Martin Luther King jr., ein Mose des 20. Jahrhunderts · Martin Luther King jr., ein Mose des 20....

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117 Martin Luth er King jr., ein Mose des 20. Jahr hunderts Martin Luther King jr., ein Mose des 20. Jahrhunderts Zum 15. Jahrestag seiner Ermordung Cla rk F. Se ha Im Oktober 1976 war ich in Montgomery, Alabama, um mich über die Aktivitäten der früheren Kampfgenossen von Martin Luther King jr.zu informi eren. Vorden Gesprächen mit Johnnie R. Carr und E. D. Nixon wollte ich die Dexter Avenue Bapti st Church besu- chen und über King s erste Erfahrung als Gemeindepastor nachdenken. Nach dem Stadtplan macht e ich mich auf die Suche. Aus ziemli cher Entfernung schon sah ich am Ende der DexterAvenue das eindrucksvolle Kapitolgebäude desBundesstaatesAlaba- ma, vor dem am 18.Februar 1861Jefferson Davisden Amtseid als Präsident der südstaat- lichen Konföderation geleistethatte. Auf der anderen Seite der Straße,gleich am Rande des Kapitolplatzes,entdeckte ich eine bescheidene kleine Kirche und konnte es kaum fassen, daß so etwas neben diesem Kapitol stehen konnte. Einige weiße Straßenpassanten gaben mir keine Antwort auf die Frage, ob dies Kings Kirche sei. Um sicher zu gehen, ging ich in einen Friseurladen und stellte die glei che Frage. Einer der schwarzen Friseurmeister gab mir folgende Antwort: "Natürlich ist das Kings Kirche. Du weißt , Gott hat Mose dem Pharao gleich vor die Nase gesetzt. " Diese Auskunft hat mich in Staunen versetzt. Ich wußtedurch Erfahrungund Studium, wie schwarze Christen bibl ische Gestalten und Erzählungen in ihre Lebenswirklichk eit umsetzen. Nach meiner ersten inneren Begei sterung wurde ich durch die symbolische Aussage des schwarzen Friseurmeisters betroffen. Diese Begebenheit hat sich mi r un- vergeßlich eingeprägt;sie bestimmtauch das,wasich über Martin Luth er Kingjr.zum 15. Jahrestag seiner Ermordung schreibe. Martin Luther King ist ein Mose des 20. Jahrhunderts. Das, was Mose über die Jahr- hunderte hinweg darstellt, hat King in seinem Lebensraum und für sein e Zeitin unserem Jahrhundertdargestellt. DiesesymbolischeVereinigungvon Moseund King -d aßeszu dieser Symbolbildung gekommen ist - spricht Bände über King. Lesen wir das Vermächtnis Kings einmal in die Gest alt des Mose hin ein. Nehmen wir King den Heiligenschein des Apo stels und versetzen wirihn in di e Gest altde s Propheten Mose. Etliche Ähnlichk eiten drängen sich auf. Sehr früh ist King wie Mose in Rage gera- ten , weil seine Brüder und Schwestern gequält und ausgebeutet wur den. Wie Mose hat King mit Zögern die Aufgabe angenommen, die Konf rontation mit dem Pharao rassisti- scher Vorurteile und struktureller Unt erdrücku ngsmecha nismen überall und zu jeder Zeit zu suchen. Mose mußte vordem Pharao fli ehen; King ist häufi g im Gefäng nis gewe- sen . King und seine Famili e mußten lern en, mit täglichen Verleumdungen und Morddr o- hungen zu leben. King hat wie Mose Gottes Wegweisung zum verheißenen Land der Freiheit in der Wüste ohn e Geborg enheit, Schutz und Sicherheit verkündigen müssen. Kin g hat wie Mo se nicht nur über die "Herren", sondern auch über die "entkommenen Sklaven" fast verzweifeln müssen. Kein Mensch ist ohne eigene Herrschaftsunterneh- mun gen;jeder Mensch ist an d erVerwei gerung seinerWürde und Freiheit beteiligt. Jeder Herrschende weiß oder muß auf Dauer zur Kenntnis nehmen, daß er auf Sand baut. In jedem nach Freih eit Schreienden und für "eine gute Sache" Eintretenden ist derTanz um das gold ene Kalb,di e Lei den ssch eu, di eAb sageandie Umk ehr zum Lebe n,d ie Lockung des Selbstbetrugs und der Ruhm sucht am Werk. Mose und King starben in der Wüste - jedoc h mit dem Einb lick in das Geheimn is, daß Gottes Wegweisung zum Leben alle in verh eißenes Land ist, das einzige verh eißene Land , das sich nach allen bisherigen ge- schichtlichen Erfahrungen und Bedingungen möglich erweise in uns .verleibllchen" könnte. Sozial-, politik -, wirt schafts- und menschenrecht sgeschi chtli ch e Gemeinsa mkeiten zwischen Mose und King werden häufig gen ug besc hwo ren. Wir lin ke und f ort schrittli- che Christen sind doch in solchen Zusammenhängen ziem lich denk- und redefähig ge- word en. Mir sind zahlreiche Schriften über Kings gesellschaftliche Veränderungsme- thode und üb erdi e Bürgerrechtsbeweg ung bekannt. Obwohlderbedeutende Theologe

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117 Martin Luth er King jr ., ein Mose des 20. Jahr hun dert s

Martin Luther King jr.,ein Mose des 20. JahrhundertsZum 15. Jahr estag seiner Ermordung

Cla r k F . Se ha

Im Oktober 1976 war ich in Montgomery, Alabama, um mich über die Aktivitäten derfrüheren Kampfgenossen von Martin Luther King jr. zu informieren. Vor den Gesprächenmit Johnnie R. Carr und E. D. Nixon wollte ich die Dexter Avenue Bapti st Church besu­chen und über King s erste Erfahrung als Gemeindepastor nachdenken. Nach demStadtplan machte ich mich auf die Such e. Aus ziemli ch er Entfernung schon sah ich amEnde der Dexter Avenue das eindrucksvolle Kapitolgebäude des Bun desstaates Alaba­ma, vor dem am 18.Februar 1861Jefferson Davisden Amtseid als Präsident der südstaat­lichen Konföderation geleistethatte. Auf der anderen Seite der St raße,gleich am Randedes Kapitolplatzes , entdeckte ich eine bescheidene kleine Kirche und konnte es kaumfassen, daß so etwas neben diesem Kapitol stehen konnte.

Einige weiße Straßenpassanten gaben mir keine Antwort auf die Frage, ob dies KingsKirche sei. Um sicher zu gehen, ging ich in einen Friseurladen und ste ll te die glei ch eFrage. Einer der schwarzen Friseurmeister gab mir folgende Antwort: "Natürlich ist dasKings Kirche. Du weißt , Gott hat Mose dem Pharao gleich vor die Nase gesetzt. "

Diese Auskunft hat mich in Staunen versetzt. Ich wußtedurch Erfahrung und Studium,wie schwarze Christen bibl ische Gestalten und Erzählungen in ihre Lebenswirklichkeitumsetzen. Nach meiner ersten inneren Begei sterung wurde ich durch die symbolisc heAussage des schwarzen Friseurmeisters betroffen. Diese Begebenh eit hat sich mi r un­vergeßlich eingeprägt;sie bestimmt auch das,was ich über Martin Luth er Kin g jr.zum 15.Jahrestag seiner Ermordung schreibe.

Martin Luther King ist ein Mose des 20. Jahrhunderts. Das, was Mose über die Jahr­hunderte hinweg darstellt, hat King in seinem Lebensraum und für seine Zeitin unseremJahrhundertdargestellt. Diesesymbo lische Vereinigung von Mose und King -daßeszudieser Symbolbildung gekommen ist - spricht Bände über King.

Lesen wir das Vermächtnis Kings einmal in die Gestalt des Mose hin ein. Nehmen wirKing den Heiligenschein des Apo stels und versetzen wirihn in die Gestaltdes ProphetenMose. Etliche Ähnlichkeiten drängen sich auf. Sehr früh ist King wie Mose in Rage gera­ten , weil seine Brüder und Schwestern gequält und ausgebeutet wurden. Wie Mose hatKing mit Zögern die Aufgabe angenommen, die Konfrontation mit dem Pharao rassisti­scher Vorurteile und struktureller Unterdrückungsmecha nismen überall und zu jederZeit zu suchen. Mose mußte vordem Pharao fli ehen; King ist häufi g im Gefäng nis gewe­sen .King und seine Famili e mußten lern en, mit täglichen Verleumdun gen und Morddro­hungen zu leben. King hat wie Mose Gottes Wegwei sung zum verheißen en Land derFreiheit in der Wüste ohn e Geborg enheit, Schutz und Sic herheit verkündigen müssen.Kin g hat wie Mose nicht nur über die "H erren", sondern auch über die "entkomm enenSklaven" fast verzweifeln müssen. Kein Mensch ist oh ne eigene Herrschaftsunterneh­mun gen;jeder Mensch ist an derVerwei gerun g seiner Würde und Freiheit beteilig t. JederHerr schende weiß oder muß auf Dauer zur Kenntnis nehm en, daß er auf Sand baut. Injedem nach Freih eit Schreienden und für "eine gute Sache" Eint retenden ist derTanz umdas gold ene Kalb,die Leidensscheu, dieAbsagean die Umkehr zum Lebe n,d ie Lockungdes Selbstbet rugs und der Ruhm sucht am Werk. Mose und King starben in der Wüste ­jedoch mit dem Einb lick in das Geheimn is, daß Gottes Wegwe isu ng zum Leben alle inverh eißenes Land ist, das einzige verh eißene Land , das sich nach allen bisherigen ge­schic ht lic hen Erfa hrunge n und Bedingungen mögli cherweise in uns .verl eibll chen"könnte.

Sozial-, politik-, wirtschaft s- und menschenrechtsgeschi chtli ch e Gemeinsa mkeitenzwischen Mose und King werden häufig gen ug besc hwo ren. Wir lin ke und fortschr ittli­che Christen sind doch in solchen Zusammenhängen ziem lich den k- und redefäh ig ge­worden. Mir sind zahlreic he Schr iften über Kings gesellschaftl iche Verände rungsme­thode und überdie Bürge rrechtsbeweg ung bekannt. Obwo hl derbedeutende Theo loge

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· 118 Johannes Dantine

Reinhold Niebuhr King " den schöpferischsten Theologen des 20. Jahrhunderts" ge­nannt hat , sind mir so gut wie keine Abhand lungen über Kings Theologie und seinenhebräisch-christli chen Glauben bekannt.

Deshalb mußbesonders energ isch die ohne jeden Zweife l ti efste Geme insam keitzwi­sche n Mose und King hervorgehoben werden: die Erfahrung des brennenden Dornbu­sches , die Zusage des Go ttes Ab rahams, Isaaks und Jakobs, daß er auf der langen WÜ­stenwanderung der Menschheitsgeschich te erweisen wird , wer er ist und worin seineVerheißungen bestehen.

Wir iebe n in einer zuti efst bedrohten Welt des Rüstungswah ns und de r. Verweige rungder Humanität. In all de n Krisen, die uns tägli ch ersc hütte rn , ist die größte Krise unseremassenh aft e, steri le Verlegenh eit vor der geheimnisvo ll richtenden und aufrichtendenMacht, die wir Go tt nenn en. Wir haben hoffent lich gelernt , daß niemand sinnvo ll überGott reden kann, ohne "Recht zu üben und Güte zu lieben" . Es sollte abe r genauso einStachel in unserem Fleisch und ein Skanda l für unse ren Geis tsein ,daß niemand "Rechtüben und Güte lieben" kann , ohne "demütig vor Gott zu wandeln" . Zum 4. Ap ril 1983sollte n wir über Kings Verm ächtnis nachdenken im Sinne dieser Au ssage von JamesBaldwin aus dem Jahre 1961: " King beeindruc kte mich damals und beein dr uckt michjetzt alsein Mensch, derfestverank ert ist in den spi rituellen Wirkli chk eiten ,von denen erso beredt spricht. Dies nimmt ihm d ie entsetzliche Frömmigkeit, die in seine r Berufs­gruppeso verbre ite t ist ,und rettet ihn auch vor der schrecklichen Selbst-Wichtigke it ,die- bis vor kurzem - führend e schwarze Persön lic hkeite n als solche sofo rt kenntlichmachte." Christen, die sich in der Ab rüstungs- und Umwelt schutzbewegung engag ie­ren, so lle n sich nicht an der Frage ihrer "spi rituellen Verank erung"vorbeidrücken. KingsGeheimn is offe nba rt unsere Obe rf lächlichkeit und erklärt viell eicht auch mit den vie lenLärm, den wir erzeuge n, ohn e daß die Umkehr zum Leben Herzen, Hirne und Händeerg reift.

Im Januar 1956, nac h einem ersten "Erfolg" des Busboykotts und dem entsprechen­den Zurückschlage n der weißen Reaktion,mußtesich King - erschö pft vo n den pausen­losen Verhandlungen, Aktivitäten und Versammlungen - der Erkenntnis stellen, daß erselbs t und seine Familiee rmordet werden kö nnt en . In einer derdarauffolgenden Näc htesaß er in der Küche und betete laut zu Gott: "Herr, ich stehe ein fü r das, was nach meinerÜberzeugung Recht ist. Menschen schauen auf mich und erwarten von mi r,daß ich siefü hre. Und wenn ich vor ihn en ohne Kraft und Mut stehe , we rden sie in ihrem Aufsta nderlahme n. Ich bin am Ende meiner Kräfte. Ich habe nich ts mehrzu geben . Ich habe denPunkt erre ic ht, an dem ich dem alle n nicht alle in ins Ges icht schauen kann ." Spätererzählte er seiner Frau: " In dem Au gen bli ck habe ich die Gege nwart des Gö tt lichen er­fahre n, wie ich sie vorh er nie erfa hren habe . Es schien mir, als wenn ich die st i lle Verge­wisserung einer inn eren Stimme hören konnte: ,Steheeinfür Gerechtigkeit; steheein fürdie Wahrheit , und Gott wird immer an dei ner Seite stehen." King beteuert e, daß er nachdieser Erfahrung seiner selbst gew iß aufstand und bereit war,allem, was auf ihn zukom­men könnte, ins Au ge zu schauen.

Auch dieses Erlebe n der Gege nwart Gottes verbind et Mose und King . Wir so llten un snicht darauf ausruhen und es gar für neuzeitlich selbstverständlich halten, daß wir so inder Welt leben können und müssen, als ob es Go tt nicht gäbe. Abschied von solchemunve rbind lichen Leben , Abkehr von der Annah me, daß wir Gott weder erkennen , lobennoch zu ihm beten und dadurc h unser Leben und un sere Umwelt verändern können, istdie rechte Weise, der Perso n und des Werkes von Mart in Luther Kin g jr. 1983 zu geden­ken.

Gläubiger RealismusZur Sozialethik Martin Luthers

Johann e s Da n ti neVon den zahlre ichen Jubil äen der letzten Zeit hat keines ein dem Lutherjubi läum ver­

gleichbares Echo gefunden . Man braucht nur die Verlagsproduktionen durchzusehenund die Kata loge der Reisebü ros . Daß sich die DDR an diesem Jubi läum off iziell betei­ligt , mag auf der Hand liegen, daß das auch Italien tut, ist scho n erstau nlicher.Offe nbar