Marlon Grohn Kommunismus für Erwachsene - Eulenspiegel...mal ganz anderen Sozialismus haben will...

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Marlon Grohn

Kommunismus für ErwachseneLinkes Bewusstsein und die Wirklichkeit des Sozialismus

Das Neue Berlin

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ÜBER DAS BUCH:

Once upon a time in der deutschen Linken: Kapitalismuskritikist inzwischen allgegenwärtig und zugelassene Folklore – aufdem Campus wie in Talkshows. Mit den ursprünglichen Zielenvon Marx und Engels hat sie allerdings nichts mehr zu tun.Denn irgendwann stellten sich Bewegungen und Einzelakteure,die einmal die kommunistische Revolution wollten, in denDienst des Liberalismus und seiner, wie es heute heißt, „Narra-tive“, also Ideologie. Unter dem Vorwand, die kapitalistischeGesellschaft radikal zu kritisieren, sind Linke dazu übergegan-gen, die bürgerliche Ideologie zu festigen. Das geschieht u.a.mittels konsequenter Antidialektik. Das Buch kommt zu demSchluss: Was sich heute als Emanzipation, undogmatischer Mar-xismus, antiautoritäre Linke oder Wert- und Ideologiekritik bezeichnet, hat zum Kommunismus kein Verhältnis mehr, dasüber naive Parolen und begriffsloses Herummäkeln an Neben-sächlichkeiten hinausgeht.

ÜBER DEN AUTOR:

Marlon Grohn, geboren und aufgewachsen in Westdeutschland,hat Germanistik und Soziologie studiert und betreibt seit 2008den Blog Lyzis’ Welt.

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Verlag Das Neue Berlin –

eine Marke der Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage

(Das Logo des Verlags ist nicht Ausdruck einheitstaumelnder Berlinseligkeit. Es zeigt das Brandenburger Tor zum Zeitpunkt der Gründung des Verlags Das Neue Berlin, als sowjetische Truppen die Stadt befreit und einige Kor-

rekturen an ihrer Silhouette vorgenommen hatten, über deren Ursachen die Deutschen bis heute nicht zu einem vollständigen Bewusstsein gelangt sind.)

ISBN 978-3-360-01355-2

1. Auflage 2019

© Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage GmbH, Berlin

Umschlaggestaltung: Buchgut

www.eulenspiegel.com

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Inhalt

Vorwort ___________________________________ 227

Dünkel und Erhellendes _______________________ 215

Das Elend der Herrschaftskritik _________________ 268

34 notwendige Bestimmungen zu einem richtigen Begriff des Stalinismus _________ 161

Anmerkungen _______________________________ 255

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„Der Marxismus muss irgendein Mittel finden, sich jugendliche Anhänger vom Hals zu schaffen.“

Peter Hacks

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Vorwort

Zunächst das Erleichternde:Die in diesem Buch enthaltenen Schriften stützen sich nicht aufdie bloße Illustration, Erklärung oder „Einführung“ eines ohne -hin schon tausendmal behandelten Theoriegebäudes, an dessenIdeen sich ein Autor bequem entlang hangeln kann, ohne dabeiselbst auch nur den Hauch einer Denkanstrengung vollzogenhaben zu müssen. Die Schriften sollen Ausgangspunkt für künf-tige Untersuchungen und Unternehmungen sein, nicht dieNachbereitung oder das Aufwärmen von abgestandenem Denk-brei. Es soll um Wesentliches gehen, nicht um Partikulares, wes-halb man hier keinen weiteren Beitrag zum Müllberg der Mar-xologie finden wird. Ebenso wenig wird es jenen recht gemacht,die ein betuliches Sachbuch erwarten, das dem Positivismus hul-digt, oder sich irgendeine besonders radikale Polemisiererei,wenn nicht gar „Streitschrift“, die lediglich Kritik betreibt, er-hoffen. Auch reklamiert der Verfasser bei seinem Unterfangenkeine außergewöhnliche Originalität für sich, so als stünde ernicht bereits auf dem großzügig hergerichteten Fundament derklassischen Riesen, also Hegel, Goethe, Marx, Brecht, Hacks.

Das Buch ist weder als ein rein philosophisches noch rein politi-sches zu verstehen, im Gegenteil: Es begibt sich auf jenes Feld,auf dem sich bereits die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass beidesnicht voneinander zu trennen ist, wenn man es mit der Sachewirklich ernst meint. Die Trennung von Philosophie und Politikerachtet sein Verfasser als ein reaktionäres Kalkül, durch welchesder Philosophie jegliche Handlungsoption ausgetrieben und derPolitik jede weitergehende Reflexion unterbunden werden soll;es handelt sich um eine Trennung, die sich vermittels des post-wissenschaftlichen Betriebs, also der geschlossenen Anstalt na-mens universitärer Geisteswissenschaft, allmählich in ganzerBreite durchgesetzt hat – wer ihr auf den Leim geht, verschreibtsich schon der Romantik, dem Idealismus und der Konterrevo-lution, weswegen hier mit gewissem Nachdruck davon abgese-hen wird, da mitzutun.

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Der Verfasser bemüht sich, bei seinen Ausführungen wissen-schaftlich zu verfahren, verleiht – in der guten Tradition derKlassik – dem Ganzen aber den Anschein von Essayistik, womiter sich der gegenteiligen Methode bedient, welche die Akade-miker auszeichnet: Wo diese subjektivistischen Blödsinn schrei-ben, dem sie mittels formalem Firlefanz den Anschein von Wis-senschaft verleihen, sollen hier die manchem eventuell und mitallem wertlosen Recht der Welt als subjektivistischer Blödsinnerscheinen mögenden Aufsätze als Material zur Begründungeiner Wissenschaft dienen, die das systematische Konzept einermarxistischen Revolutionstheorie befördern will, welche derVerfasser in Anlehnung an die Fülberth’sche „Kapitalistik“ vor-läufig Revolutionistik nennen möchte.Diese soll, in Absehung und Aufhebung von einerseits rein ka-pitalismuskritischen Unverbindlichkeiten und andererseits bloßutopischer Wünscherei und Ausmalerei, ihre Position gerade injener so wenig beachteten zwielichtigen Zone beziehen, die zwi-schen der bloßen Kritik und dem bloßen Postulieren eines ferti-gen, idealen kommunistischen Endzustands liegt: den der län-geren historischen Periode einer kommunistischen Revolution,die zunächst einmal den Aufbau der Grundlagen ihrer ersten ge-sellschaftlichen Phase, des Sozialismus, zu bestreiten hat. Revo-lution durchführen, festigen, verteidigen – bei gleichzeitiger Ein-führung neuer Normen, Regeln und Institutionen: das sind zweiBetätigungen, die aber eine Phase bilden, oder um mit Lenin zusprechen: Es geht darum, den Karren zu ziehen, auf dem mangleichzeitig fahren muss.Es wird also gehen um die wissenschaftliche Auseinandersetzungmit den Möglichkeiten und Notwendigkeiten, den Fähigkeitenund Bedürfnissen der Periode der Revolution, der Phase des so-zialistischen Aufbaus und der allmählichen Formung zum So-zialismus unter Heranziehung der lehrreichen Geschichte des so-genannten Realsozialismus, der eben Sozialismus war und des-halb auch so genannt werden darf. Der Verfasser strebt die Rea-lisierung des Sozialismus an, was weder heißt, dass er den gewe-senen Sozialismus in seiner historisch spezifischen Form eins zueins wiedereinberufen möchte, was, selbst wenn er (was er tut)wollte, nun mal nicht möglich ist, noch, dass er einen nun aber

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mal ganz anderen Sozialismus haben will (was, selbst wenn er –was er nicht tut – wollte, ebenso nicht möglich ist). Vielmehr be-zweckt er, begreiflich zu machen, was es bedeutet, dass es derRealität eben völlig einerlei ist, was er und andere so wollen undmöchten, und was sich überhaupt alle möglichen Linken so wün-schen und erträumen, und was es eben heißt, als Kommunist mitjenerWelt und jener Menschheit Vorlieb nehmen zu müssen, dienun mal die einzig vorhandenen sind. Denn auch heute könnensich die Kommunisten immer noch kein anderes Volk wählen.

Eine durch das gesamte Buch verlaufende Frage ist die nachdem Verhältnis von Exoterischem und Esoterischem. Dieseswird nicht nur in Dünkel und Erhellendes explizit behandelt;auch bei Lektüre der anderen Schriften scheint es dem Verfasserangebracht, immer die Exoterik-Esoterik-Dialektik mitzube-denken, weil sich um dieses Verhältnis immer viel gedreht hatund drehen wird, und es sich deshalb als wirksamer begrifflicherHebel für weitere revolutionstheoretische Bestrebungen anbietet.Gerade solche Phänomene, die damit zu tun haben, was heuteso als Kommunismus oder Klassenkampf aufgefasst wird, lassensich besser überschauen, wenn man berücksichtigt, inwieferndie Gesetzmäßigkeiten exoterischen und esoterischen Handelnseine Rolle spielen.Die drei Schriften sind unabhängig voneinander konzipiert undals einzelne gültig, was erklärt, weshalb sie sich in manchenPunkten überschneiden. Die gegebene Reihenfolge ist die zurLektüre empfohlene.Was von all dem beim geschundenen Bewusstsein, also der so-genannten öffentlichen Meinung, wohl wieder nur hängen blei-ben wird, sind die langen Sätze und die abstrakten Ausdrücke,also: Begriffe, die inzwischen so fasziniert begafft werden wiedie Monumente einer längst vergangenen Zivilisation. Das istdas Zugeständnis, welches der rohe wie der kultiviertere Pöbeldem Geist immerhin zu machen bereit ist, gleichsam seine Artder Anerkennung: Er glaubt, er verstünde den Satz ob seinerLänge oder Abstraktheit nicht, dabei versteht er dessen Inhaltnicht, weil er nämlich ein Interesse an der Wahrheit habenmüsste, um deren Begriffe zu billigen. Aber die Bedeutung der

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Begriffe ist unmissverständlich: Der Verfasser steht im Ruf, denIdeen von Marx und Engels anzuhängen, und hat daher auchnicht die Absicht, sich von deren bis heute gültigen Sätzen irgendzu distanzieren und die da etwa lauten: „Die Kommunisten ver-schmähen es, ihre Ansichten und Absichten zu verheimlichen.Sie erklären es offen, daß ihre Zwecke nur erreicht werden kön-nen durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesell-schaftsordnung.“ (Marx Engels Werke 4, S. 493).Natürlich wirkt der Verfasser auf eine solche, erfolgreiche kom-munistische Revolution hin, und wenn man dereinst über ihnsagen wird, dass er sich für diese als nützlich erwiesen hat, wirdihm das Anerkennung genug sein – es muss jetzt also niemandlange rätseln, worauf das Buch hinaus will.

Der Krempel im Blog hatte seinen Zweck und nutzte die Gele-genheiten der Situation mit der Neigung zu den entsprechendenMitteln des Hasses der Vernunft, aber die Zeiten von Blogs sindnun wohl vorüber; jetzt muss man eben wieder Bücher schreiben.Schade, aber der Verfasser kann es auch nicht ändern. PeterHacks fand, dass „jeder Kommunist, der Bücher schreiben kann,sein eigenes bescheidenes Buch über den Kommunismus schrei-ben“ solle. Diejenigen aber, die heute Bücher über den Kom-munismus schreiben, sind keine Kommunisten, und jene, dieKommunisten sind, können keine Bücher schreiben; das ist,knapp skizziert, die geistige Ausgangslage, von deren Beilegungder Verfasser gerne noch vernehmen würde.Viele in irgendeiner Weise an den Marxismus anknüpfende Bü-cher, die den Verfasser in den letzten Jahren geärgert haben, undgerade die klügeren darunter – gar solche, die seinen Absichtenin ihrer Substanz nahestehen –, sind zwar so geschrieben, alswären sie für besonders Schlaue, halten die Leser aber trotzdemfür blöd – und zwar für so blöd, wie sie in ihrer Mehrheit auchwirklich sind. Dieses Problem hat der Verfasser nicht; er weiß,dass die Leser doof sind, hält sie aber zumindest in Teilen fürentwicklungs- und bildungsfähig: Wenn also, denkt er sich, derLeser ohnehin schon nichts versteht, kann man auch gleich un-verständlich – aber dafür eben Richtiges – schreiben.

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„Weniger Demokratie wagen“ also: „Ist das wirklich ernst gemeint?“Natürlich ist das alles „ernst gemeint“. Aber mal davon abgese-hen, dass „meinen“ keine Kategorie von Relevanz ist, liegen die-sem ErnstBegriffe zugrunde, für welche die damit angegriffenenGegenwartsdemokraten nichts übrig haben, weil ihr Demokra-tieverständnis letztlich auf Ignoranz, etwa gegenüber materiali-stischen dialektischen Kategorien fußt und fußen muss, wennsie sich, also ihre Gesellschaftsform und Produktionsweise, er-halten wollen. Natürlich kann man nicht verstehen, was „weni-ger Demokratie wagen“ oder überhaupt schon „Demokratie“bedeutet, wenn man diese immer nur aus der sich mit ihr vollidentifizierenden Innenperspektive betrachtet und Lenin nichtgelesen hat. Solche Interpretationen liegen aber nicht in der Verantwortungdes Verfassers. Vom interessierten – das heißt noch nicht gebil-deten – bürgerlichen Intellektuellen ist also zunächst mal zu er-warten, dass er sich zumindest im Ansatz über die verhandeltenGegenstände in Kenntnis setzt, bevor er schon wieder „Kritik“anbringen will oder sich in Amazon-Rezensionen über „unver-ständliche Sprache“ (also Sprache, die kein Verständnis für seineVerblödung aufbringt) und „autoritären Gestus“ (also das Fest-halten an wissenschaftlichen Kriterien) beklagt.Was nicht sein darf, das kann auch nicht sein – dessen ist sichder Bourgeois sicher. Er will die offene Diskussion, aber unterder Bedingung, dass die Grundlagen seines Diskurses, also jeneder vom Weltgeist zufällig noch mitgeschleppten, hinfälligenbürgerlichen Demokratie, nicht angetastet werden. Der derzei-tige deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat dasunlängst auf einem dieser Tage der offenen Tür des Liberalismusoder wie diese staatlich beaufsichtigten Werbeveranstaltungenzur Denkabgewöhnung sich nennen, versehentlich sehr treffendformuliert: Er habe vor, mit jedem zu reden und jeder dürfealles sagen – solange dieser das Grundgesetz achte, also die Herr-schaft des Privateigentums und die dieses schützende Demo-kratie voll und ganz affirmiert. Mir kann keiner erzählen, dass,wer noch bei Trost ist, sich angesichts solch erpresserischer Of-fenheit und Meinungsfreiheit nicht die seligen Zeiten der redli-chen kommunistischen Zensur zurückwünscht.

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Dass Lenin 1917 seine Imperialismus-Schrift veröffentlichenkonnte, lag an ihrer positivistischen Abfassung, an der die zari-stische Zensur nichts hatte beanstanden können. Was sich in denletzten hundert Jahren seitdem geändert hat, ist, dass die direkteZensur nun weg ist und durch eine indirekte ersetzt wurde: Mandarf heute schreiben, was und wie man will, es liest nur keinermehr – und wenn es gelesen wird, ist dank bürgerlicher Bil-dungsinstitutionen dafür gesorgt, dass es nicht nur nicht begrif-fen wird, sondern auch schon wieder als Anschauungsmaterialfür die Argumente der Gegenpropaganda genutzt werden kann.Diesen Umstand versucht sich der Verfasser dieses Bändchenszu Nutze zu machen und schreibt daher direkt und ohne dop-pelten Boden vom Standpunkt des Marxisten, was ihn wiederumzu Fragen wie der führt, ob nicht inzwischen hier und da dochwieder die direkte Zensur als ein legitimes Mittel zur Nieder-haltung von Kommunisten erachtet wird, welche, wenn es nachin der BRD immer noch gut beleumundeten und einflussreichenKPD-Verbietern, Berufsverbotserteilern, Mitarbeiterinnen se-xuell belästigender Stasi-Gedenkstättenbetreibern sowie sonsti-gen medial marodierenden antikommunistischen Verantwor-tungsträgern geht, eindeutig mit „Ja“ beantwortet wird, und zuder, ob das nicht eventuell auch von unserer Seite aus zu begrü-ßen wäre, da es den Klassenkampf ja auf eine höhere Stufe heben,ihn nämlich offen ausbrechen lassen würde. Wir sollten die fa-mosen Gelegenheiten, die uns die Meinungsfreiheit der liberalenDemokratie bietet, wirklich noch mal auskosten, solange unsdas noch gestattet ist.

Denn natürlich hat die Ideologie der bürgerlichen DemokratieRecht, wenn sie behauptet, dass in ihrem System ein Wettbewerbder Parteien, also Interessen herrscht; sie verschweigt dabei aber,dass die einmal an die Macht gekommene Interessenspartei aliasBourgeoisie – die allemal auch aus mehreren politischen Parteiengleichzeitig bestehen kann – exterminatorisch verfährt, also allenicht siegreichen Parteien, und damit eben unter anderem auchveritable Alternativen zur bestehenden Ordnung, insofern aus-löscht, als sie ihnen innerhalb der demokratischen Verhältnissenicht mehr gestattet, wirkmächtig zu werden (KPD-Verbot,

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„Radikalenerlass“ und Verfassungschutzmaßnahmen gegenKommunisten lassen grüßen); „Mitwirkung der Parteien an derpolitischen Willensbildung des Volkes“ nennt sie das. Eingedenkdieser Verhältnisse weiß die Partei neuen Typs gewöhnlicher-weise, wie zu verfahren ist.

Zu seinem Gebrauch des Begriffs Weltgeist hat der Verfasser an-zumerken, dass es sich bei diesem selbstverständlich um einendialektisch-materialistischen handelt: Die dialektischen Mate-rialisten – der Verfasser inbegriffen – behaupten, der Weltgeistexistiere; aber eben nicht, wie es die geneigten Berufsfalschver-steher gerne hinstellen, als bloßes bestimmendes, absolutes Sub-jekt, wie noch bei den Idealisten oder beim Christentum unddessen Möchtegern-Weltgeist namens Gott, sondern als Subjekt-Objekt, das heißt: als Synthese von Subjekt und Objekt, also zumeinen als Objekt, das heißt als institutionalisierte Ansammlungder Gesamtheit menschlicher Ideen, die dann – als Subjekt –wieder zurückwirken auf die Menschheit. Dass der Weltgeistkeine gottgleich wirkende, übergeordnete, absolute Instanz ist,bedeutet also – man muss das hier noch mal explizit für kritischeKritiker und Marxologen betonen – noch lange nicht, dass einsolcher nicht existiert. Oder, um mich ausnahmsweise verständlich auszudrücken:Weltgeist ist, wenn die fortschrittlichsten Gehirne einer Zeit sichuntereinander vernetzen und dann einen in mehreren Bewusst-seinen gesicherten Server bilden, dessen Inhalte auf ewig gespei-chert sind, so dass die Weltpraxis, also die Gemeinschaft derKommunisten, sich ihre Zukunft garantieren kann, bis sie aus-bricht und ihr Werk fortsetzen wird.

Des Weiteren benutzt der Verfasser einige Male das Wort „klein-bürgerlich“: Das Synonymlexikon bietet dafür Wörter wie „be-schränkt“, „borniert“, „dogmatisch“, „engherzig“, „einfältig“,„spießig“, „angepasst“, „unwissend“, „kleinkariert“ und weitereBedeutungen aus dem Sprachalltag an. Keines dieser Synonymetrifft den Begriffsgebrauch des Verfassers auch nur im Ansatz.Bei ihm handelt es sich um die marxistische Kategorie des Klein-bürgers, also um ein Individuum, das nicht zum niedersten Pro-

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letariat gehört, aber auch noch lange nicht die gesellschaftlicheStellung eines Bourgeois erlangt hat. Der Kleinbürger ist letzt-lich ein abhängig Beschäftigter, der sich aber zuweilen als „un-abhängig“ oder „selbständig“ empfindet, weil er beispielsweiseals höherer Angestellter, Hausbesitzer oder Kleinunternehmersein Dasein zu fristen gezwungen ist, sich deshalb stets im ideo-logischen Windschatten der herrschenden Klasse bewegt, weiler glaubt, daraus Vorteile ziehen zu können. Kurzum: DerKleinbürger ist ein armes Schwein, das sich für einen tollenHecht hält. Die sozialistische Revolution wird das Kleinbürger-tum als soziale Schicht vollumfänglich abschaffen, es ist daherkein Wunder, dass Sozialisten heute mit einem gewissen Bedau-ern auf dasselbe blicken; man schaut schließlich ungern einerArt beim Aussterben zu.

Köln, im März 2019

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I. Thesis: Weniger Demokratie wagen – die Erfordernisse des Dünkels

„Die Philosophie ist ihrer Natur nach etwas Esoterisches, für sichweder für den Pöbel gemacht noch einer Zubereitung für den Pöbelfähig; sie ist nur dadurch Philosophie, daß sie dem Verstande unddamit noch mehr dem gesunden Menschenverstande, worunter mandie lokale und temporäre Beschränktheit eines Geschlechts der Men-schen versteht, gerade entgegengesetzt ist; im Verhältnis zu diesemist an und für sich die Welt der Philosophie eine verkehrte Welt.“(Hegel) 1

„Die Dunkelheit der Hegelschen Sprache ist die Dunkelheit einerGeheimsprache. Die Welt ist ins Rutschen, die Menschheit ins Schie-ben gekommen. Hegels Bild trägt dem Rechnung.“ (Brecht) 2

1. Der reaktionäre Wunsch nach Klarheit und ErhellungSelbst einige der klügeren Köpfe unserer Zeit sind ja mit einerGeisteskrankheit 3 geschlagen, die man allgemein mit der Be-zeichnung „gesunder Menschenverstand“ zu verharmlosenpflegt und die heute unter dem Namen „Demokratie“ ihr Aus-kommen hat.Das demokratische Bedürfnis jener Pluralisten, die gegen Un-verständlichkeit, also Dünkel und Esoterik in Kunst, Literatur,Medien, Politik, wettern, ist dabei offensichtlich eines von be-griffs- und bestimmungsfeindlichen Opportunisten. Unter derDecke der Forderungen nach möglichst populistischem Ge-schwafel steckt nicht sehr verborgen die Anmaßung, alle Weltmöge sich doch gefälligst auf das Niveau der Feiglinge undSchwätzer begeben. Wer da nicht mittue, dürfe auch nicht damitrechnen, ernst genommen zu werden. Als Ausrede dient dabeidas gute alte einfache Volk, der kleine Mann von der Straße, dasMilchmädchen: Deren intellektuell schwächliche Verfassung er-laube es nicht, sie mit den Angelegenheiten der Welt auf einem

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Dünkel und Erhellendes

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der Komplexität der Wirklichkeit entsprechenden Niveau zubeunruhigen. Bei eingehenderer Betrachtung dieser bemerkens-wert verständnissinnigen Pluralisten, die ihren Demokratismusimmerfort wie einen Banner vor sich hertragen, drängt sich je-doch der nicht zufällige Verdacht auf, man habe es hier mit derBeschreibung ihrer eigenen Geistesbeschaffenheit zu tun: Manzeigt auf den Pöbel, meint aber sich selbst. Der Fingerzeig aufdemokratische Tugenden entpuppt sich als Ausrede für die Ver-teidigung fortwährender Verblödung und die demokratischeHaltung erweist sich als schlecht getarnter Wille zur Pöbelherr-schaft.Über deren Möglichkeiten sitzen vor Begeisterung ganz aufge-löst die Handlanger der bürgerlichen Klassenherrschaft in denGesprächsrunden und verkünden voller Stolz, welch ein Reich-tum und Privileg es doch sei, dass es in einer Demokratie so vieleMeinungen gibt. Nicht mehr so interessiert sind sie wiederuman der Feststellung, dass all diese Meinungen selbstverständlichfalsch sind. Wo gemeint wird, wird nicht gedacht. Meinung istnicht wahrheitsfähig; Meinungsfreiheit ist die Freiheit zur Bar-barei. So weit, so bekannt seit Hegels klassischer und damit end-gültiger Hinrichtung der Meinung in seinen Vorlesungen überdie Geschichte der Philosophie:„Eine Meinung ist eine subjektive Vorstellung, ein beliebiger Ge-danke, eine Einbildung, die ich so oder so und ein anderer andershaben kann; – eine Meinung ist mein, sie ist nicht ein in sich all-gemeiner, an und für sich seiender Gedanke. Die Philosophieaber enthält keine Meinungen; es gibt keine philosophischenMeinungen. Man hört einem Menschen – und wenn es auchselbst ein Geschichtsschreiber der Philosophie wäre – sogleichden Mangel der ersten Bildung an, wenn er von philosophischenMeinungen spricht. Die Philosophie ist objektive Wissenschaftder Wahrheit, Wissenschaft ihrer Notwendigkeit, begreifendesErkennen, – kein Meinen und kein Ausspinnen von Meinun-gen.Die weitere eigentliche Bedeutung von solcher Vorstellung istdann, daß es nurMeinungen sind, von denen wir die Kenntniserhalten. Auf Meinung ist der Akzent gelegt. Das, was der Mei-nung gegenübersteht, ist die Wahrheit. Wahrheit ist es, vor der

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die Meinung erbleicht. Wahrheit aber ist auch das Wort, bei demdie den Kopf abwenden, welche nur Meinungen in der Ge-schichte der Philosophie suchen oder überhaupt meinen, es seiennur solche in ihr zu finden.“ 4

Begriffe – im Gegensatz zu bloßen Ansichten, Meinungen oderBildern – beschreiben die Wirklichkeit nicht nur, sondern neh-men diese in sich auf, verwandeln sie sich an, sind selbst elemen-tarer Bestandteil des Wirklichen. Schon deshalb sind sie allen,die im Bunde mit der bürgerlichen Ideologie stehen, ein Graus– vernichten die Begriffe doch nicht nur ihre jeweils einzelnenAnsichten oder Meinungen, sondern ihr gesamtes auf Meinun-gen basierendes, also pluralistisches Wertegefüge, ihren eigen-sten Wesenskern. Daher sehen sie sich gedrängt, den unerbittli-chen Kampf gegen den Begriff aufzunehmen; man muss diesenKampf also als eine Art Selbstbehauptung verstehen.

Dieses oder jenes Buch sei nicht „erhellend“ gewesen, beschwertsich der Philister. Dass ein Buch auch nicht allen alles erhellen,dem Leser nicht nur bieten muss, was seinen Erwartungen ent-spricht, dass das sogar die Qualität eines Buchs ausmachen kann,ist ihm fremd. Wo die Erwartung, also die subjektive Zufällig-keit, zur einzigen Beurteilungsinstanz wird, kann man es mitder ernsthaften Auseinandersetzung, mit welchem Gegenstandauch immer, gleich bleiben lassen.Gegen Autoren, die diese Dinge als selbstverständlich erachten,wird dann schnell der Vorwurf ins Feld geworfen, sie seien„dünkelhaft“ – was natürlich zu den Komplimenten zu zählenist, wenn der Vorwurf von einem der zahlreichen pluralistischverblödeten Erhellungs-Ideologen stammt:Dünkel ist – entgegen der Ansichten, zu denen man in lumpen-intellektuellen Aufklärerkreisen inzwischen gekommen ist, unddie als die vorherrschenden Ansichten gelten können – nichteinfach eine reaktionäre Stilübung, die den wesentlichen Inhalt„dem Volke“ vorzuenthalten trachtet, sondern nun mal unab-dingbar für alle möglichen Wissenschaften wie für Mitgliedereiner theoretischen Avantgarde, die einem auf dem Fundamentvon Meinung, also Ungültigem, erbauten System bürgerlicher

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Beliebigkeit entschlossen entgegenwirken wollen. Selbstver-ständlich hat weder der Verfasser noch sonst jemand, der beiTrost ist, ein ernstes Bestreben, ausgerechnet „erhellend“ zu sein,also den Forderungen des Positivismus nachzukommen, einenbraven Beitrag zur systematischen Bildungsfeindlichkeit der In-fohäppchenkultur zu leisten. Man kann sich im Gegenteil glück-lich schätzen, nicht als popularisierender Erzieher eines untermMonopol der Bourgeoisie notwendig aufklärungsresistentenVolkes zu gelten; solcherlei Veranstaltungen bleibt der Verfassergerne fern. Er möchte niemanden erhellen, der seinen über sieund ihre Erbärmlichkeiten erhabenen Inhalten eh nicht gewach-sen ist, weil die substantielle Beschaffenheit dieser Leute sichgegen die Wahrheit sträubt und sie höchstens an irgendeiner alsbloßer Distinktionspanzer im Milieu linksliberaler Akademi-kerkinder fungierenden Diskurs-Soße parasitieren wollen, weilsie nicht einmal in der Lage sind, Informationen im Lexikonnachzuschlagen oder auch nur die ohnehin überall herumlie-genden Zubereitungsanweisungen auf der Kultur-Fertiggericht-verpackung zu lesen. Der Wunsch nach Erhellung entspringtin neun von zehn Fällen der eigenen Dunkelheit im Hirn: Manmöchte, dass einem ein anderer das Bewusstsein frei Haus liefert,das man selber nicht zu bilden vermocht hat.

Der Begriffs-Dünkel also ist keine VERdunkelung, sondernschlicht die Darstellung „dunkler“, das heißt komplizierter,schwer zugänglicher und also auch nicht einfach in ihrer Man-nigfaltigkeit auf die Schnelle nachvollziehbarer Erscheinungender Wirklichkeit (zu welcher selbstverständlich nicht bloß dieäußere, sinnlich wahrnehmbare, sondern auch die geistige ge-hört), weshalb das Ressentiment gegen den Dünkel natürlich inder Hauptsache von den Großbastionen des bürgerlichen oderlinksliberalen Journalismus und deren nahezu vollständigdurchgesetzten Fetisch der Faktenhuberei ausgeht, die sich alseine Art universaler Weltgerichtshof betrachten, welchem mandie unwiderleglichen Beweise auf den Tisch zu legen habe, bevorman sich anmaßt, ein Urteil zu fällen. Urteile aber, die in denBereich der Spekulation, also mithin unter die philosophischenWissenschaften fallen, funktionieren indes nicht auf Basis von

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Kategorien des Belegens und der fahndungsdienstlichen Über-prüfbarkeit; ihre Grundlage ist nicht der gesunde Menschen-verstand, sondern die geistige Erfahrung.Sobald man auf dieser Selbstverständlichkeit besteht, gilt manals Esoteriker. Ein Wort der Gelehrtheit, und schon betreibt manDünkel. Dieser notgedrungene Esoteriker „erklärt sich“ schlüs-sigerweise nicht, sondern handelt – und zwar auch im Schreiben.Das Schreiben ist seine Aktion, und wer diese nicht versteht, derbenötigt auch keine weitergehende Erklärung mehr, weil solcheArten von Aktion für sich stehen und also für alle selbsterklä-rend sind, die ein aufrichtiges Erkenntnisinteresse mit sich brin-gen. Wer das nicht tut, ist in Kreisen der Vernunft zurecht nichtgern gesehen.Dass Texte selbst in Intellektuellenkreisen schon nicht mehr alsHandlung gelten, sondern nur noch als Ausschmückung der ei-genen Vita zu Zwecken der lebenslangen Jobsuche, dürfte alsBeleg für die umfassende Enthirnung genügen, die überhauptden Gedanken als solchen nicht mehr ins Recht zu setzen weiß,weil er ihr wesensfremd ist und beim arglosen Fortexistierendes gesellschaftlichen Betriebsablaufs nur stört. Esoterik, das be-deutet heute, zunächst einmal im eigenen Kreise zu verbleiben– das aber gerade zum Zwecke der Erkenntnis universeller Be-lange: „Wenn wir uns um unsere eigenen Angelegenheiten mitdem genügenden Ernst scheren, werden wir die Weltangele-genheiten schon auf eine nicht unadäquate Weise mitbehandelthaben.“ (Peter Hacks)5

2.Die Erziehung des Menschengeschlechts ist eine lange, trübselige,Geduld erfordernde Aufgabe für jene, deren Sache die Vernunftist. Man ist als jemand, der an ihr teilhat, bestrebt, möglichstnicht unter den anbrandenden Wellen bewaffneter Unbildungdahinzuschwinden und verfolgt also das Ansinnen, den unnöti-gen Umgang mit dem auf ihnen surfenden Volksmob möglichstin Grenzen zu halten. Trotzdem hegt man als Marxist ja vonBerufs wegen die Hoffnung, in jedem Alltagsgespräch noch ir-gendjemanden, wenn nicht zu überzeugen, so doch zumindestauf die ein oder andere Kleinigkeit von Belang hinweisen zu

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können, die Enthirnung wenigstens zu mindern, um zumindesteinen Grundstock an zur Revolution befähigten Individuen bei-zubehalten. Diese Hoffnung wird durch die gegenwärtigen ge-sellschaftlichen Verhältnisse nicht allzu sehr genährt, schlägt alsoin der Praxis schnell in allzu optimistischen Volksagitations-Kitsch auf der einen oder skeptizistisches Geraune auf der an-deren Seite um. Jenem Marxisten aber, der über das Verhältnisvon eso- und exoterischen Seiten einer Lehre kundig ist, unddaher auch zurecht als Antidemokrat bezeichnet wird, unter-laufen bei der Beurteilung der intellektuellen Aufnahmefähig-keit des Durchschnittsbürgers – und überhaupt von dessenHandlungsmöglichkeiten im Hinblick auf die sozialistische Re-volution – selten Fehleinschätzungen, weil er weiß, wie es umVermittlung und Bereitstellung von dazu substanziellem Wissenunter der Herrschaft der bürgerlichen Monopole bestellt ist; zuschlecht, als dass man die Menschen (erst recht nach bzw. in Zei-ten der Revolution) mit ihren fehlgeleiteten Schlüssen und ver-kümmerten Reflexionsapparaten von bolschewistischer Kon-trolle unbehelligt lassen könnte. 6

Für den über das Verhältnis von Esoterik und Exoterik im Kla-ren befindlichen Marxisten ist also abgemacht, dass es nicht umdie bloße „einfache sprachliche Vermittlung“ von aufkläreri-schen Inhalten gehen kann. Diese Inhalte selbst sind nicht einfach,nicht alltäglich und bedürfen unvermeidlich einer Form, diedem Reflexionsstand der zu Normalsprachverbrauchern herun-tergekommenen großen Mehrheit kaum zugänglich und außer-halb ihrer gewohnten Lebenswelt angesiedelt ist. Es kommt folg-lich nicht darauf an, „schwere Inhalte verständlich auszudrük-ken“, wie es Sozialkundelehrer gerne kolportieren, weil nämlichauch, wenn man „einfach“ schrieb und redete, dieser „schwereInhalt“ nicht verstanden werden würde. Es geht hier um Be-griffe, nicht um Wörter: das heißt, um die Fähigkeit, etwas zubegreifen, nicht um Lesekompetenz. Man kann sich also, wo esinhaltlich nun mal not tut, auch gleich unverständlich äußern.Das mag man dann bolschewistische Elite oder Volksverachtungschimpfen – man soll es doch ruhig so nennen, der Verfasser hatjedenfalls nicht die Ambition, diese hilflosen Diskreditierungs-versuche auch noch zu würdigen, indem er im Ernst auf sie ein-

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ginge: Es ist letztlich einerlei, wie die mit dem Weltgeist syn-chronisierte Avantgarde denn nun neuerdings wieder betiteltwird.

Darum, verstanden zu werden, bemüht sich ja ohnehin jeder.Aber die Frage, die in der Zeit einer zur Selbstverständlichkeitgewordenen Haltung, Aufklärung als Dienstleistung von – denRegeln der Privatwirtschaft unterworfenen – Massenmedien zuerwarten, keiner mehr zu stellen scheint, und von der das Res-sentiment gegen den esoterischen Dünkel zeugt, ist jene, vonwem einer denn verstanden werden will, der sich mehr oder we-niger wissenschaftlich in mehr oder minder großer Öffentlich-keit zu äußern bereit ist. Auch komplizierteste philosophischeWerke etwa haben ja Leser, von denen sie verstanden werden 7

– und, über die Jahrtausende genommen, gar nicht mal so we-nige. Es wurde ohnehin schon immer von jedem auf irgendeineWeise etwas weitergegeben, was er gelernt hat: Aber doch nichtan jeden; an „alle“ vielleicht, also an ein zukünftiges „alle“, wozueinem ja erfreulicherweise moderne Aufzeichnungssysteme zurVerfügung stehen. Die Frage ist, kann also nur sein: Wen willman erreichen? Jene Idioten, die möglichst Idioten bleiben wol-len, jedenfalls nicht – und gerade damit macht man sich, in einerWelt, die nun mal zum überwiegenden Teil von solchen bevöl-kert ist, sofort erbitterte Feinde: Wie könne man bloß so elitärund dünkelhaft sein, einen Großteil der Bevölkerung von vorn-herein außen vor lassen zu wollen? Möge man denn etwa seinwertvolles Wissen nicht mit der großen Menge teilen? Gerne,aber der Großteil dieser Menge lässt sich nun mal SELBSTaußen vor, beispielsweise qua selbstverschuldeter Unmündigkeit(das dürfte selbst den etwas gebildeteren Volksfreunden seitKant geläufig sein): „Nein: es ist nichts mit einem ‹Volk der Dichter & Denker›; warnie etwas; und kann es nicht sein. Ist es doch, höflich ausgedrückt,eine Naivität – korrekter: eine Frechheit! – von der Kunst zuverlangen, sie habe sich, per fas et nefas, dem Nie=wo des ‹Vol-kes› anzupassen; umgekehrt ist es: der Einzelne, der GroßeKunst verstehend genießen will, hat sich gefälligst zu ihr hin zubemühen! Das Volk, das von sich zu rühmen wüßte, ein Prozent

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seiner Angehörigen seien Gute Leser –: siehe, dies wäre ein aus-erwähltes Volk.“8

Nun ist schon die Tatsache, dass es hier nicht um Backrezepteoder Boulevardthemen geht, sondern um die Gegenstände derKunst und der Philosophie, ja wieder eine Unterscheidung, diedie meisten den Dünkel argwöhnisch bedünkelnden Volksauf-klärungsoptimisten heute auch nicht mehr zu treffen gewilltsind. Man kann aber, und da war selbst der Einsiedler ArnoSchmidt – welcher sich durch das Attribut „volksfeindlich“ si-cher nicht gekränkt sähe – durchaus optimistisch, versuchen, zu-mindest jenes eine Prozent, auf das Schmidt zu hoffen gewilltwar, herzustellen, es projektiv vielleicht sogar erweitern; dafüraber wären dann auch entsprechende Schriften, Denker, Auto-ren, Presseerzeugnisse, Gesetze, Institutionen, Bildungseinrich-tungen erforderlich – eben solche, die nicht ständig allgemeinBekanntes populistisch wiederkäuen, sondern sich den Eigen-gesetzlichkeiten der Wissenschaften anvertrauen, das heißt, sichan Menschen richten, die selbständig in der Lage sind, Fremd-wörter nachzuschlagen, lange Satzkonstruktionen zu verstehenoder mathematische Formeln zu begreifen. Dass dazu nicht un-bedingt eine hohe Intelligenz, aber zumindest eine Bereitschaftzur begrifflichen Anstrengung von Nöten wäre, also schon mehr,als etwa jene mit „Neugier genügt“ betitelte WDR-Informati-onsradiosendung suggeriert, müsste dann aber auch offenkundigsein: Neugier genügt eben in solchen Fällen nicht. Gäbe manals Autor diese Hoffnung auf, könnte man sich ja gleich aufsKinderbilderbücher malen beschränken, welche dann aber –dem jeweiligen Gegenstand geschuldet – natürlich auch längstnicht von allen verstanden würden, erwachsene Menschen ein-geschlossen.

Natürlich ist alles, was vom wissenschaftlichen Denken so beimVolke ankommt, immer nur sein Abfall, also Ideologie. Da sitztdann im Zentrum des Imperialismus Gert Scobel bei 3Sat in sei-ner Plauderrunde und versucht, Wissenschaft auf die Ansprüchedes Feuilletons herunterzubringen. Das muss man ganz nüch-tern und tapfer sehen, vor allem, wenn man bedenkt, dass in so-

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zialistischen Gesellschaften dann statt eines Scobels ein Karl-Eduard von Schnitzler im Fernsehen sitzt, was schon ein erheb-licher Fortschritt im Sinne der wissenschaftlichen Weltanschau-ung und also durchaus erfreulich ist. Wissenschaft, darunterneben den exakten Naturwissenschaften so ziemlich jede elabo-riertere philosophische Schule und theoretische Einzel-Anstren-gung, funktioniert nun mal nicht nach den Prinzipien der vonPressekonzernen betriebenen Massenmedien und ihrem inhä-renten Zwang, Profit abzuwerfen, also die Pöblokratie zu for-cieren; das Esoterische, Dünkelhafte ist den Wissenschaft Be-treibenden, den überhaupt an irgendwas ernsthaft Interessiertenvon außen aufgezwungen; sie praktizieren all das nicht freiwillig,im Gegensatz zur Kritik, welche die Philosophie an den Popu-lismus verhökert und stets exoterisch und marktorientiert ander besseren Verwaltung von Elendszuständen mitwirkt.„Kritik“ nämlich, „ist Einspruch gegen die Realität“, wie der bravvorm bourgeoisen Weltgerichtshof Einspruch erhebende Theo-dor W. Adorno formuliert hat, womit der Verfasser bei jenemStrang der Wissenschaft angelangt ist, welche die Wissenschaftdes Sozialismus, also der Bedingungen des Erfolges des proleta-rischen Klassenkampfs zu sein beansprucht, des Marxismus also.Dass Kritik, solange sie Einspruch gegen Realität ist, sich gegenden Marxismus richtet, nämlich sobald dieser zur Realität wird,hat man im Laufe des letzten Jahrhunderts leidlich erfahrenmüssen; der exorbitante Anstieg des allgemeinen Interesses amMarxismus in Westeuropa seit den 1960ern ist damit zu erklären:Man konnte Marx lesen und damit gleichzeitig gegen den prak-tisch gewordenen Marxismus von SED und KPdSU hetzen;nachdem das Werk 1989 vollbracht worden war, ebbte das In-teresse westlicher Theorietouristen am Marxismus dann auchwieder rapide ab – wo sie nicht mehr gegen jede reale Anstren-gung zur Umsetzung des Marxismus genutzt werden konnte,war die Beschäftigung mit Marx nicht mehr von Belang.Das in Erinnerung gerufen, dürfte die erdumspannend gestei-gerte Neigung marxistischer Schulen zur Sektenbildung keineallzu große Verwunderung mehr auslösen. Es wurde zur Ge-wissheit, dass sie dem Interesse der wissenschaftlichen Weltan-schauung, also der Sache, nur dienlicher sein kann als beispiels-

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weise die Hirnknechtschaft kritischer Akademiker und ihrerbetriebsgerechten Popularisierung von Marxismus-Splittern;überhaupt ist die Sektiererei eine durchaus erfolgsversprechendeAngelegenheit, wenn sie nur konsequent durchgezogen wird,wie sich ja anhand der Entwicklungslinien von Christentumund Bolschewiki ohne Schwierigkeit nachvollziehen lässt, dieja beide auch mit ein paar Versprengten angefangen haben undzur Weltbewegung geworden sind. Der marxistische Literat Ro-nald M. Schernikau beschenkte die Welt mit der Weisheit, „ro-mantische kunst“ pflege „die illusion, sie könne menschen er-reichen. klassik stärkt die, die schon bei uns sind.“8a Hier ist dieBestimmung von Esoterik und Exoterik schon inbegriffen: Klas-sisch ist diejenige Kunst (auch die des Lehrens der Philosophie,der Wissenschaft, der Theorie, des Marxismus), die sich nichtum den Zeitgeist schert; ihr wird ohnehin die Aufgabe der Ar-beit am Werk des Weltgeists zuteil, das heißt, sie bleibt zunächstesoterisch, was sie aber nicht weiter kümmert – sie hält sich dannschließlich auch einige Jahrhunderte lang. Romantisch dagegenist diejenige Kunst, die sich illusorisch an ihre unmittelbare Ge-genwart richtet, sich dem rein Exoterischen hingibt – und des-halb dem Untergang geweiht ist. Jeder sieht, dass Goethe heuteein Begriff in aller Welt ist; die Barbarei hingegen, die unterdem Namen „Goethe-Kritik“ die Runde macht, verschimmeltin ungelesenen Aufsatzbänden irgendwelcher Universitätsbi-bliotheken. Man muss sich Goethe, Hegel und die anderen deut-schen Klassiker als glückliche Esoteriker vorstellen, deren eso-terische Geheimlehren Weltruhm erlangt haben.Der esoterische Dünkel also ist das konsequente Erwidern derWeisung, man solle seine Klugscheißereien doch für sich behalten,welche in der Regel von genau jenen stolzen Vollidioten ange-bracht wird, die dann wiederum, wenn man’s endlich tut, mitdem Esoterik-Vorwurf anrücken. Der Dünkelnde hat verstan-den, dass man das bessere Wissen für sich, also den kleinen Kreisvon noch an überhaupt was anderem als Ressentiments Interes-sierten, behalten kann – es interessiert schließlich die Gegenwartohnehin nicht weiter, was die Wissenschaft zu vermelden hat.Der Dünkel-Skeptiker indessen wendet sich lieber – andächtigsalbadernd ob seiner staatsbürgerlichen Pflicht zur Volksedu-

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kation – an den Pöbel. Er hängt noch der Illusion an, da wasausrichten zu können, hat also beschlossen, Erfordernisse desWeltgeists zu beargwöhnen und stattdessen lieber mit der im-merhin meistens recht passabel vergüteten Verwaltung, also Re-produktion der gegenwärtigen Aufklärung, vorliebzunehmen,welche in Kategorien der gültigen Weltvernunft natürlich eineGegenaufklärung ist. Der Verfasser will hier nicht suggerieren,dass die Vertreter der heutigen anti-esoterischen Aufklärungs-ideologie gekauft sind; er ist sich dessen sicher. Wer seinen mo-natlichen Gehaltsscheck von der staatlichen Akademie oder demVerlagsmonopolisten erhält, dessen Arbeit wurde am Markt ein-gekauft. Er hat seinen Dienst zu tätigen; sein Hirn ist angestellt,und nicht dazu da, plötzlich Bahnbrechendes zu Wege zu brin-gen. Da in der bürgerlichen Welt die Anstellung schon die Per-son ausmacht, ist die Sache geklärt, und jeder, der anderes be-hauptet, nicht mehr ganz bei Trost.Unter ernstzunehmenden Marxisten wie Schernikau oder Hackssetzte sich daher innerhalb der letzen anderthalb Jahrhundertedie Erkenntnis durch, dass bloße Aufklärung Energiever-schwendung ist und wirkungslos bleiben muss, stattdessen zu-nächst die schon Aufgeklärten durch die sozialistische Avant-garde ERZOGEN werden müssen. „Er kann nur Aufklärung“,urteilte Hacks über Brecht. Es ist klar, dass es nur um sowohlaufgeklärte als auch von Kategorien der Weltvernunft durch-drungene Erziehung gehen kann, statt um blanke Aufklärung,die Hegel ja noch zutreffend als abstrakten Verstand denun-zierte. Eine solche Erziehung bleibt natürlich auch gegen dieZumutungen der Prinzipien bürgerlicher Pädagogik gewappnet,welche Erziehung mit Dressur verwechselt.Wer von seinen Zeitgenossen zu hundert Prozent verstandenwird, ist seiner Zeit zurück; die Schublade, für die der Dünkel-hafte, also der Freund des kommunistischen Fortschritts,schreibt, ist die Nachwelt. Es existiert also, materialistisch gefasst,ein ökonomisch notwendiger, durch das Übergewicht bourgeoi-ser Institutionen und ihrer vorherrschenden Kategorien erzwun-gener Dünkel, dem der Marxist (ebenso wie „das schwierigeKunstwerk“, „das unverständliche Buch“, „die anspruchsvolleKomposition“ et cetera) nur Ausdruck verleiht: die Dünkelhaf-

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tigkeit, also Undurchsichtigkeit der Verflochtenheiten der Welt-mannigfaltigkeit, ist eine Tatsache der Realität und nicht Erfin-dung böswilliger volksfeindlicher Philosophen – kein Wunderalso, dass der unbekümmerte dünkelfeindliche Kulturjournalist,der in Wahrheit weder von Kunst noch von Ökonomie irgend-was wissen will, dagegen seine Ressentiments in Stellung zubringen hat, was nur abermals davon zeugt, wie er es mit derWissenschaft hält, nämlich gar nicht.

Der Esoteriker aus Not hebt das allgemeine Niveau der Debatte,indem er Meta-Ebenen erkennbar werden lässt, wo Satiriker,Linksliberale und Journalisten immer wieder nur den läppischenTagesabhub wiederkäuen, und sei es durch ihre positivistischeKritik an ebenjenem. Der erzwungene Esoteriker macht sichnicht nur Gedanken, er macht sich Gedanken über die Gedan-ken. Und zwar nicht nur über die anderer, sondern auch überseine eigenen. Gerade das macht ihn in den Augen von Populi-sten und sonstigen Vertretern einer platten, falschen Exoterikzum Verdunkelnden, zum hochmütig Dünkel Treibenden. Ererweist sich nicht als philosophisch, auch nicht als Philosophie-wissenschaftlich, sondern als Philosophie-philosophisch. Er be-treibt die vollständige Dialektik insofern, als er nicht nur Thesenund Antithesen, sondern auch Synthesen vollzieht, und erwartetvon den anderen Dialektikern, Marxisten oder sonstigen Inter-essierten, dass sie diese Synthesen wiederum als Thesen behan-deln, aus denen abermals die Synthesen zu entwickeln wären.Jene aber fallen stattdessen reihenweise zurück auf die bloßeAntithese oder verteidigen die ursprüngliche These, welche aberdoch in der Synthese des vollständigen Dialektikers ohnehinschon aufgehoben waren.Die Synthesegegner, also Antidialektiker, wie man sie etwa zu-hauf aus (post-)linksradikalen Blättchen und den diesen ange-schlossenen Blogs kennt, halten Denken für ein bloßes gedank-liches Registrieren von zufälligen Wirklichkeitsausschnitten, diean ihnen vorüberziehen; tatsächliches Denken aber wäre ja ge-rade die Zusammenhänge rekonstruierende Reflexion dieses Re-gistrierens. Eben diese macht das als dünkelhaft, esoterisch, un-verständlich verschrieene Denken aus. Der Esoteriker muss

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keine differenzierten Ausführungen liefern, aber er sollte zu-mindest die Resultate differenzierter Ausführungen mitteilen.Die Darstellung des reinen Vollziehens der Reflexionen selbstgehört in den Bereich der Lehrer-Langeweile; der Esoterikerbegibt sich an die Auswertung der Ergebnisse dieser Prozesse.Er ist in seinem Dünkel also ehrlich und gesteht rundweg ein,dass sein Gegenstand ein schwieriger ist – im Gegensatz zu denPopulisten der schalen Exoterik, die alles aufs Blödestmöglicherunterbrechen, so dass letztlich alle irgendwas, aber keiner mehretwas bestimmtes kapiert. Denn ein Leser wird in allen – auch inden angeblich so einfachen – Texten Sätze finden, die er garnicht oder weniger gut versteht als andere; das liegt aber nichtin der Verantwortung des Autors eines Textes, sondern in derdes Lesenden – für den Verfasser eines Textes sind alle Sätzegleichermaßen schlüssig. Damit ist die Ursache des Dünkelvor-wurfs schon ausgemacht: die Anmutung von Dünkel wird er-zeugt durch den Begriffsnebel im Kopf des ungebildeten Lesers,nicht durch eine willkürliche esoterische Brutalität des Autors,der den Lesern die Weisheit vorenthalten wolle. „Wer einemAutor Dunkelheit vorwerfen will, sollte erst sein eigen Inneresbeschauen, ob es denn da auch recht hell ist: In der Dämmerungwird eine sehr deutliche Schrift unlesbar.“ (Goethe Maximenund Reflexionen, 1118) Wahre Lektüre erfordert einen mündi-gen Leser; wer sich aber schon von vorneherein über Dünkelechauffiert, entmündigt sich selbst, wo er es nicht schon vorhervon anderen worden ist. Der Verfasser möchte hier gar nicht ausführlicher werden alsnötig; es dürfte offensichtlich sein, dass „Dünkel“ und Geheim-nistuerei heute, in einer Gesellschaft, in der jedes Tabu gebro-chen und das Intimste zur öffentlichkeitswirksamen Ware ge-worden ist, so gut wie nirgends mehr real, sondern nur noch inden Vorwürfen der Einfachheitsfanatiker, Weltkomplexitäts-leugner, Mediensuppenkaspern und sonstigen liberalen Bestim-mungsfeinden existieren.

Aber der vorauseilende Gehorsam der Exoterik-Freunde gegen-über angeblichen oder tatsächlichen niedrigen Ansprüchen einesangeblich oder tatsächlich extrem verblödeten Publikums, für

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dessen Verblödung der Verfasser die Exoterikfreunde für nichtunwesentlich verantwortlich hält, vollzieht sich nach den Regelnder Werbung, also der völligen Unterwerfung von Wissenschaftund Geist unter die Logik von Kapitalakkumulation und Stei-gerung der Profitrate, baut also auf jenem geistigen Elend auf,das Hegel den gesunden Menschenverstand gescholten hat, alsoder Wissenschaftsfeindlichkeit, dem Zeitgeist, dem antrainier-ten Vorurteil und der Theorie-Mode: „Denkbestimmungen re-gieren ihn [den gesunden Menschenverstand, Anm. d. Verf.],ohne dass er ein Bewusstsein darüber hat“ (Hegel8b), wobei die-ser gesunde Menschenverstand natürlich der alles bestimmendeist und selber eine falsche Totalität bildet, weshalb jeder richtigeGedanke, mithin die gesamte Geistesgeschichte, diesem abge-trotztwurde und aus Kampf gegen ihn entstand, was seine heu-tigen Vertreter, also Feuilletonisten, Lehrer, Politiker, Philoso-phiedozenten und sonstigen Demokraten, in ihrem zur Profes-sion erhobenen Kampf gegen die Weltvernunft natürlich nichtwahrhaben wollen. Es erstaunt einen deswegen nicht weiter,dass die Kräfte dieser Weltvernunft sich im Zuge ihrer Not-wehrmaßnahmen gegen die Zumutungen des offenen Bewusst-seins einer offenen Gesellschaft, also denen der exoterischenDummheit, gerichtet hat, wie zum Beispiel Hubert Fichte, alser feststellte:„Adorno heißt der Feind, Mitscherlich, Grass, Rowohlt, und Kie-penheuer und Witsch. Den ‚Spiegel‘ gilt es abzuschaffen. Die‚Zeit‘. Nichts ist so schlimm wie das Deutsche Schauspielhaus.“9

3.Eso- und Exoterik stehen in einem mehrfach verwickelten Ver-hältnis zueinander: Einerseits wurde vieles, was zunächst alsesoterisch angelegt oder verhöhnt worden war, letztlich populär;andererseits waren es gerade die „Erleuchteten“, also exoterischErhellten, die sich in Illuminaten-Logen elitär organisierten undletztlich aus dem Stoff der Erleuchtung wieder einen esoteri-schen Dünkel machten, was den denkenden Menschen natürlichzurecht in seiner Annahme bestätigt, dass es eben auch einenDünkel gibt, der nicht-esoterisch ist und sich im Laufe der Ge-schichte sogar zur Exoterik entwickeln kann – das ist etwa be-

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kannt vom Hegelianismus, Freudianismus, Darwinismus undMarxismus. Letztlich hat jede Lehre, die sich später als richtigund weltgestaltend erwies, einmal als esoterische angefangen:Als Hegel, Marx, Freud oder Darwin begannen, ihre Theorienzu entwickeln, fanden sie zunächst, wenn überhaupt, lediglichin kleinen Zirkeln Beachtung und zogen dann qua Selbstbewe-gung der vom Weltgeist abgesegneten Vernunft allmählich grö-ßere Kreise. Die Frage, zu deren Klärung man schon fast wiedereines gesonderten Wissenschaftszweigs bedürfte, ist also die nachden Funktionsweisen der Gesetzmäßigkeiten des Wirksamwer-dens von Theorien.Esoterik wurde einmal schlicht zur Notwendigkeit; man benö-tigte sie, um Theorie in einem Maße anzureichern, das späterihre exoterische Wirkung garantierte; sie ist damit unabdingbareKomponente der bürgerlichen Arbeitsteilung. Als geistige Ar-beit ist sie ein Erzeugnis gesellschaftlicher Produktionsverhält-nisse und deren Geschichte; Ausdruck notwendiger Ungleich-zeitigkeit: Je elaborierter die Theorie, desto langsamer sind realeVeränderungen bemerkbar, aber die esoterische Geistesarbeit isttrotzdem schon Teil, nämlich Anfang, eines Verwirklichungs-sprozesses. Der Blick auf die Geschichte zeigt: Aufklärung ohneDünkel ist undurchführbar.

4. Esoterik und Exoterik im Marxismus Der gesamte Marxismus10 ist ja, entgegen aller Vorwürfe desElitarismus und Dünkels, eine einzige exoterische Veranstal-tung. Er ist nicht bloß „weltzugewandt“, sondern ER IST dieseWelt selbst sowie die Lehre von ihren Funktionsweisen undgar nicht anders denkbar als irgendwann einmal wieder welt-wirkend, denn „Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil siewahr ist.“ (Lenin)Was marxistisch ist, das ist vernünftig, und was vernünftig ist,das ist marxistisch. Dennoch sieht es so aus, als hätte die gegen-wärtige Welt diese Instanz gar nicht auf der Rechnung; der Mar-xismus erscheint – der Wunsch wird da bei vielen Vater des Ge-dankens sein – der Mitwelt als überwiegend esoterisch. Das warer selbstverständlich zu Beginn seiner Entwicklung auch einmal,aber es ist doch schon bezeichnend, dass dieses Abtun des Mar-

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xismus ausgerechnet von jenen Ideologen ausgeht, die vor 30 Jahren noch über dessen weltweit Verheerungen hervorru-fende Kraft klagten. Und an der Tatsache, dass der Marxismusden meisten heute als esoterisch, also unverständlich, gilt, ist jawas Triftiges: innerhalb der Gesamtverblödung der bürgerlichenÖffentlichkeit geht selbst ein sozialdemokratischer Keynesianerwie Gregor Gysi noch als Marxist durch, so weit herunterge-kommen ist das allgemeine Wissen über den Marxismus. Dessenallgemein erkennbarer Teil aber ist höchstens die Spitze des Eis-bergs, schließlich gibt es keinen öffentlichen marxistischen Dis-kurs mehr, was für diesen wiederum nicht das Schlechteste be-deuten muss, wenn dieser Umstand dazu beiträgt, dass man inRuhe überwintern und auf den Ausbruch hinarbeiten kann.

Eine der wichtigsten und für Marxisten hilfreichsten Schriftenvon Marx ist die zum Gothaer Programm der Sozialdemokraten,welche zunächst bloß im engeren Umfeld, dem inneren, esote-rischen Kreis von Marx und Engels, verbreitet wurde. Sie wurdealso durchaus verbreitet, aber nicht verbreitert. Im Lauf der Zeitwurde, so schnell kann es gehen, aus dieser besonders esoteri-schen Schrift eine besonders exoterische, also ein Klassiker. Daswar zu einer Zeit, als man den Inhalt bedenkenlos und ohnedrohende Zensur veröffentlichen konnte. Natürlich wusste dasauch Hegel, der – passenderweise in seinem Wastebook, also imesoterischen Teil seines Werks – herauszustellen wusste, dassein vorläufiges Zurückhalten von Schriften oder Gedanken dereigenen Sache durchaus dienlich sein kann: „Es ist kein Land wie Deutschland, wo jeder Einfall sogleich zuetwas Allgemeinem gemacht, zum Götzen des Tages ausgebildetund die Aufstellung desselben zur Scharlatanerie getrieben wird,so daß er auch ebenso schnell vergessen wird und die Fruchtverloren geht, die er tragen würde, wenn er in seine Grenze ein-geschränkt worden wäre. Dadurch würde er in seinem Maßeerkannt und soviel geschätzt und gebraucht, als ihm gehört,da[hingegen] er auf die andere Weise mit seiner ungebührlichenAufblähung zugleich ganz zusammenschrumpft und, wie gesagt,vergessen wird.“11

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