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Marktöffnung und Gewährleistung von Wettbewerb in der leitungsgebundenen Energiewirtschaft - Diskussionspapier -

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Marktöffnung und Gewährleistung

von Wettbewerb in der

leitungsgebundenen Energiewirtschaft

- Diskussionspapier -

Bundeskartellamt

Diskussionspapier

für die Sitzung des Arbeitskreises Kartellrecht

am 7. Oktober 2002

Marktöffnung und Gewährleistung von Wettbewerb

in der leitungsgebundenen Energiewirtschaft

INHALTSVERZEICHNIS

Einleitung 1

1. Teil: Die leitungsgebundene Energiewirtschaft 2

1.1 Europäische Vorgaben 2

1.2 Betroffene Produktmärkte 2

1.2.1 Strommärkte in Deutschland 3

1.2.2 Gasmärkte in Deutschland 4

1.3 Marktzutrittsschranken 4

2. Teil: Entwicklung in Deutschland und anderen europäischen Ländern 7

2.1 Deutschland 8

2.2 Frankreich 10

2.3 Vereinigtes Königreich 11

2.4 Schweden 11

2.5 Finnland 12

2.6 Niederlande 12

2.7 Österreich 13

3. Teil: Wettbewerbsrelevante Problemfelder bei der Liberalisierung

in Deutschland 14

3.1 Netzzugangsverweigerung 14

3.2 Lieferantenwechsel 15

3.2.1 Doppelvertragsmodell 15

3.2.2 Wechselentgelte bei Lastprofilkunden 16

3.2.3 Best-Practice-Katalog beim Lieferantenwechsel 17

3.3 Regelenergie 17

3.4 Abrechnung von Mehr- und Mindermengen bei Lastprofilkunden 18

3.5 Lastprofile für Wärmestromkunden 19

3.6 Messpreise 19

3.7 Netznutzungsentgelte 20

3.7.1 Rechtsgrundlagen 21

3.7.2 Vergleichsmarktkonzept 21

3.7.2.1 Räumlicher Vergleichsmarkt 21

3.7.2.2 Zeitlicher Vergleichsmarkt 24

3.7.3 „Angemessenes“ Entgelt i.S.v. § 19 Abs. 4 Nr. 4 GWB 24

3.7.3.1. Maßstäbe des Vergleichsmarktkonzepts 24

3.7.3.2 Subtraktionsmethode 24

3.7.3.3 Kostenprüfung 25

3.7.3.3.1 Maßnahmen zur Kostenprüfung 25

3.7.3.3.2 Kriterien für die Kostenprüfung 26

3.7.3.3.3 Die Gleichzeitigkeitsfunktion 27

3.7.3.3.4 Zuschlag bei synthetischen Lastprofilen 28

3.8 Langfristige Gaslieferverträge mit wettbewerbsbeschränkenden

Abreden 28

4. Teil: Anforderungen an eine wirksame Aufsicht über die

Netznutzungsbedingungen 29

4.1 Anforderungen an eine Aufsichtsbehörde 30

4.1.1 Unabhängigkeit 30

4.1.2 Hinreichende Ausstattung 31

4.2 Aufsichtsrechtliche Instrumente der Entgeltkontrolle 32

4.2.1 Vergleichsmarktkonzept – Bewertung der Methoden 32

4.2.1.1 Anreizregulierung 32

4.2.1.2 Umsatzvergleich 33

4.2.2 Kostenprüfung 33

4.2.3 „Gute fachliche Praxis“ 34

4.2.4 Vertikale Integration und Unbundling 36

4.3 Ex-ante-Regulierung versus Ex-post-Missbrauchsaufsicht 37

4.4 Denkbare Weiterentwicklung des bisherigen Ansatzes 42

4.5 Fazit 43

LITERATURVERZEICHNIS

1

Einleitung

Bereits in den 1960er Jahren begann in Deutschland eine Diskussion über die Libe-

ralisierung bis dahin vom Wettbewerb weitgehend ausgenommener Bereiche. In Eu-

ropa wurde diese Diskussion im Rahmen der Umsetzung des Binnenmarktkonzepts

fortgeführt. Netzmonopole wurden ordnungspolitisch auf den Prüfstand gestellt. In

der Folge wurden in Deutschland in der Telekommunikations-, Elektrizitäts- und

Gaswirtschaft teils über lange Zeiträume gewachsene Monopole von Netzbetreibern

für den Wettbewerb geöffnet. Briefpost und Bahn sind weitere Felder, auf denen sich

hergebrachte Monopolstrukturen in einem Übergangsprozess zur Öffnung für Wett-

bewerb befinden, während in der Wasserwirtschaft die Diskussion um Vor- und

Nachteile der Liberalisierung noch am Anfang steht.

Für die leitungsgebundenen Energien Elektrizität und Gas steht das Ziel einer effekti-

ven Öffnung der Märkte inzwischen in Deutschland außer Streit. In Politik und Wis-

senschaft weiterhin umstritten ist dagegen der hier seit 1998 gewählte Weg der

Marktöffnung. Teils wird an Stelle des bestehenden Regulierungsregimes - kartellbe-

hördlich und zivilgerichtlich kontrollierter, zwischen Verbänden und Unternehmen der

Marktgegenseiten verhandelter Netzzugang – die Einrichtung einer Fachbehörde mit

weitgehenden Regulierungskompetenzen gefordert.1

Dieses Tagungspapier skizziert die wesentlichen Entwicklungen der Öffnung der E-

nergiemärkte für mehr Wettbewerb in Deutschland und anderen Mitgliedstaaten der

Europäischen Union, benennt wesentliche Marktzutrittsschranken und Problemfelder,

die sich im Öffnungsprozess bisher ergeben haben und widmet sich schließlich den

hierzu diskutierten Lösungsansätzen. Der Schwerpunkt des Papiers liegt im Bereich

Missbrauchsaufsicht und hier im Strombereich. Die kartellbehördliche Kontrolle von

Unternehmenszusammenschlüssen findet nur insofern Berücksichtigung, als sie über

spezifische Auflagen auf eine Marktöffnung zielt.

In der Behandlung der kartellbehördlichen Missbrauchsaufsicht muss dieses Arbeits-

papier sich weitgehend auf die Verfahren des Bundeskartellamtes beschränken. Eine

angemessene Darstellung der zahlreichen Aktivitäten der Landeskartellbehörden und

der Verfahren, die eine Reihe von ihnen führen, würde den Rahmen des Papiers

sprengen.

1 Zuletzt etwa Monopolkommission, 14. Hauptgutachten, Tz. 873 ff. m.w.N.

2

1. Teil: Die leitungsgebundene Energiewirtschaft

1.1 Europäische Vorgaben

Entscheidende gesetzgeberische Impulse zur Liberalisierung der deutschen Ener-

giemärkte gingen zunächst von europäischer Ebene aus. Bis 1997 war die Binnen-

marktrichtlinie Elektrizität2, bis 2000 die Binnenmarktrichtlinie Erdgas3 in nationales

Recht umzusetzen. Weitere Schritte auf EU-Ebene hin zu einer effektiven Öffnung

bzw. Schaffung eines europäischen Erdgas- und Elektrizitätsbinnenmarktes sind be-

absichtigt.4 Die Europäische Kommission hat einen entsprechenden Richtlinienent-

wurf zur Änderung der Strom- und Gasrichtlinie vorgelegt.5

Ziel der Liberalisierung der leitungsgebundenen Energien Strom und Gas ist es, dem

Wettbewerbsprinzip in Europa nach gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben schrittweise

zum Durchbruch zu verhelfen. Die Märkte für leitungsgebundene Energien sollen

sich so zu europäischen Binnenmärkten entwickeln, auf denen wirksamer Wettbe-

werb gewährleistet ist.6

1.2 Betroffene Produktmärkte

Das Ziel gemeinschaftsweiter europäischer Binnenmärkte für Elektrizität und Gas ist

noch nicht erreicht. Die sachliche und räumliche Abgrenzung der betroffenen Märkte

erfolgt auch in der Energiewirtschaft entsprechend dem kartellrechtlichen Bedarfs-

marktkonzept aus Sicht der Nachfrager der betroffenen Produkte oder Dienstleistun-

gen.7 Wirksamer Wettbewerb in der Versorgung mit leitungsgebundenen Energien ist

nur möglich, wenn den Anbietern der diskriminierungsfreie Zugang zu bestehenden

2 Richtlinie 96/92/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. Dezember 1996 betref-fend gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt, ABl. 1997 Nr. L 27/20. 3 Richtlinie 98/30/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Juni 1998 betreffend ge-meinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt, ABl. 1998 Nr. L 204/1. 4 Vgl. zuletzt Europäischer Rat (Barcelona) 15. und 16. März 2002, Schlussfolgerungen des Vorsitzes – SN 100/02 - , S. 14f. 5 Europäische Kommission, Vorschlag vom 7. Juni 2002, KOM(2002) 304 endgültig. 6 Vgl. Mitteilung der Europäischen Kommission über die Vollendung des Energiebinnenmarktes, KOM (200) 765. 7 Vgl. etwa die räumliche Marktabgrenzung der Europäischen Kommission - zur Elektrizität - in den Fusionsfällen EDF/EnBW, Entscheidung vom 07.02.2001, COMP/M.1853, Tz. 20 – 25 (nationaler Markt Frankreich); EnBW/EDP/CAJATUR HIDROCANTABRICO, Entscheidung vom 19.03.2002, COMP/M.2684, Tz. 23, 26 (nationaler Regionalmarkt spanisches Festland); RWE/INNOGY, Entschei-dung vom 17.05.2002, COMP/M.2801, Tz. 16f. (offengelassen, aber Tendenz nationaler Regional-markt England und Wales) sowie Tz. 21f. (offengelassen, aber Tendenz nationaler Markt Deutsch-land); VATTENFALL/BEWAG, Entscheidung vom 04.02.2002, COPM/M.2701, Tz. 7-9. (offen gelas-sen mit Tendenz für nationale Märkte) sowie – zum Gas – GAZ DE FRAN-CE/RUHRGAS/SLOVENSKY, Entscheidung vom 06.06.2002, COMP/M.2791, Tz. 13f. (offengelassen, aber Tendenz nationale [für Deutschland wohl Regional-] Märkte).

3

Strom- und Gasnetzen offen steht. Die wettbewerbliche Öffnung der Netze schafft

dabei neue Märkte für die Mitbenutzung des jeweiligen Netzes durch neue Energie-

anbieter, die mit dem etablierten Versorgungsunternehmen konkurrieren.8 Die Wett-

bewerbsbedingungen auf den durch natürliche Anbietermonopole gekennzeichneten

Märkten für Netzdienstleistungen prägen entscheidend die nachgelagerten Produkt-

märkte für Strom und Gas.

1.2.1 Strommärkte in Deutschland

Die Märkte für elektrische Energie werden gemäß ihrer unterschiedlichen Nachfra-

gerstruktur sachlich unterschieden in Weiterverteiler- und Endkundenmärkte.9 Hinzu

kommt der Absatz an Stromhändler als separater Markt. Eine Abgrenzung der Wei-

terverteilermärkte nach regionalen (Weiterverteilung von Regionalversorgungsunter-

nehmen an Stadtwerke) und überregionalen Märkten (Weiterverteilung durch Strom-

erzeuger und –importeure) entfällt, soweit diskriminierungsfreier Netzzugang gewähr-

leistet ist.

Räumlich sind die Weiterverteilermärkte sowie die Märkte zur Versorgung leistungs-

gemessener Kunden nach insoweit erfolgreicher Liberalisierung als zumindest bun-

desweite Märkte anzusehen.10 Der Markt für Stromlieferung an Kleinkunden (Haus-

halt, Gewerbe, Landwirtschaft) wird dagegen regional mit dem Leitungsnetz des je-

weiligen Stromversorgers abgegrenzt.11 Nach Auffassung des Bundeskartellamtes

hat sich trotz der vollständigen rechtlichen Öffnung der Märkte noch kein Wettbewerb

etabliert, der eine bundesweite Marktabgrenzung rechtfertigt.12

8 Vgl. BKartA WuW/E DE-V 149 Berliner Stromdurchleitung = im Volltext RdE 1999, 102, 106. Alle zitierten Entscheidungen des BKartA seit 1999 sind zudem im Volltext abrufbar unter <http://www.bundeskartellamt.de>. 9 Nachweise zur Entscheidungspraxis des BKartA: vgl. Ruppelt in Langen/Bunte, 9. Aufl., GWB, § 19, Rn. 31 m.w.N. sowie BKartA– B8 – 109/01 -, Beschluss vom 17.01.2002, Tz. 44ff. (E.ON / Gelsen-berg); Nachweise zur Entscheidungspraxis der Europäischen Kommission vgl. Löffler in Lan-gen/Bunte, 9. Aufl., FKVO 4064/89, Art. 2, Rn. 60. 10 Im Einzelnen hierzu: BKartA B8–309/99 - RWE/VEW – WuW/DE-V 301, 305 Rz. 78 ff.; BKartA B8–202/00 – EnBW/Stadtwerke Schwäbisch-Gmünd – WuW/DE-V 395, 397 Rz. 16 ff. ; ähnlich: Europäi-sche Kommission, Entscheidung VATTENFALL/BEWAG, a.a.O., Tz. 8. 11 Vgl. BKartA, Beschluss vom 30. April 2002 – B8 – 152/01 – Schleswag / Stadtwerke Husum - , Ziff. III 1 d; BKartA, Beschluss vom 29. Juli 2002 – B8 – 23/02 -, Ziff. III, 1. 12 Die Prognose von EU-Kommission und BKartA, dass sich auch im Kleinkundenbereich bundesweite Märkte entwickeln würden, ist tatsächlich nicht eingetroffen vgl. Entscheidung RWE/VEW, WuW/E DE-V 301 (Juli 2000) einerseits sowie Pressemitteilung BKartA vom 01.02.02 (RWE/GEW) - andererseits.

4

1.2.2 Gasmärkte in Deutschland

Innerhalb des mehrstufig aufgebauten Weiterverteilungssystems der Gaswirtschaft

ist der Markt für die Erstbelieferung von Weiterverteilern durch überregionale Fern-

gasunternehmen (Ferngasstufe) sachlich von dem regionalen Weiterverteilermarkt

(Regionalversorgungsunternehmen an Stadtwerke) zu unterscheiden. Bei der ge-

sonderten Belieferung von Endkunden ist der Markt zur Versorgung von Haushalts-

und Kleingewerbekunden von dem zur Belieferung von Industriekunden abzugren-

zen.

Räumlich sind die Gasmärkte nach den Netzgebieten der beteiligten Unternehmen

abzugrenzen. Auch hier hat sich nach Auffassung des Bundeskartellamtes trotz des

Wegfalls der Demarkations- und der ausschließlichen Konzessionsverträge noch

kein Wettbewerb in Form einer Durchleitungspraxis etabliert, der eine bundesweite

Marktabgrenzung rechtfertigt.13 Bisher existieren nur einige Durchleitungsverträge

über sogenannte „Bandlieferungen“ mit in der Regel einjähriger Laufzeit.

1.3 Marktzutrittsschranken

Die bestehenden Energieleitungsnetze stellen natürliche Monopole der etablierten

Netzbetreiber dar.14 Eine flächendeckende Doppelung dieser Ressourcen wäre wirt-

schaftlich nicht sinnvoll und rechtlich schwer umzusetzen.15 Effektiver Wettbewerb

setzt daher voraus, dass der etablierte Netzbetreiber Dritten die Mitbenutzung seines

Netzes gewährt. Hierzu ist er gegen ein „angemessenes“ Netznutzungsentgelt recht-

lich verpflichtet.16

Diskriminierungsfreier Netzzugang und die Höhe der Netznutzungsentgelte sind von

entscheidender Bedeutung für die Preis- und Wettbewerbssituation auf den vor- und

nachgelagerten Energiemärkten. So machen die Netznutzungsentgelte allein im

Kleinkundenbereich Strom ca. 60-70% des Netto-Endpreises aus. Auch die gesamt-

wirtschaftliche Bedeutung der Netznutzungsentgelte ist nicht zu unterschätzen. Allei-

ne im Strombereich zahlen Abnehmer in Deutschland jährlich ca. 18 Mrd. € für die

13 Vgl. BKartA, Beschluss vom 30. April 2002 – B8 – 152/01 – Schleswag / Stadtwerke Husum - , Ziff. III 2 b. 14 Vgl. etwa 14. Hauptgutachten Monopolkommission (Juli 2002), „Netzwettbewerb durch Regulierung“ Tz. 841 (Strom) und Tz. 842 (Gas). 15 Man denke nur an die fachplanungs- und verfassungsrechtlichen (Enteignungs-)Voraussetzungen für eine Vielzahl von Eingriffen in fremdes Grundeigentum für den Leitungsneubau Privater (vgl. Box-berg-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, BVerfGE 74, 264). 16 Vgl. § 6 EnWG und § 19 Abs. 4 Nr. 4 GWB.

5

Netznutzung.17 Geht man von einem Senkungspotenzial der Netznutzungsentgelte

von 10% aus, so ergibt sich ein jährlicher Mehrbetrag von ca. 1,8 Mrd. €, welcher

Wirtschaft und Haushalten für alternative Investitionen oder Ausgaben zur Verfügung

stünde. Bei um 30% überhöhten Netznutzungsentgelten läge der Betrag gar bei ca.

5,4 Mrd. € jährlich.

Obwohl durch die Liberalisierung rechtliche Zutrittsschranken zu den Energiemärkten

nicht länger bestehen,18 liegen die tatsächlichen Hürden für Wettbewerber hoch.

Newcomer müssen Kunden des jeweils etablierten Energieversorgers gewinnen. Je-

ner betreibt sein Leitungsnetz aber nicht als eigenständiges Kerngeschäft, sondern

um sich selbst auf den nachgelagerten Märkten für die Versorgung mit leitungsge-

bundener Energie zu betätigen. Für den Energieversorger besteht damit kein Anreiz,

als neutraler Sachwalter des Netzes zu agieren und so mittelbar das eigene Absatz-

geschäft zu gefährden. Soweit die regionalen Märkte bei Strom und Gas betroffen

sind, beherrscht der Energieversorger historisch bedingt auch diese und bietet zu-

dem Strom, Gas, Wasser etc. aus einer Hand (sog. Multi-Utility-Konzept). Viele klei-

nere Versorgungsunternehmen versuchen zudem, ihre teils althergebrachten regio-

nalen Strukturvorteile durch Verstärkungen der vertikalen Integration in vorgelagerte

Marktstufen strategisch abzusichern, namentlich durch die Gewinnung großer Ver-

bundunternehmen als Mitgesellschafter.

Die Wechselbereitschaft von Kleinkunden ist gerade im Strombereich noch gering

ausgeprägt.19 Hier spielen die Furcht vor Komplikationen beim Versorgerwechsel

ebenso eine Rolle, wie die im Verhältnis zum Wechselaufwand als zu gering emp-

funden Kostenvorteile.20

Auf der Beschaffungsseite stehen die deutschen Gasversorger bei einer Importab-

hängigkeit von ca. 80% des deutschen Gasverbrauchs marktmächtigen Gasförderern

aus Russland, Norwegen, den Niederlanden und Großbritannien gegenüber.21 We-

gen des bisher bestehenden norwegischen Gaskartells gestaltete es sich für neue

17 Schätzung BKartA (Annahme: Gesamtverbrauch 470 TWh, davon 50% Industrie (Mittel- bis Höchst-spannung), 25% Gewerbe und 25% Haushalte (beide Niederspannung). 18 § 3 EnWG verlangt lediglich die Erfüllung gewisser Zuverlässigkeitskriterien als Voraussetzung für die zur Aufnahme von Energieversorgung erforderlichen Genehmigung. 19 Vgl. Handelsblatt vom 22.05.02 („Deutschlands Stromliberalisierung ist gut gelungen“). 20 Wer umzieht, ist Kraft Verordnungsrecht meist ungewollt bis zu einem Jahr an den etablierten Ver-sorger gebunden - Wirtschaftswoche vom 05.06.02 („Zwang der Stadtwerke“). 21 Vgl. Büdenbender, DVBl. 2001, 952, 955.

6

Gasanbieter schwierig, an freie Gasmengen zu gelangen. Die Europäische Kommis-

sion hat jedoch im Juli 2002 einen Kompromiss mit den norwegischen Gasproduzen-

ten gefunden, wonach diese zukünftig ihr Erdgas getrennt vermarkten und in den

nächsten vier Jahren Gasmengen für neue Kunden anbieten.

Innerhalb der Gaswirtschaft hat sich die Wettbewerbssituation durch die Liberalisie-

rung bisher kaum geändert. Einer funktionierenden Durchleitung steht nicht nur das

aktuelle Durchleitungsmodell eines entfernungsabhängigen Netznutzungsentgelts

(Punkte-System) im Gegensatz zu einem entfernungsunabhängigen Entgelt (sog.

Durchleitungsbriefmarke) entgegen. Probleme bestehen auch bei der Transparenz

der Netznutzungsentgeltkalkulation, der Entgelthöhe, der Kompatibilität der Gasquali-

täten, dem Speicherzugang, dem Bilanzausgleich, dem Kapazitätsengpassmanage-

ment sowie hinsichtlich des sog. Reziprozitätseinwandes. Diesbezüglich mangelt es

insbesondere an hinreichend konkreten Netzzugangsregelungen in der Verbändever-

einbarung Gas, jedoch auch an der rechtlichen Grundlage für den Netzzugang im

EnWG.22 Der Markteintritt neuer Anbieter wird ferner durch historisch bedingt lang-

fristig geschlossene Gaslieferverträge, aber auch die weitgehende Bindung des

Gaspreises an den Ölpreis behindert. Auch sind Haushalts- und Kleingewerbekun-

den vom Gas-zu-Gas-Wettbewerb bisher, abgesehen von einer sog. Lern- und Test-

phase, quasi ausgeschlossen.23 Trotz dieser Marktzutrittshindernisse haben auslän-

dische Gasunternehmen angekündigt, in das deutsche Gasgeschäft eintreten zu wol-

len.24 Aus wettbewerblicher Sicht bleibt dennoch fraglich, ob Markteintritte durch Be-

teiligungen an bestehenden Energieversorgern zu mehr Wettbewerb führen oder sich

nicht im Wesentlichen in einer Veränderung der Eigentümerstruktur des jeweiligen

regionalen Netzmonopolisten erschöpfen würden.25

22 Die EnWG-Novelle 2002 sollte hierzu einen neuen § 6a EnWG einfügen. 23 2. Nachtrag zur VV Erdgas I vom 21.09.01 sowie VV Erdgas II vom 03.05.02 (Anlage 8); Die Welt vom 06.06.02 („Weichen für Gaswettbewerb gestellt“) und vom 06.09.02 („Gas-Verbrauchern wird der freie Markt vorenthalten“). 24 Vgl. FTD vom 19.06.02 („Gashändler sehen sich in Deutschland ausgeschlossen“). 25 Vgl. etwa Handelsblatt vom 27.08.02 („Energiekonzerne buhlen um Stadtwerke“).

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2. Teil: Entwicklung in Deutschland und anderen europäischen Ländern

Die Energiebinnenmarktrichtlinien sehen grundsätzlich zwei Modelle vor, um den Zu-

gang Dritter – mit dem etablierten Versorger konkurrierender Energieanbieter – zu

bestehenden Netzen zu gewährleisten: den regulierten Netzzugang26 und den ver-

handelten Netzzugang.27 Beim regulierten Netzzugang werden die Bedingungen und

das Entgelt für die Nutzung von Versorgungsnetzen behördlich vorgegeben oder ge-

nehmigt. Dies kann vor oder nach dem Zugangs- oder Durchleitungsbegehren kon-

kurrierender Anbieter erfolgen (Ex-ante- bzw. Ex-post-Regulierung). Beim verhandel-

ten Netzzugang handeln Interessenverbände beider Marktseiten Einzelheiten und

Höhe des Entgelts privatrechtlich aus. Grundlage hierfür ist ein kartellrechtlicher

Netznutzungsanspruch von Zugangspetenten, der auch zivilrechtlich eingeklagt wer-

den kann.28

Im Folgenden werden die Erfahrungen mit sektorspezifischer Regulierung in der Te-

lekommunikation in Deutschland sowie der Stand der Liberalisierung der leitungsge-

bundenen Energie in Deutschland, Frankreich, dem Vereinigten Königreich, Schwe-

den, Finnland, den Niederlanden und Österreich skizziert.

Regulierungserfahrungen in Deutschland

Erfahrungen mit sektorspezifischer Regulierung bestehen in Deutschland seit 1997 in

der Telekommunikation. Die Wettbewerbsentwicklung ist auf den ex-ante-regulierten

Telekommunikationsmärkten sehr unterschiedlich verlaufen. Der voranschreitende

Aufbau alternativer Netzinfrastrukturen, die Marktpräsenz ausländischer Unterneh-

men sowie der intakt erscheinende Preiswettbewerb sprechen in einigen Bereichen

für eine Zunahme der Wettbewerbsintensität. Gleichzeitig stagniert die Wettbewerbs-

entwicklung bei Fern- und Auslandgesprächen. Wichtige Leistungen auf den Vor-

leistungs- und Endkundenmärkten verbleiben in festen Monopolstrukturen. Die Deut-

sche Telekom konnte den bedeutenden neuen Markt für schnelle Internetzugänge

mittels DSL-Technologien weitgehend für sich gewinnen. Ein Verfahren gegen die

Deutsche Telekom wegen des Verdachts auf Preisdumping bei T-DSL-Anschlüssen

hat die RegTP trotz festgestellter Abschläge von den Kosten der effizienten Leis-

26 Art. 17 (Elektrizitäts-)Richtlinie 96/92/EG, Art. 16 (Erdgas-)Richtlinie 98/30/EG. 27 Art. 17 (Elektrizitäts-)Richtlinie 96/92/EG, Art. 15 (Erdgas-)Richtlinie 98/30/EG. 28 Nach der gemeinschaftsrechtlichen essential-facility-Rechtsprechung des EuGH bzw. in Deutsch-land spezialgesetzlich gemäß § 19 Abs. 4 Nr. 4 GWB.

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tungsbereitstellung eingestellt.29 Auch war die Deutsche Telekom ihrer im Rahmen

des Verfahrens übernommenen Verpflichtung, Wettbewerbern ein Line-Sharing-

Angebot zu unterbreiten, zunächst nicht nachgekommen.30 So gelang es dem ehe-

maligen Monopolunternehmen trotz sektorspezifischer Regulierung bei DSL-

Anschlüssen in einem neuen Markt ein Quasi-Monopol neu aufzubauen.31

Auch bei Teilnehmeranschlüssen und Ortsgesprächen besteht weiterhin kein nen-

nenswerter Wettbewerb. Der Marktanteil der Deutschen Telekom liegt hier noch im-

mer bei über 95%. Die Entgelte für Ortsgespräche haben sich seit 1997 kaum geän-

dert. Die Monopolkommission geht davon aus, dass die Entwicklung des Wettbe-

werbs im Ortsnetz maßgeblich dadurch behindert wird, dass das Entgelt für die Miete

der Teilnehmeranschlussleitung für Wettbewerber höher liegt als der Preis, den die

Deutsche Telekom ihren Endkunden für den analogen Anschluss berechnet.32 Die

wettbewerbliche Situation ist trotz sektorspezifischer Ex-ante-Regulierung sowohl der

Entgelte für die Vorleistungen als auch der Endkundenentgelte, letztere im Rahmen

des Price Cap, durch die RegTP seit Jahren weitgehend unverändert. Das Fehlen

wirksamen Wettbewerbs gerade im Ortsnetz wiegt schwer, da Wettbewerber gerade

hier langfristige Kundenbindungen etablieren können. Vergleicht man diese Situation

mit jener im Strommarkt für Kleinkunden, so haben auch dort unter 5% der Kunden

ihren Stromanbieter tatsächlich gewechselt.

2.1 Deutschland

Die Binnenmarktrichtlinie Elektrizität 96/92/EG wurde in Deutschland im April 1998

durch eine Novelle des Energiewirtschaftsrechts umgesetzt33 und dadurch die Um-

setzung der Binnenmarktrichtlinie Erdgas 98/30/EG weitgehend antizipiert.34

29 RegTP, Beschluss vom 30.03.2001- BK 3b-00 / 032. 30 Ein Line-Sharing-Angebot der Deutschen Telekom erfolgte erst Ende August 2001 auf Druck des OVG Münster. 31 Holthoff-Frank, MMR 5/2002, S. 294 ff. 32 Vgl. Monopolkommission, 33. Sondergutachten. 33 Gesetz zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts vom 24. April 1998, BGBl. 1998 I S. 730. - vor dem Bundesverfassungsgericht sind noch das Organstreitverfahren - 2 BvR 1646/98 - sowie die Verfassungsbeschwerden - 2 BvR 2257/98 ; 2 BvR 801/99 - zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes anhängig; das Gericht beabsichtigt hierüber noch im Jahr 2002 zu entscheiden, vgl. Pressemitteilung des BVerfG vom 28.02.2002. 34 Streichung der ehemaligen Bereichsausnahmen Energie (§ 103, 103 a GWB a.F.) und Geltung von §§ 19 ff. GWB; die vollständigen Umsetzung der Erdgasrichtlinie in deutsches Recht durch eine EnWG-Novelle 2002 kam bisher nicht zu Stande.

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Deutschland hat die Märkte über die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben hinaus von

Anfang an rechtlich vollständig geöffnet.35 Die Mehrzahl der Mitgliedsstaaten der EU

hat die Liberalisierung der leitungsgebundenen Energien dagegen bislang erst teil-

weise vollzogen.

Zentraler Reformpunkt in Deutschland war die ersatzlose Streichung der Möglichkeit

für die Gas- und Stromwirtschaft, Demarkations- und exklusive Konzessionsverträge

abzuschließen.36 Die deutsche Energiewirtschaft hatte von dieser fakultativen kartell-

rechtlichen Ausnahme regen Gebrauch gemacht und sich so jahrzehntelang syste-

matisch gegen Wettbewerb im Innern wie von außen abgeschottet.

Bei der Frage des Zugangs Dritter hat sich der deutsche Gesetzgeber für das Modell

des verhandelten Netzzugangs entschieden und auf die Einrichtung einer sektorspe-

zifischen Regulierungsbehörde verzichtet. Die Rahmenbedingungen für die prakti-

schen Fragen des Netzzugangs sind von den Verbänden der Marktteilnehmer in so-

genannten Verbändevereinbarungen niedergelegt worden.37 Die erste Verbändever-

einbarung im Strombereich – VV Strom I – wurde im Mai 1998 geschlossen.38 Sie

wurde Ende 1999 von der in wettbewerblicher Hinsicht verbesserten VV Strom II ab-

gelöst.39 Seit Anfang 2002 ist die wettbewerblich weiter überarbeitete VV Strom II

plus in Kraft.40 Die erste Verbändevereinbarung im Gasbereich von Mitte 2000 – VV

Gas I41 – ist nach zwei zwischenzeitlichen Nachträgen42 zum Oktober 2002 von der

VV Gas II abgelöst worden.43

Die Kontrolle des tatsächlichen Verhaltens der Marktteilnehmer, insbesondere der

netzbetreibenden Gebietsmonopolisten, obliegt im Hinblick auf die Missbrauchsauf-

35 Neben Deutschland haben in der EU bislang nur Großbritannien, Schweden, Finnland und Öster-reich die Strommärkte zu 100 % und den Gasmarkt zu 100 % nur Deutschland, Großbritannien und Österreich geöffnet. 36 §§ 103 und 103 a GWB a.F. (= in der Fassung der Bekanntmachung vom 20. Februar 1990, BGBl. I S. 235). 37 Vgl. die Nachweise im 14. Hauptgutachten der Monopolkommission, Tz. 854. 38 Verbändevereinbarung über Kriterien zur Bestimmung von Durchleitungsentgelten vom 22. Mai 1998 zwischen BDI, VIK, VKU und VDEW (VV Strom I). 39 Verbändevereinbarung über die Kriterien zur Bestimmung von Netznutzungsentgelten für elektri-sche Energie vom 13. Dezember 1999 zwischen BDI, VIK und VDEW. 40 Verbändevereinbarung über die Kriterien zur Bestimmung von Netznutzungsentgelten für elektri-sche Energie und über Prinzipien der Netznutzung vom 13. Dezember 2001 zwischen BDI, VIK, VDEW, VDN und ARE. 41 Verbändevereinbarung zum Netzzugang vom 4. Juli 2000 bei Erdgas (BDI, VIK, BGW, VKU). 42 1. Nachtrag vom 15. März 2001, 2. Nachtrag vom 21. September 2001, jeweils zur Verbändeverein-barung zum Netzzugang beim Erdgas vom 4. Juli 2000 zwischen BDI, VIK, BGW und VKU. 43 Verbändevereinbarung zum Netzzugang bei Erdgas (VV Erdgas II) vom 3. Mai 2002 zwischen BDI, VIK, BGW und VKU.

10

sicht den Kartellbehörden, namentlich dem Bundeskartellamt und den Landeskartell-

behörden, die entsprechend ihrer örtlichen Zuständigkeit allgemeines Kartellrecht

anwenden.44 Daneben wirkt die beim Bundesministerium für Wirtschaft und Techno-

logie (BMWi) eingerichtete Arbeitsgruppe "Task Force Netzzugang" auf eine Verbes-

serung des Netzzugangs hin. Das BMWi ist zudem ermächtigt, im Strombereich die

Gestaltung von Netzzugangsverträgen und die Kriterien zur Bestimmung von Durch-

leitungsentgelten im Verordnungswege zu regeln.45 Schließlich können missbräuchli-

che Verweigerung oder Diskriminierung beim Netzzugang ohne vorheriges Einschal-

ten von Behörden von den Zugangspetenten direkt zivilgerichtlich gerügt werden.

In Deutschland können seit 1998 nicht nur Großkunden, sondern auch private und

gewerbliche Kleinkunden ihren Energieanbieter frei auswählen. Nach Angaben der

Europäischen Kommission haben im Strombereich ca. 10-20% der Nachfrage durch

industrielle Großabnehmer und etwa 3-5% der Nachfrage durch Kleinkunden ihren

Versorger gewechselt. Weitere 50% der Nachfrage durch industrielle Großabnehmer

sowie 20% der Nachfrage durch Kleinkunden sollen danach die Vertragskonditionen

mit ihrem alten Versorger neu ausgehandelt haben46. Die Liberalisierung hat insge-

samt zu einem sinkenden Preisniveau geführt. Die Wechselquote im Gasbereich lie-

ge bei unter 5% der Nachfrage durch industrielle Großabnehmer.47

2.2 Frankreich

Die Energiemärkte in Frankreich sind geprägt durch die Staatsmonopole von Electri-

cité de France (EdF) und Gaz de France (GdF). Frankreich hat bislang den Elektrizi-

tätsmarkt zu 30% der Abnahmemenge liberalisiert.48 Kleinkunden und Haushalte sind

hiervon noch vollständig ausgenommen. Nach Angaben der Europäischen Kommis-

sion haben im Strombereich ca. 5-10% der Nachfrage durch industrielle Großab-

nehmer ihren Versorger gewechselt. Zur Überwachung der Elektrizitätsmärkte hat

Frankreich die Regulierungsbehörde Commission de Régulation de l’Electricité

(CRE) eingerichtet. Diese trifft Ex-ante-Regelungen. Die CRE kann allerdings die

44 § 48 Abs. 2 S. 1 GWB; vgl. OLG Stuttgart, 2 Kart 1/02 , Beschluss vom 26.06.2002 sowie Bericht der Arbeitsgruppe Netznutzung Strom, S. 7. 45 § 6 Abs. 2 EnWG; hiervon wurde bislang kein Gebrauch gemacht. 46 Europäische Kommission, Erster Benchmarkingbericht, Ziff. 3.1.1 = S. 22, 25. 47 Europäische Kommission, Erster Benchmarkingbericht, Ziff. 3.1.2 = S. 22, 26. 48 Europäische Kommission, Erster Benchmarkingbericht, Ziff. 3.1.1 = S. 22, 25.

11

Netznutzungsentgelte nicht selbst festlegen, sondern nur Empfehlungen ausspre-

chen. Eine endgültige Festlegung erfolgt über den zuständigen Minister.49

Eine Regulierungsbehörde für den dem Wettbewerb noch vollständig verschlossenen

Gasbereich existiert nicht. Die Erdgasbinnenmarktrichtlinie wurde bisher nicht in fran-

zösisches Recht umgesetzt.50

2.3 Vereinigtes Königreich

Das Vereinigte Königreich hat ausgehend von staatsmonopolistischen Energiestruk-

turen bereits seit den 1980er Jahren in den Landesteilen England, Wales und Schott-

land (Großbritannien) die Strom- und Gaswirtschaft vollständig liberalisiert. Im Lan-

desteil Nordirland ist der Strommarkt bisher nur zu 35% der Nachfrage geöffnet51;

der Gasmarkt ist hier dem Wettbewerb noch vollständig verschlossen. Nach Anga-

ben der Europäischen Kommission haben im Vereinigten Königreich ca. 80% der

Nachfrage durch industrielle Großabnehmer und unter 30% der Nachfrage durch

Kleinkunden ihren Stromversorger gewechselt.52 Die Wechselquote im Gasbereich

liegt danach bei 90% der Nachfrage durch industriellen Großabnehmer sowie bei

45% der Nachfrage durch Kleinkunden.53 Das Vereinigte Königreich hat sektorspezi-

fische Regulierungsbehörden eingerichtet – für Großbritannien Office of Gas and E-

lectricity Markets (ofgem – hervorgegangen aus ursprünglich zwei getrennten Regu-

lierern für Stom und Gas), für Nordirland Office for the Regulation of Electricity and

Gas (ofreg). Die Regulierungsbehörden arbeiten unabhängig und treffen Ex-ante-

Regelungen. Ofgem plädiert in Reaktion auf das eingetretene Wettbewerbsniveau in

Großbritannien für einen Systemwechsel von sektorspezifischer Ex-ante-Regulierung

hin zu Ex-post-Missbrauchsaufsicht auf Grundlage des allgemeinen Kartellrechts.54

2.4 Schweden

Schweden hat den Elektrizitätsmarkt vollständig und den Gasmarkt zu 47% des

Nachfragevolumens liberalisiert. Kleinkunden und Haushalte sind von der Liberalisie-

rung des Gasbereiches bislang ausgenommen. Die Stromnetze stehen im Eigentum

49 Drillisch/Hallaschka/Schulz, S. 12. 50 die Europäische Kommission hat ein Vertragsverletzungsverfahren angestrengt, vgl. Europäische Kommission, Erster Benchmarkingbericht, Ziffer 2.1 = S. V. 51 Vgl. Mitteilung der ofreg - http://ofreg.nics.gov.uk/gas/industry.htm. 52 Europäische Kommission, Erster Benchmarkingbericht, Ziff. 3.1.1 = S. 22, 25. 53 Europäische Kommission, Erster Benchmarkingbericht, Ziff. 3.1.2 = S. 22, 26. 54 ofgem-Bericht “Review of domestic gas and electricity competition and supply price regulation – conclusions and final proposals” (Februar 2002).

12

eigenständiger Netzgesellschaften. Nach Angaben der Europäischen Kommission

sollen in Schweden die gesamte Nachfrage durch industrielle Großabnehmer und

unter 15% der Nachfrage durch Kleinkunden ihren Stromversorger gewechselt, wei-

tere 15% der Nachfrage durch Kleinkunden die Verträge mit ihrem alten Versorger

neu verhandelt haben.55 Die Wechselquote im Gasbereich liegt danach bei unter 5%

der Nachfrage durch industrielle Großabnehmer.56 Schweden hat zur Überwachung

der Energiemärkte die Regulierungsbehörde Energimyndigheten (Energiebehörde)

eingerichtet. Diese trifft Ex-post-Regelungen. Die Regulierung erfolgt unter Mitwir-

kung des schwedischen Industrieministeriums.57

2.5 Finnland

Finnland hat den Elektrizitätsmarkt vollständig liberalisiert. Der finnische Gasmarkt ist

bislang nicht geöffnet. Er unterfällt einer EG-rechtlichen Ausnahmeregelung, da er

als neu entstehend eingestuft wurde. Nach Angaben der Europäischen Kommission

haben im Strombereich ca. 30% der Nachfrage durch industriellen Großabnehmer

und 10-20% der Nachfrage durch Kleinkunden ihren Versorger gewechselt. Weitere

70% der Nachfrage durch industrielle Großabnehmer sowie 50% der Nachfrage

durch Kleinkunden haben danach die Vertragskonditionen mit ihrem alten Versorger

neu ausgehandelt.58 Finnland hat zur Überwachung der Strommärkte die Regulie-

rungsbehörde Energiamarkkinavirasto (Energiemarktbehörde) eingerichtet. Diese

trifft Ex-post-Regelungen.

2.6 Niederlande

Die Niederlande haben bislang den Elektrizitätsmarkt zu 35% der Nachfrage und den

Gasmarkt zu 45% der Nachfrage liberalisiert. Kleinverbraucher und Haushalte sind

von der Liberalisierung der niederländischen Energiemärkte bislang ausgenommen.

Nach Angaben der Europäischen Kommission haben im Strombereich ca. 10% -

20% der Nachfrage durch industrielle Großabnehmer ihren Versorger gewechselt.59

Die Wechselquote im Gasbereich liegt danach bei unter 30% der Nachfrage durch

industriellen Großabnehmer.60 Die Niederlande haben zur Überwachung der Elektri-

55 Europäische Kommission, Erster Benchmarkingbericht, Ziff. 3.1.1 = S. 22, 25. 56 Europäische Kommission, Erster Benchmarkingbericht, Ziff. 3.1.2 = S. 22, 26. 57 Drillisch/Hallaschka/Schulz, S. 12. 58 Europäische Kommission, Erster Benchmarkingbericht, Ziff. 3.1.1 = S. 22, 25. 59 Europäische Kommission, Erster Benchmarkingbericht, Ziff. 3.1.1 = S. 22, 25. 60 Europäische Kommission, Erster Benchmarkingbericht, Ziff. 3.1.2 = S. 22, 26.

13

zitätsmärkte die sektorspezifische Regulierungsbehörde Dienst uitvouring en toezicht

Energie (DTe) unter dem Dach der allgemeinen Wettbewerbsbehörde Nederlandse

Mededingsautoriteit (NMa) eingerichtet. DTe trifft im Strom Ex-ante-, im Gas sowohl

Ex-ante- als auch Ex-post-Regelungen. Der Wirtschaftsminister besitzt Weisungsbe-

fugnis gegenüber dem Direktor der Regulierungsbehörde DTe. Die Regulierungsauf-

gaben werden vom Wirtschaftsminister vorgegeben und sind nicht explizit in den je-

weiligen Strom- und Gasmarktgesetzen spezifiziert.61

2.7 Österreich

Österreich hat die Märkte für Elektrizität im Jahr 2001 vollständig liberalisiert. Im

Gasbereich erfolgt dieser Schritt zum Oktober 2002. Nach Angaben der Europäi-

schen Kommission haben im Strombereich ca. 5% - 10% der Nachfrage durch indus-

trielle Großabnehmer ihren Versorger gewechselt. Im Gasbereich sollen bisher Kun-

den gewechselt haben, deren kumulierter Bedarf unter 5% der Nachfrage aus-

macht.62 Die Wechselquote im Gasbereich liegt danach bei unter 5% der Nachfrage

durch industrielle Großabnehmer.63 Österreich hat zur Überwachung der Elektrizi-

tätsmärkte die sektorspezifische Regulierungsbehörde E-Control GmbH (ECG) ein-

gerichtet. Diese trifft im Strombereich Ex-ante-Regelungen. Im Gasbereich hat sich

Österreich für das Modell des verhandelten Netzzugangs entschieden. Die ECG un-

terliegt neben der Aufsicht einem Weisungsrecht durch den Bundesminister für wirt-

schaftliche Angelegenheiten. Die bei der ECG eingerichtete Elektrizitäts-Control-

Commission (ECC) hingegen ist ein weisungsfreies Kollegialorgan, dessen Entschei-

dungen nur beim Verwaltungs- oder Verfassungsgericht angefochten werden kön-

nen.64

61 Drillisch/Hallaschka/Schulz, S. 11. 62 Europäische Kommission, Erster Benchmarkingbericht, Ziff. 3.1.2 = S. 22, 26 – Veränderungen im Wechselverhalten seit Herbst 2001 sind in diesen Zahlen offenbar noch nicht enthalten. 63 Europäische Kommission, Erster Benchmarkingbericht, Ziff. 3.1.2 = S. 22, 26. 64 Haas, ZfE 26/2002, S. 117, 121f.

14

3. Teil: Wettbewerbsrelevante Problemfelder bei der Liberalisierung in Deutschland

Seit 1998 konnten in Deutschland viele Probleme beim Netzzugang, insbesondere

im Strom-, teilweise auch im Gasbereich, gelöst werden. Andere Fragen, insbeson-

dere die Sicherstellung angemessener Netznutzungsentgelte, müssen noch gelöst

werden, um den missbrauchsfreien Netzzugang zu gewährleisten. Der Schwerpunkt

der folgenden Ausführungen liegt im Strombereich, da die Liberalisierungserfahrun-

gen dort wesentlich umfangreicher sind als im Gasbereich. Viele der behandelten

Problemstellungen können jedoch zukünftig so oder ähnlich auch im Gasbereich auf-

treten. Als spezielle Problematik des Gassektors werden die langfristigen Gasliefer-

verträge aufgegriffen.

3.1 Netzzugangsverweigerung

Seit der Liberalisierung des Strommarktes im Jahr 1998 gab es eine Reihe von Fäl-

len, in denen Netzbetreiber Zugangsbegehrenden die Nutzung ihres Stromnetzes

verweigert haben. Eine solche Netzzugangsverweigerung stellt einen Missbrauch

i.S.d. § 19 Abs. 1, Abs. 4 Nr. 4 GWB dar, soweit nicht im Rahmen der Interessenab-

wägung Rechtfertigungsgründe, insbesondere § 6 Abs. 1 S. 2 EnWG, eingreifen.

Das Bundeskartellamt hat im Verfahren Bewag./.RWE65 sowie drei Parallelverfahren

gegen Bewag entschieden, dass ein Missbrauch auch dann vorliegt, wenn der Netz-

betreiber sich unter Hinweis auf den Eigenbedarf der verfügbaren Netzkapazitäten

weigert, einem Interessenten Netzzugang zu gewähren. Dem Netzbetreiber wurde

aufgegeben, die Mitbenutzung seines Netzes zu ermöglichen.

Auch die Kartellrechtsprechung sieht in der Verweigerung der Netznutzung durch

den Netzbetreiber eine missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden

Stellung, die zudem gegen § 6 Abs. 1 S. 1 EnWG verstößt.66

Mittlerweile hat die gänzliche Verweigerung der Netznutzung durch den Stromnetz-

betreiber erheblich an Bedeutung verloren. Sie tritt nur noch in wenigen Einzelfällen,

insbesondere bei kleineren Stadtwerken, auf. Entsprechende Probleme können in-

zwischen in der Regel außerhalb förmlicher Verfahren durch Schreiben der Kartell-

behörden beigelegt werden.

65 BKartA, Beschluss vom 30.08.1999 – B 8 – 40 100 – T – 99/99 – RdE Nr. 1/2000, S. 31 ff. 66 KG, Kart U 6516/00, Urteil vom 24.10.2002; OLG Dresden, U 1693/01, Urteil vom 13.09.2001; LG Kiel, 14 O Kart 68/01, Urteil vom 09.05.2001; LG Leipzig, 05 O 4691/00, Urteil vom 15.05.2001.

15

Auch im Gasbereich stellt die Netzzugangsverweigerung einen Missbrauch i.S.d.

§ 19 Abs. 1, Abs. 4 Nr. 4 GWB dar, wenn es auch noch keine dem § 6 EnWG ent-

sprechende energierechtliche Zugangsregelung gibt. Das Bundeskartellamt hat bis-

her nur vereinzelt Beschwerden wegen Gasdurchleitungsverweigerungen erhalten.

Das Amt konnte Verfahren betreffend Beschwerden der Unternehmen Enron (Durch-

leitungsbedingungen, Höhe der Netznutzungsentgelte), Aquila (Kapazitätsengpässe)

und natGas (Reziprozität67, Summenbilanzausgleich, Höhe der Netznutzungsentgel-

te) ohne förmliche Verfügung abschließen, da die begehrte Durchleitung bereits nach

Aufgreifen der Beschwerden durch das Amt gewährt wurde.

Zur Verbesserung der Netzzugangsbedingungen hat das Bundeskartellamt schließ-

lich im Rahmen der Fusionskontrolle eine Vielzahl von Freigaben an die Erfüllung

von Auflagen geknüpft.68 Den beteiligten Unternehmen wurden z.B. die Veröffentli-

chung der Netzzugangsbedingungen und -entgelte, die Veröffentlichung einer detail-

lierten Netzkarte und die Ermöglichung der Herstellung physischer Verbindungen

zwischen ihren Gasnetzen und den Netzen anderer Netzbetreiber auferlegt.

3.2 Lieferantenwechsel

3.2.1 Doppelvertragsmodell

Die VV Strom II sah in Punkt 1.1, getrennt vom Stromlieferungsvertrag, grundsätzlich

den Abschluss von Netzanschlussverträgen und Netznutzungsverträgen mit jedem

Kleinkunden vor. Dies hatte zur Folge, dass bei einem sogenannten „all-inclusive“

Vertrag mit einem neuen Stromanbieter, der sowohl die Netznutzung als auch die

Stromversorgung beinhaltete, der Endkunde zwei Netznutzungsvereinbarungen un-

terzeichnen musste (Doppelvertragsmodell). Diese Forderung der Netzbetreiber wur-

de sowohl von den Kartellbehörden des Bundes und der Länder69 als auch von einer

Reihe von Zivilgerichten70 als kartellrechtswidrig angesehen, da diese Forderung ein

67 Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes: OLG München RdE 2002, 212 ff. und OLG Düsseldorf RdE 2002, 214 ff. 68 BKartA, Beschluss vom 3.7.2000 - B8-309/99 (RWE/VEW); Beschluss vom 4.9.2000 - B8-132/00 (E.ON/HeinGas). 69 Bericht der Arbeitsgruppe Netznutzung Strom, S. 54 f.; Beschluss des Arbeitsausschusses Versor-gungswirtschaft vom 12.10.2001, vgl. Pressemitteilung BKartA vom 18.10.2001. 70 Schleswig-Holsteinisches OLG, 6 U Kart 38/01, Urteil vom 09.10.2001; LG Potsdam, 2 O 362/00 Urteil vom 04.07.2001; LG Potsdam, 51 O 19/01, Urteil vom 15.03.2001; LG Leipzig, 02HK O 552/01, Urteil vom 16.02.2001; LG Kiel, 14 O Kart 135/00, Urteil vom 31.01.2001; LG Kiel, 14 O Kart 194/00, Urteil vom 15.02.2002; LG Köln, 280 (Kart) 620/01, Urteil vom 26.06.2002.

16

Zugangshemmnis für neue Stromlieferanten darstellt. Im Schrifttum werden unter-

schiedliche Meinungen vertreten.71

Als Folge der Kritik am Doppelvertragsmodell sieht die VV II plus72 bei Vorlage eines

„all-inclusive“ Vertrages zwischen neuem Stromlieferanten und Endkunden nur noch

den Abschluss eines Netzanschlussvertrages zwischen Netzbetreiber und Endkun-

den vor. Ein gesonderter Netznutzungsvertrag zwischen dem Endkunden und dem

Netzbetreiber ist nicht erforderlich, da ein solcher bereits zwischen dem Stromliefe-

ranten und dem Netzbetreiber besteht.

3.2.2 Wechselentgelte bei Lastprofilkunden

Wechselentgelte sind Entgelte, die der Netzbetreiber beim Wechsel eines in seinem

Netz angeschlossenen Kleinkunden zu einem alternativen Stromlieferanten erhebt.

Derartige Entgelte, mit denen der mit dem Kundenwechsel verbundene Verwaltungs-

aufwand, also das Ablesen von Zählern etc., abgegolten werden soll, wurden von

den Kartellbehörden als missbräuchlich i.S.v. §§ 19 Abs. 1, Abs. 4 Nr. 1 und 4, 20

Abs. 1 GWB betrachtet, da neue Anbieter bei der Akquisition von Kunden unbillig

behindert werden.73 Die behindernde Wirkung besteht darin, dass das Wechselent-

gelt die Kosten beim neuen Stromanbieter erhöht. Damit wird er gegenüber dem e-

tablierten Versorger, bei dem zunächst alle Kunden sowohl das Netz nutzen als auch

ihren Strom beziehen, benachteiligt. Die Gerichte betrachten die Wechselentgelte

überwiegend ebenfalls als missbräuchlich.74 Allein das LG Hamburg75 hat einen An-

spruch eines Stromhandelsunternehmens gegen die Stadtwerke München auf Unter-

lassen des Verlangens von Wechselgebühren verneint. Dass ein marktbeherrschen-

des Unternehmen beim Wechsel eines Kunden zu einem anderen Stromlieferanten

für den dadurch entstehenden Aufwand die tatsächlich anfallenden Kosten verlangte,

stelle keine Wettbewerbsbehinderung i.S.v. § 19 Abs. 1 und 4 Nr. 1 GWB dar.

71 Verstoß gegen §§ 19 Abs. 4 Nr. 4, 20 Abs. 1 GWB und § 6 Abs. 1 S. 1 EnWG: Markert, BB 2001, S. 105, 109; a.A. Böhnel, RdE 2001, S. 176, 183. 72 Verbändevereinbarung über die Kriterien zur Bestimmung von Netznutzungsentgelten für elektri-sche Energie und über Prinzipien der Netznutzung vom 13. Dezember 2001 zwischen BDI, VIK, VDEW, VDN und ARE. 73 Bericht der Arbeitsgruppe Netznutzung Strom, S. 49 ff. 74 LG Düsseldorf, 12 O 395/00, Urteil vom 16.05.2001; LG Kiel, 14 O Kart 194/00, Urteil vom 15.02.2002. 75 LG Hamburg, 416 O 252/00, Urteil vom 02.02.2001; befürwortend: Gründel, RdE 2001, S. 129 ff.

17

Das OLG München76 hat die Beschwerde der Stadtwerke Bad Tölz gegen eine Un-

tersagungsverfügung der Landeskartellbehörde Bayern77 insoweit zurückgewiesen,

als das verlangte Entgelt von DM 95,12 brutto der Höhe nach eine unbillige Behinde-

rung im Sinne von § 20 Abs. 1 GWB darstelle. Im Übrigen wurde die Verfügung der

Landeskartellbehörde aufgehoben, da ein niedrigeres Wechselentgelt möglicherwei-

se unbedenklich sei.

In der VV II plus ist unter Punkt 2.2.6 geregelt, dass Netzbetreiber bis zu einer dies-

bezüglichen höchstrichterlichen Entscheidung keine gesonderten Entgelte im Zu-

sammenhang mit dem Lieferantenwechsel verlangen werden. Infolge dieser vorläufi-

gen Regelung werden derzeit so gut wie keine Wechselentgelte gefordert.

Im Gasbereich hat das Bundeskartellamt ein Missbrauchsverfahren gegen VNG we-

gen der Forderung einer Bearbeitungsgebühr für Transport-/Durchleitungsanfragen

eingestellt, nachdem das Unternehmen angekündigt hat, in Zukunft keine Bearbei-

tungsgebühr mehr zu fordern und die bereits bezahlten Beträge an die betroffenen

Unternehmen zurückzuzahlen.

3.2.3 Best-Practice-Katalog beim Lieferantenwechsel

Im Dialog zwischen der beim BMWi eingerichteten Arbeitsgruppe „Task Force Netz-

zugang“ und Netzbetreibern, Verbrauchern sowie Stromhändlern wurden Schnittstel-

lenbeschreibungen für den Lieferantenwechsel ausgearbeitet (sogenannte Best-

Practice-Kataloge).78 Damit soll der Lieferantenwechsel standardisiert werden. Nach

Auffassung der Task Force und des Bundeskartellamtes können diese Empfehlun-

gen zügig eine vorübergehende Lösung der Transferprobleme beim Massengeschäft

bewirken.

3.3 Regelenergie

Da Strom nicht speicherbar ist, tritt kurzfristig die Notwendigkeit zum Energieaus-

gleich im Netz auf, wenn die von den Kunden tatsächlich entnommene Strommenge

die von ihren Lieferanten auf Basis einer Abnahmeprognose eingespeiste Strom-

76 OLG München, Kart 1/00, Beschluss vom 22.11.2001. 77 LKB Bayern, Verfügung vom 10.11.2000, Nr. - 555d5 – W/Ib – 36 409 = WuW/E DE-V 347. 78 Best-Practice Empfehlung „Datenformate und Vorlage von Originaldokumenten“ (April 2002), Best-Practice Empfehlung „Fristen für den Lieferantenwechsel und Kriterien zur Lieferstellenidentifizierung“ (August 2002), beide unter www.bmwi.de/Politikfelder/Energiepolitik/Liberalisierung/Netzzugang.jsp.

18

menge über- bzw. unterschreitet.79 Für die Beschaffung der hierfür erforderlichen

sogenannten Ausgleichs- oder Regelenergie sind die Übertragungsnetzbetreiber der

vier deutschen Verbundunternehmen (RWE, E.ON, EnBW, Vattenfall Europe =

HEW/Bewag/VEAG) in ihrer jeweiligen Regelzone zuständig. Neu in die Strommärkte

eingetretene Unternehmen können aufgrund ihres kleinen Kundenportfolios unge-

plante Strommehr- und -minderentnahmen ihrer Kunden weniger gut ausgleichen als

die Verbundunternehmen und haben folglich einen höheren Regelenergiebedarf. Sie

werden durch unangemessen hohe Entgelte für die erforderliche Regelenergie über-

proportional belastet.

Die Unternehmen RWE Net AG und E.ON Netz GmbH schreiben in Erfüllung kartell-

behördlicher Auflagen bzw. Zusagen aus Fusionskontrollverfahren80 ihren Regel-

energiebedarf aus. Bei den Netztochtergesellschaften der übrigen Verbundunter-

nehmen, EnBW Transportnetze AG und Vattenfall Europe Transmission GmbH, er-

gab sich der Verdacht, dass diese Unternehmen unangemessen hohe und zum Teil

fiktive Kosten für Regelenergie in Rechnung stellen. Daher hatte das Bundeskartell-

amt gegen diese Unternehmen im Herbst 2001 Missbrauchsverfahren eingeleitet. Die

Verfahren konnten eingestellt werden, nachdem die Unternehmen erklärt hatten, zum

August bzw. September 2002 ebenfalls ein Ausschreibungssystem zur Beschaffung

von Regelenergie einzuführen und rückwirkend bis zur Einführung der Neuerung ein

Abrechnungssystem anzuwenden, das die negativen Auswirkungen des bisherigen

Abrechungssystems weitgehend beseitigen soll.

3.4 Abrechnung von Mehr- und Mindermengen bei Lastprofilkunden

Die Einspeisung von Strom durch einen neuen Stromlieferanten erfolgt bei nichtleis-

tungsgemessenen Kleinkunden auf der Basis vorab festgelegter synthetischer Last-

profile, die den zeitlichen Lastverlauf typischer Kleinkunden nachbilden. In der Regel

zeigt sich nach der jährlichen Abrechnung, dass die gemäß dem Einspeiseprofil ge-

lieferte Energiemenge (in kWh) nicht exakt mit der aus dem Netz bezogenen Arbeit

79 Salje in Bartsch/Röhling/Salje/Scholz, Kapitel 72, Rn. 79. 80 RWE/VEW Entsch. v. 03.07.2000, WuW/E DE-V 301, Viag/Veba, EG-Kom., Entsch. v. 13.06.2000, WuW/E EU-V 509 2000, 1214.

19

übereinstimmt. Die sich ergebenden Mehr- bzw. Mindermengen sind zwischen Netz-

betreiber und Stromlieferant zu verrechnen.81

Fast alle Netzbetreiber berechnen für den Ausgleich von Mindermengen einen höhe-

ren Arbeitspreis, als sie im Falle der Mehreinspeisung durch den Stromlieferanten

vergüten (sog. „Spread“). Dies erscheint angesichts erheblicher Abrechnungsgewin-

ne missbräuchlich.

Das Bundeskartellamt hat diesbezüglich im Juni 2002 ein Missbrauchsverfahren ge-

gen die envia Energie Sachsen Brandenburg AG eingeleitet. Im Rahmen von Vorer-

mittlungen hat bereits ein Stadtwerk den sogenannten „Spread“ aufgegeben.

3.5 Lastprofile für Wärmestromkunden

Wärmestromlieferungen betreffen insbesondere Elektrizität für Nachstromspeicher-

heizungen und sorgen für die Auslastung des Netzes in nachfrageschwachen Zeiten.

Wegen Fehlens von Lastprofilen für diese Kundengruppen gibt es bislang keine An-

gebote dritter Stromanbieter.

Auf Drängen des Bundeskartellamtes haben die Verbände der Stromwirtschaft ange-

kündigt, für die Heizperiode 2002/2003 synthetische Lastprofile für Wärmespeicher-

kunden zu entwickeln.

3.6 Messpreise

Nach Auffassung des Bundeskartellamts stellen netzbezogene Mess- und Verrech-

nungsdienstleistungen einen eigenständigen sachlichen Markt dar. Das Bundeskar-

tellamt hat im Juli 2002 gegen den zum Vattenfall Konzern gehörenden Energiever-

sorger Wemag AG und gegen RWE Net AG Musterverfahren wegen des Verdachts

der Forderung überhöhter Mess- und Verrechnungspreise bei Lastprofilkunden ein-

geleitet.82 Der RWE Net AG wurde im September 2002 mitgeteilt, dass das Bundes-

kartellamt beabsichtige, missbräuchlich überhöhte Messpreise zu untersagen.83 Die

Mess- und Verrechnungspreise bilden einen von den übrigen Bestandteilen der

Netznutzungsentgelte zu trennenden Kostenblock. Die Höhe der Mess- und Verre-

chungspreise ist nicht von der Gebietsstruktur abhängig. Bei den betroffenen Unter-

81 Vgl. VDEW-Bericht „Lastprofilverfahren zur Belieferung und Abrechung von Kleinkunden in Deutschland“, S. 23, 29. 82 Vgl. Pressemitteilung des BKartA vom 15.07.2002. 83 Vgl. Pressemitteilung des BKartA vom 13.09.2002.

20

nehmen liegen diese Preise bei den Eintarifzählern zwischen 40-80% und bei den

Zweitarifzählern84 zwischen 95-115% über denjenigen der Vergleichsunternehmen.

3.7 Netznutzungsentgelte

Neben dem grundsätzlichen Anspruch auf Netzzugang spielt die Höhe der Netznut-

zungsentgelte die entscheidende Rolle für den Erfolg der wettbewerblichen Öffnung

der leitungsgebundenen Energiewirtschaft. Das Bundeskartellamt und die Landes-

kartellbehörden haben in den Jahren 2001 und 2002 eine Reihe von Missbrauchs-

verfahren bzw. Vorverfahren gegen Netzbetreiber wegen des Verdachts missbräuch-

lich überhöhter Netznutzungsentgelte eingeleitet. Die beim Bundeskartellamt durch-

geführten Missbrauchsverfahren stellen Präzedenzfälle dar und werden voraussicht-

lich die Grundlage einer gerichtlichen Klärung verschiedener Rechts- und Wertungs-

fragen in diesem Zusammenhang bilden.

Das Bundeskartellamt hat zunächst gegen 23 Netzbetreiber Vorverfahren eingeleitet,

gegenwärtig sind zwölf Verfahren wegen des Verdachts missbräuchlich überhöhter

Netznutzungsentgelte anhängig.85 Das Missbrauchsverfahren gegen die Elektrizi-

tätswerk Wesertal GmbH wurde eingestellt, nachdem das Unternehmen seine Netz-

nutzungsentgelte um bis zu 20% abgesenkt hat. Einige Landeskartellbehörden ha-

ben ebenfalls gegen eine Reihe von Netzbetreibern in den jeweiligen Bundesländern

Missbrauchsverfahren eingeleitet.

Im August 2002 hat das Bundeskartellamt den Stadtwerken Mainz eine Untersa-

gungsverfügung wegen des Verdachts überhöhter Netznutzungsentgelte ange-

droht.86

Die Angemessenheit der geforderten Netznutzungsentgelte war auch Verfahrensge-

genstand vereinzelter Missbrauchsverfahren im Gasbereich. Während die Verfahren

hinsichtlich des o.g. Beschwerdepunktes des Netzzugangs häufig durch Zugangs-

gewährung gegenstandslos wurden, gestaltete sich die Einigung hinsichtlich der Ent-

84 Zweitarifzähler kommen bei Kunden zum Einsatz, bei denen der Tag- und der Nachtstrom unter-schiedlich bepreist sind und daher die Stromentnahme differenziert erfasst werden muss. 85 Pressemitteilungen des BKartA vom 29.01.2002 und 29.05.2002; betroffen sind die zum E.ON-Konzern gehörenden Regionalversorger Avacon AG, Helmstedt, e.dis Energie Nord AG, Fürstenwal-de, und TEAG Thüringer Energie AG, Erfurt, die Energie Aktiengesellschaft Mitteldeutschland EAM, Kassel (46% E.ON), die zum RWE-Konzern gehörenden Regionalversorger envia Energie Sachsen Brandenburg AG, Chemnitz, und die Mitteldeutsche Energieversorgung AG (MEAG), Halle. Darüber hinaus sind der Regionalversorger HEAG Versorgungs AG, Darmstadt, die Allgäuer Überlandwerke, Kempten (AÜW), die Bewag, Berlin sowie die Stadtwerke Mainz, Lindau und Lauenburg betroffen. 86 Vgl. Presseerklärung des BKartA vom 27. August 2002.

21

gelthöhe schwieriger. So gewährten die Gasversorgung Süddeutschland GmbH

(GVS) sowie die MVV Energie AG (MVV) nach Vermittlung durch das Bundeskartell-

amt Enron Mitte 2000 zunächst Netzzugang zur Versorgung der Stadtwerke Heidel-

berg und Tübingen auf Basis vorläufiger Netznutzungsentgelte.87

3.7.1 Rechtsgrundlagen

Rechtgrundlagen für die Überprüfung der Netznutzungsentgelte im Strom- und Gas-

bereich sind § 19 Abs. 1, Abs. 4 Nr. 2 GWB (Als-Ob-Wettbewerb, Vergleichsmarkt-

konzept), § 19 Abs. 1, Abs. 4 Nr. 4 GWB (Netzzugang gegen angemessenes Ent-

gelt), §§ 19 Abs. 1, Abs. 4 Nr. 1, 20 Abs. 1 GWB (Behinderungsmissbrauch) und das

allgemeine Missbrauchsverbot des § 19 Abs. 1 GWB. Missbräuchlich überhöhte

Netznutzungsentgelte können die Kartellbehörden nach § 32 GWB untersagen oder

als Ordnungswidrigkeit nach § 81 Abs. 1 Nr. 1 GWB mit einem Bußgeld ahnden. Für

die unmittelbare Anwendung des § 6 Abs. 1 EnWG sind die Kartellbehörden gemäß

§ 18 Abs. 1 EnWG nicht zuständig. Die Wertungen des § 6 EnWG können allerdings

im Rahmen der §§ 19, 20 GWB berücksichtigt werden.88

3.7.2 Vergleichsmarktkonzept

Zur Feststellung eines wettbewerbsanalogen Preises verweist § 19 Abs. 4 Nr. 2, 2.

Halbsatz GWB insbesondere auf Unternehmen auf vergleichbaren Märkten mit wirk-

samem Wettbewerb. Die Vergleichbarkeit kann sich dabei auf einen anderen räumli-

chen oder sachlichen Markt beziehen.89 Bei Fehlen anderer Vergleichsmöglichkeiten

kann allerdings auch das Preisverhalten von Monopolbetrieben auf anderen räumli-

chen Märkten herangezogen werden.90

3.7.2.1 Räumlicher Vergleichsmarkt

Da jeder Netzbetreiber in seinem Netzbereich ein natürliches Monopol innehat, ist ein

Preisvergleich mit den Monopolentgelten der anderen Netzbetreiber auf ihren regio-

nal begrenzten Monopolmärkten zulässig.91

87 Die Ermittlung des angemessenen Entgelts sollte sachverständig geklärt werden. In der Folge konn-ten sich die Beteiligten weder auf einen Gutachter noch auf die Verteilung der Gutachterkosten eini-gen. Eine zivilgerichtliche Klärung der Höhe der Netznutzungsentgelte war vorbehalten worden. 88 Bericht der Arbeitsgruppe Netznutzung Strom, S. 6. 89 Möschel in Immenga/Mestmäcker, GWB, 3. Auflage 2001, § 19 Rn. 161. 90 BGH WuW/E 2309, 2311 „Glockenheide“, BGH WuW/E 2967, 2969 „Strompreis Schwäbisch Hall“. 91 Bericht der Arbeitsgruppe Netznutzung Strom, S. 10 m.w.N.

22

Das Bundeskartellamt hat im Rahmen der anhängigen Missbrauchsverfahren als

Vergleichsunternehmen zunächst die Netzgesellschaften der Unternehmen EnBW

und RWE herangezogen. Diese Vorgehensweise bietet sich an, da das Preisniveau

der inländischen Netzbetreiber stark voneinander abweicht und die beiden Ver-

gleichsunternehmen im bundesweiten Vergleich über verhältnismäßig niedrige Netz-

nutzungsentgelte verfügen. Zu einem späteren Zeitpunkt erscheint auch ein Ver-

gleich mit Netzbetreibern in anderen Ländern sinnvoll.

Bei dem Vergleich werden die Netznutzungsentgelte der Vergleichsunternehmen für

repräsentative Abnahmefälle - getrennt nach den einzelnen Netzebenen - mit den

Netznutzungsentgelten derjenigen Netzbetreiber verglichen werden, gegen die der

Verdacht missbräuchlich überhöhter Entgelte besteht. Gebietsstrukturbedingte Un-

terschiede, die auf objektiven, d.h. vom Netzbetreiber nicht zu beeinflussenden Krite-

rien beruhen, sind in Form von Zu- bzw. Abschlägen zum Netznutzungsentgelt zu

berücksichtigen.92

Für die Berücksichtigung von Strukturunterschieden bei Preisvergleichen haben sich

unterschiedliche Verfahren herausgebildet – z. B. die in der Literatur hauptsächlich

diskutierten Data Envelopment Analysis (DEA) sowie die Durchschnittspreisfunktion,

z.B. die Stochastic Frontier Analysis (SFA) oder das in der VV II plus vorgesehene

Strukturklassenmodell.93 Bei der DEA werden für alle betrachteten Unternehmen

Outputfaktoren, z.B. die Anzahl der Kunden, auf Inputfaktoren, wie Preise oder Kos-

ten, bezogen. Je größer der Output bei gleichem Input, desto effizienter wirtschaftet

das betrachtete Unternehmen. Im nächsten Schritt wird eine Hüllenkurve um die Un-

ternehmen gezogen. Die Unternehmen, die auf dieser Kurve liegen, werden als effi-

zient definiert, während die weniger effizienten von der Kurve umhüllt werden. Das

Effizienzniveau der innerhalb der Hüllenkurve liegenden Unternehmen wird anhand

des relativen Abstands zur Effizienzgrenze, d.h. zur Hüllenkurve, errechnet. Bei An-

wendung des Durchschnittspreismodells wird demgegenüber eine Regressionsfunk-

92 Vgl. Bericht der Arbeitsgruppe Netznutzung Strom, S. 16 ff. 93 Das Strukturklassenmodell der VV II plus will die deutschen Netzbetreiber anhand von drei Struk-turmerkmalen (Einwohner- bzw. Abnahmedichte, Verkabelungsgrad und Ost/West) in 18 Strukturklas-sen einteilen und dort jeweils diejenigen mit den höchsten Entgelten identifizieren; eine abschließende Bewertung ist mangels hinreichenden Datenmaterials bislang nicht möglich, allerdings hat das Bun-deskartellamt Zweifel an der Eignung, insbesondere des Strukturmerkmals Ost/West.

23

tion bestimmt, die über die zulässigen Strukturparameter die Netznutzungsentgelte

abbildet.94

Angesichts der Vielzahl der Netzbetreiber in Deutschland erscheint die Durch-

schnittspreisfunktion für Vergleichszwecke besser geeignet als die DEA, die bei einer

großen Datenmenge an ihre Grenzen stößt. Die Zusammenhänge zwischen Entgel-

ten und Strukturparametern sind in Deutschland bislang allerdings noch nicht ma-

thematisch signifikant durch Regressionsanalysen auf Grundlage der Durchschnitts-

preisfunktion abzuleiten.95 In einem zweiten Schritt gilt es, die Schwierigkeit zu be-

wältigen, Strukturmerkmale nach ihrer Kostenrelevanz zu bewerten und in Netznut-

zungsentgelte umzurechnen.

Aufgrund dieser Unsicherheit hat das Bundeskartellamt, neben dem räumlichen Ver-

gleichsmarkt auf weitere Ansätze zur Beurteilung der Missbräuchlichkeit von Netz-

nutzungsentgelte abgestellt.

Vergleichsgrundlage im Missbrauchsverfahren gegen die Stadtwerke Mainz ist daher

ein Vergleich der Umsätze aus der Netznutzung, bezogen auf die Leitungslänge (in

Kilometern). Die Untersuchungen des Bundeskartellamtes haben gezeigt, dass ein

auf einzelne Netzebenen und Abnahmefälle bezogener Vergleich der Netznutzungs-

entgelte zu kurz greift. Notwendig ist vielmehr eine wirtschaftliche Analyse der Netz-

nutzungsentgelte durch einen mengengewichteten Vergleich der Netznutzungsent-

gelte. Daher wurde auf die sich aus der Absatzmenge und den Netznutzungsentgel-

ten ergebenden Umsätze abgestellt. Diese Umsätze wurden auf die Leitungslänge

des Netzes bezogen. Damit wurden die wesentlichen Kostenschwerpunkte für das

Netz, nämlich Verlege- und Instandhaltungskosten pro Kilometer Leitungslänge, be-

rücksichtigt. Weiter wurde beim Vergleich mit den entsprechenden Umsätzen des

Vergleichsunternehmens RWE Net AG berücksichtigt, dass die Stadtwerke Mainz

aufgrund der städtischen Oberflächenstruktur höhere Verlege- und Instandhaltungs-

kosten haben. Dennoch ergab sich nach den bisherigen Ermittlungen, dass keine

Rechtfertigung für die im Vergleich zur RWE Net AG um bis zu 14% bis 23 % höhe-

ren Netznutzungsentgelte besteht. Das Verfahren ist noch nicht abgeschlossen.

94 Ahlemeyer u.a., Elektrizitätswirtschaft 2002, S. 18 ff. 95 Ahlemeyer u.a., a.a.O., S. 20.

24

3.7.2.2 Zeitlicher Vergleichsmarkt

Beim zeitlichen Vergleichsmarktkonzept wird die Netzpreis- und Erlössituation eines

Unternehmens mit seinen entsprechenden Daten aus früherer Zeit verglichen.96 Lie-

gen die Netznutzungserlöse im Jahr 2000 bzw. 2001 höher als 1997, ist dies ein In-

diz für missbräuchlich überhöhte Netznutzungsentgelte in 2000 bzw. 2001. Allerdings

lässt sich aus diesem Vergleich nicht herleiten, ob die Erlöse auf die einzelnen Netz-

nutzer oder Nutzergruppen missbrauchsfrei verteilt sind.

3.7.3 „Angemessenes“ Entgelt i.S.v. § 19 Abs. 4 Nr. 4 GWB

Gemäß § 19 Abs. 4 S. 4, 1. Halbsatz GWB liegt ein Missbrauch vor, wenn sich ein

marktbeherrschendes Unternehmen weigert, einem anderen Unternehmen gegen

angemessenes Entgelt Zugang zu den eigenen Netzen oder Infrastruktureinrichtun-

gen zu gewähren.

3.7.3.1. Maßstäbe des Vergleichsmarktkonzepts

Auch im Rahmen des § 19 Abs. 4 Nr. 4 GWB können die Preisbemessungskriterien

des § 19 Abs. 4 Nr. 2 GWB herangezogen werden.97 Aus dem Preisabstand zum

Vergleichsunternehmen ergibt sich ein Verdacht auf die Unangemessenheit der

Netznutzungsentgelte.

3.7.3.2 Subtraktionsmethode

Hinweise auf missbräuchlich überhöhte Netznutzungsentgelte kann die Subtraktions-

methode liefern. Dabei werden vom Brutto-Stromverkaufspreis eines integrierten E-

nergieversorgers für repräsentative Abnahmefälle das Netznutzungsentgelt und die

Belastungen, die jeden Stromanbieter in gleicher Weise treffen, wie Stromsteuer,

Umsatzsteuer, Konzessionsabgaben und der Zuschlag nach dem Kraft-Wärme-

Kopplungs-Gesetz, abgezogen. Der verbleibende Betrag stellt die – überwiegend

variablen – Kosten für Strombeschaffung und Vertrieb (Netto-Strompreis) dar. Dieser

Netto-Strompreis ist mit den Marktpreisen für die Strombeschaffung oder den Strom-

beschaffungskosten anderer Energieversorger sowie mit den Vertriebskosten ande-

rer vergleichbarer Energieversorger zu vergleichen. Unterschreitet der ermittelte Net-

to-Strompreis die Marktpreise bzw. die von anderen Energieversorgern dafür aufge-

96 Bericht der Arbeitsgruppe Netznutzung Strom, S. 21 f. 97 Bericht der Arbeitsgruppe Netznutzung Strom, S. 7.

25

wendeten Kosten erheblich, spricht dies für überhöhte Netznutzungsentgelte mit dem

Ziel, andere Unternehmen bei der Nutzung seines Stromversorgungsnetzes zu be-

hindern.98 Auch das OLG Düsseldorf99 sieht bei Unternehmen, die nicht nur als Netz-

betreiber, sondern auch als Stromlieferanten auf den Endkundenmärkten tätig sind,

die Gefahr einer Quersubventionierung dergestalt, dass die Unternehmen mit Hilfe

überhöhter Netznutzungsentgelte ihre Stromlieferungssparte fördern und dadurch auf

diesem Sektor ihre Wettbewerbsfähigkeit zu Lasten der Mitbewerber verbessern.

Das Bundeskartellamt hat bei der Anwendung dieser Methode festgestellt, dass in

einer Vielzahl von Fällen der Netto-Strompreis zwar positiv ist, jedoch unter dem un-

terstellten Preis für Strombezug und Vertrieb liegt. Diese Marge wird vom Bundeskar-

tellamt derzeit mit mindestens 3,0 ct/kWh angenommen. Ein Unterschreiten dieser

Marge ist ein Indiz für missbräuchlich überhöhte Netznutzungsentgelte, reicht aller-

dings für die Bejahung des Missbrauchs für sich genommen nicht aus.

3.7.3.3 Kostenprüfung

Die Angemessenheit des Netznutzungsentgelts kann neben oder in Einzelfällen an-

stelle von Vergleichsgesichtspunkten auch nach betriebswirtschaftlichen Gesichts-

punkten auf der Grundlage einer Kostenbetrachtung beurteilt werden.100 Die Kosten-

prüfung ist dann erforderlich, wenn man nicht auf einen wettbewerblichen Ver-

gleichsmarkt Bezug nehmen kann.101

3.7.3.3.1 Maßnahmen zur Kostenprüfung

Um eine Prüfung der Kalkulation der Netznutzungsentgelte vornehmen zu können,

hat das Bundeskartellamt im Rahmen von Auskunftsersuchen bzw. –beschlüssen

entsprechende Kalkulationsunterlagen von den Unternehmen gefordert. Einige Netz-

betreiber haben gegen die Auskunftsbeschlüsse vor dem OLG Düsseldorf geklagt

und um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht. Daraufhin hat das OLG Düsseldorf

entschieden, dass die Durchführung einer Kostenprüfung auf Basis des § 19 Abs. 4

98 Bericht der Arbeitsgruppe Netznutzung Strom, S. 25 f. 99 OLG Düsseldorf, Beschluss vom 22.04.2002, WuW 2002, S. 866, Kart 2/02 (V) und vom 08.05.2002, Kart 5/02 (V). 100 Bericht der Arbeitsgruppe Netznutzung Strom, S. 27 ff.; Möschel in Immenga/Mestmäcker, GWB, 3. Aufl., § 19 Rn. 204; OLG Düsseldorf - Kart 2/02 (V), Beschluss vom 22.04.2002, WuW 2002, S. 866, und vom 08.05.2002, Kart 5/02 (V). 101 OLG Düsseldorf, Beschluss vom 22.04.2002, WuW 2002, S. 866, Kart 2/02 (V) und vom 08.05.2002, Kart 5/02 (V).

26

GWB rechtmäßig sei und gleichberechtigt neben dem Vergleichsmarktkonzept ste-

he.102

3.7.3.3.2 Kriterien für die Kostenprüfung

Maßstab für die Kostenkontrolle sind zunächst die im Bericht der Arbeitsgruppe

Netznutzung niedergelegten Kriterien.103 Diese weichen in mehreren Punkten von

der VV II und dem Kalkulationsleitfaden des VDEW ab.104

Mittlerweile hat die VV II plus in Anlage 3 („Preisfindungsprinzipien“) den Kalkulati-

onsleitfaden übernommen, in der die kritisierten Punkte weitgehend fortgesetzt wer-

den.

Unstimmigkeiten ergeben sich bereits bei der Bewertung des Netzes und den Kosten

für die Betriebsführung. Die Preisfindungsprinzipien lassen eine eventuelle Überdi-

mensionierung und eine eventuelle Doppelverrechnung von Kosten bzw. Ineffizien-

zen außer Acht, was zu einer Überhöhung der in die Kalkulation einfließenden Kos-

ten führen kann. Weiter sehen die Preisfindungsprinzipien bei der kalkulatorischen

Kostenkalkulation den Ansatz von Steuern auf den Scheingewinn und Gewerbeer-

tragsteuern vor, was schon im Rahmen der Arbeitsanleitung 1997105 abgelehnt wird.

Während im Kalkulationsleitfaden zur Ermittlung des betriebsnotwendigen Eigenkapi-

tals als Grundlage für die Ermittlung der kalkulatorischen Eigenkapitalverzinsung

noch auf die Anschaffungs- und Herstellungskosten abgestellt wurde, stellen die

Preisfindungsprinzipien auf Tagesneuwerte ab. Unterstellt, dass die Tagesneuwerte

über den Anschaffungs- bzw. Herstellungskosten liegen, führt dies zu einer Erhö-

hung der kalkulatorischen Kosten und damit zu einer Erhöhung der Netznutzungs-

entgelte. Dabei wird Kapital kalkulatorisch etwas verzinst, das im Unternehmen noch

gar nicht investiert worden ist. Schließlich beinhaltet der in den Preisfindungsprinzi-

102 OLG Düsseldorf, Beschluss vom 22.04.2002, WuW 2002, S. 866, Kart 2/02 (V) und vom 08.05.2002, Kart 5/02 (V). 103 Bericht der Arbeitsgruppe Netznutzung Strom, S. 27 ff. (Anlehnung an die „Arbeitsanleitung zur Darstellung der Kosten- und Erlösentwicklung in der Stromversorgung“ vom 10./11.06.1997, erarbeitet durch die Strompreisreferenten der Bundesländer, veröffentlicht in Obernolte/Danner, Elektrizitätswirt-schaft. 104 VDEW-Materialien M-18/2000 „Leitfaden zur Ermittlung von Netznutzungsentgelten – Grundlagen der Kostenermittlung“. 105 Arbeitsanleitung zur Darstellung der Kosten- und Erlösentwicklung in der Stromversorgung vom 10./11.06.1997.

27

pien vorgesehene Eigenkapitalzinssatz i.H.v 6,5% einen Wagniszuschlag.106 Grund-

lage für den angesetzten Wagniszuschlag ist das Gutachten einer Unternehmensbe-

ratung107, dessen Begründung aus Sicht des Bundeskartellamtes nicht plausibel ist.

So wird als relevantes Risiko beispielsweise die künftig beabsichtigte Transparenz

bei den Netznutzungsentgelten, die zu Preissenkungen zwingen könnte, gezählt. Ob

und ggf. in welcher Höhe ein Wagniszuschlag, dessen Berechtigung in jedem Einzel-

fall nachzuweisen ist, anerkannt werden kann, wird vom Bundeskartellamt in den

derzeit durchgeführten Missbrauchsverfahren geprüft.

Ein weiteres Problem im Zusammenhang mit der Kalkulation der Netznutzungsent-

gelte stellt die Zuschlüsselung der Kosten auf den Netzbereich und auf die einzelnen

Netzebenen dar. Die Zuschlüsselung auf den Netzbereich ließe sich besser nach-

vollziehen, wenn die Netzbetreiber im Rahmen des „Unbundling“ das Netz getrennt

vom Vertrieb auszuweisen hätten. Dies ist jedoch nach der gegenwärtigen Rechtsla-

ge nicht der Fall.

3.7.3.3.3 Die Gleichzeitigkeitsfunktion

Die ermittelten Netzkosten müssen, abhängig von der in Anspruch genommenen

Leistung, in Entgelte umgerechnet werden. In einem zweiten Schritt erfolgt die Be-

stimmung eines fixen Leistungspreises (kW) und eines verbrauchsabhängigen Ar-

beitspreises (kWh). Hierzu dient die Gleichzeitigkeitsfunktion. Bei deren Anwendung

haben die Netzbetreiber nach der VV Strom II plus einen Spielraum.108 Der mit dieser

Funktion zu berechnende Gleichzeitigkeitsgrad berücksichtigt die Durchmischung der

Inanspruchnahme eines Netzes oder Netzbereiches, abhängig von der Benutzungs-

dauer der höchsten in Anspruch genommenen Netzkapazität.109 Da die Einzelhöchst-

leistungen der einzelnen Abnehmer zeitungleich auftreten, ist ihre Summe größer als

die Jahreshöchstlast des Gesamtnetzes. Es erfolgt daher eine kostenverursa-

chungsorientierte Zuordnung zwischen Jahreshöchstlast und der Summe der Einzel-

höchstlasten.

106 VV II plus vom 20.12.2001; bei Zugrundelegung eines 10-Jahres-Zinssatzes von 4,8% ergibt sich ein Wagniszuschlag von 1,7%. 107 VDEW-Materialien M-19/2000 „Allgemeines Unternehmerwagnis bei der Kalkulation von Durchlei-tungsentgelten – Kurzgutachten der PwC Deutsche Revision“. 108 Anlage 4 zur VV II plus. 109 Max. jährliche Benutzungsdauer=24 Std. *360 Tage=8.760 Std./a.

28

Gleichwohl bietet auch die Anwendung der Gleichzeitigkeitsfunktion ein möglicher-

weise erhebliches Missbrauchspotential: Ein Netzbetreiber könnte nämlich die

Gleichzeitigkeitsfunktion derart "wählen", dass die Summe über alle kundenindividu-

ellen Jahresspitzen multipliziert mit den kundenindividuellen Gleichzeitigkeitswerten

tatsächlich höher ist als die Jahreshöchstlast im Netz.110 Die Folge wäre, dass mehr

Leistung abgerechnet würde, als tatsächlich angefallen ist. Im Rahmen der Überprü-

fung der Netznutzungsentgelte lässt sich das Bundeskartellamt von den betroffenen

Unternehmen die Ermittlung des von ihnen angewandten Gleichzeitigkeitsgrades

erläutern.

3.7.3.3.4 Zuschlag bei synthetischen Lastprofilen

Eine Vielzahl von Netzbetreibern rechnet einen Zuschlag für die Anwendung synthe-

tischer Lastprofile in den Arbeitspreis ein oder weist diesen gesondert aus. Der Zu-

schlag wird von den Netzbetreibern mit dem zusätzlichen Aufwand des Netzbetrei-

bers für Regelenergie begründet, beispielsweise beim Auftreten einer längeren, nur

in mehrjährigem Abstand auftretenden Kälteperiode, die die Leistungsanforderungen,

die der synthetischen Lastkurve zugrunde gelegt sind, deutlich überschreiten wür-

de.111 Die Kartellbehörden sehen einen solchen Zuschlag kritisch. Er stellt eine pau-

schale Belastung für Netznutzer dar, ohne dass der Mehraufwand für die Netzbetrei-

ber bereits konkret bezifferbar ist.112

3.8 Langfristige Gaslieferverträge mit wettbewerbsbeschränkenden Abreden

Eines der Haupthindernisse einer wirksamen Liberalisierung im Gasbereich ist die

Vielzahl langfristiger Gaslieferverträge (20 Jahre, auf Importebene sogar länger) auf

allen Marktstufen, die einen Großteil des Marktes dem Wettbewerb verschließt. Ei-

nerseits fehlt es dadurch bereits an freien Mengen für neue Wettbewerber auf der

Beschaffungsseite. Andererseits finden diese neuen Gasanbieter keine Kunden auf

der Absatzseite, da auch jene in der Regel langfristig gebunden sind.

Das Bundeskartellamt hat zur Unterbindung dieser Wirkungen eine Vielzahl von

Freigaben angemeldeter Zusammenschlussvorhaben von marktöffnenden Auflagen

110 D.h. die Identitäts-Bedingung in der Gleichung P max Netz = Σ i (P max i * g i) ist nicht erfüllt, Pmax Netz=Jahreshöchstlast des Netzes, Pmax i=Jahreshöchstlast des Abnehmers i, gi=Gleichzeitigkeitsgrad des Abnehmers i. 111 Salje in Bartsch/Röhling/Salje/Scholz, Kapitel 72, Rn. 83. 112 Bericht der Arbeitsgruppe Netznutzung Strom, S. 61.

29

abhängig gemacht. Durch Einräumung von Sonderkündigungsrechten sollten die

langfristigen Gaslieferverträge geöffnet werden. Eine weitere in diese Richtung zie-

lende Maßnahme ist die Reduzierung der Abnahmeverpflichtungen der Gaskunden

von ihrem bisherigen Gaslieferanten auf 80% des Jahresbedarfs; die übrigen 20%

können die Kunden sich im Wettbewerb bei dritten Lieferanten beschaffen. Dabei

stellte sich aber bisher das Problem, dass beispielsweise Ruhrgas ihren Weitervertei-

ler-Kunden schon seit dem Jahr 2001 für die letzten 20% der Lieferungen Rabatte

anbietet, um diese Mengen nicht an die Wettbewerber zu verlieren.113

Inzwischen haben sich auch die Gerichte mit der Problematik langfristiger Gasliefer-

verträge befasst. Das OLG Düsseldorf hat als erstes Oberlandesgericht die in vor der

Energierechtsreform abgeschlossenen „alten“ Gaslieferverträgen mit Weiterverteilern

vereinbarten Wettbewerbsbeschränkungen als kartellrechtswidrig beurteilt.114 Vor

diesem Hintergrund könnten sich künftig Fusionskontrollauflagen des Bundeskartell-

amts auf Kürzung bestehender Gaslieferverträge erübrigen.

4. Teil: Anforderungen an eine wirksame Aufsicht über die Netznutzungsbedingungen

Zentraler Punkt für den Wettbewerb auf Märkten, die dem Netz vor- oder nachgela-

gert sind, sind angemessene Netznutzungsentgelte. Diese zu überwachen und ggf.

Senkungen durchzusetzen, ist in Deutschland angesichts von mehr als 900 Netz-

betreibern eine aufwändige und komplexe Aufgabe. Eine entscheidende Vorausset-

zung für eine wirksame Aufsicht ist, dass das materielle Recht effektive Regeln über

einen diskriminierungsfreien Netzzugang einschließlich der Festsetzung miss-

brauchsfreier – an den Kosten der effizienten Leistungsbereitstellung orientierter –

Netzzugangsentgelte vorsieht.115 Weitere Voraussetzung ist die zügige verfahrens-

rechtliche Durchsetzbarkeit von Einzelfallregelungen. Hierfür wäre die sofortige Voll-

ziehbarkeit aufsichtsrechtlicher Maßnahmen als gesetzlicher Normalfall notwendig.116

113 Kehrmann, Energie Informationsdienst 2002, S. 3, 4. 114 OLG Düsseldorf, Urteil v. 7.11.2001. 115 So auch Koenig; Kühling, WuW 2001, S. 814 f. 116 Eine entsprechende Ergänzung von § 64 Abs. 1 Nr. 2 GWB sah die nicht verabschiedete EnWG-Novelle 2002 vor.

30

4.1 Anforderungen an eine Aufsichtsbehörde

4.1.1 Unabhängigkeit

Von entscheidender Bedeutung für das Funktionieren der Aufsicht über die Netzzu-

gangsbedingungen ist die Unabhängigkeit der beaufsichtigenden Behörde von den

betroffenen Branchen, aber auch von der Politik. Die institutionelle Unabhängigkeit

ist gegeben, wenn die Behörde über hinreichend große Entscheidungsspielräume bei

der Konkretisierung der Wettbewerbsregeln verfügt und insofern frei von Einzelwei-

sungen des übergeordneten Ministeriums agieren kann.117 Es wird vielfach ange-

nommen, dass sektorspezifische Regulierungsinstitutionen der Gefahr der sogenann-

ten „regulatory capture“118 durch Unternehmen ausgesetzt sind, da der Kreis der

betroffenen Unternehmen homogen und insofern leicht als Lobby zu organisieren ist

und die Mitarbeiter der Behörde langjährig an einen Bereich gebunden sind.119 Auch

die Unabhängigkeit von der Politik ist nicht selbstverständlich. So verfügt die franzö-

sische Regulierungsbehörde CRE nur über eine Empfehlungsbefugnis bezüglich der

Netznutzungsentgelte, die vom zuständigen Minister festgelegt werden. Die Regulie-

rungsbehörden in Schweden und den Niederlanden unterliegen der Aufsicht durch

Ministerien während die Regulierer im Vereinigten Königreich ihre Entscheidungen

unabhängig treffen. In Italien wird die anstehende Energierechtsreform möglicher-

weise zu einer Entmachtung der Regulierungsbehörde führen. 120

Die Forderung des Europäischen Parlamentes, wonach nationale Energieregulie-

rungsbehörden unabhängig von den Regierungen sein müssen, hat die Europäische

Kommission in ihrem revidierten Vorschlag für eine Änderungsrichtlinie der Energie-

binnenmarktregeln nicht übernommen, sondern sich auf die Forderung nach der Un-

abhängigkeit der Regulierungsinstanz von der betroffenen Industrie beschränkt.121

117 Koenig; Kühling, WuW 2001, S. 814 f.; in diesem Sinne auch Drillisch u.a., S. 4 ff. 118 Zur “capture theory” Posner, Bell Journal of Economics, Vol. 5 (1974), S. 335 ff. 119 Monopolkommission, 14. Hauptgutachten, Rz. 796, 800 (die darin allerdings kein generelles Argu-ment gegen eine sektorspezifische Regulierungsinstanz sieht); Koenig; Kühling, WuW 2001, S. 810 ff.; Kumkar, S. 25 f. 120 Der Gesetzesentwurf des italienischen Industrieminiesters zur Reform des Energiesektors sieht unter anderem eine Einschränkung der Befugnisse der Regulierungsbehörde Autorità per l’Energia vor, die sich künftig mit dem Industrieministerium koordinieren muss um eine „Überlappung von Funk-tionen oder Verzögerung bei der Verabschiedung von spezifischen Verordnungen“ zu vermeiden (E-nergiebrief Nr. 14, 1. August 2002, S. 6). 121 Europäische Kommission, revidierter Vorschlag zur Änderung der Richtlinien 96/92EG und 98/30/EG über die Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und den Erdgasbinnenmarkt vom 7. Juni 2002, KOM(2002) 304 endgültig, S. 4 (zu Erwägung 12).

31

Es erscheint zumindest fraglich, ob eine weitreichende Unabhängigkeit für eine neu

zu errichtende Regulierungsinstanz gewährleistet werden könnte. Die Monopolkom-

mission will der Gefahr der „regulatory capture“ durch die Schaffung einer übergrei-

fenden Regulierungsinstitution vorbeugen, was eine Rotation von Mitarbeitern zwi-

schen den Aufsichtsabteilungen der verschiedenen Netzindustrien ermöglichen

soll.122 Ob diese Maßnahme die Probleme der „regulatory capture“ durch eine einzel-

ne Branche wirksam vermeiden und auch darüber hinaus die politische Unabhängig-

keit der Regulierungsbehörde sichern kann, ist Spekulation. Die Unabhängigkeit des

Bundeskartellamts, sowohl von der Wirtschaft als auch von der Politik, hat sich im

Laufe vieler Jahre entwickelt.123

4.1.2 Hinreichende Ausstattung

Weitere Voraussetzung für eine funktionierende Aufsicht ist die hinreichende perso-

nelle und sachliche Ausstattung der Behörde. In den Netzwirtschaften geht es um

Monopolregulierung, mithin um die Schaffung funktionsfähigen und selbsttragenden,

nicht lediglich um die Sicherung schon bestehenden Wettbewerbs. Damit ist gerade

in der Übergangszeit ein erhöhter Sach- und Personaleinsatz erforderlich.124

Zu bedenken ist jedoch, dass die Ausübung der Aufsicht durch Aufgreifen einzelner

Missbrauchsfälle mit Mustercharakter deutlich weniger Ressourcen binden dürfte, als

eine allumfassende Ex-ante-Regulierung von mehrereren hundert Netzbetreibern. So

sind etwa bei der britischen Energieregulierungsbehörde ofgem ca. 300 Beschäftigte

mit der Ex-ante-Regulierung von weniger als 20 Netzbetreibern befasst.

Die Effizienz einer staatlichen Aufsicht über Netzbetreiber wird aber nicht alleine an-

hand der Kosten einer entsprechenden Fachbehörde oder einer personell verstärk-

ten kartellrechtlichen Missbrauchsaufsicht beurteilt werden können. Mitentscheidend

für die Effizienz der Aufsicht ist das Kosten-Nutzen-Verhältnis. Der Nutzen kann an

dem Betrag gemessen werden, um den die Gesamtwirtschaft dauerhaft aufgrund der

Absenkung missbräuchlich überhöhter Netznutzungsentgelte entlastet würde. Dabei

ist zu berücksichtigen, dass bereits eine Senkung der Netznutzungsentgelte beim

Strom um 1% jährliche Einsparungen von ca. 180 Mio. € zur Folge hätte.125

122 Monopolkommission, 14. Hauptgutachten, Rz. 798. 123 Monopolkommission, 14. Hauptgutachten, Rz. 797; Drillisch u.a., S. IV. 124 So auch Koenig; Kühling, WuW 2001, S. 814 f. 125 Schätzung BKartA, vgl. Fußnote 17.

32

4.2 Aufsichtsrechtliche Instrumente der Entgeltkontrolle

4.2.1 Vergleichsmarktkonzept – Bewertung der Methoden

Beim Vergleichsmarktkonzept wird zunächst auf inländische Netzbetreiber abgestellt.

Dieser erste Schritt ist geeignet, um auf nationaler Ebene ein niedrigeres Entgeltni-

veau zu erreichen. Da jedoch der Verdacht besteht, dass das nationale Preisniveau

insgesamt überhöht sein dürfte, wäre in einem zweiten Schritt ein Vergleich mit aus-

ländischen Unternehmen oder auch ein Vergleich mit einem unter Effizienzgesichts-

punkten definierten, „virtuellen“ Benchmarkunternehmen sinnvoll. Als ausländische

Vergleichsunternehmen kommen vor allem Netzbetreiber in den in der Liberalisie-

rung am weitesten fortgeschrittenen skandinavischen Länder und Großbritannien,

sowie, wegen gebietsstruktureller Ähnlichkeiten, die Niederlande in Betracht.126

4.2.1.1 Anreizregulierung

Auch sektorspezifischen Regulierern stehen für die Entgeltregulierung als Instrumen-

te lediglich zwei Ansätze zur Verfügung, nämlich Vergleichsmarktbetrachtungen und

die Kostenkontrolle. Im Rahmen von Vergleichsmarktbetrachtungen erfolgt teilweise

eine Anreizregulierung in Form eines Price-Cap-Ansatzes unter Berücksichtigung

des Konzepts des sogenannten „Yardstick-Competition“.127 Danach haben sich bei

der Imitierung eines funktionsfähigen Wettbewerbs durch Regulierung die Unterneh-

men nicht nur an ihrer Kostenentwicklung zu orientieren, sondern auch an der Pro-

duktivitätsentwicklung der gesamten Branche. Diese gibt Auskunft über vorhandene

Effizienzpotenziale und schafft (künstlich) Wettbewerb.128 Diese Form der Regulie-

rung führt dazu, dass die Unternehmen einen Anreiz zur Effizienzsteigerung erhalten,

da sie die aus der gesteigerten Effizienz folgenden Gewinne zunächst behalten dür-

fen. Ineffiziente Unternehmen werden zur Effizienzsteigerung gezwungen, da ihnen

andernfalls droht, dass sie ihre Kosten nicht decken können.

126 Bericht der Arbeitsgruppe Netznutzung Strom, S. 12. 127 Ansatz des „yardstick competition“ oder komparativer Wettbewerb ist, dass lokal monopolistische Unternehmen miteinander verglichen und die Kosten des jeweils günstigsten Anbieters als höchsten zulässige Preise für alle anderen angesehen werden (Gutachten des BMZ „Strukturreform des Was-sersektors“, http://www.bmz.de/infotek/fachinformationen/spezial). 128 Monopolkommission, 14. Hauptgutachten, Rz. 875.

33

4.2.1.2 Umsatzvergleich

Das Bundeskartellamt stellt im Rahmen des Vergleichsmarktkonzepts gegenwärtig

auf den Vergleich der Umsätze aus Netznutzung pro Kilometer Leitungslänge ab. In

diesen Umsätzen spiegeln sich sowohl die Entgelthöhe als auch die Absatzmenge

wider. Der entscheidende Kostenfaktor in einem Verteilnetz (Nieder- und Mittelspan-

nung) sind die Leitungen. Beansprucht ein Netzbetreiber pro km Leitungslänge höhe-

re Umsätze als ein anderer, so stellt sich die Frage, ob dies aufgrund objektiver ge-

bietsstruktureller Faktoren berechtigt ist.129

Erreicht werden soll mit einer Vergleichsbetrachtung eine Absenkung missbräuchlich

überhöhter Netznutzungsentgelte. Ziel ist nicht eine Gewinnbegrenzung. Ob die Ab-

senkung im Ergebnis zu einer Gewinnreduzierung führt, liegt an den betroffenen Un-

ternehmen. Um eine Gewinnreduzierung zu vermeiden, hat es die Möglichkeit, seine

Effizienz zu steigern, also die Kosten zu senken und die Gewinnmarge beizubehal-

ten.

4.2.2 Kostenprüfung

Die Angemessenheit der Netznutzungsentgelte kann auch nach betriebswirtschaftli-

chen Kriterien auf der Grundlage einer Kostenbetrachtung beurteilt werden. Hierbei

kann auf die bei der Überprüfung der Strompreise für Tarifkunden nach § 12 BTOElt

entwickelten Kriterien und Maßstäbe zurückgegriffen werden.130 Die von den Kartell-

behörden erwogene Übertragung der Erfahrungen aus der Strompreisaufsicht 131

beschränkt nicht die Prüfungsintensität und –tiefe bei der kartellrechtlichen Miss-

brauchsaufsicht.132 Der Rückgriff auf die „Arbeitsanleitung 1997“ soll den Kartellbe-

hörden Anhaltspunkte dafür liefern, welche Komponenten der Kostenkalkulation in

welcher Höhe im Rahmen der Strompreisaufsicht berücksichtigt werden können.133

Darüber hinaus werden im Bericht der Arbeitsgruppe kalkulatorische Kostenkompo-

nenten, wie beispielsweise der Wagniszuschlag, abgehandelt. Bei Korrektur der aus

129 Vgl. Pressemitteilung des BKartA vom 27.08.2002 (Stadtwerke Mainz). 130 Bericht der Arbeitsgruppe Netznutzung Strom, S. 27; kritisch: Klaue, BB 2001, S. 162 ff. 131 Bericht der Arbeitsgruppe Netznutzung Strom, S. 31 ff. 132 Bericht der Arbeitsgruppe Netznutzung Strom, S. 6 f.; a.A. Klaue, BB 2001, S. 162 ff.; für Indizwir-kung der behördlichen Genehmigung von Stromtarifen im Zivilprozess um die (Un-)Billigkeit von Pri-vatkundentarifen nach § 315 BGB vgl. KG, 24 U 645/01, Urteil vom 10.04.2002; anders LG Berlin, 55 S 369/00, Urt. v. 31. Juli 2001. 133 Arbeitsanleitung zur Darstellung der Kosten- und Erlösentwicklung in der Stromversorgung vom 10./11.06.1997.

34

Sicht der Kartellbehörden missbräuchlichen kalkulatorischen Kostenpositionen ergibt

sich ein erhebliches Kostensenkungspotenzial, das im Ergebnis zu niedrigeren Netz-

nutzungsentgelten führen dürfte.

Allerdings darf nicht außer Acht gelassen werden, dass bei der Kostenprüfung zu-

nächst auf die tatsächlichen Kosten abgestellt wird, die Korrektur folglich nur bei den

kalkulatorischen Kostenpositionen erfolgt. Der Effizienzsteigerungsanreiz für die

Netzbetreiber rührt aus dem parallelen Ansatz von Vergleichsbetrachtungen und

Kostenkontrolle her.

4.2.3 „Gute fachliche Praxis“

Wirksame materielle und verfahrensrechtliche Befugnisse sind eine Schlüsselvor-

aussetzung für eine effektive Aufsicht. Die vom Deutschen Bundestag in der 14. Le-

gislaturperiode beabsichtigte EnWG-Novelle 2002 sah parallel zur Einführung der

sofortigen Vollziehbarkeit kartellbehördlicher Missbrauchsverfügungen eine gewisse

Verrechtlichung der energiewirtschaftlichen Verbändevereinbarungen vor.134 So soll-

ten die Vorschrift über den verhandelten Zugang zu Elektrizitätsversorgungsnetzen

geändert135 und der Zugang zu Gasversorgungsnetzen neu geregelt werden.136 Da-

nach hätten die Durchleitungsbedingungen in der Energiewirtschaft „guter fachlicher

Praxis“ entsprechen müssen. Bei Einhaltung der jeweiligen Verbändevereinbarun-

gen137 wäre die Erfüllung dieser Maßgabe zeitlich befristet bis Ende 2003 gesetzlich

vermutet worden.138 Die §§ 19 Abs. 4 und 20 Abs. 1 und Abs. 2 GWB sollten „im üb-

rigen“ unberührt bleiben.139 Auf §§ 19 Abs. 4, 32 GWB gestützte Missbrauchsverfü-

gungen der Kartellbehörden sollten sofort vollziehbar sein.140 § 130 Abs. 3 GWB,

wonach die Vorschriften des Energiewirtschaftsgesetzes der Anwendung der §§ 19

und 20 GWB nicht entgegenstehen, sollte unverändert bleiben.

So hätten zwar auch künftig alle nicht von der VV Strom II plus oder der VV Erdgas II

gedeckten Netzzugangsbedingungen der uneingeschränkten Kontrolle durch Kartell-

134 Gesetzentwurf der Bundesregierung (Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Neuregelung des Ener-giewirtschaftsrechts), BT-Drucksache 14/9081; vgl. hierzu eingehend Säcker, Boesche, ZNER 2002, S. 150ff. m.w.N. 135 § 6 EnWG des Gesetzentwurfs einer EnWG-Novelle 2002. 136 § 6a EnWG des Entwurfs einer EnWG-Novelle 2002. 137 VV Strom II plus bzw. VV Erdgas II. 138 § 6 Abs. 1 S. 5 EnWG des Entwurfs einer EnWG-Novelle 2002. 139 § 6 Abs. 1 S. 6 EnWG des Entwurfs einer EnWG-Novelle 2002. 140 § 64 Abs. 1 Nr. 2 GWB des Entwurfs einer EnWG-Novelle 2002.

35

behörden und Zivilgerichte unterlegen. Fraglich wäre aber gewesen, ob und wie weit

Regelungen der Verbändevereinbarungen der kartellbehördlichen und zivilgerichtli-

chen Würdigung entzogen gewesen wären. Die Vereinbarkeit der geplanten EnWG-

Novelle 2002 mit Verfassungs- und Europarecht unterstellt, hätte die Neufassung von

§ 6 Abs. 1 Satz 5 EnWG in seiner Rechtsfolge eine widerlegliche Vermutung enthal-

ten. Unmittelbare Bedeutung hätte die Vermutungsregel im Zivilprozess erlangt. Die

Klärung der prozessualen Anforderungen an die jeweilige Darlegungs- und Beweis-

last hätte dabei letztlich ebenso der Rechtsprechung oblegen, wie die Einordnung

der energiewirtschaftsrechtlichen Norm im Verhältnis zu den Vorschriften des GWB

und dem im Kartellverwaltungsverfahren geltenden Amtsermittlungsgrundsatz.

Nach der geplanten Neufassung von § 6 EnWG sollten die Bedingungen guter fachli-

cher Praxis dem Ziel des § 1 EnWG - einer möglichst sicheren, preisgünstigen und

umweltverträglichen leitungsgebundenen Versorgung mit Elektrizität und Gas im Inte-

resse der Allgemeinheit - und der Gewährleistung wirksamen Wettbewerbs dienen.141

Somit sollten nur solche Regelungen guter fachlicher Praxis entsprechen, die neben

der Versorgungssicherheit in der leitungsgebundenen Energie materiell wirksamen

Wettbewerb gewährleisten. Ob das nach der Liberalisierung bislang eingetretene

Wettbewerbsniveau bereits eine gewährleistungsfähige Stufe erreicht hätte, hätte

letztlich gerichtlicher Klärung bedurft. Im Übrigen hätten Bestandteile der Verbände-

vereinbarungen, die eine Verschlechterung der Wettbewerbsbedingungen bewirken,

nicht als vom Geltungsbereich der Vermutungsregel umfasst angesehen werden

können. Das Tatbestandsmerkmal der Fachlichkeit solcher Praxis hätte schließlich

ein branchentypisches Verhalten erfordert. Die Verhaltenspraxis eines einzelnen

Netzmonopolisten hätte ebenso wenig zur Feststellung einer derartigen branchen-

weiten Praxis genügt, wie bloße Absichtserklärungen ganzer Branchen.

In der Flexibilität des Verhandlungsansatzes wird eine der entscheidenden Stärken

verhandelten Netzzugangs gesehen. Mit einer weitgehenden rechtlichen Festschrei-

bung der Verbändevereinbarungen als dem entscheidenden Standard für das Markt-

verhalten wäre den etablierten Unternehmen weitgehend der Anreiz genommen wor-

den, die Vereinbarungen angesichts unzureichender Marktergebnisse und techni-

scher oder wirtschaftlicher Neuerungen weiterzuentwickeln.

141 § 6 Abs. 1 Satz 4 EnWG des Entwurfs einer EnWG-Novelle 2002.

36

Fraglich wäre zudem gewesen, welche Auswirkung eine Vermutung der "guten fach-

lichen Praxis" auf den geplanten Sofortvollzug kartellbehördlicher Verfügungen nach

§ 64 Abs. 1 Nr. 2 GWB n. F. gehabt hätte.

Schließlich hätte sich eine "Verrechtlichung" der Verbändevereinbarungen nur auf

das Verhältnis von § 6 EnWG zu §§ 19 und 20 GWB bezogen. Die Anwendung des

gemeinschaftsrechtlichen Missbrauchsverbots (Art. 82 EG)142 wäre ebenso unberührt

geblieben wie die Anwendung der Kartellverbotstatbestände in § 1 GWB und Art. 81

EG.143

4.2.4 Vertikale Integration und Unbundling

Etablierte Energieversorger sind regelmäßig als Netzbetreiber und Energieanbieter

vertikal integriert und oft noch darüber hinaus auf vor- oder nachgelagerter Ebene

durch Beteiligungsengagements verflochten oder strategisch gebunden. Der Netzin-

haber hat mit Blick auf sein eigenes Liefergeschäft mithin keinen Anreiz, als neutraler

Sachwalter des Netzes zu operieren. Dieses Problem besteht unabhängig vom ge-

wählten Aufsichtsregime.

Eine wirksame Entbündelung, also Trennung von Netzbetrieb und Belieferung von

Kunden beim etablierten Energieversorger, ist notwendige Voraussetzung für wirk-

samen Wettbewerb in der leitungsgebundenen Energie.144 Eine Entbündelung von

Netz und Vertrieb ist auf mehreren Stufen denkbar. Am Einschneidensten wäre die

Entflechtung der Eigentumsverhältnisse an Netzbetrieb und Energieproduktion und

-handel. Weniger weit reichte die gesellschaftsrechtliche Trennung der Unterneh-

mensbereiche. Am Wenigsten weit reichte die bloße Trennung der unternehmeri-

schen Leitung oder der betroffenen Geschäftsbereiche. Diesen theoretischen Mög-

lichkeiten sind jedoch wirtschaftliche und verfassungsrechtliche Grenzen gesetzt.145

142 Siehe hierzu auch Monopolkommission, 14. Hauptgutachten, Rz. 12. 143 Eine Überprüfung einzelner Regelungen der Verbändevereinbarungen, insbesondere der Preisfin-dungsprinzipien für Netznutzungsentgelte zur VV Strom II plus, anhand des Kartellverbotes setzt vor-aus, dass der (Preis-)Wettbewerb zwischen Energieversorgungsunternehmen auf den dem Netzbe-trieb vor- oder nachgelagerten Märkten tangiert ist. Bislang hat das Bundeskartellamt die Verbändeve-reinbarungen kartellrechtlich toleriert. 144 Parlasca, S. 207-229 m.w.N. 145 namentlich der Schutz des Eigentums in Art. 14 GG und daraus ggf. resultierende Entschädi-gungspflichten.

37

Die Energierichtlinien sehen in differenzierter Form eine Trennung von Erzeugung,

Übertragung und Verteilung vor.146 In Umsetzung dieser Vorschriften sieht das

EnWG vor, dass das Übertragungsnetz als eigene Betriebsabteilung, getrennt von

Erzeugung sowie von den übrigen Tätigkeiten, die nicht mit ihm zusammenhängen,

zu führen ist.147

In der Praxis wird die Trennung häufig nicht vorgenommen, was eine Zuordnung von

Kosten zum Netz erschwert. Dies erleichtert die Möglichkeit der Quersubventionie-

rung zwischen Vertrieb und Netz. Die Kartellbehörden haben in der gegenwärtigen

Rechtslage allerdings keine Handhabe, eine weitergehende getrennte Rechnungsle-

gung von den Unternehmen zu fordern.

4.3 Ex-ante-Regulierung versus Ex-post-Missbrauchsaufsicht

Hinsichtlich des erforderlichen regulatorischen Rahmens werden kontroverse Auffas-

sungen vertreten. Während manche die Etablierung einer sektorspezifischen Regu-

lierungsinstanz mit ex-ante Befugnissen fordern148, plädieren andere für die Beibe-

haltung der Ex-post-Missbrauchsaufsicht.149

Die Befürworter eines Systemwechsels hin zu einer sektorspezifischen Ex-ante-

Regulierung nach dem Muster der Telekommunikation150 und der Briefpost151 sehen

die angebliche „Selbstregulierung der Branche“ in Form von Verbändevereinbarun-

gen, insbesondere im Hinblick auf die Preisfindungsprinzipien, kritisch. Als Haupt-

problem wird dabei das Fehlen hinreichend konkreter Preisvorgaben für den Netzzu-

gang betrachtet. Als bedenklich beurteilt wurden auch die Pläne zu einer „Verrechtli-

chung“ der Verbändevereinbarungen. Eine Ex-ante-Regulierung könne im Vergleich

zur praktizierten Missbrauchsaufsicht wirkungsvoller der Gefahr begegnen, dass

Netzbetreiber ihre Marktmacht durch „monopoly leveraging“ auf nachgelagerte Wert-

schöpfungsstufen ausdehnen. Denn es würden von vorn herein eindeutige und

146 Art. 14 Abs. 3, 7 Abs. 6 (Elektrizitäts-)Richtlinie 96/92/EG. 147 § 4 Abs. 4 EnWG; § 9 Abs. 2 des EnWG enthält die entsprechende Vorschrift für Verteilnetzbetrei-ber. 148 Markert, BB 2001, S. 105 ff.; Monopolkommission, 14. Hauptgutachten, S. 517 ff.; Brunekreeft, Keller, S. 21; Shuttleworth, Lieb-Doczy, Energiewirtschaftliche Tagesfragen 2002, S. 496ff. 149 Koenig, Kühling, WuW 2001, S. 810, 812; Klaue, BB 2001, S. 162 ff.; Drillisch u.a., S. 37 f. 150 Telekommunikationsgesetz vom 25.07.1996, BGBl. I 1996, S. 1120. 151 Postgesetz vom 22.12.1997, BGBl. I S. 3294.

38

transparente kostenorientierte Standards für Netznutzungspreise gebildet, die schnell

durchsetzbar wären.152

Auch wird angenommen, dass nach dem gegenwärtigen Ex-post-Regime Probleme

angegangen werden müssten, die mit entsprechenden Ex-ante-Maßnahmen nicht

entstünden; dies aber unter dem Vorbehalt einer Verpflichtung der Energieversor-

gungsunternehmen zu legal unbundling für alle Ebenen des Sektors und seine Kon-

trolle153. Ansatzpunkt hierfür ist die Annahme, dass die Netznutzungsentgelte über-

höht seien, während die Gewinnmargen in den dem Wettbewerb zugänglichen Be-

reichen äußerst gering seien.

Gegen eine weitere Zersplitterung der Wettbewerbsaufsicht in Einzelbehörden wird

indes eingewandt, dass bei diesen die Gefahr der Vereinnahmung durch Marktteil-

nehmer größer sei als bei einer für verschiedene Branchen zuständigen Behörde.154

Eine Vermehrung von Regulierungsbehörden würde auch einer divergierenden Aus-

legung des Wettbewerbsrechts Vorschub leisten.155 Teils wird eine Überantwortung

der Befugnis zur Ex-ante-Regulierung der Netznutzungsentgelte an die bestehenden

Kartellbehörden als ultima ratio befürwortet.156

Soweit den Kartellbehörden die neuen Aufgaben und Instrumente hinsichtlich der

Überwachung der Netzzugangsbedingungen übertragen würden, sollten diese den

Versuch unternehmen, durch zügige Verfahrensabschlüsse unter Einschluss der so-

fortigen Vollziehbarkeit eine wirtschaftliche Praxis hinsichtlich der Netznutzungsent-

gelte zu etablieren.157

Sollte die Einführung der sofortigen Vollziehbarkeit im Rahmen der Missbrauchsauf-

sicht auch in der kommenden Legislaturperiode scheitern, müsste sich der Gesetz-

geber wohl entschließen, wie in der Telekommunikation eine Ex-ante-Regulierung

mit sofortiger Vollziehbarkeit einzuführen, um die Vollendung eines liberalisierten

Binnenmarktes für Strom und Gas zu sichern. Wer dann die rechtsanwendende Be-

hörde ist, wäre eine andere Frage.

152 Monopolkommission, 14. Hauptgutachten, Rz. 873. 153 Brunekreeft, Keller, S. 21. 154 Koenig, Kühling, WuW 2001, S. 818; Kumkar, S. 25 f. 155 Diese Gefahr wird auch von der Monopolkommission gesehen, vgl. 14. Hauptgutachten, Rz. 800. 156 So auch Drillisch u.a., S. IV. 157 Klaue, BB 2001, S. 162 ff., allerdings unter weitreichender Kritik am Bericht der Arbeitsgruppe Netznutzung der Kartellbehörden des Bundes und der Länder.

39

Andere gehen davon aus, dass sich bei einer wirkungsbezogenen Betrachtung die

Unterscheidung zwischen Ex-ante- und Ex-post-Aufsicht weitgehend aufhebt.158 Die

Ex-post-Überprüfung des Verhaltens eines bestimmten Unternehmens führe nämlich

nicht nur – im Falle der Missbrauchsaufsicht – zu Sanktionen, die an dem vergange-

nen Verhalten dieses Unternehmens anknüpften, sondern setzten gleichzeitig die

Maßstäbe für die Beurteilung des aktuellen und zukünftigen Verhaltens aller übrigen,

der Aufsicht ebenfalls unterworfenen Unternehmen. Die präjudizielle Wirkung von

(ex-post) Verhaltensüberprüfungen bewirke eine Ex-ante-Verhaltensbeschränkung.

Zur Beantwortung der Frage, ob die missbräuchliche Überhöhung von Netznut-

zungsentgelten im Rahmen der allgemeinen kartellrechtlichen Missbrauchsaufsicht

oder durch einen Sektorregulierer bekämpft werden solle, trage die Unterscheidung

Ex-ante- und Ex-post Regulierung wenig bei. Für eine Beauftragung der Wettbe-

werbsbehörde spreche das Prinzip der Einheitlichkeit der Wettbewerbspolitik. Die

Bekämpfung von Preishöhenmissbrauch marktbeherrschender Unternehmen gehöre

zu den originären Aufgaben von Wettbewerbsbehörden. Für ihre Beauftragung spre-

che zudem ihr hoher Grad an Unabhängigkeit. Dasselbe gelte für die fortlaufende

Verhaltenskontrolle zur Bekämpfung von Behinderungsmissbrauch.

Hingegen könnte ein Vorteil der Ex-ante-Regulierung darin gesehen werden, dass

die Netzbetreiber selbst ein Interesse an der Entscheidung der Aufsichtsbehörde,

nämlich der Vorab-Genehmigung ihrer Netznutzungsentgelte, haben sollten. Sie soll-

ten folglich bestrebt sein, der Aufsichtsbehörde die erforderlichen Unterlagen zügig

und vollständig vorzulegen. Bei Missbrauchsverfahren besteht hingegen in vielen

Fällen weder Interesse an einer Entscheidung an sich, noch an einem zügigen Ver-

fahren, weshalb Netzbetreiber angeforderte Unterlagen nur sehr zögerlich vorlegen

und oft nicht geneigt sind, an einer zügigen Verfahrensführung mitzuwirken.

In der Praxis funktioniert dies jedoch auch im Rahmen der Ex-ante-Regulierung nicht

immer ohne Weiteres. So gibt es in der Telekommunikation zwar konkrete Vorgaben,

welche Unterlagen regulierte Unternehmen vorzulegen haben.159 Allerdings besteht

auch hier Streit darüber, welchen qualitativen und quantitativen Umfang diese Unter-

lagen haben müssen. So hat die RegTP bereits eine Reihe von Entgeltgenehmigun-

gen auf Vergleichsmarktbetrachtungen gestützt, weil anhand der vorgelegten Kos-

158 Drillisch u.a., S. 37 f. 159 § 2 Telekommunikations-Entgeltverordnung (TEntgV).

40

tenunterlagen die Kalkulation nicht daraufhin überprüft werden konnte, ob die bean-

tragten Entgelte sich an den Kosten der effizienten Leistungsbereitstellung orientie-

ren.160 Soweit im Rahmen der Ex-ante-Aufsicht eine Frist für eine Entscheidung vor-

gesehen ist, besteht für sämtliche Marktteilnehmer Transparenz und Planungssi-

cherheit. Letztere ist elementar, insbesondere für neu in den Markt eintretende Wett-

bewerber. Bei der Ex-post-Missbrauchsaufsicht nach dem GWB ist dagegen nicht

absehbar, wann eine Entscheidung ergehen wird.

Das Price-Cap-Verfahren, wie es etwa in den Niederlanden und dem Vereinigten Kö-

nigreich zum Ansatz kommt, hat gegenüber dem Vergleichsmarktkonzept im Rah-

men der nachträglichen Missbrauchsaufsicht den Vorteil, dass der Effizienzsteige-

rungsanreiz stufenweise gesetzt wird, während eine Missbrauchsverfügung ad hoc

umzusetzen ist. Dies stellt nicht nur ein milderes Mittel gegenüber dem betroffenen

Netzbetreiber dar, sondern gewährleistet den Zugangspetenten eine Planungssi-

cherheit während der Price-Cap-Periode, da sie absehen können, zu welchem Zeit-

punkt eine Absenkung der Netznutzungsentgelte erfolgen wird. Diesen Ansatz sieht

zwar das allgemeine Wettbewerbrecht in Deutschland nicht vor,161 aber eine Ver-

gleichsbetrachtung mit einem effizienteren Unternehmen, unter Berücksichtigung nur

der objektiven, d.h. vom einzelnen Unternehmen nicht beeinflussbaren Unterschiede,

beinhaltet ebenfalls einen Effizienzsteigerungsanreiz.

Weiter ist zu bedenken, dass auch ein Regulierer für den Strom- und Gasbereich –

anders als bei Telekommunikation und Post - einer Vielzahl von Netzbetreibern ge-

genüberstünde. Aufgrund dieser Vielzahl bestehen gute Möglichkeiten, etwa über

Vergleichsbetrachtungen auch außerhalb der Anreizregulierung in Form eines Price-

Cap-Verfahrens, eine angemessene Ex-post-Regulierung durchzuführen. Die beste-

henden Strukturen in der leitungsgebundenen Energie dürften daher eher für eine

Ex-post-Aufsicht sprechen.

Die Untersagungsbefugnis im Rahmen der kartellrechtlichen Missbrauchsaufsicht

ermächtigt auch zum Ausspruch einer Erlösbegrenzung mit dem Ergebnis, dass der

Netzbetreiber seine Netznutzungsentgelte entsprechend abzusenken hat. Die Ge-

fahr, dass die Tenorierungsbefugnisse der Kartellbehörden nicht ausreichen, um eine

160 Z.B. Genehmigung von Zuführungs- und Terminierunsleistungen, die auf einem europaweiten Ver-gleichsmarkt basiert, RegTP, Beschluss vom 23.12.1999 - BK 4e-99-042. 161 So auch Bericht der Arbeitsgruppe Netznutzung Strom, S. 13.

41

Absenkung der Netznutzungsentgelte durchzusetzen, besteht folglich nicht. Bezüg-

lich der Überprüfung der Kalkulation der Netznutzungsentgelte hat das OLG Düssel-

dorf162 mittlerweile im einstweiligen Verfahren bestätigt, dass das Bundeskartellamt

befugt ist, Kostenunterlagen einzufordern, um eine Kostenkontrolle durchzuführen.

Ein Vorteil der Missbrauchsaufsicht durch die allgemeinen Kartellbehörden besteht

darin, dass die Einheitlichkeit der Rechtsanwendung gewahrt bleibt. Strukturelle

Probleme bestehen im diesem Zusammenhang bereits durch die nebeneinander be-

stehenden Prüfkompetenzen von Bundeskartellamt und RegTP. Diese Gefahr hat

der Gesetzgeber zwar erkannt und in § 82 TKG bestimmt, dass die RegTP bei der

Marktabgrenzung und der Feststellung einer marktbeherrschenden Stellung Einver-

nehmen mit dem Bundeskartellamt herzustellen sowie dem Bundeskartellamt Gele-

genheit zur Stellungnahme vor Abschluss von Verfahren zu geben hat. Dennoch gibt

es in einigen Bereichen unterschiedliche Auffassungen der beiden Behörden, insbe-

sondere wenn es um die Anwendung von § 19 GWB geht.163

Schließlich hängt die erforderliche Aufsichtsintensität auch vom Grad des umgesetz-

ten Unbundling ab. Je weiter das Unbundling erfolgt ist, umso geringer sind die An-

forderungen an die Aufsicht. So besteht bei einem eigentumsrechtlichen Unbundling,

bei dem der Netzbetreiber nicht mehr in den Konzern des Energieversorgers einge-

bunden ist, der geringste Anreiz für den Netzbetreiber, Zugangspetenten

missbräuchlich zu diskriminieren. Zudem besteht nicht das Problem konzerninterner

Kostenverschiebungen. Bei einem gesellschaftsrechtlichen Unbundling, bei dem der

Netzbetreiber noch zum Konzern gehört, ist ein solcher Anreiz aus Konzernsicht

noch immer gegeben. Am stärksten ist der Anreiz bei einem bloßen buchhalterischen

Unbundling, insbesondere wenn, wie dies in Deutschland (und Europa) der Fall ist,

keine Verpflichtung besteht, den Netzbereich vom Vertrieb zu separieren.

So übt beispielsweise die schwedische Regulierungsbehörde zwar lediglich eine Ex-

post-Aufsicht aus, allerdings ist dort das Missbrauchspotenzial aufgrund des weitge-

henden eigentumsrechtlichen Unbundling erheblich geringer als in Deutschland.

162 OLG Düsseldorf, Beschluss vom 22.04.2002, WuW 2002, S. 866, Kart 2/02 (V) und vom 08.05.2002, Kart 5/02 (V). 163 Z.B. ist dies bei der Beurteilung von Bündelprodukten, bei Einspeiseentgelten für Breitbandkabel und beim Mobilfunk der Fall.

42

4.4 Denkbare Weiterentwicklung des bisherigen Ansatzes

Die „Verrechtlichung“ der Preisfindungsprinzipien würde nicht die Anforderungen des

Richtlinien-Entwurfs164 erfüllen. Art. 16 Abs. 1 S. 2 des Entwurfs sieht vor, dass die

Netzzugangsentgelte bzw. die Methoden zu ihrer Berechnung von einer in Art. 22

Abs. 1 vorgesehenen nationalen „unabhängigen Stelle“ genehmigt werden, bevor sie

Gültigkeit erlangen. Diese Vorgabe müsste innerhalb der dafür vorgesehenen Frist in

nationales Recht umgesetzt werden. Art. 22 Abs. 1 S. 2 bestimmt, dass die zu be-

nennenden „unabhängigen Stelle“ von den Interessen der Elektrizitätswirtschaft un-

abhängig ist. Diese Unabhängigkeit läge beispielsweise bei der Task Force Netzzu-

gang, die die Verbändevereinbarungen „begleitet“ hat, nicht vor. Sie setzt sich zu-

sammen aus Mitarbeitern des BMWi sowie aus Vertretern aus der Energiewirt-

schaft.165 Eine Benennung der Task Force Netzzugang als Regulierungsbehörde im

Sinne des Art. 22 des Entwurfs käme somit nicht in Betracht; anders das Bundeskar-

tellamt, das aufgrund seiner Unabhängigkeit sowohl von der Elektrizitätswirtschaft als

auch von der Regierung hierfür prädestiniert ist.

Angesichts der Struktur in Deutschland mit einer großen Vielzahl von Netzbetreibern

erscheint es insgesamt sinnvoll, nicht die einzelnen Netznutzungsentgelte vorab zu

genehmigen, sondern die Methoden zu ihrer Berechnung. Das Bundeskartellamt be-

schäftigt sich seit längerem mit den Berechnungsmethoden für die Netznutzungsent-

gelte.166 Eine hinreichende fachliche und personelle Ausstattung vorausgesetzt,

könnte das Bundeskartellamt die von den Verbänden erarbeiteten „Preisfindungs-

prinzipien“167 auf ihre Vereinbarkeit mit dem Kartellrecht überprüfen, entsprechend

modifizieren und im Sinne des Richtlinienentwurfs genehmigen. Damit wären die

Vorgaben des Art. 16 Abs. 1 i.V.m. Art. 22 Abs. 1 des Entwurfs erfüllt.

Diese Vorgehensweise würde zu einer Erleichterung der Ausübung der Aufsicht für

Gerichte und Kartellbehörden führen. Zudem könnte dem strukturellen Problem der

Vielzahl von mehreren hundert Netzbetreibern begegnet werden. Netzbetreiber

164 Europäische Kommission, revidierter Vorschlag zur Änderung der Richtlinien 96/92EG und 98/30/EG über die Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und den Erdgasbinnenmarkt vom 7. Juni 2002, KOM(2002) 304 endgültig. 165 Derzeit sind ca. 1/3 der Beschäftigten in der Task Force Netzzugang Beamte des BMWi, 2/3 von Unternehmen und Verbänden der Energiewirtschaft entsandte Mitarbeiter. 166 Beispielsweise im Bericht der Arbeitsgruppe Netznutzung Strom, S. 27 ff. 167 Überarbeitete Anlage 3 zu VV II plus vom 13.12.2001.

43

müssten dieselben Kalkulationsgrundsätze anwenden, und eine Aufsichtsbehörde

bräuchte nicht unterschiedlichste Kalkulationsansätze zu überprüfen.

4.5 Fazit

Letztendlich ist weniger von Bedeutung, welche Behörde die Regulierungsaufgaben

wahrnimmt, als vielmehr welches rechtliche Instrumentarium ihr zur Verfügung steht,

ob sie unabhängig und sachlich und personell hinreichend ausgestattet ist.

§§ 19 Abs. 1 und 4, 20 Abs. 1 GWB ermöglichen den Kartellbehörden eine effektive

Missbrauchsaufsicht. Sie sind danach befugt, sowohl Vergleichsmarktbetrachtungen

als auch Kostenprüfungen durchzuführen, um in konkreten Einzelfällen Netznut-

zungsentgelte auf Missbrauch einer marktbeherrschender Stellung hin zu überprü-

fen.168 Die Effizienz dieser Vorschriften könnte durch einen gesetzlich verankerten

Sofortvollzug kartellbehördlicher Verfügungen in der leitungsgebundenen Energie

noch maßgeblich gesteigert werden.

Das Bundeskartellamt geht davon aus, dass es sich bei den derzeit anhängigen Ver-

fahren um Präzedenzfälle handelt, deren Abschluss weitreichende Signalwirkung

haben wird. Dies betrifft das Verhalten nicht direkt betroffener Unternehmen ebenso

wie die Verwaltungspraxis der Landeskartellbehörden und die zivilrechtliche Gel-

tendmachung einschlägiger Ansprüche durch Netzzugangspetenten.169

Allerdings kann das Bundeskartellamt die derzeit anhängigen Missbrauchsverfahren

nur dann zügig durchführen, wenn es personell und sachlich besser ausgestattet

wird.

168 Bezüglich Kostenprüfungsbefugnis siehe OLG Düsseldorf, Beschluss vom 22.04.2002, WuW 2002, S. 866, Kart 2/02 (V) und vom 08.05.2002, Kart 5/02 (V). 169 So im Ergebnis auch Drillisch u.a., a.a.O., die davon ausgehen das die präjudizielle Wirkung von (ex-post) Verhaltensüberprüfungen eine Ex-ante-Verhaltensbeschränkung bewirke.

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