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-1- M - Interaktive Aspekte „Schicksal kommt nicht von oben. Schicksal kommt von innen.“ W. Berger Zusammenfassung Chronische Krankheiten sind ohne die Berücksichtigung der Sollwertverstellungen in den biologischen Reaktionen, im psychosozialen Verhalten und in der mentalen Orien- tierung nicht behandelbar. Einführung Biologische Reaktion bzw. psychosoziales Verhalten bzw. Denken von Kranken unterschei- det sich grundsätzlich von dem Gesunder. 1 , 2 , 3 Es ist demnach eine Projektion von Medizi- nern, von PatientInnen anzunehmen, sie dächten, fühlten und reagierten wie sie selbst. Im Gegenteil: Diese Annahme führt zu einer Überforderung kranker Menschen. Am Beispiel der Hoffnung auf Gesundung hatten wir einen Aspekt hiervon beleuchtet. Die Haltung der meisten Mediziner ist mit der Haltung von Lehrern vergleichbar, die von ihren SchülerInnen erwarten, dass sie das zu Lernende mitbringen. Das salutogenetische Konzept zeigt ja, dass es ganz spezifische kognitive, emotionale und pragmatische Seins- und Verhaltensweisen sind, die einen Menschen gesund halten. Umgekehrt kann – und muss – man dann davon ausgehen, dass es ebenfalls spezifische Defizite, Deformierungen, Überformungen dieser Seins- und Verhaltensweisen sind, die Menschen krank machen – und -halten. Ob sie dafür verantwortlich sind oder nicht, steht auf einem anderen Blatt. SCHAEFER zitiert „einen der tiefgründigsten Witze über Wissenschaft: Im Winter, nachts und nach Schneefall, trifft ein Polizist auf einen Betrunkenen, wie er unter einer Laterne im Schnee stochert. Was er suche? Seinen Schlüssel. Auch der Polizist beginnt zu suchen. Nachdem er den Bereich des Schnees, den der Lampenschein erleuchtet, mehrmals abgesucht hat, fragt er den Betrunkenen, ob er den Schlüssel denn hier verloren habe. Nein, meint der Betrunkene, verlo- ren habe er ihn hinten in der dunklen Ecke. Warum er ihn dann aber hier suche, wird der gefragt. Seine Antwort: Hier ist es zum Suchen so schön hell. In der Wissenschaft heute komme es ihm – SCHAEFER - oft so vor, dass Lösun- gen im Lichte einer schönen Idee gesucht würden, deren Schlüssel im Dunklen verloren gegangen sei. SCHAEFER: „Die Ideen finden sich unter den Laternen, der kluge Empiriker sucht trotzdem in der dunklen Ecke!“ 4 Auf die Probleme, die sich daraus ergeben, dass man in der konventionellen Wissenschaft bevorzugt ‚unter Laternen sucht’, wurde an anderer Stelle ausführlich eingegangen. 5 Kein Geringerer als der Vorsitzende des Wissenschaftsrates stellt denn auch fest: „Wenn Deutschland nicht den Anschluss an die internationale Wissenschaft verlieren wolle, müssen jetzt die Strukturen des 19. Jahrhunderts fallen.“ 6 Entscheidend in diesem Tagungsbericht über einen vom Wissenschaftsrat, der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem Bundesforschungsministerium veranstalteten Workshop zur Zukunft der Hochschulmedizin ist aber wohl folgende Feststellung des Vorsitzenden des Wissenschaftsrates - EINHÄUPL: „Medizinische Forschung, vor allem Grundlagenforschung, findet inzwischen meist außeruniversitär statt.“ Strukturelle Gemeinsamkeiten … Vom ‚kranken System’ wieder zurück zum individuellen Kranken. Die therapeutische Kunst besteht darin, auch Kranke zu einer ‚Suche außerhalb des Laternenscheins’ zu motivieren.

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M - Interaktive Aspekte

„Schicksal kommt nicht von oben.Schicksal kommt von innen.“

W. Berger

Zusammenfassung

Chronische Krankheiten sind ohne die Berücksichtigung der Sollwertverstellungen inden biologischen Reaktionen, im psychosozialen Verhalten und in der mentalen Orien-tierung nicht behandelbar.

Einführung

Biologische Reaktion bzw. psychosoziales Verhalten bzw. Denken von Kranken unterschei-det sich grundsätzlich von dem Gesunder. 1, 2, 3 Es ist demnach eine Projektion von Medizi-nern, von PatientInnen anzunehmen, sie dächten, fühlten und reagierten wie sie selbst. ImGegenteil: Diese Annahme führt zu einer Überforderung kranker Menschen.Am Beispiel der Hoffnung auf Gesundung hatten wir einen Aspekt hiervon beleuchtet.Die Haltung der meisten Mediziner ist mit der Haltung von Lehrern vergleichbar, die vonihren SchülerInnen erwarten, dass sie das zu Lernende mitbringen.Das salutogenetische Konzept zeigt ja, dass es ganz spezifische kognitive, emotionale undpragmatische Seins- und Verhaltensweisen sind, die einen Menschen gesund halten.Umgekehrt kann – und muss – man dann davon ausgehen, dass es ebenfalls spezifischeDefizite, Deformierungen, Überformungen dieser Seins- und Verhaltensweisen sind, dieMenschen krank machen – und -halten. Ob sie dafür verantwortlich sind oder nicht, steht aufeinem anderen Blatt.SCHAEFER zitiert

„einen der tiefgründigsten Witze über Wissenschaft:Im Winter, nachts und nach Schneefall, trifft ein Polizist auf einen Betrunkenen,wie er unter einer Laterne im Schnee stochert. Was er suche? Seinen Schlüssel.Auch der Polizist beginnt zu suchen. Nachdem er den Bereich des Schnees, dender Lampenschein erleuchtet, mehrmals abgesucht hat, fragt er den Betrunkenen,ob er den Schlüssel denn hier verloren habe. Nein, meint der Betrunkene, verlo-ren habe er ihn hinten in der dunklen Ecke. Warum er ihn dann aber hier suche,wird der gefragt. Seine Antwort: Hier ist es zum Suchen so schön hell.In der Wissenschaft heute komme es ihm – SCHAEFER - oft so vor, dass Lösun-gen im Lichte einer schönen Idee gesucht würden, deren Schlüssel im Dunklenverloren gegangen sei. SCHAEFER: „Die Ideen finden sich unter den Laternen,der kluge Empiriker sucht trotzdem in der dunklen Ecke!“ 4

Auf die Probleme, die sich daraus ergeben, dass man in der konventionellen Wissenschaftbevorzugt ‚unter Laternen sucht’, wurde an anderer Stelle ausführlich eingegangen. 5

Kein Geringerer als der Vorsitzende des Wissenschaftsrates stellt denn auch fest:„Wenn Deutschland nicht den Anschluss an die internationale Wissenschaftverlieren wolle, müssen jetzt die Strukturen des 19. Jahrhunderts fallen.“ 6

Entscheidend in diesem Tagungsbericht über einen vom Wissenschaftsrat, der DeutschenForschungsgemeinschaft und dem Bundesforschungsministerium veranstalteten Workshopzur Zukunft der Hochschulmedizin ist aber wohl folgende Feststellung des Vorsitzenden desWissenschaftsrates - EINHÄUPL:

„Medizinische Forschung, vor allem Grundlagenforschung, findet inzwischenmeist außeruniversitär statt.“

Strukturelle Gemeinsamkeiten …

Vom ‚kranken System’ wieder zurück zum individuellen Kranken.Die therapeutische Kunst besteht darin, auch Kranke zu einer ‚Suche außerhalb desLaternenscheins’ zu motivieren.

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Erfolgreiche Therapeuten lassen sich aus diesem Grund von ihren chronisch Kranken gleichzu Beginn ausführlich schildern, welche vergeblichen Behandlungsversuche diese schonunternommen haben. Und dies nicht, um ‚es besser zu machen’, sondern um sie zu ver-meiden.Sonst wird nur ‚mehr desselben’ produziert. WATZLAWICK hat die Zusammenhängedargestellt. 7

Der kranke Mensch sucht im Lichtkreis seiner Laterne nach Lösungen seiner gesundheit-lichen Probleme – heißt: kranke Menschen bewegen sich und denken in den Kategorienihres bisherigen Systems. Dieses war ein geschlossenes: krankmachenden und krankhalten-den.Jeder Patient hat seine ganz individuelle und in sich meist schlüssige Ideologie, seine Stö-rungen, seine Symptome, seine Krankheit zu verstehen und zu erklären.Behandler, die sich länger als notwendig in den Lichtkreis ihrer Patienten begeben, werdenhandlungs-, genauer: lösungsunfähig. Sie verfallen einer ‚folie à deux’.

Ein zeitgemäßes Beispiel für eine ‚folie à deux’ ist der von der Pharmaindustriepropagierte Cholesterinwahn 8 (Auch aus anderen Zusammenhängen kennt mandas Phänomen, dass Medikamente günstig bewertet werden, wenn die For-schung von der Industrie gesponsert wurde. 9, 10 Wenn ein Präparat schlechterabschneidet als ein Placebo, wird in internen Papieren empfohlen „die Verbrei-tung der Daten wirkungsvoll zu steuern, um jegliche negative kommerzielle Wir-kung zu minimieren“. Selbst wenn ein Präparat die Selbstmordrate erhöht, wirdvon ‚Wirksamkeit’ und beschönigend von ‚emotionaler Labilität’ gesprochen.Wenn Spezialisten die negativen Ergebnisse kennen, „werden sie durchSchweigeklauseln am Reden gehindert“ 9).Obwohl eine Cholesterinerhöhung nur ein Symptom von Fehladaptation untervielen anderen ist, wird sie isoliert und ausschließlich symptomatisch behandelt.

Abb. M/1: Arzt-Patienten-Beziehung unter Copingaspekten

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Die Verordnung eines cholesterinsenkenden Mittels findet auf der gleichen Ebe-ne statt wie die Langzeitverordnung eines Schmerzmittels mit Abhängigkeits-potential.Es wird gar nicht erst der Versuch gemacht, die PatientInnen einer zeitgemäßenSchmerztherapie zuzuführen.

Die Maxime erfolgreicher Behandlung lautet zwar, man soll die PatientInnen in ihrem Systemabholen. Der zweite Teil dieser Maxime „um sie aus diesem System herauszuführen“, wirdim Allgemeinen vergessen.

… trotz konstitutioneller Unterschiede

Ein wesentliches Merkmal von kranken Menschen sind Vermeidungsstrategien (In den‚Schlussworten’ gehen wir auf den krankhaltenden und lebensverkürzenden Effekt davonein).Diese Negativstrategien sind – konstitutionsabhängig – unterschiedlich.Das offenbart sich, wenn man von der Oberflächen- zur Tiefeninformation 11, 12 gelangt: Beim kranken A-Menschen mit seiner typischen Ideologie (Abb. N/2 a / b) lenkt sein

Aktionismus meist von den dahinter stehenden Strategien zur Vermeidung massiverVerlustängste ab, während

bei kranken B-Menschen mit ihrer ebenfalls typenspezifischen Ideologie (Abb. N/2 a /b) die im Vordergrund stehende Passivität sehr effektiv von der Vermeidung derÄngste ablenkt, die sich aus ihrem Gefühl der Selbstaufgabe ergeben.

So oder so werden kranke Menschen Opfer der self fulfilling – besser: self defeating-pro-phecy, die dazu führt, dass sie das bewirken und erreichen, was sie am meisten zu ver-meiden trachten. 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19

Angst und Wut sind wahrscheinlich die gängigsten unter den verdrängten und deswegenunerledigten Gefühlen. Aber auch sekundäre Phänomene wie Bequemlichkeit, Gewohn-heiten, ‚Procrastination’ etc. spielen bei der Krankhaltung eine große Rolle.

Copingforschung …

Allgemein kann man die von der Copingforschung erarbeiteten Strategien in geeignete und ungeeignete

unterteilen. Eine genauere Analyse teilt sie auf Kategorien wie ‚konstruktiv’ oder ‚destruktiv’, ‚kooperativ’ und ‚unkooperativ’

etc. auf (Abb. N/1). 20, 21, 22

… und Modelle vom kranken Menschen, ...

Jeder Arzt hat eine Vorstellung von seinen PatientInnen. 23

Reflektiert Modelle findet man in der systemischen Psychotherapie. So werden PatientInnennach dem Milwaukee-Modell in ‚Beratung suchende’, ‚Besucher’, ‚Konsumenten’ und ‚echtePatienten’ unterteilt. 24

Jede dieser Kategorien erfordert einen entsprechend angepassten Umgang: ‚Besucher’ wer-den durchgeschleust, ‚Konsumenten’ abgewimmelt, ‚Beratung Suchende’ bekommen ihreBeratung und ‚Patienten im eigentlichen Sinne’ werden zur Kerngruppe der therapeutischenArbeit.

Handlungsanleitungen für die Behandlung

Von dieser Unterteilung ist ein kurzer Weg zum Aspekt ‚Kooperation’ bzw. ‚Nicht-Kooperati-on’. Man spricht ja viel von Compliance und Non-Compliance. Gerade er wirkt sich auf eineganzheitliche Behandlung aus, da hier ja die Mitarbeit der Kranken Voraussetzung ist.

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Abb. M/2 a: Strategien von Typ A, Mitteltyp und Typ B

Abb. M/2 b: Übersicht über die typenspezifische Interaktion

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Non-Compliance unterscheidet sich nun – manchmal erheblich - bei den Individualtypen, vondenen immer wieder die Rede war.Bei A-PatientInnen äußert sie sich in ganz anderer Form als bei B-PatientInnen: A-Patienten sind entweder überangepasst oder sie revoltieren. B-PatientInnen geben sich selbst auf oder sie verweigern sich.

So oder so zeigen sich hierin (ungeeignete) Arten der Abgrenzung.Eine gefährliche Form der Nicht-Kooperation ist die Complaisance: das kritiklos-willfährigeMittun bei allen vorgeschlagenen Behandlungen und Maßnahmen. Unter den ‚Koryphäen-killern’ findet man diese Phänomen häufig. Man spricht auch vom ‚Gummizaun’-Phänomen.

Ablehnung von Medikamenten kann als erstes Zeichen von Gesundungverstanden werden, wenn es Ausdruck eines Autonomiestrebens ist.

… und ineffiziente Arzt-Patienten-Beziehungen

Eine Voraussetzung von Heilung ist die Einigkeit zwischen ÄrztInnen und PatientInnen überdas anzuwendende Behandlungsverfahren. 25

Arzt und Patient können aber nur kooperieren, wenn sie kommunizieren - wenn sie - wieSender und Empfänger - auf der gleichen Frequenz sind. Wenn der Arzt ‚auf UKW sendet’,der Patient aber ‚auf Langewelle empfängt’, kann man keine Verständigung erwarten. Nichtumsonst wurde immer wieder auf das Kommunikationsproblem als eines der zentralen in dermodernen Medizin hingewiesen.Eine so differenzierte Art, wie sie oben dargestellt wurde, mag theoretisch-didaktisch inter-essant sein – in der Praxis genügen Kenntnisse der Grundzüge der Kommunikation.Einfühlungsvermögen wird von ÄrztInnen i. a. auf Grund ihrer Sozialisation mitgebracht undsteht ihnen intuitiv zur Verfügung – wenn es nicht durch eine praxisferne Ausbildung ‚aberzo-gen’ wurde.

Abb. M/3: Typenspezifische Situationskreise und Geschlechtsverteilung

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An dieser Stelle ist es vielleicht wichtig, auf den fundamentalen Unterschied zwischen‚ÄrztInnen’ und ‚MedizinerInnen’ hinzuweisen.Erstere sind Anhänger des lösungsorientierten salutogenetischen Konzepts. Letztere hin-gegen haben sich dem problemorientierten pathogenetischen Konzept verschrieben.Erstere folgen dem therapeutischen, letztere dem diagnostischen oder medizinischen Primat.Erstere reichern sich im heilkundlich-komplementär-psychotherapeutischen Segment an,letztere im medizinisch-konventionell-organmedizinischen.Die Lager sind gespalten. 26

MedizinstudentInnen gehören zu Beginn des Studiums der ersten Kategorie an, wenn sieihren Ausbildungsgang durchlaufen haben, meist der zweiten.

Zweierlei Art von Nicht-Kooperativität

Der Aspekt der Nicht-Kooperativität von PatientInnen lässt sich in zwei Gruppen differen-zieren.Anhand dessen, was wir über die konstitutionellen Eigenheiten von Menschen des Typs Aund solchen des Typs B wissen, lässt er sich in Handlungsanweisungen für die Patienten-führung konkretisieren (Abb. N/2 a / b, N/3).In den Abb. D/6 a - c hatten wir ja schon Aspekte ihrer biologischen und psychologischenEigenschaften, Reaktionen und Verhaltensweisen kennen gelernt.Aus der Abb. L/5 a sind Konsequenzen für die Behandlung ableitbar.

Non-Compliance und Complaisance

A-PatientInnen neigen dazu, ‚Cooperation’ in ‚Competition’ umzufunktionieren.Kranke B-Menschen hingegen neigen zu ‚Complaisance’ (engl.: Willfährigkeit). Sie ist eine -für Arzt wie für Patient - gefährliche Form der Schein-Kooperation.Alle angeordneten Maßnahmen werden kritiklos angenommen – sei es aus Gründen derÜberanpassung (Typ A), sei es aus Gründen der Selbstaufgabe (Typ B).Für PatientInnen ist sie gefährlich, weil sie mehr oder weniger direkt in Missbrauch oderAbhängigkeit führt.Für ÄrztInnen ist sie gefährlich, weil sie in die Rolle von Gurus, Halbgöttern o. ä. rutschen.Im Bereich psychischer Erkrankungen kennt man dieses Phänomen als ‚folie à deux’: eineAnpassung der PatientInnen an narzisstische Erwartungen der Behandler. 27 Viele chroni-sche Kranke gehen so vor – und manipulieren ihre BehandlerInnen (unbewusst zwar, abersehr wirksam).Ein besonders Gruppe hat man als ‚KoryphäenkillerInnen’ herausgearbeitet 28 (Bei den‚Fallen’ werden wir ein krasses Beispiel dafür kennen lernen; Abb. O/5 c).

Solche PatientInnen teilen im Erstgespräch mit, was sie alles schon getan hatten,um gesund zu werden. Sie waren bei Professor Hinz, bei Heilpraktiker Kunz etc.gewesen – alles „anerkannte Spezialisten in ihrem Fach“; keiner hatten ihnenhelfen können.Man bemerkt, wie man in seinem Sessel immer größer wird und tolle Ideen ent-wickelt, wie man ihnen helfen könnte. Was man dann aber auch bald merkt: Wieviel Energie solche PatientInnen kosten und dass man ihnen schließlich genauso wenig helfen kann, wie die BehandlerInnen zuvor.

In der Alibi-Beziehung – ein andere antitherapeutisch wirkende Haltung - tragen die Pati-entInnen ihre ‚Körper’ - u. U. täglich - in die Praxis, lassen ihre ‚Seele’ aber draußen. „Ich binso oft dort gewesen und habe alles mitgemacht - geholfen hat es nicht!“

Die Krankheitspartei

In der Abb. N/3 a sind spezifische Strategien der PatientInnen, die wir als Typ A (rot) undTyp B (blau) kennen, unter den Aspekten der patientenseitigen Gestaltung der Arzt-Patien-ten-Beziehung dargestellt (In der Mitte - gelb - das Verhalten des gesunden Mitteltyps).

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Im letzten Kapitel hatten wir ihr energiezehrendes Verhalten unter salutogenetischen Aspek-ten – speziell unter dem Blickwinkel von Erledigung und Nicht-Erledigung beleuchtet.Sie sind – ungewollt und unbewusst – Mitglied der ‚Krankheitspartei’, die sie nicht mehr loslässt.Die Programme der Krankheitspartei (Abb. N/1) verpflichten zu: (auto)destruktivem Verhalten, Unkooperation, Ablehnung – wenn nicht Feindseligkeit und Irreführung der BehandlerInnen durch Aggravation oder Dissimulation.

Andere Charakteristika der Krankheitspartei sind: Ideologien, Totalitarismus und faschisti-sche Züge.GRUEN hat eine ihrer Varianten unter der Bezeichnung ‚Wahnsinn der Normalität’ beschrie-ben. 29 Sie versteckt ihre Absichten oft hinter Sachzwängen und Realismus.Man findet sie meist bei männlichen Patienten.Sie stellen ihre Bedürfnisse hinter die von außen an sie heran getragenen Sachzwängenzurück (vergl. Stellung des Arztes im Beziehungsgeflecht der Kranken in Abb. E/1 a) undwerden selbst bei ernsten Warnzeichen (noch) nicht einsichtig.

Ein Geschäftsführer eines mittelständischen Unternehmens kam wegen einesZwölffingerdarmgeschwürs in Behandlung. Er rauchte und trank zuviel, hetztevon Termin zu Termin und kam auch am Wochenende nicht zur Ruhe.Für die vorgeschlagenen Übungen zu einem besseren Stressmanagement hatteer ‚keine Zeit’.Eines Samstags rutschte er – noch keine 50 Jahre alt - bei der Sportschau undeinem aufregenden Fußballspiel mit einer Halbseitenlähmung von der Couch.

FACHINELLI hat anhand von bestimmten Krankheitsbildern andere Aspekte der Krankheits-partei – beispielsweise ihre faschistoiden Züge - aufgedeckt. 30

Abb. M/4: Lorenz-Attraktor als Illustration für ‚stabile’ Zustände und Übergänge zwischen ihnen

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Eine Anleihe

Um sich eine Vorstellung davon zu machen, wie Menschen auf die eine oder die andere Artreagieren, wie diese Reaktionsarten oft scheinbar unbehandelbar fixiert sind, aber auch, wiesie ineinander übergehen können, machen wir einen Ausflug in die Chaos-Theorie.Der Lorenz-Attraktor (Abb. N/4) beschreibt periodisch-stabile Zustände in offenen Systemen,die sich aus einem ursprünglich instabilen Zustand, meist infolge Selbstorganisation, bilden.Die zwei Schleifen des Attraktors charakterisieren verschiedene Systemzustände: Individual-typische Reaktionen kreisen in manchen Fällen sehr eng um ein Zentrum (Abb. N/5 a), inanderen Fällen flottieren sie zwischen zwei Zuständen hin und her (Abb. N/5 c).Was man immer wieder feststellt – mal mit Verwunderung, mal mit Verärgerung, mal mitEntsetzen, mal mit Frustration -, ist, dass Krankheit ein stabiler Zustand ist.Im Attraktor hat sich dieser Zustand durch ‚Selbstorganisation’ dauerhaft stabilisiert.Kybernetisch steht dahinter eine dauerhafte Sollwertverstellung zentraler Regeleinrichtungenim Neocortex (kognitive Ebene), im limbischen System (emotionale Ebene) und im Hypo-thalamus (effektorische Ebene). Von letzteren ist hier bevorzugt die Rede.Der ‚Widerstand’ der Kranken wird umso größer, je mehr man sich dem Kern der Krankheitnähert. Der Beginn einer Besserung zeichnet sich dann ab, wenn es gelingt die/den Krankenzu destabilisieren.Kranke berichten in dieser kritischen Phase der Destabilisierung gelegentlich, sie hätten dasGefühl, verrückt zu werden. Als BehandlerIn gewinnt man das Vertrauen der PatientInnen,wenn man sie auf diese ‚Erstverschlimmerung’ hinweist.Die dahinter stehende Dynamik kann man sich als das ‚Grauen nach Überwinden des Ab-grundes’ vorstellen. So lange die PatientInnen im Krankheitsstress waren, verhinderte dieHöhe der Stresshormone die Wahrnehmung der Gefahr.

Prognosen

Wann es bei dem unbelehrbaren Patienten, dessen VBE-Werte über zehn Jahre konstantextrem waren (Abb. N/5 a), zu der zu erwartenden Katastrophe (Herz-Kreislauf-Erkrankung,Bronchialcarcinom) kommt, ist eine Frage der Zeit. Seine 115 Jahre (Abb. Q/1 a) wird ersicher nicht erreichen.Umgekehrt darf man der Patientin, deren VBE-Verlauf in Abb. N/5 b dargestellt ist, ruhigenGewissens sagen, dass sie – weitere stand by-Therapie vorausgesetzt – ihren Krebs über-wunden hat, denn die Werte des Risiko-/Stress-Indexes liegen konstant im Bereich für funk-tionelle Syndrome (vergl. Kapitel ‚Vollblutanalyse’ – speziell ‚Stress-Index’).In der Abb. N/6 ist anhand eines alltäglichen Problems in der Praxis – chronischen Schmerz-syndromen – dargestellt, welche patho-/stressphysiologischen Mechanismen hinter fixiertenKrankheitsbildern stehen. Will man sie erfolgreich behandeln, so muss man die regulations-pathologischen Befunde (Verharren im Schock bzw. Gegenschock) genau so berücksichti-gen wie die verdrängten Ängste der PatientInnen, die auf der phänomenologischen Ebeneähnlich sein können, deren Dynamik aber aus ganz unterschiedlichen Quellen genährt wird:Bei Schmerzpatienten mit A-Reaktion spielen sich die Verlustängste auf der Verhaltens-ebene ab und sind dort auch gut zu behandeln (beispielsweise durch Verhaltenstherapie).Die Ängste von B-PatientInnen – es sind ja überwiegend weibliche – reichen bis in die exi-stentielle Ebene hinab und sind durch verhaltenstherapeutische Interventionen kaum zu er-reichen. Hier sind eher Verfahren der Nootherapie, Logotherapie etc. angezeigt.

Eine Schmerzpatientin gab bei der Analyse der Gründe der ‚Selbstbestrafung’ fürihre ‚Schuld’ (zwei Carcinome, ein malignes Melanom, ein Multiorganversagenmit mehrwöchigem Koma) ihre Existenz an – nicht mehr und nicht weniger!Auf die Frage, wodurch sie schuldig geworden sei, antwortete sie mit kleinerStimme: „Dass ich da bin!“

Die Abbildung N/5 c zeigt, dass therapeutische Maßnahmen an die Dynamik des Gesun-dungsprozesses angepasst sein sollten. Das gleich gilt für die Rekonvaleszenz nach akutenund die Genesungsphase nach chronischen Krankheiten.

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Abb. M/5 a: stabiler Zustand A bei peripheren Durchblutungsstörungen – Nikotin-Abusus

Abb. M/5 b: stabiler Zustand B bei Mamma-Carcinom in stabiler Remission

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Abb. M/5 c: labiler Zustand mit Wechsel zwischen Reaktion B und A bei Allergie

Abb. M/6: chronische Schmerzsyndrome als Beispiele für (semi)stabile Zustände A bzw. B

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Fazit

Die von kranken Menschen nicht-gelernten, defizitären oder deformierten Strategien wirkensich auf die Arzt-Patienten-Beziehung aus.

Ausblick

Eine Einbeziehung der Erkenntnisse der Coping- und Stress- bzw. Genderforschung in dieBehandlung erleichtern den Umgang mit chronisch Kranken.Die hinter der oft gleichartigen Symptomatik von Krankheitsbildern aufscheinende Dynamikdes pathophysiologischen Prozesses ist der ‚Königsweg’ zur erfolgreichen Behandlung.

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Bemerkungen/Notizen

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1Engel GL: Psychisches Verhalten in Gesundheit und KrankheitBern: Huber 1976

2von Troschke J: Gesundheits- und Krankheitsverhaltenin: Hurrelmann K, Laaser U (Hsgb): GesundheitswissenschaftenWeinheim/Basel: Beltz 1993

3Myrtek M: Gesunde Kranke – kranke GesundeBern: Huber 1998

4Schaefer H: Erfahrungsheilkunde und UniversitätErfahrungsheilkunde 1993; 11: 597 - 601

5Heines J: Funktionelle Syndrome IÄrztez Naturheilverf 2003; 4: 206 - 211

6Richter-Kuhlmann EA: Hochschulmedizin – Klasse statt MasseDt Ärztebl 2004; 101/23: 1307 – 1308

7Watzlawick P: Vom Schlechten des Guten oder: Hekates LösungenMünchen/Zürich: Piper 1991

8Berger M: Eine wissenschaftliche Kontroverse – Non-Konsensus-Konferenz zur HypercholesterinämieDt Ärztebl 1991; 88: 31 – 37; 45 - 47

9Paulus J: Die Tricks der PillendreherWie Pharmafirmen mogeln, damit Studien die gewünschten Resultate zeigenDIE ZEIT 2004; 18: 40

10Anonymus: Wie Neuroleptika sich gegenseitig übertreffenArzneitelegramm 2006; 37/10: 92

11Chomsky N: Reflexionen über SpracheFrankfurt: Suhrkamp 1977

12Bandler/Grinder: Metasprache und PsychotherapiePaderborn: Junfermann 1992

13Feiereis H: Scheinlösung Krankheit – der somatische Konflikt7. Norddeutsche Psychotherapietage Lübeck 10/1978

14Frederich B: Zuflucht in der Krankheit suchenMünchen: Heyne 1985

15Harrison J: Liebe deine Krankheit – Sie hält dich gesundMünchen: Hugendubel 1988

16Covington St, Beckett L: Immer wieder glaubst du, es ist LiebeMünchen: Kösel 1990

17Watzlawick P: Vom Schlechten des Guten oder: Hekates LösungenMünchen/Zürich: Piper 1991

18Richter HE: Flüchten oder StandhaltenGiessen: Psychosozial 1997

19Brockhaus Multimedial 2003

20von Engelhardt D: Zur Copingstruktur - Vom Umgang des Kranken mit seiner KrankheitEHK 1982; 10: 765-773

21von Engelhardt D: Mit der Krankheit leben - Grundlagen und Perspektiven der Copingstruktur des PatientenHeidelberg: vfm 1986

22Filipp SH, Aymanns P: Bewältigungsstrategien (Coping)in: von Uexküll Th (Hsgb): Psychosomatische Medizin – München: U&S 1996

23Girke M, Hoppe JD, Matthiessen PF, Willich SN: Medizin und MenschenbildDas Verständnis des Menschen in Schul- und KomplementärmedizinKöln: Deutscher Ärzteverlag 2006

24Weiss T: Familientherapie ohne FamilieMünchen: Kösel 1988

25Franck JD: Die HeilerMünchen: dtv 1985

26Franke HW: Gespaltene Wirklichkeit: Zum Verhältnis von Naturwissenschaft und Kulturin: Ermert K, Striegnitz M: Gespaltene Wirklichkeiten - Zum Verhältnis von Naturwissenschaft und KulturLoccumer Protokolle 12/1982

27Laing RD: Das geteilte Selbst – Eine existentielle Studie über geistige Gesundheit und WahnsinnMünchen: dtv 1987

28Beck, D: Das Koryphäen-Killer-Syndrom - Zur Psychosomatik chronischer SchmerzzuständeDtsch Med Wschr 1977; 102: 303 - 309

29Gruen A: Der Wahnsinn der Normalität – Realismus als KrankheitMünchen: dtv 1987

30Fachinelli E: Der stehende Pfeil - Drei Versuche, die Zeit aufzuhebenBerlin: Wagenbach 1982