Lyrik und Narratologie Volume 78 (Text-Analysen zu deutschsprachigen Gedichten vom 16. bis zum 20....

14
PETER HÜHN Paul Celan: „Es war Erde in ihnen" (i) (II) (III) (IV) (V) Es war Erde in ihnen, und sie gruben. Sie gruben und gruben, so ging ihr Tag dahin, ihre Nacht. Und sie lobten nicht Gott, 5 der, so hörten sie, alles dies wollte, der, so hörten sie, alles dies wußte. Sie gruben und hörten nichts mehr; sie wurden nicht weise, erfanden kein Lied, erdachten sich keinerlei Sprache. 10 Sie gruben. Es kam eine Stille, es kam auch ein Sturm, es kamen die Meere alle. Ich grabe, du gräbst, und es gräbt auch der Wurm, und das Singende dort sagt: Sie graben. 15 Ο einer, ο keiner, ο niemand, ο du: Wohin gings, da's nirgendhin ging? Ο du gräbst und ich grab, und ich grab mich dir zu, und am Finger erwacht uns der Ring. Paul Celan: Gesammelte Werke, Bd. 1: Gedichte I, hg. von Beda Allemann und Stefan Reichert. Frankfurt a.M. 1983, S. 211. „Es war Erde in ihnen", das erste Gedicht des Bandes Die Niemandsrose (1963), dient der einleitenden Präsentation der zentralen Themen dieser Sammlung, der Präsentation nämlich sowohl des fundamentalen Zweifels an der Existenz Gottes als Folge der jüdischen Erfahrung der Shoah als auch des Zweifels an der Möglichkeit, in sprachlicher Repräsentation, insbesondere in der Sprache der Dichtung, einen solchen Erfahrungszu- sammenhang angemessen zu erfassen. 1 Diese Thematik und ihr innerer Diese Themenkomplexe - wenn auch in unterschiedlicher Relationierung und vari- ierender Gewichtung - liegen den meisten interpretatorischen Ausführungen zu „Es war Erde in ihnen" (und dem Gedichtband) zugrunde. Siehe die Literaturhinweise in Anm. 9. Brought to you by | Monash University Library Authenticated | 130.194.20.173 Download Date | 10/20/12 6:49 PM

Transcript of Lyrik und Narratologie Volume 78 (Text-Analysen zu deutschsprachigen Gedichten vom 16. bis zum 20....

Page 1: Lyrik und Narratologie Volume 78 (Text-Analysen zu deutschsprachigen Gedichten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert) || Paul Celan: „Es war Erde in ihnen“

P E T E R H Ü H N

Paul Celan: „Es war Erde in ihnen"

(i)

(II)

(III)

(IV)

(V)

Es war Erde in ihnen, und sie gruben.

Sie gruben und gruben, so ging ihr Tag dahin, ihre Nacht. Und sie lobten nicht Gott,

5 der, so hörten sie, alles dies wollte, der, so hörten sie, alles dies wußte.

Sie gruben und hörten nichts mehr; sie wurden nicht weise, erfanden kein Lied, erdachten sich keinerlei Sprache.

10 Sie gruben.

Es kam eine Stille, es kam auch ein Sturm, es kamen die Meere alle. Ich grabe, du gräbst, und es gräbt auch der Wurm, und das Singende dort sagt: Sie graben.

15 Ο einer, ο keiner, ο niemand, ο du: Wohin gings, da's nirgendhin ging? Ο du gräbst und ich grab, und ich grab mich dir zu, und am Finger erwacht uns der Ring.

Paul Celan: Gesammelte Werke, Bd. 1: Gedichte I, hg. von Beda Allemann und Stefan Reichert. Frankfurt a.M. 1983, S. 211.

„Es war Erde in ihnen", das erste Gedicht des Bandes Die Niemandsrose (1963), dient der einleitenden Präsentation der zentralen Themen dieser Sammlung, der Präsentation nämlich sowohl des fundamentalen Zweifels an der Existenz Gottes als Folge der jüdischen Erfahrung der Shoah als auch des Zweifels an der Möglichkeit, in sprachlicher Repräsentation, insbesondere in der Sprache der Dichtung, einen solchen Erfahrungszu-sammenhang angemessen zu erfassen.1 Diese Thematik und ihr innerer

Diese Themenkomplexe - wenn auch in unterschiedlicher Relationierung und vari-ierender Gewichtung - liegen den meisten interpretatorischen Ausführungen zu „Es war Erde in ihnen" (und dem Gedichtband) zugrunde. Siehe die Literaturhinweise in Anm. 9.

Brought to you by | Monash University LibraryAuthenticated | 130.194.20.173

Download Date | 10/20/12 6:49 PM

Page 2: Lyrik und Narratologie Volume 78 (Text-Analysen zu deutschsprachigen Gedichten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert) || Paul Celan: „Es war Erde in ihnen“

282 Peter Hühn

Zusammenhang bestimmen ebenfalls für das hier zu erörternde Gedicht -wie weiter unten im Einzelnen dargelegt - als thematischer Rahmen (Frame) die Darbietung des Geschehens, das sich bildlich konkret als Vorgang des Grabens in der Erde vollzieht. Die Beziehbarkeit des bild-lich Ausgesagten auf die thematischen Dimensionen wird vor allem durch die Konnotationen und (intertextuellen) Anspielungen der Worte und Bilder sowie die direkten Aussagen2 signalisiert, mit denen der Sprecher das Geschehen jeweils vermittelt. Damit wird dem konkreten Geschehen in seiner Sequentialität ein komplexer Zusammenhang zugeordnet sowie zusätzlicher Sinn zugeschrieben und die diesem Gedicht eigene Geschich-te konstituiert. Da derartige Sinn-Zuschreibungen, die sich auf Kontextre-lationen, Konnotationen und Anspielungen stützen, in „Es war Erde in ih-nen" (wie generell bei Celan) von großer Subtilität und Multivalenz sind und deswegen kontrovers rezipiert werden, konzentriert und beschränkt sich die folgende Analyse der Sequentialität des Gedichtes in einem ersten Schritt zunächst weitestgehend auf die Ebene der konkreten Bilder (vor allem des Grabens),3 arbeitet die zugrundeliegende abstrakte Ablauf-struktur also in den wörtlich-konkreten semantischen Einheiten der Tex-toberfläche heraus, um daraufhin in einem zweiten Schritt mögliche wei-tere Bedeutungsdimensionen für diesen Ablauf und seine Protagonisten zu erörtern.

1. Die Sequenzstruktur auf der Ebene der Bilder

Der Sprecher präsentiert nacheinander zwei Sequenzen, die sich in Bezug auf den Verlauf des Geschehens sowie hinsichtlich des Grads seiner eigenen Beteiligung und seiner zeitlichen Relation zu diesem (also durch die Pronomina und das Tempus) klar voneinander unterscheiden, aber in der beschriebenen Tätigkeit - des Grabens - einander ähneln, so dass sich die Frage nach ihrer wechselseitigen Beziehung und Verknüpfung er-gibt. Sequenz Α erstreckt sich von Vers 1 bis 12 (schließt also die Über-schrift ein, die zugleich einen Teil der ersten Zeile bildet), Sequenz Β um-fasst die Verse 13 bis 18. Während der Sprecher in Sequenz Α das Ge-schehen im Präteritum erzählt und sich in Negationen von möglicher-

2 Zur Unterscheidung zwischen tropischen und wörtlichen Aussagen vgl. Poppenhusen (2001), S. 131-145.

3 Vgl. zum Folgenden Szondi (1980), der sich (in den Mitschriften eines Seminars) in seltener sprachlich-sachlicher Detailgenauigkeit auf die syntaktischen, lexikalischen und phonetischen Phänomene des Textes konzentriert (S. 136-147).

Brought to you by | Monash University LibraryAuthenticated | 130.194.20.173

Download Date | 10/20/12 6:49 PM

Page 3: Lyrik und Narratologie Volume 78 (Text-Analysen zu deutschsprachigen Gedichten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert) || Paul Celan: „Es war Erde in ihnen“

Celan: „Es war Erde in ihnen" 283

weise zu Erwartendem (wie „sie lobten nicht Gott", „wurden nicht weise", „erfanden kein Lied") auf „sie", eine nicht weiter spezifizierte Gruppe von Menschen (der er selbst nicht angehört) als den kollektiven Protagonisten bezieht, tritt er in Sequenz Β persönlich als Individuum her-vor („ich"), redet ein weiteres - herausgehobenes - Individuum („du") an und nennt noch ein anderes (allerdings nicht-menschliches) Einzelwesen (den „Wurm" - V.13) als Protagonisten und präsentiert dieselbe Aktivität des Grabens im Präsens (zum Teil als Aussage dem „Singenden" [V.14] zugeschrieben). Auch hier ist somit von einer Mehrzahl der Grabenden die Rede, mit dem Unterschied jedoch, dass die Gruppe in Individuen dif-ferenziert ist und der Sprecher ihr ebenfalls angehört, sich selbst sogar als ersten nennt. So stehen mit den beiden Sequenzen als Figuren einander gegenüber: „sie" (ein anonymes undifferenziertes Kollektiv) versus „ich", „du", „er" (in Einzelwesen differenzierte Gruppe); damit einher gehen noch weitere Oppositionen: (einfacher) Plural versus (dreifacher) Singu-lar; ohne ,Einschluss' versus mit ,Einschluss' des Sprechers / Erzählers, das heißt heterodiegetische versus homo- oder gar autodiegetische Narra-tion'. Der letztgenannte Aspekt deutet daraufhin, dass die Differenz zwi-schen den beiden Sequenzen unter anderem in einer unterschiedlichen Perspektive besteht (siehe unten). Während sich das Kollektiv „sie" im Ablauf von Sequenz Α nicht verändert, vollzieht sich innerhalb der Suk-zession von Sequenz Β ein Zusammenschluss der Singulare „ich" und „du" zum Plural „uns" (V.18), so dass sich in den beiden Sequenzen schließlich, zusammen mit der Differenz von figuraler Kontinuität und fi-guraler Veränderung, der Plural der 3. (V . l f f : „sie") und der 1. Person (V.18: „uns") gegenüberstehen.

Eine Veränderung, wenngleich nicht in figuraler Hinsicht, findet je-doch auch in Sequenz Α statt. Die Unterschiedlichkeit und die Spezifik dieser Veränderungen in beiden Sequenzen wird ebenfalls pronominal markiert, nämlich durch die Opposition von unpersönlichen und persönli-chen grammatischen Subjekten. Diese Opposition betrifft letztlich den Grad menschlicher Aktivität und Handlungskontrolle, den Gegensatz zwi-schen eigenständigen, außermenschlichen Vorgängen und menschlichen Handlungen. In diesem Sinne kontrastieren Aussagen über „es" (in V.l , 1 lf. u. 13) oder ein nicht-menschliches Nomen (wie V.4: „Tag", „Nacht", V.14: das „Singende", V.18: „Ring") als Subjekt mit solchen Sätzen, die ein menschliches Agens als Subjekt auiweisen (V.2ff.: „sie", V.13ff.: „ich", „du"). Hierdurch werden vor dem Hintergrund einer allgemeinen Gemeinsamkeit menschlichen Handelns (dem Graben) gegensätzliche

Brought to you by | Monash University LibraryAuthenticated | 130.194.20.173

Download Date | 10/20/12 6:49 PM

Page 4: Lyrik und Narratologie Volume 78 (Text-Analysen zu deutschsprachigen Gedichten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert) || Paul Celan: „Es war Erde in ihnen“

284 Peter Hühn

Verlaufsstrukturen eingebracht, die einen negativen (vgl. V.l-12) bzw. einen positiven Ausgang (vgl. V.13-18) haben.4

Die Ausgangssituation für Sequenz Α (und ,per implicationem' eben-falls für Sequenz Β - siehe unten) wird in der Überschrift bzw. der Ein-gangszeile benannt: „Es war Erde in ihnen" als die Konstitution der Figu-ren (der Menschen), als ein Phänomen jenseits ihrer Kontrolle und ihres Einflusses („es"), das sich dann - in konsequent-pragmatischer oder pa-radox-inhaltlicher Konstellation - in der Art ihrer immer wieder heraus-gestellten Aktivität auszuwirken scheint: „und / sie gruben" (V.lf.); sie bearbeiten das, was sie in sich haben. Das Element, das (wesentlich) zu ihrer Konstitution beiträgt, ist zugleich der Zielbereich ihres Tuns, so dass man sagen kann, sie seien von ihrem ,elementaren Wesen' in ihrem Handeln und Leben determiniert.5

Die Sequenz gliedert sich nun in zwei Phasen: in das aktive Tun, be-richtet in Sätzen mit dem Pronomen „sie" als Subjekt (V.2 u.10), und in ein von außen kommendes Geschehen, berichtet in Sätzen mit dem Sub-jekt „es" (V. l l u. 12).6 Beide Phasen sind wesentlich durch reduzierte oder verneinte Aktivität, durch schließlichen Untergang, generell durch Negativität gekennzeichnet. Zum einen hat das monoton ständig fortlau-fende Graben negative Konsequenzen im Sinne von Verlust und mangeln-dem Gewinn im Leben, wie dies vor allem durch negierende Sätze formu-liert wird: Die Zeit verfließt ungenutzt („so ging / [...] dahin", V.3f.), die Wahrnehmung wird extrem auf das Graben eingeengt (vgl. V.7), so dass „sie" - so ist möglicherweise zu ergänzen - keine Einsicht (vgl. V.8) ge-winnen und keine Sprache und Kunst (vgl. V.8f.) entwickeln. Negativ und passiv ist ebenfalls ihr Verhalten gegenüber Gott: Sie schreiben ihm das gesamte Geschehen - als gewollt und gewusst - zu (zudem aufgrund von Aussagen anderer, auf Hörensagen hin), verweigern ihm das Lob -vermutlich wegen der Erfahrung von Verlust und Zwang, fahren aber mit ihrem fruchtlos-negativen Tun ohne Einrede fort (vgl. V.10), nachdem die Kommunikation untereinander und nach außen zusammengebrochen ist (vgl. V.7-9). Zum anderen erfolgt schließlich auf diese fortgesetzte nega-

4 Menninghaus (1980) sieht dagegen hier aufgrund der Nicht-Beachtung dieser Unter-schiede einen kontinuierlich positiven Verlauf, der durch die Beharrlichkeit des Gra-bens ermöglicht werde (S. 105-107).

5 Vgl. die Untersuchung der syndekdochischen Struktur von „Erde" bei Poppenhusen (2001), die allerdings nicht die Implikationen der unpersönlichen Satzstrukturen mit „es" berücksichtigt (S. 13 lf.).

6 Hierzu gehören ferner die letzte bzw. erste Hälfte von Vers 3 und 4.

Brought to you by | Monash University LibraryAuthenticated | 130.194.20.173

Download Date | 10/20/12 6:49 PM

Page 5: Lyrik und Narratologie Volume 78 (Text-Analysen zu deutschsprachigen Gedichten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert) || Paul Celan: „Es war Erde in ihnen“

Celan: „Es war Erde in ihnen" 285

tive Grabungstätigkeit - von außen veranlasst (V.l 1 f.: „es kam" usw.) -nach einer Pause der Leere („Stille") ein offenbar destruktives Geschehen (V.l lf.: „ein Sturm", „die Meere alle"), das der Erde (und dem Graben in der Erde) vollkommen entgegengesetzte Elemente (Luft und Wasser) zur Wirkung bringt. Der Ablauf dieser Sequenz stellt somit eine weitgehend willenlos akzeptierte und erduldete, negativ verlaufende und in einem de-struktiven Ereignis endende, wesentlich von außen gesteuerte Geschichte dar. Die Ereignishaftigkeit besteht in der (implizierten) Auslöschung des in Erde grabenden Kollektivs durch die Überwältigung von dem gegen-sätzlichen Element (Wasser gegenüber Erde) - eine Auslöschung, die sich in der dreifachen Nennung des Eindringens von etwas Unpersönli-chem (V.l l f . : „es kam", „es kamen") und im Nicht-Mehr-Erwähnen der menschlichen Protagonisten zeigt.

In prononciertem Kontrast hierzu nimmt Sequenz Β mit anders de-finierten Protagonisten einen entgegengesetzten Verlauf und führt zu einem entgegengesetzten Ergebnis - ein Kontrast, den die betonte Gegen-überstellung des negativen Endes von Sequenz Α und der andersartigen Aktivität mit ihrem positiven Impetus der Protagonisten in Sequenz Β in-nerhalb der dritten Strophe thematisch und der hier erstmals auftretende Reim (V.l 1 u. 13: „Sturm" - „Wurm") auch formal eigens unterstreichen. Der Unterschied liegt vor allem in der Andersartigkeit von Bewusstsein und praktischem Verhalten der Protagonisten. Von dem undifferenzierten, willenlosen und letztlich passiven Kollektiv des „sie" hebt sich hier das Individuum ab, das nicht nur bewusst handelt und andere bewusst wahr-nimmt, sondern auch womöglich ,Sprachkunst' (V.l4: „das Singende", also Dichtung) hervorbringt, die diese kognitive Wahrnehmung ihrer ge-meinsamen Tätigkeit zu artikulieren und auf den Begriff zu bringen ver-mag („[...] sagt: Sie graben" - „sie" als Zusammenfassung von „ich" und „du" - V.14). Diese Wahrnehmung und deren dichterische Artikulation stehen im Gegensatz zum Zusammenbruch der Wahrnehmung nach außen (vgl. V.7) und der Abwesenheit von Lied und Sprache in Sequenz Α (vgl. V.8f.). Anders als beim richtungs- und ziellosen Graben in Sequenz A wird das Ziel dieser Tätigkeit hier zu einem Problem, und zwar speziell angesichts einer generellen Sinnlosigkeit und Nichtigkeit (V.l6: „Wohin gings, da's nirgendhin ging?"), wie sie sich in der Vergangenheit ergab (markiert durch das Präteritum). Dieses zunächst vermittelte Bewusstsein von Leere und Sinnlosigkeit drückt sich darüber hinaus in der - diese Frage einleitenden - Anrede an einen Adressaten aus: „O einer, ο keiner, ο niemand, ο du" (V.l5). Selbst der Bezug auf einen Anderen ist zum

Brought to you by | Monash University LibraryAuthenticated | 130.194.20.173

Download Date | 10/20/12 6:49 PM

Page 6: Lyrik und Narratologie Volume 78 (Text-Analysen zu deutschsprachigen Gedichten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert) || Paul Celan: „Es war Erde in ihnen“

286 Peter Hühn

(nunmehr bewussten) Problem geworden, sogar seine Existenz wird in Frage gestellt: Ist es ein Individuum, oder ist dort nichts und niemand? Was hier letztlich explizit problematisch wird, ist die Konstitution einer (zumindest rudimentären) menschlichen Gemeinsamkeit und Gemein-schaft, die als Basis für Entwicklung und Bewegung auf ein Ziel hin die-nen kann.

Die fortgesetzte Tätigkeit im (wahrnehmenden) Bewusstsein vom An-deren, so wird diese Sequenz in der letzten Strophe fortgeführt, löst dann ebendiesen Impuls aus. Dass die Reihenfolge „ich grabe, du gräbst" (V.13) hier umgekehrt, durch ein „und" verbunden sowie als emphati-scher Appell artikuliert wird (V.17: „O du gräbst und ich grab"), signali-siert eine kommunikative und perzeptive Verbindung mit dem Anderen, die sich anschließend als auf den Anderen gerichtetes Handeln praktisch manifestiert: „ich grab mich dir zu" (V.17). Der Erfolg ist der endliche Vollzug einer geschlossenen Verbindung, die pronominal in „uns" signa-lisiert und im „Ring" (V.18) symbolisiert wird. Die Platzierung des Rings am Finger (wie bei einer Verlobung oder Hochzeit) verknüpft dieses Er-gebnis mit der Tätigkeit des Grabens, die mit Händen ausgeübt wird. Das Prädikat „erwacht" (V.18) metaphorisiert die vollzogene Verbindung als Übergang vom Schlaf zum Wachsein, von Unbewusstheit zu Intentionali-tät und Bewusstheit, als Eintritt in einen neuen Zustand,7 als Ereignis. Die Ereignishaftigkeit wird dadurch etabliert, dass diese Entwicklung vor dem Hintergrund des negativen Ausgangs in Sequenz Α in Erscheinung tritt.

Der Bezug von Sequenz Β zu Sequenz Α kann über die Kontrastrela-tion hinaus nun weiter präzisiert werden. Durch die Wiederaufnahme des Prädikats „ging" im Präteritum in Vers 16 aus Vers 3 einerseits und durch die Nennung der Tätigkeit „sie graben" als Gegenstand der Kunst, des ,,Singende[n]" (V.14) andererseits wird angedeutet, dass das hier darge-stellte Geschehen im selben Kontext und damit vermutlich auch aus derselben Ausgangssituation entsteht und sich vollzieht wie in Sequenz A, aber mit veränderter Einstellung. Dadurch wird die stagnierende und destruktiv endende Abfolge der Vergangenheit in der Gegenwart (siehe das Präsens in „sie graben" [V. 14] sowie in „ich grabe, du gräbst" [V.13] und „du gräbst und ich grab" [V.17] gegenüber dem Präteritum in „sie gruben" [V.2 u. 10]) in ein positives, belebendes Ereignis überführt. Mit den beiden Sequenzen kontrastiert der Autor somit zwei Geschichten, eine vergangene Geschichte mit destruktivem und negativem Ereignis (Sturm und Flut - vgl. V.l lf.) bzw. eine gegenwärtige mit positivem Er-7 Vgl. die tropische Analyse dieser Metapher duch Poppenhusen (2001), S. 137-140.

Brought to you by | Monash University LibraryAuthenticated | 130.194.20.173

Download Date | 10/20/12 6:49 PM

Page 7: Lyrik und Narratologie Volume 78 (Text-Analysen zu deutschsprachigen Gedichten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert) || Paul Celan: „Es war Erde in ihnen“

Celan: „Es war Erde in ihnen" 287

eignis und stellt zudem die Möglichkeit einer späteren Entwicklung auf das katastrophale Scheitern einer früheren dar. Die Art dieser Reaktion des Sprechers lässt sich noch einen Schritt weiter explizieren, wenn man bedenkt, dass in entscheidender Weise die kognitive Perspektive des Sprechers / Erzählers in beiden Sequenzen letztlich dieselbe ist, denn auch die Erzählung des Geschehens, das aus der besonderen Einstellung der Protagonisten-Gruppe („sie") folgt, wird - in Sequenz A - aus der Perspektive eines Wissenden formuliert, wie sich vornehmlich in der Fä-higkeit zur Wiedergabe der Wahrnehmungen der Protagonisten zeigt (V.5f.: „so hörten sie"); der Sprecher verfugt in Bezug auf „sie" über In-trospektion (Innenschau).8 Dies impliziert möglicherweise, dass der Spre-cher auch aus dieser Gruppe (V.2f., 7f. u. 10: „sie") stammt, in der Ver-gangenheit zu ihr gehörte, sich in der Gegenwart aber in eine andere Richtung und zu einer anderen Einstellung verändert und entwickelt hat.

Soweit lässt sich die Sequentialität des Gedichtes - weitestgehend beschränkt auf die semantischen Einheiten der Oberflächenstruktur (das heißt vor allem auf die konkreten Bilder des Grabens sowie die expliziten Hinweise auf Sanges- oder Dichtkunst und Sprache) - in ihrer abstrakten Struktur narratologisch als kontrastive Aufeinanderfolge zweier Ge-schichten rekonstruieren, ohne dass man dabei sogleich auf die Sinn-dimension eingeht, also ohne zunächst zu fragen, was die Gegebenheiten und Geschehenselemente (das Graben, das Lied, Sprache, die Protagonis-ten „sie", „ich", „du", „der Wurm") in thematischer Hinsicht ,bedeuten'. In einem zweiten Schritt soll nunmehr untersucht werden, wie diese re-lativ abstrakte Sequenzstruktur durch spezifische Kontextbezüge mit zu-sätzlichen Sinndimensionen versehen wird.

2. Zusätzliche thematische Dimensionen

Die Frage, die sich hier stellt, zielt vornehmlich auf den (oder die) thema-tischen Frame(s), innerhalb dessen (oder deren) die dargestellten Abläufe

8 Dittrich (2005) macht die Perspektive des Sprechers, und zwar in erkenntnistheore-tischer Hinsicht, im Sinne einer impliziten Epistemologie, radikal zum zentralen Deu-tungsansatz des Bandes Die Niemandsrose. In Bezug auf „Es war Erde in ihnen" (S. 559f.) kommt er dabei meines Erachtens zu verkürzenden Aussagen, wenn er hier vor allem das Problem von Selbst-Wissen und Zugang zum Bewusstsein des anderen („du") sieht. Ohne auf die syntaktisch-morphologische Struktur der Sätze einzugehen, interpretiert er z.B. die Begriffe „Tag" und „Nacht" isolierend als Hinweise auf Selbsttransparenz bzw. -intransparenz, „Graben" als Selbsterkundung.

Brought to you by | Monash University LibraryAuthenticated | 130.194.20.173

Download Date | 10/20/12 6:49 PM

Page 8: Lyrik und Narratologie Volume 78 (Text-Analysen zu deutschsprachigen Gedichten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert) || Paul Celan: „Es war Erde in ihnen“

288 Peter Hühn

Bedeutung erhalten. Die Antwort hieraufhängt vom jeweiligen (kulturel-len, sozialen, psychischen) Kontext ab, den man für das dargestellte Ge-schehen ansetzt. Durch entsprechende kontextuelle Bezüge lassen sich die Bedeutungszuschreibungen herstellen. Die Bestimmung der Frames und des Kontextes stützt sich generell auf Signale, speziell auf Konnotationen und intertextuelle Anspielungen innerhalb des Textes sowie zusätzlich -außertextlich - auf (das Wissen über) den Entstehungszusammenhang des Gedichtes (in sozial- und kulturhistorischer Hinsicht), den Werkzusam-menhang und den Lebenszusammenhang des Autors.

Im vorliegenden Fall - wie auch für den gesamten Band der Nie-mandsrose, aus dem das Gedicht stammt, sowie darüber hinaus für weite Bereiche von Celans Lyrik - ist als allgemeiner Kontext die katastro-phische Erfahrung der Shoah und deren Auswirkungen bei dem / den Überlebenden in Bezug auf die Einstellung zum Leben, insbesondere zur Lebenshaltung und zu Annahmen über Weltordnung und Transzendenz, zu Kommunikation und Kunst (zumeist im Zeichen von Sprachskepsis) anzusetzen.9 Der Bezug von „Es war Erde in ihnen" auf diesen Kontext ergibt zwar keine eindeutige semantische geschichtliche Festlegung der beiden narrativen Sequenzen und ihres Zusammenhangs in Form konkre-ter Geschichten, aber er ermöglicht konkretisierende Sinn-Zuschreibun-gen auf relativ hohem Allgemeinheitsniveau. Für die im Folgenden dazu eröffneten Möglichkeiten sind Alternativen denkbar. Doch wird die Mehrdeutigkeit des Gedichtes, das heißt die offene Relationierbarkeit sei-ner semantischen Elemente, durch diesen Kontextbezug wenn nicht auf-gehoben, so doch graduell eingeschränkt.

Die Ausgangssituation in Sequenz Α verweist (in offensichtlicher An-spielung auf die biblische Schöpfungsgeschichte) auf die Kreatürlichkeit des Menschen: Der Mensch wurde aus einem Erdenkloß geschaffen (Gen 2, 7)10 und wird nach seinem Tod wieder in Erde zerfallen (Gen 3, 19). Aufgrund dieser Anspielung ließe sich eine allgemein-menschliche, eine kreatürliche Verhaltensweise als Kontext für die Deutung der Sequenz einsetzen. Demgemäß würde das Graben in Erde die letztliche Bestim-mung menschlicher Aktivität im Sinne des Todes implizieren. Gelesen als

9 Siehe z.B. Günzel (1995), S. 169-174; Jakob (1993), S. 267, 270ff. u. 280f.; Janz (1976), S. 129; Mackey (1997), 15ff„ 123ff. u. 275ff.; Markis (1999), S. 8, 58 u. 116ff.; Schmitz (2003), S. 125ff„ 171ff. u. bes. 213ff.; Vietta (1970), S. 90, 94 u. 117.

1 0 Der Name „Adam", hebräisch fur Mensch, ist aus „adamah" (Ackererde) ableitbar -vgl. Birus (1997), S. 52.

Brought to you by | Monash University LibraryAuthenticated | 130.194.20.173

Download Date | 10/20/12 6:49 PM

Page 9: Lyrik und Narratologie Volume 78 (Text-Analysen zu deutschsprachigen Gedichten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert) || Paul Celan: „Es war Erde in ihnen“

Celan: „Es war Erde in ihnen" 289

Darstellung menschlicher Lebensmöglichkeiten11 erzählt diese Sequenz im allgemeinen Sinne die Geschichte eines Menschentypus, einer Men-schengruppe, die sich obsessiv auf ihre Kreatürlichkeit und Todesverfal-lenheit eingrenzt, diese Ausrichtung als gottgegeben hinnimmt (vgl. V.4-6) und darüber ihre Lebenszeit ungenutzt verschwendet (vgl. V.3f), weder interpersonale Beziehungen und Kommunikationsinstrumente (vgl. V.7 u. 9) noch künstlerische Medien zur Selbstdarstellung entwickelt und kei-nerlei Einsicht in menschliche Begrenztheit (vgl. V.8) gewinnt oder Glück und Dankbarkeit für die göttliche Gabe des Lebens empfindet (vgl. V.4).12 Die Konsequenz einer derartigen Lebenshaltung ist die schließli-che Auslöschung (vgl. V.l lf.), als ein negatives Ereignis.13

Setzt man jedoch als spezifischen Rahmen (Frame) die jüdische Shoah-Erfahrung an, so lässt sich diese Sequenz auf die Vernichtung der Juden (etwa in den von Sondereinsatzkommandos durchgeführten Mas-senerschießungen) beziehen: Viele von ihnen wurden vor ihrer Ermor-dung gezwungen, ihre eigenen Gräber zu graben, und schienen sich viel-fach in ihr Schicksal im Glauben an dessen Gottgewolltheit ergeben zu haben.14 In dieser Glaubenshaltung war das Ausbilden gemeinschaftlichen menschlichen Potentials wie Kommunikativität, Solidarität, Selbstreflexi-

11 Vgl. die Deutung bei Markis (1999), S. 59ff. 12 Schmitz (2003) bezieht diese Sequenz Α auf die Dichter in einer säkularisierten Welt,

die nach Gott oder einem tieferen Sinn oder nach Spuren der Toten und der Vergangen-heit suchen (220ff.). Schmitz (ebd., S. 220f.) - und vor ihr schon Voswinckel (1974), S. 3Iff . - formulieren diese Identifikation von „sie" als Dichter noch spezifischer als Bezug zur romantischen Bergmannsmetaphorik (Suchen nach Schätzen im Unbewuss-ten u.ä.). Diese Deutung überzeugt nicht, da die ,Grabenden' der Romantiker schon über Sprache und Dichtung verfügen dürften und da ihr Tun nicht in einer Sintflut endet.

13 Hier kann man eine Anspielung auf die biblische Sintflut als Strafgericht Gottes (Gen 6-10) sehen - vgl. Markis (1999), S. 60; Jakob (1993), S. 255; Janz (1976), S. 136 - , die allerdings der traditionellen religiösen Deutung konform bliebe, welcher die Se-quenz Α jedoch widerspricht. Angemessener ist vielleicht ein Bezug auf 1 Kön 19, 11-12, wo Gottes Manifestation vor dem Propheten Elia als Abfolge von Sturm - Erdbe-ben - Feuer - Stille beschrieben wird. Dass sich in Celans Gedicht die Reihenfolge umkehrt und mit Wasser (an Stelle von Feuer) und nicht mit der Stille endet, ist mögli-cherweise als Hinweis auf die Abwesenheit Gottes zu lesen.

14 Dieser Rahmen lässt sich durch den Bezug auf die „Todesfuge" verdeutlichen und die dort wiederholte Wendung: „wir schaufeln ein Grab in den Lüften" - Celan (1983), S. 39-42; vgl. Schmitz (2003), S. 219; Poppenhusen (2001), S. 135. Lackey (2002) formuliert diesen Bezug auf eine krude, polemisch vereindeutigende Weise, wenn er in dem Gedicht die umkehrende Anwendung eines alttestamentarischen Genozidgebots in Bezug auf Ungläubige durch Hitler auf die Juden sieht.

Brought to you by | Monash University LibraryAuthenticated | 130.194.20.173

Download Date | 10/20/12 6:49 PM

Page 10: Lyrik und Narratologie Volume 78 (Text-Analysen zu deutschsprachigen Gedichten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert) || Paul Celan: „Es war Erde in ihnen“

290 Peter Hühn

on oder Kunstpraxis nur von nachgeordneter Bedeutung. Diese Lesart stimmt strukturell mit der allgemeineren Lesart dieser Geschichte im Sinne ihrer Konkretisierung überein, führt aber zu einem spezifischen Sinn. Das negative Ereignis am Ende der Sequenz Α (die Überwältigung durch Sturm und Wasserflut)15 meint dann die physische Vernichtung der europäischen Juden während der Zeit des Nationalsozialismus. Der Glau-be an Gottes Wollen und Wissen in Verbindung mit diesem Geschehen begünstigt die Hinnahme der Shoah. Als Folge dieser Auffassung, dass Gott die Vernichtung seines auserwählten Volkes zugelassen habe (vgl. V.4-6),16 unterlassen die Opfer jedoch sein Lobpreisen und ziehen sich zurück aus der Religion ihrer Väter, für die das Loben des sorgenden Schöpfergottes zentral ist, wie dies die Psalmen immer wieder zum Aus-druck bringen.17 Wenn das Lob Gottes nicht mehr ,gesungen' wird, ver-lieren letztlich auch die Sprachkompetenz des Menschen und die Mög-lichkeit zum ,verdichteten Sprechen', die Sprachkunst der Dichtung, Ziel und Sinn. Dieser Deutungsansatz geht allerdings nicht problemlos auf, da das im Text implizierte Ausbleiben eines quasi-menschheitsgeschichtli-chen Entwicklungsgangs - dass nämlich Weisheit, Kunst und Sprache nicht erworben wurden - so nicht auf die Juden während der nationalso-zialistischen Verfolgung zutrifft (da sie Sprache und Dichtung bereits be-saßen). Als Fazit aus dieser Diskrepanz ließe sich formulieren, dass Se-quenz Α beide Aspekte miteinander verbindet: eine allgemeine menschli-che Verhaltensmöglichkeit und Bezüge auf das Schicksal der Juden in ih-rer Verfolgung und Vernichtung durch die Nationalsozialisten (besonders hinsichtlich des Zweifels am ererbten privilegierten Gottesbezug).

Im eben skizzierten Kontext wird für Sequenz Β die Sprach- und Dich-tungsproblematik (als Folge der mangelnden Kommunikation und Solida-rität der Menschen) der wichtigste Bezugspunkt und ergibt eine gegenläu-fige Entwicklung zu Sequenz A. Wie oben bereits für die konkrete Bild-lichkeit dieser Sequenz beschrieben wurde, entstehen im Zusammenhang mit der individualisierenden und selbstbewussten Personalisierung von Tätigkeit („ich" / „du") und im prononcierten Gegensatz zur unpersönli-15 Man könnte hierin auch eine Anspielung auf Mk 4, 35ff., die Beruhigung des stür-

mischen Sees durch Jesus, sehen. Jedoch scheint mir ein Bezug auf das Neue Testament in einem prononciert jüdischen Kontext weniger plausibel.

16 Der Hinweis auf die Vernichtung folgt allerdings erst in den Versen 1 lf. 17 Vgl. Birus (1997), S. 52; Stadler (1989) arbeitet sehr genau die radikale und um-

fassende Abwendung von dem Gott und dem Gotteslob der Psalmen heraus und die Konsequenz im Selbstvollzug des Grabens (in dem, was hier Sequenz Α genannt wird), geht jedoch nicht auf die gegenläufige Bewegung in Sequenz Β ein ( S. 142-151).

Brought to you by | Monash University LibraryAuthenticated | 130.194.20.173

Download Date | 10/20/12 6:49 PM

Page 11: Lyrik und Narratologie Volume 78 (Text-Analysen zu deutschsprachigen Gedichten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert) || Paul Celan: „Es war Erde in ihnen“

Celan: „Es war Erde in ihnen" 291

chen, nicht-menschlichen, nicht-bewussten Grabungstätigkeit des Wurms (V.13: „es gräbt auch der Wurm"18 - in Analogie zur eher mechanischen Aktivität von „sie") Dichtungskunst und Sprache (V.14: „das Singende dort sagt"). Dadurch werden die Anrede an den Anderen (vgl. V.15) und die Frage nach Sinn und Richtung des Lebens (vgl. V.16) sowie - als Konsequenz - Kommunikation, zwischenmenschliche Bezüge (vgl. V.17) und schließlich das Ausbilden bewusster Gemeinsamkeit und höherer Einheit (V.18: „uns", „der Ring")19 als einer ereignishaften Veränderung im Kontrast zu den Konstellationen in Sequenz A. Diese Ereignishaftig-keit20 konstituiert sich dadurch, dass das Geschehen unerwartet eintritt. Nach der Verwerfung der Menschen (der Juden) durch Gott in der Vergangenheit in Sequenz Α findet nun, in der Gegenwart des Sprechens, eine Verwerfung Gottes durch die Menschen statt, die sich in ihrer Ge-meinschaftlichkeit an seine Stelle setzen. Diese neue menschliche Ge-meinschaft kann alle Menschen oder die Juden meinen oder die Dichter oder - noch spezifischer - die Gemeinschaft mit dem geistesverwandten russisch-jüdischen Dichter Ossip Mandelstam,21 dem die gesamte Samm-lung gewidmet ist.

3. Sprachlich-poetische Selbstreferentialität und Aspekte der Ereignishaftigkeit

Diese ereignishafte Veränderung durch Sprache und Dichtung manifes-tiert sich nicht nur auf der Ebene des erzählten Geschehens, sondern auch auf der der Darbietung, auf der poetische Verfahren selbstreferentiell in Erscheinung treten.22 Mit dem Anfang von Sequenz Β beginnen die Zeilen zu reimen, denn in der vorletzten Strophe kommt bereits ein Reim vor:

1 8 Trotz des Vergleichs in „auch" dienen die unpersönlichen Implikationen in „es gräbt auch der Wurm" zur Betonung des Gegensatzes zu „ich" und „du" und heben deren Kommunikativität und Menschlichkeit durch Kontrast zur unbewussten Erdverhaftet-heit besonders hervor; vgl. Stadler (1989), der in diesem Zusammenhang auf Psalm 22, 7 verweist (S. 148). Der Wurm ist - wie das Kollektiv des „sie" - ausschließlich auf das Graben beschränkt.

19 Vgl. z.B. Markis (1999), S. 60f„ und Schmitz (2003), S. 226ff„ die jedoch im Prinzip statt einer prononcierten Gegenläufigkeit eine andersartige Fortsetzung der ersten zwölf Verse sieht.

2 0 Szondi (1980) scheint sich auf dies Moment zu beziehen, wenn er vom „Erreichen eines Telos" spricht (S. 145).

2 1 Die beiden letzten Möglichkeiten hebt Schmitz (2003) hervor (S. 218ff.). 2 2 Vgl. zum Folgenden die Hinweise bei Szondi (1980), S. 141 ff.

Brought to you by | Monash University LibraryAuthenticated | 130.194.20.173

Download Date | 10/20/12 6:49 PM

Page 12: Lyrik und Narratologie Volume 78 (Text-Analysen zu deutschsprachigen Gedichten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert) || Paul Celan: „Es war Erde in ihnen“

292 Peter Hühn

„Wurm" (V.13) reimt auf „Sturm" (V.ll), und zudem stimmen Syntax und zum Teil auch Wortwahl der beiden Sätze weitgehend überein („es kam auch ein Sturm" - „es gräbt auch der Wurm"). In der letzten Strophe schließlich sind alle Zeilen durch (Kreuz-)Reim miteinander verbunden.23

Hinzu kommen interne Regularitäten wie Alliterationen („das Singende", „sagt"), Binnenreime („einer", „keiner"), lautliche Wiederholungen („o", V. 15 u. 17, insgesamt fünfmal; „gings", „ging"), ,figurae etymologicae' („grabe", „gräbst", „gräbt", „graben"), Parallelismen und Antithesen (V.13: „ich grabe, du gräbst, und es gräbt auch der Wurm"; V.17: „und ich grab mich dir zu", V.14: „und das Singende dort sagt", V.18: „und am Finger erwacht uns der Ring"), Chiasmen und Inversionen (V.13: „Ich grabe, du gräbst", V.17: „du gräbst und ich grab"). Es fällt jedoch auf, dass sich bereits in Sequenz Α ähnliche Regelmäßigkeiten wie beispiels-weise Alliterationen (siehe V. l l : „Stille", „Sturm"), Wiederholungen („gruben", viermal; V.llf . : „es kam", „es kamen"), Parallelismen (siehe V.4: „ihr Tag", „ihre Nacht"; V.5f.: „der, so hörten sie, alles dies wollte / der, so hörten sie, alles dies wußte"; V.8f.: „erfanden kein Lied / erdach-ten sich keinerlei Sprache") abzeichnen, allerdings keine Reime. So ergibt sich als Fazit, dass die poetische Strukturierung von Sequenz Α zu Se-quenz Β quantitativ und qualitativ deutlich gesteigert wird, parallel zum thematischen Übergang von der Konstatierung der Abwesenheit von Sprache und Dichtung zur Beschreibung von deren Entwicklung. Da Se-quenz Α (wie oben angedeutet) gleichfalls aus der Perspektive des homo-diegetischen Sprechers von Sequenz Β beobachtet und erzählt wird, verweist ihre - wenn auch gradmäßig geringere - poetische Überformung auf der Darbietungsebene bereits (gleichsam antizipatorisch) auf das Wir-ken der sich neu bildenden Fähigkeiten zu Sprache und Dichtung. In die-sem Zusammenhang zeigt sich die Scharnierfunktion der vierten Strophe für den ambivalenten Zusammenhang der beiden Sequenzen. Zum einen wird ihre semantisch-thematische Opposition durch das unvermittelte Aufeinandertreffen des semantischen Inhalts am Aufeinanderstoßen des Endes der einen und am Anfang der anderen Sequenz eigens betont. Zum anderen finden sich formale Anschlüsse, wie die Rückbindung durch den hier erstmals auftretenden Reim („Sturm", „Wurm") und den syntak-tisch-lexikalischen Parallelismus im selben Satz („es kam auch ein Sturm", „es gräbt auch der Wurm" - siehe V.l l u. 13). Somit wirkt sich das Geschehensereignis der neu gewonnenen interpersonalen menschli-chen Gemeinschaftlichkeit mittels Sprache und Dichtung, wie es Sequenz

2 3 Vgl. Markis (1999), S. 61.

Brought to you by | Monash University LibraryAuthenticated | 130.194.20.173

Download Date | 10/20/12 6:49 PM

Page 13: Lyrik und Narratologie Volume 78 (Text-Analysen zu deutschsprachigen Gedichten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert) || Paul Celan: „Es war Erde in ihnen“

Celan: „Es war Erde in ihnen" 293

Β erzählt, schon auf der Darbietungsebene des gesamten Gedichtes als sich steigernde Poetisierung des Sprechens aus. Das Geschehensereignis wird also durch ein Darbietungsereignis parallelisiert und praktisch-sprachlich umgesetzt.

Literatur

Birus, Hendrik 1997 „Es war Erde in ihnen", in: Kommentar zu Paul Celans „Die Niemandsrose",

hg. von Jürgen Lehmann. Heidelberg, S. 51-56.

Celan, Paul 1983 Gesammelte Werke, Bd. 1: Gedichte I, hg. von Beda Allemann und Stefan Rei-

chert. Frankfurt a.M. Günzel, Elke

1995 Das wandernde Zitat: Paul Celan im jüdischen Kontext. Würzburg. Jakob, Michael

1993 Das ,Andere' Paul Celans: oder von den Paradoxien relationalen Dichtens. München.

Janz, Marlies 1976 Vom Engagement absoluter Poesie: Zur Lyrik und Ästhetik Paul Celans.

Frankfurt a.M. Lackey, Michael

2002 Poetry as Overt Critique of Theology : A Reading of Paul Celan's „Es war Erde in ihnen", in: Monatshefte 94, S. 433-446.

Mackey, Cindy 1997 Dichter der Bezogenheit: A Study of Paul Celan 's Poetry with Special Refer-

ence to „Die Niemandsrose". Stuttgart. Markis, Sabine

1999 Mit ,lesendem Aug": Prinzipien der Textorganisation in Paul Celans „Nie-mandsrose ". Bielefeld.

Menninghaus, Winfried 1980 Paul Celan: Magie der Form. Frankfurt a.M.

Poppenhusen, Astrid 2001 Durchkreuzung der Tropen. Paul Celans „Die Niemandsrose" im Lichte der

traditionellen Metaphorologie und ihrer Dekonstruktion. Heidelberg. Schmitz, Simone

2003 Grenzüberschreitungen in der Dichtung Paul Celans. Heidelberg. Stadler, Arnold

1989 Das Buch der Psalmen und die deutschsprachige Lyrik des 20. Jahrhunderts: Zu den Psalmen im Werk Bertolt Brechts und Paul Celans. Köln.

Brought to you by | Monash University LibraryAuthenticated | 130.194.20.173

Download Date | 10/20/12 6:49 PM

Page 14: Lyrik und Narratologie Volume 78 (Text-Analysen zu deutschsprachigen Gedichten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert) || Paul Celan: „Es war Erde in ihnen“

294 Peter Hühn

Szondi, Peter 1980 Celan-Studien, hg. von Jean Bollack. Frankfurt a.M.

Vietta, Silvio 1970 Sprache und Sprachreflexion in der modernen Lyrik. Bad Homburg u.a.

Voswinckel, Klaus 1974 Paul Celan: Verweigerte Poetisierung der Welt. Versuch einer Deutung.

Heidelberg.

Brought to you by | Monash University LibraryAuthenticated | 130.194.20.173

Download Date | 10/20/12 6:49 PM