Markus Semm Juden und Deutsche, oder: Die Vernichtung des Modell-Hindernisses (modèle obstacle)....

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Markus Semm Juden und Deutsche oder Die Vernichtung des Modell- Hindernisses (modèle obstacle) Eine Montage „Jedes Volk glaubt zu einem gewissen Zeitpunkt seiner Geschichte, es sei auserwählt. Dann gibt es sein Bestes und sein Schlimmstes.“ E. M. Cioran, Cahiers 1957-1972, Frankfurt 2001, S. 178. „Die Rede von der Einzigartigkeit jüdisch-deutscher Symbiose beruht in der Regel noch auf jener Usurpation des Erwählungsbegriffes, nach der ,deutsch‘ und ‚jüdisch‘ Eliteformen der Menschheit beschreiben, denen ein universaler Führungsanspruch zukommt.“ J. Maier, Geschichte der jüdischen Religion, Berlin 1972, S. 528.

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Markus Semm Jews and Germans, or: The annihilation of the model-obstacle„Jedes Volk glaubt zu einem gewissen Zeitpunkt seiner Geschichte, es sei auserwählt. Dann gibt es sein Bestes und sein Schlimmstes.“E. M. Cioran, Cahiers 1957-1972, Frankfurt 2001, S. 178.„Die Rede von der Einzigartigkeit jüdisch-deutscher Symbiose beruht in der Regel noch auf jener Usurpation des Erwählungsbegriffes, nach der ,deutsch‘ und ‚jüdisch‘ Eliteformen der Menschheit beschreib

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Markus Semm

Juden und Deutsche oder

Die Vernichtung des Modell-Hindernisses

(modèle obstacle)

Eine Montage

„Jedes Volk glaubt zu einem gewissen Zeitpunkt seiner Geschichte, es sei auserwählt. Dann gibt es sein Bestes und sein Schlimmstes.“

E. M. Cioran, Cahiers 1957-1972, Frankfurt 2001, S. 178.

„Die Rede von der Einzigartigkeit jüdisch-deutscher Symbiose beruht in der Regel noch auf jener Usurpation des Erwählungsbegriffes, nach der ,deutsch‘ und ‚jüdisch‘ Eliteformen der Menschheit beschreiben, denen

ein universaler Führungsanspruch zukommt.“

J. Maier, Geschichte der jüdischen Religion, Berlin 1972, S. 528.

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Vorwort Im Folgenden ist eine Anzahl von Zitaten, Bildern, Faksimiles, Diagrammen und wenige eigene – z.T. überleitende – Kommentare zusammenmontiert. Im Bereich der Kunst würde man von einer Collage sprechen, die ein neues Ganzes aus Teilen verschiedener Herkunft zusammenleimt. An die Stelle des Leims tritt bei der Montage das Scharnier. Das Ganze wäre dann ein Konstrukt, das sich zum Beispiel an einer beliebigen Stelle bewegen ließe, wobei der Rest sich auf bestimmte Art mit bewegen würde. Müsste ich über die Präsentationsweise entscheiden, würde ich ein Le-porello-Heft als die geeignetste vorschlagen. Wie der Titel anzeigt, steht hinter der Auswahl der einzelnen Passagen eine Theorie – die mimeti-sche Theorie René Girards. Wer Girard nicht kennt, findet in dem Buch von W. Palaver über Girard im dritten Abschnitt über das mimetische Begehren eine gute Einführung1. Girard bean-sprucht für seine Theorie nichts Geringeres als den Titel einer Fundamentalanthropologie: so lautet die Überschrift des ersten Buchs seiner Zusammenstellung ,Das Ende der Gewalt‘2. Diesem Buch ist ein Leitspruch vorangestellt, der hier wiederzugeben ist:

„… ja gerade dadurch unterscheidet sich der Mensch von den anderen Lebewesen, dass er die größte Fähigkeit zur Nachahmung (mímesis) hat …“

Aristoteles, Poetik 4, 1448b 6-7 Man beachte, dass Aristoteles den Menschen (ánthropos) in diesem Zitat zwar von den anderen Lebewesen (zóon) unterscheidet, die Hinsicht aber nicht eine qualitativ-absolute ist, sondern le-diglich darin besteht, dass ihm die größte Fähigkeit zur Mimesis zugewiesen wird. Die Fundamen-talanthropologie Girards ist also, wenn man so will, eine Fortsetzung der Zoologie in der Richtung des Menschen. Tatsächlich spricht Girard denn auch wiederholt über den Vorgang der ,Hominisation‘, der Menschwerdung, die er u.a. auf die sich verstärkende Aneignungsmimesis (mimésis d’appro-priation) zurückführt. Ich hebe diese Theorieabkunft deshalb hervor, weil wir dadurch in Stand gesetzt werden, den von den Deutschen verübten Judenmord unter quasi-naturwissenschaft-lichen Kategorien erklären zu können, statt, wie das bisher meist geschehen ist, ihn glauben verste-hen zu müssen. Ich vergesse dabei nicht, dass man längst schon von den ‚verkannten Brüdern‘, den ‚Doppel-gängern‘, der ‚Auserwähltheitskonkurrenz‘ etc. bezüglich des jüdisch-deutschen Knotens gespro-chen und geschrieben hat. Die Spitze der vorliegenden Montage – ihr Sinn – liegt aber eben da-rin, die Unausweichlichkeit der Vernichtung des Modell-Hindernisses plausibel zu machen. In einer Welt ohne Gott muss der aus dem Boden gestampfte und herbeigezwungene deutsche Gott seinen tausende Jahre alten Widersacher – den Gott der Juden – zwangsläufig aus dem Weg räumen. Zürich, im Sept. 2012 [email protected]

1 W. Palaver, René Girards mimetische Theorie, Wien 2008 (3. Aufl.), S. 55-181. 2 R. Girard, Das Ende der Gewalt, Freiburg 2009, S. 25. Original: ders., Des choses cachées depuis la fondation du monde, Paris 1978.

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INHALT Doppelfeuer .................................................................................................................................................. 1 Judenzarathustra ........................................................................................................................................... 1 Wir Juden? ..................................................................................................................................................... 3 René Girard ..................................................................................................................................................... 4 Wir Deutschen? ............................................................................................................................................ 5 Rosenzweigs Hinweis .................................................................................................................................. 5 Birnbaum (1918) || Speer (1938) .............................................................................................................. 7 Eine Bemerkung Klemperers zu Rosenzweig .......................................................................................... 7 Judentum und/oder Deutschtum .............................................................................................................. 8 Der Stachel Nietzsche.................................................................................................................................. 9 Juden / Germanen ....................................................................................................................................... 9 Georges Zurechtweisung. ......................................................................................................................... 10 Auserwähltheit und Schweigen ................................................................................................................ 11 Hinweis auf Tönnies .................................................................................................................................. 11 Das einzige Volk ......................................................................................................................................... 12 “Moses throwing blood” ........................................................................................................................... 12 Erwählungsgnade ....................................................................................................................................... 13 Eine kluge Bemerkung Carl Schmitts ...................................................................................................... 13 Wassermanns Traum ................................................................................................................................. 13 Nachahmung und Assimilation ................................................................................................................ 13 Zion als Modell für das Deutsche Reich ................................................................................................. 14 Fichte || Buber .......................................................................................................................................... 15 Der Bruch .................................................................................................................................................... 15 Gestern Jude, heute Deutscher ................................................................................................................ 16 Das Blut beginnt zu sprechen .................................................................................................................. 18 Beer-Hofmann (1897) || Vesper (1931). ............................................................................................... 18 Ein Fundstück ............................................................................................................................................. 19 Blut als Exklusionskriterium ..................................................................................................................... 21 Zittern und Beben ...................................................................................................................................... 21 Die Selbstevidenz der Stimme des Blutes ............................................................................................... 21 Die Juden, die Deutschen ......................................................................................................................... 22 Gott und Volk............................................................................................................................................. 22 Die Negativ-Offenbarung von Nürnberg ............................................................................................... 22 Plessners rückblickende Erkenntnis ist unser Ausgangspunkt ............................................................ 27 Drei Nachbemerkungen .................................................................................................................................. 28 Ad Derrida ................................................................................................................................................... 28 Innerste Erregung und weiteste Erschütterung ..................................................................................... 28 Hindernisvernichtung. Fichte. .................................................................................................................. 29

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Doppelfeuer. – „Der [jüd.] Wanderbund [Blau-Weiß] ist, … , ein Paradoxon. In deutschen Wäl-dern klingen hebräische Lieder, auf dem Hügel, wo gestern die Sonnwendfeuer der Germanen brannten, flackern heute die Chanukkafeuer der Juden. Es ist eine unentrinnbare Paradoxie.“1 Deutsche Wandervögel und jüdischer Wanderbund: Auf beiden Seiten glüht ein Feuer – das Feu-er der Gemeinschaft. Lieder werden angestimmt. Doch andere. Was geschieht, wenn sie sich zu nahe kommen? Gegenspielerfeuer. Gegenspielerlieder. Judenzarathustra2. – „An mein Volk. Es ist die Stimme eines Rufers: Wehe denen, die da Kul-tur an sich gesogen haben und Bildung in ihrem nagenden Herzen, die ihrem Volke Bildung brachten und ihren Brüdern Verderben und Tod. Willst du sterben – ruft dein Gott, so gehe hin auf dieser Bahn, weiter, weiter, bis an des Todes Pforten. Wehe denen, die mit Bildung ein Volk beleben wollen, das da am Grabesrande stand: Nie wird ihr Werk gelingen – spricht der Geist –, und ihre Hände sollen verdorren. Denn sie raubten meinem Volke die Schöpferkraft, und selige Gottesgewissheit nahmen sie ihm fort. Darum – spricht der Gott der kommenden Geschlechter – will ich meinen Fluch geben über die, die mein Volk führen zur Verwirrung, die es verführen auf den unedlen Weg. Kein Friede mit den Gebildeten – spricht mein Gott. Ihr Völker und Nati-onen, die ihr gesund bleiben wollt, an Leib und Seele, bleibet fern den Stätten der Kultur. Ihre Wege seien nicht eure Wege, und einen heiligen Krieg entfachet gegen sie. Denn es ist dies eure Todeskrankheit, ihr vom Hause Israel, dass ihr zu viel der Bildung habt und allzuviel der schlim-men Wege ihrer Lande. Werdet, was ihr wart, das ist, werdet natürlich, denn dies ist euer Heil und eure Rettung allein. »Verflucht sei, wer diesem Volke die Segnungen der Kultur beibringen will und es fortführt von seinem geraden Wege – und das ganze Volk spreche: Amen.« Ihr seid Orientalen und nicht Europäer, ihr seid Juden und Menschen, nicht Deutsche und Dekadente, euer Gott heißt Haschem und nicht der Bauch, darum sollt ihr auch nicht auf ihren Bahnen wan-deln. Denn was euch Licht ist, ist ihnen Finsternis, und was euch heilig heißt, ist ihnen ein Greu-el. Ihr sollt fortgehen, die ihr Europa satt bekommen habt, spricht euer Gott. Habt ihr denn nicht Eigenes genug, dass ihr leihen geht bei Fremden, dass ihr eure Waffen schmiedet bei euren Fein-den. Das ist euer Verhängnis, dass es euch nicht gegeben war, den hereinbrechenden Son-nenstrahlen einer fremden Welt einen eigenen Himmel entgegenzusetzen. Ihr machtet Bankrott, oder ihr machtet, und das ist noch schlimmer, Kompromisse. Denn, so sagtet ihr, man muss nicht mit dem Kopf durch die Wand rennen wollen, der Kopf geht drauf dabei! Wir aber, das kommende Geschlecht, wir meinen dies, dass es not tut, sich aufzuraffen und Neues empor-sprossen zu lassen aus fruchtbarem Boden. Wir glauben, dass wir mit dem Kopfe gegen die Wand rennen müssen und dass die Wand entzweigehen wird und nicht unser Kopf. Einer der ersteren Ansicht heißt Assimilant in unserem Jargon, einer der zweiten Zionist, das ist Mauerren-ner und Schwärmer. Wir glauben, dass ein Volk nur so lange leben kann, wie es nichts von der Kultur hört. Dekadenz und Kultur sind Synonyma. Es kommt Chanukka [Hebr.: Einweihung] heran, das Fest der Schwärmer, die da zum ersten Male durch die Wand gerannt sind mit ihren Köpfen und obsiegten. Sie waren ganz. Sie waren nicht dekadent, denn sie hatten dem Grie-chentum einen eigenen Himmel entgegenzusetzen – als die Griechen ihren schon verloren hat-ten!! Das ist auch unsere Aufgabe. Die Kultur in ihrem anrüchigen Sinne in Europa zu lassen und dort drüben, wo unsere Herzen sind, ein echtes Volk zu schaffen ohne diesen Lug und Trug, es ist unsere Aufgabe: die Tat, die erlösende Tat – denn nur Taten erlösen – zu vollbringen. Mit dem Kopfe gegen die Wand zu rennen und nicht nur zu glauben, nein, zu wissen, dass sie ein-stürzen wird, das ist auf uns gelegt. Wenn ihr wollt – dies Wort hat der [Herzl] uns hinterlassen, der unserer Bewegung nur eins gab, und das war: die heroische Sehnsucht – er gab es uns unbe-wusst, doch was er uns bewusst gab, damit war nichts anzufangen – und uns ist es gesagt worden,

1 Scholem, Tagebücher I, Frankfurt 1995, S. 197; 12.12.15. 2 Ebd., S. 52; 17.11.14. Der Ausdruck ‚Judenzarathustra‘ stammt von G. Scholem. Zu Nietzsches ‚Buch für Alle und Keinen‘ heisst es: „… es ist in der Tat eine neue Bibel. Jawohl, so etwas zu schreiben, das ist ein Ideal für mich. Das ist es. Einen Judenzarathustra … eines modernen (im tiefen Sinne modernen) Juden zu schreiben, wer das könnte …“.

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damit wir zur Tat schreiten sollten um unseres Volkes willen. Unseres Volkes Glaube sagt, der Messias werde kommen, wenn alle wieder im Lande ihrer Väter sind, oder umgekehrt. Ja, wenn wir alle, einer nach dem anderen, die Tat getan haben, wenn wir die Nacht verdrängten, weil der Morgen uns begehrte, dann wird mit dem letzten auch der Erlöser kommen als Siegel und Ziel, dass er Kunde gebe von dem Erreichten und Weg weise einer neuen Zukunft. Nicht die Tat ist der Messias, aber er wird durch sie. Der neue Himmel und das neue Jerusalem mögen auch einen neuen Gott finden, einen erneuerten, denn mit seinem Volke wandert Gottes Herrlichkeit, und mit ihm wandelt sie sich. Wir wollen nicht das Geschlecht sein, das in der Wüste stirbt, wir wol-len Heilig Land erblicken von den Bergen der Sehnsucht. Wir gehen im Dunkel, aber wir glauben an das Licht hinter dem waldbedeckten Berge. Wo ist der Engel, dass er uns geleite, und Gottes Bote, uns zu führen? Wir sind der Wanderung müde, denn sie war zu lang, und alles Teure haben wir auf ihr verloren. Denn unsere Väter hatten einen Himmel und große Sterne, die ihr Auge sah. Sie strauchelten auf ihrem Wege nicht, da doch sein Ziel sie wussten: Gott. Doch wir, wir haben das alles verloren, dem Fremden zuliebe. Chukkat goijim [Gesetzlichkeit der Nichtjuden] . . . Ja, wir. Zukunft und Hoffnung Israels.“3 Scholem, noch nicht 17 Jahre alt, imitiert den Bergprediger Zarathustra. Nur möglich in der tiefen Versunkenheit in der Grundstimmung der jüdischen Renaissance. Bar Kochba (Prag), G. Landauer, M. Buber – damals noch Leit- und Vorbilder.4

3 Scholem, Tagebücher I, S. 61-63; 26.11.14 4 Vgl. zum verleugneten jugendlichen Nietzscheanismus Scholems und der später versuchten Rezeptionssteuerung: H. Kopp-Oberstebrink, Ein Kapitel aus der intellektuellen Frühgeschichte Gershom Scholems; in: Jüdischer Nietz-scheanismus, herausgegeben von Werner Stegmaier, Daniel Krochmalnik, Berlin 1997, S. 90ff.

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Wir Juden?

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„Wir sind an Feinden reich. Und reich fühlen sich unsere Feinde durch uns, beglückt, dass sie es mit uns aufnehmen: und wenn sie uns noch so fluchen und es vor sich verbergen. Wer ist in un-seren Tagen ideell mehr befriedigt, wer predigt sich selbst mehr mit naivem Glauben, als der Ju-dengegner? und nicht nur der schlechteste. … Jene genügen nur darum sich selbst: Jene erhalten erst durch uns eine Art von Persönlichkeit: sie sind geistig passiv, erst durch uns erhalten sie den An-stoß und wir füllen ihnen erst ihr Dasein aus. … An uns erprobt sich das selbstische Wesen jedes Volkes, dem wir uns die Gastfreundschaft abbaten; … [H.v.m.]“ (S. 11f.) René Girard. – „Es gibt eine Leidenschaft, ein intensives Begehren von dem Augenblick an, in dem sich unsere vagen Bestrebungen auf ein Modell konzentrieren, das uns vorführt, was man begehren sollte, wobei es dies meis-tens selbst begehrt. Dieses Modell kann die gesamte Gesellschaft sein, … , die wir bewundern. Alles, was die Menschheit als prestigeträchtig ansieht, macht sie zum Modell. … Was man »Begehren« oder »Leidenschaft« nennt, ist nicht zufällig oder manchmal, sondern immer mimetisch, das heißt nachahmend. Unser Begehren kenn-zeichnet nicht unser tiefstes Wesen, sondern hat einen fremden Ursprung. Es ist vor allem sozial … Die Nach-ahmung ist das dynamischste Element der menschlichen Intelligenz; … Sobald wir begehren, was ein uns in Raum und Zeit ausreichend nahes Modell begehrt, bemühen wir uns, damit uns das von ihm begehrte Objekt erreichbar wird, ihm dieses Objekt abzunehmen, so dass es zwischen ihm und uns unvermeidlich zu Rivalität kommt. … Hier handelt es sich um mimetische Rivalität. Sie kann eine außerordentlich hohe Intensität erreichen. Sie ist verantwortlich für die Häufigkeit und Stärke menschlicher Konflikte – sonderbarerweise spricht indes nie jemand von ihr. Selbst vor den Hauptbetroffenen verbirgt sie sich mit allen Mitteln, und meistens gelingt ihr das auch.“5

5 Auszüge aus: R. Girard, Gewalt und Gegenseitigkeit. In: Sinn und Form 54/4, Juli/August 2002.

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Wir Deutschen?

Rosenzweigs Hinweis. – Seltsam ist, dass noch keine der unzähligen Studien zum jüdisch-deut-schen Knoten ihren Ausgangspunkt von einer Passage nahm, die sich an prominenter Stelle in

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Rosenzweigs Werk ‚Stern der Erlösung‘ findet: Gegen Ende des ersten Buches des dritten Teils, überschrieben mit ‚Das Feuer oder das ewige Leben‘ – jenem bekannten Hymnus an das Juden-tum – setzt R. auseinander, warum der Staat für immer der bloße „Nachahmer und Nebenbuh-ler“ des ewigen Gottesvolkes bleiben muss. An seine Freundin Margrit Rosenstock schreibt er am 8.1.1919: „Ich bin also mitten drin … in diesem Schluss des ersten Buchs“ und es würde wohl noch eine „richtige kleine Staatslehre“6 daraus werden. Wenn man weiß, dass R. sich wäh-rend seiner Studienzeit intensiv mit Hegel beschäftigt hat – daraus seine Doktorarbeit ‚Hegel und der Staat‘ entstand – wird klar, wie wichtig diese Schlusspassage für ihn werden muss. Hier ist der Ort, wo sich R. gegen seinen theoretischen Übervater Hegel zu seinem Judentum nun bekennen, – und sich zu jener großangelegten protestantischen Geschichtsphilosophie in Stellung zu brin-gen hat. Statt Hegel und der Staat muss die Wahrheit nun heißen: Rosenzweig und das ewige Volk. Auf den drei Seiten der kleinen und bemerkenswerten – aber nur fern an Hegel erinnernden – Staats-lehre, wird konsequent die vergebliche Bemühung des Staates, sich Ewigkeit zu verschaffen, ex-poniert. Gegenüber dem rituellen Kreislauf des Jahres, der dem ewigen Volk seine Ewigkeit ver-sichert, scheitern die Beständigungsversuche des Staates, denn es gelingt ihm nur gelegentlich, Kerben in das Fließen der Zeit – die dann Epochen heißen – zu schlagen7. So ist und bleibt das originale, von weltlicher Politik nie zu erreichende Vorbild der Ewigkeit: das ewige Volk. An ihm, so Rosenzweig, arbeiten sich die dauernd-feste Form im Staate suchenden Völker der Weltge-schichte vergeblich ab: „Und darum muss die wahre Ewigkeit des ewigen Volkes dem Staat und der Weltgeschichte allzeit fremd und ärgerlich bleiben. Gegen die Stunden der Ewigkeit, die der Staat in den Epochen der Weltgeschichte mit scharfem Schwert einkerbt in die Rinde des wach-senden Baums der Zeit, setzt das ewige Volk unbekümmert und unberührt Jahr um Jahr Ring auf Ring um den Stamm seines ewigen Lebens.“ Welch souveräner Standpunkt ist damit erreicht! Und welche Blamage für die geschichtlich-weltlichen Versuche der Gojim, die, immer unterwegs, nie ans Ziel ihrer ersehnten Beständigung kommen! Es sind verschiedene Beweggründe und Voraussetzungen, die R.‘s Darstellung durchziehen. Erstens ist da die Annahme, dass die Völker überhaupt ihr Ziel darin suchen, sich in Staaten zu formieren um als solche an der Weltgeschichte teilhaben zu können (Hegel). Zweitens wird sug-geriert, dass die Völker einem Selbstverewigungswunsch unterliegen, und nicht etwa – entgegen Hegels Auffassung – in ihrer Zeit die ihnen bestimmte Aufgabe erfüllen um danach wieder aus dem Lauf der Weltgeschichte auszuscheiden. Und exakt hier unterliegt Rosenzweig einer Pro-jektion. Entgegen der seit Spinoza geläufigen Relativierung des jüdischen Momentums in der Welt-geschichte, setzt er Israel wieder als das eine, einzige, ewig auserwählte Volk Gottes an. Wie nun aber – und gegen diese Gefahr ist R.‘s Apologie nicht gefeit – , wenn aus der Völker-Schar der Gojim eines ausschert und es unternimmt, nicht mehr, wie vorgesehen, im Staat sein Heil zu su-chen, sondern als Volk, unter Behauptung der Ebenbürtigkeit, dem einzigen Volk entgegen zu treten? Und weiter: Würde nicht erst dann der Nachahmer und Nebenbuhler – von R. auf den Staat gemünzt, jetzt aber als Volk sich formierend – wirklich gefährlich? Undenkbar für die Juden, her-beigezwungen durch die Deutschen, regiert diese sich aufschaukelnde mimetische Rivalität bis zur Vernichtung des Modell-Hindernisses sodann die Geschichte.

6 F. Rosenzweig, Die „Gritli“-Briefe, Tübingen 2002, S. 216. 7 F. Rosenzweig, Stern der Erlösung, Frankfurt 1988, S. 369-372.

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Birnbaum (1918) || Speer (1938)

DER LICHTDOM IM JAHR 1938 AUF DEM REICHSPARTEITAGSGELÄNDE IN NÜRNBERG (A. SPEER)

Eine Bemerkung Klemperers zu Rosenzweig. – Der Jude Victor Klemperer, der die Zeit des Nationalsozialismus nur überlebte, weil er mit einer Deutschen (oder damals: einer Arierin) ver-heiratet war, notierte am 24. Juli 1944 in sein Tagebuch: „Rosenzweig schreibt … im Oktober 1918, er könne nur eine Jüdin heiraten, einerlei ob Zionistin oder sonstwas u. selbst die »indiffe-renteste«. »Und wenn sie vom ganzen Judentum weiter nichts weiß als das Wort ‚Risches‘8«. Eine »geborene Christin« könnte das ja nie sprechen. Gewiss könne Liebe »die Gegensätze überbrü-cken«. »Aber sie sollen gar nicht überbrückt werden.« – – [Klemperer kommentiert:] Das ist das genaue Pendant zum Rassendenken der Natsoc. Wer hat den andern da hineingestoßen?“9 Tat-sächlich ist es auch für einen nichtjüdischen Leser Rosenzweigs nicht einfach, zu begreifen, wie er im Jahr 1920 die jüdische Religionslehrerin Edith Hahn ehelichen konnte. Die klagenden Brie-fe an seine Freundin Margrit Rosenstock über die immer wieder über Abgründen schwebende Ehe sprechen eine deutliche Sprache. Dennoch hat Rosenzweig aus prinzipiellen Gründen den Hausstand mit einer Frau gesucht, die Jüdin ist. Die Befolgung des jüdischen Dogmas der Reinheit

8 ‚Risches‘ ist das althergebrachte jüdische Codewort für alle Arten von antisemitischen Aktivitäten und Vorurteilen. 9 V. Klemperer, Tagebücher, Berlin 2007, CD-ROM Ausgabe. – Die Passage in Rosenzweigs Brief lautet vollständig: „Ob meine Frau ‚meine Auffassung‘ vom Judesein hat, das ist mir wirklich sehr gleichgültig. Was gebe ich auf meine Auffassung! Meinetwegen mag sie zionistische oder sonstwelche Auffassungen haben, wenn sie nur Jüdin ist. Eine Ehe wird ja nicht zwischen zwei ‚Auffassungen‘ geschlossen, sondern zwischen zwei Menschen. Übrigens ist selbst die indifferenteste Jüdin mehr Jüdin als eine Christin je sein kann. Und wenn sie vom ganzen Judentum weiter nichts weiß als das Wort ‚Risches‘. Tatsächlich enthält dies Wort ja in nuce meine ganze ‚Auffassung‘. Aber wie könnte es eine geborene Christin sprechen? Die Liebe kann freilich die Gegensätze überbrücken. Selbstverständlich. Aber sie sollen gar nicht überbrückt wer-den.“ In: F. Rosenzweig, Briefe, Berlin 1935, S. 373.

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der Geschlechterfolge war ihm in seinem Leben letztlich wichtiger als flüchtige Gefühle wie ‚Liebe‘. Hier hakt Klemperer ein – denn er hat sich auf die Relativierung seines Judentums durch die Hei-rat mit einer Deutschen eingelassen. Deshalb stellt er die bange Frage: „Wer hat den andern da hineingestoßen?“ Etwa die Juden die Deutschen? Klemperer gibt darauf eine Antwort: „Sie sind beide gleichzeitig darauf gekommen, sie haben das Gift aus der gleichen Romantikwurzel.“ Judentum und/oder Deutschtum. – Die Frage steht im Raum: Wer hat da wen angestoßen? Welche Seite lockte die andere in die Konkurrenzarena um das vermeintlich originärere eigene Volkstum? Als Indiz lassen wir vorläufig eine Worthäufigkeitsstatistik sprechen. Der ‚Ngram Viewer‘ von Google Books gibt zur Frage folgende Kurven aus:

10 Zunächst einige Angaben zur historischen Plausibilisierung der beiden Kurven. 1. Der frühe Anstieg der J-Kurve von ca. 1898-1909 deutet auf das Schrifttum zur jüdischen Renaissance hin (Bar Kochba-Bewegung, Achad Ha’am, Kreis um Buber, Zeitschriften-gründungen). 2. Mit dem Beginn und exakt während des ersten Weltkrieges (1914-18) übertrifft die Kurve zum Deutschtum diejenige des Judentums, d.h. die primäre Sorge im deutschen Schrifttum während des Krieges galt der Heimat. 3. Dasselbe Phänomen beobachten wir beim Ausbruch des 2. Weltkrieges (1939). Auch hier übertrifft die D-Kurve – wenn auch nur für kurze Zeit – die Kurve zum Judentum. Diese Übereinstimmungen von Wortstatistik und historischen Situationen sprechen für die Verlässlichkeit des Google’schen Unternehmens. Zurückkommend auf unsere Frage – ‚Wer hat da wen angestossen?‘ – lässt sich sagen: Erstens ist die Rede vom ‚Judentum‘, d.h. vom Volkstum der Juden, die gängigere, die historisch belegtere, die ideologisch plausiblere (ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Rüge Rosenzweigs an die Adresse Cohens, der einem Artikel den Titel ‚Deutschtum und Judentum‘ (1915) gegeben hat) und zweitens hinkt die D-Kurve der J-Kurve stehts hinterher. Das gültige Modell eines Volkstums ist das jüdische. Die Deutschtumsideologie ist die historisch sekundäre Imitation des Primärmodells ‚Judentum‘. Diesen Zug der deutschen Wiederauferstehungsideologen erkannte Rosenzweig einmal richtig, als er 1919 an Margrit Rosenstock schrieb: „So billig wie die Blühers u.s.w. möchten, ist die »Verjudung« für ein Volk nicht zu haben. Die Deutschen sollen erst einmal versuchen, Christen zu werden. Dann wollen wir uns wiedersprechen.“11 10 Abgerufen am 10. Feb. 2012 unter http://books.google.com/ngrams/ ; smoothing=3. – Über die dahinterste-hende Technik dort mehr. In unserem Fall wäre etwa zu berücksichtigen, dass Texte zum Deutschtum gelegentlich in Frakturschrift veröffentlicht wurden – und, da die OCR-Programme von Google tendenziell an dieser Schriftart scheitern, die prozentuale Häufigkeit dieses Ausdrucks eher höher zu veranschlagen ist. 11 F. Rosenzweig, Die „Gritli“-Briefe, Tübingen 2002, S. 350; Brief v. 27.6.1919. Ich komme auf H. Blüher weiter unten zurück.

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Der Stachel Nietzsche. – „Ich liebe das »neue Testament« nicht, man erräth es bereits; es beun-ruhigt mich beinahe, mit meinem Geschmack in Betreff dieses geschätztesten, überschätztesten Schriftwerks dermaassen allein zu stehn (der Geschmack zweier Jahrtausende ist gegen mich): aber was hilft es! »Hier stehe ich, ich kann nicht anders«, – ich habe den Muth zu meinem schlechten Geschmack. Das alte Testament – ja das ist ganz etwas Anderes: alle Achtung vor dem alten Tes-tament! In ihm finde ich große Menschen, eine heroische Landschaft und Etwas vom Allersel-tensten auf Erden, die unvergleichliche Naivetät des starken Herzens; mehr noch, ich finde ein Volk.“12 Es waren jüdische Leser, die Nietzsche zuerst für sich entdeckten. Liest man die zitierte Passage – und es gibt deren noch einige – stellt man sich zu Recht vor, wie die Rede Nietzsches wie warmer Honig in die Ohren der Juden floss. ‚Mehr noch, ich finde ein Volk.‘ Ja, das ist es: „Wir sind ein Volk, Ein Volk.“ (Herzl). Die zur Selbstbesinnung bereiten Juden fanden in Nietz-sches philosemitischen Äußerungen reichlich Nahrung; an ihm – mit ihm – lernten sie neue Achtung vor sich selbst. Achad Ha’am, dem ‚jüdischen Nietzscheanismus‘13 durchaus kritisch ge-genüberstehend, formulierte: „Wenn wir nun anerkennen, dass der letzte Endzweck der Über-mensch ist, so müssen wir auch gleichzeitig anerkennen, dass einen wesentlichen Teil dieses End-zwecks das Übervolk bilden muss: dass irgendwo in der Welt ein Volk existiere, dessen Geistesan-lagen es in höherem Maasse als die übrigen Völker für eine sittliche Entwickelung prädisponiert machen und dessen ganze Lebensführung von einer hohen, über den gewöhnlichen Durch-schnittstypus hinausragenden Ethik durchweg bestimmt werde, so dass dieses Volk den fruchtba-ren Boden bilde, der von vorne herein besonders günstige Wachstumsbedingungen für den Übermenschen besitzt.“14 Selbstverständlich kannten die jüdischen Leser Nietzsches dessen The-se vom jüdisch initiierten ‚Sklavenaufstand in der Moral‘, – aber die Gefühle des Glücks, die sie in der Lektüre eines Nicht-Juden und deklarierten Europäers über sich selbst vermittelt erhielten, ließ sie eine Zeitlang von einer anderen, gerechteren Zukunft träumen. Im Übrigen versäumten sie, die Rolle des Intimfeindes Paulus in den Schriften Nietzsches zu klären. Doch kamen Warner auf. Ein Rabbiner der spaniolischen Gemeinde in Bukarest schrieb 1914: „In den jüdischen Zei-tungen wurde der Bewunderer Israels, der rücksichtslose Bekämpfer des Antisemitismus gefeiert. Die Juden, die sich leider daran gewöhnt haben, die Zeitgrössen auf Seiten ihrer Feinde zu sehen, geraten in Ektase über jedes Wort der Anerkennung aus dem Munde einer gefeierten Persönlich-keit; sie denken nicht viel darüber nach, ob es eine so hohe Ehre ist, das klassische Volk der ‚Sklavenmoral‘ zu sein, und ob nicht andererseits die Nietzsche'sche Überschätzung der Juden als Herren-stamm die Faseleien der Antisemiten von der Gefährlichkeit und Macht der Juden legitimirt [H.v.m.].“15 Der Rabbi durchschaut die Dialektik: Angestachelt durch Nietzsches Lobpreisungen des Volkes Israel lassen sie sich verführen, brüsten sie sich zu sehr und erregen die Aufmerksamkeit der Deutsch-Völkischen, – diese, sich selbst als Adressaten von Nietzsches Reden verstehend, intensivieren den Kampf um die rechte Auslegung des Philosophen, bis sie mit Bäumler diesem eine bewusste Rezeptionssteuerung unterstellen: Er, Nietzsche, spiele absichtlich die Juden gegen die Deut-schen aus, „damit man ihn hört!“16 Damit die Deutschen ihn hören und das Volk der Juden als ihr Modell-Hindernis erkennen… Juden / Germanen. – „Die Juden und die Germanen: Nietzsche hört nicht auf, sie einander entgegen zu stellen, sie agonal in Konfrontation zueinander zu bringen, …“17 Sarah Kofman. Nietzsche mischt die Juden und die Deutschen gegeneinander auf: Er entzündet die Fackel und wirft sie in den Holzstoß.

12 F. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral (1887), III,22. KSA 5, S. 393. 13 Vgl. dazu: Jüdischer Nietzscheanismus, hrsg. v. Daniel Krochmalnik, Berlin 1997. 14 Ost und West, 1902, Heft 3 Teil I / Heft 4 Teil II, hier: S. 243. Der Übersetzer J. Friedländer bemerkt dazu: „Der vorliegende Aufsatz erschien zuerst in der vom Verfasser redigierten Monatsrevue ‚Haschiloach‘ (Band IV, 1898, Heft 2) als Entgegnung auf die nietzscheanischen Tendenzen, die sich seit einigen Jahren in der neuhebräischen Literatur geltend machen und die hauptsächlich an den Namen Dr. M. J. Berdyczewski’s anknüpfen. …“ 15 I. J. Niemirower, Frei und treu, Bukarest 1914, S. 100. 16 A. Bäumler, Nietzsche der Philosoph und Politiker, Leipzig 1931, S. 157f. 17 S. Kofman, Die Verachtung der Juden (Le mépris des Juifs, 1994), Berlin 2002, S. 18.

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Georges Zurechtweisung. –

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18 Faksimile aus: Blätter für die Kunst. Folge 3, Bd. 1, 1896, Januar, S. 31.

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Auserwähltheit und Schweigen. – Dem Judentum ist keine Dogmatik zu eigen; Dogmen wohl, aber keine Dogmatik. Rosenzweig: „Noch merkwürdiger wird die Sache, wenn man sich den Inhalt dieser Dogmen ansieht. Von Gott, von dem offenbarten Gesetz, von der messianischen Erlösung und von dem, was damit zusammenhängt, wird gehandelt: es fehlt der Gedanke, der das Judentum ganz durchdringt, der allein das Gesetz verständlich machen und allein die Erhal-tung des jüdischen Volks erklären kann, der Gedanke der Auserwähltheit Israels. Dieser wahre Zentralgedanke des Judentums, den etwa ein christlicher Forscher, von der Christologie her-kommend, an erster oder wenigstens unmittelbar nach der Lehre von Gott an zweiter Stelle in einer jüdischen Dogmatik zu finden erwarten würde, kommt z. B. in den Dreizehn Glaubenssät-zen des Maimonides, aber auch in seinem philosophischen Werk, das doch ein Führer für die an den Grundwahrheiten des Judentums Irregewordenen sein sollte, überhaupt nicht vor. Voraus-setzung des Denkens wie des Lebens ist er auch hier, wie überall; ausgesprochen wird er nicht; er ist selbstverständlich. Wohl sind Gebet und Gedicht unermüdlich, ihn wieder und wieder in Wor-te zu kleiden; wohl spiegelt die schriftdeutende Legende ihn in tausend Facetten; wohl senkt sich die Mystik tief in ihn hinein, bis zur mythologischen Hypostasierung: er wird Wort, Sinn, Gestalt, nur nicht dogmatische Formel, nicht – mit der einen großen, doch eben von all jenen andern Kräften mitgenährten, Ausnahme des Jehuda Halevischen Kusari-Philosophem. Das Dasein ist von ihm erfüllt und getragen, alle unmittelbare Äußerung des Daseins ist von ihm bewegt, – aber wenn das Bewusstsein sich über das bloße Dasein hinauszuschwingen sucht, verleugnet es ihn. Das hat tiefe Gründe und weitreichende Folgen. Eine geistige Gemeinschaft entzieht ihr in-nerstes Wesen hier der geistigen Belichtung. Das heißt doch: sie will nicht nur geistige Gemein-schaft sein, sondern sie will sein, was sie ja tatsächlich im Gegensatz zu andern, nur geistverbun-denen Gemeinschaften ist: eine natürliche Gemeinschaft, ein Volk. Die ungeheure Wirklichkeit des jüdischen Seins hat sich hier einen Selbstschutz geschaffen.“19 Schwierige Sätze, vielleicht nur einem Juden zugängliche Sätze. Dennoch gibt Rosenzweig Hinweise, wie die Auserwähltheit – dieser wahre ‚Zentralgedanke des Judentums‘ – zu denken ist: als verschwiegene Selbstverständ-lichkeit, als dem Dasein mehr als dem Bewusstsein zugehörig, als erlebbar allein in der natürlichen Gemeinschaft, dem Volk. Eine verschwiegene Unausgesprochenheit durchzieht die jüdische Gemeinschaft in ihrem Beisammensein – z.B. im Gebet. Dieses Volk hat als Ganzes die Offenba-rung am Sinai empfangen und deshalb gilt: „… praktisch ist die einem Volk gewordene Auser-wähltheit obwohl historisch dennoch an die Natürlichkeit des ‚Bluts‘ gebunden“20 Das stumme Blut garantiert dem jüdischen Dasein ‚von Geschlecht zu Geschlecht‘ seine stete Sicherheit des Auserwähltseins und die jederzeit mögliche Vergewisserung seiner selbst. Hinweis auf Tönnies. – Auch Ferdinand Tönnies kommt in seinem soziologischen Hauptwerk ‚Gemeinschaft und Gesellschaft‘ (1887) auf das in einer eng gelebten Gemeinschaft – vorzugs-weise der Familie – untergründig-konstitutive Schweigen zu sprechen. Er nennt es das „Ver-ständniss als gemeinschaftlicher Wille“ oder „Eintracht als Familiengeist“. Er schreibt: „Ver-ständniss ist essentiell schweigend: weil sein Inhalt unaussprechlich, unendlich, unbegreiflich ist. Wie Sprache nicht verabredet werden kann, wenn auch durch Sprache zahlreiche Zeichensysteme für Begriffe, so kann Eintracht nicht gemacht werden, wenn auch noch so viele Arten von Eini-gungen. Verständniss und Eintracht wachsen und blühen, wenn ihre Bedingungen günstig sind aus gegebenen Keimen hervor. Wie Pflanze von Pflanze, so stammt ein Haus (als Familie) vom anderen ab, entspringt Ehe aus ihrer realen Idee. Immer geht ihnen, sie bedingend und bewir-kend, nicht blos ihres Gleichen vorher, sondern auch ein darin enthaltenes Allgemeineres, und die Form ihrer Erscheinung. So ist aber auch in größeren Gruppen diese Einheit des Willens, als der psychologische Ausdruck des Bandes der Blutsverwandtschaft, wenn auch dunkler, vorhan-den, und wenn auch für die Individuen nur in organischer Ordnung sich mittheilend.“21 Der So-

19 F. Rosenzweig, Apologetisches Denken (1923), Kleinere Schriften, Berlin 1937, S. 31f. 20 F. Rosenzweig, GS 1.1, The Hague 1979, S. 158; Eintrag v. 20.6.1914. 21 F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, Leipzig 1887, S. 26.

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ziologe bleibt sich treu: Beobachtet wird ein „stillschweigendes Ein-verständniss“22; über Pflich-ten und Gerechtigkeit, über Gutes und Böses, darüber wird nicht geredet. Warum auch? Ist es doch gerade diese von allen geteilte und stillschweigend befürwortete einigende Eintracht, die der Gruppe ihre Kohärenz verleiht. Im vorsprachlichen und unterschwelligen Dunkel verbleibend sichert das stumme Band des Bluts die Einheit der einander Verwandten. Das einzige Volk. – „Für die Geschichte, ich meine nicht für ihre ,Erklärung‘ der ‚Ursprünge‘, sondern als in ihr lebendige Kraft, gibt es nur eine einzige Rasse, das ist die jüdische. Bei uns allein ist Volkstum und Blut (durch die Offenbarung) in eine unlösliche historische Beziehung gesetzt. – Bei allen andern Völkern ist nur das Volkstum, nicht das Blut historisch lebendig, das Blut bloß dunkle Prähistorie.“23 F. Rosenzweig. “Moses throwing blood on the Israelites at the giving of the Torah on Mount Sinai.” Bildbe-schreibung innerhalb des Buches.

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22 Ebd. S. 25. 23 F. Rosenzweig, GS 1.1, The Hague 1979, S. 156; Eintrag v. 14.6.1914. 24 Buchumschlag. Bildherkunft: Süddeutschland ca. 1290. – D. Biale, Blood and Belief, London 2007.

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Erwählungsgnade. – „Dadurch, dass das »Volk Israel« [Anm. 224] die Offenbarung erhielt, ist durch Heiligung des Blutes dem Volke Israel als Erwählungsgnade – die Würde der Empfänger-schaft ein Volksstamm aus der Welt herausgehoben und im Bundesschluss des Herrn (berith) – geschlossen schon mit Abraham, verkündet und besiegelt mit Moses am Sinai, erinnert und er-neuert durch Prophetie und Geschichte Israels – ist Israel zum Am kaudesch [heiliges Volk], zum Bundesvolk geworden. Die Auserwähltheit des Volkes Israel bedeutet die in der geoffenbarten Bundessatzung als immerwährende Wirklichkeit gegebene Anlage zum unvermittelten Offenba-rungsempfang.“ Anm. 224 (S. 75–76) lautet: „Weil Zionisten sowohl wie Antisemiten hier sofort falsch zu assoziieren pflegen, sei zur Verdeutlichung des Obigen ein kurzer Exkurs darüber ge-stattet, was uns »Volk Israel« bedeutet: Zunächst und wesentlich nicht das, was man im weltlich-politischen Sinne unter einem Volk versteht. Das »Volk von Priestern, ein heiliges Volk« hat im weltlichen Sinne gerade aufgehört Volk zu sein, um Gottesvolk zu werden, Gefolgschaft des Ewi-gen, das seiner »völkischen« Bestimmung immer nur dann genügt, wenn es der Bundessatzung Treue bewahrt. Das Phänomen »Am kaudesch« ist nur dann zu verstehen, wenn man es wesen-haft als Analogon zu den christlichen Kirchen versteht. Es muss dann aber auch die spezifische Eigenart des »Am kaudesch« gesehen werden, das – eben als Offenbarungsgemeinde mit einem biologischen Abstammungszentrum – niemals zur bloßen Konfession herabsinkt, sondern – wie die Kirche das Sakralinstitut der Christlichkeit ist – seine Sakralität im Blutserbe hat, weil eben durch die Erwählung Israels das Blut geweiht worden ist zum mittlerlosen Offenbarungsempfang und seiner Tradierung. Und in der Rückkehr zur Haltung des Glaubensgehorsams unserer Väter ist aller Same Israels mit erwählt und durch das Blut so auch noch die letzte Generation Juden zur Offenbarungsträgerschaft bestimmt. …“25 Eine kluge Bemerkung Carl Schmitts. – „In kleineren Vereinigungen, deren Mitglieder sich als Auserwählte, Heilige oder Erlöste betrachten, ist das Auserwähltsein, also die Ungleichheit nach Außen, für die Gleichheit innerhalb der Gemeinschaft eine besonders feste Grundlage.“26 Wassermanns Traum. – „Der Deutsche und der Jude: ich habe einmal ein Gleichnis geträumt, ich weiß aber nicht, ob es verständlich ist. Ich legte die Tafeln zweier Spiegel widereinander, und es war mir zumute, als müssten die in beiden Spiegeln enthaltenen und bewahrten Menschenbil-der einander zerfleischen. … Ich versuche, mein Gleichnis von den Spiegeln zu deuten. Dass eine Schicksals- und Charakterähnlichkeit vorhanden ist, leuchtet ein. Hier wie dort jahr-hundertelange Zerstückelung und Mittelpunktslosigkeit. Fremdgewalt und messianische Hoff-nung auf Sieg über alle Feinde und auf Einigung. Es wurde zu dem Behuf sogar ein deutscher Spezialgott erfunden, der, wie der jüdische Gott in den Gebeten, in allen patriotischen Hymnen figurierte. … Hier wie dort schließlich das Dogma der Auserwähltheit. [H.v.m.]“27 Nachahmung und Assimilation. Ein Text von Achad Ha’am (1893)28. – Der Text spricht un-mittelbar aus der Zeit in die Zeit hinein. Angeregt durch Gabriel Tarde, dessen soziologisches Hauptwerk ‚Les lois de l’imitation‘ kurz zuvor (1890) erschien, gibt Ha’am eine theoriegeleitete Interpretation des Judentums zwischen Assimilation und Zionssehnsucht. Er eröffnet mit der These, dass es in jeder Gesellschaft in den Anfangsstadien ihrer Entwicklung einen Mittelpunkt der Verehrung und die Nachahmung eines Oberhauptes, eines Beschützers oder eines „göttlichen

25 Hans-Joachim Schoeps, Jüdischer Glaube in dieser Zeit. Prolegomena zur Grundlegung einer systematischen Theologie des Judentums, Berlin 1932, S. 75-76. 26 C. Schmitt, Verfassungslehre [1928], Berlin 1957, S. 230. 27 J. Wassermann, Mein Weg als Deutscher und Jude, Berlin 1921, S. 119f. (Abschnitt 23) 28 Achad Ha'am, Am Scheidewege, Band II, Berlin 1913, S. 225–239. Online unter: http://www.zionismus.info/grundlagentexte/stroemungen/nachahmung.htm.

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Fürsten“ gegeben haben müsse. Indem die Mitmenschen diese ideale Individualität bis zur Selbst-entäußerung nachahmen, entsteht ein sozialer Körper, dessen Individuen als „Abklatsche eines einzigen Gesamttypus“ erscheinen. „Allein“, schreibt Ha’am, „die Nachahmung dieser Art, deren Mittelpunkt ein »zentraler« Mann bildet, verringert sich notwendig von Geschlecht zu Ge-schlecht.“ Indem sich ein generativer Zusammenhang ausbildet, d.h. es zur unmittelbaren Tradie-rung des Gesamtgutes der Gesellschaft kommt, sinken jene „zentralen Männer“ in die Vergan-genheit ab, sie verlieren aber ihren Status als „Schöpfer“ der Gesellschaft nicht, sie gelten nunmehr als die glorreichen „Ahnen“, denen man sich in demütiger Verehrung zuwendet usw. usw. Der Text wird hier nicht zur Gänze referiert. Sehen wir zu, wie Ha’am den Vorgang der Assimilation beschreibt. Ausgegangen wird von einer Gesellschaft innerhalb einer anderen Gesellschaft. Angenommen wird, dass die eine der Gesell-schaften die andere bezüglich der kulturellen Kraft und der Stufe ihrer Bildung überragt. Gemäß dem Gesetz der Nachahmung wird die schwächere sofort beginnen, die Vorreiter-Gesellschaft nachzuahmen. Ha’am: „Ein derartiger Zustand ist für die in ihm befindliche Gesellschaft mit der größten Gefahr ver-bunden. Die neue Selbstentäußerung vor der fremden Gesellschaft schwächt nach und nach die alte Selbstentäußerung vor den »Ahnen« ab. Das Nachahmungszentrum rückt allmählich von diesen zu jener hinüber und das Gefühl der nationalen und sozialen Zusammengehörigkeit geht, da es seinen Stützpunkt verloren hat, allmählich seinem Untergang entgegen. Die Gesellschaft gelangt schließlich zu jenem seltsamen Zustande einer wandelnden Ruine, der weder Tod noch Leben bedeutet, und ihre Mitglieder beginnen ihre individuelle Eigenart aus dieser seltsamen Lage dadurch zu befreien, dass sie mit der fremden Gesellschaft eine vollständige Assimilation einge-hen.“ Ha’am‘s Text ‚Nachahmung und Assimilation‘ kann als der Versuch verstanden werden, dieser „größten Gefahr“ der „vollständigen Assimilation“ Paroli zu bieten. Sein Rezept dazu lautet: konkurrierende Nachahmung29. Auf die Nachahmung wird keineswegs verzichtet, aber sie wird nur so weit zugelassen, als sie nicht das Eigene zum Verschwinden bringt. Die konkurrierende Nach-ahmung biegt vor der assimilatorischen Selbstentäußerung scharf ab und besinnt sich im ent-scheidenden Moment auf ihre eigenen Kräfte. – Also nicht, wie der Assimilationskünstler Her-mann Cohen einmal einen Aufsatz betitelte: Plato und die Propheten, sondern, eigener Linie fol-gend: Plato oder die Propheten. Zion als Modell für das Deutsche Reich. – „Liebe Freideutsche Jugend!“: so beginnt die wir-kungsmächtige Rede, die Hans Blüher im Jahr 1919 zuerst in Berlin (13. Jan.) und dann in Mün-chen und Hamburg vortrug. Gleich zu Beginn macht Blüher klar, dass es notwendig sei, wieder einmal „an den Kern der Dinge zu greifen“ und „einen Griff zu den übergeordneten Mächten zu tun.“ Der Appell geht an die unverbrauchten Kräfte der deutschen Jugend, deren Taten und Worte der „kommenden Welt“ einmal „Maßstab“ werden und „Richtung“ geben können: „An diese wende ich mich, und ich will von Ihnen wissen, ob Sie uns folgen wollen. Ich sage nicht mir, sondern uns, aber ich sage nicht, wer dieses Wir sind. Ich bin nur der Sendbote.“ 30 Blüher sieht sich in der Rolle des Propheten. Und was hat dieser Prophet zu verkünden? Man hat den Inhalt der Rede gelegentlich als „originelle, aber gleichsam schizophren ambivalente Betrachtung der Juden und ihre[r] Beziehung zu den Deutschen“ zu umreißen versucht31. Tatsächlich versucht Blüher, herkommend aus nahen Kontakten zu jüdischen Freunden – etwa M. Buber und G. Lan-dauer –, den Schwung der dort erlebten jüdischen Renaissance auf die ‚freideutsche Jugend‘ zu übertragen. So kommt er dazu, die Zionssehnsucht der Juden, die Sehnsucht nach der „Burg der

29 Lässt sich ‚konkurrierende Nachahmung‘ durch ‚mimetische Rivalität‘ wiedergeben? Ja und Nein: Den Theorien von Tarde und Ha‘am fehlt beiden die Einsicht in den aneignungshaften Charakter der Nachahmung / Imitation / Mimesis. Bei R. Girard bildet dieser den Ausgangspunkt der Analysen. 30 H. Blüher, Deutsches Reich Judentum und Sozialismus, München 1919. S. 5. 31 J. Neubauer, Am Scheideweg. Thomas Mann und Hans Blüher, München 1919. In: Poesie als Auftrag: Festschrift für Alexander von Bormann, Würzburg 2001, S. 173

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letzten Dinge“32 seinem Volk als Modell für die „Idee des Deutschen Reiches“ (S. 10) schmackhaft machen zu wollen. „Und ich sage Ihnen: Es gibt kein Volk, das uns Deutschen seinem Schicksal (nicht seinem Inhalte) nach verwandter ist als die Juden.“ (S. 7) Mit einem Handstreich werden die völkischen Bewegungen abgetan; sie verkennen den „wirklichen Kern … des germanischen Charakters“ (S. 14) – und weiter: „Der Völkische ist vergnügt über sein germanisches Blut, er macht mit Absicht, mit höchst verstimmender Absicht, germanische Werke, die natürlich durch-weg den Grundzug der Persiflage tragen, und Sie werden mir Recht geben, wenn ich behaupte: Noch niemals ist von dieser Seite her ein wirkliches Werk entsprungen. Ja, noch mehr: es ist nie-mals auch nur ein wirklich kluges Wort geredet worden.“(S. 14) Die Radikalität, mit der Blüher die lauwarmen und gutgemeinten völkischen Bestrebungen abkanzelt, ist kaum zu überbieten: „Was sind die schwächlichen Versuche, die alten Germanengötter mit oder ohne Symbolisierung wieder auf den Ton [wohl: Thron] zu setzen, gegen Zion!“ (S. 16) ruft er in den Saal. – Gegen Ende des Vortrags kommt er auf ein Gespräch mit Martin Buber zu sprechen. Die Form, in der er davon berichtet, lässt auf den Austausch eines eigentlich zu Verschweigenden, eines vom Ju-den zum Deutschen gehenden Geheimnisses schließen. Blüher: „Ich verrate Ihnen einen Gedan-kengang Martin Bubers, den er mir in einem Gespräch mitteilte. Er sagte: An einigen Stellen des menschlichen Wirkens ist Gott erschienen: so in der Kunst, in der Erkenntnis, in der Religion, in der Liebe. Aber im Zusammenleben der Menschen ist Gott noch niemals erschienen. Es gibt noch keine Theophanie der menschlichen Gesellschaft. Dies dürfte wohl das entscheidende und erlösende Wort sein … usw.“ (S. 21). Schließlich findet Blüher das Buch, in dem sich „der Geist einer sol-chen Theophanie offenbart“ (S. 22) in Landauers Aufruf zum Sozialismus. Er schließt den Ab-schnitt: „Martin Buber und Gustav Landauer bringen den Deutschen die tiefsten Beziehungen zum Probleme des Sozialismus; und beide sind Juden, und beide sind Zionisten.“ Ein Fall von konkurrierender Nachahmung? Diesmal von der Seite der Deutschen? Blüher schreibt in seiner Autobiographie einmal, dass ihn in seiner Studentenzeit „mehr als die politischen Intentio-nen meines Volkes der Zionismus“33 interessiert habe. So lässt sich seine Faszination durch den aufkommenden Zionismus und dessen Übertragung auf das Deutsche Reich mit derjenigen ver-gleichen, die zuvor von Fichte auf die aufbrechende Judenschaft ausgeübt wurde34. Mimetismen all überall. Verwandtschaftsbekundungen auf beiden Seiten. Robert Welsch reagiert auf Blühers Vortrag mit einem freundschaftlichen Text in der Zeitschrift Esra unter dem Titel: „Verwandte Wege“35. Spätestens hier drängt sich die bereits von anderer Seite gestellte Frage zur jüdisch-deut-schen Symbiose auf: Wenn es denn so gut war, warum kam es dann so schlecht? Fichte || Buber. – „Was für Zwei, was für Getrennte nach individueller und nationeller Natur sind Fichte und Buber, … . Aber im Kern und der Richtung sind sie so nah miteinander ver-wandt und so von einander abgekehrt wie der deutscheste und jüdischste Philosoph der Deut-schen im Denken des Nämlichen sich zu einander verhalten müssen.“36 G. Landauer. In der Diachronie ist das ‚Nämliche‘ zu denken möglich, synchron und ortsidentisch kommt es zur Katastrophe. Der Bruch. – „Secessio Judaica“: die Schrift mit diesem Titel erschien 1922. Sie markiert die Wen-dung von den konkurrierenden Nachahmungen zwischen Juden und Deutschen hin zur mimeti-schen Rivalität und zur Stilisierung der Judenschaft als des zu vernichtenden Modell-Hindernis-ses. In Abschnitt 28 heißt es: „Es ist keine Frage: der Deutsche und der Jude haben eine Schick-salsgemeinschaft. Sie sind beide auserwählte Völker, der Jude der Vergangenheit, der Deutsche der Zukunft, …“37 Hier wird die Scheidung als Momentum der Gegenwart ausgesprochen. Nach-

32 H. Blüher, Deutsches Reich Judentum und Sozialismus, München 1919. Seitenzahlen im Text. 33 H. Blüher, Werke und Tage, München 1953, S. 166. 34 Vgl. dazu: M. Voigts, ‚Wir sollen alle kleine Fichtes werden!‘, Berlin/Wien 2003. 35 Esra, 1 Jg., 1919/20, 2. Heft Juni 36 G. Landauer, Der werdende Mensch, 1921, S. 253. 37 H. Blüher, Secessio Judaica, Berlin 1922, S. 43.

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dem Blüher unter den ‚edlen‘ Juden die Entstehung des bewussten Rückgangs auf ihr Volkstum und den Willen zur Dissimilation (jüd. Renaissance, Zionismus) miterlebt, und die freideutsche Jugend euphorisch zur Nachahmung solch selbstbewusster Neuformierung (Deutsches Reich) aufgerufen hatte, folgt jetzt die Ersetzung bzw. die Negation des Modells zugunsten des auser-wählten Volkes der Zukunft. Ein Leser der ‚Secessio‘ wird später die Konsequenz der geschichtlichen Zeitenwende in die Worte „Es kann nicht zwei auserwählte Völker geben. Wir sind das Volk Gottes. Besagt das nicht alles?“38 fassen. Dieser Leser hieß Adolf Hitler; er hatte sich vom Verleger ein Exemplar der ‚Secessio‘ direkt in das Strafgefängnis Landsberg am Lech senden lassen39. Gestern Jude, heute Deutscher. – „Verstehen Sie mich recht, sagte er schnell, ich bin Jude gewesen, ich bin Deutscher heute, und ich bin es sicherlich nicht in jener platten liberalen Art, die Nationen wechselt, um besser existieren zu können, und diesen nützlichen Wechsel zum Anlass eines bekömmlichen Prinzipes wählt, eines Prinzipes, das alle Nationen wenn nicht als gleichartig, so doch als gleichberechtigt hinstellt, also als auswechselbar, und so das Prinzip der Nation in seiner verfälschenden Anerkennung zugleich aufhebt. Wenn ich Jude gewesen bin, und heute Deutscher, so bin ich dies um des Prinzipes der Nation willen, das heißt, weil ich nur im ver-pflichtenden Bereiche der Nation zu leben vermag. – Was, fragte Ive, was verstehen Sie unter Nation? – Dr. Schaffer sah ihn schräge an. Ich vermag, sagte er schwer, die Nation nicht anders zu begreifen, als den Kraft und Form gewordenen Herrschaftswillen eines Volkes. – Ich vermag, sagte Ive, die Nation überhaupt nicht zu begreifen. Sie ist da und fordert, ein zwingender Anruf des Blutes. – Des Geistes, sagte Schaffer. Wenn es sich alleine um die Rasse handelte, so wäre die Entscheidung leicht. Ich bin nicht so unklug, Rasse als Wert zu leugnen, gerade, weil ich vom Judentum herkomme, kann ich das nicht, ohne mich um meinen Standpunkt zu betrügen. Aber Rasse ist in der Frage der Nation nur eine zusätzliche Gewissheit. … Ich bin Deutscher um des Prinzipes der Nation willen, sagte Schaffer langsam. Dies stellt mich vor die Verantwortung. Und ich genüge ihr, indem ich mich bemühe, die einzige Aufgabe, wenn Sie wollen, die einzige revo-lutionäre Aufgabe, zu erfüllen, die es heute nur geben kann: Mitzuwirken an der Bildung einer geistigen Elite, die aus der völligen Planlosigkeit der deutschen Lage herausführt. – Die Nation als Herrschaftswille des Volkes, so hieß es doch wohl, sagte Ive. Dann können wir es schon bei der parlamentarischen Demokratie bewenden sein lassen. Warum gehen Sie nicht in den Reichs-tag, Herr? – Schaffer lehnte sich zurück. Er schloss die Augen. Ive sah ihm voll in das bleiche gelbliche Gesicht, mit der von dicken, starken, schwarzen Haaren umsäumten knochigen Stirn, der scharfen Nase, dem breitlippigen Mund, dem von bläulichen Schatten umspielten, etwas flie-henden Kinn. Er sieht doch sehr jüdisch aus, dachte er und hatte plötzlich ein unbehagliches Mitleid, eines von jener Art, das er um keinen Preis und von niemanden sich selber angetragen wissen wollte. Schaffer sagte leise: So kommen wir nicht weiter. Letzten Endes ist die einzige Ebene, auf der sich Menschen begegnen können, die des Bekenntnisses. Und selbst da ... jeder hat seine eigene Art des Bekenntnisses. Jeder hat seinen eigenen Weg zum objektiven Sinn, zur absoluten Wahrheit. Ihr Bekenntnis stammt aus starkem Gefühl. Aber glauben Sie nicht, dass das meine, eine Folge gedanklicher Unruhe, aufrichtigen Suchens, weniger glühend ist, weniger hef-tig, weniger unterworfen einer strengen Forderung, weniger Verpflichtung kennt. – Stellen Sie sich selbst die Frage, sagte Ive, ob Sie nicht mehr das Prinzip der Nation lieben, als die Nation! – Schaffer sagte: Ich glaube an das Prinzip der Nation, also muss ich die Nation lieben. Die Nation, die noch gar nicht da ist, die es erst zu schaffen gilt. Ich befinde mich, sagte er, in der seltsamen Lage, Ihnen gegenüber den Nationalsozialismus verteidigen zu müssen. Allein durch sein Vor-handensein hat er gezwungen, die Nation, wenn nicht als Prinzip, so doch als Wirklichkeit anzu-erkennen. Die Verfälschung liegt allein in der Übertönung der Tatsache, dass sie erst eine zu schaffende Wirklichkeit ist. Das ist es, was mich beunruhigt: Die Verschleierung der Erkenntnis, dass wir vor einem Beginn stehen, vor einem unerhörten, zugleich weltgültigen Anfang. Der Na- 38 H. Rauschning, Gespräche mit Hitler, Zürich 1940 [Wien 1973], S. 227. 39 Vgl.: H. Blüher, Werke und Tage, München 1953, S. 168.

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tionalsozialismus träumt von einem Dritten Reich, und so kann es ihm unbenommen bleiben, wie etwa bei den verschiedenen Internationalen, jede Zwischenstufe zweckentsprechend mit Reich 4a und 5b zu bezeichnen. Er hob die Hand. Lassen Sie mich weitersprechen, sagte er. Er sagte: Sie wissen, dass der Konvertit immer die religiöse Frage schärfer stellt, als der im Glauben Aufgewachsene. Ich bin nationaler Konvertit. Ich habe versucht, als Jude glauben zu können. Ich habe den schmerzhaften Weg durch das Dickicht gewagt, wagen müssen. Die Menschen der Grenze sehen nicht halb, sondern doppelt, stereoskopisch sozusagen. Sie können niemals der Entscheidung ausweichen, ohne sich im nationalen Sinne aufzugeben. Es ist eine geistige Ent-scheidung. Ich habe mich entschieden. Ich stelle die Frage schärfer, weil ich sie schärfer sehe. Mein Weg ist privat, ich weiß, aber der Aspekt ist nicht privat. Ich habe mich für das Deutschtum entschieden. Warum? Ich liebe die französische Literatur, den englischen Machtwillen, die russi-sche Weite, die chinesische Ethik, die deutsche Tiefe, sagt man ja wohl in diesem Fall, ich liebe das alles als Erscheinung; aber die Erfüllung sehe ich im Deutschtum. Den Sinn der Welt sehe ich hier, nachdem ich ihn, sagte er gequält, im Judentum nicht gefunden habe. Wenn der Natio-nalsozialismus konsequent wäre, sagte Schaffer, dann müsste er die Nation als eine jüdische Er-findung brandmarken. Moses war der erste Nationalist, und im deutschen Strafgesetzbuch finden sich die zehn Gebote wieder. Nicht billiger Triumph lässt mich dies so zugespitzt sagen. Doch bestehen bleibt, dass die erste Manifestation des Judentumes, die des Stammes Israel am Berge Sinai, bereits in sich alle Elemente der Nation enthält, bereits sich darstellt als Summe der Erfah-rungen eines Volkes aus Rasse und Geschichte, seinen ganzen Ausdruckswillen umschließt, seine Kultur, und darüber hinaus jenes eigentlich nationsbildende Element, den Herrschaftswillen, der im Bewusstsein einmaliger Besonderheit nach Gott greift, nach einem einzigen Gott, nach dem Gott, der dies Volk auserwählt sein lässt, zu herrschen, um in seinem Namen erlösen zu können. Das Bündnis eines Volkes mit Gott, das macht es zur Nation. Das Bündnis und sein Gesetz: Und jetzt, hört ihr gehorsam, auf meine Stimme und wahrt ihr meinen Bund dann seid ihr mir aus allen Völkern ein Sonderschatz. Denn mein ist die ganze Erde. Ihr aber sollt mir sein ein Reich von Priestern, ein heiliger Stamm. Schaffer erhob sich und ging hin und her. Zweitausend und abermals zweitausend Jahre lang! sagte er. Man sollte den Plattköpfen das Wort Nation aus ihren frechen Mäulern reißen. – Man sollte! sagte Ive, wer gibt Ihnen das Recht zu dieser Formel; und welche Sirenenstimme hat Sie aus dem Bunde gelockt? – Antisemit? fragte Schaffer. Ive sagte: Der Jude ist heute der sichtbarste Verteidiger auf der liberalen Bastion. Ich bekämpfe ihn, weil ich die Bastion gestürmt wissen will. – Tatsächlich, sagte Schaffer, ist der liberale Jude der gefährlichste Feind des Judentumes selber. Sie wie ich haben das Recht, ihn zu bekämpfen, solange das Judentum nicht bereit ist, ihn in sei-nen verpflichtenden Bereich zurückzupfeifen. Und das ist es, was mich am Judentum verzweifeln ließ: Dass es in seinem Herrschaftswillen brüchig geworden ist; dass es sich einschmiegt, wo es unter allen Umständen widerstehen sollte, im Geistigen; dass es seine Stunde nicht erkennt, nicht aufsteht, noch einmal zu zeugen, noch einmal das Gesetz zu schleudern; dass es seine Kraft zer-brechen lässt, nachdem es seine Form zerbrechen ließ. Dies und vieles andere. Ich bin nicht leichtfertig herausgesprungen; ich weiß, was sich heute im Judentum begibt, und vornehmlich im deutschen Raume, dessen Luft nicht die Erstarrung im Gesetz wie im Osten, nicht die Verbrei-ung des Gesetzes, wie im Westen, begünstigt hat. Ich weiß von den Zeichen und Wundern, von

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Herzl und Buber; ich weiß, dass der berauschende Strom, der nach Gestaltung verlangt, heute auch das Judentum durchflutet. Aber ich weiß auch, dass das Gefäß zerbrochen ist, die geistige Form, die Theokratie; ich weiß auch, dass die Voraussetzung einer Neubildung nicht da ist – noch nicht wieder da ist: der unbefangene, tiefe Glaube aus dem Wurzelgrund der Seele heraus; ich weiß auch, dass alles, was sich das Judentum national erringen muss, im besten Falle geboten wird, erbettelt und nicht erobert. Ich bin herausgesprungen, weil ich nicht mehr glauben kann. Weil ich die organische Gemeinschaft nicht mehr finde. Die Propheten schweigen mir nun, wenn Goethe redet. Ich kann mich nicht freuen darüber, ich kann es nicht beklagen; es ist so. Viertau-send Jahre! In nochmals tausend Jahren vielleicht! Wer glauben kann, soll verharren, soll in sich die Renaissance leben, von der er träumt. Jetzt und heute ist die Stunde des Deutschtums. Was ich im Judentum, in der Tradition meines Volkes an geistigen Gütern gesucht, fand ich im Deutschtum voller und lebendiger – und jünger – wieder. Schaffer sagte: Freilich vermochte ich das nicht aus der Perspektive eines Morgenblattes. Sondern in der Verpflichtung zu einer Gegenwart, die als Schnitt-punkt der Geschichte zugleich ihren Kern enthüllt [H.v.m.].“ 40 Das Blut beginnt zu sprechen. – Die Nation sei nicht zu begreifen, sagte Ive, sie ist einfach da und fordert, – es sei ein zwingender Anruf des Blutes (s.o.), die ihn seiner Zugehörigkeit zur Deut-schen Nation versichere. Damit ist Ive nicht allein: Die Wendung von der ,Stimme des Blutes‘ – oder vom ‚Ruf des Blutes‘ – ist zu jener Zeit bereits eine gängige Redensart, die ihre eigentliche Karriere aber erst vor sich hat.

41 Typischerweise steigt die Häufigkeit während des ersten Weltkrieges mässig an, sinkt während der Weimarer Republik leicht ab, um dann, bereits im Vorfeld der Machtergreifung der National-sozialisten, rasant anzusteigen. Der Höhepunkt der Rekurse auf die ‚Stimme des Blutes‘ wird während des zweiten Weltkriegs erreicht. Beer-Hofmann (1897) || Vesper (1931). – Ufer und/oder Flussbett. 1. Richard Beer-Hofmann, Schlaflied für Mirjam (1897): „Schlaf mein Kind – schlaf, es ist spät! Sieh wie die Sonne zur Ruhe dort geht, Hinter den Bergen stirbt sie im Rot. Du – du weißt nichts von Sonne und Tod,

40 Auszüge aus dem Landvolk-Roman ‚Die Stadt‘ von Ernst von Salomon (Berlin 1932, Seiten: 171-178.). Ive, die Hauptfigur, im Gespräch mit Dr. Schaffer. 41 http://books.google.com/ngrams/ smoothing=3. Abgerufen: Mai 2012.

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Wendest die Augen zum Licht und zum Schein – Schlaf, es sind soviel Sonnen noch dein, Schlaf mein Kind – mein Kind, schlaf ein! Schlaf mein Kind der Abendwind weht. Weiß man, woher er kommt, wohin er geht? Dunkel, verborgen die Wege sind, Dir, und auch mir, und uns allen, mein Kind! Blinde – so gehn wir und gehen allein, Keiner kann Keinem Gefährte hier sein – Schlaf mein Kind – mein Kind, schlaf ein! Schlaf mein Kind und horch nicht auf mich! Sinn hat's für mich nur, und Schall ists für dich. Schall nur, wie Windeswehn, Wassergerinn, Worte – vielleicht eines Lebens Gewinn! Was ich gewonnen gräbt mit mir man ein, Keiner kann Keinem ein Erbe hier sein – Schlaf mein Kind – mein Kind, schlaf ein! Schläfst du, Mirjam? – Mirjam, mein Kind, Ufer nur sind wir, und tief in uns rinnt Blut von Gewesenen – zu Kommenden rollts, Blut unsrer Väter, voll Unruh und Stolz [H.v.m.]. In uns sind Alle. Wer fühlt sich allein? Du bist ihr Leben – ihr Leben ist dein – – Mirjam, mein Leben, mein Kind – schlaf ein!“42 2. Will Vesper Einleitung zu ‚Das harte Geschlecht‘ (1931): „Die Geschichten, die ich berichten will, geschahen vor nun tausend Jahren. Da könnte man meinen: Was gehen uns so alte Geschichten an? Aber tausend Jahre, heisst es mit Recht, sind vor Gott wie ein Tag, und die Menschen von damals und die von heute sind so verschieden nicht. … Und dann – ist es ja unser eigenes Blut, das auch in jenen Zeiten in den Herzen der Menschen floss und lebte. Das Blut strömt, ein unversiegbarer Strom, von den ältesten Zeiten zu uns her. Und so leben in den fernsten Geschlechtern der Väter auch schon wir, und in uns leben heute und gegenwärtig sie, von denen wir stammen, deren Blut in uns fliesst, auch nicht als unser Eigentum. Sondern wir sind nur wie das Flussbett, durch das der ewige Blutstrom dahinbraust, von den Vätern zu unseren Kindern und Enkeln bis in die ferne Zukunft [H.v.m.]. Darum gedenken wir so gerne der Vergangenheit und träumen von der Zukunft. In beiden sind auch wir zu Hause und nicht nur in dieser kurzen Spanne Gegenwart, und wenn wir der Väter gedenken, so lauschen wir in Wahrheit nur den dunklen Stimmen des eigenen Blutes und ahnen erschüttert ein wenig von dem Geheimniss des Menschen und des Lebens.“43 Ein Fundstück. – Den aufmerksamen Redaktoren der zionistisch orientierten Zeitung ‚Jüdische Rundschau‘ entging die immer häufiger auftretende und beschwörende Verwendung der Stimme des Blutes nicht. So widmeten sie im August 1933 eine ganze Seite ihres Blattes dem Thema:

42 R. Beer-Hofmann, Schlaflied für Mirjam: Lyrik, Prosa, Pantomime, Oldenburg 1998, S. 11. 43 Will Vesper, Das harte Geschlecht, München 1931, S. 5f.

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44 Jüdische Rundschau, Jahrgang 1933, Heft 62 (4.8.1933).

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Nach einer redaktionellen Einleitung werden Texte von Richard Beer-Hofmann, Ernst Wiechert, Stefan Zweig und Hugo Salus veröffentlicht. Tenor der Einleitung ist, dass selbstbewusste Juden bereits vor 20-30 Jahren sich der Wichtigkeit der ‚Blutzusammenhänge‘ bewusst geworden seien und die Entwicklung im nun nationalsozialistischen Deutschland sie nicht überrasche, sondern sie eher in ihren eigenen Bemühungen bestätige. Überzeugt von der eigenen Vorläuferschaft in der Sache, wird sogar warnend formuliert: „Blutbesinnung darf Juden nicht zu Chauvinismus führen, sondern zu ruhiger Selbstsicherheit, die die Voraussetzung einer liebevollen Erfassung auch des Andersartigen ist.“ Blut als Exklusionskriterium. – „[R.] Borchardt gehört in den ‚Juden‘ [Zeitschrift, hrsg. v. M. Buber] weder seiner Person nach, da er, wie er mir vor mehreren Jahren bei unserer ersten Unterredung entgegen meiner früheren Annahme ausdrücklich erklärte, nicht jüdischen Blutes ist [H.v.m.], noch seiner Gesinnung nach, …“45 M. Buber. Zittern und Beben. – „Wer mit der ganzen Glut des Herzens, mit Zittern und Beben [H.v.m.] sein Schema Jisrael [Höre Israel] betet, der, und er allein, befestigt sein jüdisches Ich unerschütterlich in Geist und Seele."46 H. Cohen. „Wir haben Ohren, weil wir horchsam hören können und bei dieser Horchsamkeit auf das Lied der Erde hören dürfen, auf ihr Erzittern und Beben [H.v.m.], …“47 M. Heidegger. Die Selbstevidenz der Stimme des Blutes. – Gewöhnlich wird der hämophone (oder: häma-tophone) Rekurs in den Texten der kurzen – aber geschichtsentscheidenden – Epoche des Hä-mozentrismus48 sofort als bloß metaphorisch (Literaturwissenschaft) oder als dem zeitgenössi-schen Rassendiskurs (Geschichtswissenschaft) zugehörig erklärt – …und so zum Verschwinden gebracht. Doch die Wendung von der Stimme des Blutes trägt, wenn immer sie in der Zeit verwen-det wird, eine eigentümliche Evidenz vor sich her. Ich wähle dazu je ein Beispiel von zwei Auto-ren aus, die bezüglich Herkunft und Position unterschiedlicher nicht sein könnten. Zunächst Leo Baeck. In seinem Werk zum ‚Wesen des Judentums‘49 – vielfach als Antwort auf Harnacks ‚Wesen des Christentums‘ verstanden – wird ganz zu Beginn, dort wo es um die Be-stimmung des Wesentlichen, d.h. der Einheit des Judentums geht, folgendes gesagt: „Das Wesen wird durch das, was errungen worden ist und erhalten blieb, bezeichnet. Ein solch Bleibendes, Wesentliches hat das Judentum, trotz seinen vielgestaltigen Gebieten, trotz seinen schwankenden Zeiten. Sie alle besitzen darin ihr Gemeinsames, sie haben eine Einheit ihres Den-kens und Empfindens und damit die innerliche Verbindung in ihrer Existenz … Einen sicheren geschichtlichen Boden hatte diese Einheit schon in dem Volkstum, aus dem das Judentum em-porgewachsen ist, und in dem es seine starken Wurzeln behalten hat. Dem Juden, der daran dach-te, dass er nicht von gestern war, erzählte die Vergangenheit, dass sein Leben von den Männern herkam, die seinen Glauben geboren hatten. Die Väter seines Stammes standen als die Väter sei-ner Religion vor ihm; er sprach das Wort von dem Gotte der Ahnen, dem Gatte Abrahams, Isaaks und Jakobs, mit dem Tone des Kindes, in dessen Hand das Erbe gelegt ist. Und der Ge-

45 M. Buber, Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten, Band 1, 1972, S. 477. Brief vom 11.3.1917. – Zu R. Borchardts problematischer Doppelidentität, vgl.: Alexander Kissler, »Wo bin ich denn behaust?« Rudolf Borchardt und die Erfindung des Ichs, Göttingen 2003, bes. S. 78ff. 46 H. Cohen, Werke 17, S. 219. 47 M. Heidegger, GA 55, S. 247. 48 Siehe vom Verfasser: Hämozentrismus und mimetische Rivalität, 2010. 49 Ich zitiere nach der 3. Auflage (Frankfurt, 1922). S. 1-2.

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danke an die Zukunft sagte ihm, dass die kommenden Tage durch ihn leben würden, dass sein eigenes Dasein und seine Zukunft das Dasein des alten Gottes auf Erden seien. Diese Stimmen waren die des Blutes, das in allen strömte [H.v.m.]. Die Welt rings umher, in der man lebte, redete anderes. …“ Kann man der Hämophonie noch eine wichtigere Bedeutung und Plausibilisierungskraft zumes-sen, als es hier geschieht? Zweites Beispiel. Szenenwechsel. Carl Schmitt. In einem Kommentar zu den Nürnberger Geset-zen von 1935 – erschienen unter dem Titel ‚Verfassung der Freiheit‘ in der Deutschen Juristenzeitung – lesen wir: „Wir wollen unsere liberalen Ahnen nicht herabsetzen. Sie waren Deutsche und gehören zu uns. Durch die Irrtümer ihrer liberalen Anschauungen hindurch ist auch bei ihnen die deutsche Sub-stanz erkennbar und die Stimme des deutschen Blutes [H.v.m.] oft vernehmbar. Welcher deutsche Jurist könnte heute nicht einen Lorenz von Stein von einem Stahl-Jolson, einen Rudolf Gneist von einem Lasker, einen Rudolf Sohm von einem Friedberg unterscheiden?“50 Die Juden, die Deutschen sind hämozentrisch orientierte, autoaffektive und mimetisch rivali-sierende Kollektive. Die aus dem schweigenden Wissen um die eigene Auserwähltheit hervorbre-chende Stimme des Blutes bildet je den vibrierenden Volkskörper. Totale Sonorität: An die Stelle des Gebets bei den Juden tritt das durch Mark und Bein gehende Schreien der Führer der Deut-schen. Die akklamierende Masse, das Volk, komplettiert im Nationalsozialismus das Politische zum selbstreferentiellen, hämophonozentrischen System51. Gott und Volk. – „Gott als Attribut der Nationalität Das Volk, das ist der Leib Gottes. Eine Nation verdient diesen Namen nur, so lange sie einen eignen Gott hat und hartnäckig alle anderen von sich stößt; so lange nur als sie rechnet, mit ih-rem Gott zu siegen und die fremden Götter aus der ganzen Welt fortzujagen. … Bei jedem Vol-ke, auf jeder Phase seiner Existenz, ist das Ziel seiner Bewegung la recherche de Dieu, eines Got-tes für sich, an den es als den allein wahren glaubt. Gott ist die synthetische Person eines ganzen Volkes, betrachtet von seinem Anfang bis zu seinem Ende.“52 F. Nietzsche nach Dostojewski (vgl.: AC 16). „Das Volk erzeugt nicht seinen Gott, sondern es empfängt und bezeugt ihn; …“53 F. Rosenzweig. „Das Wesen des Volkes und Da-sein Ein Volk ist nur Volk, wenn es in der Findung seines Gottes seine Geschichte zugeteilt erhält, jenes Gottes, der es über sich selbst hinwegzwingt und es so in das Seiende zurückstellt. Nur dann entgeht es der Gefahr, um sich selbst zu kreisen und das, was nur Bedingungen seines Be-standes sind, zu seinem Unbedingten zu vergötzen“54 M. Heidegger. Die Negativ-Offenbarung von Nürnberg. – Oft wird das vom Reichsparteitag der NSDAP am 15. Sept. 1935 erlassene ,Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre‘

50 DJZ 40/1935, S. 1134. 51 Vgl. dazu: C. Schmitt: „Kein Staat ohne Volk, kein Volk ohne Akklamation.“ In: Volksentscheid und Volksbegeh-ren, Berlin Leipzig 1927, S. 34. 52 F. Nietzsche, KSA 13, S. 151 (Nov. 1887-März 1888). 53 F. Rosenzweig, ‚Deutschtum und Judentum‘, GS 3, S. 169. Geschrieben 1915. 54 M. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (GA 65), S. 398. Um 1936 oder danach.

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als ‚Nürnberger Rassengesetz‘ bezeichnet. Diese Bezeichnung suggeriert, dass im Gesetzestext das Wort ,Rasse‘ vorkommt. Das ist nicht der Fall:

55 Nein, das Wort ‚Rasse‘ erscheint nicht. Ein ‚Rassengesetz‘ müsste wohl auch Bestimmungen über die genetischen Gruppen der Schwarzen, der Japaner, der Chinesen etc. enthalten. Aber davon steht nichts drin. Das Gesetz ist allein und spezifisch auf jene Gruppe gemünzt, die über eine allfällige ‚Sakralität‘ des Blutes im Bilde ist: auf die Juden. Diese aber werden vom Gesetz buch-stäblich ins Herz getroffen. Eine Predigt sollte es richten. Auf Leo Baecks Geheiß hin sollte in allen Synagogen an Jom Kippur, als Antwort auf die Nürnberger Gesetze, folgendes Gebet gesprochen werden: „In dieser Stunde steht ganz Israel vor seinem Gott, dem richtunggebenden und vergebenden. Vor ihm wollen wir allesamt unseren Weg prüfen, prüfen was wir getan und was wir unterlassen, prüfen wohin wir gegangen und wovon wir ferngeblieben sind. Wo immer wir gefehlt haben, wollen wir offen bekennen: »wir haben gesündigt«, und wollen mit festem Willen zur Umkehr vor Gott beten: »Vergib uns!!«

55 In: Göppinger Zeitung vom 16. September 1935.

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Wir stehen vor unserem Gotte. Mit derselben Kraft, mit der wir unsere Sünden bekannt, die Sünden des Einzelnen und die der Gesamtheit, sprechen wir es mit dem Gefühl des Abscheus aus, dass wir die Lüge, die sich gegen uns wendet, die Verleumdung, die sich gegen unsere Reli-gion und ihre Zeugnisse kehrt, tief unter unseren Füssen sehen. Wir bekennen uns zu unserem Glauben und zu unserer Zukunft. – Wer hat der Welt das Ge-heimnis des Ewigen, des einen Gottes gekündigt? Wer hat der Welt den Sinn für die Reinheit der Lebensführung, für die Reinheit der Familie geoffenbart? Wer hat der Welt die Achtung vor dem Menschen, dem Ebenbild Gottes gegeben? Wer hat der Welt das Gebot der Gerechtigkeit, den sozialen Gedanken gewiesen? Der Geist der Propheten Israels, die Offenbarung Gottes an das jüdische Volk, hat in dem allen gewirkt. In unserem Judentum ist es erwachsen und wächst es. An diesen Tatsachen prallt jede Beschimpfung ab. Wir stehen vor unserem Gott; auf ihn bauen wir. In ihm hat unsere Geschichte, hat unser Aus-harren in allem Wandel, unsere Standhaftigkeit in aller Bedrängnis, ihre Wahrheit und ihre Ehre. Unsere Geschichte ist eine Geschichte seelischer Größe, seelischer Würde. Sie fragen wir, wenn sich Angriff und Kränkung gegen uns kehren, wenn Not und Leid uns umdrängen. Von Geschlecht zu Geschlecht hat Gott unsere Väter geführt. Er wird auch uns und unsere Kinder durch unsere Tage hindurch leiten. Wir stehen vor unserem Gott. Sein Gebot, das wir erfüllen, gibt uns unsere Kraft. Ihm beugen wir uns, und wir sind aufrecht vor den Menschen. Ihm dienen wir, und wir bleiben fest in allem Wechsel des Geschehens. Demütig vertrauen wir auf Ihn, und unsere Bahn liegt deutlich vor uns, wir sehen unsere Zukunft. Ganz Israel steht in dieser Stunde vor seinem Gotte. Unser Gebet, unser Vertrauen, unser Be-kennen ist das aller Juden auf Erden. Wir blicken auf einander und wir wissen von uns, und wir blicken zu unserem Gotte empor und wissen von dem, was bleibt. »Siehe, nicht schläft und nicht schlummert Er, der Israel hütet. Er, der Frieden schafft in seinen Höhen, wird Frieden schaffen über uns und ganz Israel« Trauer und Schmerz erfüllen uns. Schweigend, durch Augenblicke des Schweigens vor unserem Gotte, wollen wir dem, was unsere Seele erfüllt, Ausdruck geben. Eindringlicher als alle Worte es vermöchten, wird diese schweigende Andacht sprechen.“56 Wieder das Schweigen. Das jüdische Blut verstummt – rebellierend zwar, aber andächtig. Das – exakt das – ist die Kapitulation vor dem koagulierten deutschen Blut des Nürnberger Gesetzestextes.57

56 Leo Baeck wurde kurz in Haft genommen, weil er die Predigt der Gestapo nicht zur Genehmigung vorgelegt hatte. – Das Gebet wird leicht abweichend überliefert; es findet sich auch in: Werner Licharz, Leo Baeck, Lehrer und Hel-fer in schwerer Zeit, Frankfurt 1961, S. 45. 57 Muss man dem nicht Tucholskys letzten langen Brief über das Versagen der Juden an Arnold Zweig anfügen? Man muss nicht, – aber man kann. Tucholskys an Zweig: „Zürich, 15.12.35 Lieber Arnold Zweig, ich danke Ihnen herzlichst für Ihren Brief vom 13.11. Dank für alle freundlichen Worte – und wenn Sie mir neben ‚Verdun’ auch die ‚Bilanz der Judenheit’ schicken lassen wollten, so wäre ich Ihnen sehr dankbar. Dass ich erst heute antworte, liegt an meinem Gesundheitszustand: es geht mir nicht gut. Ja, da wäre also einiges zu sagen. Sie sind, lieber Zweig, einer der so seltenen Schriftsteller, die eine Kritik (damals über Grischan) so aufgenommen haben, wie sie gemeint gewesen ist: nämlich freundschaftlich. Das habe ich Ihnen nicht vergessen. Deshalb möchte ich Ihnen etwas schreiben, das wenig mit Ihrem Werk, viel mit Ihrer Anschauung zu tun hat – es richtet sich gar nicht an Sie, aber ich spreche zu Ihnen. Ich bin im Jahre 1911 „aus dem Judentum ausgetreten”, und ich weiß, dass man das gar nicht kann. Die Formel vor dem Amtsgericht lautete so. Sie wissen, dass damit keine Konjunkturriecherei verbunden gewesen ist, ein Jude hatte es im Kaiserreich erträglich, ein Konfessionsloser nicht. (Militär, vadächtiger Hund, vadächtiga.) Warum also tat ich das –? Ich habe es getan, weil ich noch aus der frühsten Jugendzeit her einen unauslöschlichen Abscheu vor dem gesalbten Rabbiner hatte – weil ich die Feigheit dieser Gesellschaft mehr fühlte als begriff … Wendriner war damals noch nicht geboren. Doch – aber er hatte noch keinen Namen. Also heraus.

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Antisemitismus habe ich nur in den Zeitungen zu spüren bekommen, im Leben nie. Mit dem feinen Instinkt der die Boches auszeichnet, haben mich viele Leute nicht für einen Juden gehalten, was ich nicht geschmeichelt anmerke, sondern belustigt. In dreieinhalb Jahren Militär: nichts. Zuletzt war ich Polizeikommissar – auch nicht die Spur eines Hauches einer Idee. Ich habe mit den Kerlen im Kasino gesoffen, was mir eine gute Kenntnis des Milieus für später ermöglicht hat – nichts war zu spüren. Ich spreche also nicht aus Ressentiment. Auch gehöre ich nicht zu den bekannten jüdischen Antisemiten. Über Palästina erlaube ich mir keinerlei Bemerkung –: ich kenne die Verhältnisse nicht. Zweierlei fällt mir auf: Das ist kein jüdischer Staat, sondern eine englische Kolonie, in der die Juden – wie unter Pontius Pilatus – eine Rolle spielen, die mir nicht schmeckt und wohl manchen Juden dort unten auch nicht. Zweitens: die deutschen Ju-den, die Geld hatten, durften nur heraus, wenn sie statt ihres Geldes eine Abmachung mit herausnahmen, bei der Palästina mit deutschen Waren überschwemmt wird. Doch ist das Sache der Zionisten, und da ich nicht mittue, nehme ich mir wenig Recht, zu kritisieren. Wohl aber darf ich Ihnen sagen: Was sind Sie –? Angehöriger eines geschlagenen, aber nicht besiegten Heeres? Nein, Arnold Zweig, das ist nicht wahr. Das Judentum ist besiegt, so besiegt, wie es das verdient – und es ist auch nicht wahr, dass es seit Jahrtausen-den kämpft. Es kämpft eben nicht. Die Emanzipation der Juden ist nicht das Werk von Juden. Diese Befreiung ist den Juden durch die Französische Revolution, also von Nicht-Juden, geschenkt worden – sie haben nicht dafür gekämpft. Das hat sich gerächt. Sie sagen: Ja, es gibt Wendriners, ich nehme sie aus, sie sind mir fatal – aber … Ich sage: Es gibt auch anständige Juden, ein paar, wie die Emigrationsziffer zeigt, noch nicht 10% – ich nehme sie aus – ich habe die größte Achtung vor ihnen, vor ihrem stillen Leiden – aber … Aber -? Der Rest taugt nichts. Es ist nicht wahr, dass die Deutschen verjudet sind. Die deutschen Juden sind verbocht. Mir hat schon diese faule und flaue Erklärung nie gefallen, mit der man mir erzählt hat: Die Gettojuden im 16. Jahr-hundert konnten nicht anders, sie waren bedrückt, man ließ sie ja nichts andres tun als schachern. Nein, liebe Freun-de. Getto ist keine Folge – Getto ist Schicksal. Eine Herrenrasse wäre zerbrochen – diese da „müssen doch leben”. Nein, so muss man nicht leben, so nicht. Aber lassen wir die mittelalterlichen Juden – nehmen wir die von heute, die von Deutschland. Da sehen Sie, dass dieselben Leute, die auf vielen Gebieten die erste Geige gespielt haben, das Getto akzeptieren – die Idee des Gettos und ihre Ausführung. Ich sehe diese Schweinekerle bis hierher – ohne mich um sie zu kümmern, ich lese keine deut-schen Zeitungen und so gut wie gar keine Emigrationsliteratur – ich sehe sie. Man sperrt sie ein; man pfercht sie in Judentheater mit vier gelben Flecken vorn und hinten, und sie haben (wie ich das höre!) nur einen Ehrgeiz: „Nun werden wir ihnen mal zeigen, dass wir das bessere Theater haben!” – Pfui Deibel. Und sie spüren es nicht. Sie sehen es nicht. Sie merken es nicht. Ich füge Ihnen einen Ausschnitt aus einem Londoner Brief bei, der nur in halb spaßiger Form das Äußerliche und doch auch das Innerliche gibt. Es ist noch viel schlimmer – das ist nur eine Illustration. Es ist so: Der Jude ist feige. Er ist selig, wenn ein Fußtritt nicht kommt – ihn so als primär annehmend, als das, was ihm zukommt. Er duckt sich. »Nur Geschäfte!« – aber das ist es nicht allein. Es ist noch ganz etwas andres – es ist das absolute Unvermögen, zu begreifen, was Heroismus überhaupt ist. Ich kenne die Einwände alle, ich kann sie im Schlaf – nur im Schlaf – aufzählen: »Was haben Sie denn für heroische Taten vollbracht – haben Sie vielleicht … « Das ist der Refrain, den ich heute zu hören bekäme, wäre ich schamlos genug, vor einem Parterre voll Dreck aufzu-treten – so wie ich früher zu hören bekommen habe: »Was haben Sie davon? Haben Sie das nötig?« Aber der große Moment fand ein kleines Geschlecht. Wie! Nicht zu begreifen, dass im März 33 der Augenblick gekommen war, in umgekehrter Proportion auszuziehen – also nicht wie heute einer auf zehn, sondern einer hätte da bleiben müssen, und neun hätten gehen müssen, sollen, müssen. Hat sich auch nur ein Rabbiner gefunden, der der Führer seines Volkes gewesen ist? Auch nur ein Mann? Keiner. In Nürnberg wohnte eine so reiche und einflussreiche Judengemeinde – dort ist der Herr Streicher groß geworden. »Lassen Sie doch den Mann! Nur ka Risches!« Und habe ich nicht mit eigenen Augen gelesen, dass die Gemeinde in Frankfurt, als die ersten Pogrome, ich glaube 1931, einsetzten, den Gläubigen empfahl, nach dem Got-tesdienst gleich nach Hause zu gehn und Ansammlungen auf der Straße – auf ihrer Straße – lieber Zweig – zu ver-meiden? So war es. Wohin unsere Warnungen gefallen sind, wissen Sie. Und dann war es zu spät – es war vielleicht noch eine Sekunde Zeit – und was war dann? Dann taten die Leute etwas, das mir immer das Wort Beer-Hofmanns, das er einmal zu mir gesagt hat, ins Ge-dächtnis zurückruft: »Der Jude ist gar nicht klug. Die andern sind, in manchen Gegenden, nur dümmer.« So ist es. Hätten Sie dem Durchschnitts-Juden im Jahre 1933 gesagt, er würde Deutschland unter Bedingungen verlassen, wie sie ihm das Jahr 1935 ff. bieten, er hätte Sie ausgelacht. »Ich kann doch nicht weggehn! (und nun, wie ein Spieler) Ich bin doch im Verlust! Was meinen Sie – mein Geschäft … « Und jetzt schleichen sie heraus, trübe, verprügelt, beschissen bis über die Ohren, pleite, des Geldes beraubt – und ohne Würde. (Sich aber besser dünkend.) Heroismus war hier nun auch noch das bessere Geschäft. Also warum haben sie diesen Weg nicht gewählt? Weil sie nicht heroisch sein können; weil sie gar nicht wissen, was das ist.

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Es steht bei dem großen Péguy, den ich Ihnen gar nicht genug empfehlen kann, eine Stelle, in der es ungefähr heißt: Die Juden hören nicht gern auf ihre Propheten, denn sie wissen, was das kostet. Ihre jahrhundertelange Erfah-rung … und so fort, recht philosemitisch. Das ist wacker und brav – aber es ist nicht wahr. Wer die Freiheit nicht im Blut hat, wer nicht fühlt, was das ist: Freiheit – der wird sie nie erringen. Wer das Getto als etwas von vornherein gegebenes akzeptiert, der wird ewig darin verbleiben. Und hier und nur hier steckt das Versagen der gesamten deutschen Emigration, aus der ich keine Judenfrage machen möchte – hier ist ihre Schuld, ihre Erbärmlichkeit, ihre Jämmerlichkeit. Das ist nichts. Das klingt nun so, wie wenn das gegen den gerichtet wäre, an den ich diesen Brief richte – aber mit Ihnen hat das nur sehr mittelbar zu tun. Ich kann Ihnen zwar nicht folgen, wenn Sie die Jüdin loben, weil sie Eigenschaften hat, die ich bei andern genauso sehe (»Sie weiß auf Gartenfesten schön zu sein« – aber das kann Minchen Müller auch) – aber ich weiß, dass Sie nie einen Daumenbreit nachgäben. Ich klage vor Ihnen – ich belle Sie nicht an. Ich klage die Gesinnung der Juden an, und viel weiter gehend, die Gesinnung der sog. »deutschen Linken«, und hier darf das Wort nebbich angewandt werden. Man hat eine Niederlage erlitten. Man ist so verprügelt worden, wie seit langer Zeit keine Partei, die alle Trümpfe in der Hand hatte. Was ist nun zu tun –? Nun ist mit eiserner Energie Selbsteinkehr am Platze. Nun muss, auf die lächerliche Gefahr hin, dass das ausge-beutet wird, eine Selbstkritik vorgenommen werden, gegen die Schwefellauge Seifenwasser ist. Nun muss – ich auch! ich auch! – gesagt werden: Das haben wir falsch gemacht, und das und das – und hier haben wir versagt. Und nicht nur: die andern haben … sondern: wir alle haben. Was geschieht stattdessen? Stattdessen bekommen wir Lobhudeleien zu lesen, die ich nicht mag – Lob der Juden und Lob der Sozis und der Kommunisten – »sie sitzen da und hochachten einander« heißt es einmal im Schwedi-schen. Und das ist keine Sache der Partei. Eine Geißlung so einer Schießbudenfigur wie Breitscheids vorzunehmen oder Hilferdings oder sonst eines – das ist ja Leichenschändung. Doch haben weder die noch irgendein andrer, we-nigstens ist mir kein Beispiel bekannt, überhaupt begriffen, was ihnen geschehen ist. »Ohne Hören, ohne Sehen, stand der Gute sinnend da, und er fragt, wie das geschehen und warum ihm das geschah.« Statt einer Selbstkritik und einer Selbsteinkehr sehe ich da etwas von »Wir sind das bessere Deutschland« und »Das da ist gar nicht Deutschland« und solchen Unsinn. Aber ein Land ist nicht nur das, was es tut – es ist auch das, was es verträgt, was es duldet. Es ist gespenstisch, zu sehen, was die Pariser Leute treiben – wie sie mit etwas spielen, was es gar nicht mehr gibt. Wie sie noch schielen – wie sie sich als Deutsche fühlen – aber zum Donner, die Deutschen wollen euch nicht! Sie merken es nicht. Das ist Deutschland. Die Uniform passt ihnen – nur der Kragen ist ihnen zu hoch. Etwas unbequem – etwas stö-rend – so viel Pathos und so wenig Butter – aber im Übrigen? Wie sagt Alfred Polgar: »Der Umfall beginnt damit, dass man hört: Eines muss man den Leuten lassen … « Und sie lassen ihnen das eine und das andere und dann alles. Das ist bitter, zu erkennen. Ich weiß es seit 1929 – da habe ich eine Vortragsreise gemacht und »unsere Leute« von Angesicht zu Angesicht gesehen, vor dem Podium, Gegner und Anhänger, und da habe ich es begriffen, und von da ab bin ich immer stiller geworden. Mein Leben ist mir zu kostbar, mich unter einen Apfelbaum zu stellen und ihn zu bitten, Birnen zu produzieren. Ich nicht mehr. Ich habe mit diesem Land, dessen Sprache ich so wenig wie möglich spreche, nichts mehr zu schaffen. Möge es verrecken – möge es Russland erobern – ich bin damit fertig. Ich glaube Sie als Schriftsteller zu kennen – es ist möglich, dass Sie sich hiermit auseinandersetzen. (Es wäre mir in einem solchen Falle lieb, sehr lieb, wenn Sie meinen Namen fortließen; ich will nicht einmal als Diskussionsbasis über deutsche Dinge dastehn – vorbei, vorbei.) Aber ich kann nicht unrecht haben –: die Tatsachen sprechen für mich. Die Tatsache, dass es ein Volk gibt (Juden und die schwächliche deutsche Bourgeoisie, die sich als links ausgab oder es zum kleineren Teil auch gewesen ist), ein Volk, das Demütigungen einsteckt, ohne sie zu fühlen. Sie haben eine Frau – Sie haben Kinder, glaube ich. Nun … – »Dabei sensible Naturen, die es vielleicht nicht so schroff empfanden, wenn ein Knote ganz bieder am Versöh-nungstage einem Herrn mit Gebetbuch ‚Verfluchtes Judenaas!’ nachrief; oder wenn ein Major von den ‚Elfern’ vorn auf der Straßenbahn offen erklärte: ‚Wieviel schwangere Judenweiber man sieht – ’s ist zum Kotzen!’ Nicht das war verletzend. Sondern wenn aufgeklärte Freunde, Wohlwollende, schonend sagten ‚Die jüdischen Herrschaften’ – das traf.« Das ist von Kerr. Wie soll das also erst bei einem mindern Menschen aussehen. Nein, mein Lieber – das ist nichts und das wird nichts. Diese Frage sehe ich weit über das Jüdische hinaus – ich sehe eine Sozialdemokratie, die erst siegen wird, wenn es sie nicht mehr gibt – und zwar nicht nur, weil sie charakterlos und feil und feige gewesen ist (und wer war denn das anders als eben wieder Deutsche) – sondern die die Schlacht verloren hat, weil die Doktrin nichts taugt – sie ist falsch. Glauben Sie bitte nicht, ich sei inzwischen zu Blut und Boden oder sonst etwas übergelaufen – ich empfehle Ihnen von Dandieu et Aron ‚La révolution nécessaire’, ich empfehle Ihnen die Hefte des ‚Ordre Nouveau’, eine der belangreichsten Sachen, die mir je untergekommen ist, ich empfehle Ihnen à la rigueur auch den ‚Esprit’ (Paris) – und Sie werden sofort begreifen, was ich meine. Man muss vorn anfangen. Man muss ganz von vorn anfangen – »Ford, c’est Descartes descendu dans la rue« heißt eine der Formeln Dandieus – (Er ist leider, viel zu jung, mit 36 Jahren gestorben.) Man muss von vorn anfangen – nicht auf diesen lächerlichen Stalin hören, der seine Leute verrät, so schön, wie es sonst nur der Papst vermag – nichts davon wird die Freiheit bringen. Von vorn, ganz von vorn.

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Die beiderseitige Infektion mit dem Evidenzmedium Blut ist so stark, dass eine grundsätzliche Infragestellung des Prinzips ‚Blut‘ unmöglich ist: Der Evidenzraum wird in der hämozentrischen Epoche von ihm aufgespannt. Plessners rückblickende Erkenntnis ist unser Ausgangspunkt. – In einer Ergänzung zum dritten Kapitel seines bekannten Werks ‚Die verspätete Nation‘ (1935/1959) schreibt Helmuth Plessner: „Man hört immer wieder sagen, der ganze Antisemitismus sei bloßer Konkurrenzneid. Das ist zum guten Teil richtig, erklärt aber nicht die besondere Art ideologischer Verbrämung und Rechtfertigung. Ihr kommt man näher, wenn man in einem tieferen Sinn von Konkurrenz spricht und nicht Geschäft und Position, sondern die Schicksale der beiden Gegenspieler bedenkt. Beide sind »Völker« und mehr als Staaten. Beide sind in ihrem Missverhältnis zum Staat, in dem ihnen von der Geschichte auferlegten Wartezustand zugleich Zeugen einer untergegangenen Vorwelt und Unterpfänder einer erst kommenden Weltordnung. Beide sind unglücklich und darin groß: von vorgestern und von übermorgen, ohne Ruhe im Heute. Gibt es einen stärkeren Beweis für diese Ähnlichkeit im Schicksal, als dass die Deutschen in ihrer Furcht vor Überfremdung sogar die archaische Denkweise der alttestamentarischen Volksfrömmigkeit übernehmen und von Halb-, Viertel- oder Achtel-Juden, von Reinheit des Blutes und völkischem Geist sprechen konnten; dass sie sich, wenn auch in biologischer Ausdrucksweise des Rassentheorems und der Vererbungswissenschaft, dem vorchristlichen Stammesdenken ihres vermeintlichen Gegners in einer, sonst nur in moderner bilden-der Kunst begegnenden, veritablen »préhistoire moderne« anzugleichen suchten? [H.v.m.]“58 Plessner erkennt richtig den Unterschied zwischen der bloß – wie Ha’am sie nannte – konkurrie-renden Nachahmung und der in einem „tieferen Sinn“ verstandenen Konkurrenz, der die „Schick-sale der beiden Gegenspieler bedenkt“. Als Beweis für die „Ähnlichkeit im Schicksal“ führt er die Übernahme der „archaische[n] Denkweise … alttestamentarischer Volksfrömmigkeit“ in den Nürnberger Gesetzen an. Genau hier, nämlich der in einem tieferen Sinn verstandenen Konkurrenz, setzt unsere Montage ein: Indem sie die – von Plessner so genannte – ‚alttestamentarische Volks-

Wir werden das nicht erleben. Es gehört dazu, was die meisten Emigranten übersehen, eine Jugendkraft, die wir nicht mehr haben. Es werden neue, nach uns, kommen. – So aber gehts nicht. Das Spiel ist aus. Nihilismus –? Lieber Zweig, ich habe in den letzten fünf Jahren viel gelernt – und wäre mein schlechter Gesund-heitszustand nicht, so hätte ich dem öffentlich Ausdruck gegeben. Ich habe gelernt, dass es besser ist, zu sagen, hier sei nichts – als sich und andern etwas vorzuspielen. (Was Sie nie getan haben.) Aber das Theater der Verzweiflung, die noch in so einem Burschen wie Thomas Mann einen Mann sieht, der, Nobelpreisträger, sich nicht heraustraut und seine »harmlosen« Bücher in Deutschland weiter verkaufen lässt – die Verzweiflung, die dieselben Fehler weiter begeht, an denen wir zugrunde gegangen sind –: es nämlich nicht so genau mit den Bundesgenossen zu nehmen – dieses Theater kann ich nicht mitmachen. Und hier ist das, was mich an der deutschen Emigration so abstößt –: es geht alles weiter, wie wenn gar nichts geschehen wäre. Immer weiter, immer weiter – sie schreiben dieselben Bücher, sie halten dieselben Reden, sie machen dieselben Gesten. Aber das ist ja schon nicht gegangen, als wir noch drin die Möglichkeit und ein bisschen Macht hatten – wie soll das von draußen gehn! Sehn Sie sich Lenin in der Emigration an: Stahl und die äußerste Gedankenreinheit. Und die da –? Schmuddelei. Doitsche Kultur. Das Weltgewissen … Gute Nacht. Ich enthalte mich jedes öffentlichen Schrittes, weil ich nicht der Mann bin, der eine neue Doktrin bauen kann – ich bin kein großer Führer, ich weiß das. Ich bin ausgezeichnet, wenn ich einer noch dumpfen Masseneinsicht Ausdruck geben kann – aber hier ist keine. Entmutige ich –? Das ist schon viel, wenn man falsche und trügerische Hoffnungen abbaut. Ich glaube übrigens an die Stabilität des deutschen Regimes – es wird von der ganzen Welt unterstützt, denn es geht gegen die Arbeiter. Aber stürzte das selbst zusammen –: die deutsche Emigration ist daran unschuldig. Ich sehe den Referenten im Propagandaministerium: er muss sich grinsend langweilen, wenn er das Zeug liest. Es ist ungefährlich. Das ist ein langer Brief geworden – halten zu Gnaden. Ja, wenn Sie herkommen und ich bin grade in der Schweiz, wirds mich freuen, mit Ihnen zu plaudern. Ich bin ein aufgehörter Schriftsteller – aber mit Ihnen sprechen, das wird immer ein kleines Fest sein. Alles Gute für Sie. Und vor allem für Ihre Augen! Herzlichst Ihr getreuer Tucholsky“ In: Ordo, 1938, Nr. 11 (15.10.1938), S. 18ff. – Kurt Tucholsky verstarb am Abend des 21. Dezember 1935 an einer Überdosis Schlaftabletten. 58 In: H. Plessner, Die Verführbarkeit des bürgerlichen Geistes, Ges. Schriften VI, Frankfurt 2003, S. 221f.

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frömmigkeit‘ der Juden als das Modell-Hindernis (modèle obstacle) erkennt, an dem sich die Deut-schen mimetisch rivalisierend abarbeiten.

Drei Nachbemerkungen Ad Derrida. – Im Jahr 1967 erschien Derrida’s Schrift ,La voix et le phénomène‘. Wie bekannt, rechnet der Dekonstruktivist darin mit der letzten Ausgeburt des metaphysischen Denkens – mit Husserl – ab. Der Predigt von der ‚phänomenologischen Kanzel‘ herab, die sich als ‚transzen-dentales Ego‘ in ihrer Selbstgegenwart absolut setzt, wird eine vergessene Äußerlichkeit entge-gengehalten: die Schrift. Da die Schrift es sei, die, beruhend auf Zeichen, dem Philosophen eine selbstidentische Wiederholbarkeit derselben idealen Bedeutung vorspiegele, sei die phänomeno-logische Stimme immer schon mit einer sie untergrabenden und nicht kontrollierbaren Äußer-lichkeit behaftet etc.. Derrida fasst die Metaphysik als vergangene Ära des Phonologozentrismus. Die Stimme habe innerhalb der Metaphysik immer als eine „absolut verfügbare signifikante Sub-stanz“59 („substance signifiante absolument disponible“) gegolten. Nun passt die Bezeichnung ‚Substanz‘ schlecht auf die Stimme: Diese ist doch eher ein Wellenartiges, eine Schwingung, ein Hörbares – aber bestimmt nicht als ‚Substanz‘ ansprechbar. Auf den Einwand, den Derrida sich selber stellt: „Gibt es denn nicht, wird man einwenden, Formen reiner Selbstaffektion, die in der Innerlichkeit des eigenen Körpers keinerlei Einwirkung durch eine der Welt ausgesetzte Oberflä-che benötigen und dennoch nicht von der Art der Stimme sind?“ – gibt er sich selbst die Ant-wort: „Diese Formen jedoch bleiben rein empirisch, sie können einem Medium universaler Be-deutung nicht angehören.“60 Diese Antwort denkt zu kurz; sie vergisst und übergeht das Medium bzw. die Substanz des Blutes: Denn es ist gerade dieses Medium, das, zwar je partikularistisch verankert, sprechend, Anspruch auf Universalität erhebt – der typisch jüdisch-deutsche Komplex. Derrida hat sich zeitlebens nicht mit der Wendung von der Stimme des Blutes auseinandergesetzt. Spät, sehr spät, gibt es von ihm lediglich den Hinweis auf das „(rätselhafte Denken des Blutes bei Rosenzweig)“61. Eine Auslegung der Sätze im ersten Buch des dritten Teils von Rosenzweigs ,Stern der Erlösung‘, das Judentum spezifizierend: „Es gibt nur eine Gemeinschaft, in der ein solcher Zusammenhang ewigen Lebens vom Großvater zum Enkel geht, nur eine, die das »Wir« ihrer Einheit nicht aussprechen kann, ohne dabei in ihrem Innern das ergänzende »sind ewig« mitzuvernehmen. Eine Gemeinschaft des Bluts muss es sein, denn nur das Blut gibt der Hoffnung auf die Zukunft eine Gewähr in der Gegenwart. … [H.v.m.]“62 – unterbleibt. Innerste Erregung und weiteste Erschütterung. – Heidegger, man weiss es, hat die politische Umwälzung im Deutschland der frühen dreissiger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts mit seinem Kommentar bzw. seinen Aufrufen begleitet. Er kann als Seismograph der Geschichte Deutsch-lands jener Zeit gelten. Weit entfernt davon, als Urheber oder Stifter der Zeitenwende in Betracht zu kommen, hat er lediglich – aber das immerhin – die Vibration des epochalen Bruchs in seinen Reden von 1933/34 gespiegelt und ihr damit Ausdruck verliehen63. Noch in den ‚Beiträgen zur Philosophie (Vom Ereignis)‘ lesen wir: „Worauf stützt sich in all dem Ungestützten solchen Fra-gens nach der Wahrheit des Seyns die Vermutung, der Stoss des Seyns möchte schon eine erste Erschütterung in unsere Geschichte hereingeworfen haben? Wieder auf ein Einziges: dass Hölderlin jener Sagende werden musste, der er ist.“64 Es war Heideggers grosser Irrtum, zu glau- 59 J. Derrida, Die Stimme und das Phänomen, Frankfurt 2003, S. 108. 60 Ebd. S. 107. 61 J. Derrida, Interpretations at War: Kant, the Jew, the German (1991). In: PSYCHE, Inventions of the Other, Vol-ume II, California 2008, S. 254: “(let us keep in mind Rosenzweig's enigmatic thinking of blood)”. 62 F. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Frankfurt 1988, S. 331. 63 Eine vergleichbare Seismographie liefert E. M. Cioran in seinen – vom vibrierenden Fanatismus des neuen Deutschlands überwältigten – Texten, die er nach Rumänien schickt. Jetzt in: E. M. Cioran, Über Deutschland, Berlin 2011. 64 M. Heidegger, GA 65, S. 485.

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ben, dass die Erschütterung, die damals durch das deutsche Volk ging, etwas mit der Wieder-aufnahme eines irgendwie verstandenen ‚griechisch-deutschen Geschicks‘ zu tun habe; und es ist bezeichnend, dass eine Thematisierung und Problematisierung des Erwählungsgedankens sich in seinem Werk nicht finden lässt – trotz Hölderlin, der in ‚Germania‘ dichtet: „Der Jugendliche, nach Germania schauend: / »Du bist es, auserwählt [H.v.m.] / Alliebend und ein schweres Glück / Bist du zu tragen stark geworden.«“ Eine Auslegung oder Erklärung der Worte Hölderlins von der Auserwähltheit in der Vorlesung des Wintersemesters 1934/35 unterbleibt65. Heidegger er-kennt zwar richtig, dass eine totale ‚Umwälzung des deutschen Daseins‘ statthat, aber an Stelle des philosophiegeschichtlich notwendigen ‚anderen Anfangs‘, bereitet Hitler die Endlösung der Judenfrage vor. „Aber der Angeklagte winkte ab. Man müsse da sein, sagte er, wenn man angerufen werde, doch selbst anzurufen, das sei das Verkehrteste, was man tun könne.“66 Hindernisvernichtung. Fichte. – Bei der Lektüre des eben erschienenen Journals von P. Slo-terdijk67 stosse ich auf eine Passage, die sich sehr gut als Abschluss eignet. Unter dem Datum des 21. Juni 2009 kommt Sloterdijk auf eine Vorlesung Fichtes zu sprechen, die dieser im Jahr 1812 unter dem Titel ‚Das System der Sittenlehre‘ gehalten hat. Er deutet Fichtes Verständnis der Zeit als Kombination zweier ‚Existenzialzeiten‘, einer Zeit der ‚subjektiven Vervollkommnung‘ und einer des ‚historischen Projekts‘ und bestimmt Fichtes Weltverbesserungsprojekt als Praxis der „»Vernichtung des Hindernisses gegen die Ausführung der Weltverbesserung«“ – und fügt an: „Die grössten Gewaltakte des letzten Jahrhunderts waren ihrem logischen Design [sic!] gemäss nichts anderes als Ausführungen dieser Anweisung zur Politik als Hindernisvernichtung. Was die Weltverbesserung stört, hat Besseres als die Auslöschung nicht verdient. Nie wurden das Klügste und das Schlimmste enger zusammengedacht.“68 Hätte Sloterdijk das Motto Ciorans (siehe Titel-blatt) und die Theorie Girards mit seiner Deutung Fichtes in Verbindung gebracht, wäre er an die Schwelle zur hier präsentierten Montage gelangt.

65 M. Heidegger, GA 39, S. 11. 66 Das Zitat aus H. E. Nossacks ‚Unmögliche[r] Beweisaufnahme‘ (1959) fügt Heidegger am Ende seines Vortrags ‚Zeit und Sein‘ (1962, Freiburg) an. Es ist eine späte, sehr späte, Rückblende und Reflexion des Geschehenen. – Dass gesagt wird: „Bei Nossack selbst ist hier allerdings das Verhalten von Anrufenden und Angerufenen in einem grund-sätzlich anderen Sinne gemeint als bei Heidegger“ (in: Ute Guzzoni, Nachdenken über Heidegger, Hildesheim 1980, S. 134.) – ist dagegen unerheblich. 67 P. Sloterdijk, Zeilen und Tage Notizen 2008-2011, Berlin 2012. 68 Ebd. S. 229.