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Bankovskaya S. Marginalitaet und Identitaet bei Simmel. Zur Sociologie des Fremden / S. Bankovskaya // Simmel Studies. – 2000. – Jg.10, 1. – S. 93-107. SVETLANA BANKOVKSKAYA MARGINALITÄT UND IDENTITÄT BEI SIMMEL: ZUR SOZIOLOGIE DES FREMDEN

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Bankovskaya S. Marginalitaet und Identitaet bei Simmel. Zur Sociologie des Fremden / S. Bankovskaya // Simmel Studies. – 2000. – Jg.10, 1. – S. 93-107.

SVETLANA BANKOVKSKAYA

MARGINALITÄT UND IDENTITÄT BEI SIMMEL: ZUR SOZIOLOGIE DES FREMDEN

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Daß die moderne Gesellschaft durch die Differenzierung der Formen der Selbstverwirklichung des Individuums charakterisiert wird, ist eine der gängigen Ideen der Sozialwissenschaft. Gleichzeitig jedoch laufen die Prozesse, die zur Produktion von solchen gesellschaftlichen Unterschieden führen, die man Exklusion und Marginalisierung nennt1

Im alltäglichen Leben und in der Alltagssprache reichen die Bezeichnungen dieses Typus von eher negativen (er sei der Feindselige, der Mißtrauische, auch der Deklassierte, der Wurzel- und Bodenlose, der Okkupant, der Landstreicher usw.) bis zu eher neutralen, formalen und sogar sympathetisch erscheinenden Charakteristiken, wie: ein Apatride, ein Migrant, ein Flüchtling usw. Diese vielartigen alltäglichen Bezeichnungen geben uns nur Rohstoff für eine soziologische Bearbeitung. Damit wir jedoch davon ausgehend eine theoretische Bestimmung des Typus des Marginalen geben können, brauchen wir theoretische Ressourcen. Diese stellt uns vor allem die simmelsche Soziologie des Fremden zur Verfügung. Simmel hat dieses Thema in der Soziologie legitimiert. Er war, dürfen wir sagen, der Gründer einer neuen Richtung im soziologischen Theoretisieren, die seither von vielen prominenten Autoren weiterentwickelt wurde

. Der soziale Typus des Marginalen, der durch diese Prozesse hervorgebracht wird, steht nun im Zentrum unserer Analyse.

2. Wir versuchen nun, die Möglichkeiten der Soziologie des Fremden Simmels für die Identifizierung und Selbst-Identifizierung des modernen Marginalen zu analysieren, oder, anders formuliert, einige Ideen der Soziologie der Marginalität mit Hilfe von Simmelschen Begriffen zu entwickeln3

Für Simmel ist "die Einheit von Nähe und Entferntheit" [Fremde: 765] das maßgebliche Kennzeichen des Fremden. So setzt die Definition von Anfang an die Räumlichkeit voraus, was die weitere Benutzung der Begriffe wie: die Distanz, die Grenze, die Beweglichkeit zur Folge hat. Diese drei Begriffe setzen auch dieselbe Einheit von Nähe und Entferntheit voraus. Der Fremde wird von Simmel als ein Mitglied der Gruppe verstanden, der in der Gruppe distanziert bleibt. Diese Distanziertheit innerhalb der Gruppe hängt damit zusammen, daß der Fremde dem räumlichen Umkreis der Gruppe nicht von vornherein angehört,

.

daß er Qualitäten, die aus ihm [d.h. dem räumlichen Umkreis – S.B.] nicht stammen und stammen können, in ihn hineinträgt. [Fremde: 765]

1 Diese Idee vetritt u.a. Anthony Giddens: "Modernity, one should not forget, produces difference, exclusion and marginalisation" [Giddens 1991: 6]. 2 Vgl.: [Levine 1977] [Hughes 1949], [Park 1928], [Schutz 1945], [Siu 1952], [Stonequist 1937], [Tiryakian 1973] [Wood 1934]. 3 Die folgenden Analysen werden hauptsächlich auf der Grundlage des berühmten Exkurses über den Fremden [Simmel 1908/1992: 764-771] und den betreffenden Stellen in der Philosophie des Geldes [Simmel 1900/1989] (weiterhin in Zitaten entsprechend als Fremde und Philosophie angegeben) durchgeführt.

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So ist die Distanz zwischen dem Fremden und seiner Gruppe von einem Vornherein abhängig, einem Anfang seiner heutigen Anwesenheit in der Gruppe. Das heißt, daß die Gruppe eine Geschichte vor seinem Erscheinen in der Gruppe gehabt hat. Deshalb sollte uns die genaue Definition der Distanz auf die Geschichte der Gruppe, ihren vermeintlichen Ursprung verweisen. Dieser Ursprung kann jedoch kaum eindeutig festgestellt werden und ist eher willkürlich gesetzt worden. Warum also wird der Anfang der Anwesenheit des Fremden nicht vergessen, wie der Ursprung der Gruppe vergessen worden ist4

Dieses Moment wird umso mehr betont, wenn der Fremde ein Händler ist, wenn er die Waren verkäuft, die irgendwo anders, außerhalb der Grenzen der Gruppe produziert worden sind. Er kann nicht an den Ort, den Boden gebunden sein. Die Mitglieder der Gruppe, die Nicht-Fremden, können auch beweglich sein, aber ihr Unterschied vom Fremden besteht darin, daß für den letzten die Grenze der Gruppe eine Barriere ist, die sein Eindringen in die Gruppe stört, wärend für die Einheimischen die Grenze das ist, was sie "im Inner(st)en zusammenhält". Der Fremde geht also über die Grenzen hinaus, während die Mitglieder der Gruppe sich innerhalb der Grenzen bewegen.

? Wegen seiner Mobilität, weil er nicht nur einmal gekommen ist, sondern auch potentiell einmal gehen wird. Zwar bestimmt Simmel den Fremden als jemand, der gestern kommt und morgen bleibt. Nur bricht jedoch nach morgen übermorgen an, und Simmel weist ausdrücklich darauf hin, daß der Fremde auch der potentiell Wandernde ist.

Die Distanz und die Beweglichkeit, wodurch die Distanz zu bewahren ist, versetzen den Fremden in eine spezifische Beziehung zur Gruppe. Jene darf man nicht einfach als Deprivation oder Schisma (Feindseligkeit) zu bestimmen. Das ist eher die Position eines Beobachters, eines objektiven und interessierten zugleich. Er ist objektiv, weil er mit dieser Gruppe in keiner ausschließlichen Beziehung steht; er ist jedoch an die Tauschverhältnisse mit der Gruppe interessiert:

Weil er nicht von der Wurzel her für die singulären Bestandteile oder die einseitigen Tendendenzen der Gruppe festgelegt ist, steht er allen diesen mit der besonderen Attitüde des "Objektiven" gegenüber, die nicht etwa einen bloßen Abstand und Unbeteiligtheit bedeutet, sondern ein besonderes Gebilde aus Ferne, und Nähe, Gleichgiltigkeit und Engagiertheit ist. [Fremde: 766 f]

Das am meisten wirkungsvolle Mittel, seine "Objektivität" zu bewahren und gleichzeitig sein Interesse zu befriedigen, d.h. die Distanz zu überwinden und gleichzeitig sie zu erhalten, ist das Geld. Das Geld stört die Beweglichkeit des

4 In einem anderen Zusammenhang schreibt heute Pierre Bourdieu über die Amnesie des Ursprungs. Er meint damit, daß die einmal willkürlich gesetzten Regelungen nicht in ihrer Kontingenz durchschaut werden, sondern als etwas Natürliches erscheinen, weil ihr Ursprung vergessen worden ist. Vielleicht darf man mit gewissem Vorbehalt diese Formulierung auch auf unseren Zusammenhang übertragen.

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Fremden und seine Freiheit von der Gruppe nicht, indem es seine Beziehungen zur Gruppe hält:

Man kann Objektivität auch als Freiheit bezeichnen: der objektive Mensch ist durch keinerlei Festgelegtheiten gebunden, die ihm seine Aufnahme, sein Verständnis, seine Abwägung des Gegebenen präjudizieren könnten. Diese Freiheit, die den Fremden auch das Nahverhältnis wie aus der Vogelperspektive erleben und behandeln läßt, enthält freilich allerhand gefährliche Möglichkeiten. [Fremde: 767]

Diese Gefahren bedrohen sowohl die Gruppe als auch den Fremden selbst. Der Fremde ist für die Gruppe gefährlich, weil er durch keine Normen, Bräuche, Standards gebunden ist. Das alles hat für ihn keinen absoluten Wert, deshalb ist der Fremde potentiell jemand, von dem Aufruhr kommt und durch den die Ordnung gestört wird.

Sogar wenn er offenherzig diese Bräuche eigen zu machen bestrebt ist, wird er dennoch sehr wohl eine Menge unsachgemäße Fragen stellen, um sich "wie es eigentlich richtig ist" klarzumachen. Gerade dadurch wird er aber die Anderen diese "Richtigkeit" zu bezweifeln beginnen lassen. Sogar wenn er schon alles verstanden hat, keine Fragen mehr stellt und den Einheimischen nachzuahmen versucht, macht er es allenfalls nicht so, wie sie es selbst tun, manchmal erscheinen seine Betätigungen karikiert, und gerade deshalb läßt sein Verhalten das Unhinterfragbare mit einer gewissen Ironie einzuschätzen, daran etwas Unsinniges einzusehen. Endlich kann es dazu kommen, daß die Einheimischen in Versuchung gebracht werden, etwas (inbesondere etwas Ungewöhnliches) vom Fremden zu übernehmen und so die Grenzen der etablierten Verhaltensmuster zu überschreiten. Es ergibt sich, daß der Fremde die Grenze nicht nur von außen her, sondern auch von innen her auflöst. Desahlb wird der Fremde, der die Distanz zu überwinden versucht, nicht selten Verdacht erregen, mit Entfremdung empfangen. Man wird versuchen, ihn auf eine besondere Stelle auszuweisen, innerhalb von speziellen Grenzen und auf Distanz erhalten zu lassen.

Diese Gefahr hat etwas damit zu tun, was Mary Douglas sehr treffend bezeichnet:

Danger lies in transitional states, simply because transition is neither one state nor the next, it is undefinable. The person who must past from one to another is himself in danger and emanates danger to others. ... It seems that if a person has no place in the social system and is therefore a marginal being, all precausion against danger must come from others. He cannot help his abnormal situation. [Douglas 1966/94: 97 f]

Hier wirkt gerade die Segregation ein – zuerst die räumliche. Sie wird dann im Laufe der Zeit zu einer mentalen Struktur, die die Beziehungen zum Fremden bestimmt, der

zugleich nah und fern [ist], wie es in der Fundamentierung der Beziehung auf eine nur allgemein Menschliche Gleichheit liegt. Zwischen jenen beiden Elementen aber erhebt sich eine besondere Spannung, indem das Bewußtsein, nur das überhaupt Allgemeine gemein zu haben, doch grade das, was nicht gemeinsam ist, zu besondrer Betonung bringt. Dies ist aber im Falle des Land-, Stadt-, Rassefremden etc. auch wieder nichts Individuelles,

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sondern eine fremde Herkunft, die vielen Fremden geimeinsam ist oder sein könnte. [Fremde: 770]

D.h. daß diese Beziehung durch die Universalität und Abstraktheit kennzeichnet wird: mit dem Fremden kann man nur die allgemeinsten Grundzüge teilen, die jedem Menschen eigen sind. Etwas modernen gesprochen, gründen sich die Beziehungen zum Fremden auf den universellen Qualitäten, die man auch die "allgemeinmenschliche Werte" nennen kann. Und von den letzten ist vielleicht das Geld am meisten allgemein.

Das Geld als ein Kommunikationsmedium, ist zugleich universell, allgemein zugänglich ("vom Gelderwerb als solchem kann man, weil eben alle möglichen Wege gleichmäßig zu ihm führen, am wenigsten jemanden prinzipiell ausschließen" [Philosophie: 281]) und zufällig, was ja mit der Universalität verbunden ist.

...in dem Maße, in dem die Gleichheitsmomente allgemeines Wesen haben, wird der Wärme der Beziehung, die sie stiften, ein Element von Kühle, ein Gefühl von der Zufälligkeit grade dieser Beziehungen beigesetzt, die verbindenden Kräfte haben den spezifischen, zentripetalen Charakter verloren. Diese Konstellation nun scheint mir in dem Verhältnis zu dem Fremden ein außerordentliches prinzipielles Übergewicht über die individuellen, nur in Frage stehenden Beziehung eigenen Gemeinsamkeiten der Elemente zu besitzen. [Fremde: 768 f]

In der Philosophie des Geldes weist Simmel darauf hin, daß es [das Geld] die eigentliche Domäne solcher Individuen und Klassen wird, deren soziale Stellung sie von vielerlei persönlichen und spezifischen Zielen ausschließt [Philosophie 281].

Die Zufälligkeit, die Nicht-Notwendigkeit der Beziehung zu diesem konkreten Fremden (hier könnte auch ein beliebiger anderer Fremde stehen) setzt nicht nur seine Freiheit, sonder auch seine funktionelle Bedeutung für die Gruppe voraus.

Der Fremde verkörpert also ein Medium für die Gruppe, das in Details ununterscheidbar bleibt, einen Hintergrund für ihre Selbstidentifizierung. Bei Otthein Rammstedt wird diese Funktion des Fremden als seine Andersheit beschrieben:

L'étranger n'est pas pour Simmel l'Autre généralisé, mais simplement l'Autre, avec lequel nous sommes en action réciproque, qui par cette action réciproque endosse un rôle spécifique, à savoir celui de l'étranger. Si l'on argumente ainsi, l'Autre n'est pas seulement celui, qui vit ou qui vient de l'étranger, mais virtuellement tout autre, c'est-à-dire tous les autres en dehors de moi [Rammstedt 1994: 149].

Der Fremde spielt die Rolle eines negativen "glass-looking-self", das der Gruppe zeigt, was sie mit den Anderen verbindet und was ihre Eigenheit im Unterschied von ihnen, "den Fremden" ausmacht.

In den sogenannten handlungstheoretischen Ansätzen spielt der Begriff der Beteiligung (participation) die zentrale Rolle, was natürlicherweise zur Folge hat, daß hier die Marginalität als die mangelnde Beteiligung an den sozialen Institutionen (am politischen Entscheidungsverfahren und Wirtschaftsleben, an der Verteilung der symbolischen Ressourcen usw.), auch als Deprivierung und Exklusion definiert wird

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[Germani 1980]. Von diesem Gesichtspunkt aus wird also die Marginalität in negativer Hinsicht definiert.

Ein anderer Ansatz geht von einem ganz gegensätzlichen Sachverhalt aus, der auch als eine Abweichung von der Beteligungsnorm angesehen werden kann, nämlich dem der Überbeteiligung. Dieser Ansatz verortet den Marginalen zwischen den verschiedenen Arten von sozialen Grenzen, die die sozialen Verhältnisse gestalten und die soziale Ordnung zementieren. Dieser positive Aspekt der Marginalität ist schon von Robert Park hervorgehoben worden. Hier wird die Position des Marginalen als die zwischen den Welten, Kulturen und sozialen Ordnungen bezeichnet, und der Marginale ist jemand, der sich mit keiner davon völlig identifiziert5

Die beiden Aspekten der Definition des Marginalen – der negative wie der positive setzen also eine funktionelle Bedeutung voraus. Der Marginale hat eine universelle soziale Distanz; was ihn als einen Beobachter befähigt. Er besitzt das Kriterium fürs Beobachten, weil er die Normen von sozialen, kulturellen und politischen Ordnungen "hinter den Grenzen" kennt und die jeweils hiesigen damit vergleichen kann. Dadurch wird die instrumentale Interpretation des Phänomens des Fremden möglich

.

6. So trägt die Marginalisierung in die Selbstreflexion und Selbstidentifizierung der modernen Gesellschaft bei, weil sie ihr eine Chance gibt, das anzugeben, was die Gesellschaft nicht ist7

Ein anderer funktioneller Vorteil der Marginalität besteht darin, daß die sozialen Änderungen nun nicht unbedingt als ein Ergebnis der Systemkrise, sondern als eine permanente komplizierte strategische Situation zu erklären sind. D.h. eine Änderung setzt nicht unbedingt einen Konflikt, sondern eher eine Paradoxie voraus, so daß die Lösung auch nur durch eine paradoxale Strategie möglich wird: die Alternativen der ausgewählten spezifischen Lösung werden nicht ausgeklammert, sondern als Möglichkeiten beibehalten und reproduzierbar. Die Situation der Marginalität (und die Anwesenheit von Marginalen) bringt also nicht nur die

.

5 Vgl. nur: [Park 1928]. 6 Eine Art instrumentaler Interpretation legt Richard Rorty folgenderweise dar: "We cannot leap outside our Western social democratic skins when we encounter another culture, and we should not try. All we should try to do is to get inside the inhabitants of that culture long enough to get some idea of how we look to them, and whether they have any ideas we can use. That is also all they can be expected to do on encountering us. If members of the other culture protest that this expectation of tolerant reciprocity is a provincially Western one, we can only shrug our shoulders and reply that we have to work by our own lights, even as they do, for there is no super-cultural observation platform to which we might repair. The only common ground on which we can get together is that defined by the overlap between their communal beliefs and desires and our own." [Rorty 1989: 61] 7 Die Interpretation, die Yves Barel vorschlägt, ist der pragmatistischen sehr ähnlich: "...La marginalité... remplit une fonction-miroir. Une société s'identifie en regardant se qu'elle n'est pas. L'anormalité est le passage obligé qui permet de définir la normalité. La marginalité fait peur, et cette peur est un outil de régulation et de control social" [Barel 1987: 92].

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Ambiguität, Unbestimmtheit und Gegensätzlichkeit von sozialen Positionen hervor (was das Problem der sozialen Kontrolle besonders akut macht), sondern trägt auch eine Mehrheit von alternativen Lösungen für die komplizierten Situationen mit sich ein.

Mit anderen Worten: die Marginalität ist eine inhärente Eigenschaft der evolutionären Entwicklung, wo es keine lineare, deterministische Verhältnisse gibt zwischen den bestimmten Ereignissen (wie Krieg oder Revolution) und den sozialen Änderungen, so daß diese kaum unterscheidbar sind und für die unmittelbare Beobachtung unerreichbar bleiben. Die Marginalen und Fremden häufen diese infinitesimalen Änderungen an und geben sie weiter in die soziale Realität über.

Vom Standpunkt der Gruppe aus hat der Fremde keine Individualität. Er bleibt als ein Fremder bloß "typisch (in seiner Art) fremd". Weil er jedoch keiner Gruppe völlig angehört, hat er für keine Gruppe Individualität. Die Gruppe unterscheidet immer nur die Typen von Fremden, nicht aber die indivuduellen Fremden8

Mit Hilfe des simmelschen funktionalistischen Ansatzes können wir die Identität des modernen Marginalen nicht vollständig verstehen. In gewissem Sinne gesteht es Simmel selbst zu, wenn er schreibt, der Fremde in seinem urspünglichen Sinne existiere heute, unter den Bedingungen der vereinheitlichten Handelnsbeziehungen und Gesetze, nicht mehr:

. Soll es bedeuten, daß der Fremde als solcher überhaupt keine Individualität besitzt und individuell nicht identifizierbar ist? Diese Frage ist kaum zu beantworten, wird man den Fremden nur funktionell behandeln, vom Standpunkt der Gruppe aus, wie es Simmel tut, der ihn zu einem notwendigen Element derselben macht. Die Rolle und die Funktion des Fremden in der Gruppe zu bestimmen, heißt darüber erzählen, wie die Gruppe ihn findet, erkennt und nutzt. Wenn jedoch die Gruppe nur einen Teil seiner Indentität gestaltet, was bleibt noch in seiner Identität übrig? Was für eine "andere" Seite hat er, die die Gruppe nicht sieht?

Das Geld hat den Charakter, der es ehemals zur Domäne des Fremden machte, nicht verloren, sondern sogar durch die Vermehrung und Variierung der in ihm gekreuzten teleologischen Reihen immer mehr ins Abstrakte und Farblose gesteigert. Der Gegensatz, der in dieser Hinsicht zwischen den Einheimischen und den Fremden bestand, ist nur deshalb fortgefallen, weil die einst von ihm getragene Geldform des Verkehrs die Gesamtheit des Wirtschaftskreises ergriffen hat. [Philosophie: 290]

8 Eine Klassifikation von solchen Typen schlägt Donald Levine vor, der von der "Einheit von Nähe und Entferntheit" ausgeht und das Verhältnis und die Spannung zwischen diesen beiden zum Kriterium für die Unterscheidung der Typen macht. Levine unterscheidet die folgenden Typen: Guest, Sojourner, Newcomer, Intruder, Inner Enemy, Marginal Man. Hierfür kann man auch die Typen des Homecomer und des Estranged Native von Alfred Schütz hinzufügen, sowie den insbesondere interessanten und diskutierten Typ des Kosmopoliten. Diese Klassifizierungen sind eher formal, es geht um die Verhältnisse der Distanz. Das eigentlich Inhaltliche finden wir bei Jaques Derrida, in seinen Begriffe wie pharmakon, hymen, supplement. Vgl.: [Schutz 1945], [Levine 1977], [Derrida 1981].

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Die Bestimmung des Fremden wird sozusagen mehr synoptisch von Robert Park gegeben, der allerdings auf den simmelschen Ideen baut, aber eine Nuance hinzufügt, die das Problem des Marginalen vielseitiger erscheinen läßt. Sein Marginale befindet sich nicht inmitten der Kreuzung sozialer Kreise, sondern zwischen den Welten, den Kulturen und den sozialen Ordnungen, indem er sich mit keiner von ihnen identifiziert (und so sich seiner marginaler Stellung völlig bewußt wird).

Wie kann man die Persönlichkeit des Marginalen definieren? Wie wir gesehen haben, ist er vom Standpunkt der Gruppe aus ein Bestandteil seiner Umwelt, seines Mediums, das vereinheitlicht, formlos ist und funktionell verstanden wird, während vom Standpunkt der Identität des Marginalen aus gesehen jede Gruppe nur ein Bestandteil seiner Umwelt ist. Eine Menge von bestimmten, klar geformten Gemeinschaften, eine Menge ihrer Grenzen und überhaupt eine Menge von verschiedenartigsten Oppositionen macht für den Marginalen sein universelles Medium aus9

Erstens die Ressourcen seiner Umwelt aktiv für die Selbstidentifizierung benutzt, indem er diese Konstellation iniziiert oder mindestens sich seiner eigenen Rolle in der Kostituierung seiner Identität bewußt wird, und zweitens sich mit dieser Konstellation nie gleichsetzt, indem er immer die Möglichkeit, sie zu ändern, voraussetzt. Der Marginale ist jemand, der den Narrativ seines Lebens nicht in Formeln, wie "So hat es sich passiert", sondern etwa wie "So habe ich gewollt" wiedergibt.

. Für den Marginalen sind die universellen Charakteristiken der Gruppe von Bedeutung, das, was die Gemeinschaften mehr unpersönlich und "imaginär" macht. D.h. diese Gruppen werden immer mehr ausgeglichen in dem Sinne, daß der Marginale keine Hierarchie der Gruppen sieht; sie alle sind für ihn als mögliche Bestandteile der Konstellation gleich, die seine Identität ausmacht. Daß das Individuum inmitten der Kreuzung sozialer Kreise steht, ergibt sich nicht immer aus seinen eigenen Betätigungen, dieser Umstand wird von ihm sogar nicht immer bewußt. Die Identität des Marginalen, die auf der Konstellation der Grenzen von verschiedenen Gruppen gründet, unterscheidet sich von der Identität eines jeden modernen Menschen, die sich gleichfalls mit der Kreuzung verschiedener sozialer Kreise verbunden ist, dadurch, daß der Marginale:

Diese Reflexivität in bezug auf seine Identität bedeutet mehr Freiheit für die Wahl zwischen den gleich möglichen Alternativen, sie bedeutet auch die Steigerung

9 Die Rolle des Marginalen in seiner Beziehung zur Gruppe kann man hier mit der Rolle des Geldes in den wirtschaftlichen Transaktionen vergleichen. Das Geld is die reisnste Ausprägung der Form des modernen Wirtschaftstausches, der eine Abstraktion von der Einzigartigkeit der konkreten Situation fordert. Der Marginale ist eine Form der Identität, die eine Abstraktion von den spezifoschen Charakteristiken der Gemeinwschaften fordert, mit denen er phänomenal verbunden worden ist.

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der Mannigfaltigkeitig der Lebensstile. Was den Fremden und Marginalen betrifft, läßt sich der Hauptgegensatz der modenen Kultur darstellen als der Gegensatz zwischen der steigernder Abstraktheit (und der inneren Differenziertheit) der Kollektivitäten einerseit und der Fähigkeit des Individuums, diese Vielfältigkeit von Konstellationen und Kreuzungen für die eigene Selbstidentifizierung zu benutzen, andererseits. Die Palette der Wahlmöglichkeiten ist zu groß; es gibt jedoch zu wenige Wahlkriterien und diese sind zu sehr abstrakt. Die Kehrseite der Freiheit des Marginalen, die Dramatik seiner Situation tritt darin zutage, was Anthony Giddens als existential isolation bezeichnet: das ist nicht bloß die Isolierung der Individuen von einander als vielmehr die Isolierung der Individuen von moral resources, die die Gruppe zur Verfügung stellt und die als Wahlkriterien auftreten. Die Grundfrage, die die Freiheit des Marginalen in der modernen Kultur betrifft, läßt sich auch folgenderweise formulieren: Bedeutet nun die Freiheit des Marginalen von den Normen der Gruppe die Befreiung der Moral von den lokalistischen, spezifischen Formen und die Verwirklichung der universellen menschlichen Werte oder geht es hier um die existentielle Isolierung, die zum Verlust des persönlichen Sinnes führt? (Siehe: [Giddens 1991: 9].

Die reflektierte Konstellation der Grenzen von verschiedenen Kollektivitäten in der Identität des Marginalen ist gerade das, was seine Individualität, Einmaligkeit und Kontingenz ausmacht. Das setzt voraus eine Disposition nicht nur zum "Verwischen von Grenzen", zu ihrer Relativierung, sondern auch zu einem gewissen Konservatismus den Grenzen gegenüber. Die Ambiguität des Marginalen liegt darin, daß er, sich von allen Kollektivitäten befreiend, die seine Identität ausmachen, jedoch von ihrer Bestimmtheit, von der Klarheit der Oppositionen abhängig bleibt. Wenn ihre Form und Konkretheit verlorengehen wird, dann wird auch die Bestimmung der Identität des Marginalen durch die Konstellation dieser Oppositionen ihren Sinn verlieren, die einmalige Zusammensetzung dieser Oppositionen und Bestimmtheiten wird ausgeglichen sein. Wenn der Marginale einsieht, daß die Einmaligkeit seiner Identität von der Kombination verschiedener Formen abhängig ist, trägt dies in die Aufbewahrung und Kultivierung jener Formen genau sosehr bei, wieviel er zur Aufbewahrung und Kultivierung seiner Individualität bestrebt ist. Bestimmte Formen und Oppositionen werden im Laufe der Marginalisierung nicht ausgeglichen und nicht erledigt, sondern die Möglichkeiten ihrer Kombinationen steigern und die Typen der Marginalen vermehren sich.

Die Kreuzungen der Formen und die Konstellationen verschiedener Grenzen können unter gewissen sozialen Bedingungen in der Situation des Marginalen auch dynamisch werden. Es geht darum, daß die Grenze in Bewegung kommt und sich in frontier verwandelt. Der Marginale kann der eigentiche Agens von frontier, seine

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Triebkraft sein. Es gibt jedoch in der Situation der frontier einen anderen Typus des Marginalen10

. Dieser begegnet einem Dilemma: entweder hat er neue Form und neue Grenzen, auch neue Oppositionen anzuerkennen, was ihn sich neu zu identifizieren läßt, oder nimmt er neue Einteilungen nicht an und dann bleibt er außer diesen Grenzen, zwischen den Grenzen, auf der Linie der frontier, wo die neuen Gruppen noch miteinander in Konflikt stehen, die Ressourcen des Raumes, die "Felder" unter sich verteilen usw. In dieser Situation wird der Marginale eher den Kontakt mit den klar umrissenen Grenzen ausweichen, statt sie zu kombinieren oder zu verwischen versuchen. Der solcher Art Marginale scheint keineswegs in einem höheren Grad als die anderen Leute von der Bürde der Traditionen und Ordnungen entlastet. Gerade umgekehrt: er hat immer mehreren Formen von Kontrolle zu widerstehen, er trägt die schwerere Bürde der Notwendigkeit, seine Identität zu verteidigen gegen die Versuche, diese Identität "aufzuklären", d.h. anstelle ihrer Unbestimmtheit und Ambiguität "Klarheit schaffen", sie in die neu entablierte Form einzusaugen. Hatte der simmelsche Fremde in sich die beiden Gegensätze vereinigt, die Freiheit von diesem bestimmten Punkt im Raum sowie seine Fixiertheit daran, so läßt sich im Fall des Marginalen auf der Linie des frontier auch sagen, daß ein bestimmter Raum sich vom Marginalen befreit sowie auch umgekehrt: den Marginalen innerhalb seiner Grenzen festlegt.

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10 Die amerikanische Soziologie der frontier beschreibt nur den ersten Typus des Marginalen.

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