Marco Polo - bilder.buecher.de · Diener frische Kleider aus schwerem Damast umlegten. Nun erst...

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Marco Polo

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Marco Polo

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Hermann Schreiber

Marco PoloKarawanen nach Peking

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Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100Das für dieses Buch verwendeteFSC-zertifizierte Papier München Super Extra liefert Arctic Paper Mochenwangen GmbH.

1. Auf lageErstmals als cbj Taschenbuch Dezember 2010Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform© 2010 cbj, MünchenAlle Rechte an dieser Ausgabe vorbehalten© 1974 Drei Ulmen Verlag GmbH und AVA – Autoren- und Verlagsagentur GmbH München-Breitbrunn (Germany)Umschlagabbildung und Innenillustrationen: Dieter WiesmüllerUmschlaggestaltung: Network! Werbeagentur GmbH, Münchenim · Herstellung: AnGSatz: Uhl + Massopust, AalenDruck: GGP Media GmbH, PößneckISBN 978-3-570-22210-2Printed in Germany

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Inhalt

erstes buch

Das Diamantenfest 9

Unter der Flagge der Republik 14

Der Tag von Curzola 21

Das Buch des Marco Polo 36

Die erste Reise 49

Eine Botschaft und kein Papst 61

Nach Armenien und zurück 72

Durch Kurdistan nach Täbris 88

Der Alte vom Berge 99

Enttäuschung in Ormuz 112

Durch das trockene Herz Persiens 124

Auf dem Dach der Welt 133

Die versunkene Stadt Lou-lan 143

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zweites buch

Vom Reich der Tataren 157

Kublai-Khan und seine Taten 169

Ein Feldzug mit dem Großkhan 181

Die Palaststadt und ihre Geheimnisse 191

Die Revolte in Kambalu 199

Von zwei wunderbaren Erfindungen 207

Nestardin und die Elefanten 218

Die liebliche Prinzessin Kogatin 230

Das Meer der tausend Inseln 238

Eine Prinzessin zu viel 246

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erstes buch

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Das Diamantenfest

E rst in der Dämmerung war das Schiff in die Lagune einge-laufen, und als es an der Riva degli Schiavoni festmachte,

senkte sich schon die Nacht auf den Wald der Masten, der Segelund auf die vielen Barken. Darum wohl blieben im Gewirr derLastträger und der Kaufleute drei Reisende unbemerkt, die ernstund ohne sich zu unterhalten das Schiff verließen. Am Uferwandten sie sich noch einmal der Lagune zu, blickten über diematt schimmernde Wasserfläche hin und fassten einander bei derHand. So sprachen sie leise ein kurzes Gebet.

Soviele Menschen sich auch an diesem Abend um den Anlege-platz drängten, das Dankgebet der drei Heimgekehrten gab nie-mandem Anlass stehen zu bleiben. Venedig war die Stadt der Rei-senden, der Fremden, der verschiedensten Religionen, und wennsich jemand mitten zwischen Warenballen und Tragtieren zu Bo-den geworfen und Allah angerufen hätte, es wäre nicht sonderlichbemerkt worden.

Erst nachdem sie gebetet hatten, kümmerten sich die drei umihr Gepäck, nahmen zwei Lastträger auf, die sich mit den bast-verschnürten Ballen beluden, und traten langsam, so, als seien sieihres Weges nicht ganz gewiss, das letzte und kürzeste Stück ihrerHeimreise an, das Viertelstündchen, das die Riva degli Schiavonivon der Pfarre San Giovanni Chrisostomo trennte, in der sich derPalazzo der Familie Polo befand.

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Die engen Gassen bis dorthin, die schmalen Brücken, das alleswar vertraut und doch fremd zugleich. Die Schatten tanzten überFassaden, die sie wiederzuerkennen hofften, und dann fielen ih-nen doch nicht einmal die Namen der Menschen ein, die hier ge-wohnt hatten.

»Ecco«, sagte der erste Lastträger nach einer Weile, »hier ist es,Messire – diese Tür.«

Die Ballen und Gepäckstücke klatschten dumpf auf das Pflas-ter. Der älteste der Reisenden zog die Börse, wählte im schwachenLicht sorgsam die Münzen, als habe er sie lange nicht in Händengehabt, und entlohnte die Träger. Dann ging er die wenigen Stufenhinauf, hob den bronzenen Löwenkopf, der als Türklopfer diente,und ließ den metallenen Klang durch die dunkle Straße hallen.

Ein Fenster, in das Holz des Torflügels geschnitten, öffnetesich halb.

»Was wollt ihr? Es ist schon spät!«»Das Schiff aus Alexandria hat eben angelegt. Lass uns ein, ich

bin Maffeo Polo und dies ist mein Bruder Niccolò mit seinemSohn Marco.«

Der Diener lachte dünn wie über einen schlechten Scherz.»Karneval, meine Herren, ist längst vorüber. Wozu also die Ver-

mummung und die falschen Namen? Geht in Frieden und denkteuch beim nächsten Mal etwas Besseres aus! Die Männer, derenNamen ihr nennt, sind längst tot, seit Jahren – was sage ich! SeitJahrzehnten hat man nichts mehr von ihnen gehört. Sie sind ver-schollen im weiten Tatarenland, von wo keiner wiederkehrt…Man hat uns erzählt, dass Räuber ihnen auf einem Pass aufge-lauert hätten… Der Herr sei ihren Seelen gnädig, es waren ange-sehene Kaufleute und gute Venezianer, nicht Fremde wie ihr, dieihr unsere Sprache kaum richtig sprecht.«

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Maffeo Polo antwortete nichts, nur seine Rechte fuhr dorthin,wo das Herz eben einen heftigen Stich getan hatte, und stummlehnte er sich an den steinernen Türpfosten.

»Nur ein Wort noch, Freund«, bat der Jüngste der drei schnell,damit der Diener das Fensterchen nicht schließe, »wir kommenmorgen bei Tageslicht wieder, da wird man uns erkennen… Sagemir nur, wer jetzt diesen Palast bewohnt, in dem ich geborenwurde?«

»Wer sonst als die Familie Polo? Die Herren, die sich zumGroßkhan aufgemacht haben vor zwanzig Jahren oder mehr, siesind für tot erklärt, soviel ich weiß; die Erben bewohnen dasHaus, wie es nicht anders sein kann.«

»Es ist unsere Schuld«, sagte Niccolò Polo bekümmert, als diedrei in einer Herberge am Hafen bei einer Karaffe Wein saßen.»Wir hätten gleich tun sollen, was wir jetzt ohnedies tun muss-ten: ein Zimmer mieten für die Nacht. Nach tausenden vonNächten in fremden Betten oder auf der blanken Erde wäre es aufdiese eine Nacht auch nicht mehr angekommen. Die Nacht machtmisstrauisch, das Morgenlicht zerstreut die Ängste – wenn wirmorgen vor dem Palazzo stehen, wird man uns umarmen, hinein-führen und Bäder bereiten.«

»Man wird uns nicht hineinführen«, widersprach Marco, »dennwir werden nicht hingehen…«

»Wir sollen hier, in unserer Heimatstadt, in einer Herbergeleben, während irgendwelche Neffen und Nichten sich in unse-rem Palast breitmachen?«, brauste Maffeo auf, aber sein BruderNiccolò legte ihm begütigend die Hand auf den Arm.

»Vertraue Marco«, bat er. »Er ist zwar der Jüngste von uns,aber hat er uns nicht gerettet, als der Großkhan uns nicht reisen

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lassen wollte? Hat er nicht immer einen Ausweg gefunden? Er istder Jüngste und hat am meisten Zeit von uns, und dass man sichZeit nehmen muss, um zum Ziel zu gelangen, das, denke ich, hät-ten wir in Asien gelernt.«

Maffeo nickte müde. »Was soll also geschehen?«»Wir gehen morgen zu Messer Manin, unserem Notar; er war

vierzig, als wir aufbrachen, er kann noch leben. Bei ihm liegenunsere Unterschriften und viele Papiere, die nur wir kennen kön-nen. Er wird uns legitimieren. Und erst wenn das sicher ist, wenner uns sagt, dass er uns wiedererkenne und für uns bürge, dannladen wir die Herren Verwandten zu uns, wir laden ein, denn wirsind die Herren, es kommt uns nicht zu, noch einmal an die ei-gene Pforte zu pochen!«

Am nächsten Abend strahlte der größte Saal der Herberge imGlanz vieler Kerzen. Eine lange Tafel war gedeckt, erwartungsvolldrängten sich Herren und Damen, bis eine kleine Tapetentür sichöffnete und die Gastgeber erschienen: drei Herren mit schmalen,wetterharten Gesichtern und alle drei in weite, fremdartige Ge-wänder aus roter Atlasseide gekleidet. Sie baten die Gäste, sich zusetzen, blieben selbst aber stehen und begannen, während die An-wesenden sich in den kleinen Schalen die Hände wuschen, ihrekostbaren Oberkleider aufzutrennen. Die großen Bahnen schönerSeide verteilten sie an die Dienerschaft, während ihnen andereDiener frische Kleider aus schwerem Damast umlegten.

Nun erst setzten sie sich zum Mahl, bei dem es an nichts fehlte,plauderten freundlich mit den ihnen zunächst Sitzenden, unterdenen der alte Notar Manin war, und obwohl man bemerkte, dasssie das Venezianische mit fremden Brocken aus barbarischenSprachen untermischten, gewannen schließlich doch alle Anwe-

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senden den Eindruck, Landsleute vor sich zu haben, die ebenlange in fremden Ländern geweilt hatten.

Nach dem letzten Gang erhoben sich die drei Herren abermals,zertrennten nun auch die Kleider aus Damast und verschenktendie Stücke an die Diener, die nun weiche Roben aus kardinalro-tem Samt brachten. Erst als sie so gekleidet waren, traten die dreigemeinschaftlich zu einer großen Truhe, die bis dahin so gut wieunbemerkt in einem Winkel des Saales gestanden hatte, schlossensie auf und nahmen jeder einen Kaftan aus rauem, aber festemStoff heraus. Damit kehrten sie an die Tafel zurück, die inzwi-schen von den Resten des Mahles gesäubert worden war. Vor allerAugen setzten sie die kleinen Trennmesser nun an die abgetrage-nen und beschmutzten Reisekleider und holten aus Nähten undBorten behutsam und ohne sich zu übereilen, einen Edelsteinnach dem anderen ans Licht.

Das Gespräch an der langen Tafel verstummte, als die erstenJuwelen im Kerzenschein aufblinkten. Im allgemeinen Schweigenwuchsen kleine Häufchen kostbaren Gesteins und großer, mattschimmernder Perlen vor jedem der drei Herren auf, bis schließ-lich ein Vermögen auf dem Tisch lag, wie es noch keiner der An-wesenden beisammen gesehen hatte.

Während alle den Atem anhielten und nur noch auf die glit-zernden Schätze starrten, erhob sich Manin.

»Liebe Freunde«, sagte er, »Freunde aus der Heimat undFreunde aus der Fremde, ihr kennt mich alle aus jahrzehntelangerTätigkeit und werdet nicht annehmen, dass ich im Abend meinesLebens und meiner Arbeit eine jener unlauteren Handlungen be-gehe, von denen ich mich zeitlebens ferngehalten habe. Darum be-gehre ich Glauben und Gewicht für meine Worte, mit denen ichIhnen meine aus der Fremde heimgekehrten Klienten und Freunde

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vorstelle, noch einmal vorstelle, denn sie sind Ihnen allen einmalbekannt gewesen: Maffeo Polo, Niccolò Polo, Marco Polo, Bot-schafter des Papstes beim Großkhan, Kuriere des Großkhans zuSeiner Heiligkeit, ehrsame Kaufleute der Republik Venedig!«

Nach einer Minute, in der man nur die Kerzen leise knisternhörte, brach der Lärm los, Freude, Erstaunen, Unglauben, Streit.

»Ihr könnt uns glauben«, sagte Marco Polo schließlich in denLärm, »dass wir weder in Samt noch in Seide oder Damast lebendhier angekommen wären. Die größte Gefahr des Menschen ist derMensch. Nur in grauen, unscheinbaren Kleidern, in die wir unse-ren Besitz wohlweislich vorher und eigenhändig eingenäht hatten,durften wir hoffen, die Heimat lebendig wiederzusehen. Wirwaren Reisende wie alle anderen, wir unterschieden uns nicht vonJuden, Armeniern, Türken und Indern, und als kleine Leute, dieverarmt heimkehrten, belegten wir unsere Plätze für die letzteÜberfahrt von Ägypten hierher. Nun aber nehmt teil an unsererFreude, habt teil an unserem Gut und trinkt mit uns zur Feier desglücklichen Wiederfindens.«

Unter der Flagge der Republik

W as war wohl schöner – als Jüngling auszuziehen oder alsMann heimzukehren? Mit Vater und Onkel auf die Reise

zu gehen, auf die weiteste Reise, die je Venezianer unternahmen,oder nach vierundzwanzig Jahren, als niemand mehr es glaubte,heil und gesund mit Vater und Vatersbruder die Heimatstadt wie-derzusehen, umgeben vom Glanz eines Erlebnisses, wie es selbstin dieser Seestadt noch keinem anderen zuteil geworden war?

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Marco fragte es sich seit Stunden, seit er wieder im Palast sei-ner Familie weilte, aber er wusste keine Antwort. Alles war wirk-lich gewesen bis zu dem Augenblick, da die Verwandten die Wahr-heit erkannten und begannen, sie zu umarmen und den beidenalten Männern die Hände zu küssen. Seither, seit dem triumpha-len Einzug in die Wohnung seiner Kindertage, verwirrten sichihm Erinnerung und Wirklichkeit. Man hatte ihm ein Zimmergezeigt und ihm gesagt, es sei das seine gewesen. Eine junge Basehat ihn scheu die Treppen heraufbegleitet, ihm das Bett bezogen,einen Krug Wasser gebracht, die Läden geöffnet, das leise Rau-nen des Lebens von San Chrisostomo ins Zimmer gelassen – insein Zimmer…

Da hingen Bilder: eine Barke im Sturm, aber keines der Segelwar gerefft. Marco schüttelte lächelnd den Kopf – der Malerhatte gewiss nie einen Sturm auf dem Meer miterlebt. Eine starknachgedunkelte Ansicht von Venedig fesselte ihn schon mehr: Ja,so kannte er die Stadt, so hatte er sie im Gedächtnis behalten,vielleicht war es sogar dieses Bild gewesen, das ihm deutlicher vorAugen gestanden hatte als der ganze Palast, ein Bild, das er oftangeschaut haben musste. Und dann entdeckte er die Miniatur,den Frauenkopf, von dem man ihm erzählt hatte, dass dies seineMutter sei. Gekannt hatte er sie nicht, sie war schon bald nachseiner Geburt gestorben, und es war ein sehr stilles Leben gewe-sen in den Jahren, da die Mutter schon tot war und der Vater infernen Ländern. Und vielleicht war das auch der Grund gewesen,dass Vater ihn mitgenommen hatte auf die zweite Reise, mitge-nommen, obwohl Marco damals noch kein Mann genannt wer-den konnte. Aber man durfte ihn nach dem Verlust der Mutterund der Wiederkehr des Vaters nicht gleich wieder zur Waise ma-chen.

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Ein leises Klopfen riss Marco Polo aus seinen Träumen. Er tratans Fenster – man musste nicht wissen, dass er die alten Bilderstudiert hatte – und rief dann erst sein Avanti.

Es war die kleine Base. Hier am Fenster, im Licht, sah Marcosie zum ersten Mal richtig, da sie vor ihm stand und nicht immernur um ihn herumhuschte. Sie hatte ein kleines, rundes Gesichtmit einer winzigen Nase, braunen Augen und etwas zu dickenLippen. Aber sie war freundlich, sie war offensichtlich von demWunsch besessen, den heimgekehrten Herren zu zeigen, dass mansich über deren Errettung aus der Tatarei freue, auch wenn nundie Reisenden die besten Gemächer bekamen und die anderenVerwandten ins Erdgeschoss ziehen mussten, wo neben der Küchenoch ein paar Gewölbe frei waren, in denen sich Schränke undBetten aufstellen ließen. Maffeo und Niccolò hatten sogleich er-klärt, dass sie niemanden vertreiben würden; sie hätten jahrelangin Zelten gelebt, im Freien geschlafen oder auf den Tischen derHerbergen, sie hätten nicht mehr die Ansprüche großer Han-delsherren, sondern seien glücklich über die Gesellschaft der Ver-wandten.

»Zio Marco«, sagte die Kleine und schlug die braunen Augen zuihm auf, »in der Halle ist Besuch, Herren vom Großen Rat. Dusollst hinunterkommen.«

»Du weißt, Lavinia, dass ich nicht dein Zio bin«, antworteteMarco lächelnd. »Wir sind nicht Onkel und Nichte, wenn duauch erst siebzehn bist und ich über vierzig, sondern Vetter undBase… Du darfst also einfach Marco zu mir sagen. Willst du dastun?«

Lavinia errötete bis in den Nacken, beugte das Knie und küssteMarco die Hand. Dann sprang sie auf, lief lautlos, als trüge sieüberhaupt keine Schuhe, die große Treppe in die Halle hinunter

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und ließ die Tür offen. Marco rückte den Kragen zurecht, strichsich über das Haar und folgte ihr.

Er fand die kleine Versammlung noch bei den Höflichkeiten,mit denen nicht nur in China, sondern auch in Venedig begonnenwird; niemand platzt mit den Wünschen ins Haus, vor allemwenn sie nicht ganz leicht zu erfüllen sind. Niccolò Polo hatte Teeservieren lassen, und die beiden Herren vom Rat, ein ältererKaufmann und ein Offizier, ließen sich das duftende Getränk mitjener Neugier munden, die sie als Räte einer weltoffenen Han-delsstadt gleichsam von Berufs wegen an sich haben mussten.

»Ich hatte schon davon gehört«, sagte der Offizier, »aber ge-trunken habe ich es noch nie. ›Tee‹, sagen Sie, Ser Niccolò? Manwird sich das Wort merken müssen, ich finde das Getränk ange-nehm.«

»Und ob«, ergänzte der Kaufmann, »es belebt! Seht mich an,ich bekomme Farbe in den Wangen. Ich werde Ihnen ein Päck-chen davon abhandeln, Ser Niccolò, ja, ich werde versuchen,durch meinen Vertrauensmann in Alexandria mehr davon zu er-halten und damit Handel zu treiben. Es scheint mir, dass die äl-teren meiner Landsleute recht empfänglich für diesen Trank seinwerden…«

Noch während er leise vor sich hin lachte und immer wiedergenüsslich kleine Schlucke nahm, war Marco in die Runde getre-ten.

»Das ist nun mein Sohn Marco, meine Herren«, stellte Nic-colò vor, »als Maffeo und ich auszogen, war er ein Jüngling, erwird Ihnen nicht aufgefallen sein, Sie können ihn kaum kennen.Von uns allen ist er am meisten Chinese geworden, wenn ich sosagen darf, kam er doch als junger Mensch in das große Reich.Und von uns allen war er auch der tüchtigste Seemann und

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Kämpfer, als es dann um das Abenteuer unserer Heimkehrging…«

»Das höre ich gern«, fiel der Offizier ein, »und darum sind wirauch hier. Wie Sie gewiss schon auf der Reise durch das Mittel-meer gehört haben, durchlebt unsere Serenissima, unsere geliebteRepublik Venedig, eben schwere Zeiten. In Byzanz ist das lateini-sche Kaisertum, das zu uns gehalten hatte, gestürzt worden, unddie Genuesen haben den griechischen Kaisern an die Macht ver-holfen. Das hat ihnen viele Vorteile gebracht und eine große,wohlbehütete Niederlassung in Byzanz, von der aus sie den gan-zen Osthandel beherrschen. Lange neidete uns Genua unsere Er-folge unter dem großen Enrico Dandolo; heute, ein Jahrhundertspäter, sind wir es, die Mühe haben, uns der Genuesen zu erweh-ren. Wir brauchen buchstäblich jeden Mann!«

Die drei Herren aus dem Hause Polo schwiegen überraschtund ein wenig betreten. Schließlich antwortete Maffeo:

»Aber wir sind alte Männer – ich bin ein wenig aus der Ord-nung geraten durch die weiten Reisen und den Tatarenkalender,aber dass Niccolò und ich schon einiges über siebzig sind, dasdürfte doch wohl stimmen!«

»Enrico Dandolo war beinahe hundert Jahre alt, als er Byzanzzum zweiten Mal eroberte«, sagte der Offizier.

»Vielleicht sagen uns die Herren, an welche Dienste für dieRepublik sie eigentlich gedacht haben?«, erkundigte sich Marco.»Wir können dann immer noch überlegen, ob wir dazu taugenoder nicht.«

Die Abgesandten des Großen Rates tauschten einen Blick,dann antwortete der alte Kaufmann für beide:

»Wir kommen mit unseren Vorschlägen so bald, um Ihnen zuzeigen – Ihnen dreien –, dass Sie uns willkommen sind, dass wir

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uns über Ihre gesunde Heimkunft freuen und dass wir IhnenPlätze im Leben der Republik bieten wollen. Damit Sie nichtglauben, man habe Sie vergessen oder lege keinen Wert auf dreiverdiente Männer, nur weil sie den größten Teil ihres Lebens inder Fremde zugebracht haben. Vor allem aber« – der alte Herrmachte eine schlaue Pause und nippte wieder an seiner Tasse –»vor allem aber wollten wir verhindern, dass Sie sich anderwärtsfestlegen, ehe Sie uns angehört haben. Daher also unsere Eile.

Ser Niccolò, das darf man wohl annehmen, wird sich als Ober-haupt der Familie dem Wiederaufbau seines Handelsgeschäfteswidmen und der Nutzung der wertvollen Beziehungen, die aufden Reisen angeknüpft wurden; dafür hat niemand so viel Ver-ständnis wie die Regierung unserer Handelsrepublik.

Ser Maffeo möchten wir bitten, eine Kanzlei des Großen Ra-tes zu übernehmen, die wir für ihn neu schaffen wollen, nämlichdie Kanzlei für den Handel mit allen Ländern jenseits desSchwarzen Meeres. Er könnte dann, ohne sich selbst aus Venedigfortbegeben zu müssen, Dolmetscher ausbilden, Kapitäne bera-ten, jungen Kaufleuten mit Wagemut seinen reichen Schatz vonErfahrungen öffnen… Es wäre kein Ehrenamt, sondern aus derSchatulle des Großen Rates besoldet und mit einer lebenslangenPension verbunden.«

Maffeo nickte nachdenklich. Offensichtlich war ihm der Vor-schlag nicht unangenehm.

»Und Ser Marco«, sagte der Offizier in das Schweigen, das nunentstanden war, »Ser Marco, der Jüngste unter Ihnen, der Mannder vielen Abenteuer – sollte er nicht den Wunsch haben, eine Ga-leere der Republik zu kommandieren? Ein Schiff mit Matrosen,Soldaten und Ruderern, das ihm gehorcht und mit dem er dasMittelmeer durchfahren kann im Kampf gegen Genua?«

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Marco lächelte.»Sie vermuten sehr viel Kampfeslust bei einem Mann, der im-

merhin ein Vierteljahrhundert unterwegs war, Herr Offizier… Ichbin heimgekehrt, um mein Leben als Venezianer zu beginnen.Onkel Maffeo hat keine Nachkommen, mein Vater hat nur mich.Es gilt, eine Familie zu gründen, das Haus Polo wieder emporzu-führen. Mir will scheinen, auch das sei ein Dienst an der Republik.«

»Sie lehnen also ein Kommando ab, Ser Marco, ein Kom-mando, das Ihnen schon morgen Ruhm und Ehren einbringenkann?«

»Verstehen Sie nicht falsch, was ich Ihnen jetzt sage, Herr Offi-zier«, antwortete Marco, und seine Stimme klang mit einem Malernst und gar nicht mehr verbindlich. »Ich habe als Gouverneurdes Großkhans jahrelang über Millionen Menschen geboten.Mein Gouvernement war so groß wie Frankreich, und es lebtenso viele Menschen in ihm wie vielleicht nicht einmal in ganz Eu-ropa. Hätte ich nicht meinen Herrn Kublai über mir gehabt,einen Herrn, den ich liebte und verehrte, ich hätte mich selbst wieein König fühlen mögen… Dagegen ist eine Galeere ein Spiel-zeug, Herr Offizier, nichts anderes!«

Der Offizier schwieg betroffen. Es war nicht zu erkennen, ober begriffen hatte, was Marco Polo eben erzählt hatte, und wenner begriffen hatte, ob er es glaubte. Der alte Kaufmann war es, derversuchte, dem Gespräch einen freundlichen Schluss zu geben.

»Sie sprechen von Millionen, Ser Marco, und nennen unsereGaleeren Spielzeuge. Aber von diesen Spielzeugen hängt dasSchicksal Venedigs ab und damit auch das Ihres Handelshausesund Ihrer Familie.«

»Wenn es so ist«, antwortete Marco, »wenn der Krieg sich nä-hert und die Genuesen uns auf den Leib rücken, dann, in Gottes

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Namen, vertrauen Sie mir auch so eine Galeere an. Zunächst aber,meine Herren – und das können Sie mir nicht übel nehmen –,gehe ich auf Brautschau. Denn die Zeit drängt, wenn ich meinenKindern noch eine Hilfe sein will!«

Der Tag von Curzola

D er Palast der Polo in San Giovanni Chrisostomo hatte nichtnur neues Leben gewonnen, die Venezianer hatten ihm

auch einen neuen Namen gegeben. Seit jener Offizier verschreckterfahren hatte, dass Marco über Millionen Chinesen geherrschthabe, seit Marco selbst den jungen Venezianern, die ihn aus Neu-gierde besuchten, von dem fernöstlichen Riesenreich des Kublai-Khan erzählte, seitdem hieß der Palast der Familie Polo kurzwegla Corte del Milione, der Millionenhof, und Messer Milione, das warMarco Polo selbst, der sich aber aus diesem Spitznamen nichtsmachte. Er brauchte sich ja nur seines eigenen Staunens im Rei-che des Großkhans zu erinnern, um sich darüber klar zu werden,dass diese jungen Leute in einer Republik von den Ausmaßen Ve-nedigs sich eben gar nicht vorstellen konnten, wie groß die Weltin dem Augenblick werde, da man das alte Kulturbecken desMittelmeeres hinter sich lasse und in andere Erdteile vorzudrin-gen versuche. Da war dann die Million nur eines der Zauber-worte, eines von vielen Worten, mit denen man vergeblich genugversuchte, anderen die geschauten Wunder darzustellen.

Das neue Leben in der Cortel del Milione kam nicht nur daher,dass die Herren der Familie wieder heimgekehrt waren. Marcohatte auch seinen Vorsatz wahr gemacht und nicht lange gezaudert,

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sich eine Frau zu suchen; ja es war dem berühmtesten Venezianernicht schwergefallen, in das höchste Patriziat einzuheiraten, zudem die Polo, trotz Ruhm und Vermögen, bis dahin nie gehörthatten, weil sie eben keine Dogenfamilie waren.

Donata Badoer, die junge Dame, die von Marco vor den Altargeführt wurde, stammte aus einer der zwölf vornehmsten Fami-lien der Stadt. Der Überlieferung nach war die ihre aus Ungarnnach Pavia gekommen und seit Begründung der Inselstadt Vene-dig in ihr ansässig. Überlieferungen dieser Art gab es in beinahejeder der großen venezianischen Familien, die einen nahmen an,dass sie aus Italien stammten, die anderen aus Ungarn, wiederandere aus Dalmatien. Genaues ließ sich nicht sagen, denn als dieHunnen Aquileja bestürmten, da waren tausende von Flüchtlin-gen zusammengekommen und hatten auf den Inseln der LaguneSchutz gesucht, reiche und arme, und erst auf der venezianischenInselgruppe hatte sich dann herausgebildet, wer sich über die an-deren erhob, wer als vornehmer gelten durfte.

Wichtiger als diese Sagen war Marco Polo der Umstand, dassdie Badoer durch geschickte Heiratspolitik ausgebreiteten Land-besitz erworben hatten, dass sie in Venedig viele Häuser und aufder Terra firma bis hin nach Treviso einige schöne Güter besaßen.Und dass sie der Republik schon einige Dogen gestellt hattenunter dem zweiten Familiennamen Partezipazio, unter dem sieauch einige Kirchen begründet hatten wie zum Beispiel San Gio-vanni Evangelista im Jahr 970. Das war viel der Ehre und ein gro-ßes Vermögen… Noch ehe aber fröhliches Kindergeschrei dieCorte del Milione erfüllte, erreichte Venedig die Nachricht, dassein genuesisches Geschwader in die Adria eingefahren sei undnicht nur die venezianischen Besitzungen in Dalmatien bedrohe,sondern auch Venedig selbst.

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Nun war Eile geboten, denn die Venezianer wussten ganz ge-nau, wie die Genuesen in Pera gehaust hatten, der Händlervor-stadt von Byzanz, wie Häuser und Buden und Warenlager inFlammen aufgegangen waren und tausende den Tod gefundenhatten. Mit Schonung durfte man daher auch bei diesem Einfallnicht rechnen, und all die schönen Städte und Inseln der unterenAdria, die sich im Schutz des mächtigen Venedig sicher fühlten,waren furchtbar gefährdet.

Jedes einlaufende Schiff brachte neue Schreckensnachrichten;es war, als ob die arabischen Seeräuber aus Tunis angreifen wür-den, nicht die Seefahrer einer Stadt, die genauso italienisch warwie Venedig. Handelsfahrzeuge, die mit dem Krieg nichts zu tunhatten, wurden gnadenlos durch Brandpfeile oder Rammstößeversenkt, die Besatzung aber nur aufgefischt, um sie an die Ru-derbänke der genuesischen Galeeren zu ketten. Kein Küstenortwar sicher; blitzschnell landete der Feind, sodass keine Zeit war,ins Landesinnere zu flüchten, bemächtigte sich der Schiffe, die imHafen lagen, und plünderte die Städte, noch ehe die Tore ver-rammelt und die Zinnen besetzt werden konnten. Wenn es abergelang, eines der vielen mutigen Felsennester rechtzeitig verteidi-gungsbereit zu machen, dann zogen die Genuesen ein paar Schiffezusammen, warfen Feuerbrände über die Mauern und ließenbrennende Beuteschiffe in den Hafen treiben, sodass bald dichteWolken schwarzen Rauches über dem Kampfgebiet lagen.

»Sie sind auf der Höhe von Ragusa«, berichtete ein griechi-scher Kapitän, der mit seinem Schiff voll Fässern an der Rivadegli Schiavoni festgemacht hatte. »Ich bin nachts durchge-schlüpft, denn ich wollte doch meine wertvolle Ladung an Oli-venöl und Wein nicht verlieren. Wenn das Schiff erst brennt, istkeine Zeit mehr, zu erklären, dass man neutral sei…«

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Hermann Schreiber

Marco Polo

Taschenbuch, Broschur, 256 Seiten, 12,5 x 18,3 cmISBN: 978-3-570-22210-2

cbj

Erscheinungstermin: November 2010

Kinder brauchen Klassiker. Geschichten, die die Fantasie beflügeln, den Entdeckergeist weckenund neugierig machen auf die großen Abenteuer dieser Welt. Die cbj Taschenbuch-Klassikerversammeln die beliebtesten und aufregendsten Kinderromane der Weltliteratur – zumSchmökern, Träumen und Immer-Wieder-Lesen. Venedig, 1271: Für den 15-jährigen Marco Polo beginnt eine lange Reise. Der Weg führt ihnüber die Steppen Zentralasiens bis nach China, wo er von dem mächtigen Herrscher empfangenwird ...