ständig verschlucke, weil ich die eine oder andere Welle nicht hab

kommen sehen. Man kennt das ja, man steht zwei Meter vom Sandstrand weg im Wasser,

dreht sich um, weil Papa Bär ein Familienfoto schiessen will und platsch landet man unsanft

von einer eigentlich kleinen Welle getroffen mit dem offenen Mund im Sand. Super !

Natürlich grosses Gelächter und das Foto sieht entsprechend aus. Die saubere

Verwandtschaft wird sich freuen darüber wenn wir wieder zu Hause sind und die

Ferienfotos stolz rumreichen. Ja , wir machen noch altmodische Fotos, die Filme werden im

Labor entwickelt und man kann dann die Fotos in den Händen halten und zeigen. Die

jüngere Generation kennt dies wohl nicht mehr. lch bin da ein bisschen altmodisch.

Smar:tphones sind mir ein Dorn im Auge, habe mein 1. und tetztes gegen die Wand

geschmissen, es hat den Flug nicht überlebt. Gut so, geschieht ihm recht !!

Übrigens mein neu gekauftes Badekleid hat sich nach dem mini-Tsunamiwie ein Ballon

geöffnet und mit reichlich Toscanischem nassen Sand gefüllt. Es dauerte dann schon seine

Zeit bis ich alles wieder rausgepuhlt hatte. Sah auch lustig aus. Es ist was wunderbares so

am Strand zu liegen und die Sonne auf der Haut zu spüren. 2 Kilometer ausserhalb des

Städtchens haben wir einen Strandabschnitt gefunden, der zum saubersten der Gegend

gehört mit Auszeichnung und allem pipapo. Hat aber zur Folge, dass weit und breit kein

Hotel, Bar oder sonstige Zivilisation vorherrscht. Ausser Zanzate, wir nennen es Mücken.

Mann muss dann auch einen kleinen Fussmarsch durch den Pinienwald in Kauf nehmen,

was mich aber jedesmal wieder entzückt. Der Boden ist von den herabgefallenen

Piniennadeln ganz weich und es riecht so gut und die Luft ist erfrischend kühl. Ok, mann

schleppt dann halt eine Badetasche, einen Sonnenschirm und eine Kühlbox mit Vaters Bier

und Mutters Eistee mit und hofft auf kleine ltaliener die dem Strand entlanglaufen, mit

Kokosnuss-Stücken oder feinen Gelati, dass sie dann teuer den Touristen verkaufen. Die

Hoffnung stirbt zuletzt. Auch ltaliener schwitzen und es wundert mich nicht, dass sie lieber

in der nähe der Hotels bleiben. Macht ja auch Sinn! Manchmal hat man Glück. Naja und die

Suche nach einer Toilette erübrigt sich dann auch. Möchte nicht näher auf dieses Thema

eingehen. Der Fantasie sind ja bekanntlich keine Grenzen gesetzt. Dafür ist der Strand fast

menschenleer und das ist ja wohl das Beste überhaupt. Bella ltalia. lch komme wieder. Kann

nicht ohne dich, du meine zweite grosse Liebe.

Den schönen Nachmittag habe ich doch noch mit guten Gesprächen über die Runde

gebracht und bin schon etwas traurig, dass sich weder Mann noch einer der Söhne

gemeldet hat. Es ist halt ein stinknormaler Arbeitstag und dann noch L Stunde bis zu mir in

die Reha-Klinik zu fahren, geht nicht immer. lst verständlich. Damit muss ich klarkommen.

Nur, wenn man ein Leben lang kaum voneinander getrennt ist, schmerzt es sehr, seine

Liebsten nicht zu sehen und ich erwische mich gerade dabei, dass ich empfindlicher

geworden bin und dazu noch nahe am Wasser gebaut. Kenne ich eigentlich gar nicht von

l_

Page 69: Literaturwettbewerb 2015 komplett

mir. lch die starke Frau die immer für alles und jedes Problem sofort eine Lösung parat

hatte und auch sofort in die Tat umsetzte, bin jetzt klein und zerbrechlich. Hadere mit mir

und der Welt und verstehe so gar nicht was mir passiert ist. Das schlimmste an allem ist, ich

kann es nicht ändern, habe keine geniale Lösung zur Hand oder einen Plan B. Das bringt

mich sehr ins Grübeln. Es gibt so vieles worauf ich verzichten muss, wahrscheinlich ist mir

das gar nicht bewusst, was dies bedeutet. Jetzt noch nicht, denn in einer Klinik ist man gut

versorgt, alles ist rollstuhlgängig und es wird einem geholfen wenn man nicht mehr weiter

weis. Aber zu Hause sieht dann alles nochmal anders aus. Schaffe ich das ? Schaffen wir das

? Keine Ahnung. Früher war alles schöner und ich erinnere mich gerne daran zurück...

Wie lustig es doch war, mit meinem Mann, der grössten Liebe meines Lebens überhaupt,

vor Motorrad und ltalien wohlverstanden, durch die traumhafte Schweiz zu kurven, bis ins

Tessin. Es war immer eine Tour mit vielen Überraschungen. Einfach drauflosfahren, das ist

Leben pur. Halt machen wo man will, übernachten wo man will. Die Pässe rauf und runter

und dann im warmen Ticino angekommen, sogleich in das geliebte Grotto, hoch über dem

See. Wir hatten es nur durch Zufall entdeckt, als wir von der Strasse falsch abgebogen

waren. lrgendwie sah es auch nicht aus, als wäre es für die Öffentlichkeit gedacht, aber da

hatten wir uns getäuscht. Wir legten nur eine kleine Pause ein, um sagen wir mal meinen

Po zu entlasten, der durch die lange Fahrt doch leicht angeschlagen war. Warum sind

eigentlich die Soziussitze immer so unbequem ? Die Macher dieser Maschinen sollten sich

da mal was anständiges überlegen. Wenn man noch so jung ist, hat man noch kein dickes

Polster am Hintern, das kommt erst viel später ! Aber es kommt, wie das Amen in der Kirche

! lch weiss es !Ciao hönen wir jemand rufen hinter uns. Wirdrehten uns um und ein kleiner

rundlicher Tessiner winkte uns zu. Es war der Wirt von diesem Holzschuppen. Er winkte uns

hinein. Klar, wir folgtem ihm und es verschlug uns fast die Sprache. Was für ein schönes

Grotto I Von aussen so unscheinbar und innen ein Traum. Mit alten Holzbänken unter der

niedrigen Decke an denen getrocknete Maiskolben herunterhingen. Kunstvoll arangierte

Wiesenblumensträusse standen auf den alten knorrigen Tischen. Verrusste Steinmauern

über der offenen Feuerstelle. Es roch nach altem Holz und geräucherten Würsten und dann

standen wir auf dieser steinigen Pergola, die überdacht war von Reben mit dunklen

Trauben und sahen diesen unglaublichen Blickauf den See. Hallo Paradies !!Gianni hiess er,

der im Paradies wohnte und er lud uns zu einem Krug bestem, eiskaltem Frizzantino ein. Es

blieb nicht bei dem einen Krug. Einer ist keiner. Wir unterhielten uns mit Händen und

Füssen und hatten so viel zu lachen, wie lange nicht mehr. Das Grotto füllte sich langsam

mit den Dorfbewohnern, vorwiegend Männer. Und es war ein lautes, lustiges diskutieren

über Gott und die Welt. Als Mama Gianni, eine kleine braun gebrannte Frau mit vielen

Falten im Gesicht dann noch vorbei kam mit frisch gebackenem Weissbrot und Salami, war

der Abend perfekt. Wir sassen noch lange auf dieser Terrasse und langsam wurde es dunkel

und die Lichter der Häuser und Strassenlaternen spiegelten sich im See. So viele Sterne

hatte es am Himmel, unfassbar. Ein paar Häuser weiter betrieb der Onkel von Gianni eine

winzig kleine Pension und es war mehr als gut, dass wir dort übernachten konnten. Da mein

Mann doppelt so viele Sterne sah, als wirklich am Himmel standen. Am nächsten Morgen

war die Verabschiedung sehr herzlich und wir versprachen bald wieder zu kommen.

Unvergesslich war dieser Abend und wir hielten unser Versprechen bis heute. Einmal pro

Jahr besuchten wir Gianni und seine inzwischen verstorbene Mama.

Das kann ich mir jetzt nicht mehr vorstellen, diese jährlichen Besuche. Mit Auto und

Page 70: Literaturwettbewerb 2015 komplett

Rollstuhl ist das ein schwieriges Unterfangen, da es nur ein schmaler Weg zu seinem Grotto

gibt. Und auf das Motorrad zu kraxeln ist undenkbar. Schade I Arrividerci Gianni ! Was für

ein Glück, wenn man wieder in die alten Geschichten und Erlebnisse eintauchen kann.

Wenn ich die Augen schliesse bin ich dort und habe fast das Gefühl ich rieche das Holz und

die Blumen auf dem Tisch. Da erinnere ich mich an einen Satz des französischen

Schriftstellers Antoine de Rivarol, der hiess; "Die Erinnerung steht dem Herzen immer zu

Diensten." Wie wahr.

Es ist Abend geworden. Madame liegt schon im Bett und liest die Zeitung, die ihr Mann ihr

jeden Tag vorbei bringt. Manchmal liest sie laut und regt sich wahnsinnig darüber auf was

die Politiker so von sich geben. lch versteh nur Bahnhof, bis auf ein paar Namen von

wichtigen berühmten Männern die auch auf deutsch so klingen das ich in etwa weisf, wer

gemeint ist. Politiker halt. Mein lnteresse hält sich in Grenzen. Schauen wir mal, was das

kleine Fernseherchen so bietet. Hält sich leider auch in Grenzen. Mein Handy klingelt, welch

Freude. Am anderen Ende mein Mann, der sich entschuldigt und hoch und heilig verspricht

am nächsten Tag mir seine Aufwartung zu machen. Na geht doch ! Ja morgen will ich mal

mit dem Herrn Doktor sprechen. Möchte endlich nach Hause. Da mein Mann sonst noch

den Hungertod erleidet. Er kann nicht kochen. Er erzählte, dass im Kühlschrank gähnende

Leere hersche und nur noch das fahle Licht ihn erhelle wann immer er die Türe öffnete.

lmmerhin ! Meinen beiden Söhnen habe ich in weiser Voraussicht das kochen beigebracht

und sie machen das fantastisch. Mit Leichtigkeit zaubern sie ein Menu auf den Tisch, nur

nicht für den armen , bedauernswerten Vater, nein die Damen ihres Glücks kommen in den

Genuss. Hätte der arme Vater doch mal zugeguckt, als ich während Jahren für ihn gebraten,

gekocht und gebacken habe. Selber schuld. Doch, Spiegeleier kann er mittlerweile, auch

ohne Essig und ölflasche zu verwechseln. Das war ja zum brüllen als er nach ausgiebigem

Biergenuss ein Ei braten wollte und statt Ö1, Essig in die Bratpfanne goss. Es zischte und

dampfte und stankfürchterlich. Muss man malerlebt haben. Erwarso erschrocken, dasser

sogleich wieder nüchtern war und seit diesem Tag meidet er die Küche, wie der Teufel das

Weihwasser... Na dann , gut Nacht Madame.

Wenn man es richtig macht, seinen Hals verrenkt und in seltsamer Stellung im Bett liegt

kann man aus dem Fenster direkt auf eine Wiese sehen, mit Kühen. Hurra. Wollte nur mal

festhalten, was für eine grandiose Aussicht ich habe. Heute kommt also Besuch. lch freue

mich. Früher habe ich mich gerne zurecht gemacht. Die dunklen langen Haare mit dem

Lockenstab in Form gebracht, meine schönen Wimpern über den grau-blauen Augen

getuscht, den Mund mit einem dezenten Lippenstift zum Leuchten gebracht. Wie hätte ich

Lust, mich wieder mal zu schminken, aber ob das geht ? Bin Rechtshänder. Die rechte Seite

ist gelähmt. lst ja klar, wäre ja nett gewesen, wenn sich mein Schlaganfall wenigstens die

linke Seite ausgesucht hätte, Dann üben wir mal. Frisch geduscht ans Werk. Aha, die

Wimperntusche lässt sich schon mal nicht öffnen mit einer Hand. Aber wofür hat mir der

liebe Gott Zähne geschenkt. Es klappt wunderbar, allerdings mit der linken Hand, die so gar

nicht die Tätigkeit der rechten übernehmen will, ist es sehr kompliziert. lch habe so ziemlich

überallTusche nur nicht auf den Wimpern. lch gerate langsam ins schwitzen.

Wattestäbchen anfeuchten, abputzen, wieder anfangen. So, sieht nicht schlecht aus. Kein

Vergteich zu früher, aber ich übe weiter. Zweites Auge. Noch schwieriger, mir kommt die

Nase in die Quere. lch merke das ich wütend werde, habe keine Geduld. Werde ich aber

jetzt wütend, fange ich an zu weinen, weshalb weis ich auch nicht und dann verschmiert

Page 71: Literaturwettbewerb 2015 komplett

mir die Wimperntusche. Dann kann ich wieder von vorne beginnen. Also, schön cool

bleiben, hübsche Frau und Zähne zusammen beissen. Es klappt. Den Mund noch übermalen

und fertig ist die Frischzellenkur. Schön ist anderslAuf den Lockenstab kann ich verzichten,

habe vor einer Woche die Haare kurz geschnitten und sehe aus wie Mireille Matthieu. Nur

das die besser singt als ich. Schwester Milena schaut lächelnd ins Zimmer und erzählt mir

das der Arzt sich melde bei mir, heute Nachmittag. Sehr gut. Meine Malversuche könnten

vielleicht zum Erfolg führen . Man strahlt doch Selbstbewusstsein aus und ich fühle mich

auch irgendwie nicht so klein und ängstlich. So, nur noch zweiTherapien hinter mich

bringen, dann Mittagessen mit Madame. lch habe sie ein bisschen ins Herz geschlossen, sie

tuet mir wirklich Leid. ln diesem Alter, ich schätze sie auf 70, ist es schwer solche

Krankenhaus-Aufenthalte zu meistern. Die Zeit der Heilung dauert sehr lang. Arme

Madame...

Also was denken sich eigentlich diese Köche. Sie kochen wie kleine Kinder, keine Ahnung

von abschmecken. Natürlich, zuviel Salz ist schädlich, aber es schmeckt trotzdem besser

wenn man es benützt.Wie wärs mit Kräutern ? Wahrscheinlich werden die Köche von den

Arzten bestochen. lch bin mir fast sicher, die zahlen denen horrendes Bestechungsgeld und

raunen ihnen zu, kocht schlecht dann werden die Patienten nicht so schnellgesund, dass

bringt Kohle. Die handvoll Nudeln haben noch nie eine Flocke Butter gesehen. Fleisch ?

Welches Fleisch ? Ratatouille gibts dazu. Bäähh, mag ich nicht. Dabei hätte ein schönes

Stück Rinderfilet tiptop Platz auf dem Teller, wenn möglich mit frischer Kräuterbutter,

selbstgemacht ! Dann könnte ich mich eventuell dazu entschliessen das Ratatouille doch

noch zu essen, wenn auch mit Würgereiz. Das Dessert müsste nun aber alles rausreissen,

sonst gibts keine Punkte von mir. Fehlalarm ! Ein Apfel. lch gebe mich geschlagen. Muss

dringendst meinen Notvorrat aufstocken wenn das so weitergeht. Habe im Parterre, per

Zufall, weil ich den falschen Lift erwischt hatte, einen Automaten entdeckt. Gefüllt mit

allem was mein Herz begehrt. Nur dazu braucht es Kleingeld. Werde schleunigst meinem

Mann den Auftrag erteilen, mir jede Menge Geldstücke mitzubringen. Mit einer

Plastiktasche bewaffnet werde ich das Ding plündern. Belegte Brote mit Ei, Schinken oder

Spargel. Schockoriegel, Bonbons und Süssgetränke. Nehme aber die ohne Zucker. Willja

nichts riskieren. Freue mich wie blöd auf das geplante Attentat. (p.s. hat geklappt !)

Madame und ich rollen gemächlich in unsere Zelle. Mittagsschläfchen halten. Die Zeit wird

dann schneller vergehen bis mein Mann kommt. Dachte ich . Falsch gedacht. Es dauerte

und ich beschloss in den Garten zu fahren, er findet mich schon. Etwas abseits gabs einen

kleinen Teich mit grossen Tannen umsäumt. ln der Mitte steht ein Holzhäuschen in dem

eine weisse Ente lebt. Gibt es überhaupt weisse Enten ? Oder war das eine Gans ? Dafür

schien sie mir aber zu klein. Hübsch war sie und erfreute alle. Es war Ende April, die Sonne

wärmte die Haut und eine Jacke brauchte man nicht mehr.Hab selten so einen schönen

April erlebt ! Zeit das Motorrad zu entstauben, den Ölwechsel und den L. Service zu

machen. Bremsen kontrollieren und ab die Post. Offensichtlich habe ich hellseherische

Fähigkeiten, höre ich doch einen mir sehr vertrauten Ton. Mein Mann und sein Motorrad !

Mir hüpft das Herz. Endlich ! Nach ein paar Minuten stand er mit voller Montur vor mir.

Schön, seine vertraute Stimme zu hören, sein Lachen. Hat er abgenommen ? Sieht mir ganz

danach aus. Schadet nicht, es geht rnir nicht anders. Mein Kühlschrank ist auch

leer...Hahaha. lch liebe seine warmen Hände, weil meine öfter kalt sind. Man kann sich

dann so reinkuscheln. Fühle mich beschützt und zufrieden. Wir haben uns viel zu erzählen

Page 72: Literaturwettbewerb 2015 komplett

und merken gar nicht, dass mein Arzt auf der Suche nach mir ist. Den hatte ich auch völlig

vergessen. Er holt sich einen Stuhl und setzt sich zu uns. Es braucht doch ein wenig Mut,

ihn zu fragen, wies weiter geht und wann ich nach Hause kann. Er machte mir einen tollen

Vorschlag. Ganz nach Hause wäre zu früh, aber in Zukunft darf ich am Wochenende raus

aus der Klinik. Dass braucht sehr viel Vorbereitung, wegen den Medikamenten. Zudem

muss ich lernen mir die Spritze mit dem Blutverdünner selber zu setzen. Aber ich Ierne

schnell. Wie haben wir uns gefreut über diese Nachricht !

Endlich, Freitag-Nachmittag und ich darf das erste Mal seit Wochen nach Hause ! Pünktlich

um 14 Uhr steht mein Mann in meinem Zimmer um mich abzuholen. lch bin aufgeregt und

nervös. Wie wird das sein, wenn man nach so langer Zeit wieder im eigenen Bett schläft ?

Hoffentlich falle ich nicht raus, wenn ich mich drehe oder wenn ich Nachts auf die Toilette

muss? Panik überkommt mich ! Wer kauft ein und kocht etwas für mich ? Hiiilfe !! Glaube

jedoch kaum das ich verhungern werde, zumindest nicht übers Wochenende. Auf ins

Abenteuerland ! Wir fahren über die Autobahn, die Sonne scheint und ich staune über alles

und jedes. Es ist Frühling und alles blüht und duftet nach Leben. lmmer näher kommen wir

unserem Zuhause . Wir fahren durch die Stadt, meine Stadt ! Ein Getümmel von Autos,

Velos und Fussgängern. Nur Rollstuhlfahrer sehe ich keine. Dann sind wir da. Das grosse

Einkaufszentrum, die Kirche und die vielen Dönerbuden. Sie alle vermitteln mir heimatliche

Gefühle. Zum Glück haben wir einen Lift im kleinen Mehrfamilienhaus, so komme ich

problemlos in den 3. Stock. Türe auf, geschafft I Uii, wie wärs wieder mal mit putzen ?

Neugierig rolle ich in die Wohnung. Merke gerade das alles etwas eng ist, um mit meinem

Ferrari rumzukurven. Aber es geht. lch sehe schon, es wurde ein Männer-Haushalt... Nichts

im Kühlschrank, die Wäsche ist zerknüllt auf dem Sofa, wenigstens ist sie gewaschen, was ja

auch schon ein kleines Wunder ist. Keine Blumen auf dem Tisch, dafür alte Zeitungen und

Rechnungen. Ein Durcheinander. Bin kurz vor einem Tränenausbruch und muss mich

mächtig zusammenreissen. lch wünschte mir in diesem Augenblick, ich könnte wieder

laufen, möchte putzen und aufräumen, einkaufen und kochen....Aber es funktioniert nicht.

lch bin ein kleiner Kontroll-Freak und so wie die Situation gerade ist , gefällt sie mir gar nicht

! ln diesem Moment habe ich mir geschworen, wieder laufen zu lernen ! Es musste einfach

wieder klappen. Üben, üben, üben ! Es liegt nur an mir, dies zu erlernen und ich werde alles

tun, um diese Funktionen wieder zu erlangen und ich habe mir fest geschworen, dass ich,

wenn ich das Krankenhaus in ein paar Wochen verlassen werde, dies zu Fuss und aufrecht

gehend tun werde ! lch bin sehr ehrgeizig, wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe, so

wahr mir Gott helfe ! Mein Mann nennt das stur.

Das erste gemeinsame Wochenende war nicht so schön, wie ich mir das erträumt hatte,

aber es war jetzt auch keine Katastrophe. Wir bestellten Pizza und mein Mann ging am

Samstag einkaufen. Einen langen Einkaufszettel hatte ich ihm mitgegeben, Alles war leer in

den Schränken, ausser 1 Kilo Reis, den mein Mann ja nicht sonderlich mag, lag ziemlich

einsam auf einem Tablar. Wir hatten beschlossen, dass mit meiner Anleitung und dem

Geschick meines Mannes, es doch möglich sein könnte ein einigermassen solides Menu auf

den Tisch zu bringen. Und das klappte dann auch. Er musste lernen, Befehle von mir

anzunehmen und ich musste lernen geduldig zu sein, wenn nicht alles so zackig ging, wie ich

es halt gewohnt bin oder war. Geduld ist nicht gerade meine Stärke ! lch fiel auch nicht aus

dem Bett und fuhr mit meinem Ferrari fast gar nie in eine Wand. Hurra ! Am Sonntag

fuhren wir zurück ins Krankenhaus. Einerseits war ich traurig wieder zurück zu müssen,

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Page 73: Literaturwettbewerb 2015 komplett

andererseits war die geschützte Umgebung mit all den helfenden Händen eine

Erleichterung und ich konnte mich wieder ganz und gar auf mich konzentrieren. Dort

angekommen musste ich mein Erlebtes zu Hause den Arzten und Schwestern im Detail

erzählen und auch von meinem neuen Ziel, aufrecht gehend die Klinik zu verlassen. Es blieb

mir nicht verborgen, dass Arzte wie Schwestern die Stirne runzelten, als sie von meinem

Vorhaben hörten. Aber das war mir in diesem Moment echt egal. lch hatte ein Ziel, basta !

Müde von all dem Erlebten schlief ich sofort ein, träumte komisches Zeug und fühlte mich

am nächsten Morgen so gar nicht ausgeschlafen. Bis dann Sophie, meine Physiotherapeutin

ins Zimmer trat und mir erzählte, dass sie mein Ziel das ich mir gesetzt hatte, supermega

gut fand. Und wir sollten keine Zeit verlieren und beginnen zu trainieren. So einfach wies

klang, so schwierig war es dann. Meine Güte, ich war nach den Trainingseinheiten so kaputt

und gerädert, dass ich das Gefühl nicht los wurde, dies nicht zu überleben. Habe selten in

meinem Leben so geschwitzt. Mir schmerzten Körperteile, von denen ich nicht mal wusste

das sie existierten !! Aber gut so, denn ich wurde immer beweglicher und eines Tages

konnte ich mit Hilfe zweier Schwestern das erste Mal aus dem Rollstuhl aufstehen. Was für

ein Erlebnis. Fiel allerdings nach 5 Sekunden rückwärts in meinen Stuhl zurück. Wie sagte

der Mann auf dem Mond...Ein grosser Schritt für die Menschheit... ein grosser Schritt für

mich ! Als mein Mann und die Söhne von meinem Erfolg erfuhren, waren die ganz aus dem

Häuschen und lobten mich bis in den Himmel. Jaja meine Lieben, wenn ihr wüsstet das euer

Männerhaushalt bald das zeitliche segnet, dann währt ihr nicht ganz so euphorisch. lch

nehme das Zepter wieder in die Hand und wehe die Schränke sind dann wieder gähnend

leer wenn ich nach Hause komme !! So vergingen weitere Wochen und die Zeit zu Hause

wurde immer schöner. Besuch meldete sich dann jeweils an und viele Stunden mit guten,

lieben Freunden wurde zum festen Bestandteil an den Wochenenden. 5 Tage in der Klinik, 2

Tage zu Hause. Mein Mann lernte kochen und waschen und ich guckte zu, auch nicht

schlecht.

Schon bald habe ich Geburtstag, ich bin ein Mai-Kind und freue mich sehr darauf. Denn ich

habe bereits ein wunderbares Geburtstags-Geschenk erhalten von meiner älteren

Schwester. Wir hatten uns ja jahrelang aus den Augen verloren, durch die Scheidung

unserer Eltern und plötzlich wieder gefunden. Gottseidank I Es ist herrlich Geschwister zu

haben, wenn auch manchmal unsere Meinungen auseinander gehen. Aber wenn man in

Not ist kann man sich auf sie verlassen und sie sind immer da wenn man sie braucht. So

auch bei uns. lhr Geschenk an mich, L Woche Tessin sobald ich hier raus bin. Was für eine

tolle Überraschung. Ich muss dazu sagen, dass sie ein Ferienhaus besitzt am herrlichen Lago

Maggiore. lch freue mich wie ein kleines Kind und kann es kaum erwarten Richtung Süden

zu fahren. Aber zuvor habe ich noch einiges zu lernen. Kann mittlerweile mit dem Rollator

meine Runden drehen. Wenn auch nicht lange, da ich schnell ermüde, aber es geht

vorwärts. Und ich komme meinem Ziel immer näher. Wenn ich abends in meinem Bett

liege, denke ich an die lustige Zeit bei Gianni im Grotto. Kann ich ihn dort besuchen wenn

wir ins Ticino fahren? Das wäre ja gigantisch und ich habe plötzlich das Gefühl das mich kein

Hindernis mehr aufhalten kann, alles wieder zu tun und zu lasssen wie früher. Jeder Tag

wird besser und erfolgreicher und das Beste am ganzen ist, das ich kurz vor meinem

Geburtstag die Klinik für immer verlassen darf. Das fühlt sich grossartig an. Meine

anfängliche Panik ist gewichen und mein Selbstbewusstsein gestärkt. Zu verdanken habe ich

dies den Arzten und Schwestern und vorallem meiner grossartigen Familie, die alles für

L,)

Page 74: Literaturwettbewerb 2015 komplett

mich getan hat. Auch sie hatten eine schwereZeit, ich weis das.

Der wichtigste Tag meines Lebens ist da. Die Entlassung ! lch würde Luftsprünge machen,

sofern ich könnte ! So freue ich mich. Vollbepackt mit Medikamenten, Warnungen nicht zu

übertreiben, egal was es ist, Mahnungen die Übungen regelmässig zu absolvieren,

vernünftig zu essen und den vielen Glückwünschen von allen Seiten bin ich parat zu gehen.

Ja GEHEN. Mit meinem Ferrari und meiner Familie fahre ich zum letzten Mal zur

Ausgangstür, stehe langsam und mit zittrigen Knien auf und gehe mit Stolz und aufrecht aus

der Klinik. Tschüss Ferrari, ich brauche dich nicht mehr. Du warst mein treuer Freund über

all dieWochen, aber jetzt muss ich alleine und ohne dich zurecht kommen. Zielerreicht !l

Zwei Wochen später fahren wir Richtung Süden und ich kann es kaum erwarten an der

Promenade von Ascona zu sitzen, die Sonne zu geniessen und einen Espresso zu trinken

und dem lieben Gott oder meinem Schutzengel ganz leise zu danken, dass alles so gut

ausgegangen ist. Ein guter Freund sagte mal zum Spass, ich würde wie ein angeschossenes

Reh laufen...(was ich übrigens noch immer tue !) und ich sagte, lieber so, als nochmals eine

Begegnung mit einem Rollstuhl I

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Ein Traum der alles verändert…

Übermorgen habe ich Geburtstag. Somit haben wir Samstag. Ich komme nach Hause, schliesse die

Haustür ab und gehe duschen.

Nach dem Duschen gehe ich mich umziehen. In meinem Zimmer lasse ich die Rollladen herunter.

Etwas essen gehe ich auch noch. Ich mache mich gerade bettfertig, da höre ich ein ganz leises und

sanftes Rascheln. Dieses Rascheln gehört zu einem jungen Mann, der einfach so auf meinem Sofa

sitzt! Zum Glück bin ich schon angezogen. An ihn gewandt frage ich: „Wer bist du und Wie bist du

hier rein gekommen??!“ „Ich bin dein Schutzengel und ich habe dich schon die ganze Zeit begleitet.“,

antwortet er ganz gelassen. „Und wie willst du mir beweisen, dass du wirklich mein Schutzengel bist?

Denn ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr euch zeigen dürft.“, erwidere ich. Er seufzt vernehmlich

und erklärt: „Doch wir dürfen uns sehr wohl zeigen. Allerdings bloss wenn wir uns sicher sind, dass

unser Schützling an uns glaubt.“ Aber da ich nicht kleinbeigeben will frage ich: „ Wo sind denn dann

deine Flügel?“ Ganz offensichtlich überlegt er sich seine Antwort genau, denn er ist für einen Moment

ganz still. Anstatt eine Antwort zu geben steht er auf.

Und schon erscheinen riesige Flügel. Sie sind hellbraun und werden nach unten immer heller bis sie

weiss sind. Langsam gehe ich auf ihn zu und berühre seine Flügel. Sie sind sehr weich und flauschig!

Ein leichtes Lächeln stiehlt sich auf sein Gesicht, das man nur als Engelsgleich bezeichnen kann. Er ist

allgemein sehr hübsch mit seinen hellbraunen Haaren, den blauen Augen und dem muskulösen

Körperbau. Plötzlich verspüre ich das brennende Verlangen mich in seine Arme zu kuscheln und tue

genau das. Im ersten Moment scheint er überrascht. Er fängt sich allerdings schnell wieder und

schliesst die Arme um mich. „Warum zeigst du dich mir?“, flüstere ich. „Damit ich dir genau das

geben kann was andere dir nicht geben können.“ Bei diesen Worten streicht er mit seinen Lippen ganz

leicht über meine Stirn. Ich schliesse meine Augen und kuschele mich noch näher an seine Brust.

Ich muss in seinen Armen eingeschlafen sein, denn jetzt da ich aufwache weiss ich nicht wie ich ins

Bett gekommen bin. Als ich den Kopf hebe und zum Sofa schaue, sehe ich eine wuschelige hellbraune

Haarpracht. Leise hebe ich die Hand und lege meine auf die seinige. Ich streiche mit dem Daumen

sachte über seinen Handrücken, dabei entweicht seinen Lippen ein wohliges Seufzen. Ich fange doch

tatsächlich wegen diesem kleinen Laut an zu Lächeln!

Dann dreht er sich auf den Rücken und öffnet die Augen. Als er mich sieht fängt auch er an zu

Lächeln und fragt: „Schläfst du eigentlich in den Armen von jedem ein, oder habe nur ich diese

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besondere Ehre?“ „Ich glaube das weisst du selbst.“, erwidere ich „aber da du offenbar dasselbe

Gedächtnis hast wie ich, helfe ich dir auf die Sprünge. Nein, ich schlafe nie in irgendwelchen Armen

ein.“ „ Dann fühle ich mich geehrt.“, sagt er mit einem noch breiteren Lächeln auf den Lippen. Er

steht auf und sagt: „ Rutsch ein Stück, auf deinem Bett hat es Platz für zwei.“ „ Wie sie wünschen

werter Engel!“, sage ich lachend und rutsche ein Stück. Er legt sich mit dem Rücken nach unten auf

das Bett und ich kuschele mich mal wieder an seine Brust. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich ihn

schon sehr lange kenne. Könnte es vielleicht sein dass ich mich in ihn verliebt habe?

Er schlingt seine starken Arme um mich und zieht mich so noch näher an sein Herz. „Könnte es sein,

dass du das geniesst?“ „Wenn geniessen heisst, dass, wenn ich schnurren könnte es schon wie ein

Motor klingen würde, dann JA.“ Er fängt an zu Lachen und ich stimme mit ein. Sein Lachen tönt so

unbeschreiblich schön und ist extrem ansteckend. Okay es steht fest: ICH BIN VERLIEBT!

Wir beschliessen noch spazieren zu gehen. Schnell ziehe ich meine Hotpants und ein Trägershirt an.

Er hat ¾ Hosen und ein graues T-Shirt angezogen. Unser Weg führt uns an die Aare. Da legen wir uns

in den Sand und schauen in den hellblauen Himmel. Der Himmel hat dieselbe Farbe wie seine Augen.

Dieser Gedanke verwirrt mich. Darf man sich in seinen Schutzengel verlieben? Ich bin so sehr in

meine Gedanken vertieft dass ich seine Worte nicht gehört habe. „Was?“, frage ich. Sehr einfallsreich

Natascha, denke ich.

„Ich habe dich gefragt an was dich die Färbung des Himmels erinnert.“, wiederholt er seine Frage. Na

Toll, genau diese Frage will ich nicht beantworten. Naja, die Wahrheit hat noch nie jemanden das

Leben gekostet. „ Sie erinnert mich an deine Augenfarbe.“, gestehe ich etwas kleinlaut. „Und dich?“,

frage ich, um von meiner Antwort abzulenken.

„An einen deiner Vorhänge. An meine Augen? Wirklich?“, antwortet er mir.

Darauf folgt langes Schweigen. Ich mache mir Sorgen, dass er meine Antwort falsch auffassen könnte

und meine: „Das war nicht böse gemeint oder so, es war nur eine Feststellung.“ Er schweigt weiterhin

und ich mache mir weiter Sorgen, dass ich gerade alles zerstört haben könnte. Doch plötzlich fühle ich

seine Hand unter meinem Kinn die es ganz sanft anhebt. „Keine Sorge.“, haucht er fast lautlos bevor

seine Lippen auf meinen liegen und sanft hin und her streichen. Mein Körper reagiert von allein,

meine Hände legen sich ganz sanft um seinen Nacken und ich erwidere den Kuss zügellos.

Dann ist es vorbei und ich schaue ihm in die Augen. „Das war dein erster Kuss und er war

atemberaubend!“, Haucht er sanft. Ich glaube, dass ich inzwischen grinse wie ein Honigkuchenpferd.

Nur mit einem zarten Rotton im Gesicht. Nun grinst auch er. „Das macht das Antworten auch nicht

leichter!“, werfe ich ihm vor. „Was macht das Antworten nicht leichter?“, Fragt er lachend. Ja, er. Ich

weiss seinen Namen immer noch nicht. „ Das du die gesamte Zeit grinst! Du namenloser Engel des

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Schutzes.“, antworte ich ihm und bemühe mich um einen strengen Tonfall was ihn aber nur noch mehr

zum Lachen bringt. Als er sich endlich wieder beruhigt hat erwidert er: „Okay, erstens Lachen ist

gesund, und zweitens dein NAMENLOSER ENGEL DES SCHUTZES hat sehr wohl einen Namen.“

„Und der wäre………?“, frage ich. „Ich heisse Markus und bin hoch erfreut, denn gestern hatte ich

die Ehre, dass du in meinen Armen eingeschlafen bist und heute hatte ich die Ehre von dir geküsst zu

werden. Und wenn ich schon am reden bin muss ich dir gestehen, dass: ICH DICH ÜBER ALLES

LIEBE!“

Jetzt hat er es doch tatsächlich geschafft mich sprachlos zu machen. Dabei müsste ich doch genau

jetzt diese drei kleinen Worte aussprechen die mir schon die gesamte Zeit im Kopf herumschwirren!

Okay, Natascha reiss dich zusammen du schaffst das! „Ich liebe dich auch!“, bringe ich mit brüchiger

Stimme zustande. Er fängt an zu Lächeln und ich bringe ihn mit einem leidenschaftlichen Kuss zum

Schweigen noch bevor er etwas sagt. Er erwidert den Kuss sofort genauso leidenschaftlich wie ich ihn

begonnen habe, wenn nicht extremer. „ Es wird langsam dunkel, wir sollten nach Hause gehen.“,

unterbreche ich den Kuss.

Auf dem Heimweg sprechen wir über lustige Situationen in meinem Leben. Da er mein Schutzengel

ist hat er alles mitbekommen, sogar die peinlichsten Situationen. Plötzlich fragt er: „Willst du mich

Heute schon als deinen Freund vorstellen oder erst nach ein paar offiziellen “Treffen“?“ „Ich glaube es

wäre besser wenn wir uns noch ein paar Mal treffen würden, bevor unsere Beziehung öffentlich wird.

Wer hätte gedacht, dass ich mich in meinen Schutzengel verliebe?“, beantworte ich seine Frage. „Ich

habe es mir erhofft.“, flüstert er mir zärtlich ins Ohr.

Wir verabschieden uns mit einem zärtlichen Kuss und er sagt: „Bis Morgen mein Schützling!“ mit

einem weiteren Kuss auf meine Stirn wird er unsichtbar, allerdings spüre ich wie sich einer seiner

Flügel beschützend um mich legt.

Das erste an was ich heute Morgen denke ist nicht das ich Geburtstag habe. Nein, ich denke als erstes

daran wo Markus ist.

„Hallo Geburtstagskind“, ertönen Markus` zärtliche Worte aus dem Decken Knäuel hinter mir. Ach,

ja, ich habe heute Geburtstag!! „was machst du in meinem Bett?“, frage ich mehr als müde, niemand

weckt mich ungestraft auf. Das musste sogar der Wecker am 13.Mai feststellen. „Ich habe gehofft,

dass ich der erste bin der dir zum Geburtstag gratuliert. HAPPY BIRTHDAY SCHATZ!!!“

Darauf hin fühle ich nur noch Markus` weiche Lippen auf meinen. „Ich habe den besten Schutzengel

und Freund der Welt!“, murmle ich in den Kuss hinein und er fängt an zu lächeln. Wann lächelt er

eigentlich nicht??

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Ich schlage die Augen auf und mir wird schlagartig bewusst, dass es ein Traum gewesen sein muss,

denn ausser mir ist niemand hier in meinem Zimmer. „Schade es war ein wirklich schöner Traum…“,

spreche ich meine Gedanken laut aus. Ich schaue auf die Uhr die auf meinem Tisch steht und springe

aus dem Bett. Es ist schon 11:17 Uhr und um 13:15 sollten wir schon in Thun sein um meine

Geburtstagsparty vorzubereiten. Und da wir jetzt schon zu spät dran sind um überhaupt noch die

Chance zu haben pünktlich zu kommen fahren wir jetzt gleich ab. Wieso mich meine Eltern nicht

geweckt haben? Sie haben selbst noch geschlafen. So, wir sind da. Mit sage und schreibe nur einer

halben Stunde Verspätung. Die Vorbereitungen laufen soweit gut und wir werden glücklicherweise

auch rechtzeitig fertig bevor die ersten Gäste kommen. Insgesamt kommen um die 30 Personen, für

meinen Geschmack viel zu viele. Und dazu kommt noch, dass ich manche gar nicht kennen werde was

es für mich nicht unbedingt besser macht. Schliesslich sollte ich meinen Geburtstag geniessen können

und nicht den ganzen Tag gestresst herum rennen!

„Komm Natascha, da vorne sind schon die ersten Gäste!“, ich bin so sehr in Gedanken versunken

gewesen, dass ich das gar nicht bemerkt hatte und meine Mutter mich darauf aufmerksam machen

musste. Die ersten Gäste, so stellt es sich heraus sind Personen die ich nicht kenne, aber meine Mutter

anscheinend schon, denn die Begrüssung viel sehr herzlich aus. So geht es eine Zeit lang weiter, es

kommen immer mehr Personen und mir wird das Ganze zu stressig, ich beschliesse ein wenig an die

frische Luft zu gehen, da ich sowieso nicht alle Leute begrüssen kann. 0plötzlich werde ich aus

meinen Gedanken gerissen als eine Stimme sagt: „Ich glaube wir sind doch ein wenig zu spät dran.“

Ich öffne meine bis dahin geschlossenen Augen und glaube, dass ich träume, denn vor mir steht der

Junge aus meinem Traum. Da ich offensichtlich gerade ein wenig verwirrt dreinschaue ergreift er das

Wort: „Hallo, ich glaube ich bin an deine Geburtstags Party eingeladen worden.“, wie freundlich er

doch ist, aber ich glaube nicht, dass meine Eltern ihn eingeladen haben, „Tut mir leid, aber ich wüsste

nicht wer dich eingeladen hat, denn ich bezweifle stark, dass du von meinen Eltern eingeladen

wurdest.“, antworte ich ihm. „Da hast du durchaus recht, ich bin nicht von deinen Eltern eingeladen

worden“, ich falle ihm ins Wort indem ich ihn frage: „Wer hat dich denn dann eingeladen?“

„Ungeduldig wie eh und je“, lacht er, „ich bin von dir eingeladen worden.“ „Von mir?“, frage ich ihn

ungläubig, „Und woher willst du wissen, dass ich ungeduldig bin?“ „Ganz einfach ich kenne dich und

du kannst mir nicht sagen, dass du dich nicht erinnerst!“, er lacht schon wieder!

Naja, ich kann ja wirklich nicht sagen, dass ich mich nicht erinnere, schliesslich habe ich den Traum

so schön gefunden. „Ich heisse übrigens Markus und wenn du dich jetzt fragst ob ich das in deinem

Traum war, dann kann ich dir sagen: ja ich war es, allerdings bin ich nicht wirklich ein Engel.“

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Eine aussergewöhnliche Begegnung

Rettung für Schneebi

Anna ist schon ganze 9 Jahre alt. Sie freute sich schon lange auf den ersten Advent, und

heute ist es so weit! Aber Anna schaute nur traurig aus dem Fenster. Denn immer noch

war kein Schnee gefallen. Im Dorf holten schon alle Kinder ihre Schlitten aus den Kellern

und warteten auch auf den Schnee. Eigentlich war heute der Weihnachtsmarkt. Bisher

hattte sie sich immer auf diesen Tag gefreut, aber heute hatte sie auch daran keinen

Spass. Mit ihrer Mutter suchte sie gelangweilt ein Geschenk für Papa und für ihre kleine

Schwester Leonie. Leonie ist erst 3 Jahre alt, und blieb lieber mit Papa zu Hause als

mitzugehen. Am Abend ging Anna und ihre Mutter, beladen mit vielen Geschenken,

wieder nach Hause. Am Nächsten Morgen stand Anna schnell auf und lief zum Fenster.

Sie hoffte, dass es heute geschneit hat. Doch draussen war es grau und nebelig. Weit

und breit war kein Schnee zu sehen. So ging es Tag für Tag weiter. Ein Tag vor

Weihnachten fuhr die ganze Familie Schröder, mit dem Auto zur Eisbahn. Zum ersten

Mal seit langer Zeit war wieder ein kleines Lächeln auf Annas Gesicht zu sehen.

Plötzlich, als sie lachend ein paar Runden auf der Schlittschuhbahn drehte, flüsterte ihr

leise jemand ins Ohr: „Hallo, hallo Anna.“ Anna fuhr erschrocken herum und fiel fast auf

das harte, kalte Eis als sie sah wer mit ihr gesprochen hat. Es war eine kleine Wolke die

etwa so gross war, wie eine Katze. Zuerst dachte Anna sie hätte sich das nur eingebildet.

„Ich bin die Schneewolke Schneebi“, sagte die kleine Wolke freundlich. „Ich kann es nicht

mehr schneien lassen, weil Gelka die böse Gewitterwolke mein Schneekristall gestohlen

hat. Ohne den kann ich es den ganzen Winter nicht schneien lassen. „Kannst du mir

helfen?“, fragte Schneebi sie bittend. „Ja aber wie denn? Und kann dich denn sonst

keiner sehen?“ „Nein sehen kannst nur du mich und ich denke ich weiss wie du mir

helfen könntest, aber zuerst müssen wir zu mir nach Hause nach Wolkadia.“ „Halt dich

an mir fest und auf nach Wolkadia.“ Kurz darauf, als Anna die Wolke angefasst hatte,

wurde ihr weiss vor den Augen. Als sie wieder etwas sehen konnte, traute sie ihren

eigenen Augen nicht mehr. Überall flitzten kleine Wolken umher. Und da sah sie auch

Schneebi, der viel weisser war als all die anderen Wolken. „Das ist also Wolkadia?“

fragte Anna. „Ja das ist Wolkadia, hier leben eigentlich nur Wolken. Im Moment befinden

wir uns in der Wolkenwerkstadt. Hier besprechen wir wer das Wetter macht, also ob es

regnen, donnern, schneien, stürmen oder blitzten soll. Alle Wolken haben ihre Aufgabe.

Eine macht Regen eine andere macht Donner noch eine andere macht Stürme und noch

viele andere Sachen. Früher wohnte auch Gelka hier. Aber plötzlich war sie aus

irgendeinem Grund sauer und hat allen den Kristall gestohlen. Ohne die Kristalle können

wir das Wetter nicht mehr steuern. Und das wäre dann das erste Weihnachten ohne

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Schnee.“ Anna, die die ganze Zeit gespannt zugehört hat, denkt hastig nach. „Ich habe

eine Idee“, rief Anna nach einigem Überlegen: „Also zuerst müssen wir herausfinden, wo

Gelka wohnt und sie dann fragen wieso sie so wütend ist.“ „Au ja, das ist eine tolle Idee“,

ruft Schneebi begeistert, „aber wir müssen uns beeilen, denn morgen ist schon

Weihnachten.“ O nein“, schreit Anna plötzlich: „Was ist mit meinen Eltern, die wissen

doch gar nicht wo ich bin?“ „Keine Sorge“, antwortet Schneebi ruhig, „solange du hier

bist, können sie nicht an dich denken aber wenn du wieder zurück bist, ist alles wieder

normal. Aber jetzt müssen wir uns wirklich beeilen, los komm!“ „Aber ich kann doch gar

nicht fliegen“, sagt Anna kleinlaut, als Schneebi aus der Tür fliegen wollte. „Ach stimmt

das habe ich ganz vergessen“. Schneebi ruft laut: „Wolle, Knolle.“ Kurz darauf kommen

zwei Wolken herbei, die an ihrer Innenfläche einen Sitz befestigt haben. Schwungvoll

setzt Anna sich darauf und schreit: „Jetzt kann es losgehen“, Schneebi drückt schnell

noch ein Knopf am Sitz und plötzlich hat Anna ein gläsernes Dach über dem Kopf. „Jetzt

kann es wirklich losgehen“, sagte Schneebi fröhlich und alle zusammen fliegen aus der

Türe. Draussen war es noch viel schöner als in der Wolkenwerkstatt. Überall schwebten

Wolken hin und her, und schwatzten fröhlich. Als sie eine Weile durch Wolkadia geflogen

waren, machten sie an einem kleinen Haus, das ebenfalls wolkenförmig wie die

Werkstatt ist, halt. Das Dach verschwand und Anna konnte austeigen. Endlich hatte sie

wieder festen Boden unter den Füssen. Schneebi sagte zu Wolle und Knolle, dass sie

hier warten sollen bis sie zurückkommen. Dann drückte Schneebi auf eine Klingel neben

der Tür. „Hallo, hallo Schneebi.“ „Was kann ich für euch tun“, fragte die Wolke, die ihnen

gegenüber stand freundlich. „Hallo Rela, das ist Anna“, und zeigt mit seinen kurzen

Armen auf sie. Zu Anna sagte Schneebi: „ Das ist Rela die Regenwolke. Sie kann es

auch nicht mehr regnen lassen, weil Gelka auch ihren Regentropfenkristall geklaut hat.“

Dann wendet Schneebi sich wieder an Rela: „Weisst du wo Gelka die Gewitterwolke jetzt

wohnt?“ „Nein, nein das weiss ich leider nicht, aber fragt doch mal Stella die Sturmwolke.

Ich wünsche euch viel Glück auf der Suche nach Gelka. Wir wollen doch schliesslich alle

wieder unsere Kristalle zurück. Tschüssi, bis ein anderes Mal“, mit den Worten

verabschiedete sich Rela von ihnen .Doch Schneebi sagte unbeirrt: „Auf zu Stella der

Sturmwolke. Die Reise ging genau gleich wie beim ersten Mal weiter, ausser dass es

diesmal ein bisschen schneller ging. Stella die Sturmwolke hatte punktgenau das gleiche

Haus wie Rela. Als sie klingelten machte eine freundlich aussehende Wolke die Tür auf.

„Hallo, hallo Schneebi“ begrüsste sie eine Wolke „hallo Stella das hier ist Anna und wir

wollen rausfinden wo Gelka wohnt, weisst du das vielleicht?“ fragte Schneebi „Nein, nein

das weiss ich nicht, aber vielleicht kann euch Luri die Laborwolke weiter helfen?“ sagte

Stella. „ich drücke euch die Daumen.“ Aber auch Luri die Laborwolke wusste es nicht und

alle anderen Wolken die sie fragten wussten es nicht. Anna und Schneebi wollten die

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Suche fast schon aufgeben, als sie vor der letzten Tür von ganz Wolkadia standen. Die

Tür öffnete eine etwas grössere Wolke als die anderen und sagte mit einer alten zittrigen

Stimme: „Hallo, hallo Schneebi“ Was sucht ihr denn bei mir bei der Hexenwolke Helga?“

Anna hatte ein wenig Angst vor Helga aber Schneebi hatte ihr erklärt, dass das die

älteste Wolke von ganz Wolkadia war und sie manchmal ein wenig ruppig sein kann.

Anna nahm ihren ganzen Mut zusammen und fragte: „Ich Anna und Schneebi suchen

Gelka, weisst du vielleicht wo sie ist?“ Darauf antwortete Helga die Hexenwolke:

„Natürlich weiss ich wo sie ist, ich kenne sie ja schon lange.“ „Oh bitte sag es uns“,

bettelten Anna und Schneebi. Also gut, ich sag es euch, aber dafür geht ihr nachher

wieder. Ich mag keinen Besuch.“ Also, zuerst müsst ihr tausend Wolkenlängen nach

Westen, dann sieben Wolkenlängen nach Norden, und dann noch zwei nach Osten

fliegen. Von dort aus seht ihr dann das Haus von Gelka.“ Bevor sie noch etwas sagen

oder sich bedanken konnten, schloss Helga die Tür. Jetzt wussten sie endlich wo Gelka

ist! Aber wie um Himmelswillen sollten sie tausend Wolkenlängen abmessen. Anna

notierte sich alles, was die Hexenwolke gesagt hatte, auf einen Block, den sie

sicherheitshalber immer dabei hatte. In der Zwischenzeit, war es schon ziemlich späte

Nacht geworden. Plötzlich hörten sie Luri die Laborwolke laut vor sich hin schimpfen: „Ich

habe so lange an dem Wolkenlängenzähler gearbeitet und jetzt will es der blöde Doni die

Donnerwolke nicht kaufen!“ Da ging Anna und Schneebi ein Licht auf.“ Bevor Luri auch

nur einen einzigen Schritt gemacht hatte, waren sie bei ihm. Kurz darauf winkte er den

beiden glücklich hinterher, denn jetzt konnte er seine Erfindung doch noch verkaufen. Als

Anna und Schneebi laut Luri`s Erfindung schon 500 Wolkenlängen hinter sich hatten,

sagte Schneebi erschrocken: „Wir müssen uns beeilen. Morgen ist Weihnachten und da

muss ich es schneien lassen.“ Bei 800 Wolkenlängen war Anna gemütlich in ihrem Sitz

eingeschlafen. Draussen war es ziemlich kalt. Doch für Anna allerdings nicht, schliesslich

war der Sitz wie ein kleines Haus mit Glaswänden. Schneebi, Wolle und Knolle hatten

zwar nicht kalt, waren aber sehr müde. Doch weit und breit war kein Unterschlupf für die

Nacht zu sehen. Also blieb ihnen nichts anderes übrig als weiterzufliegen. Am nächsten

Morgen zeigte die Anzeige endlich tausend Wolkenlängen an. „Endlich juhuuu!“ Durch

das Geschrei von Schneebi war auch Anna aufgewacht. Nachdem sie auch die restlichen

Wolkenlängen in die anderen Richtungen gemacht hatten, sahen sie ein kleines Haus -

kleiner als die Häuser in Wolkadia. Anna stellte sich eine riesige Wolke unter Gelka vor.

Aber als sie vor der Tür standen, hörten sie von drinnen ein lautes schluchzen: „O nein, o

nein heute ist der schlimmste Tag von allen, nie hat mir jemand etwas zu Weihnachten

geschenkt und niemand hat mich letztes Jahr zu der Weihnachtsfeier eingeladen. O jeh

O jeh. „Wieso?“ fragte Anna empört. „Wieso hat sie in den letzten Jahren nie Geschenke

bekommen und wieso hat sie niemand eingeladen?“ Schneebi stotterte als Antwort:

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Wweist ddu e es war so, dadas ssie iimmer aan Weihnachten Gewitter gemacht hahat.

Ssie ist eben noch jung u..und we..weiss noch nicht wi..wie man das steuert u..und es

hat ihr niemand etwas geschenkt, weil sie vor zwei Jahren den ganzen Weihnachtsbaum

in Brand gesetzt hatte. Darum haben wir sie letztes Jahr nicht mehr eingeladen.“ „Ich

weiss was wir tun können.“ Ohne Schneebi einzuweihen, was sie vor hat, geht Anna zur

Tür und klingelt. Kurz darauf öffnete eine noch kleinere Wolke als Schneebi die Tür. Sie

sagte stotternd: „Hallo, wer…wer…wer bist du denn?“ Anna antwortete: „Hallo Gelka,

Schneebi hat mich um Hilfe gebeten, damit er es dieses Jahr schneien lassen kann. Du

musst uns den Schneekristall zurückgeben.“ Gelka sah sie frech an und sagte „Nein.“

„Aber“ erwiderte Anna „wir möchten dich zu unserer Weihnachtsfeier einladen. Deshalb

sind wir auch noch hier. Wir haben viele Geschenke für dich.“ Schneebi merkte auf was

Anna hinauswollte. Also sagte er ebenso freundlich: „Ja, wir haben ganz viele tolle

Geschenke für dich, und du bekommst ein schönes Haus in unserem Dorf. Dann musst

du hier draussen nicht mehr so alleine leben.“ Kleinlaut fügte er noch hinzu: „Aber du

musst uns die Kristalle zurückgeben.“ Gelka überlegte eine Weile und meinte

schlussendlich: „Naja es gäbe da vielleicht schon eine Möglichkeit für euch eure Kristalle

wiederzubekommen.“ „Wirklich, was denn für eine?“, fragt Anna begeistert. „Also es ist

so, dass ich meine Gewitterkraft nicht so richtig im Griff habe“, antwortete Gelka. „Wenn

ihr mir helft es besser zu machen, dann könnt ihr eure Kristalle wiederhaben. Ach und

noch was“, meinte Gelka schmunzelnd, „dass mit den Geschenken und der Einladung für

die Weihnachtsfeier gilt trotzdem noch.“ Schneebi und Anna stimmten glücklich zu, und

weil ihnen die Zeit davon lief, fingen sie gleich an mit dem Üben des Beherrschens von

Gelka`s Kräften an. Zugegeben, Gewitter ist ja wohl das Schlechteste, was den

Menschen jetzt auf der Erde passieren konnte, aber danach kann es Schneebi zum

Glück wieder schneien lassen. Als sie anfingen zu üben, sah Anna was Schneebi damit

meinte, dass Gelka ihre Gewitterkraft noch nicht ganz im Griff hatte. Denn ständig

brannte irgendwas im Haus an. Aber mit der Zeit konnte es Gelka immer besser und

besser und besser. Aber als Anna auf ihre Uhr sah, die mit silbernen Glitztersteinen

besetzt war, stand ihr das Entsetzen ins Gesicht geschrieben und sie sagte zu Schneebi:

„Es ist schon Mittag, wir müssen zurück nach Wolkadia und du musst es so schnell wie

möglich schneien lassen!“ „Also gut, ich gebe euch den Kristall“, meinte Gelka dann

schlussendlich. „Aber die anderen Kristalle bring ich erst an der Weihnachtsfeier mit.“ Sie

verabschiedeten sich von Gelka. Sie winkte ihnen fröhlich hinterher und rief: „Ich glaube

ab heute freue ich mich immer auf Weihnachten.“ Aber das hörten Schneebi und Anna

gar nicht mehr, denn sie flogen in doppelter Geschwindigkeit zurück nach Wolkadia. Erst

am Abend sahen sie die vielen Lichter von Wolkadia. Wolle und Knolle waren auch sehr

erleichtert, als sie sich endlich von dem langen Flug erhholen konnten. Doch für

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Schneebi war noch lange nicht ans Ausruhen zu denken. Er sagte aufgeregt zu Anna:

„Schnell, komm mit, jetzt lasse ich es endlich schneien.“ Schneebi zog Anna mit seinen

kurzen Armen mit sich zu einem grossen runden Platz. In der Mitte stand eine riesige

Säule. Schneebi flog sofort zu der Säule und setzte behutsam seinen Schneekristall

darauf. Was jetzt geschah war unfassbar! Zuerst leuchtete der Kristall sehr hell auf, so

hell dass es Anna blendete und sie ihre Augen zusammenkneifen muss. Dann öffnete

sich direkt neben der Säule ein grosses Loch. Darunter befand sich eine riesige Wolke

die grösser war als 5 Häuser. Schneebi flüsterte etwas Unverständliches. Danach fing es

an, aus der grossen Wolke heraus zu schneien und überall glitzerte und glänzten die

Schneeflocken. Anna stand eine Weile einfach nur da. Sie war sprachlos. Als sie ihre

Sprache endlich wieder gefunden hatte, rief sie glücklich: „Es schneeeeeeit!“ Schneebi

kam wieder zu Anna zurück und sagte zu ihr: „ jetzt wollen wir zusammen Weihnachten

feiern!“ In der Zwischenzeit hatten die anderen Wolken alles schön dekoriert und ein

wundervoller Tannenbaum stand in der Mitte. Alle Bewohner von Wolkadia waren da,

sogar Helga die Hexenwolke und auch Gelka, die kleine freche Gewitterwolke, die

gerade fröhlich mit Luri der Laborwolke tanzte. Alle bedankten sich bei Anna, wie sie

Weihnachten gerettet hat. Schneebi tanzte sogar mit Stella der Sturmwolke und Rela mit

Doni der Donnerwolke. Aber das Allerwitzigste war, das Helga die Hexenwolke mit Nubi

der Nebelwolke tanzte. Irgendwann schlief Anna auf einem Stuhl ein, weil sie so müde

war. Aber als sie aufwachte, war sie nicht mehr auf dem Stuhl und um sie schwebten

auch keine tanzenden Wolken mehr, denn sie war in ihrem Bett und da hörte sie auch

schon ihre Mutter: „Anna komm es gibt Essen und dann Geschenke!!!“ Anna dachte

nochmals an Schneebi und an das Weihnachtfest. Dann stand sie auf und rannte die

Treppe hinunter. Unter dem schön geschmückten Weihnachtsbaum befanden sich viele

Geschenke. Anna setzte sich an den Tisch neben Leonie. An Weihnachten gab es wie

jedes Jahr Annas Lieblingsspeise, nämlich Fleischfondue. „Mhhmm, lecker“, meinte Anna

und leckte sich die Lippen als Annas Mutter es auf den Tisch stellte. Zum Nachtisch gab

es Annas geliebtes Vanilleeis mit heissen Früchten. Nach dem gemeinsamen Singen

konnten sie endlich ihre Geschenke auspacken. Leonie stürzte sich sofort auf das

grösste Geschenk von allen. Anna dagegen nahm sich das Kleinste. In Leonies

Riesengeschenk steckte ihr gewünschter Plüschaffe. Aus Annas kleinem Geschenk kam

ein glitzerndes und mit Perlen besetztes Armband hervor. Auch Annas gewünschtes

Playmobilschloss steckte in einem der Geschenke. Ihren Eltern schenkte sie ein

selbstgemaltes Bild. Auf dem Bild malte sie ihre Familie. Alle standen jetzt um den

Weihnachtsbaum herum und feierten glücklich. Spät am Abend brachte Annas Mutter sie

ins Bett. Sie sang ihr noch ein kleines Gutenachtlied und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.

Dann schloss sie leise die Tür. Als ihre Mutter aus dem Zimmer gegangen war, schlich

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Anna auf Zehenspitzen zum Fenster. Draussen war es finstere Nacht. Doch man konnte

immer noch einige Wolken am Himmel erkennen. Anna dachte an Schneebi. Vielleicht

dachte er in diesem Moment ja auch gerade an sie. Sie wollte gerade wieder ins Bett

huschen, als sie draussen auf der Fensterbank etwas Glänzendes sah. Sie öffnete das

Fenster und nahm das glänzende Etwas herein. Sie sah es sich genau an, weil es aber

so dunkel war, konnte sie nicht erkennen, was es genau war. Darum schaltete sie noch

einmal ihr Nachttischlicht an. Jetzt konnte sie sehen was es war: „Es war eine kleine

Plüschwolke aus echtem Wolkenflaum. Sie sah fast so aus wie Schneebi und daran

klebte ein kleiner Brief. Anna las ihn glücklich: Liebe Anna, du hast mich gerettet, ohne

dich hätte ich das nie geschafft. Diese kleine Plüschwolke habe ich dir gebastelt, damit

du mich nicht so schnell vergisst und ich wünsche dir schöne Weihnachten, liebe Grüsse

dein Freund Schneebi. PS: Gelka wohnt jetzt wieder bei uns in Wolkadia. Anna lächelte

und kuschelt sich wieder in ihr Bett. Kurz darauf schlief sie tief und fest. Sie träumte von

Schneebi von Gelka und von ganz Wolkadia. Für Anna war das das schönste

Weihachten aller Zeiten!

Ende

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Eine aussergewöhnliche Begegnung In einem grossen Schloss, auf einem kleinen Hügel lebt Mariana, eine wunderschöne Prinzessin mit

welligem weissblondem Haar, das fast bis zum Boden hinab reicht. Gestern ist Mariana 18 Jahre alt

geworden. In diesem Jahr muss sie jemanden heiraten. Wenn sie keinen Mann auswählt, sucht ihr

Vater, König Karl, für sie einen aus. Im Schloss wimmelt es nur so von jungen Männern, aber keiner

gefällt ihr. Ihr Vater König Karl will sie schon lange verheiraten, aber jedes Mal sagt sie: „Du kannst

mich nicht einfach verheiraten. Ich entscheide selber wen ich heirate!“ Wegen diesen Widerworten

wurde sie schon oft auf ihr Zimmer geschickt, aber sie hat ihr Ziel erreicht. Ihr Vater hat endlich

eingesehen, dass das nichts bringt. Er beschloss aber, dass sie mit 18 heiraten muss, egal wen. Sie

kann jeden Mann haben, aber sie wartet und wartet bis der Richtige kommt. Ihre beste Freundin Anna

hat schliesslich auch noch kein Mann. Jeden Abend vor dem Einschlafen reden sie noch lange über

ihren Traummann. Heute Abend als sie sich in ihrem Turmzimmer schlafen legen will, bemerkt sie

etwas äusserst seltsames. An der untersten Spitze ihres weissblonden Haars, färbt sich eine Strähne

schwarz. Es war zwar ein bisschen seltsam, weil ihre Haare sich noch nie verfärbt haben, aber sie

kümmert sich nicht weiter darum, nimmt die Schere und flüstert leise vor sich hin: „Weg damit“, und

schneidet sie unbekümmert ab. Sie legt sich in ihr Himmelbett und schläft seelenruhig ein. Mitten in

der Nacht wacht sie schweissgebadet auf. Sie streicht sich eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht und

steht auf. Im Halbdunkeln tappt sie leise zum Lichtschalter. Aus ihrer Nachttischschublade zieht sie

behutsam ihr Tagebuch heraus, indem sie alle ihre Träume aufschreibt. Sie beginnt zu schreiben:

„Heute Nacht hatte ich einen äusserst seltsamen Traum. Ich träumte: „Ich habe mich in einen

Bauernjungen mit tiefschwarzem Haar verliebt, der in einem kleinen Dorf lebt. Als sie ihm das erste

Mal begegnete, fingen, sich ihre wunderschönen blonden Haare an, langsam schwarz zu verfärben.“

Zwischendurch murmelt Mariana immer wieder: „So was hab ich ja noch nie geträumt.“ Danach

schliesst sie ihr Tagebuch wieder, denn an dieser Stelle ist sie aufgewacht. Sie weiss nicht genau

warum, aber...Jetzt fällt es ihr wieder ein. „Ach du meine Güte“, schrie sie beinahe laut heraus. „Ich

habe meinen Traummann gefunden!“ Aus irgendeinem Grund weiss sie einfach, dass das ihr

Traummann ist. Sie erinnert sich wieder genau daran, wie sie gestern Abend vor ihrem Spiegel

gestanden hat und sie sich gewundert hat warum sie plötzlich eine schwarze Haarsträhne hatte. Da sie

ja jetzt eh viel zu aufgeregt ist, um weiterzuschlafen, steht sie auf und fängt an zu überlegen, welches

Dorf das ist. „ Oh, nein das darf nicht wahr sein!“ „ Im Traum hatte es Apfelbäume, Birnenbäume und

Kirschbäume auf dem Dorfplatz.“ „Das kann nur Altendorf sein“, sagt Mariana laut vor sich hin. Als

sie bemerkt, dass sie Selbstgespräche führt, verstummt sie augenblicklich. Sie zieht sich ein

saphirblaues Kleid an und schleicht aus ihrem Zimmer. Sie klopft leise an die Türe von Annas

Zimmer. Anna wacht völlig verschlafen auf und erhascht einen Blick auf die Uhr. Sie denkt sich:

„Welcher Idiot klopft um 4 Uhr in der Früh an meine Tür!“ Sie ist heilfroh, dass sie das nicht laut

gesagt hat, denn keine zwei Sekunden später erscheint Mariana in der Tür. Schlaftrunken setzt Anna

sich auf und fragt: „Was ist los? Warum bist du in dieser Herrgottsfrühe schon wach?“ Mariana

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antwortet aufgeregt: „Stell dir vor, ich habe von meinem Traummann geträumt, und wir werden

morgen nach Altendorf fahren und ihn suchen.“ Anna unterbricht Marianas Redeschwall und fragt:

„Wieso weisst du, dass er dein Traummann ist?“ „Ach ja stimmt, das sollte ich dir vielleicht auch noch

erzählen. Sie erzählt und Anna hört aufmerksam zu. „Das erklärt, warum deine Haare bis zur Hälfte

schwarz sind.“ Mariana schreit entsetzt auf. Zum einen vor lauter Glück, dass es wirklich ihr

Traummann sein musste, und zum anderen vor lauter Entsetzen. „Ich will doch keine schwarzen

Haare!“, flüstert sie weinerlich. Ihre Freundin tröstet sie und verspricht ihr, dass sie morgen früh

gleich nach Altendorf fahren. Auf dem Weg zu Marianas Zimmer fragt Anna: „Wo hast du ihn

eigentlich das erste Mal gesehen?“ Darüber hat Mariana sich noch gar keine Gedanken gemacht und

sie antwortet: „Das weiss ich nicht.“ Sie stellen sich vor ihren riesigen Wandschrank und suchen sich

ein Kleid aus. Nachdem sie schon fast alle von Prinzessin Marianas Kleider anprobiert haben, finden

sie endlich beide etwas Passendes für sich. Mariana entscheidet sich für ein schlichtes grünes Kleid

mit passendem Collier aus Grün Gold. Anna entscheidet sich für ein rubinrotes mit Glitzersteinen

besetztes Kleid. Nachdem sie sich fertig angezogen haben, sehen sie sich zufrieden an und sagen

gleichzeitig: „Perfekt!“ Sie setzen sich vorsichtig aufs Bett, so dass die Kleider nicht zerknittern und

fangen an, darüber zu diskutieren, wie er wohl so war, der Bauernjunge aus Altendorf. Am morgen

früh als die Sonne langsam aufgeht, setzt sich Mariana wie jeden Morgen vor ihren Schminktisch und

bürstet ihr langes blondes Haar. Als sie nachher mit Anna im Speisesaal erscheint, entfährt ihrer

Mutter ein spitzer Schrei: Aaah! Mariana! Was ist mit deinen Haaren passiert?!“ Mariana setzt sich auf

den Schoss ihrer Mutter und schluchzt an ihre Schulter. Immer wieder sagt sie: „ Ich will keine

schwarzen Haare. Ich will keine schwarzen Haare.“ Nachdem sie ihren Eltern den ganzen verrückten

Traum, und was sie jetzt vorhat, erzählt hat, laufen ihrem Vater die Freudentränen über die Wangen.

Er versucht sie zu unterdrücken, aber es geht nicht. Sie laufen und laufen. Lachend ruft er: „Meine

kleine Tochter wird endlich heiraten.“ Nach dem Frühstück fahren sie mit der Kutsche nach Altendorf.

Die lange Fahrt verbringen Anna und Mariana damit, ihre Haare zu Recht zu machen. Auf dem

Dorfplatz in Altendorf angekommen, sehen sie sich nach einem schwarzhaarigen Jungen um. Nach

langer Zeit, als Anna vom Gemüsemarkt schon wieder zurückkommt, hat Mariana ihren Traummann

noch immer nicht gefunden. Langsam gibt sie die Hoffnung auf, dass ihr Traum wahr sein kann. Es

kann ja auch einfach ein grosser Zufall sein, dass sich ihre Haare genau jetzt, wo sie diesen Traum

hatte schwarz färben. „Das wäre allerdings ein sehr grosser Zufall.“ Wütend stampft sie auf den Boden

und murmelt leise vor sich hin: „Mist, ich war mir so sicher, dass er der Richtige ist. Schnell beruhigt

sie sich wieder und denkt: „Ich bin eine Prinzessin. Ich muss mich beherrschen können.“ Als sie sich

gerade die letzte Träne mit der Hand aus den Augen wischen will, kommt ein junger Mann vorbei und

hält ihr ein weisses Taschentuch hin. „Warum weinen sie denn?“ Sie spürt plötzlich etwas Warmes im

Bauch, dass sich… dass sich wie Schmetterlinge anfühlt. „Du bist es“, flüstert sie leise für sich: „Er ist

der Richtige.“ Überglücklich dreht sie sich um und schaut ihn an. Er fühlte sich noch nie so wohl in

der Anwesenheit eines Mädchens und schaute sie ebenfalls glücklich an. „Ich bin Mariana die

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Prinzessin von Ravensburg.“ Augenblicklich macht er eine tiefe Verbeugung vor ihr und entschuldigt

sich, dass er sie nicht sofort erkannt hat. „Ich bin Jonathan, ein Bauernjunge aus dem Dorf.“ „Du bist

wunderschön“, raunt er ihr leise zu. Erst jetzt sieht er Marie, die hinter einer Eiche gestanden hat und

alles gesehen hat. „Oh, nein“, murmelt er. Mariana hat sie ebenfalls entdeckt, und fragt Jonathan: „

Wer ist das?“ Das, das ist meine Freundin, Marie.“ Mariana stehen schon wieder die Tränen in den

Augen. Sie dachte es wäre Liebe auf den ersten Blick. Sie hasste diese Marie jetzt schon. Allein wie

sie schon aussah. Eine Strickjacke, zusammen gebundene Haare, und kniehohe Winterstiefel. „Das

war ja klar“, denkt sie wütend. Sie wollte gerade zurück zu Anna laufen, die schon ungeduldig in der

Kutsche auf sie wartet, da hielt Jonathan sie am Ärmel fest. Wütend und enttäuscht dreht sie sich

abrupt um und sagt laut: „Was? Was ist? Du hast ja eine Freundin. Warum redest du dann überhaupt

mit mir?“ „Lass es mich dir erklären…“, begann Jonathan. „Nein“, unterbricht sie ihn und stapft

davon. In dem Moment als Mariana Marie eine schnippische Grimmasse zuwarf, verliebte sich

Jonathan in sie. Noch nie hat er ein Mädchen gesehen, dass so schön ist wie sie und gleichzeitig so

viel Temperament hat. Er ist begeistert von ihr. Marie kommt auf ihn zugelaufen und beginnt gleich

damit, ihn wütend auszufragen: „Warum hat sie mit dir gesprochen? Was wollte sie? Hast du ihr nicht

gesagt dass du eine Freundin hast? Apropos Freundin“, sagt sie aufbrausend, „Wir sind jetzt seit einem

Jahr ein Paar und du hast mir immer noch keinen Heiratsantrag gemacht. Dieser Tussi hättest du am

liebsten sofort einen gemacht.“ Jonathan sagt nur: „ Da kannst du noch lange warten, bis ich dir einen

Heiratsantrag mache.“ Mit diesen Worten läuft er davon. Er will mit Mariana sprechen, er will ihr

sagen, dass er sich in sie verliebt hat. Traurig sieht er der Kutsche nach. Mariana spricht auf der

ganzen Rückfahrt kein Wort mit Anna. Sie weiss, dass Anna nichts dafür kann, dass ihr Traum ein

absoluter Reinfall war, aber sie ist jetzt einfach zu wütend und zu enttäuscht, um zu sprechen und zu

erzählen, was passiert ist. Zu Hause angekommen rennt sie in ihr Zimmer und heult in ihr rosarotes

flauschiges Kissen hinein. Sie kann nicht aufhören an ihn zu denken. Auch Jonathan liegt zu Hause in

seinem Bett und denkt an Mariana. Er ist später noch einmal zu Marie gegangen und hat ihr gesagt,

dass es nun endgültig vorbei ist. Jonathan kann einfach nicht einschlafen. Er wälzt sich die ganze

Nacht von der einen Seite auf die andere. Er muss Mariana einfach noch einmal sehen. Später als

Mariana sich ausgeweint hat, schleicht sie auf Zehenspitzen zu Anna ins Zimmer. Sie reden noch bis

spät in die Nacht hinein. Allerding nur über Dinge, die auf keinen Fall mit Jonathan zu tun haben.

Irgendwann schlafen die beiden nebeneinander ein. Doch auch in dieser Nacht, schreckt Mariana

wieder schweissgebadet aus ihrem Traum auf. Sie sitzt kerzengerade in ihrem Bett und beobachtet

Anna beim Schnarchen. Seelenruhig liegt sie da. Sie muss lächeln und holt so leise wie möglich ihr

Tagebuch aus der Nachttischschublade. Sie konzentriert sich so darauf keinen Lärm zu veranstalten,

da fällt ihr prompt das Tagebuch aus der Hand und knallt auf den Holzboden. Anna reibt sich

schlaftrunken die Augen und fragt: „Was ist den passiert?“ Da Anna jetzt ja wach ist, tappt sie an

ihrem Spiegel vorbei zum Lichtschalter. Plötzlich rutscht sie auf einem nassen Waschlappen, den sie

gestern Abend achtlos auf den Boden geworfen hat aus und schreit laut auf: „ Aaaah!“ Ihr Tagebuch

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flog durch das ganze Zimmer und traf Anna genau am Kopf. Auch sie stösst einen lauten Schrei aus:

„Aua, mein Kopf!“ Jetzt ist Anna natürlich hellwach und springt mit einem Satz aus dem Bett.

Tiziana, Marianas Mutter erscheint völlig atemlos in der Tür: „Was ist denn hier los? Alles in

Ordnung?“ „ Ja, ja alles in Ordnung“, sagen die beiden Freundinnen gleichzeitig. Sie geht wieder und

lässt die beiden alleine. Mariana setzt sich wieder neben Anna ins Bett und beginnt zu erzählen. „Ich

hatte heute wieder einen merkwürdigen Traum. Wenn meine Haare vollständig schwarz sind, wird

Jonathan nicht mehr mit seiner zickigen Freundin zusammen sein. Anna versteht nicht ganz, weil sie

ja nicht weiss wer Jonathan ist. Nachdem sie aber eins und eins zusammengezählt hat, piepst sie

aufgeregt: „Schalt mal das Licht ein.“ Mariana tappt ein weiteres Mal zum Lichtschalter. Aber dieses

Mal macht sie einen weiten Bogen um den Waschlappen. Keine Sekunde später als Mariana das Licht

eingeschaltet hat, beginnt Anna zu quieken. Mariana rennt augenblicklich zu ihrem Spiegel und fängt

ebenfalls an hysterisch zu schreien: „Meine Haare, ganz schwarz!“ „Moment mal“, unterbricht Anna

ihren Schreianfall, „Ist das jetzt gut oder schlecht? Du warst ja schliesslich gestern ziemlich

enttäuscht“ „Ach ja, ich habe dir ja noch gar nicht erzählt, was gestern passiert ist.“ „Ich weiss auch

nicht, ob das jetzt gut ist, das mit meinen Haaren. Auf jeden Fall kann ich nicht aufhören an ihn zu

denken.“ Verträumt, aber immer noch enttäuscht von ihm, schaut sie in die Dunkelheit hinaus. Leise,

so leise dass nur sie es hören kann flüstert sie: „ Er ist der Richtige.“ Sie weiss ja noch nicht dass

Jonathan bereits von Marie getrennt hat, aber sie muss ihn einfach sehen. Mariana beschliesst heute

nochmal ins Dorf zu fahren. Aber alleine, ohne Anna. Da Mariana es jetzt schon satt hat von Marie als

Tussi bezeichnet zu werden, dass sie gestern übrigens noch gehört hat als sie davonlief, sucht sie sich

eine kurze Hose, ein rosa Top und eine Jacke aus ihrem Kleiderschrank heraus. Als sie so im

Speisesaal erscheint, trauen Vater und Mutter ihren Augen nicht. Mariana sagt nichts, geht an Anna

vorbei und läuft zur Kutsche. Eine knappe Stunde später erreicht sie den Dorfplatz von Altendorf.

Jonathan wartet schon seit Stunden auf einer Bank, absichtlich weit weg von Maries Haus, in der

Hoffnung die Prinzessin von Ravensburg würde sich heute noch einmal im Dorf blicken lassen. Als er

gerade gehen will, sieht er ihre schwarzen wunderschönen Haare. Er denkt sich: „Irgendwie komisch.

Gestern waren ihre Haare nur bis zur Hälfte schwarz. Ob das vielleicht etwas mit meinem Traum zu

tun hat?“ Er geht auf sie zu und flüstert leise in ihr Ohr: „Es tut mir leid wegen gestern.“ „Sie fuhr

herum und meint schnippisch: „Wo hast du denn deine hübsche Frau gelassen!“ Fasziniert von ihrem

Temperament antwortet er mit gleichem schnippischen Unterton: „ Erstens, ist und war sie nie meine

Frau, und zweitens sind wir nicht mehr zusammen.“ „Oh“, antwortet Mariana erleichtert. Es zaubert

sich plötzlich ein Lächeln in ihr Gesicht. Leise murmelt sie in ihre Haare: „´tschuldige.“ „Vielleicht

kann ja jetzt mein Traum doch noch wahr werden“, denkt sie sich. Genau dasselbe denkt auch er sich

in diesem Moment. Unterdessen plant Marie Jonathan einen Heiratsantrag zu machen, auch wenn er

sich von ihr getrennt hat. Er muss sie einfach heiraten. Sie hat alles ganz genau durchgeplant, ausser

dass er in diesem Moment mit Mariana gemütlich auf einer Bank sitzt. Sie wird Jonathans Bruder

Frederik zu ihm schicken, und ihm sagen dass sie ertrunken ist. In diesem Moment kommt Frederik

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auch schon bei Jonathan an. Den ganzen Weg den er gemütlich zum Dorf gelaufen ist, dachte er nach

ob es wirklich das richtige ist was er da tut. „ Jonathan, komm, komm mit, du musst Marie retten!“

„Nein“, antwortet er bestimmt. „Sie ist am Ertrinken.“ Er will nicht, dass seinetwegen jemand stirbt,

deshalb steht er auf und rennt in die Richtung in die Frederik mit der Hand zeigt. Mariana rennt

hinterher, aber sie ist nun Mal nicht die Schnellste. Sie verlor Jonathan schon nach den ersten 100

Metern aus den Augen. Beim kleinen Fischersee sieht er Marie im Hochzeitskleid. Er will sich

geradewegs wieder umdrehen und wegrennen. Doch Marie streckt ihre dünne Hand aus und dreht ihn

wieder in ihre Richtung. In dem Moment, als Mariana ausser Atem auch am Fischersee ankommt,

fragt Marie Jonathan. „Willst du mich heiraten?“ „Du, du Biest!“, ruft sie zu Marie. An Jonathan

gewandt schreit sie: „Ich habe dir einmal verziehen, aber ein zweites Mal. Ich werde meinen

Traummann schon noch finden. Bleib du ruhig bei deiner Marie.“ Sie ist so enttäuscht von ihm und

rennt so schnell wie sie kann weg. Sie steigt in die Kutsche, die auf dem Dorfplatz auf sie gewartet hat

und fährt nach Hause. Zu Hause läuft sie ihrer Mutter geradewegs in die Arme. „Was ist den los,

meine Kleine?“ Tröstend streichelt sie ihr über den Kopf. Mariana schluchzt leise an ihre Schulter, und

sie gehen Arm in Arm in Marianas Zimmer. Völlig aufgelöst erzählt sie ihr alles. „Es hat also alles mit

diesem Traum angefangen“, meint Marianas Mutter fragend. Ohne auf eine Antwort zu warten, spricht

sie weiter. „Vielleicht kann Tante Georgina uns helfen.“ Tante Georgina ist Wahrsagerin, und sie hat

bis jetzt nur Ereignisse vorausgesagt, die danach auch wirklich eingetroffen sind. „Gar keine schlechte

Idee“, flüstert Mariana mit immer noch etwas weinerlicher Stimme. Georgina kann nicht mehr so

schnell gehen, da sie auch schon etwas älter ist. Deshalb dauert es einen Moment bis sie an Marianas

Zimmertür klopft. Mariana bittet Georgina herein, und erzählt ihr, um was es geht. Sie hört

aufmerksam zu, und sagt mit zittriger Stimme: „Mal sehen, was uns meine liebe Kugel sagt.“ Sie legt

ein purpurrotes Tuch auf die Kugel und beginnt, geheimnisvolle Worte zu flüstern, die niemand

versteht. Doch sie zeigen ihre Wirkung. Nach einiger Zeit beginnt die Kugel blau zu schimmern und

es erscheint ein verschwommenes Bild über der Kugel. Es war genau zu erkennen, wie ein Mann mit

schwarzem und eine Frau mit blondem Haar am Altar stehen. Ihr laufen wieder die Tränen über das

Gesicht, und sie wispert traurig: „Das kann nicht ich sein.“ Ihre Mutter versucht sie zu beruhigen,

doch sie weint einfach weiter. Sie will alleine sein. Einfach nur alleine. Sie ist traurig, sauer, enttäuscht

und unglücklich. Die nächsten Tage bleibt sie einfach in ihrem Zimmer und geht nirgendwo hin. In

dieser Zeit hat sie sich langsam damit abgefunden, dass sie jetzt schwarze Haare hat. Trotz allem

vermisst sie Jonathan. Jonathan hingegen blieb nicht in seinem Zimmer, sondern ging jeden Tag zum

Dorfplatz und hoffte, dass Mariana wieder kam. Aber sie kam nicht mehr. Er denkt nur noch an sie:

„Ich muss weg von hier, weg von meinem Bruder, weg von Marie, weg von all dem hier.“ Er ist

wütend, enttäuscht und traurig. Er denkt die ganze Zeit nur an sie. Mariana, die Prinzessin von

Ravensburg: „Mariana weiss nicht, dass ich nie, nie im Leben Marie heiraten würden. Sie wird nie, nie

wieder mit mir reden. Sie wird mir nie verzeihen, und das allerschlimmste: Sie weiss nicht, dass ich

mich in sie verliebt habe“, flüstert er immer wieder. Er nimmt den grössten Rucksack, den er im Haus

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finden kann, und packt seine wichtigsten Sachen ein. Mitten in der Nacht, nimmt er seine

Taschenlampe zur Hand und geht los. Immer weiter in den Wald hinein, bis er nach langer Zeit

endlich vor dem gewaltigen Schlosstor steht. Er blickt den starren Säulen entlang, die hoch in den

Himmel empor ragen. Er traut sich nicht anzuklopfen, deshalb macht er es sich vor dem Schlosstor

bequem, und beginnt einen Brief zu schreiben. „ Liebe Mariana. Ich weiss, dass du wütend auf mich

und enttäuscht von mir bist. Das wäre ich an deiner Stelle auch. Aber ich will dir hier, in diesem

Briefe die Wahrheit erzählen. Die Wahrheit, wie ich mich in dich verliebt habe. Am Tag bevor ich

dich das erste Mal sah, hatte ich einen seltsamen Traum, der von dir handelte. Als unsere erste

Begegnung nicht ganz so glücklich abgelaufen ist, hoffte ich dich ein weiteres Mal zu sehen. In der

nächsten Nacht hatte ich wieder einen ähnlichen Traum. Und was Marie angeht, ich habe sie nie

geliebt. Meine Familie will dass ich sie heirate. Aber ich nicht. Also habe ich mich endgültig von

Marie getrennt. Sie konnte es einfach nicht verstehen und hat mir, wie du ja selbst gesehen hast, einen

Heiratsantrag gemacht. Als du weggelaufen bis, habe ich ihr ordentlich meine Meinung gesagt, und

wollte dir nachlaufen. Da warst du aber schon weg. Ich hoffte jeden Tag dass du wieder kommen

würdest. Du bist aber nicht mehr gekommen.“ Er unterschreibt mit Jonathan, faltet den Brief sorgfältig

zu einem kleinen Papierflugzeug und wirft es über das mächtige Schlosstor. Keine Minute später

öffnet Toni der Torwächter ein Flügel des Schlosstors. „Wer bist du?“, fragt er mit ernster, aber

freundlicher Stimme. „Ich bin ein Junge aus Altendorf. Könnten sie diesen Brief bitte der Prinzessin

bringen?“, fragt Jonathan freundlich. Toni bittet Jonathan herein und schliesst das Tor. Er stapft los

und lässt Jonathan allein vor dem Tor stehen. Nach einer gefühlten Ewigkeit kommt Toni mit der

Prinzessin im Schlepptau zurück. Jonathan rennt auf Mariana zu und will sie umarmen. „Halt. Ich

muss dir etwas sagen. Alles was in diesem Brief steht glaub ich dir, und es macht mich sehr glücklich.

Aber, wir können nicht zusammen sein und schon gar nicht heiraten, denn..“ „Warum denn nicht!“,

ruft Jonathan aufgebracht. „Meine Tante Georgina ist Wahrsagerin. Sie hat vorhergesagt, dass du ein

blondes Mädchen heiratest. Nun schau dir meine Haare an, und denk an die von Marie. Meine sind

tiefschwarz, ihre sind strohblond. Es geht nicht. Sie entzog sich ihre Hand seiner, dreht sich um und

geht davon. „Aber“, ruft er ihr hinterher. Sie hebt die Hand und will ihm sagen dass es nicht geht,

doch sie kann einfach nicht. Sie träumt nicht einfach so, dass er ihr Traummann ist. Stattdessen sinkt

ihre Hand wieder nach unten und sie flüstert: „Ich liebe dich.“ Sie gingen auf einander zu und

umarmten sich innig. Toni schaut unglücklich zu und denkt sich wie gerne er jetzt auch jemand

umarmen würde. Er entschied sich dafür, einen verrosteten Pfosten des Schlosstors zu umarmen.

Augenblicke später rennt er plötzlich los und schreit durchs ganze Schloss: „König, König es gibt

wunderbare Neuigkeiten!“ Überglücklich berichtet er dem König: „Ihre kleine Tochter, Prinzessin

Mariana wird endlich heiraten.“ Gerade als ihr Vater König Karl Luft holen wollte, um zu fragen: „

Wer ist denn der Glückliche?“, wird das Tor von aussen aufgestossen. Darin stehen Mariana und

Jonathan. Glücklich sehen sie einander an, und Mariana kommt auf ihren Vater zu und stellt ihm

Jonathan vor. Alle sehen gebannt zu König Karl, doch der flüstert so leise, dass nur er, Mariana und

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Jonathan es hören können: „ Ach meine kleine Prinzessin. Ich bin so stolz auf dich.“ Mariana geht

einfach nicht aus dem Kopf, was Tante Georgina ihr in ihrer Kugel gezeigt hatte. In den nächsten

Tagen geht es im Schloss hektisch zu und her. Alle sind aufgeregt und fröhlich. Nur noch ein Tag.

Prinzessin Mariana wird endlich heiraten. Mariana ist überglücklich, aber doch kann sie nicht aufhören

daran zu denken, dass Jonathan in Tante Georginas Kugel ein blondes Mädchen heiratete. Am

nächsten Morgen, nachdem Mariana in dieser Nacht so gut wie nichts geschlafen hatte, steht sie auf

und klopft an Annas Tür. Anna und Mariana helfen sich gegenseitig sich für die Hochzeit fertig zu

machen. Mariana trägt ein weisses bodenlanges Kleid mit einer Schleppe, ein Schleier und einem

Blumenkranz im Haar. „Ich wünsche mir mein blondes Haar zurück“, flüstert Mariana Anna ins Ohr.

Der Ballsaal ist wunderschön mit violetten, blauen und gelben Blumen geschmückt, und in der Ecke

steht ein riesiges Buffet. Mariana versucht ruhig zu bleiben, obwohl alle Blicke auf sie gerichtet sind,

als sie mit ihrem Vater zum Altar schreitet. „Oh wie wundervoll“, und „Ah wie hübsch“, ist es aus

allen Ecken des Saals zu hören. Tiziana, Marianas Mutter muss vor Freude weinen. „Meine kleine

Prinzessin heiratet“, schluchzt sie. Nachdem Mariana und Jonathan einander die Ringe angesteckt

haben, küssen sie sich. In diesem Moment geschieht es. Marianas Haar wird wieder strohblond. „Das

muss das Zeichen sein, dass er mein Traummann ist“, denkt Mariana glücklich. Mariana flüstert: „Und

alles hat mit einem aussergewöhnlichen Traum angefangen.“ „Und alles ging mit einer

aussergewöhnlichen Begegnung weiter“, zitiert Jonathan weiter. „Und alles endet und beginnt von

Neuem mit einer aussergewöhnlichen Hochzeit, und einem gemeinsamen Leben.“ „Jetzt kann das Fest

beginnen!“, ruft König Karl ausser sich vor Freude. „Ich bin so stolz auf dich meine kleine

Prinzessin“, flüstert er ihr zu.

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Eine aussergewöhnliche Begegnung

„Wach doch bitte auf, Alexis. Bitte“, hörte ich ein Schluchzen. Eine Frau hielt meine Hand und drückte sie leicht.

Unter meinem Rücken war es hart und unbequem. Ich versuchte mich zu bewegen aber es funktionierte nicht.

Auch meine Augen versuchte ich zu öffnen aber die waren zu schwer. Wo war ich bloss? Was war nur mit mir

passiert? Da öffnete sich die Tür und ich hörte schwere Schritte auf mich zu kommen. „Es tut mir Leid, Miss. Aber

wir können die Geräte nur noch eine Woche laufen lassen. Es gibt noch andere Patienten.“ Ein heftiges

Schluchzen durchfuhr den Raum. „Können…können wir denn nichts machen?“ „Nein tut mir leid. Sie ist nun schon seit zwei Jahren an den Geräten.“ Eine Weile lang blieb es still. Doch schlussendlich entfernten sich die Schritte wieder, welche zu der vorherigen Männerstimme gehörten. „Alexis, komm schon. Alle wollen dass du

wieder aufwächst. Gib dir einen Ruck und überwinde deinen Schmerz.“ Dies war wieder die Frau, welche meine Hand festhielt und drückte. Ich kannte sie nicht und ich hatte auch keine Ahnung wer Alexis war. Trotzdem wollte

ich endlich aus diesem schwarzen Loch steigen und meine Augen öffnen. Also packte ich nochmal meinen

ganzen Mut zusammen und versuchte angestrengt meine Augen zu öffnen. Es gelang mir ein Wenig. Doch helles

Licht strömte in meine Augen weshalb ich sie sofort wieder schloss. Nein, ich durfte sie nicht geschlossen haben

ich musste wach werden. Ich wollte nicht mein Leben in einem einzigen, schwarzen Loch verbringen. Deshalb

versuchte ich meine Augen wieder zu öffnen. Es gelang mir auch wieder. Das helle Licht blendete mich wieder,

jedoch schloss ich meine Augen nicht mehr. Ich befand mich in einem Arztzimmer und war an vielen Geräten

angeschlossen. Nun blickte ich zu der Frau, die meine Hand hielt. Sie hatte den Kopf in die Matratze unter mir

gelegt und weinte fürchterlich. Doch wer war sie? „Hallo?“, fragte ich sie krächzend. Ihr Kopf schnellte in die Höhe. Ungläubig schaute sie mich mit ihren rot verweinten Augen an. „Alexis. Oh mein Gott du bist wach.“ Sie fiel mir glücklich in die Arme. Ich hatte keine Ahnung was ich tun sollte, schliesslich kannte ich sie ja gar nicht. „Ich hole den Arzt“, meinte die Frau überglücklich und verschwand aus dem Zimmer.

Nach einer Weile betrat die Frau mit einem Arzt wieder das Zimmer. „Guten Tag, Alexis. Wie geht es Ihnen denn?“, fragte mich der Arzt. „Entschuldigen Sie aber wer ist Alexis, wenn ich fragen darf.“ Der Blick von der Frau

wurde traurig und der vom Arzt nachdenklich. Verstört blickte die Frau zu ihm hinüber. „Sie kann sich nicht erinnern“, begann die Frau zu schluchzen. „Nur am Anfang. Die Erinnerungen kommen vereinzelt wieder zurück“, erklärte ihr der Arzt. Okay, jetzt hatte ich noch weniger Ahnung als vorhin. „Alles? Auch warum das passiert ist?“, fragte die Frau. „Ja.“ „Oh nein“, flüsterte die Frau. Der Arzt kam auf mich zu und setzte sich neben mich. Fragend

schaute ich ihn an. Was hat sie denn jetzt? „Kannst du dich an irgendetwas erinnern?“ Ich dachte nach. Doch nichts war da. Nur schwarz. Langsam schüttelte ich den Kopf. „Okay.“ Er atmete einmal tief ein und wieder aus. „Du hattest einen Unfall. Du ranntest über die Strasse und dann kam ein Auto, welches dich überfuhr. Deswegen

lagst du zwei Jahre im Koma.“ Er schaute mich an um sicher zu gehen, dass ich bisher alles verstand. „Dein Name ist Alexis Brook. Du bist 17 und an deinem Unfall warst du 15“, sprach er weiter. Okay. Ganz schön viele

Informationen auf ein Mal. „Hab ich denn nicht aufgepasst?“, fragte ich nachdenklich. „Du warst…ehm…sagen wir mal abgelenkt“, meinte der Arzt. Die Frau lächelte ihn dankend an. Irgendetwas stimmt da nicht. Der Arzt nickte und verschwand mit den Worten, „Alexis, Sie sollten sich ausruhen“, aus dem Zimmer. Die Frau setzte sich

aber wieder und schaute mich traurig an. „Wer sind Sie?“, fragte ich Sie endlich. „Deine Mutter.“ Eine Frau, die

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ich nicht kenne soll meine Mutter sein? Geschockt nickte ich langsam. Mein Kopf brummte. Wahrscheinlich

dachte ich gerade über zu viel nach. „Hab ich eigentlich irgendwelche Freunde?“ „Ja. Ich sage ihnen gleich Bescheid, dass du wach bist. Okay? Aber du solltest ein Bisschen schlafen.“ Zustimmend nickte ich.

Durch ein Klopfen wurde ich geweckt. Blinzelnd und verschlafen öffnete ich meine Augen. Zwei Jungs oder

bessergesagt junge Männer betraten mit einer jungen Frau das Zimmer. Das Mädchen, welches blond war und

grosse eisblaue Augen hatte blickte mich mit Tränen in den Augen an. Ich weiss nicht ob es Freudetränen waren

oder Trauertränen. Der grösste von ihnen, ein Mann mit braunen aufgestellten Haaren und braunen Augen

lächelte mich überglücklich an. Der letzte, ebenfalls ein Mann aber mit blonden Haaren und dunkelblauen Augen

schaute mich entschuldigend an. Niemand von uns sagte schon nur ein einziges Wort. Stille. Nur Stille war mit

uns in diesem Raum. „Hey“, brach ich sie. „Wollt ihr mir vielleicht sagen wer ihr seid?“ „Ich bin Ian. Dein Freund.“ Beim letzten Satz zuckte mein Herz schmerzhaft zusammen und der andere Junge schaute ihn böse an. „Mein Freund?“, fragte ich ihn ungläubig. Ian nickte. „Aha. Und ihr Beiden?“ Ich war mir nicht sicher ob das mit dem Freund stimmte. „Ich bin Ivy. Deine beste Freundin seit eh und je.“ Auch bei ihr schmerzte mein Herz falsch. Der andere Junge schaute nun auch sie böse an. Das Gefühl, dass er die Beiden mochte hatte ich nicht wirklich.

„Und du?“, fragte ich nun auch ihn. „Ich bin Damon. Dein wirklich bester Freund“, lächelte er mich traurig an. Ihm glaubte ich. Keine Ahnung warum aber es war so. „Kannst du dich an wirklich nichts erinnern?“, fragte mich Ivy hoffnungslos. Traurig schüttelte ich den Kopf. Wie gern wollte ich die Erinnerungen schon jetzt zurück. Ich wollte

wissen was Wahrheit und was Lüge war. Was Liebe und was Hass war. „Aber der Arzt sagte die Erinnerungen sollten alle wieder kommen.“ Ian und Ivy rissen geschockt die Augen auf. Ich wollte mit Damon reden. Unbedingt.

Aber alleine. Aber wie sollte ich das anstellen? Da hatte ich die perfekte Idee. Gespielt müde gähnte ich. „Bist du

müde?“, fragte mich Ivy fürsorglich. „Ja. Ich konnte nicht so viel schlafen.“ „Wir kommen sonst morgen wieder. Schlaf gut“, meinte Ian und ging. Die Anderen wollten ihm nach aber ich griff schnell zu Damons Hand. Wie der Blitz drehte er sich zu mir um. „Was ist Alex?“ Auch die Anderen drehten sich nun um. „Ihr könnt schnell gehen aber ich möchte Damon etwas fragen.“ Wiederwillig verschwanden die anderen Beiden aus dem Zimmer und Damon schaute mich fragend an. „Setz dich“, sagte ich zu ihm und klopfte neben mich auf das Bett. „Was ist Alex?“ Alex? „Ist das mein Spitzname?“ „Ja. Aber Alex ich kenne dich und ich weiss, dass du nicht aus diesem Grund alleine mit mir sprechen wolltest. Also an was kannst du dich erinnern?“, fragte er mich traurig. „An nichts. Wirklich. Aber ich habe das Gefühl dir geht es schlecht.“ „Meine beste Freundin lag zwei Jahre im Koma nur weil…“ Erschrocken riss er die Augen auf und schlug mit seiner flachen Hand vor sein Mund. „Nur weil was?“ „Das kann ich dir nicht sagen. Aber die Erinnerungen werden wieder kommen.“ „Das schon. Aber ich habe das Gefühl die anderen Beiden verschweigen mir so Einiges.“ Er nickte traurig drückte mir einen Kuss auf die Wange, stand auf und verschwand aus meinem Zimmer. Plötzlich schoss mir ein Bild in den Kopf. Ich stand in einem

Treppenhaus und küsste Damon. Aber auf den Mund. Aber das war auch schon alles. Meine Hand schnellte an

die Wange. Sie brennte. Ich war doch mit Ian zusammen oder doch nicht? Hatte ich Ian betrogen? Mein Schädel

brummte. Wahrscheinlich sollte ich ein Wenig schlafen und nachher weiter darüber nachdenken. Aber diese

Sache liess mir keine Ruhe, weshalb ich einen Arzt rief, indem ich auf den Knopf neben meinem Bett drückte.

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Schon nach wenigen Minuten kam eine Ärztin in mein Zimmer. „Miss Brook? Alles Okay?“ „Jaja aber ich hätte da

eine kleine Frage: Habe ich eigentlich ein Handy?“ „Nein. Beim Unfall ging es kaputt. Aber wenn Sie ein Telefonat machen wollen, kann ich Ihnen sonst meines ausleihen.“ Sie streckte mir ihr Handy entgegen. „Vielen Dank, aber ich habe die Nummer nicht.“ „Keine Ursachen. Mit wem wollen sie denn telefonieren?“ „Ich würde gerne mit Damon Castle sprechen.“ Sie nickte und gab etwas in ihrem Handy ein. Danach streckte sie es mir wieder hin. Dankend nickte ich. „Castle Damon hier“, meldete er sich nach wenigen Sekunden. Sofort schlug

mein Herz schneller. „Hey. Ähm hier ist Alexis. Alexis Brook.“ „Hey Alexis. Stimmt etwas nicht?“ „Doch alles okay aber könntest du bitte schnell herkommen? Ich muss etwas mit dir besprechen.“ „Klar. Ich bin in zehn Minuten bei

dir.“ „Danke. Ciao.“ „Ciao.“ Ich überreichte der Ärztin wieder ihr Handy. „Danke vielmals. Habe ich schöne Kleider hier?“ „Na klar. Soll ich Ihnen helfen sich umzuziehen?“ Nach kurzem Überlegen nickte ich und fragte noch schnell: „Habe ich eigentlich Schminke hier?“ Lachend schüttelte sie ihren Kopf, so dass ihre blonden, schulterlangen Haare wippten. „Nein aber Sie können meine benutzen, wenn sie wollen.“ „Schon okay.“ Sie nickte und öffnete den weissen Schrank. „Was wollen Sie denn anziehen?“ „Das Schönste was ich hier habe.“ Sie warf mir einen prüfenden Blick zu und lächelte wissend. „Wieso lachen Sie denn?“ „Es geht mich zwar nichts an aber Sie mögen Damon, nicht wahr?“ „Ich glaube schon. Aber ich kann mich an nichts erinnern. Können Sie

mir einen Rat geben?“ Sie kam nickend, mit einem Kleid in der Hand, auf mich zu. „Klar alles was du willst. Aber nennen Sie mich doch bitte Amanda.“ „Sie können mich Alexis nennen.“ „Okay Alexis. Schiess los.“ „Also irgendwie hatte ich das Gefühl, dass Ivy und Ian mich anlogen aber Damon glaubte ich jedes Wort. Also wollte

ich mit ihm alleine sprechen. Als er denn ging gab er mir einen Kuss auf die Wange und dann bekam ich wieder

eine Erinnerung. Ich sah wie wir uns auf den Mund küssten. Das kann aber nicht wahr sein, denn ich bin mit Ian

zusammen. Das hat Ian gesagt. Deswegen will ich mit Damon sprechen.“ „Ich kenne deine Vergangenheit nicht Alexis. Es kann alles möglich sein.“ „Trotzdem danke.“ Es tat schon gut nur das Alles jemandem zu erzählen auch wenn ich keinen Rat bekam. Nun war ich auch fertig angezogen. Ich begutachtete mich im Spiegel. Mein

Gesicht war bleich, meine braun gelockten Haare hatte Amanda zu einem Dutt zusammengebunden, das violett

weisse Sommerkleid fiel leicht bis zu den Knien herunterunter und meine Füsse steckten in weissen Ballerinas. In

diesem Moment klopfte es an der Türe. Amanda öffnete die Türe, zwinkerte mir nochmals zu und verschwand.

Damon dagegen trat in das Zimmer ein. „Hei Alexis. Also was ist?“ „Können wir in den Park spazieren gehen und

dann reden wir draussen?“ „Klar.“ Ich lief ihm stumm nach, nach draussen. Zum Glück lief er nicht so schnell, da ich noch ein Wenig zittrig auf den Beinen war. Dies bemerkte er und stützt mich indem er seinen Arm um meine

Taille schlang.

Als wir draussen waren fragte er mich wieder, warum er kommen sollte. „Also als du mir vorhin einen Kuss auf die Wange gegeben hast, da bekam ich eine kleine Erinnerung.“ „Was für Eine?“, fragte er neugierig. „Es war aber nur ein ganz Kleine.“ Ich wollte es hinausschieben mit dem Fragen, denn es überkam mich eine Welle von

Angst. Ich hatte Angst zu erfahren was ich damals getan hatte. War ich so Eine die ihren Freund betrügt? So wie

ich jetzt bin würde ich das niemals tun. Damon blieb stehen und blickte auf mich hinunter. Direkt in die Augen. So

wie er da stand war er fast zwei Köpfe grösser weder ich. „Alexis. Was hattest du für eine Erinnerung? Ich kann

dir nicht helfen wenn du nicht mit mir sprichst. Bitte sag es mir.“ „Du und ich standen in einem Treppenhaus und

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küssten uns. Auf den Mund.“ So. Jetzt war es draussen. Sein Blick wurde traurig aber er sagte nichts. Nur stumm

und traurig blickte er mich an. Also sprach ich eben weiter: „Ich habe ihn betrogen stimmt`s? Ich war mit ihm zusammen, dann habe ich dich geküsst und bin, weil es mir so leidgetan hat, über die Strasse gerannt?“ „Nein, so war es ganz bestimmt nicht.“ „Du kennst die Wahrheit und die anderen auch. Hab ich Recht?“ Langsam nickte er. „Warum erzählt ihr mir dann nicht die Wahrheit, verdammt nochmal? Weisst du eigentlich wie ich mi…“ Damon unterbrach mich indem er mich einfach küsste. Trotz des atemberaubenden Gefühls löste ich mich sofort

von ihm. „Was…was fällt dir eigentlich ein mich einfach zu küssen?“ Sein Blick wurde wieder traurig. „Es tut mir Leid Alex. Denkst du mir fällt es leicht die Wahrheit zu kennen und sie dir nicht sagen zu dürfen? Denkst du mir

ging es gut als du ins Krankenhaus eingeliefert wurdest. Und jetzt kannst du dich an nichts mehr erinnern.“ „Ich verstehe es einfach nicht. Du sagst du bist mein bester Freund. Ian sagt, dass ich mit ihm zusammen bin aber ich

glaube ihm nicht. Und Ivy? Sie sieht für mich wie eine falsche Schlange aus. Hast du ihren Blick gesehen?“ Ich konnte nicht anders als zu weinen beginnen. Damon nahm mich sofort in seine Arme. Beruhigend strich er mir

über die Arme. „Bitte Damon.“ „Was bitte?“ „Bitte erzähl es mir.“ „Ich kann einfach nicht. Versteh es doch.“ „Warum kannst du es nicht?“ „Es geht einfach nicht. Ich will dich nicht verletzen.“ „Eine Frage habe ich aber noch.“ „Und die wäre?“ „Waren Ian und ich glücklich. Habe ich ihn geliebt? Weil jetzt mag ich ihn nicht einmal. Er erscheint mir so arrogant. Ich glaube nicht, dass ich mich wieder in ihn verlieben kann.“ Lange schaute er mich an ohne etwas zu sagen. „Ja, ihr wart glücklich. Ihr hattet euch auch geliebt.“ „Aber warum magst du die anderen Beiden nicht?“ „Hast du das gemerkt?“, fragte er mich schmunzelnd. „Nicht zu übersehen“, lachte ich. „Wir vier waren beste Freunde. Wir waren eine eigene kleine Familie. Doch dann, nach deinem Unfall zerstritt ich mich mit

ihnen“, erklärte er mir. „Aber warum? Was hat das mit mir zu tun?“ Ich verstand es einfach nicht. „Weil ich dich liebte.“ Was? Das hatte er jetzt nicht wirklich gesagt, oder? Ungläubig starrte ich ihn an. „Und jetzt noch immer. Deswegen das mit dem Kuss.“ In meinem Bauch flogen die Schmetterlinge. Er hob seine Hand und strich mir über die Wange doch ich machte einen Schritt zurück. „Damon ich kann das nicht. Zuerst brauche ich meine Erinnerungen bevor ich mich verliebe.“ Wenn das nicht schon lange geschehen ist, setzte ich in meinen Gedanken noch hinten dran. Er nickte. „Ich gebe dir so viel Zeit du brauchst.“ „Danke.“ Doch wie von Geisterhand stellte ich mich auf die Zehenspitzen und küsste ihn sanft auf die Lippen. Es war bezaubernd. Seine Lippen

lösten einen angenehmen Schauer in mir aus. Aber da tauchten wieder Erinnerungen auf, weswegen ich mich

von ihm löste. Bei den Erinnerungen begann mein Kopf zu schmerzen. Deshalb hielt ich meine Augen zu, presste

die Hände an den Kopf und kniete mich an den Boden. Es war als ob ein Dinosaurier mir in den Kopf biss. Ich

sah wie Ian sich an einem Türrahmen anlehnte und Ivy küsste. Dieses Bild wollte einfach nicht mehr

verschwinden.

Jemand schüttelte mich und rief immer wieder meinen Namen. „Alexis. Alex, alles okay?“ Endlich hörten diese gottverdammten Kopfschmerzen aus. Vorsichtig öffnete ich meine Augen und nahm die Hände von meinem Kopf

weg. Vor mir kniete Damon und sah mich mitleidend an. „Alexis ist alles okay? Was ist passiert?“ „Es ist alles

bestens.“ „Nein das ist es nicht. Ich bringe dich jetzt wieder in den Zimmer.“ Er hob mich hoch und stütze mich

wieder an der Taille. „Wann war das?“, fragte ich ihn leise. „Was war wann?“ „Als ich sah, dass Ivy und Ian sich geküsst hatten?“ Damon riss geschockt die Augen auf. Ich war nicht traurig, dass sie sich geküsst hatten. Wenn

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ich mich an alles erinnert hätte vielleicht schon aber so nicht. Ich war nur enttäuscht. Enttäuscht von meiner

Mum, enttäuscht von Ivy, die sich meine beste Freundin nannte, enttäuscht von Ian, der sich mein Freund nannte

aber am aller meisten von Damon. Er sagte vorhin, dass er mich liebte aber er verschweigt es lieber und erzählt

mir nichts. Alle hatten es gewusst, sogar die Ärzte aber natürlich hofften alle, dass ich diese Erinnerung nicht

wiederkriege. Jetzt wo ich darüber nachdachte wurde ich richtig wütend auf Damon. Deshalb riss ich mich von

ihm los und rannte. Ich wollte nur noch in mein Zimmer gehen, mich auf das Bett schmeissen und mit den

Fäusten ins Kissen hämmern. „Alexis warte!“, schrie Damon mir hinterher. Durch ihn stoppte ich nicht aber durch

die wiederrückkehrenden Kopfschmerzen. Wegen diesen ging ich erneut zu Boden. Dieses Mal sah ich aber kein

Bild sondern einen Filmausschnitt.

Lachend lief ich eine Treppe nach oben. Doch dort sah ich wie Ian und Ivy sich im Türrahmen küssten. Tränen

sammelten sich in meinen Augen. Sofort drehte ich mich um und rannte das Treppenhaus wieder herunter.

Plötzlich stiess ich mit Damon, welcher unten auf mich wartete, zusammen. Er fragte was los sei und ich erklärte

ihm was ich gesehen hatte. Dann nahm er mich in seine Arme. In mir fing alles an zu kribbeln. Das Gefühl hatte

ich immer wie öfters. So konnte ich nicht anders als ihn zu küssen. Als wir uns wieder lösten realisierte ich erst

was ich tat und rannte davon. Als ich die Strasse überquerte sah ich nicht hin und rannte direkt in ein Auto hinein.

„Alexis.“ Die Stimme kannte ich. Doch sie gehörte nicht Damon sondern Amanda. „Was hat sie?“ Diese aufgebrachte Stimme gehörte Damon. „Ich schätze sie hatte nun eine grosse Erinnerung. Wie ist es dazu gekommen?“ „Sie hatte eine kurze Erinnerung, dann wurde sie traurig und wütend, deswegen rannte sie davon

und dann fiel sie zu Boden“, erklärte Damon. An seiner Stimme hörte man deutlich, dass er weinte. „Ich gebe ihr eine Beruhigungsspritze. Kannst du ihren Arm festhalten? Wenn sie so zittert verletze ich sie sonst noch.“ Nun griffen zwei starke Hände nach meinem Oberarm. Die bekannte Wärme und das ebenso bekannte Kribbelgefühl

stieg in mir auf. Sofort beruhigte ich mich wieder. „Ich glaube eine Spritzte benötigt sie nichtmehr. Du hast sie

schon beruhigt“, meinte Amanda. Man hörte deutlich dass sie schmunzelte. „Ich?“, fragte Damon verwundert. „Ja. Glaub mir auch wenn sie wütend auf dich war oder sonst was Ähnliches mag sie dich. Oder sogar mehr.“ „Meinen Sie?“ „Ja. Bevor Sie kamen wollte Alexis das hübscheste anziehen was sie besass. Sie wollte Ihnen

gefallen.“ Er lachte. Ach sein Lachen… es war einfach wunderbar.

Durch eine Hand, die vor meinem Gesicht umher wedelte wurde ich aus meinen Gedanken gerissen. „Ja, was

ist?“, fragte ich wenig einfallsreich. „Du starrst mich schon lange an und sagst kein Wort“ lachte Damon. „Ouuu.“

Am nächsten Tag kamen alle zu mir. Ian, Ivy, Damon und meine Mum. Ich hatte ihnen am Abend, nach dem ich

lange im Bett lag und über alles nachdachte, eine Nachricht geschrieben. Natürlich auf Amandas Handy. Ich

hatte ihr noch gesagt sie solle alle gleichzeitig in das Zimmer lassen. Nun sassen sie alle auf einem Stuhl vor

dem Krankenbett auf dem ich noch zwei Wochen schlafen musste. Irgendwie machten mir die vier Angst. Denn

sie starrten mich alle an und sagten kein Wort. „Okay. Also ich habe wenige Erinnerungen von meinem Leben wieder erhalten aber es sind genügende um zu wissen was passiert ist. Ich weiss dass ihr Beiden euch geküsst

habt, ich weiss dass ich das gesehen habe und dann hat mich Damon getröstet und in den Arm genommen. So

bekam ich wieder das Gefühl welches ich immer bei ihm hatte. Es kribbelte überall und alles fühlte sich so

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wunderbar an. Ich konnte einfach nicht anders und küsste ihn. Doch dann hatte ich keine Ahnung mehr und lief

davon. Auf der Strasse passte ich nicht richtig auf und deswegen kam ich unter das Auto. Ich fand es scheisse

von euch dass ihr mir nichts erzählt habt aber ich verstehe euch. Ihr wolltet mich nicht verletzen. Nun finde ich

aber dass ihr Beiden zusammen sein könnt und kein schlechtes Gewissen mehr haben müsst. Und du Damon.

Ich denke du weisst dass ich für dich mehr empfinde als wahre Freundschaft.“ Alle schauten mich ungläubig an.

Ich stand auf und umarmte alle. Zuerst Mum, dann Ivy und Ian. Vor Damon blieb ich stehen, da ich nicht wusste

was ich tun sollte. Er hatte mir zwar gesagt, dass er mich liebte aber trotzdem war ich unschlüssig. Zum Glück

nahm er die Entscheidung ab. Er stand auf, zog mich an den Hüften an sich und legte seine Lippen sanft auf

meine…

Ich glaube es war Schicksal mit dem Unfall. Es musste so kommen. Es war zwar eine aussergewöhnliche

Begegnung zwischen Leben und Tot aber trotzdem war es gut, dass alles so kam. Ich meine hätten sich Ian und

Ivy nicht geküsst hätte ich niemals zugegeben, dass ich Damon liebte.

Ich weiss nicht ob ich alle Erinnerungen an mein früheres Leben wieder erhalten werde aber meine Mum und

Damon werden mir dabei helfen. Ob ich mit Ivy und Ian wieder gut befreundet werde weiss ich auch nicht aber

ich hoffe es.

Dies war meine aussergewöhnliche Begegnung. Eine Begegnung zwischen Leben und Tot, zwischen Freund und

Feind, und zwischen Liebe und Hass. Macht eure eigenen aussergewöhnlichen Begegnungen, denn sie werden

vielleicht die besten Begegnungen in eurem Leben sein.

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Eine aussergewöhnliche Begegnung

Es ist eine feste Routine geworden, der Weg durch den Wald. Jeden Tag bezwinge ich ihn,

auch dem Weg zur Arbeit. Seit dem Sommer bin ich bei einer grossen Bank angestellt. Da

ich in einem Ort ohne Bahnhof wohne, muss ich täglich die Strecke zum grösseren

Nachbarsdorf zurücklegen. Um Zeit zu sparen, nehme ich anstatt der Strasse den besagten

Wald. Es ist ein furchteinflössender Wald, im Winter, wenn es morgens noch dunkel ist, sieht

man kaum etwas. Die tiefhängenden Äste der Bäume greifen von beiden Wegrändern nach

mir, als ob sie mich entzwei reissen wollen. Auch sehe ich immer wieder Fratzen in den

Bäumen. Wenn ich am Bahnhof angekommen bin, schließe ich verschwitzt mein Fahrrad ab

und besteige schnell den Zug. Nun kann ich mich beruhigen.

Es war aber nicht immer so. Früher spielte ich da immer mit meiner älteren Stiefschwester

Sandra. Sie war drei Jahre älter als ich. Mein Vater starb, als ich gerade 9 Monate alt war

und meine Mutter heiratete früh ein zweites Mal. Man sagt, dass ich nach meinem Vater

komme, denn ich bin eher eine ruhige Person. Früher bauten wir tagelang Hütten und

buddelten Löcher. Ich konnte mir keinen schöneren Ort vorstellen, ich fühlte mich sicher,

sicher wie nirgends sonst auf der Welt. Als ich älter wurde, verbrachte ich immer weniger

Zeit in diesem Wald. Eines der letzten Male, die ich im Wald verbracht hatte, fand ich zufällig

ein olivgrünes Zelt, einen Gaskocher, einen Schlafsack und das Besteck überall verstreut.

Zuerst dachte ich mir nichts dabei, doch je länger ich an diesen Fund dachte, desto

merkwürdiger erschien mir dies. Seither meide ich den Wald.

In diesem menschenleeren Wald geschah es, das was mir immer noch die Kehle zuschnürt,

wenn ich daran denke. Es scheint so nah, aber auch so fern, was damals geschah.

Das Ganze geschah vor etwa 3 Jahren, ich war noch am Anfang meiner kaufmännischen

Lehre. Meine 2 Jahre ältere Stiefschwester arbeitete als Datailhandelsfachfrau in der selben

Stadt wie ich.

Eines besonders trüben und nebligen Tages, man sah keinen Meter weit, musste meine

Schwester schon vor mir das Haus verlassen, es war kurz vor Weihnachten und

Hochbetrieb im Geschäft, in welchem sie arbeitete. Es war schlimm, alleine durch den Wald

zu gehen, weit in den dunklen Tannen konnte man noch verschwommene Konturen einer

unserer Laubhütten sehen. Alles war so anders an diesem Tag, irgendetwas verunsicherte

mich am Weg, ich wusste aber nicht, was es war. Es knackte und raschelte überall, ich fühlte

mich beobachtet. Noch schneller als sonst radelte ich zum Bahnhof. Den ganzen Tag hatte

ich ein sehr ungutes Gefühl.

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Abends, als ich nach diesem anstrengenden Arbeitstag auf dem Bahnsteig mein Handy

checkte, fand ich seit 16:30 Uhr 14 verpasste Anrufe meiner Mutter vor. Mehrmals versuchte

ich zurück zu rufen, doch es kam immer nur die Mailbox. Es breitete sich ein mulmiges

Gefühl aus, meine Mutter war eigentlich immer erreichbar. Zuhause fand ich meine Mama

zusammengesunken mit, vom Heulen rot angeschwollenene Augen, auf der Couch. Meine

Schwester sei den ganzen Tag nicht aufgetaucht, sie wollte schon die Polizei rufen. Ich

versuchte sie zu besänftigen, sie seie bestimmt bei ihrer Kollegin und ihr Handy hätte

wahrscheinlich keinen Akku. Ganz wohl war mir bei diesen Aussagen nicht, mein schlechtes

Gefühl verstärkte sich immer mehr. Zusammen suchten wir jeden Winkel in der

Nachbarschaft ab und telefonierten mit all unseren Bekannten. Nach vier Stunden ging ich

ins Bett. In der Nacht träumte ich einen schrecklichen Albtraum nach dem Anderen.

Ich sah Sandra, wie sie entführt und schliesslich umgebracht wurde. Mit einem lauten Schrei

wachte ich schweissgebadet auf. Aus Angst, dass die schrecklichen Dinge der Realität

entsprachen, suchte ich das ganze Haus ab, aber Sandra war nirgends.

Am nächsten Morgen prüfte ich nochmals das ganze Haus, aber Sandra war eindeutig Weg.

Unfähig zu arbeiten, meldete ich mich bei meinem Chef für 2 Tage ab. Meine Mutter war ein

Anblick des Schreckens, dunkle Ringe bildeten sich um ihre Augen, und ihre Haut war blass.

Sie sprach von den wildesten Mordmöglichkeiten, wie meine Schwester gefesselt in einem

Bunker ohne Lebensmittel gefangen wurde. Diese Worte lösten bei mir schliesslich auch

Angstzustände aus, wir beschlossen, wenn sie bis 16:00 kein Lebenszeichen abgab riefen

wir die Polizei. Wir versuchten immer wieder meine Schwester auf dem Handy zu , aber alle

Versuche blieben erfolglos. Die Nachbarn fragten nach und nahmen die Suche wieder auf.

Als wir um 16 Uhr noch nichts hörten, verständigten wir voller Sorge die Polizei. Der

Inspektor zeigte nicht viel Interesse, wir störten ihn schliesslich kurz vor seinem Feierabend.

Trotz einigem Zögern, beschloss er, nach einigem Betteln meiner Mutter, noch schnell aufs

Land zu fahren. Der Beamte wirkte abwesend und notierte sich nur den Steckbrief, mit

knappen Worten verabschiedete er sich. Man sah ihm an, dass er uns nicht wirklich ernst

nahm.

Die nächsten vier Tage verbrachten meine Mutter und ich im Auto, um Sandra zu suchen.

Wir lebten fast im Auto, tranke und aßen Pizza im Auto. Als wir zu wiederholten Mal zum

Wald fuhren, brach meine Mutter plötzlich am Steuer zusammen und wir fuhren in den

Weggraben. Meine Mutter schlug mit dem Kopf auf das Steuer, es machte den Anschein

dass sie bewusstlos war. Ich rannte etwa eine halbe Stunde durch den dunklen Wald.

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Schweissgebadet sah ich von Weitem die Lichter in unserem Dorf. Ich war bald da. Plötzlich

rutschte ich auf dem sumpfigen Boden aus, schlug mit dem Kopf auf und war bewusstlos.

Irgendjemand musste uns beide gefunden haben, denn wir wachten im Spital auf. Ich hatte

sehr starke Kopfschmerzen und mein Bein tat höllisch weh. Meine Mutter musste an der

Schulter operiert werden, sie erlitt ein Schleudertrauma. Als sie aufwachte, sorgte sie sich

schon wieder um meine Schwester. Die Ärzte erzählten uns, dass wir zwei lange Tage im

Wald lagen, bis uns ein zufällig Vorbeikommender fand. Einen Tag länger und wir wären

gestorben. Einige Tage später durften wir nach Hause , und der Polizeibeamte kam

abermals. Von Sandra war immer noch kein Lebenszeichen ausgegangen. Die Polizei

suchte die ganze Gegend ab, befragten alle Nachbarn und hängte Suchplakate auf. Die

Ortszeitung informierte die Bevölkerung.

Langsam zweifelte ich daran, dass die Polizei überhaupt irgendendwann Erfolg bei der

Ausfindung Sandras hatte. Auch nach einer erneuten grossen Suchaktion im Umkreis von 20

Kilometern gab es keine brauchbare Fortschritte.

Nun wollte ich nicht mehr länger untätig sein und ich beschloss, meine Schwester auf

eigene zu suchen. An einem besonders nebligem und dunklem Tag wagte ich mich mit einer

Taschenlampe in den Wald. Von überall kamen geisterhafte Geräusche, es war sehr

furchteinflössend.

Ein kalter Schauer überkam mich, ich erkannte unsere zerfallenen Hütten und die Brücken,

die wir an schönen Sommertagen gebaut hatten. Ich nährte mich unserem Versteck.

Plötzlich sah ich im Nebel etwas was ih nicht deuten konnte. Vorsichtig machte ich einige

Schritte darauf zu. Was ich dann erblickte liess mir das Blut in den Adern gefrieren, mein

Herz schien stehen zu bleiben. Vor mir war Sandra, mit weit aufgerissenen Augen ihre Kehle

war durchgeschnitten, das Blut lief ihren Körper runter. Ihre Extrmitäten waren verstümmelt,

es ging ein starker Verwesungsgeruch von ihr aus. Ich war ratlos, was ich nun Unternehmen

sollte.Ich fühlte mich elend, ich konnte nicht mehr richtig denken, es wurde mir übel und ich

übergab mich im Gebüsch und begann leise, mit der Zeit immer lauter zu schluchzen.

Sandra war tot! Sie war nicht mehr lebendig, und würde es auch niemals mehr sein. Ich

bekam Angst und begann am ganzen Körper zu zittern. Schnell stand ich auf und rannte los.

Wohin sollte ich? Zu meiner Mutter? Zur Polizei? In meinem Kopf drehte sich alles, ich

konnte keinen klaren Gedanken erfassen, ich rannte so schnell wie ich konnte, die Tränen

durchnässten mein Oberteil. Jedes Geräusch kam mir unheimlich vor. Sandra wurde

ermordet, ich konnte es immer noch nicht glauben.. Nach zehn Minuten erreichte ich atemlos

das Dorf, die Lichter schienen schwach durch den Nebel.

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Ich erreichte das Haus und erzähle alles meiner Mutter. Dieser wiederum verständigte die

Polizei. Sofort wurden die Ermittlungen aufgenommen.

Ich musste jedoch etwas tun, mein Gefühl brachte mich zu Sandra, sie brauchte mich.

Schnell packte ich ihre Lieblingsdecke ein und holte mein Fahrrad aus dem Schuppen.

Sandra lag immer noch da, ich liess das Fahrrad achtlos am Wegrand ging langsam zu

Sandra. Ich kniete mich neben sie und deckte Sandra liebevoll zu. Ihr Körper fühlte sich ganz

kalt an. Ich wartete an ihrer Seite auf die Polzei. Ich konnte keinen einzigen klaren

Gedanken fassen.

Diese unheimliche Begegnung hat mein Leben für immer verändert. Ich frage mich oft, wo

Sandra nun wäre oder was sie machen würde, würde sie noch leben.

Ist sie im Himmel? Oder im Niemandsland? Schaut sie auf uns herunter? Lauter solche

Fragen geisternin meinem Kopf herum. Lange Zeit war ich nicht ansprechbar und verschloss

mich komplett. Ich funktionierte nur noch. Ich mochte nicht reden, fühlte absolut nichts. Ich

war wie gelähmt und meine Umwelt nahm ich wie durch einen Schleier wahr. Ich ass und

trank kaum mehr. Meine Mutter versank immer mehr in Depressionen und verfiel nach und

nach dem Alkohol. Wir beide sprachen kaum mehr miteinander. Mein Stiefvater zog aus.

Nach zwei Jahren unterzog sich meine Mutter einer Entwöhnungskur. Sie war ein halbes

Jahr weg. Noch heute geht es mir nicht gut, es geht mir aber schon besser. Ich freue mich

auf die Zukunft. Ich werde einen neuen Job in einer nahegelegenen Kleinstadt annehmen

und dort von vorne anfangen. Ich habe eine kleine Dreizimmerwohnung am Waldrand

gefunden.

Inzwischen kann ich Sandras Tod verkraften und wenn ich heute ich ihr Grab auf dem

örtlichen Friedhof besuche, lege ich immer einen Tannenzweig aus dem Wald auf ihr Grab.

Dann fühle ich mich wieder so sicher, wie damals, wenn wir im Wald spielten. Ich schließe

für einen Moment die Augen und sehe Sandra vor mir. Ich sehe ihr Lachen, ihre Haarfarbe,

ihr verwaschenes, buntes Sommerkleid. Sie dreht sich und schwingt ihren Rock. Sie lacht

laut. Diese Erinnerungen weichen immer mehr den schrecklichen Erinnerungen im Wald. Ich

atme tief durch und spüre die frische Luft. Nach dem Besuch auf dem Friedhof schaue ich

noch kurz bei meiner Mutter vorbei und bringe ihr einen kleinen Blumenstrauß vorbei. Wir

verstehen uns besser, aber über Sandra sprechen wir nicht mehr. Es gibt nichts mehr dazu

zu sagen.

Sandras Mörder wurde bis heute nie gefunden, es gibt zu viele offene Fragen. Vor 2 Jahren

stellte die Polizei die Ermittlungen ein. Ich habe die Suche nach einer Spur aufgegeben.

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Obwohl meine Zukunft gut aussieht und voller Leben sind, zerfressen mich die Gedanken an

den Mord meiner Schwester immer noch fast auf.