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Lydia Maria Arantes, Elisa Rieger (Hg.)Ethnographien der Sinne

Edition Kulturwissenschaft | Band 45

Lydia Maria Arantes, Elisa Rieger (Hg.)

Ethnographien der SinneWahrnehmung und Methode

in empirisch-kulturwissenschaftlichen Forschungen

Gedruckt mit freundlicher Unterstützungder Karl-Franzens-Universität Graz,des Dekanats der Geisteswissenschaftlichen Fakultät,des Referats für Wissenschaft und Forschung des Landes Steiermarkund des Kulturamts der Stadt Graz.

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Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, BielefeldUmschlagabbildung: Mauricio Ricardo Arantes, Graz, 2013

© Mauricio Ricardo ArantesDruck: Majuskel Medienproduktion GmbH, WetzlarPrint-ISBN 978-3-8376-2755-8PDF-ISBN 978-3-8394-2755-2

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Inhalt

Danksagung | 9

Vorwort Katharina Eisch-Angus | 11

Einleitung Lydia Maria Arantes und Elisa Rieger | 13

THEORETISCHE PERSPEKTIVEN | METHODISCHE ANSÄTZE

Kulturanthropologie und Wahrnehmung Zur Sinnlichkeit in Feld und Forschung Lydia Maria Arantes | 23 Mediatisierte Sinne und die Eigensinnigkeit der Medien Für eine medientheoretische Sensibilisierung der sinnlichen Ethnographie Judith Willkomm | 39 »Sound Culture«, »Acoustemology« oder »Klanganthropologie«? Sinnliche Ethnographie und Sound Studies Fritz Schlüter | 57 Ess-Setting als Versammlungen der Sinne Zum Problem der Greifbarkeit sinnlicher Wahrnehmung Inga Reimers | 75

APPRENTICESHIP | ZUR SCHULUNG DER SINNE

Framing and educating attention A sensory apprenticeship in the context of domestic energy research Kerstin Leder Mackley and Sarah Pink | 93

Living fieldwork – Feeling hostess Leibliche Wahrnehmung als Erkenntnisinstrument Tanja Angela Kubes | 111 Das ›erlernte‹ Tasten der Lakandon Maya Zur Erfassung der Tortillazubereitung durch das Konzept skilled touch Petra Panenka | 127 Die Reise ins Knie Zum ethnographischen Umgang mit Grenzphänomenen im Kontext heterodoxer Heilweisen Mirko Uhlig | 143

›FAKTEN‹ SPÜREN | SINNLICHE WAHRNEHMUNG UND GESCHICHTE

Von Sinn und Sinnlichkeit des Richtens Ein historischer Blick auf Konzepte juristischer Urteilsfindung Mitte des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts Sandra Schnädelbach | 161 Sinnliche Ethnographien an Tatorten Überlegungen zur Ausstellungsanalyse in Gedenkstätten an historischen Orten nationalsozialistischer Verbrechen Sarah Kleinmann | 179 Himmlische Düfte – Höllischer Gestank Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Sinne am Beispiel des foetor judaicus im frühneuzeitlichen Spanien Julia Gebke | 195 Doing sense with the senses Knowledge circulation on themed walks and their ethnography Sarah Willner | 213

RÄUME | SINNE | ATMOSPHÄREN

Acid House als Grenze des praxeologischen Kulturverständnisses Zum Realismus der sensuellen Ethnographie Jochen Bonz | 233 Emotionen/Körper/Sinne und der Fußballraum Methodische Zugänge zu einer Fenerbahçe-Kneipe in Wien Nina Szogs | 251 New York City ›Die Stadt spüren‹ als Zugang zum Feld Simone Egger | 269 Sustaining a dynamic pause Serendipitous knowledge of an ensounded body Polina Tšerkassova | 287 (T)Raumerfahrungen des Körpers Von Aktionsräumen und machtvollem Zeigen Elisa Rieger | 301

Autorinnen und Autoren | 317

Danksagung

Wir bedanken uns an dieser Stelle ganz besonders bei allen Unterstützer_innen dieses Sammelbandes, ohne die eine Annäherung an Ethnographien der Sinne nicht möglich gewesen wäre. Zu Beginn steht Stephanie Tomschitz (Graz), welche die 8. Doktorand_innen-Tagung der Deutschen Gesellschaft für Volks-kunde (dgv) erstmals nach Graz holte. Das Thema Sinnliche Ethnographien. Für eine Reflexion der Rolle sinnlicher Wahrnehmung in kulturanthropologischen Forschungen war unter den vier Nachwuchswissenschaftler_innen (Lydia Maria Arantes, Johanna Stadlbauer, Elisa Rieger und Stephanie Tomschitz) bald fest-gelegt, welche die Tagung im Mai 2013 am Institut für Volkskunde und Kulturanthropologie der Universität Graz gemeinsam organisierten und ver-anstalteten. Wir bedanken uns an dieser Stelle einerseits für die großzügige universitäre Unterstützung durch Räumlichkeiten, Sachmittel, technischen und administrativen Beistand sowie die Bereitstellung von Fördergeldern, damit wir diese Tagung ausrichten konnten. Andererseits gilt auch ein großer Dank den Vortragenden, die sich von diesem Thema sichtlich angesprochen fühlten, und dem interessierten Publikum, welche uns eine spannende und erkenntnisreiche Tagung bescherten.

Darüber hinaus ermöglichte uns die Leitung eines Panels zum Thema Sensory knowledge and its circulation beim 11. SIEF-Kongress im Juni/Juli 2013 in Tartu, Estland (SIEF – International Society for Ethnology and Folklore) nicht nur eine Diskussion auf internationaler Ebene, sondern legte letzten Endes auch die Idee eines Sammelbandes nahe. Den hier vertretenen Panel-teil_nehmer_innen sei besonders gedankt, da sie den Band um die Dimension der Interdependenz von Wissen und Sinnen erweitern. Für das englischsprachige Lektorat danken wir an dieser Stelle Antonia Barboric.

Ohne die großzügige finanzielle Unterstützung der Universität Graz seitens des Forschungsmanagements und -service und seitens des Dekanats der geistes-

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wissenschaftlichen Fakultät sowie der Abteilung 8 Wissenschaft und Gesundheit des Landes Steiermark und des Kulturamts der Stadt Graz hätten diese Über-legungen jedoch keine dokumentierte und als Buch verdichtete Form gefunden. Wir danken deshalb den Fördergeber_innen ganz besonders für ihre Unter-stützung der wissenschaftlichen (Nachwuchs)Forscher_innen, die dadurch die Möglichkeit erhalten, an der internationalen Fachdiskussion sowohl teil zu haben, als dazu auch einen zusätzlichen Beitrag leisten zu können.

Graz, im August 2014 Die Herausgeberinnen

Vorwort

KATHARINA EISCH-ANGUS

Die Vorstellung einer Forschung mit allen Sinnen fasziniert. Wir können unsere alltäglichen wissenschaftlichen Gegenstände sehen, hören, und durchaus auch schmecken, riechen, fühlen. Nur, was tun mit diesen Wahrnehmungsdaten? Wie sollen wir aus dem Gefängnis der eigenen Sinnlichkeit hinaus – und zum wis-senschaftlichen Verstehen von Alltagskultur kommen? Als einer der ersten im Fach hat sich Utz Jeggle mit den Sinnen, mit Körper, Subjektivität und feldfor-schender Sensibilität auseinandergesetzt – und mit der Problematik ihrer wissen-schaftlichen Reflexion: »Jede wissenschaftliche Arbeit zertrennt und zerteilt, legt untergründige Adern, Verbindungen bloß. Aber auch wenn sie nicht ausschlach-tet, steht sie doch stets in Gefahr, das auseinandergenommene Objekt nicht mehr zusammensetzen zu können [...].«1

Als Volkskundler und Ethnograph vertraute Jeggle dem Konkreten und Ge-genständlichen. In Der Kopf des Körpers suchte er daher die Lösung im Kopf als dem Ort, wo vier von fünf Sinnen lokalisiert sind und wo zugleich Wahrneh-mungen in Sinn und Sprache übersetzt werden. So koppelte er die Sinne empirisch-körperlich an den Sinn, dem er mit wissenschaftlicher Akribie im Er-leben, Erzählen und Erinnern des Alltags nachspürte.

In der Reflexivität sinnengeleiteter Forschung sah Utz Jeggle ein methodi-sches und erkenntnistheoretisches Anliegen, das die Ethnographie mit der Psychoanalyse teilt. Beide wissen, dass die sinnliche Wahrnehmung im wissen-schaftlichen Sezieren verloren geht, aber auch, dass es keine individuelle, ›authentische‹ Sinneswahrnehmung gibt, die nicht je schon kulturell und all-tagsweltlich sinnbesetzt ist. Drittens haben sich beide Wissenschaften die sinnliche Wahrnehmung als methodisches Sensorium erschlossen: Analog zur

1 Jeggle, Kopf des Körpers, 12.

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Psychoanalyse nutzt auch die ethnographische Methodik die ›freischwebende Aufmerksamkeit‹, um über Sachdaten hinaus die sinnliche Wahrnehmung dafür zu öffnen, was im Forschungsfeld an Gefühlsmomenten, Assozationen und Irri-tationen mitschwingt. Die Kultur kann – und das tut sie unentwegt – Machtstrukturen tabuisieren, sie unbewusst und unaussprechbar machen, den-noch aber bleiben sie sinnlich eingekörpert und der subjektiven Wahrnehmung der Forschenden zugänglich.

Hier schlägt die Freudsche Psychoanalyse das ›Zuhören mit dem dritten Ohr‹ vor, das insofern reflexiv ist, als sich der Analytiker, der auch eine Ethnographin sein kann, zugleich als interagierende Alltagsperson und Gesprächspartnerin wahrnimmt. Ethnographie braucht die wahrnehmende Einlassung auf die Per-spektive des Anderen ebenso wie die Sensibilität für deren Widerhall im Eigenen, die in einem dritten Schritt (selbst-)reflexiv gedeutet werden. In dieser dialogischen Forschungsbewegung wird das wissenschaftlich Zerlegte zu neuen, verstehenden Zusammenhängen zusammengesetzt, indem sich die Sinne mit kul-turellem Sinn verbinden – oder besser: mit der Vielfalt und Vieldeutigkeit kultureller Sinngebung, wie sie sich in der Forschungssituation erschließt.

Entsprechend werden die sinnlichen Eindrücke einer Forschungsszene inner-halb der assoziativen Kontexte von Bildern, Gesprächen, Erzählungen und Erinnerungen sinntragend. Die Sinne sind blind ohne die Wegweisungen des kollektiven Gedächtnisses, sie sind stumm ohne das Erzählen, taub ohne die Er-fahrung, die materielle Wahrnehmungen zu Alltagspraxen formt. Über das sinnlich-reflexive Deuten spiegelt sich gesellschaftlicher Wandel im alltäglichen Sinneswandel, und erhält auch die Sinnestäuschung, die Imagination, ihren kul-turellen Raum. Mit Karl Valentin darf die interaktive Reflexion alltäglicher Sinnenvielfalt dann durchaus einmal »ganz saudumm« ausgehen:

»Anni: Was is denn nacha ganz saudumm? – Simmerl: Ganz saudumm wär zum Beispiel

des, wenn i zu dir gsagt hätt: ›Anni, halt dir amal d’Ohrn zua, dann schau i, ob i di riach.‹

– Anni: So, des is ganz saudumm? – Simmerl: Ja, des is ganz saudumm.«2

LITERATUR

Jeggle, Utz (1986): Der Kopf des Körpers. Eine volkskundliche Anatomie, Weinheim, Berlin: Quadriga.

Valentin, Karl (1985): Gesammelte Werke in einem Band, München: Piper.

2 Valentin, Gesammelte Werke, 190.

Einleitung

LYDIA MARIA ARANTES UND ELISA RIEGER

Sinnliche Wahrnehmung ist im lebensweltlichen Alltag sowie im Prozess der ethnographischen Forschung eine Selbstverständlichkeit. Gerade diese Selbst-verständlichkeit hat jedoch zur Folge, dass Wahrnehmung und leibliche Erfahrung nur schwer einer kritischen Reflexion zugänglich gemacht werden können. Das, was wir und andere wahrnehmen, zu verstehen und in Worte zu fassen, scheint geradezu ein Ding der Unmöglichkeit. Dabei beklagen sich manche nicht nur darüber, dass in gewissen Bereichen die Sprache fehle, um das Wahrgenommene zu bezeichnen und sprachlich vermittelbar zu machen.1 Darüber hinaus scheint auch die (vermeintliche) Subjektivität von Wahrneh-mung2 im wissenschaftlichen Kontext gerne neu diskutiert zu werden. Es verwundert deshalb nicht, dass gerade die Auseinandersetzung mit sinnlicher Wahrnehmung in den empirischen Kulturwissenschaften3 nicht nur von der steten Forderung nach einer (Selbst-)Reflexivität der Forscher_innen begleitet wird, sondern auch mediengestützte und kollaborative4 methodische Zugänge

1 Auf die Schwierigkeit konkreter sprachlicher Erfassung von sinnlicher Wahrnehmung

verweist z.B. Inga Reimers in ihrem Beitrag.

2 Der Verweis auf eine ›vermeintliche‹ Subjektivität rührt daher, dass der Philosoph

Lambert Wiesing von einem Öffentlichkeitscharakter von Wahrnehmung ausgeht.

Vgl. hierzu Wiesing, Das Mich der Wahrnehmung.

3 Die im deutschsprachigen Raum geläufigen Fachbezeichnungen Europäische

Ethnologie/empirische Kulturwissenschaft/Volkskunde/Kulturanthropologie werden

in diesem Band durchwegs synonym verwendet.

4 Siehe hierzu auch Leder Mackley/Pink in diesem Band.

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einen Aufschwung erfahren, erhofft man sich durch diese doch ein größeres Maß an Vergleichbarkeit und Intersubjektivität.5

Wahrnehmung und leibliche Erfahrung sind nicht nur aus den oben ge-nannten Gründen eine Herausforderung für empirisch-kulturwissenschaftliche Fragestellungen und Forschungsansätze. Der Körper_Leib6 ist auch, und dies gar nicht selten in seiner Wahrnehmung und Beschreibung von Abspaltungen und Einverleibungen begleitet, welche einmal ein spezifisches Organ, dann wieder die ganze Atmosphäre des Phänomens favorisieren. Diese z.T. höchst politische Motivation, den Körper_Leib zu erfassen, verweist auf humane Selektions-mechanismen, welche die Eigen-Erfahrung und Eigen-Bewegung des Körpers nur zu gern ausblenden. Im Zuge historischer Beschäftigungen mit Körperkon-zepten führt jedoch kaum ein Weg an der kollektiven praktischen Vernunft vorbei, die Verweise auf den viel zitierten cartesianischen Dualismus oder auf den l’homme machine nahe legen, und damit das Ordnungsproblem7 des Kör-per_Leibs, der immer wieder unwillkürliche Handlungen setzt, demonstrieren.

Das Phänomen – Körper_Leib – welche Namen es auch findet, bleibt Faszino-sum und durchdringt vielleicht gerade deshalb als solches immer wieder wissenschaftliche Reden, gestaltet Forschungsvorhaben, begründet theoretische und in der Folge methodische Konzepte. Gegenwärtig, sei es als Reaktion auf die Betonung der textuellen Repräsentationsformen empirischer Kulturwissen-schaften, sei es als Antwort auf turns, wie den cognitive turn oder den (neuro)biological turn8, rücken Wahrnehmungsmodalitäten, insbesondere jedoch die Sinne (wieder) in den Vordergrund empirisch-kulturwissenschaftlicher Forschungen.9 Immer mehr (Nachwuchs-)Forscher_innen versuchen sich daran, das sinnlich-leibliche Eingebunden-Sein in die alltägliche Lebenswelt einerseits sowie in Feldforschungsprozesse und -dynamiken andererseits nicht nur zu reflektieren, sondern auch epistemologisch fruchtbar zu machen. Im vorliegen-

5 Siehe hierzu z.B. Pink, Sensory Ethnography, 49–58.

6 Mit dieser Schreibweise versuchen wir, historisch erwachsene Schreibungen zu ver-

meiden, um eine dritte Dimension mit einzubeziehen – nämlich eine dynamische

Lücke, welche nicht nur verbindet, sondern auch dem Dazwischen der Konzepte und

der Übergänge von einem ins andere Raum gibt.

7 Vgl. hierzu List, Ethik des Lebendigen.

8 Vgl. Bachmann-Medick, Cultural Turns, 381f.

9 Vgl. beispielsweise Chakkalakal, Lebendige Anschaulichkeit, in der Zeitschrift für

Volkskunde 2014 oder das Thema des 40. dgv-Kongresses: Kulturen der Sinne.

Zugänge zur Sensualität der sozialen Welt, 22.–25. Juli 2015, Zürich.