Manuskript: Ziele und Strukturen des Suchthilfesystems ... · Unsere heutigen Vorstellungen von...

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Manuskript: "Ziele und Strukturen des Suchthilfesystems - gestern, heute, morgen". Vortrag zur Freiburger Sozialtherapiewoche 1997 des Deutschen Caritasverbandes "Gute Arbeit in schlechten Zeiten - Suchtkrankenhilfe im Umbruch" vom 03.03. bis 07.03.1997 in Freiburg. Erscheint im Kongreßbericht Ende 1997. Michael Klein, Köln Zusammenfassung Die Geschichte des Suchtbegriffs und der Suchthilfe werden unter psychologischen und kulturwissenschaftlichen Aspekten betrachtet. Es wird dadurch offensichtlich, daß sowohl der Suchtbegriff als auch die resultierenden Ansätze der Suchthilfe während der letzten fünf Jahrhunderte sehr dynamischen Verläufen ("Zyklen") unterlagen. Diese Zyklen waren in ihren "Hochkonjunkturen" überwiegend durch Zuspitzung der sozialen Wahrnehmung auf wenige Aspekte des Gesamtphänomens "Sucht" und danach durch eine Radikalisierung der Therapiemethoden gekennzeichnet, während zu anderen Zeiten Suchtprobleme eher verleugnet oder verharmlost wurden und die Suchthilfe wenig Innovation zeigte. Für die Zukunft des Suchtbegriffs und der Suchthilfe wird argumentiert, daß aufgrund der grundlegenden Prinzipien der Moderne im Umgang mit psychotropen Substanzen, nämlich Wirkstoffpotenzierung und Allgegenwart von Suchtmitteln, mit einer Zunahme von Suchtproblemen vor dem Hintergrund von Individualisierung und Synthetisierung der Drogenwirkungen zu rechnen sein wird. Die Suchthilfe wird darauf mit überwiegend isomorphen Strategien reagieren.

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Manuskript: "Ziele und Strukturen des Suchthilfesystems - gestern, heute, morgen". Vortrag zur Freiburger Sozialtherapiewoche 1997 des Deutschen Caritasverbandes "Gute Arbeit in schlechten Zeiten - Suchtkrankenhilfe im Umbruch" vom 03.03. bis 07.03.1997 in Freiburg. Erscheint im Kongreßbericht Ende 1997.

Michael Klein, Köln

Zusammenfassung

Die Geschichte des Suchtbegriffs und der Suchthilfe werden unter psychologischen und kulturwissenschaftlichen Aspekten betrachtet. Es wird dadurch offensichtlich, daß sowohl der Suchtbegriff als auch die resultierenden Ansätze der Suchthilfe während der letzten fünf Jahrhunderte sehr dynamischen Verläufen ("Zyklen") unterlagen. Diese Zyklen waren in ihren "Hochkonjunkturen" überwiegend durch Zuspitzung der sozialen Wahrnehmung auf wenige Aspekte des Gesamtphänomens "Sucht" und danach durch eine Radikalisierung der Therapiemethoden gekennzeichnet, während zu anderen Zeiten Suchtprobleme eher verleugnet oder verharmlost wurden und die Suchthilfe wenig Innovation zeigte. Für die Zukunft des Suchtbegriffs und der Suchthilfe wird argumentiert, daß aufgrund der grundlegenden Prinzipien der Moderne im Umgang mit psychotropen Substanzen, nämlich Wirkstoffpotenzierung und Allgegenwart von Suchtmitteln, mit einer Zunahme von Suchtproblemen vor dem Hintergrund von Individualisierung und Synthetisierung der Drogenwirkungen zu rechnen sein wird. Die Suchthilfe wird darauf mit überwiegend isomorphen Strategien reagieren.

"Alkoholiker wurden gebranntmarkt: Sie konnten im England des 17. Jahrhunderts dazu verurteilt werden, ein rotes "D" sichtbar auf der Kleidung zu tragen..." (SCHWOON, 1993, 220).

Der vorliegende Beitrag untersucht Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Suchthilfe auf der Basis kulturwissenschaftlicher und psychohistorischer Forschung. Dabei wird von der Hauptthese ausgegangen, daß ein innerer psycho- und sozio-logischer Zusammenhang zwischen Suchtmittelherstellung, Suchtmittelkonsum und Suchthilfe besteht. Dieser ist nicht linear in dem Sinne "Je mehr Suchtmittelproduktion, desto mehr Hilfe", sondern unterliegt komplexen Dynamiken ("Zyklen"), die es ansatzweise zu ergründen gilt, um künftige Trends der Suchthilfe zu skizzieren.

Die Frage nach vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Strukturen und Zielen in der Suchtbehandlung ist stets untrennbar mit den Sichtweisen, Phänomenen und Reaktionen bezüglich süchtiger Verhaltensweisen verbunden. Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen dem Konsum psychotroper Substanzen und den Reaktionen der Beobachter und Konsumenten selbst auf dieses Verhalten. Dies führt zu einem reflexiven Regelkreis zwischen Verhalten und Bewertung.

Deshalb lohnt sich eine Zeitreise in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Suchtfragen.

Sucht in der Vergangenheit

Nach Ansicht vieler Historiker und Kulturwissenschaftler ist der Suchtbegriff eine Erfindung (neudeutsch: Konstruktion) der Moderne (SCHEERER, 1995; SPODE, 1986). Unsere Vorstellungen über Alkoholmißbrauch, Trinker und Trunkenheit sind klar historisch bedingt und damit epochalen Schwankungen unterworfen. SPODE (1996) spricht in diesem Zusammenhang von Thematisierungskonjunkturen. Diese Thematisierungskonjunkturen sind seit der Erfindung von Massenmedien deutlich nachweisbar. Luthers Feldzug gegen den deutschen Saufteufel wäre ohne die Gutenbergsche Erfindung des Buchdruckens nicht denkbar gewesen. Unter dem Schlagwort des nationalen Saufteufels konnte eine Thematisierungskonjunktur in Richtung des sich mäßigenden frommen Christen eingeleitet werden, die in der Mentalitätsgeschichte der Neuzeit bis heute Spuren hinterlassen hat. In den Zeiten zuvor waren umfassende (im Sinne von globaleren) Meinungsbildungsprozesse nur sehr eingeschränkt durch Mund-zu-Mund-Propaganda, Gerüchte und in "heiligen" Pergamenten niedergelegte Darstellungen möglich. In der heutigen modernen Medienwelt dagegen gibt es eine Inflation von Informationen und Meinungserzeugern, nicht immer zum Segen der Konsumenten und Betroffenen.

Unsere heutigen Vorstellungen von Sucht, Alkoholismus und Drogenabhängigkeit können - wie jedes menschliche Wissen - keinen Anspruch auf Dauerhaftigkeit oder gar bleibende Gültigkeit erheben. "Wer mit diesen Begriffen arbeitet, tut daher gut daran, sich ihrer Relativität, ihrer Eingeschlossenheit in eine spezifische historische Konstellation" (SPODE, 1986, 179) bewußt zu sein.

SPODE (1996) stellt die Hypothese auf, daß wir wieder am Beginn eines Thematisierungszyklus des Problems Alkohol stehen. Innerhalb eines "gemäßigt kontruktivistischen Modells" kommt er zu der Prognose, daß Alkohol derzeit wieder zum Sozialen Problem entwickelt wird. "Erst aber wenn sich das Thema mit "strukturellen Spannungen" verbindet - und entsprechenden Ängsten, Machtinteressen, Wertkonflikten und Handlungszwängen - kommt es zu Synergie-Effekten, die den Alkohol im Wettkampf der Probleme weit nach oben tragen" (SPODE, 1996, 169).

Das erste von vier notwendigen Stadien zur Kreation einer "Alkoholfrage" sei schon erreicht:

(1) Der Alkoholverbrauch stagniert bei sinkender Tendenz und folgt damit dem Realeinkommen der Bevölkerung.

(2) Randschichten und -milieus wachsen, von denen einige auch öffentlich sichtbar trinken.

(3) Es entstehen weitverbreitet Mäßigkeitsbewegungen, wie derzeit schon in den USA.

(4) Der Mindestabstand von einer Generation seit der letzten Alkoholkrise ist schon überschritten.

Auch wenn diese psychohistorische Theorie rein heuristischen Charakter hat und noch einer Verifizierung harrt, lenkt sie doch die Aufmerksamkeit in geschickter Art auf die sozialen und massenmedialen Aspekte sogenannter Suchtkrisen. Sie läßt dabei unbeantwortet, wie derartige Thematisierungszyklen zu bewerten sind. Ob sie in ihren Auswirkungen der Suchthilfe eher dienen oder schaden, ist unter kurzfristigem historischen Blickwinkel nicht zu beantworten.

Für den Bereich der illegalen Drogen scheint aus naheliegenden Gründen (z.B. Ablenkung von größeren Suchtproblemen, Voyeurismus, Generationskonflikte) schon lange eine Suchtkrise, sozusagen ein chronifiziertes Suchtproblem, vorzuliegen.

In einem unlängst veröffentlichten Beitrag nennt SPODE (1997) die Trunkenheit einen Baustein der nationalen Identität der Deutschen, und dies seit vielen Jahrhunderten. Folgt man den frühen völkerkundlichen Beobachtungen eines Tacitus, so müssen die Germanen selbst

für die nicht gerade sinnes- und lustfeindlichen Römer ein - gelinde gesagt - auffälliges Trinkverhalten an den Tag gelegt haben.

Äußerte sich Dante noch mit den Worten "Gott ist den Trinkern nicht gram", so waren in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Nachkommen der ersten puritanischen Prediger in Nordamerika schon "der festen Überzeugung, daß Trunkenheit eines der schändlichsten Laster sei und damit jede Ausrottung und Beschränkung derselben etwas Gott Wohlgefälliges" sei.

Während die Welt der Reformation anfangs nur den Saufteufel in Form ständiger Trunkenheit bekämpfte und ablehnte, benötigte die industrielle Welt ab dem frühen 18. Jahrhundert stets klar denkende, rationale und berechenbare Menschen, um Produktionsabläufe langfristig planen und somit überhaupt Profite erzielen zu können. Der Rausch des Menschen des Mittelalters und der frühen Neuzeit wurde nunmehr mangels Zeitknappheit wegrationalisiert. Die neuen Produktionsabläufe diktierten den Menschen einen Lebensrhythmus, der das bis dahin vorherrschende natürliche Wechselspiel zwischen Zechen und Ausnüchtern unmöglich machte. Ein Rausch mußte beschleunigt eintreten und wieder schnell ausgetrieben werden können. Gleichzeitig erhöhten die aufkommenden sozialen Notlagen das Bedürfnis nach innerer Weltflucht und Eskapismus. Dadurch wurden Alkoholkonsumstile etabliert, die die latent vorhandene Gefahr der Entwicklung körperlicher Abhängigkeit erst richtig manifest werden ließ.

In dieser neuen Welt mit ihren partialisierenden und individualisierten Arbeitsprozessen war es denkbar, daß die Tatsache, daß Menschen ständig oder fast ständig Alkohol (insbesondere Bier und Branntwein) zu sich nahmen, als störend und in der Folge auch irgendwann als krankhaft erlebt wurde. Und dies alleine, weil andere Personen ihre Aufmerksamkeit auf genau dieses Verhalten richteten, sozusagen erstmals Beobachter eines bislang nicht als Phänomen bewerteten Verhaltens wurden. Ob da nun eine Krankheit, die zuvor verborgen war, entdeckt wurde, oder ob sie als eine solche erst entstand, d.h. konstruiert wurde, ist vom heutigen zeithistorischen Standpunkt her äußerst schwer zu einzuschätzen. Bemerkenswert ist aber noch, daß die Gesellschaft, die das exzessive Alkoholtrinken zunehmend geißelte, erst die Grundlagen für das kritisierte Konsumverhalten legte: Ohne die produktionstechnischen Veränderungen bei der Herstellung und beim Vertrieb von Alkohol, insbesondere den Spirituosen - beides geschehen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts -, wären die sogenannten Alkoholkrisen (Vorläufer der heutigen Drogenkrisen) nicht denkbar gewesen. Zwar gab es auch schon im ausgehenden 17. Jahrhundert und während großer Teile des darauffolgenden Jahrhunderts in den frühen industriellen Ballungszentren Englands Klagen und intensive Berichte über das Alkoholelend, das durch extremen Mißbrauch von Gin und anderen Branntweinen ausgelöst wurde, doch erscheinen diese Phänomene aus heutiger Sicht nur Menetekel späterer viel massiverer Krisen gewesen zu sein. Die englische Landbevölkerung jener Tage blieb davon zumindest - genauso die Bevölkerung wie im restlichen schwach industrialisierten Europa - solange verschont, bis durch den Siegeszug der Dampfmaschine der Einführung eines völlig neuen Transport- und Wegesystems auf der Grundlage der Eisenbahnen nichts mehr im Wege stand. Im 19. Jahrhundert erreichte im amerikanischen Westen der gebrannte Alkohol, hauptsächlich in Form von Whiskey, auch erstmals Tausende von Indianern, deren Kultur durch diese Droge mehr als durch alles andere zerstört wurde.

Ein entscheidender Schritt zur Distribution von Alkoholika und anderen Drogen an jeden beliebigen Ort der Erde in jeder beliebigen Menge war getan. Die zwei hauptsächlichen stoffbezogenen Faktoren für heutige Suchtkrisen, die ständige Verfügbarkeit und die kontinuierliche Wirkstoffpotenzierung, waren nunmehr gegeben. Die Globalisierung der Märkte hat im Bereich des (legalen wie illegalen) Handels mit Drogen schon eine mehr als hundertjährige Tradition und kann als Paradebeispiel für manche Globalisierungsdiskussion unserer Tage dienen. Die Geschichte der ostindischen Kompanie, einer englischen Kolonialgesellschaft, die von manchen Historikern als Staat im Staate des Englands im 19. Jahrhundert betrachtet wird, liefert dafür ein interessantes Zeugnis. Um den Teehandel zwischen Indien und England finanzieren zu können, wurde ein schwunghafter Opiumhandel mit dem traditionell außenwirtschaftlich autarken China inszeniert. Der Staat als Dealer ist somit nicht nur ein Schlagwort des ausgehenden 20. Jahrhunderts, sondern schon ein historisches Phänomen des 19. Jahrhunderts gewesen.

Es ist nur einer von vielen Widersprüchen der Moderne, daß auf der einen Seite neue Möglichkeiten (z.B. zur Herstellung wirkstoffpotenterer Drogen) scheinbar ohne Sinn und Planung - außer dem des monetären Profits - geschaffen werden, die auf der anderen Seite wiederum vehement bekämpft werden. Hierin liegen wichtige Wurzeln der oft sehr widersprüchlichen, rigiden Drogenpolitik unserer Tage. Früher - konkret im frühen 18. Jahrhundert - war es z.B. der Kaffee der die Geister spaltete. Einerseits wurde er als großer Ernüchterer und Förderer des klaren Denkens bejubelt und andererseits als Zerstörer jahrhundertealter Volkskultur bitterlich bekämpft.

Jede Ära hat ihre spezifischen Drogen, psychotrope Substanzen, die speziell zu den Erfordernissen der jeweiligen Gesellschaft an ihre Mitglieder passen. War es im Mittelalter das Bier, das auf einfache Weise als Grundnahrungsmittel das Überleben vieler sicherte (ausreichende Kalorienzufuhr und Genuß weitgehend desinfizierten Wassers) und nebenbei durch seine leichte Betäubungswirkung je nach Situation Soziabilität in den aufkommenden Städten oder Mut und Tapferkeit in den Nahkampfgefechten der Ritter förderte, so lösten Branntweine und Kaffee ab dem 18. Jahrhundert die alten Drogen ab. Sie passen zu der allgemeinen Beschleunigung der Lebens- und Produktionsabläufe der letzten 250 Jahre, ermöglichen sie doch schnellere Räusche und schnellere Ernüchterung. Je nach Sozialschicht förderte der Kaffee die Geselligkeit und die Geistesfrische des Bürgertums (manche Revolution wäre ohne Kaffee vielleicht nie geschehen!) und der Branntwein ließ die armen Schichten ihr Elend scheinbar leichter ertragen.

Die Vergangenheit der Suchthilfe

Auch wenn vor der Neuzeit der Suchtbegriff nicht die Unmäßigkeit im Trinken bezeichnete, sondern "Sucht" vielmehr eine Bezeichnung für "Siechen", also Krankheiten ganz allgemein war, gibt es vielerlei frühe historische Zeugnisse, die die Sorge um Trinker, Betrunkene und Trunkenbolde dokumentieren. So glaubte der Römer Plinius im Assyrerkönig Orus den Erfinder einer radikalen Heilmethode für Alkoholismus ausfindig gemacht zu haben: "Trunkenbolde bekommen eine Abscheu [vor dem Alkohol], wenn man ihnen drei Tage lang die Eier des Steinkauzes in Wein gibt. Rausch verhütet eine vorher gegessene gebratene Schafslunge. Die Asche vom Schnabel einer Schwalbe, mit Myrrhe zerrieben und in den Wein gestreut, der getrunken werden soll, wird vor der Trunkenheit bewahren. Dies hat Orus, ein König der Assyrer, herausgefunden" (TALLQVIST, 1895).

Diese frühe Form der "Suchthilfe" ist dennoch mühelos in eine der wiederkehrenden Interaktionsfiguren im Umgang mit Alkoholikern (SCHWOON, 1993) einzuordnen. Als solche sind das Bekehren, das Heilen, das Ausmerzen und das Begleiten zu nennen. Die "Patienten" des assyrischen Königs dürften schnell verspürt haben, daß ihr König ihr Laster mit radikalen Heilmethoden ausmerzen wollte.

Nimmt man neben der Suchthilfe noch den breiteren Bereich der Sucht- bzw. Drogenpolitik hinzu, so sind als Ziele noch das Kontrollieren, das Eindämmen, das Bekämpfen, das Bekriegen, aber auch das Helfen zu nennen. Da Drogenpolitik und Suchthilfe aufs Engste miteinander verwoben sind, lassen sich die genannten Ziele auch nicht auf jeweils einen Bereich beschränken, sondern gelten je nach Zeitgeist für beide gleichzeitig, abwechselnd, nacheinander oder bisweilen auch gegeneinander.

Außerdem sind den einzelnen Interaktionsfiguren konkrete Ansätze in der Suchthilfe zuzuordnen: Das Bekehren etwa wird von quasireligiösen Bewegungen wie den Anonymen Alkoholikern (AA) übernommen, das Heilen entspricht dem medizinischen Modell, nach dem heute ein Großteil unserer Suchthilfe arbeitet (insbesondere im Rahmen der Medizinischen Rehabilitation), das Ausmerzen wurde schmerzlich in den radikal menschenverachtenden Ansätzen des Nationalsozialismus (vgl. HAUSCHILDT, 1995) deutlich. Das Begleiten schließlich scheint ein höchst modernes Thema der Suchthilfe zu sein. Es spiegelt sich schon in den schadensverminderten und -begrenzenden Ansätzen ("harm avoidance", "harm reduction") wider, erscheint jedoch am deutlichsten in den sogenannten akzeptierenden Ansätzen der Drogenhilfe.

Entstehung von Suchtphänomenen aus systemischer Sicht

Häufig wird von systemisch-konstruktivistischer Seite bezüglich der Entstehung von Suchtphänomenen und insbesondere -krisen das Argument vorgebracht, diese seien das Ergebnis rein individuell und somit subjektiv konstruierter Wirklichkeiten. So sei z.B. die Krankheit Alkoholismus eine erfundene Wirklichkeit und es bestehe die Gefahr, "daß die "krank" benannten Phänomene zum identitätsstiftenden Merkmal einer Person werden, zum unveränderlichen Kennzeichen, das in einem Paß eingetragen wird. Beide werden dadurch zu einer untrennbaren Einheit verschmolzen." (SIMON, 1991, 14).

Die systemisch-konstruktivistische Sichtweise, daß Sucht nur eine konstruierte Realität, im Extrem eine Ansichtssache (EFRON et al., 1988) ist, greift bei weitem zu kurz. Sie versäumt es zum einen, die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen der Produktion und des Vertriebs von Drogen, insbesondere Alkoholika, in ihre Erklärungen miteinzubeziehen. Zum anderen wird es unterlassen, die intrapsychischen Abläufe, auch auf psychobiologischer und neurophysiologischer Ebene, zu berücksichtigen, die zur Entstehung und Aufrechterhaltung von süchtigen Verhaltensweisen führen. Dies überrascht umso mehr, da die Funktionsweise unseres Gehirns, der Milliarden Nervenzellen und speziell des sogenannten Selbstbelohnungssystems, geradezu das Sinnbild systemischen Funktionierens ist.

BISCHOF (1996, 92) kritisiert die neuen "Heilslehren" der radikal konstruktivistischen Schule vehement: "Das neue Zauberwort heißt "radikaler Konstruktivismus" und wird von einer Gruppe von Amateurphilosophen verbreitet, die ..., im Vollgefühl geläuterter Heilsgewißheit, den Ungetauften ihre Wahrheit kündigen." Die Idee, daß es eine vom Beobachter unabhängige Realität gibt, wird radikal geleugnet, so daß letzten Endes absolute Beliebigkeit und Solipsismus herauskommen. "Der einzig konsequente Ausweg aus dem Dilemma bestünde darin, ohne Wenn und Aber allein das eigene Subjekt wirklich gelten zu lassen und den Rest der Welt zu leugnen" (BISCHOF, 1996, 93). Ein weiterer Ausweg kann darin bestehen, die angeblich komplexen und vernetzten konstruktivistischen Modelle auf solide neuropsychologische, sozialökonomische und psychohistorische Füße zu stellen.

Frei nach der sogenannten lösungsorientierten Technik von Steve de Shazer (vgl. SCHMIDT-KELLER, 1996), die nur auf unproblematische Bereiche des Verhaltens in der Gegenwart fokussiert und zu einer nicht problembeladenen Antizipation der Zukunft einlädt, wäre zu fragen und ironischerweise zu antworten: Wann war Ihr Alkoholismus (Sucht, Suchtverhalten...) das letzte Mal nicht da? Gestern abend, als ich im Vollrausch geschlafen habe! Was tun Sie, wenn das Problem nicht da ist? Trinken! Was tun andere dann? Mittrinken! Wie wird es bewertet? Als ganz normal! Wie können Sie es weiter ausbauen? Wieder trinken gehen! usw.

Auch die bereits im frühen (!) 16. Jahrhundert aufkommenden Warnungen vor der Trunkenheit resultieren nicht nur aus Bewertungs- und Einstellungsänderungen infolge der Reformation. So ist es zwar einerseits richtig, wenn SCHIVELBUSCH (1990, 41) anmerkt, daß jenes, was sich im 16. Jahrhundert veränderte, "nicht so sehr der tatsächliche Alkoholverbrauch (der war auch vorher schon so groß, so gesättigt, daß eine Steigerung kaum mehr möglich war), sondern die Anschauung über das Trinken."

Von entscheidender Bedeutung für die sich damals langsam ändernden Sichtweisen in Bezug auf Trunkenheit dürfte die Erfindung der Buchdruckkunst gewesen sein. Mit dieser frühen Medienrevolution war es zum ersten Mal möglich, Gedanken und Forderungen in großer Zahl unter das Volk zu bringen, das damals schon hungrig nach Orientierung und Informationen war. Luther und viele seiner Zeitgenossen nutzten dies geschickt, da nur mäßige Trinker in der Lage waren, die Botschaften der Reformation, die einen nüchternen Geist verlangten, aufzunehmen und weiterzugeben. Es ist naheliegend und verständlich, daß er nach solchen Lesern rief, die aufgrund ihrer Nüchternheit und Rationalität in der Lage waren, seine Schriften zu lesen und zu verstehen.

Späterhin ist die industrielle Revolution aber auch eine Revolution der Herstellung und Distribution von Alkoholika. Dies wird in der systemisch geprägten Diskussion über Suchtphänomene allzu leicht vergessen. Es sind eben nicht nur andere Sichtweisen, Bewertungen und Interpretationen von Verhalten im Umgang mit Alkoholtrinken aufgekommen, sondern mit dem Beginn der industriellen Revolution sind konkret andere soziale Bedingungen (z.B. Landflucht, Besitzlosigkeit, Arbeiterproletariat, Wohnungsnot) sowie neue Formen und vor allem Motive für Alkoholtrinken entstanden. Friedrich Engels berichtete in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts: "Samstagsabends, wenn der Lohn ausbezahlt ist und etwas früher als gewöhnlich Feierabend gemacht wird, wenn die ganze arbeitende Klasse aus ihren schlechten Vierteln sich in die Hauptstraßen ergießt, kann man die Trunkenheit in ihrer ganzen Brutalität sehen... Am Sonntag pflegt sich dieselbe Szene, nur weniger lärmend, zu wiederholen. Und wenn das Geld aus ist, so gehn die Trinker zum ersten besten Pfandhaus... und versetzen, was sie noch haben." Es wird also deutlich, daß der Alkohol in dieser Zeit in zunehmendem Maße vor dem Hintergrund eines Eskapismus als Sorgenbrecher benutzt wurde. "An die Stelle des Alkoholrausches trat die Alkoholbetäubung" (SCHIVELBUSCH, 1990, 168).

Es ist frappierend, wie diese Wochenendexzesse der Arbeiter des 19. Jahrhunderts vom Konsumstil her an die Ecstacy- und Designerdrogenparties heutiger Jugendlicher und Jungerwachsener erinnern: Konsumieren bis zur Ohnmacht, aber längstens bis zum Montagmorgen. Auch hier herrscht am Wochenende das Motiv der Alltagsflucht, des Eskapismus, vor. Die Zeiten und Produktionsverhältnisse haben sich zwar stark verändert, die Resultate auf der Bedürfnisebene scheinen sich jedoch nicht allzu sehr gewandelt zu haben. Hier scheint eine gleiche, oder zumindest ähnliche Struktur, eine Isomorphie über die Zeit hinweg, vorzuherrschen. Damit wären wir aber bei der Gegenwart der Suchtfragen und Suchthilfe angelangt.

Suchtphänomene der Gegenwart

Zum heutigen Verständnis von Suchtphänomenen in unserer von Widersprüchen und Irrationalitäten durchzogenen Zeit mag ein "Spaziergang" durch die aktuelle Presse genügen: In der FAZ vom 30. Dezember 1996 wird berichtet, daß Rußland die kapitalistischen Segnungen einer ordentlichen Alkoholsteuer wiederentdeckt. Die russische Regierung hofft,

im Fiskaljahr 1997 mehr als 7 Mrd. DM durch die Wiedereinführung einer radikalen Steuer auf Alkoholika, hier dürfte besonders der beliebte Wodka gemeint sein, einzunehmen. Mit diesen Einnahmen soll ein Teil der Rentenzahlungen gesichert werden.

"Beam me up, Coffee!" heißt es in einer westdeutschen "Szenezeitung" mit dem vielsagenden Titel "Dates. Das Magazin für alles was Spaß macht". Damit wird der neue Trend zu anregenden bis aufputschenden Drogen von kostenlosen, d.h. werbefinanzierten, Presseorganen begleitet und forciert. Eine Frontfrau mit Namen Petra Hardt berichtet auf zwei grellbunten Seiten von den neuesten Trends: "Schneller, höher, weiter, das ist der Life style der 90er - wer schlapp macht, ist out. Selbst Freizeit wird zur Leistung - wer fit, hellwach und gut drauf sein will, der braucht schon mal einen Kick. Während Alkohol müde und dumpf macht, putschen Energiedrinks auf." Wenige Zeilen später werden auch die breiten Konsumentenschichten der etwas Älteren angesprochen: "Nicht nur die Kids der Techno-Szene, auch die 30-45jährigen schätzen den Kick aus der Dose, um den toten Punkt zu überwinden. Wer tagsüber hart gearbeitet hat und abends trotzdem fit sein möchte, trinkt..." Dann werden einige "Energydrinks" mit ihren vermeintlichen Vorzügen und Nachteilen aufgezählt, was vom redaktionellen Stil her wohl irgendwie an "Stiftung Warentest" erinnern soll. Schließlich kommt dann die "schlappe" Alkoholindustrie auf überraschende Weise doch wieder zu Ehren: "Auch die Bierbrauer steigen ein ins Energy-Geschäft: Henninger... hat Galaxy und einen Werbespot auf VIVA, in dem zu Techno-Dance-Rhythmen ein einsamer Space-Cowboy durchs All fliegt und den grünen Alien trifft... Der durstlöschende Iso-Energydrink der Traditionsbrauerei hat die Power von Taurin, Koffein, Vitaminen, Kalzium, Magnesium und natürlich Karamalz." So geht dies Zeile um Zeile gnadenlos weiter, bis selbst der letzte Depp die Botschaft "Coca Cola ist out, Power Drinks sind in" kapiert haben dürfte. Das hintergründige Prinzip heißt auch wieder: Wirkstoffpotenzierung (je mehr Koffein, Guarana, Mineralien und Activizer, desto besser). Die Tatsache, daß dies alles nur über eine Kunstsprache aus schlechtem Deutsch und noch schlechterem Englisch verkaufbar scheint, ist nicht sonderlich überraschend. Denn schließlich findet nicht nur die ganze moderne Jugendszene in Englisch statt, sondern die Werbung, der Flugverkehr und die Wissenschaft tun dies auch. Eher überraschend und bemerkenswert ist die Tatsache, daß mehr als 100 Jahre nach der Erfindung des ursprünglich kokainhaltigen Coca-Cola nun endlich wieder eine Steigerung der Wirkung ins Auge gefaßt wird. Wozu noch schlappen Espresso, gibt es doch Flying Horse, Red Kick, Take Off, Blizz Power usw.!

Als ein zweites Beispiel zur Gegenwart von Suchtphänomenen in der Gesellschaft mag das Exempel "Harald Juhnke" dienen. Schon längst ist es nicht mehr möglich, die Veröffentlichungen der Regenbogenpresse dazu zu überblicken. Es scheint eher so, als ob sich hier das schlechte Gewissen der gesamten Nation bezüglich des kollektiven Alkoholproblems zuerst "auskotzt", dann reinigt, bis der scheinbar ewige Kreislauf wieder von vorne beginnt.

Auch wenn diese "Geschichtchen" in wenigen Jahren nichts anderes als "Rülpser" des Zeitgeistes mehr darstellen werden, läßt sich daran der süchtige Hunger der Medienindustrie nach Sensationen (events, thrill) ablesen: Schlimmer als schlimme Geschichten sind für die Mediengesellschaft gar keine Geschichten, sprich der nüchterne, problemlose, unauffällige Mensch, auch wenn er Schauspieler ist und Juhnke heißen sollte.

Bezeichnend an den Pressebeiträgen ist darüber hinaus, daß sich darin die Grundkonflikte der Alkohol- und Suchttheorien widerspiegeln: Selbst- vs. Fremdkontrolle, Autonomie vs. Abhängigkeit, Lust und Laster vs. Pflicht und Tugend und schließlich das traurige, aber identitätsstiftende Schicksal der Angehörigen, meist pauschal als Co´s bezeichnet.

Aus einer gewissen Distanz heraus läßt sich das Verhalten des genannten Schauspielers als das besonders veränderungsresistente Verhalten eines klassischen Alkoholikers betrachten, bei dem besonders starke sekundäre und tertiäre Krankheitsgewinne (z.B. durch die narzißtisch verstärkende öffentliche Aufmerksamkeit) vorliegen dürften. Sicherlich würde die gleiche Person unvergleichlich weniger Aufmerksamkeit (d.h. oft Zuwendung) erhalten, wären von ihr nicht immer wieder so "schrecklich schöne" Exzesse zu berichten. Abstrahiert betrachtet, wird deutlich, welche Lebensformen unter der permanenten Verfügbarkeit und Konsumierbarkeit von Suchtmitteln in der Moderne möglich sind. Erfolg und Anpassung sind oft nur noch mit Suchtmitteln erreichbar, gleiches gilt aber auch für Rebellion und negative Aufmerksamkeit. Die permanente Infiltration fast aller Lebensbereiche, Sozialschichten und Interaktionssituationen mit Suchtmitteln ist der eigentliche "Zugewinn" der Gegenwart gegenüber der Vergangenheit. Dadurch entstehen natürlich auch völlig neue und oft ungewohnte Verhaltensweisen, Gewohnheiten und Erwartungen.

In der soziologischen und sozialwissenschaftlichen Diskussion werden heutzutage oft Begriffe wie "die süchtige Gesellschaft, Versüchtelung, betäubte Gesellschaft, Sucht ohne Drogen" gebraucht (z.B. GROSS, 1990). Diese sind aus psychologischer Perspektive viel zu global, vergröbernd und undifferenziert. Sie greifen Trends auf, sind im Kern irgendwie wahr, folgen aber in erster Linie den gesellschaftlichen Spielregeln, die da heißen: Derjenige verkauft sich gut, der am lautesten schreit; es bekommt am meisten Gehör, wer am besten vergröbern und polarisieren kann; Unwahrheiten oder Halbwahrheiten verkaufen sich oft besser als die komplexe Wahrheit! Für komplexe Phänomene und Probleme einfache Lösungen anzubieten, ist jedoch die "Weisheit" des Fundamentalismus. Daß auch manche therapeutische Schule bisweilen eher rigide und fundamentalistisch wirkt, mag im Grunde die gleichen Hintergründe haben! Es ist jedoch wichtig zu vergegenwärtigen: Es gibt in der Regel keine einfachen Lösungen für nicht einfache Probleme und, wenn es nur Lösungen gäbe, hätte niemand Probleme. Daß jedoch kein Mensch ein Problem hat, ist ein Zustand des systemisch-konstruktivistischen Paradieses, das sich vielleicht gut darstellen, verkaufen und verbalisieren läßt, für das es dennoch keine seriösen Beweise (z.B. in Form von Effektivitätsstudien) gibt. Dies heißt jedoch nicht, daß es nicht hilfreich ist, bei Problembelastungen stärker in Richtung von Lösungen zu denken und zu handeln. Vielmehr gilt es zu vermeiden, daß Suchtkranke den Eindruck erhalten, daß sich alle ihre Probleme für immer auflösen werden, wenn sie nur positiv und lösungsorientiert genug denken.

Die gegenwärtige Suchthilfe

Ähnlich wie dem Suchtbegriff erging es auch dem Bereich der Suchthilfe. Diese hat sich immer weiter ausgedehnt und neue Tätigkeitsfelder erschlossen: Der Alkoholiker, der Drogenabhängige, der Co, das Kind aus der Suchtfamilie, das erwachsene Kind aus der Suchtfamilie, der Spielsüchtige usw.

sind nur einige Beispiele dieser Expansion.

Arbeitsmarkt Suchthilfe

Der Arbeitsmarkt "Suchthilfe" umfaßt nach einer Schätzung des DHS-Referenten Bernd DEMBACH (1995, 315) derzeit etwa 10.000 Personen in den Bereichen Beratung, Therapie und Prävention. Für den Sektor der ambulanten Suchthilfe alleine liefert die DHS eine Schätzzahl von 5900 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern (HÜLLINGHORST, 1994, 155). Damit ist die Suchthilfe innerhalb des Gesundheitswesens ein bemerkenswert starkes Segment. Wenn es ihr gelingt, sich den Anforderungen zukünftiger Gesundheitspolitik anzupassen, wie z.B. Kundennähe, Flexibilität, Transparenz, Soforthilfe, kurze Behandlungszeiten usw., wird sie auch eines der zukunftsträchtigsten Arbeitsmarktfelder im Gesundheitsbereich bleiben.

In den letzten 10 Jahren wurde der Bereich der niedrigschwelligen Drogenhilfe mit großem Erfolg auf- und ausgebaut: Inzwischen wird von 1730 Plätzen für qualifizierte Entgiftung und 17.500 mit Methadon substituierten Drogenabhängigen ausgegangen (HÜLLINGHORST, 1996). Leider liegen Zahlen über die Mitarbeiterstruktur im niedrigschwelligen Drogenhilfebereich nicht vor.

Weitere Tätigkeitsfelder zeichnen sich ab: Nachdem WIENBERG (1992) auf die insgesamt mangelnde Versorgung Alkoholkranker im Bereich der medizinischen Grundversorgung hingewiesen hat, liefert HÜLLINGHORST (1996, 141) bereits konkretes Zahlenmaterial hierzu: Im Jahre 1993 sind 158.649 Krankenhausbehandlungen wegen Alkoholabhängigkeit und 22.555 wegen Alkoholpsychosen dokumentiert. Dies sind - sieht man einmal von der Möglichkeit von Wiederholungsbehandlungen im gleichen Kalenderjahr ab - etwa achtmal mehr Krankenhausbehandlungen als Entwöhnungsbehandlungen. Somit ist - sicherlich auf grober statistischer Basis - davon auszugehen, daß etwa sieben von acht alkoholkranken Krankenhauspatienten keine weiterführende fachgerechte Therapie absolvieren.

Die Suchthilfe hat sich insgesamt erheblich erweitert und man kann sich kaum des Eindrucks erwehren, als täte sie es in isomorpher Art der Suchtmittelindustrie gleich. Was bleibt ihr auch anderes übrig? Es ist auch nicht anzunehmen, daß dieser Prozeß eine komplementäre Dynamik aufweist, daß sich also zunächst die Suchthilfe ausdehnt und dann die Suchtmittelindustrie. Oder könnte die Suchthilfe schrumpfen, wenn die Suchtphänomene zunähmen? Würden Suchtphänomene überhaupt zunehmen, wenn die Suchthilfe tatsächlich

schrumpfen würde? Um diese Fragen zu beantworten, ließe sich von einem konstruktivistischen Standpunkt aus annehmen, daß umso weniger Suchtphänomene wahrgenommen werden müßten, desto weniger Beobachter vorhanden sind. Sicherlich ist die Idee des Konstruktivismus wichtig, daß ein Beobachter ein Phänomen erst wahrnehmen muß, damit es zu einem irgendwie gearteten (= bewerteten) Problem wird. Das grundsätzliche Problem bei diesen Überlegungen (vgl. EFRON et al., 1988) besteht jedoch in der Heterogenität und Diversifität heutiger Gesellschaften: Es gibt so viele Beobachter mit so vielen mehr oder weniger fundierten Meinungen, daß unklar bleibt, wo die jeweils beste Konstruktion anzutreffen ist. Die wissenschaftliche Meinung zu einem Phänomen ist oft nicht sehr bekannt, bisweilen auch nicht sehr gefragt. Dies trifft teilweise auch für den Bereich der Suchthilfe zu. Es ist kein Zufall, daß es in Deutschland immer noch nicht gelungen ist, auch nur ein nationales Suchtforschungszentrum zu etablieren. Offenbar spielen Mythen und vorwissenschaftliche Einstellungen zu Suchtphänomenen in der Politik und auch in großen Kreisen der sogenannten Fachwelt eine größere Rolle als die in der Wissenschaft im Vordergrund stehende Suche nach Wahrheit und Erkenntnis. Und Faktum ist auch, daß in Deutschland, einem der reichsten und einem der Länder mit dem höchsten Pro-Kopf-Verbrauch von Alkohol auf der ganzen Welt, bislang immer noch eine als zurückgeblieben zu bezeichnende Alkoholpolitik, Alkoholerziehung und Forschungsförderung für Suchtfragen gibt (vgl. EDWARDS et al., 1994).

Wunderglaube, Alltagsmagie und Suchthilfe

Die veröffentlichte Gegenwart der Suchthilfe liest sich daher eher wie ein Panoptikum des esoterischen Wunderglaubens: Entzug im Schlaf; Pillen gegen Rückfälligkeit; Pflaster zur Rückfallprophylaxe; Turboentzug im Schlaf; aber auch: Alkoholismus ist nur eine Ansichtssache.

Es ist in diesem Kontext der "schnellen Lösungen" nur zielgerichtet, wenn derartige Entwicklungen um sich greifen. Hinter dem Stichwort "Alkoholpflaster" verbirgt sich die (schon mehrfach in der Boulevardpresse angekündigte) Entwicklung eines pharmazeutischen Unternehmens, das bereits im Bereich der sogenannten Nikotinpflaster eine führende Rolle am Markt einnimmt. In einem internen Papier zur Erforschung des zugrundeliegenden Inhaltsstoffes "Galanthamin", dem Wirkstoff des bulgarischen Maiglöckchens, der die Acetylcholinesterase im Gehirn spezifisch hemmt, heißt es: "Solange die Probanden zwei Galanthamin-TTS trugen, war ihr Alkoholkonsum signifikant vermindert. Der anhand der renalen Cotinin-Ausscheidung gemessene Tabakkonsum war ebenfalls deutlich vermindert. Die "Galanthamin-Pflaster" wurden gut vertragen; systematische Nebenwirkungen traten nicht auf." Auch wenn diese Entwicklung hin zu medikamentösen Abstinenzhilfen sicherlich auch positive Aspekte aufweist, ist die psychologische Seite, daß nämlich z.B. die Chance zur Entwicklung von internaler Kontrolle und positiver Selbstwirksamkeitserwartung genommen wird, nicht zu unterschätzen.

Ebenfalls stark ambivalente Konflikte ergeben sich bei neueren Soforthilfeansätzen, die unter dem Begriff "Therapie sofort" bekannt wurden. Interessant ist z.B., daß auch die Synanon-Organisation jetzt mit diesen Schlagworten (sofortige Aufnahme, Kinder angenehm) wirbt,

als ob sie nicht schon immer eine Soforthilfeorganisation gewesen wäre. Da ich mich an anderer Stelle (KLEIN, 1997) bereits ausführlich und differenziert mit den Soforthilfeansätzen im Suchtbereich auseinandergesetzt habe, mag hier der Hinweis auf die problematische Ambivalenz von Schlagworten wie "Therapie sofort" genügen, daß nämlich auf der einen Seite eine Chance zu einem schnellen und unbürokratischen Therapieeinstieg geboten wird, daß aber andererseits gerade dadurch eine wenig wünschenswerte Konsumhaltung in bezug auf therapeutische Hilfen gefördert wird. Schließlich ist es ja gerade eines der Kernmerkmale süchtigen Verhaltens, daß Bedürfnisaufschub nicht ertragen werden kann und Frustrationstoleranz nur gering bis gar nicht ausgeprägt ist.

Es ist jedoch nicht neu, daß tabuisierte oder katastrophisierte Phänomene (wie z.B. die Drogensucht) besonders anfällig für alltagsmagische Vorstellungen sind. HARTEN (1991, 290) bemerkt zu Recht, daß die Auseinandersetzungen mit Sucht "von einem Dämonenglauben" bestimmt waren und sind. "Immer noch wird befürchtet, daß Süchte uns von außen anfallen und ergreifen. Daraus entwickelt sich eine irrationale, meistens völlig überzogene Angst vor Süchten, während gleichzeitig positive Aspekte nicht mit Sucht in Verbindung gebracht werden." Ähnlich irrational und illusionär dürften die Hoffnungen sein, die mit manchen der neuen Therapien geweckt werden. Und wenn Michael Soyka von einer Zeitenwende in der Drogentherapie spricht, dann ist es wohl eher wieder einmal jener Wunderglaube an das ultimative Allheilmittel, der hier das Denken beherrscht, als die wissenschaftliche Solidität, die um die Multidimensionalität und -kausalität der Suchtphänomene weiß.

Wenn es tatsächlich so etwas wie eine Modernisierungskrise des Suchthilfesystems gibt, dann befindet sich damit das Suchthilfesystem in bester Gesellschaft, nämlich in einer Gesellschaft, die sich bald nicht mehr so schnell verändern kann, wie sie selbst glaubt, es von ihren Mitgliedern erwarten zu müssen.

Die Kostenseite der Suchthilfe

Nach amerikanischen Untersuchungen verbrauchen Alkoholiker 15% des gesamten nationalen Gesundheitsbudgets (McCRADY et al., 1996, 737). Bei der Entstehung vieler (weiterer) Krankheiten übt Alkoholmißbrauch einen kausalen Einfluß aus: So werden 13% aller Fälle von Brustkrebs durch Alkoholmißbrauch erzeugt, 40% aller traumatischen Verletzungen, 41% aller Anfallserkrankungen und 72% aller Fälle von Pankreatitis (McCRADY et al., 1996, 737).

Die meisten Kosten in Zusammenhang mit Alkoholismus sind für die Gesellschaft nicht direkte Kosten (wie z.B. für Behandlungen und Therapien), sondern indirekte Kosten. So entfallen nach McCRADY et al. (1996) 35% von den Gesamtkosten für Alkoholabhängigkeit auf Mortalitätskosten und 39% auf Morbiditätskosten (Krankheitsfolgekosten). "Overall, the impairment in health, the reduction in functional capacity, and the fruitless treatment of "surrogate diagnoses" account for almost 75% of the total costs of alcohol abuse...

(McCRADY et al., 1996, 737). Die volkswirtschaftlichen Gesamtkosten des Alkohols für die USA wurden im Jahre 1990 auf über 100 Mrd. $ geschätzt, von denen mehr als 80% auf Krankheitskosten sowie Todesfälle und nur ein geringer Teil auf Behandlungskosten entfallen (EDWARDS et al., 1994, 18-19).

Da sich diese Verhältnisse nicht wesentlich von den deutschen unterscheiden dürften, ist zur Kostenreduktion die Konsequenz abzuleiten, nicht weniger Mittel in die eigentliche Suchthilfe zu investieren, sondern mehr, und nicht so spät und nicht erst in bezug auf Folgekrankheiten zu intervenieren wie es heute meist geschieht, sondern viel früher und insgesamt gezielter.

Suchthilfe als Spannungsfeld gegenläufiger Trends

Der Bereich der heutigen Suchthilfe ist insgesamt durch verschiedene, durchaus gegenläufige Trends gekennzeichnet: Wie in kaum einem anderen Bereich des Gesundheits- und Sozialwesens herrschten jahrzehntelang Mythen bezüglich der Entstehung und Behandlung von Suchterkrankungen vor. Innovationen und Reformbemühungen lösten oft heftigste Widerstände, Grundsatzdebatten und Konflikte aus. Ergebnisse aus Wissenschaft und Forschung konnten teilweise jahrzehntelang erfolgreich ignoriert oder verzerrt werden. Es etablierte sich ein "Sonderversorgungsbereich" (vgl. MISSEL & ZEMLIN, 1994) mit prosperierenden Fall-, aber auch Mitarbeiterzahlen. Die Effektivität des Behandlungssystems wurde zwar im wesentlichen, d.h. global, nachgewiesen, dennoch mehrten sich in den letzten Jahren kritische Stimmen (z.B. aus dem Bereich der Psychotherapieforschung und der Sozialpsychiatrie) zu den Grundlagen und Axiomen des Versorgungssystems, zu denen die stationäre Hilfe als Kernbestandteil zählt. Gleichzeitig werden am - quantitativ und sozial gesehen - Rande (!) des Suchthilfebereichs, dort wo es um illegalisierte Drogen geht, sozial- und rechtspolitische Grundsatzfehden ungeheurer Dimensionen ausgefochten.

Die ökonomischen Einflüsse und Zwänge haben bereits seit mehreren Jahren zur Förderung qualitäts- und effektivitätsorientierten Denkens beigetragen. Im Spannungsfeld zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kommt es nunmehr aber darauf an, ohne Ideologisierungen, Mythologien und Simplifizierungen Ziele und Strukturen im Bereich der Suchthilfe zu analysieren und zu entwickeln. Wichtige Entwicklungsaufgaben und -ziele sind dabei: Flexibilität ohne Beliebigkeit, Offenheit für Forschung und Wissenschaft, stärkere Orientierung an der Person des Süchtigen, dessen Ziele und Ressourcen.

Kundenorientierung in der heutigen Suchthilfe

Auf das isomorphe Verhältnis der verschiedenen strukturellen Ebenen und Elemente in der Suchtbehandlung haben in überzeugender Weise ERBACH & RICHELSHAGEN (1989) hingewiesen. Die seit vielen Jahren gepflegte Ambivalenz zwischen Akut- und Rehabilitationsbehandlung mag als Beispiel einer sich oft ungünstig auswirkenden Teilung gelten. Als isomorph zu den Strukturen der Sucht ist dabei die durch die Trennung zwischen Entgiftung und Entwöhnung geförderte Abspaltung von körperlichen und psychischen Aspekten der Krankheit anzusehen. Auch anhand des Kundenbegriffs können isomorphe Strukturen verdeutlicht werden: Die Beziehung des Drogenkonsumenten zu seinem Händler ist die eines Kunden zu einem Anbieter. Allerdings ist der Drogenanbieter in einer überaus starken, meist von Erpressung, Gewalt und Korruption gekennzeichneten monopolistischen oder zumindest oligopolistischen Machtposition, die dem Kunden wenig Freiheitsraum ("Autonomie") läßt. Der Kunde (aus Überlebens- oder sonstigen Gründen oft selbst Kleindealer) wird zur erpressbaren Geisel des durch Repression regulierten Drogenmarktes. Ähnliche strukturelle Bedingungen (Isomorphien) herrschten zumindest in der Frühphase der Drogentherapie vor - Bevormundung, Machtmißbrauch, Erpressung und ähnliches waren durchaus regelmäßig auftretende Symptome im noch wenig professionalisierten Behandlungssystem. Inzwischen wird jedoch meist der Standpunkt vertreten, daß Drogenabhängige als Kunden nicht zu kriminalisieren sind, obwohl dies in der Praxis immer noch oft geschieht, weil Strafgesetze und Sozial- bzw. Gesundheitsgesetzgebung nicht ausreichend aufeinander abgestimmt sind.

Für Kunden gilt vielmehr, daß sie bedient werden müssen. Nach den marktwirtschaftlichen Vorstellungen unserer Zeit soll der Kunde sogar König sein, eine Vorstellung, die auch in anderen Branchen außerhalb des psychosozialen Dienstleistungsbereichs meist noch mehr Theorie als Realität darstellt. Daß ein Drogenabhängiger, der die Absicht äußerte aus der Sucht auszusteigen, schnell einen Behandlungsplatz erhielt, war vor Einführung modellhafter Soforthilfeansätze (z.B. in Dortmund, Köln, Berlin und München) eher die Ausnahme als die Regel. Nicht von ungefähr kam daher die Idee der Stiftung Warentest vor einigen Jahren, mit Hilfe namhafter Drogenexperten eine kundenorientierte Probe aufs Exempel im Bereich der ambulanten Drogenhilfe unter dem Titel "Hürdenlauf zur Hilfe" durchzuführen und zu veröffentlichen. Da allerdings in dieser Untersuchung nur die Reaktionen auf Informations- und Beratungswünsche von fingierten Angehörigen getestet wurden, ist auch dieser Ansatz noch weit von einer wirklich konsequenten Kundenorientierung entfernt.

Wenn die Kundenorientierung ernst genommen würde, müßte sich der Suchttherapeut in der Rolle des Dienenden wiederfinden, was exakt der ursprünglichen Wortbedeutung des altgriechischen "therapein" entspricht. In der Praxis ist dies jedoch nicht so sehr interaktional, sondern eher strukturell - im Sinne einer bezahlten Dienstleistung - zu verstehen.

Obwohl die Kundenorientierung einerseits die Emanzipation des abhängigen, unmündigen Patienten begünstigt, ihn zum kritischen Konsumenten macht, ist der Kundenbegriff andererseits hochproblematisch, da Kunden als Konsumenten nicht die idealerweise gewünschten Therapieklienten sind und sich bei ihrem Heilungsprozeß selbst behindern können. Denn sie sollen nicht in einen Konsumprozeß einsteigen, in dessen Verlauf sie in Isomorphie zum Drogenkonsum immer mehr desselben erwarten und fordern. Vielmehr gilt

als wünschenswert, daß sie zur Erreichung einer Genesung aktiv, kritisch und selbstverantwortlich ihr Leben in die Hand nehmen und gestalten - und dies daher (isomorph) mit ihrer Therapie ähnlich tun. Für die konkreten Therapieprozesse bedeutet das häufig Verzicht, Frustration, Bedürfnisaufschub und Selbstkonfrontation mit negativen Emotionen und Erlebnissen - alles Qualitäten, die dem modernen Konsumenten nicht geheuer sein dürften. Andererseits fördert der Kundenbegriff die Verantwortlichkeit des Betroffenen, da dieser - bei ausreichender Information und Markttransparenz - für seine Genesung allein zuständig ist und "lediglich" die richtigen Bausteine auswählen und anwenden muß. Dies bedeutet aus wissenschaftlicher Sicht die Umsetzung der psychologischen Begriffe Motivation und Selbststeuerung in sozioökonomische Zusammenhänge.

Doch auch die in den letzten Jahren nach heftigen Anfangsquerelen oft euphorisch bejubelte Substitutionstherapie (insbesondere mittels Methadon) läßt den ambivalenten Charakter vieler suchttherapeutischer Konzepte deutlich werden. Neben der nicht zu bestreitenden und in vollem Umfang begrüßenswerten Wirkung der meisten Substitutionsprogramme in Richtung Entkriminalisierung und gesundheitlicher Risikoverringerung können sie gleichzeitig auch als gesellschaftliche Alibistrategien für Defizite in der Jugend- und Erziehungshilfe und im sozialen und beruflichen Jugendförderungsbereich, ja im ganzen Bereich der Prävention, verstanden werden. Nicht zu vergessen sind auch die immensen Probleme derartiger Substitutionsprogramme in Zusammenhang mit Suchtmittelbeikonsum, die im wesentlichen als nicht gelöst gelten können. Manche Substitutionstherapie der letzten Jahre hat auch teurere und intensivere Entwöhnungstherapien substituiert, weil die "Kunden" jene eher akzeptierten und wahrnahmen. Auch kann die Substitution trotz aller Vorteile auch als moderne Form der Drogierung (Versorgung mit Drogen) oder einfach als eine Vorstufe zu einer Originalstoffsubstitution verstanden werden, die sozialpolitisch notwendig ist, um die Bevölkerung allmählich an die Entkriminalisierung, Tolerierung oder gar Legalisierung bisher illegalisierter Substanzen zu gewöhnen.

Auch im Bereich des Alkoholismus sind vielfach ambivalente

Strukturen zu erkennen. Als Beispiel mag die jahrelange zermürbende Diskussion um das sogenannte "Kontrollierte Trinken" dienen. Auf der einen Seite dient das rigide abstinenzorientierte Behandlungsmodell dem unsicheren innerlich rückfallängstlichen Alkoholiker als Anker und Halt (klare Grenze) in der ihm anfangs als kaum bewältigbar erscheinenden Anforderung eines umfassenden Selbstmanagements. Andererseits ist die Verletzung der Abstinenz, wie sie den meisten Abhängigen regelhaft passiert (fast passieren muß), der Anlaß, sie dann fortgesetzt und intensiver zu verletzen - ein Phänomen, das unter dem Begriff des Abstinenz - Verletzungseffekts (AVE) durch die kognitiv - verhaltenstherapeutische Rückfallforschung bekannt wurde. Die isomorphe Wirkung dieser Konzepte ist an den extremen Emotionen (z.B. Hoffnungen, Euphorie, aber auch Wut, Ärger und Haß) ablesbar, die sie bei professionellen Suchthelfern und Mitgliedern der Selbsthilfebewegung über viele Jahre, insbesondere in der deutschen Suchtszene, erzeugten.

Die Zukunft der Sucht und Suchthilfe

In diesem letzten inhaltlichen Abschnitt sollen die beiden Phänomenbereiche "Sucht" und "Suchthilfe" gemeinsam betrachtet werden. Ihre enge gegenseitige Verzahnung wurde in den vorausgehenden Kapiteln deutlich gemacht. Auf der Basis dieser Ausführungen ist mit einiger Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, daß sich die Suchtphänomene in den nächsten Jahrzehnten wohl verstärken und ausbauen werden.

Prognosen zur Sucht

Die folgenden Thesen beziehen sich auf die weitere Entwicklung von Suchtphänomenen. Mögliche Hintergründe und Anhaltspunkte für diese Prognose sind:

(1) Die Globalisierung der Produktions- und Vertriebswege von Suchtstoffen (ein Prozeß, der bereits vor ca. 150 Jahren begonnen hat).

(2) Die kontinuierliche Zurückdrängung staatlicher Regulierungsbemühungen zugunsten neoliberaler Handels- und Konsumpraktiken.

(3) Die Zersetzung und Partialisierung gesellschaftlicher Abläufe mit dem Ergebnis zunehmender Unübersichtlichkeit und Beliebigkeit individueller Verhaltensnormen.

(4) Die Pädagogisierung des Alltags, die zur Folge hat, daß die Kontrolle im Umgang mit Suchtmitteln von der staatlichen Aufsicht und Reglementierung entfernt wird und sich hin zur individuellen Entwicklungsaufgabe verlagert.

(5) Und schließlich die Wirkstoffpotenzierung und das individuelle Designing der Suchtstoffe, was zur Folge hat, daß auch auf dieser Ebene eine Zunahme der Individualität und Differenziertheit erfolgen wird.

Die Partialisierung der Gesellschaft erzeugt Partialisierung und Diversifizierung der Trinkmotive, Alkoholkarrieren und Therapienotwendigkeiten: Elendstrinken und Wohlstandstrinken erscheinen im großen Stil gleichzeitig möglich (z.B. im Rahmen einer zwei Drittel/ein Drittel-Gesellschaft). Dadurch werden früher historisch getrennte Phänomene gleichzeitig möglich und können sich in ihren Effekten gegenseitig verstärken.

Aber auch die Schaffung virtueller Realitäten kann Auswirkungen auf Suchtphänomene haben: Der Eskapismus (als Suchtmotiv schon hinlänglich bekannt) wird zunehmen und kann zu süchtigen Fehlhaltungen führen. Was aber ebenfalls zu berücksichtigen ist: Die Schaffung virtueller Realitäten (eine mögliche Form des Eskapismus) ist mit synthetischen, designten Drogen leichter zu bewerkstelligen. Dabei wird der Alkohol, wenn er nicht endlich auch neu designt wird, den Anschluß verlieren und zur reinen "Basisdroge" degradiert.

Während das deutsche Reinheitsgebot für Bier aus dem Jahre 1516 einerseits als Qualitätskontrolle fungierte, hat es andererseits auch die Funktion einer Normierung gehabt, nämlich bezüglich der Verwendung bzw. Nichtverwendung bestimmter Inhaltsstoffe. Nicht nur die Tatsache, daß auf europäischer Ebene das deutsche Reinheitsgebot als nicht mehr zeitgemäß beurteilt wurde, macht deutlich, daß hier ein Zeitenwandel eintritt. RÄTSCH (1996) spricht vom Wandel vom Hopfenzeitalter zum Hanfzeitalter und macht damit deutlich, daß der industriellen Produktion nicht hopfenbasierter, stoffkombinierter oder synthetischer Biere (und umfassender auch Alkoholika) nunmehr Tür und Tor offenstehen, wobei zumindest am Anfang dieser Entwicklung viele aus der Menschheitsgeschichte bekannte Biere eine Renaissance erleben dürften: Das erregende Dolo-Bier aus Akazie, das narkotisierende Honigbier aus der Aloewurzel, das appetitanregende Anisbier, das angenehm anregende Bier aus Bachminze, das anregende und menstruationsfördernde Bier aus Beifuß, das aphrodisierende Bier aus Bilsenkraut, das blutreinigende Bier aus Birkensaft, das magenstärkende Bier aus Bitterholz, das verdauungsfördernde und aphrodisierende Bier aus Bohnenkraut, das stoffwechselanregende Bier aus Brennessel, das stärkende Bier aus Brombeeren, das antibiotische Bier aus der Eberwurz oder aus Efeu, das halluzinogene Bier aus der Engelstrompete, das magenstärkende Bier aus der Engelwurz und der Enzianwurzel, das psychedelische Bier aus Espingo und dem Fliegenpilz, das mild psychedelische Bier aus Hanf. Dies sind nur einige der Beispiele aus der Geschichte der Bierproduktion (RÄTSCH, 1996, 30-39), die verdeutlichen, wie zahlreich die möglichen Zusatzstoffe bei der Herstellung dieses Getränks sind. Am wahrscheinlichsten ist nach RÄTSCH (1996) ein Übergang vom Hopfen- zum Hanfzeitalter. Hanf ist dabei der nächste natürliche Verwandte des Hopfens. Aber auch dem Synthetisieren zahlloser "Zaubergetränke" sind in Zukunft kaum noch Grenzen gesetzt. Eine Globalisierung der Trinkkulturen führt dabei einerseits zur Diversifizierung der angebotenen Getränke, aber andererseits auch zur weiteren Verarmung und Sinnentleerung vieler alter Trink- und Festrituale.

Folgt man diesem Szenario, wird jeder in Zukunft seine Glücksdroge - ob Bier, Ecsatcy, Crack oder andere heute noch unbekannte Kombi-Drogen - selbst designen können. Die Tatsache übrigens, daß wir von virtuellen Realitäten sprechen, die dann in der Tat völlig idiosynkratisch sein werden, beweist auch, daß es bislang zumindest reale Realitäten gegeben haben muß.

Die Zukunft der Suchthilfe

10% der staatlichen Einnahmen aus Alkohol wurden im letzten Jahrhundert für den Betrieb der Trinkerasyle ausgegeben (BAER & LAQUER, 1907). Auf heutige Verbrauchszahlen umgerechnet würde dies bei 7,8 Mrd. DM Einnahmen durch alkoholbezogene Steuern im Jahre 1994 (JUNGE, 1995, 17) einen "Therapiezehnten" in Höhe von 780 Mill. DM bedeuten. Derzeit sieht es jedoch nicht so aus, als ob dieses Prinzip, das alle Konsumenten zu einem kleinen Teil an den Kosten der suchtbedingten Schäden zu beteiligen versuchte, jemals wieder in die Realität umgesetzt werden wird. Vielmehr werden ganz entsprechend den individualistischen und pädagogischen Theorien der Moderne die Individuen zunehmend an

den Kosten ihres Fehlverhaltens beteiligt: Neben den schon zu erbringenden Versicherungsleistungen werden Selbstbeteiligungen und private Vorsorge zu den "Zauberworten" in der Gesundheitspolitik des beginnenden 21. Jahrhunderts. Ein persönliches-biograpisches Kosten/Nutzen-Konto scheint möglich, auf dem für jeden einzelnen kumulativ (lebenslänglich) Haben und Soll in Bezug auf Leistung und Leistungsversagen gegeneinander aufgerechnet werden. Daß ein solches Modell nur eine konsequente Weiterentwicklung der allgemeinen neoliberalen Monetarisierung der Lebenslaüfe darstellt, ist allzu offensichtlich. Auf ein solches Konto könnten u.a. einfließen: Der Nutzen durch gezahlte Alkoholsteuer, die positiven Effekte des Alkoholkonsums als Haben; Schaden durch alkohol- und drogenbedingte Krankheiten, Erziehungsversagen, Rehabilitationskosten, Kriminalitätskosten usw. als Soll. Ein langfristig unausgeglichenes Konto wird mit anderen Konten (z.B. im Bereich der Erwerbstätigkeit, der sozialen Grundsicherung oder der persönlichen Rente) verrechnet. Was passiert jedoch, wenn nichts mehr zu verrechnen ist? Wie soll dies sanktioniert werden?

Die Privatisierung der Lebensrisiken anstatt der Kollektivierung der Risiken durch ein Solidarsystem könnte jedoch auch positive Auswirkungen haben: Jeder einzelne wird stärker die Verantwortung für sich selbst und die ihn direkt umgebende Umwelt spüren und kann sich in seinem Verhalten und beim Erwerb der notwendigen Verhaltenskompetenzen klarer darauf einstellen. Familie und Schule werden stärker zu Orten des Erwerbs von Lebenskompetenz, wie dies jetzt schon als Thema der Suchtprävention thematisiert wird.

So wie es Designerdrogen gibt, wird es in Zukunft auch Designertherapien geben, eine konsequente Weiterentwicklung von Flexibilisierung und Individualisierung in der Suchttherapie.

Die Einführung indikativer Gruppen in den Konzepten vieler Suchtfachkliniken in den achtziger Jahren war schon ein erster Schritt in diese Richtung. Auch die verstärkte Benutzung einzeltherapeutischer Elemente entspricht dieser Richtung. Die Verwendung von virtuellen Realitäten in der Psychotherapie hat auch schon längst begonnen und bietet durchaus auch Chancen für bestimmte Aspekte, wie z.B. das in-vivo-Training, die Rückfallprophylaxe usw. Aber auch die Wiederbegegnung mit der Mutter, dem Vater oder anderen signifikanten Personen der Kindheit, auch in der Rolle als Kind, sind mit starker Realitätsähnlichkeit, und damit in hohem Maße emotionalisierend und affektiv lebendig, möglich. Man stelle sich z.B. vor, wie ein 40jähriger Alkoholiker dem eigenen alkoholabhängigen und gewalttätigen Vater früherer Tage in der virtuellen Realität wiederbegegnet, sein Verhalten ihm gegenüber reinszenieren, modulieren und seine ambivalenten Gefühle von Liebe und Haß sehr realitätsnah klären kann!

Entwicklungsaufgaben und Probleme der Suchthilfe

Von den bisherigen Ausführungen ausgehend, werden zum Abschluß einige zentrale Probleme der heutigen Suchthilfe im Hinblick auf die Zukunft formuliert. Dabei gilt es, diese eher als Entwicklungsaufgaben denn als unüberwindliche Mankos für die Suchthilfe zu verstehen:

1. Permanente Weiterqualifikation ist nötig

2. Permanente Modernisierung ist nötig (z.B. bezüglich Strukturqualität, Einstellungen und Werthaltungen der Suchttherapeuten; neue "Philosophien und Kulturen" sind zu erwägen)

3. Spezielle systemische Effekte sind zu bedenken: Auf Isomorphien mit der Klientel achten und diese begrenzen; öfters gezielt Heteromorphien mit der Klientel erzeugen (d.h. ihr nicht zu ähnlich zu werden!)

4. Die Legitimation der Suchthilfe ist gesellschaftlich und in der individuellen Arbeit zu reflektieren und zu stärken

5. Identitätsprobleme sind zu lösen (Stärkere Zugehörigkeit zum sozialen, medizinischen oder pädagogischen Bereich?)

6. Eine ausgewogene öffentliche Kommunikation zu Suchtproblemen und Suchthilfe ist zu erreichen (Klarere Selbst- und bessere Fremddarstellung; Abbau der Dominanz des Themas "illegale Drogen" in den Medien; bessere, professionellere PR und Öffentlichkeitsarbeit der Suchthilfeeinrichtungen und -träger)

7. Für Organisationsoptimierung sorgen (Professionalität der Träger coachen; Ansprechbarkeit und Dienstzeiten des Personals verbessern; mehr Niedrigschwelligkeit im Alkoholbereich schaffen; die gesamte Vernetzung in der Suchthilfe verbessern)

8. Bessere Ressourcenallokation; Klärung von Finanzierungsfragen (mehr Flexibilität, Kreativität; "social Sponsoring" steht erst am Anfang!).

9. Personalprobleme professioneller lösen (Verweildauern im "Job" verbessern; mehr "burn-out"-Prophylaxe; Selbstverständnis der Suchttherapeuten reflektieren; bessere Personalselektion; klareres Konfliktmanagement im Spannungsbereich Selbsthilfe vs. Professionalität).

10. Attraktivität der Suchthilfe für das Personal erhöhen (Aufstiegschancen; Ansehen und Prestige; Bezahlung; Selbständigkeit)

11. Interdisziplinarität verstärken (ansatzweise im stationären Bereich erreicht; mehr Nachholbedarf im ambulanten Bereich)

12. Weniger Ideologisierung, mehr Reflektion und Wissenschaftlichkeit ("mehr Konfession als Profession"; teilweise Hyperpolitisierung in der Helferszene abbauen, die zu professionellen Blindheiten führen kann)

13. Verkrustungen und Erstarrungen überwinden (Mangel an Flexibilität und Dynamik beseitigen; Mentalität des öffentlichen Dienstes abbauen)

14. Mehr Konkurrenz und Wettbewerb in die Suchthilfe einführen (aber: in erster Linie muß mit den Suchtmitteln konkurriert werden, erst in zweiter Linie mit anderen Ideen, Ideologien und Trägern).

15. Überspezialisierungen abbauen (Trennung in alkohol- und drogenspezifische Dienste ist psychologisch und ökonomisch unsinnig; auch die Abspaltung anderer Beratungsdienste verlängert die individuellen Wege im Einzelfall; optimaler Personaleinsatz wird erschwert; die Attraktivität der Tätigkeit nimmt ab).

16. Wissenschaftlichkeit fördern (Strukturelle Forschungsfeindlichkeit abbauen; Mangel an Grundlagenforschung und insbesondere angewandter Forschung an den Hochschulen beseitigen).

17. Mehr Reflektion statt Pragmatismus (zu viel Aktionismus und Theorieferne herrscht vor; Projekte wie "Therapie auf dem Bauernhof" sind in einem Gesamtkonzept der Suchthilfe eine Sackgasse; insgesamt gibt es zu viel Therapie und zu wenig Prävention).

Ausblick

Bei den Überlegungen, wie sich die Suchtbehandlung über die Zeit hinweg veränderte, stellt sich alsbald der Eindruck ein, daß die jeweiligen Standards in der Praxis häufig launischen Wechselbädern unterworfen waren. Wurden Suchtkranke unlängst noch gezwungen, die Krankhaftigkeit ihres Tuns mittels massiver Konfrontation einzusehen, oder dazu geführt, daß ihre alte Persönlichkeit als Voraussetzung einer wirklichen Genesung zerbricht (vgl. HAUSCHILDT 1995), so stehen heute Konzepte der Ressourcenorientierung und des lösungsorientierten Ansatzes - was auch immer dies in der konkreten Umsetzung sein mag - im Vordergrund. Eine genauere Betrachtung der handlungsleitenden Maximen - auch unter sozialethischem Blickwinkel - macht deutlich, daß die jeweiligen Behandlungsparadigmen Fähnchen im Wind der Moderne sind, wo der Zeitgeist bisweilen sanft säuselt, bisweilen heftig stürmt. Weshalb also sollten unsere derzeitigen Paradigmen, etwa bezüglich niedrigschwelliger Interventionen oder Substitutionsbehandlungen, lange Bestand haben, wenn sie ebenfalls Ausdruck dieser launischen Zeitgeistphänomene sind? Wahrscheinlich werden sie dereinst genauso belächelt werden wie die Fürsorgehaltung oder die knochenharte Arbeitstherapie vergangener Tage. Auch der einsame, aber genesende Junkie auf dem Bauernhof des Allgäus - derzeit wissenschaftlich als Modellprojekt erforscht - dürfte schnell zum Relikt der Zeitgeschichte werden.

Unter einem etwas wohlwollenderen Blickwinkel kann deutlich werden, daß die Behandlungsstandards jedoch gerade veränderlich sein müssen, um überhaupt zu guten Resultaten zu führen, da sich in ihnen der rasante soziale Wandel unserer Zeit widerspiegelt. Nur das permanente Anstreben optimaler Handlungsergebnisse, die dauerhafte Optimierung, kontinuierliche Evaluation und Überprüfung sowie ggf. die Modifikation einzelner Handlungselemente garantieren die Gewißheit, immer für ein annäherndes Optimum zu sorgen. Das Beste entsteht nur dort, wo es permanent von allen auf der Basis fachlicher und menschlicher Qualifikation angestrebt wird.

Als zeitlich überdauernde, feste Größen der Suchttherapie lassen sich nur wenige, eher globale Ziele und Konzepte, wie z.B. Autonomiefähigkeit, verbesserte Selbststeuerung, soziale Verträglichkeit, Gewaltverzicht, körperliche und seelische Genesung und Gesundheit, benennen (vgl. KLEIN 1994). Selbst ein so scheinbar zeitloser Begriff wie Abstinenz (genauer Abstinenzfähigkeit) wird bei genauerer Betrachtung nicht einhellige Zustimmung finden, und zeigt eine enorme Resistenz, was moderne Veränderungsideen angeht.

Insgesamt wäre es wünschenswert, heute schon die Schwächen der derzeitigen Behandlungsmodelle und zugrundeliegender Paradigmen zu erkennen. In diesem Zusammenhang erscheinen mir eine übermäßige laissez - faire - Haltung gegenüber den schädlichen Auswirkungen einzelner Verhaltensweisen süchtiger Patienten (z.B. gegenüber ihren Partnern und Kindern), die hintergründige Haltung eines "anything goes" in der Drogentherapie, also der Beliebigkeit therapeutischer Ziele und Maximen (bis hin zur völligen Akzeptanz jeglichen gezeigten Verhaltens als angeblich notwendige Voraussetzung zur Schaffung einer tragfähigen Beziehung), die Herabsetzung einzelner Zugangsschwellen im Hilfesystem bis zu einem Niveau, das für den Betroffenen überhaupt keine Schwelle mehr erkennbar werden läßt ("Unterschwelligkeit") und das deshalb auch jegliche Attraktivität für den Betroffenen verliert, und schließlich die Anwendung von Psychotherapie als dem Allheilmittel für alle Suchtprobleme, auch in Fällen, in denen Sozialtherapie, Arbeitstherapie, Motivationsförderung, Netzwerkarbeit oder gar keine Therapien angezeigt sind, denkbare Schwächen unserer heutigen Suchtbehandlungslandschaft zu sein. Oft könnte man den Eindruck gewinnen, daß die jeweiligen Therapieziele den Klientenwünschen nur so

hinterherhecheln, was sicherlich nur eine opportunistische Form der Kundenorientierung - und deshalb keine sehr wünschenswerte Behandlungsvariante - darstellt. Aus meiner Sicht ist eine Koexistenz verschiedener Hilfekonzepte ebenso notwendig wie die dauerhafte Vorhaltung bewährter Konzepte, wie z.B. der sogenannten hochschwelligen Entwöhnungsbehandlungen, die sich zwar permanent optimieren und modernisieren, im Kern jedoch Konstanz und Kontinuität signalisieren.

Die Chancen im Bereich der Minimal-, Kurz-, Sofort- und Frühinterventionen sind bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Und dies gilt nicht nur für den Bereich der illegalen Drogen, wie am Beispiel der Modellprojekte zur Sofortbehandlung ("Therapie sofort", "Behandlung sofort"; vgl. KLEIN, 1997) trotz aller Ambivalenzen verdeutlicht, sondern auch und besonders für den Bereich der Abhängigkeit von Alkohol, Medikamenten und Nikotin.

Alleine eine bessere Abstimmung und Vernetzung oder gar Verschmelzung zwischen Akut- und Rehabilitationsbehandlung ist sowohl unter Effektivitäts- und Wirtschaftlichkeitsaspekten als auch unter psychotherapeutischen Erwägungen vorteilhaft und wünschenswert.

Schlußempfehlungen

Für den Bereich der Suchthilfe heißt dies insgesamt, stärker aus vergangenen Fehlern zu lernen, offener für Neuentwicklungen zu sein und aktiv statt reaktiv die Zukunftsgestaltung anzugehen.

Denn die Suchthilfe ist zwar nur eine von mehreren möglichen gesellschaftlichen Antworten auf Suchtprobleme. Doch ist sie gleichzeitig die derzeit beste bekannte Antwort. Suchthilfe ist, historisch betrachtet, die gesellschaftliche Antwort auf sichtbares Leid im Zusammenhang mit Suchtmitteln. Sie wurde durch die negativen Konsequenzen des Suchtmittelmißbrauchs stimuliert und versucht, verändernd auf diese Bedingungen einzuwirken. Innovative Entwicklungen der Suchthilfe, die sich im 19. Jahrhundert auf Trinkerasyle konzentrierten, sind heute im Bereich der niedrigschwelligen Drogenhilfe ablesbar. Aber die Suchthilfe steht auch in der Gefahr, eher dem Modischen und den Zeitgeisttrends als dem Notwendigen zu folgen. So hat z.B. die hohe Comorbidität von Alkoholismus und antisozialem Verhalten ebenso wie die weite Verbreitung von Alkoholismus bei Armen und Wohnungslosen bislang kaum Beachtung erfahren, während viele Spezial- und Modethemen höchste Zuwendung erfuhren. Die Suchthilfe ist insgesamt anfällig für die Folgen der bereits beschriebenen Wissenschaftsfeindlichkeit, der Hyperpolitisierung der Behandlerszene und der politischen Korrektheit (PC).

Im Zusammenhang mit der Suchthilfe werden immer wieder Illusionen (d.h. utopische Vorstellungen), insbesondere bezüglich der Kontroll- und Veränderungsmöglichkeiten von Verhalten und dessen Konsequenzen, geweckt, die nicht einzuhalten sind. So ist es keineswegs richtig, daß alle Drogenabhängigen nur kriminell werden aufgrund der Bedingungen des Drogenmarktes ("Beschaffungskriminalität") oder daß Frauenalkoholismus nur im Kontext von männlicher Gewalt und sexuellem Mißbrauch entsteht. Auch die illusionären Vorstellungen bei der Einführung jeweils neuer Behandlungstechniken und

Pharmaka unterstreichen diesen problematischen Trend, der letzten Endes die Suchthilfe immer wieder in die Ecke der Frustration und Enttäuschung bringt.

Es bleibt abzuwarten und im übrigen zu hoffen, daß die zukünftige Suchthilfe weiter an Professionalität und Interdisziplinarität gewinnt. Dies sollte auf der Basis eines geschichtskritischen Bewußtseins geschehen, wie sie in diesem Beitrag aus der Perspektive der Psychohistorie skizziert wurde.

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Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. Michael Klein

Kath. Fachhochschule Nordrhein-Westfalen

Abtlg. Köln, Fachbereich Sozialwesen

Wörthstraße 10, 50668 Köln

Netzwerk Psychologische Suchtforschung | Research | Dept of Experimental Psychology | Psychological Institute | Bonn University

written by Michael Klein, 09.09.97.