Mathematik f ur Physiker I - Ruhr University Bochum · 2011-02-21 · Mengen, Abbildungen und...

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Vorlesungsskript Mathematik f¨ ur Physiker I Dr. J¨ org H¨ arterich Ruhr-Universit¨ at Bochum Wintersemester 2007/08

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Vorlesungsskript

Mathematik fur Physiker I

Dr. Jorg Harterich

Ruhr-Universitat Bochum

Wintersemester 2007/08

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Inhaltsverzeichnis

1 Mengen, Abbildungen und Zahlen 51.1 Mengen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51.2 Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91.3 Indirekter Beweis und Widerspruchsbeweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131.4 Naturliche Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151.5 Vollstandige Induktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161.6 Reelle Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221.7 Betrag und Dreiecksungleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281.8 Komplexe Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291.9 Abzahlbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

2 Folgen und Reihen 342.1 Konvergenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342.2 Monotone Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382.3 Teilfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402.4 Das Cauchy-Kriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442.5 Grenzwerte und Anordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462.6 Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472.7 Rechenregeln fur Grenzwerte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482.8 Reihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 542.9 Konvergenzkriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 562.10 Der Produktsatz fur Reihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 632.11 Potenzreihen und elementare Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65

3 Stetigkeit 733.1 Ein paar topologische Grundbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 793.2 Stetige Funktionen auf kompakten Intervallen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 823.3 Mehr zur Cosinus- und Sinusfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 853.4 Polarkoordinatendarstellung komplexer Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 873.5 Umkehrfunktionen streng monotoner Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 883.6 Der naturliche Logarithmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 883.7 Die Umkehrfunktionen der trigonometrischen Funktionen . . . . . . . . . . . . . 913.8 Grenzwerte fur x→ ±∞ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91

4 Differenzierbarkeit 934.1 Differenzierbare Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 934.2 Differenzierbarkeitsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 954.3 Differenzierbarkeit von Umkehrfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 964.4 Extrema und Mittelwertsatz der Differentialrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . 994.5 Die Regel von L’Hospital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

4.6 Hohere Ableitungen und Taylor-Polynome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1074.7 Das Newton-Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112

5 Funktionenfolgen und -reihen 1155.1 Punktweise und gleichmaßige Konvergenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1155.2 Differentiation von Funktionenfolgen und Potenzreihen . . . . . . . . . . . . . . . 1225.3 Der Funktionenraum B(D) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124

6 Integration 1266.1 Treppenfunktionen und Regelintegral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1266.2 Der Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . 1326.3 Integrationsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1346.4 Partialbruchzerlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1376.5 Taylorformel mit Restglied in Integralform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1396.6 Monotonie und Mittelwertsatz der Integralrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . 1406.7 Trapezregel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1426.8 Integration von Potenzreihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1446.9 Uneigentliche Integrale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

Viele Aussagen in der Physik lassen sich sehr gut in der Sprache der Mathematik beschreiben.Sie erlaubt eine prazise Beschreibung vieler Phanomene in abstrakter Form, vom NewtonschenGravitationsgesetz uber die Maxwell-Gleichungen der Elektrodynamik bis hin zu aktuellen Ent-wicklungen in der String-Theorie.Der Vorlesungszyklus Mathematik fur Physiker soll Ihnen helfen,

• die notwendigen Begriffe zu entwickeln, um mathematische und physikalische Gesetzmaßig-keiten sorgfaltig und verstandlich aufzuschreiben, und die Voraussetzungen der entspre-chenden Resultate klar anzugeben,

• sich das Handwerkszeug anzueignen, das insbesondere bei der quantitativen Beschreibungphysikalischer Vorgange auftritt (siehe auch Vorlesung Mathematische Hilfsmittel der Phy-sik). Weiter soll sie Ihnen ermoglichen, Ihr Wissen je nach Bedarf spater zu vertiefen, seies, wenn Sie als theoretische/r PhysikerIn numerische Verfahren entwickeln oder im Grenz-gebiet zwischen Mathematik und Physik arbeiten, sei es, wenn Sie als Experimentalphysi-kerIn Messwerte in einen sinnvollen Zusammenhang bringen und quantitativ interpretierenmochten.

• Problemlosestrategien kennenlernen, denn im Unterschied zur Schule werden Ihnen an derHochschule und spater viele Probleme begegnen, fur die schon der prinzipielle Losungswegzunachst nicht klar ist. Sie werden unterschiedliche Herangehensweisen erleben und selbstlernen, unter mehreren Moglichkeiten die erfolgversprechendste zu finden.

Das vorliegende Skript ist als Begleitmaterial zur Vorlesung zu verstehen, es ersetzt diese nichtund es schadet auch nicht, ab und zu in eines der vielen Bucher zum Thema zu schauen.

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1 Mengen, Abbildungen und Zahlen

1.1 Mengen

Den grundlegenden Begriff einer Menge formal zu definieren, ist gar nicht so einfach, wie manvielleicht glaubt. Aus diesem Grund geben wir uns mit einer intuitiven Beschreibung zufrieden.

”Definition“ (Cantor, 1885): ”Eine Menge ist eine wohldefinierte Zusammenfassung ver-schiedener Objekte zu einem Ganzen.“

Diese Objekte nennen wir Elemente der Menge. Cantors Forderung nach ”verschiedenen“ Ob-jekten bedeutet, dass keines der Elemente mehrfach in einer Menge vorkommt.

Beispiele:

1. Die Menge aller Studierenden in dieser Vorlesung

2. die Menge der Postleitzahlen im Stadtgebiet von Bochum

3. die Menge N = {1, 2, 3, . . .} der naturlichen Zahlen

4. die Menge N0 = {0, 1, 2, 3, . . .}

5. die Menge P = {2, 3, 5, 7, 11, . . .} der Primzahlen, d.h. der Zahlen, die genau zwei Teilerbesitzen.

6. die Menge R der reellen Zahlen, mit der wir uns spater noch ausfuhrlicher befassen werden.

7. Die Menge, die uberhaupt kein Element enthalt, heißt leere Menge und wird {} oder ∅geschrieben.

Ist ein Objekt a in einer Menge A enthalten, dann schreibt man a ∈ A, ansonsten a /∈ A.

Theoretisch lassen sich auch Dinge, die nicht offensichtlich miteinander zu tun haben, zu einerMenge zusammenfassen. Ein Beispiel ware die Menge, die aus der Farbe blau, dem Satz vonPythagoras und Harry Potter besteht...Mit solchen Mengen lasst sich allerdings nicht viel anfangen, daher werden wir uns um sie auchnicht weiter kummern.

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

Zur Schreibweise: Mengen schreibt man ublicherweise entweder wie oben als Auflistung in ge-schweiften (Mengen–)Klammern oder indem man die Elemente der Menge durch ihre Eigenschaf-ten charakterisiert. Auf diese Weise lassen sich auch unendliche Mengen ohne ”. . .“ darstellen.Wir schreiben beispielsweise

P = {n ∈ N; n ist eine Primzahl}.

Genau genommen meint man damit die Menge aller naturlichen Zahlen, fur die die Aussage ”nist eine Primzahl“ wahr ist. Dabei ist eine Aussage ein Satz, der entweder wahr oder falsch ist(”tertium non datur“).

Definition:

(i) Seien A und B Mengen. Dann nennt man B eine Teilmenge von A und schreibt B ⊂ A,falls jedes Element von B auch in A enthalten ist.

(ii) Seien A und B Mengen. Der Durchschnitt A∩B besteht aus allen Elementen, die sowohlin A als auch in B enthalten sind:

A ∩B := {x; x ∈ A und x ∈ B}.

Das hierbei verwendete Zeichen ”:=“ bedeutet, dass der links stehende Ausdruck durchden Ausdruck auf der rechten Seite definiert wird.

(iii) Die Vereinigung A ∪B besteht aus denjenigen Elementen, die in A oder in B enthaltensind:

A ∪B := {x; x ∈ A oder x ∈ B}.

(iii) Die Differenz A\B besteht aus denjenigen Elementen, die in A, aber nicht in B enthaltensind:

A \B := {x; x ∈ A und x /∈ B}.

Achtung ! Mit oder ist hier (und uberhaupt in der Mathematik) nicht das ausschließende ent-weder...oder gemeint. A ∪B enthalt auch diejenigen Elemente, die in A und in B liegen.

Definition: Zwei Mengen A und B heißen gleich, wenn A ⊂ B und B ⊂ A.

Bemerkung:

(i) Offensichtlich gelten fur Vereinigung und Durchschnitt das Kommutativgesetz

A ∪B = B ∪AA ∩B = B ∩A

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Mengen, Abbildungen und Zahlen

(ii) Auch kommt es bei mehrfachen Vereinigungen und Durchschnitten nicht darauf an, inwelcher Reihenfolge man sie bildet. Es gilt das Assoziativgesetz

(A ∪B) ∪ C = A ∪ (B ∪ C)(A ∩B) ∩ C = A ∩ (B ∩ C)

Satz 1.1Seien A, B und C beliebige Mengen. Dann gelten die Distributivgesetze

A ∪ (B ∩ C) = (A ∪B) ∩ (A ∪ C)A ∩ (B ∪ C) = (A ∩B) ∪ (A ∩ C)

Beweis: Um die Gleichheit der Mengen zu beweisen, mussen wir zuerst die Inklusion

A ∪ (B ∩ C) ⊂ (A ∪B) ∩ (A ∪ C)

und anschließend die umgekehrte Inklusion zeigen. Wir starten also mit einem Element x ∈A ∪ (B ∩ C) der linken Menge. Dann ist x ∈ A oder x ∈ B ∩ C.Im ersten Fall ist x ∈ A ∪B und x ∈ A ∪C, also ist x auch im Durchschnitt (A ∪B) ∩ (A ∪C)enthalten.im zweiten Fall ist x ∈ B und x ∈ C, also ebenfalls x ∈ A ∪ B und x ∈ A ∪ C. Daher liegt xauch in der rechten Menge und die Inklusion ist bewiesen.

Fur die umgekehrte Richtung

(A ∪B) ∩ (A ∪ C) ⊂ A ∪ (B ∩ C)

starten wir mit x ∈ (A∪B)∩ (A∪C). Dann ist x ∈ A∪B und x ∈ A∪C. Falls x ∈ A sind wirfertig, ansonsten muss x sowohl Element von B als auch von C sein und damit auch von B ∩C.Dann ist schließlich auch x ∈ A ∪ (B ∩ C). 2

Gelegentlich werden wir es mit Aussagen zu tun haben, die von Variablen abhangen.Als Beispiel betrachten wir die Aussage A(n) ”Die Zahl n ist eine Quadratzahl“. Man kannnun (in Gedanken) alle naturlichen Zahlen fur n einsetzen und erhalt jeweils eine Aussage.Beispielsweise ist A(1) die Aussage ”Die Zahl 1 ist eine Quadratzahl“ eine wahre Aussage,wahrend A(2) ”Die Zahl 2 ist eine Quadratzahl“ falsch ist.Haufig stellt sich die Frage, ob eine Aussage A(n) fur alle n richtig, bzw. ob sie fur alle n falschist. Quantoren dienen dazu, solche Aussagen zu formulieren.Der All-Quantor ∀ druckt aus, dass eine Aussage fur alle Elemente a der Menge A wahr ist.Die Schreibweise

∀m ∈M : A(m)

bedeutet, dass die Aussage A(m) fur alle m ∈M eine wahre Aussage ist.Der Existenz-Quantor ∃ druckt aus, dass die Aussage zumindest fur eine Variable wahr ist:

∃m ∈M : A(m)

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

bedeutet, dass (mindestens) ein Element m der Menge M existiert, fur das die Aussage A(m)wahr ist.

Beispiele:

1. Sie wissen vermutlich aus der Schule, dass√

2 keine rationale Zahl ist. Wir werden das inKurze auch beweisen. Die Tatsache, dass es so ist, konnen wir schon jetzt mit Quantorenso ausdrucken:

∀q ∈ Q : q2 6= 2.

2. Die Menge P der Primzahlen kann man charakterisieren als

P = {p > 1; ∀m,n ∈ N : m > 1 und n > 1⇒ p 6= m · n}.

Sie besteht genau aus den Zahlen, fur die die Aussage nach dem Semikolon wahr ist, diesich also nicht als Produkt von zwei Faktoren > 1 schreiben lassen.Eine alternative Charakterisierung ware

P = {p > 1; ∀m,n ∈ N : p = m · n⇒ (m = 1 oder n = 1)}.

3. Die Tatsache, dass es zu jeder Zahl n ∈ N eine Primzahl gibt, die großer ist als n, lasstsich schreiben als

∀n ∈ N : ∃p ∈ P : p > n.

Man kann hier leicht sehen, dass verschiedene Quantoren nicht vertauscht werden durfen,denn

∃p ∈ P : ∀n ∈ N : p > n.

wurde ja bedeuten, dass es eine bestimmte Primzahl p gibt, die großer als jede naturlicheZahl ist. Das ist aber offensichtlich falsch.

4. Die Menge Q der Quadratzahlen ist

Q = {q ∈ N; ∃n ∈ N : q = n2}.

Gelegentlich bildet man auch Vereinigungen und Durchschnitte von unendlich vielen Mengen.

Definition: Seien M1,M2, . . . Mengen. Dann ist

∞⋂n=1

Mn =⋂n∈N

Mn := {x; ∀n ∈ N : x ∈Mn}

∞⋃n=1

Mn =⋃n∈N

Mn := {x; ∃n ∈ N : x ∈Mn}

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Mengen, Abbildungen und Zahlen

Definition:Seien A, B Mengen. Dann heißt die Menge der geordneten Paare (a, b)

A×B := {(a, b); a ∈ A, b ∈ B}

kartesisches Produkt von A und B. Wir nennen a und b die erste bzw. zweite Komponentedes Paars (a, b).

Achtung: Hier kommt es auf die Reihenfolge an! Wahrend fur Mengen immer {a, b} = {b, a}gilt, ist fur geordnete Paare im allgemeinen (a, b) 6= (b, a), außer naturlich im Fall a = b.Fur zwei geordnete Paare gilt daher: (a, b) = (a, b) bedeutet, dass a = a und b = b.Das in der Physik wichtigste Beispiel fur ein kartesisches Produkt ist wohl A = B = R. StattR×R schreibt man R2 und beschreibt damit beispielsweise die Menge der Punkt in der Ebene.Fuhrt man ein kartesisches Koordinatensystem ein, so bestehen die Paare (a, b) gerade aus derx–Koordinate und der y–Koordinate eines Punktes.

x

y (x,y)

Abbildung 1.1: Geordnete Paare als Koordinaten eines Punktes in der Ebene

Analog zu Paaren lassen sich auch geordnete Tripel (a, b, c) ∈ A×B ×C, geordnete Quadrupel(a, b, c, d) ∈ A×B×C×D und allgemein geordnete n-Tupel (a1, a2, . . . , an) ∈ A1×A2× . . .×Andefinieren.

1.2 Abbildungen

Definition:Seien A und B Mengen. Eine Abbildung (bzw. Funktion) f von A nach B ist eine Vorschrift,die jedem Element a ∈ A genau ein Element f(a) ∈ B zuordnet. Man nennt f(a) das Bild von aunter f , bzw. den Wert von f bei a. Die Menge A heißt Definitionsbereich von f , die MengeB der Wertebereich von f .

Wir schreibenf : A→ B

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und wenn wir die Zuordnungsvorschrift fur jedes a mit angeben wollen

f : A → B

a 7→ f(a),

in Kurzschreibweise manchmal auch

A 3 a 7→ f(a) ∈ B.

Beispiele:

1. Fur A = {Borussia,Vfl,Bayern} und B = {Bochum,Munchen,Dortmund} ist eine zu-mindest fur Fussballfans sinnvolle Abbildung gegeben durch f(Borussia) = Dortmund,f(Vfl) = Bochum und f(Bayern) = Munchen.

2. f : N → N, n 7→ n2 bildet die naturlichen Zahlen auf die Menge aller Quadratzahlen ab.Nicht jede naturliche Zahl ist also im Bildbereich enthalten. Andererseits gibt es keine zweiZahlen, die dasselbe Bild unter f haben.

3. f : Z→ Z, n 7→ n2 bildet die ganzen Zahlen ab auf die Quadratzahlen. Wegen (−m)2 = m2

haben die zwei Zahlen +m und −m den selben Funktionswert.

4. Die Addition naturlicher Zahlen kann man ebenfalls als Abbildung auffassen: Einem Paar(m,n) von naturlichen Zahlen wird dabei ihre Summe m+ n zugeordnet.

′+′ : N× N → N(m,n) 7→ m+ n

5. Ein Polynom P ist eine Abbildung der Form

P (x) = a0 + a1x+ a2x2 + a3x

3 + . . . anxn

Man nennt die ai die Koeffizienten des Polynoms. Falls an 6= 0, dann ist n der Grad desPolynoms. Man kann P als Abbildung P : R→ R in den reellen Zahlen auffassen. Falls alleKoeffizienten ganzzahlig sind, dann bildet P die Menge der ganzen Zahlen Z wieder in dieMenge Z ab. Genauso bildet eine Polynom mit rationalen Koeffizienten ai ∈ Q rationaleZahlen wieder auf rationale Zahlen ab.

6. Die identische Abbildung id : A → A bildet die Menge A auf die einfachst moglicheArt auf sich selbst ab: fur jedes a ∈ A ist id(a) = a.

7. Fur eine gegebene Abbildung F : X → Y und eine Teilmenge X ⊂ X definiert man dieEinschrankung F |X : X → Y von F auf X als F |X (x) = F (x) fur alle x ∈ X.

8. Die Menge A× B besteht aus geordneten Paaren (a, b) mit a ∈ A und b ∈ B. Die Abbil-dungen

PA : A×B → A

(a, b) 7→ a

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Mengen, Abbildungen und Zahlen

und

PB : A×B → B

(a, b) 7→ b

beeichnet man als kanonische Projektionen. Mit ihrer Hilfe verschafft man sich einzelneKomponenten des Paares und ”vergisst“ die ubrigen.

Definition:Sei f : A→ B eine Abbildung und seien U ⊂ A, V ⊂ B Teilmengen. Dann nennen wir

f(U) := {f(a); a ∈ U} ⊂ B

die Bildmenge von U . Umgekehrt heißt

f−1(V ) := {a ∈ A; f(a) ∈ V } ⊂ A

die Urbildmenge, bzw. das Urbild von V .

Das Urbild besteht also aus allen Elementen von A, deren Bild in der Menge V liegt.

Definition:Sei f : A → B eine Abbildung. Dann nennen wir f surjektiv, falls f(A) = B. Die Abbildungf heißt injektiv, falls jedes Element aus B hochstens ein Urbild hat. In diesem Fall folgt ausf(a) = f(a), dass a = a sein muss.Eine Abbildung, die surjektiv und injektiv ist, heißt bijektiv. Sie ordnet die Elemente von A aufeindeutige Weise den Elementen von B zu. Im englischen heißen bijektive Abbildungen daherauch one-to-one.

Beispiele:

1. Die Abbildung f : N → N, die durch f(n) = 2n definiert wird, ist injektiv, aber nichtsurjektiv, da nur die geraden Zahlen als Bilder vorkommen.

2. Die Abbildung, die p1 : R2 → R, die jedem Punkt (x, y) der Ebene seine x-Koordinatezuordnet ist surjektiv, aber nicht injektiv, da p1 allen Punkte auf einer Geraden, die parallelzur y-Achse verlauft, denselben Wert zuordnet.

3. Die Abbildung, die jedem Punkt der Ebene sein Spiegelbild bezuglich der Spiegelung aneiner Geraden zuordnet, ist bijektiv.

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Spiegelachse

Man kann mehrere Abbildungen nacheinander ausfuhren, falls die jeweiligen Bild- und Definiti-onsbereiche das zulassen.

Definition:Seien f : A→ B und g : B → C Abbildungen. Dann wird durch

g ◦ f : A → C

x 7→ g(f(x))

eine neue Abbildung g ◦ f erklart, die Hintereinanderausfuhrung von g und f .

Achtung ! Gelegentlich verwirrt diese Schreibweise etwas, da wir von links nach rechts lesen,f aber zuerst angewendet wird. Es hilft ein wenig, wenn man sich fur die Komposition vonAbbildungen die Sprechweise ”g nach f“ angewohnt.

Beispiel: Sind p und q Polynome, die wir beispielsweise als Abbildungen p : R → R undq : R→ R auffassen konnen, dann ist auch die Verkettung q ◦ p wieder ein Polynom, denn wennwir

p(x) = a0 + a1x+ a2x2 + a3x

3 + . . . anxn

in das Polynom q(x) = b0 + b1x+ b2x2 + b3x

3 + . . . bmxm einsetzen, erhalt man zunachst

q(p(x)) = b0 + b1(a0 + a1x+ . . . anxn) + b2(a0 + a1x+ . . . anx

n)2 + . . . bm(a0 + a1x+ . . . anxn)m

und nach dem Ausmultiplizieren wieder ein Polynom (vom Grad m · n).

Jede bijektive Funktion besitzt eine Umkehrabbildung.

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Mengen, Abbildungen und Zahlen

Satz 1.2Sei f : A→ B eine bijektive Abbildung. Dann gibt es genau eine Abbildung g : B → A mit denEigenschaften

(g ◦ f)(a) = a fur alle a ∈ A(f ◦ g)(b) = b fur alle b ∈ B.

Beweis: Wir mussen zwei Dinge zeigen:1. Es gibt uberhaupt eine solche Abbildung g.2. Es gibt genau eine solche Abbildung g.

zu 1. Da die Abbildung surjektiv ist, gibt es zu jedem b0 ∈ B ein Urbild a0 ∈ A. Da f injektiv ist,gibt es auch wirklich genau ein Urbild. Wir setzen g(b0) = a0. Damit ist f(g(b0)) = f(a0) = b0und g(f(a0)) = g(b0) = a0.

zu 2. Wir nehmen an, dass sowohl g als auch g Umkehrabbildungen von f sind. Um zu zeigen,dass g(b) = g(b) ist fur jedes b ∈ B, nutzen wir die Surjektivitat von f aus. Zu b ∈ B gibt es eina ∈ A mit f(a) = b. Dann ist aber

a = g(f(a)) = g(f(a)) ⇒ g(b) = g(b).

Da b ∈ B beliebig war, sind wir fertig. 2

Definition:Sei f : A→ B eine Abbildung. dann nennt man die Menge

G := {(a, b) ∈ A×B; b = f(a)}

den Graph von f .

1.3 Indirekter Beweis und Widerspruchsbeweis

Auch wenn wir in dieser Vorlesung nicht alle Aussagen streng mathematisch beweisen werden,ist es doch nutzlich, einige der Werkzeuge kennenzulernen, die es erlauben, Aussagen strenglogisch herzuleiten.Die einfachste Methode ist der sogenannte direkte Beweis. Um zu zeigen, dass aus einer AussageA eine andere Aussage B zwingend folgt (geschrieben A ⇒ B) startet man mit der Aussage Aund ersetzt diese so lange durch aquivalente Aussagen, bis man die Aussage B erhalt.

Beispiel: Das Quadrat jeder ungeraden Zahl ergibt bei Division durch 8 den Rest 1,denn: jede ungerade Zahl kann man in der Form 2n+ 1 mit einer naturlichen Zahl n darstellen.Dann ist mit der aus der Schule bekannten binomischen Formel

(2n+ 1)2 = 4n2 + 4n+ 1 = 4n(n+ 1) + 1.

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

B

Aa

f(a)

Abbildung 1.2: der Graph einer Abbildung

Da von den Zahlen n und n+ 1 eine gerade ist, muss 4n(n+ 1) durch 8 teilbar sein.

Eine andere Moglichkeit ist der indirekte Beweis und der Widerspruchsbeweis.Anstelle der Aussage A⇒ B zeigt man beim indirekten Beweis die aquivalente Aussage ¬B ⇒¬A, wobei ¬A die Negation der Aussage A ist, d.h. ¬A ist genau dann wahr, wenn A falsch istund umgekehrt. ¬B ⇒ ¬A bedeutet also ”Wenn B keine wahre Aussage ist, dann kann A auchnicht wahr sein.“

Beispiele zur Negation:Die Negation der Aussage ”Spinat ist lecker und gesund“ lautet ”Spinat ist nicht lecker oderSpinat ist nicht gesund“.Die Negation der Aussage ”Wenn es regnet, ist die Erde nass“ ist ”Es regnet und die Erde istnicht nass“. Beachten Sie, dass ”Wenn es nicht regnet, ist die Erde nicht nass“ eben nicht dielogische Umkehrung der ersten Aussage ist, denn die Erde konnte ohne weiteres nass sein, auchwenn es nicht regnet.Vom Standpunkt der Aussagenlogik ist die Aussage A ⇒ B wahr, wenn A und B beide wahrsind, aber auch dann, wenn A falsch ist. Dies ist die sogenannte ex-falso-Regel, nach der auseiner falschen Voraussetzung alles geschlossen werden kann.Es gilt daher

A⇒ B ist wahr, genau dann wenn (¬A oder B) wahr ist.

Die Negation von A⇒ B ist daher die Aussage ”A und ¬B“.Vorsicht ist auch geboten bei den Quantoren. Die Negation der Aussage ”Alle Menschen sindkleiner als 2,10 Meter“ lautet naturlich nicht ”Alle Menschen sind großer als 2,10 Meter“,sondern ”Es gibt einen Menschen, der großer als 2,10 Meter ist“.Den Umgang mit Negationen werden Sie in den Ubungen noch uben.Zuruck zum indirekten Beweis. Man nimmt also zunachst an, dass die Aussage B (die man jaeigentlich beweisen mochte) falsch ist, und zeigt dann, dass unter dieser Annahme auch A falschist.Ahnlich geht man beim Widerspruchsbeweis vor. Man nimmt die Negation der Aussage an, dieman eigentlich beweisen mochte und folgert daraus eine Aussage, die dieser Annahme wider-spricht. Daraus kann man dann umgekehrt schließen, dass die Annahme falsch gewesen sein

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Mengen, Abbildungen und Zahlen

muss.

Beispiel: Es gibt unendlich viele Primzahlen.Euklid hat ca. 300 v.Chr. einen indirekten Beweis fur diese Aussage angegeben. Er nimmt dazuan, dass die Aussage falsch ist, es also nur endlich viele Primzahlen gibt. Diese listet er diePrimzahlen p1, p2, p3, . . . , pn alle auf und bildet daraus die Zahl M := p1 · p2 · p3, ·pn. Diese Zahlist naturlich durch alle Primzahlen teilbar. Andererseits ist M + 1 durch keine der Primzahlenteilbar, denn wenn M+1 durch irgendeine Primzahl pi teilbar ware, dann ware auch die DifferenzM + 1 −M = 1 durch pi teilbar. Das ist aber offenbar falsch, also muss die Annahme, dass esnur endlich viele Primzahlen gibt ebenfalls falsch sein.

Beispiel: Es gibt keine rationale Zahl x ∈ Q, fur die x2 = 2 ist.Wir nehmen wieder an, dass x = p/q die Gleichung x2 = 2 erfullt, wobei p, q ∈ N und der Bruchvollstandig gekurzt sein soll. Dann gilt die Gleichung p2 = 2q2 und da die rechte Seite durchzwei teilbar ist, muss auch die linke Seite durch zwei teilbar sein. Dann ist aber p durch zweiteilbar und wir konnen p = 2r schreiben. Eingesetzt erhalten wir dann 2r2 = q2. Hier ist nun dielinke Seite durch zwei teilbar, die rechte jedoch nicht, da der Bruch p/q vollstandig gekurzt war.Das kann jedoch nicht sein, da unsere Voraussetzung ja gerade war, dass p/q bereits vollstandiggekurzt is. Aus diesem Widerspruch ergibt sich, dass die ursprungliche Annahme falsch war, undes kein x ∈ Q geben kann mit x2 = 2.Weiter unten werden wir sehen, dass es eine reelle Zahl x gibt, die die Gleichung x2 = 2 erfullt.

1.4 Naturliche Zahlen

Ganz sicher konnen Sie schon lange mit naturlichen Zahlen rechnen. Aber was sind die naturli-chen Zahlen uberhaupt ? Diese Frage hat Mathematiker immer wieder beschaftigt. Dieses Kapitelsoll Ihnen einen kurzen Einblick geben, was Mengen, Abbildungen und Zahlen miteinander zutun haben. Um 1880 hat Dedekind eine mengentheoretische Definition der naturlichen Zahlenvorgeschlagen, die schließlich 1889 von Peano in den folgenden funf Axiomen fur die Menge Nformuliert wird:

1. Es gibt ein ausgezeichnetes (”kleinstes“) Element 1 in N.

2. Zu jeder Zahl n gibt es einen Nachfolger ν(n).

3. 1 ist nicht Nachfolger einer naturlichen Zahl

4. Falls n1 6= n2, dann unterscheiden sich auch die Nachfolger: ν(n1) 6= ν(n2)

5. Enthalt eine Menge M die Zahl 1 und gilt, dass mit n auch ν(n) in M enthalten ist, dannist M = N.

Axiome sind in der Mathematik die elementarsten Grundregeln, aus denen sich (im Prinzip)alle weiteren Aussagen durch logische Ableitung ergeben. Peano axiomatisiert also den Begriffdes Zahlens, auf dem unsere intuitive Vorstellung naturlicher Zahlen basiert.Die durch Peanos Axiome konstruierte Menge {1, ν(1), ν(ν(1)), ν(ν(ν(1))), . . .} kennen wir al-lerdings ublicherweise in der Schreibweise {1, 2, 3, 4, . . .}.

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1.5 Vollstandige Induktion

Als zweite wichtige Beweismethode behandeln wir die Vollstandige Induktion. Dabei geht esdarum zu zeigen, dass eine Aussage A(n), die von einer naturlichen Zahl n abhangt, fur allen ∈ N wahr ist.Eine solche von n abhangige Aussage ist beispielsweise

Die Zahl (2n+ 1)2 − 1 ist durch 4 teilbar

oder

1 + 2 + . . .+ n = 12n(n+ 1)

oder

5n < n5.

Dabei sind die ersten beiden Aussagen tatsachlich fur alle n richtig, wahrend die dritte nurfur n = 2, n = 3 und n = 4 wahr ist. Nun kann man naturlich meist nicht fur alle n einzelnausprobieren, ob die Aussage A(n) wahr ist. Eine Moglichkeit, die Aussage fur alle n strengmathematisch zu beweisen, besteht darin, sich der Reihe nach von Zahl zu Zahl zu hangeln.

Satz 1.3 [Induktionsprinzip]Sei A(n) eine Aussage uber naturliche Zahlen n ∈ N. Falls gilt:

1. A(1) ist wahr (Induktionsanfang)

2. Wenn A(n) wahr ist, dann ist auch A(n+ 1) wahr (Induktionsschritt),

dann ist die Aussage A(n) fur alle n ∈ N wahr.

Beweis:Sei F die Menge der n ∈ N, fur die A(n) wahr ist. Nach dem letzten der Peanoschen Axiome istF = N, d.h. die Aussage ist wirklich fur alle naturlichen Zahlen wahr. 2

Beispiel: Fur die Summe ungerader Zahlen gilt:

1 + 3 + 5 + . . .+ (2n− 1) =n∑j=1

(2j − 1) = n2. (∗)

Hier sehen Sie gleich eine der am haufigsten vorkommenden mathematischen Abkurzungen, dasSummenzeichen.Beweis: Induktionsanfang (n=1): klar, da links und rechts jeweils nur eine Eins steht.

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Mengen, Abbildungen und Zahlen

Induktionsschritt (n → n+1):Wir mussen zeigen, dass die Aussage A(n+ 1) wahr ist, dass also

1 + 3 + 5 + . . .+ (2n− 1) + (2n+ 1) =n+1∑j=1

(2j − 1) = (n+ 1)2.

Dabei durfen wir die Aussage A(n) als wahr voraussetzen, d.h. die Gleichung (∗) benutzen.Damit erhalten wir aber sofort

1 + 3 + 5 + . . .+ (2n− 1) + (2n+ 1) = n2 + (2n+ 1) = (n+ 1)2.

Nach Satz 1.3 gilt die Behauptung dann fur alle naturlichen Zahlen n.

Beispiel: Geometrische SummenformelSei q eine reelle Zahl. Dann ist fur n = 0, 1, 2, 3, . . .

1 + q + q2 + q3 + . . . qn =n∑k=0

qk =1− qn+1

1− q. (�)

Beim Induktionsanfang n = 0 ist wieder nichts zu zeigen.Fur den Induktionsschritt n ; n+ 1 nehmen wir an, dass die Summenformel (�) fur eine Zahln gelte und wir sie nun fur die Zahl n+ 1 beweisen mussen. Dann ist aber

1 + q + q2 + q3 + . . . qn︸ ︷︷ ︸= 1−qn+1

1−q nach Voraussetzung

+qn+1 =1− qn+1

1− q+ qn+1

=1− qn+1 + qn+1 − qn+2

1− q

=1− q(n+1)+1

1− q.

Also gilt (�) auch fur die Zahl n + 1. Nach dem Prinzip der Vollstandigen Induktion ist dieSummenformel daher fur alle n ∈ N0 richtig.

Beispiel: Die Bernoullische UngleichungBehauptung: Fur jede Zahl h > −1, h 6= 0 und jede naturliche Zahl n gilt die Ungleichung

(1 + h)n ≥ 1 + nh.

Das beweisen wir nun mittels Vollstandiger Induktion nach n.

Induktionsanfang (n=1):Fur n = 1 herrscht offenbar Gleichheit.

Induktionsschritt (n → n+1):Sei die Ungleichung fur ein n bereits bewiesen. Dies ist die Induktionsvoraussetzung, die wirbenutzen wollen, um die Ungleichung auch fur n+ 1 zu beweisen. Es ist

(1 + h)n+1 = (1 + h) · (1 + h)n

≥ (1 + h)(1 + nh) nach Induktionsvoraussetzung= 1 + (n+ 1)h+ nh2

> 1 + (n+ 1)h.

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Mit Satz 1.3 folgt nun, dass die Bernoullische Ungleichung fur alle n ∈ N erfullt ist. Wir werdensie spater bei mehreren Gelegenheiten noch benutzen.Es ist ubrigens einfach zu zeigen, dass fur n ≥ 2 sogar ”>“ statt ”≥“ gilt.

Als drittes Beispiel zur vollstandigen Induktion zahlen wir die Anzahl aller moglichen Teilmengeneiner gegebenen endlichen Menge.

Definition:Sei A eine Menge. Die Potenzmenge P(A) ist die Menge aller Teilmengen von A, d.h.

P(A) := {B; B ⊂ A}.

Satz 1.4Sei A eine endliche Menge mit n Elementen. Dann hat die Potenzmenge P(A) genau 2n Ele-mente, d.h. es gibt 2n verschiedene Teilmengen von A (einschließlich A selbst und der leerenMenge).

Beweis: Mittels Vollstandiger Induktion nach der Anzahl n der Elemente.

Induktionsanfang (n=1):Besitzt A genau ein Element a, dann ist

P(A) = {∅, {a}} .

Also hat P(A) genau 21 Elemente:

Induktionsschluss:Sei die Aussage also fur beliebige (n−1)-elementige Mengen schon bewiesen und besitze A genaun Elemente.Wahle ein Element a aus A aus. Es gibt nun Teilmengen von A, die a enthalten und solche, diea nicht enthalten. Von beiden Sorten gibt es genau 2n−1, da die Anzahl jeweils der Anzahl derTeilmengen von A \ {a} entspricht. Insgesamt besitzt A also 2 · 2n−1 = 2n Teilmengen. 2

Das Induktionsprinzip kann man auch umgekehrt nutzen, um einen Ausdruck A(n) fur allenaturlichen Zahlen zu definieren. Bei einer solchen rekursiven Definition legt man zuerstA(1) fest und gibt dann an, wie sich A(n+ 1) aus dem schon vorher definierten Ausdruck A(n)ergibt.Auf diese Weise kann man beispielsweise Potenzen einer naturlichen Zahl a folgendermaßendefinieren:Man beginnt mit a0 := 1 und setzt dann an+1 = a · an. So ergeben sich der Reihe nach allePotenzen von a aus der Multiplikation mit a.

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Mengen, Abbildungen und Zahlen

Man kann im Ubrigen auch die Multiplikation naturlicher Zahlen durch eine rekursive Definitionauf die Addition zuruckfuhren. Dazu setzt man fur ein festes a ∈ N zunachst a ·1 := a und dannrekursiv fur n ≥ 1 einfach a · (n+ 1) := a · n+ a.Etwas allgemeiner geht es auch: Anstatt alleine aus A(n) kann man A(n + 1) manchmal auchmit Hilfe von A(1), A(2), . . . , A(n) definieren. Das ist im folgenden Beispiel der Fall.

Beispiele:

1. Fibonaccis KaninchenIn seinem Buch ”Liber abbaci“hat Leonardo von Pisa um 1220 die Aufgabe behandelt, wiedie Anzahl der Kaninchen wachst, wenn man folgende Regeln zugrundelegt:

• Ein Kaninchenpaar wirft vom zweiten Monat an ein junges Paar und in jedem wei-teren Monat ein weiteres Paar,

• die Nachkommen verhalten sich ebenso und

• Kaninchen sind unsterblich.

Bezeichnet man mit Fn die Anzahl der Kaninchenpaare im n-ten Monat, dann ist F1 = 1und F2 = 1, da das Kaninchenpaar im ersten Monat noch keine Jungen bekommt. Danachist F3 = 2 und F4 = 3, weil das erste Paar jeweils ein Paar Junge bekommt. Im nachstenMonat bekommt auch das im dritten Monat geborene Paar Junge, also ist F5 = 5, usw.Allgemein uberlegt man sich, dass

Fn+1 = Fn + Fn−1,

denn die Anzahl der Paare im Monat n + 1 setzt sich zusammen aus den Paaren, dieim Monat vorher bereits da waren und den neugeborenen Paaren. Es werden aber ge-nau so viele Paare neu geboren wie Paare im Monat n − 1 vorhanden waren. Mit diesesRekursionsformel lasst sich nun Fn prinzipiell fur alle n bestimmen.

Die Zahlen F1, F2, F3, . . . heißen Fibonacci–Zahlen und besitzen viele interessante Ei-genschaften, von denen wir in denen Ubungen noch einige kennenlernen werden.

2. Das Summenzeichen musste man streng mathematisch ebenfalls rekursiv definieren, undzwar durch

1∑j=1

aj = a1

n∑j=1

aj =

n−1∑j=1

aj

+ an.

Die Summation uber n Terme fuhrt man also zuruck auf die Summation uber n−1 Terme.

Analog kann man ubrigens auch Produkte mit mehreren Faktoren darstellen, indem mandefiniert:

1∏j=1

aj = a1

n∏j=1

aj =

n−1∏j=1

aj

+ an

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3. Eine Folge reeller Zahlen kann man rekursiv durch

x1 =15, xn+1 = 4xn(1− xn)

definieren. Auch wenn das Bildungsgesetz dieser Folge vollig klar und einfach ist, springendie Folgenglieder ”chaotisch“im Intervall zwischen 0 und 1 hin und her.

4. BinomialkoeffizientenWir bezeichnen mit (

n

k

), gesprochen ”n uber k“

die Anzahl der k-elementigen Teilmengen einer n-elementigen Menge k, n ∈ N0, 0 ≤ k ≤ n.Dann gilt fur alle erlaubten k, n(

n

k − 1

)+(n

k

)=(n+ 1k

)(∗)

denn: Es reicht naturlich, als n-elementige Menge die Menge {1, 2, . . . , n} zu betrachten,da es nur auf die Anzahl von Elementen und nicht auf die Elemente selbst ankommt.Sei B ⊂ {1, 2, . . . , n+ 1} eine Menge mit genau k Elementen. Dann gibt es zwei Moglich-keiten:

(i) n+ 1 /∈ B, das heißt B ⊂ {1, . . . , n}.Dafur gibt es genau

(nk

)Moglichkeiten.

a) n+ 1 ∈ B, d.h. B \ {n+ 1} enthalt noch k − 1 Elemente.Dann gibt es genau

(nk−1

)Moglichkeiten, diese restlichen k − 1 Elemente von B aus

der verbleibenden Menge {1, . . . , n} zu wahlen.

Da die Fallunterscheidung vollstandig ist, ergeben sich insgesamt(nk

)+(nk−1

)Moglichkeiten,

B zu wahlen. Nach Definition gibt es aber genau(n+1k

)Moglichkeiten, eine k-elementige

Teilmenge B aus der (n+ 1)-elementigen Menge {1. . . . , n+ 1} auszuwahlen.

Von Pascal stammt die folgende Darstellung, mit deren Hilfe man Binomialkoeffizientenrekursiv berechnen kann, wenn man zunachst nur die Werte

(n0

)= 1 und

(nn

)= 1 kennt.

Man benutzt dabei das Pascalsche Dreieck(00

)(10

) (11

)(20

) (21

) (22

)(30

) (31

) (32

) (33

)(40

) (41

) (42

) (43

) (44

)(50

) (51

) (52

) (53

) (54

) (55

)...

......

......

.... . .

Nach (∗) ist jeder Eintrag die Summe der links und rechts uber ihm stehenden Binomial-

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Mengen, Abbildungen und Zahlen

koeffizienten. Man berechnet daher leicht

11 1

1 2 11 3 3 1

1 4 6 4 11 5 10 10 5 1

1...

......

...... 1

Im Prinzip kann man auf diese Weise jeden Binomialkoeffizienten berechnen, es ist nur furgroße n recht aufwandig. In den Ubungen werden Sie daher noch die Darstellung(

n

k

)=n · (n− 1) · . . . · (n− k + 1)

k!=

n!k!(n− k)!

herleiten.

Anwendung: In der Elementarteilchenphysik unterscheidet man Fermionen und Bosonen.Fermionen unterliegen dem Pauli-Prinzip, das besagt, das keine zwei Teilchen in allenQuantenzahlen ubereinstimmen konnen. Wenn man sich die moglichen Zustande als Zellenvorstellt, dann fuhrt das auf die Frage, wie man k nicht unterscheidbare Teilchen auf nZellen so verteilt, dass in jeder Zelle hochstens ein Teilchen enthalten ist. Es gibt genau(nk

)verschiedene solche Verteilungen. Berucksichtigt man noch die Energie der Zustande

so erhalt man fur große n die Fermi-Dirac-Verteilung.Bosonen mussen das Pauli-Prinzip nicht erfullen. Hier stellt sich die Frage, auf wie vieleArten k nicht unterscheidbare Teilchen auf n Zellen verteilt werden konnen, wobei jedeZelle beliebig viele Teilchen aufnehmen kann. Hierfur gibt es genau

(n+k−1

k

)verschiedene

Moglichkeiten. Dies fuhrt fur große n unter Berucksichtigung der Energie auf die Bose-Einstein-Verteilung.

Binomialkoeffizienten brauchen wir auch fur die folgende Verallgemeinerung der aus der Schulebekannten ”binomischen Formel“:

Satz 1.5 [Binomischer Satz]

(x+ y)n =n∑k=0

(n

k

)xkyn−k fur n ∈ N0, x, y ∈ R.

Beweis: Durch Ausmultiplizieren veranschaulicht man sich dies erstmal:

(x+ y)n = (x+ y) · (x+ y) · . . . · (x+ y)︸ ︷︷ ︸n Klammern

zum Beispiel wie in der Schule

(x+ y)3 = (x+ y) · (x+ y) · (x+ y)= xxx+ xxy + xyx+ xyy + yxx+ yxy + yyx+ yyy

= x3 + 3x2y + 3xy2 + y3.

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Tatsachlich liefert das sture Ausmultiplizieren zu jeder k-elementigen TeilmengeB von {1, 2, . . . , n}genau einmal den Summanden xkyn−k. Wir nehmen namlich aus der j-ten Klammer den Term x,falls j ∈ B. Wenn aber j /∈ B, nehmen wir aus dieser Klammer y. Insgesamt taucht also der Termxkyn−k dabei genau

(nk

)mal auf, weil es gerade so viele k-elementige Mengen B ⊂ {1. . . . , n}

gibt. 2

1.6 Reelle Zahlen

Wir werden in dieser Vorlesung die reellen Zahlen nicht konstruieren, der Weg uber die ganzenund rationalen Zahlen wurde zu viel Zeit benotigen. Stattdessen charakterisieren wir die reel-len Zahlen durch ihre Eigenschaften, das sind einerseits die Korper-Axiome, die etwas uber dasRechnen mit reellen Zahlen aussagen, sowie die Anordnungsaxiome und das Vollstandigkeitsaxi-om. Lose ausgedruckt bedeuten die letzten beiden Dinge, dass wir uns die reellen Zahlen alsPunkte auf einer Geraden vorstellen konnen, die keine ”Locher“ hat.Wir beginnen mit den Korperaxiomen, die quasi die Rechenregeln fur Addition und Multiplika-tion bereitstellen.

Definition:Eine Gruppe besteht aus einer Menge G und einer Verknupfung ∗

∗ : G×G → G

(a, b) 7→ a ∗ b

fur die folgende Eigenschaften gelten:

1. Die Verknupfung ist assoziativ , das heißt es gilt

(a ∗ b) ∗ c = a ∗ (b ∗ c) fur alle a, b, c ∈ G.

2. Es existiert ein neutrales Element e, das heißt ein e ∈ G so dass

a ∗ e = e ∗ a = a fur alle a ∈ G.

3. Zu jedem Element a ∈ G existiert ein inverses Element a−1 ∈ G, so dass

a ∗ a−1 = a−1 ∗ a = e fur alle a ∈ G.

Eigenschaft (i) besagt, dass es nicht darauf ankommt, in welcher Reihenfolge wir die Verknupfunganwenden. Allerdings durfen wir die Reihenfolge der verknupften Elemente nicht verandern.

Bemerkung: Es kann immer nur ein neutrales Element geben, denn ware (; indirekter Beweis)e noch ein weiteres neutrales Element mit e 6= e, dann ware

e = e ∗ e = e

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Mengen, Abbildungen und Zahlen

wobei wir beim ersten Gleichheitszeichen ausgenutzt haben, dass e neutrales Element ist undbeim zweiten Gleichheitszeichen, dass e ebenfalls ein neutrales Element ist.Analog gibt es zu jedem Element a ∈ G auch genau ein inverses Element, denn falls b und b zweiinverse Elemente zu a sind, dann folgt wegen

a ∗ b = b ∗ a = a ∗ b = b ∗ a = e

direktb = b ∗ (a ∗ b) = (b ∗ a) ∗ b = b.

Die Gleichung a ∗ x = b besitzt daher fur alle a, b ∈ G genau eine Losung x = a−1b.

Definition:Eine Gruppe G heißt kommutativ oder auch abelsch, falls zusatzlich das Kommutativgesetz

a ∗ b = b ∗ a fur alle a, b ∈ G

erfullt ist.

Beispiele:

1. Das bekannteste Beispiel einer kommutativen Gruppe ist vermutlich die Addition in denganzen Zahlen Z. Das neutrale Element ist in diesem Fall die Zahl 0 und das inverseElement zu einer Zahl m ist die Zahl −m.

2. Beachten Sie, dass N0 mit der Addition keine Gruppe bildet, da zu einer naturlichen Zahln ∈ N kein inverses Element in N existiert.

3. In der Physik spielen Symmetriegruppen eine wichtige Rolle. Dabei handelt es sich umeine Menge von Abbildungen mit der Hintereinanderausfuhrung als Verknupfung. Bei-spielsweise bilden alle Kongruenz-Abbildungen der Ebene R2 in sich, die ein gleichseitigesDreieck auf sich selbst abbilden, eine Gruppe. Diese Gruppe besteht aus sechs Elementen,da die Ecken des Dreiecks auf sechs verschiedene Arten aufeinander abgebildet werdenkonnen. Diese Gruppe ist ubrigens nicht kommutativ, da die Hintereinanderausfuhrungeiner Spiegelung und einer Drehung von der Reihenfolge der Abbildungen abhangt.

Definition:Ein Korper ist eine Menge K versehen mit zwei Verknupfungen ’+’ (”Addition “) und ’·’(”Multiplikation “), so dass die folgenden Eigenschaften erfullt sind:

1. (K,+) ist eine kommutative abelsche Gruppe mit neutralem Element 0,

2. (K \ {0}, ·) ist eine kommutative abelsche Gruppe mit neutralem Element 1 6= 0,

3. es gilt das Distributivgesetz(a+ b) · c = a · c+ b · c

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Das letzte dieser drei Korperaxiome druckt aus, dass Addition und Multiplikation miteinandervertraglich sind.Das zu a ∈ K inverse Element bezuglich der Addition bezeichnen wir mit −a. Fur a 6= 0 existiertein inverses Element bezuglich der Multiplikation, das wir mit a−1 bezeichnen. Es gilt also

(a+ b) + c = a+ (b+ c) ∀a, b, c ∈ Ka+ 0 = 0 + a = a ∀a ∈ K

a+ (−a) = (−a) + a = 0 ∀a ∈a+ b = b+ a ∀a, b ∈ K

(a · b) · c = a · (b · c) ∀a, b, c ∈ Ka · 1 = 1 · a = a ∀a ∈ K

a · a−1 = a−1 · a = 1 ∀a ∈ K \ {0}a · b = b · a ∀a, b ∈ K.

Subtraktion und Division werden dann definiert als

a− b := a+ (−b), a/b := a · (b−1).

Alle weiteren Rechenregeln lassen sich aus diesen Grundregeln herleiten. Exemplarisch zeigenwir, warum 0 · x = 0 ergibt: Zunachst ist 0 · x = (0 + 0) · x wegen der Eigenschaft von 0 alsneutralem Element der Addition. Mit Hilfe des Distributivgesetzes erhalt man daraus

0 · x = 0 · x+ 0 · x

Die Gleichung0 · x = 0 · x+ y

besitzt genau eine Losung, namlich y = 0, daher muss auch 0 · x = 0 sein.

Beispiele:

• Die Menge R der reellen Zahlen bildet mit der ublichen Addition und Multiplikation einenKorper.

• Die Menge Q der rationalen Zahlen bildet mit Addition und Multiplikation ebenfalls einenKorper.

• Einen Korper Z2, der nur zwei Elemente 0 und 1 enthalt, erhalt man, indem man Additionund Multiplikation folgendermaßen definiert:

0 + 0 = 00 + 1 = 11 + 1 = 00 · 0 = 00 · 1 = 01 · 1 = 1

Diese Regeln kann man sich leicht merken, wenn man statt 0 ”gerade “und statt 1 ”un-gerade “einsetzt. Zu zeigen, dass auf diese Weise tatsachlich ein Korper definiert wird,uberlasse ich Ihnen als Ubung.

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Mengen, Abbildungen und Zahlen

Neben den Rechenregeln besitzen die reellen Zahlen eine weitere Struktur, ihre Anordnung.Sie erlaubt uns, verschiedene reelle Zahlen bezuglich ihrer Grße zu vergleichen. Ausgangspunktist dabei die Null. Wir zeichnen innerhalb der reellen Zahlen die Teilmenge R+ der positivenZahlen aus. Wir schreiben x > 0, falls x ∈ R+ und x < 0, falls −x ∈ R+. Es gelten dann diefolgenden Regeln:

(O1) jede reelle Zahl a ∈ R erfullt genau eine der Bedingungen a < 0, a = 0 oder a > 0,

(O2) Fur beliebige positive Zahlen a, b ∈ R+ ist a+ b > 0 und a · b > 0.

(O3) Fur eine beliebige reelle Zahl a ∈ R gibt es immer eine naturliche Zahl n ∈ N, so dassn− a > 0 ist (Archimedisches Axiom).

Auch hier kann man wieder alle bekannten Rechenregeln aus diesen drei Grundregeln herleiten.Dazu definiert man zunachst die folgenden Schreibweisen:

a > b :⇔ a− b > 0a < b :⇔ b− a > 0a ≥ b :⇔ a > b oder a = b

a ≤ b :⇔ a < b oder a = b

Satz 1.6Fur beliebige Zahlen a, b, c ∈ R gilt:

(i) a > b und b > c⇒ a > c (Transitivitat)

(ii) a > b⇒ a+ c > b+ c

(iii) a > b und c > 0⇒ a · c > b · c

Beweis:

(i) Aus a− b > 0 und b− c > 0 folgt nach (O2)

(a− b) + (b− c) > 0 ⇔ a− c > 0 ⇔ a > c.

(ii) Nach Voraussetzung ist

a− b = a− b+ 0 = a− b+ (c− c) = a+ c− b− c = (a+ c)− (b+ c) > 0.

Also ist a+ c > b+ c.

(iii) Es ist a− b > 0 also nach (O2)

(a− b) · c > 0 ⇔ a · c− b · c > 0 ⇔ a · c > b · c.

2

In den Ubungen wird gezeigt, dass x · x ≥ 0 ist fur jede reelle Zahl x. Daraus folgt sofort, dass1 · 1 = 1 ≥ 0 und da 1 6= 0 vorausgesetzt war, sogar 1 > 0. Im nachsten Kapitel werden wir diefolgende Variante des Archimedischen Axioms benotigen:

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

Lemma:Zu jeder positiven, reellen Zahl b > 0 existiert eine naturliche Zahl n ∈ N mit 1

n < b.

Beweis: Fur eine beliebige positive reelle Zahl b ist auch 1b positiv, da sonst 1

b ≤ 0 und wegen(O2) dann 1 = b · 1

b ≤ b · 0 = 0.Wir wahlen mit Hilfe von (O3) eine naturliche Zahl n ∈ N mit n− 1

b > 0. Durch Multiplikationmit den positiven Zahlen b und 1

n folgt daraus die gewunschte Ungleichung b− 1n > 0. 2

Definition:Fur reelle Zahlen a, b ∈ R definieren wir verschiedene Arten von Intervallen wie folgt:

[a, b] := {x ∈ R; a ≤ x ≤ b} (abgeschlossenes Intervall)(a, b) := {x ∈ R; a < x < b} (offenes Intervall)[ a, b) := {x ∈ R; a ≤ x < b} (halboffenes Intervall)(a, b] := {x ∈ R; a < x ≤ b} (halboffenes Intervall)

(−∞, b] := {x ∈ R; x ≤ b}(−∞, b) := {x ∈ R; x < b}

[ a,∞) := {x ∈ R; x ≥ a}(a,∞) := {x ∈ R; x > a}

Auch durch die Anordnung unterscheidet sich R nicht von Q. Daher fuhren wir noch eine letzteEigenschaft der reellen Zahlen ein, die Vollstandigkeit. Sie ist fur die Analysis (und damitfur den Rest dieser Vorlesung) von entscheidender Bedeutung, da sie bei der Grenzwertbildunglaufend benutzt wird.

Definition:Sei A ⊂ R eine Menge reeller Zahlen. Dann heißt C ∈ R obere Schranke fur die Menge A,falls

a ≤ C ∀a ∈ A.

Wenn eine solche obere Schranke existiert, nennt man die Menge A von oben beschrankt.

Falls es unter allen oberen Schranken fur die Menge A eine kleinste obere Schranke C0 gibt,dann nennt man diese das Supremum von A:

C0 = supA.

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Mengen, Abbildungen und Zahlen

Beispiel: Die Menge

A :={

12,23,34,45, . . .

}={

n

n+ 1; n ∈ N

}ist von oben beschrankt, da fur jedes Element a von A gilt: a < 1.Die Zahl 1 ist sogar die kleinste obere Schranke. Wir verifizieren, dass eine Zahl s < 1 keineobere Schranke fur A sein kann. Dann ware namlich 1 − s > 0 und nach dem ArchimedischenPrinzip konnen wir eine Zahl n finden mit 1

n < 1− s. Dann ist aber s < 1− 1n = n−1

n ∈ A, d.h. sist keine obere Schranke fur A.

Ganz analog heißt eine Menge A ⊂ R von unten beschrankt, falls es eine Zahl c ∈ R gibt, sodass

c ≤ a fur alle a ∈ A.

Wenn es eine großte untere Schranke c0 fur A gibt, so nennen wir diese das Infimum von A,geschrieben c0 = inf A.

Nun sind wir in der Lage, die letzte Eigenschaft anzugeben, die die reellen Zahlen auszeichnet,das

VollstandigkeitsaxiomJede von oben beschrankte nichtleere Menge reeller Zahlen besitzt ein Supremum.

Beispiel: Existenz der QuadratwurzelUm zu zeigen, dass es eine positive reelle Zahl w mit der Eigenschaft w2 = 2 gibt, betrachtenwir die Menge

W := {x ∈ R; x > 0 und x2 < 2}.

Diese ist nichtleer, denn 1 ∈ W . Die Menge W ist von oben beschrankt, denn fur x ∈ W giltsicher x < 2. Ansonsten ware namlich als Konsequenz der Ordnungsaxiome

x · x > 2 · x > 2 · 2 = 4.

Nach dem Vollstandigkeitsaxiom existiert also w := supW .

Behauptung: w2 = 2.Den Beweis dieser Behauptung zerlegen wir in zwei Teile:

1. w2 ≤ 2denn: ware w2 > 2, also w2 − 2 > 0, dann konnte man sogar die Zahl

a = w − w2 − 22w

< w

als obere Schranke fur W benutzen, denn

a2 = w2 − (w2 − 2) +(w2 − 2)2

4w2= 2 +

(w2 − 2)2

4w2> 2.

Dann ware aber w nicht die kleinste obere Schranke fur W ; Widerspruch.

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

2. w2 ≥ 2denn: ware w2 < 2, dann konnte man eine positive Zahl ε finden, so dass sogar 2− w2 >ε2 > 0 ware. Wir betrachten nun

(w + δ)2 = w2 + 2δw + δ2.

Wenn wir δ > 0 so klein wahlen, dass

δ <ε

2und δ <

ε2

8w

dann ist

(w + δ)2 = w2 + 2δw + δ2

< w2 + 2wε2

8w+(ε

2

)2

< w2 +ε2

4+ε2

4< w2 + ε2 < 2.

Also kann w keine obere Schranke fur die Menge W sein ; Widerspruch.

Beide Ungleichungen zusammen zeigen, dass w2 = 2. Wir schreiben wie aus der Schule gewohntw =

√2.

Bemerkung: Mit ahnlichen Argumenten kann man zeigen, dass zu jeder positiven reellen Zahleine positive Quadratwurzel existiert. Auch die Existenz n-ter Wurzeln, also von Losungen derGleichung xn = a fur a > 0 lasst sich auf diese Weise beweisen.

Es lasst sich beweisen, dass die reellen Zahlen durch die Korperaxiome, die Anordnungsaxiomeund das Vollstandigkeitsaxiom eindeutig bestimmt sind. Das bedeutet folgendes: Hatte maneine weitere Menge S, die ebenfalls diese Axiome erfullt, dann gabe es eine bijektive Abbildungzwischen R und dieser Menge S, die mit den Verknupfungen und der Anordnung vertraglichware. Außer einer anderen Schreibweise ware S also nichts anderes als die schon bekanntenreellen Zahlen.

1.7 Betrag und Dreiecksungleichung

Definition: Der Betrag (oder Absolutbetrag) einer reellen Zahl ist definiert als

|x| :={−x falls x < 0x falls x ≥ 0

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Mengen, Abbildungen und Zahlen

Satz 1.7Fur beliebige reelle Zahlen x, y gilt:

(i) |x| ≥ 0 und |x| = 0 genau dann, wenn x = 0,

(ii) |x · y| = |x| · |y|,

(iii) |x+ y| ≤ |x|+ |y| (Dreiecksungleichung),

(iv) ||x| − |y|| ≤ |x+ y| (umgekehrte Dreiecksungleichung, Version 1)

(v) ||x| − |y|| ≤ |x− y| (umgekehrte Dreiecksungleichung, Version 2)

Beweis:(i) folgt direkt aus der Definition des Betrags, denn wenn x < 0 ist, dann ist |x| = −x > 0.(ii) ergibt sich aus der Unterscheidung der vier moglichen Falle.(iii)und (iv): Ubungsaufgabe(v) Da

|x| = |x− y + y| ≤ |x− y|+ |y| ⇒ |x| − |y| ≤ |x− y|

und|y| = |y − x+ x| ≤ |y − x|+ |x| ⇒ |y| − |x| ≤ |y − x| = |x− y|

folgt||x| − |y|| ≤ |x− y|.

Bemerkung: Die Dreiecksungleichung ist vermutlich das im weiteren Verlauf der Vorlesung amhaufigsten gebrauchte Hilfsmittel.

1.8 Komplexe Zahlen

Eine komplexe Zahl ist ein geordnetes Paar, dessen Eintrage aus R sind:

z ∈ C = R2, z = (x, y)

Um mit diesen Paaren von Zahlen rechnen zu konnen, definiert man:

1. Addition: z+ z′ = (x+x′, y+ y′), das heißt man addiert diese Zahlen wie Vektoren im R2.

2. Multiplikation: z · z′ := (xx′ − yy′, xy′ + x′y)

Man kann nun nachprufen, dass beide Verknupfungen assoziativ sind (tun Sie das fur die Multi-plikation !) und dass C bezuglich der Addition eine Gruppe mit neutralem Element (0, 0) bildet.Das inverse Element zu z = (x, y) ist naturlich −z := (−x,−y).

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

Zunachst sieht man, dass (1, 0) das neutrale Element der Multiplikation ist. Es gibt auch eineDivision, zum Beispiel gilt fur die Zahl

z′ =1z

:=(

x

x2 + y2,−y

x2 + y2

)tatsachlich

z · z′ = z′ · z = (1, 0).

Wir haben mit C die Ebene R2 zu einem kommutativen Korper gemacht, denn (C,+), (C\{0}, ·)sind abelsche Gruppen und es gilt das Distributivgesetz:

(z1 + z2)z′ = z1z′ + z2z

′.

Man kann also Vektoren im R2 auf eine vernunftige Weise addieren und multiplizieren.Mit obiger Definition kann man R als Teilmenge von C = R2 auffassen, namlich indem manx ∈ R mit (x, 0) ∈ C = R2 identifiziert. Dabei reduziert sich die Addition und die ”seltsa-me“Multiplikation in C auf die ganz gewohnliche Addition bzw. Multiplikation in R, d.h. aufder x–Achse.

Die komplexe Zahl i := (0, 1) heißt imaginare Einheit. Aus unseren Rechenregeln folgt

(0, 1) · (0, 1) = (−1, 0) = −1,

daher lost z = ±i die Gleichung z2 = −1.Wir konnen dank unserer Identifikation von R mit der x-Achse in R2 nun auch jede Zahl z ∈ Ceindeutig zerlegen in z = (x, y) = x + iy. Anders geschrieben heißt das fur ein z = (x, y) ∈ Cmit x, y ∈ R:

z = (x, y) = (x, 0) + (0, y).

Wir nennen x = Re z den Realteil von z und y = Im z den Imaginarteil von z.Achtung ! Der Imaginarteil einer komplexen Zahl ist reell.Zahlen mit Realteil 0 nennt man rein imaginar.

Definition: Fur z = (x, y) ∈ C nennen wir z = (x,−y) = x − iy komplex konjugiert zuz = (x, y). Der Betrag von z ist

|z| =√z · z =

√x2 + y2,

also der (euklidische) Abstand von z zum Ursprung.

Bemerkung:

1. Die Konjugation einer komplexen Zahl entspricht einer Spiegelung an der x-Achse. Daherist z = z

2. Die Konjugation lasst sich mit der Addition und der Multiplikation vertauschen:

z1 + z2 = z1 + z2

z1 · z2 = z1 · z2

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Mengen, Abbildungen und Zahlen

3. Auch fur den komplexen Betrag gilt die Dreiecksungleichung: |z + z′| ≤ |z| + |z′| (;Ubungsaufgabe!)

4. der Betrag vertragt sich mit der Multiplikation. Es gilt |z1 · z2| = |z1| · |z2|, denn

|z1 · z2|2 = (z1 · z2) · (z1 · z2)= (z1 · z2) · (z1 · z2)= (z1 · z1) · (z2 · z2)= |z1|2 · |z2|2

Bemerkung: Anders als R kann C nicht so angeordnet werden, dass die Ordnungsaxiome (O1)–(O3) gelten. Das kann man leicht sehen. Sowohl der Versuch i ≥ 0 als auch i ≤ 0 geht schief:

• Ware i ≥ 0, dann wurde wegen (O2) gelten:

−1 = i · i ≥ 0

• Ware i ≤ 0, dann eben−1 = i · i = (−i) · (−i) ≥ 0

Wir werden sehen, dass C ahnlich wie R keine ”Locher“besitzt. Um diese Vollstandigkeit zubeweisen, fuhren wir im nachsten Kapitel Folgen ein.

1.9 Abzahlbarkeit

Definition: Sei B eine Menge. Man nennt sie

1. endlich, wenn fur ein n ∈ N eine Bijektion {1, . . . , n} → B existiert. In diesem Fallschreiben wir |B| = n. (Wenn B = ∅, dann ist |B| = 0.)

2. abzahlbar, wenn eine Bijektion N→ B existiert.

3. uberabzahlbar, wenn B weder endlich noch abzahlbar ist.

Bemerkung:

1. Ist eine Menge A abzahlbar, dann enthalt sie unendlich viele Elemente, deshalb sagt manauch ”abzahlbar unendlich “.

2. Existiert eine Bijektion zwischen zwei Mengen A und B, dann nennt man A und B gleichmachtig.

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

Satz 1.8

(i) N× N = {(p, q); p ∈ N, q ∈ N} ist abzahlbar.

(ii) Die Vereinigung von zwei abzahlbaren Mengen ist ebenfalls abzahlbar.

(iii) Bilder abzahlbarer Mengen sind hochstens abzahlbar.

(iv) Z und Q sind abzahlbar.

Beweisskizze:

(i) Erstes Cantorsches Diagonalverfahren

Die Paare (p, q) konnen in der angegebenen Reihenfolge alle abgezahlt werden.

(ii) Zahle die Elemente der beiden Mengen einfach abwechselnd ab.

(iii) Sei B das Bild einer abzahlbaren Menge A unter einer Abbildung f . Man kann sich eineAbzahlung von B verschaffen, indem man von einer Abzahlung a1, a2, a3, . . . der Menge Azu f(a1), f(a2), f(a3), . . . ubergeht. Dies ist im Allgemeinen keine (bijektive) Abzahlungder Menge B, da eventuell noch Elemente mehrfach gezahlt werden. Lasst man dieseMehrfachzahlungen jedoch weg, kommt man zu einer echten Abzahlung von B. Die MengeB ist daher hochstens abzahlbar.

(iv) Z ist abzahlbar als Vereinigung Z = N0 ∪ (−N) von zwei abzahlbaren Mengen, siehe (ii).Q ist abzahlbar:

α : Z× N → Q(p, q) 7→ p/q

also sind wir fertig wegen (i) und (iii).

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Mengen, Abbildungen und Zahlen

Satz 1.9 Die Menge der reellen Zahlen R ist uberabzahlbar.

Beweis: Zweites Cantorsches Diagonalverfahren

Cantor hat sich einen indirekten Beweis erdacht, der zeigt, dass die Menge der reellen Zahlennicht abzahlbar sein kann. Dazu nimmt er an, dass es doch eine solche Abzahlung der reellenZahlen im Intervall [0, 1) gibt. Jede dieser Zahlen soll dabei als Dezimalzahl 0.a1a2a3 . . . mitai ∈ {0, 1, 2, 3, . . . , 9} dargestellt sein.Cantor schreibt diese Zahlen untereinander und mochte nun eine Zahl konstruieren, die in dieserListe nicht vorkommt. Wie geht das ? Er wahlt die erste Nachkommastelle so, dass sie verschie-den ist von der ersten Nachkommastelle der ersten Zahl auf der Liste.Die zweite Nachkommastelle wahlt er so, dass sie anders als die zweite Nachkommastelle derzweiten Zahl auf der Liste ist.Bei der dritten Nachkommastelle achtet er darauf, dass diese nicht mit der dritten Nachkom-mastelle der dritten Zahl auf der Liste ubereinstimmt und so fort. Auf diese Weise konstruierter eine reelle Zahl, die in der Liste nicht vorkommt.Also war die Liste eben doch keine vollstandige Abzahlung aller reellen Zahlen zwischen 0 und1.Aus diesem Widerspruch zu unserer Anfangsannahme folgt, dass die Menge der reellen Zahlenin [0, 1) und damit auch R selbst nicht abzahlbar ist. 2

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2 Folgen und Reihen

In diesem Kapitel legen wir endlich richtig mit der Analysis los.

Definition:Sei X eine Menge. Unter einer Folge in X versteht man eine Abbildung

x : N → X

n 7→ xn ,

die jeder naturlichen Zahl n ein Folgenglied xn zuordnet. Wir schreiben die Folge x entwe-der in der Form (x0, x1, x2, x3, . . .) oder kurz (xn)n∈N. Wir nennen n den (Folgen-)Index desFolgenglieds xn.

Im folgenden betrachten wir fast immer reelle Folgen (X = R) bzw. komplexe Folgen (X = C).

2.1 Konvergenz

Auf dem Begriff der Konvergenz basieren viele weitere Eigenschaften von Folgen und Funktionenin der Analysis. Es geht darum zu beschreiben, wie sich Glieder einer Folge schließlich verhalten,wenn man n immer großer macht.

Definition: Sei (xn)n∈N eine Folge reeller bzw. komplexer Zahlen und a eine reelle bzw. komplexeZahl. Dann konvergiert die Folge (xn)n∈N gegen a, falls es zu jeder reellen Zahl ε > 0 einenaturliche Zahl N ∈ N gibt, so dass

|xn − a| < ε fur allen > N.

Man schreibt dannlimn→∞

xn = a oder auch xnn→∞−→ a.

Die Zahl a nennt man den Grenzwert oder Limes der Folge.Eine Folge, die nicht konvergiert, nennt man divergent.Falls fur jede (große) Zahl C > 0 ein Index N ∈ N existiert, so dass

xn > C fur allen > N

dann sagt man, die Folge divergiert gegen +∞.

Haufig haben wir es mit Folgen zu tun, die gegen 0 konvergieren. Diese Folgen nennt manNullfolgen.

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Folgen und Reihen

Bemerkung:

1. Man beachte, dass die Zahl N = N(ε) in Definition 2.1 naturlich vom gewahlten ε abhangt.Wahlt man ein kleineres ε, wird man in der Regel ein großeres N brauchen, um die Be-dingung aus Definition 2.1 zu erfullen.

2. In etwas missbrauchlicher Schreibweise bedeutet limn→∞

xn = +∞, dass die Folge (xn)n∈N

gegen +∞ divergiert.

3. Es kommt in der Definition von Konvergenz nur auf Folgenglieder xn mit (hinreichend)großem n an. Es andert daher am Konvergenzverhalten und gegebenenfalls am Grenzwertnichts, wenn man endlich viele der Folgenglieder abandert oder weglasst.

Man kann den Begriff Konvergenz auch recht anschaulich mit Hilfe sogenannter Umgebungendefinieren.

Definition:Sei x eine reelle Zahl. Wir nennen fur ε > 0 die Menge

Bε(x) := {y ∈ R; |x− y| < ε} = (x− ε, x+ ε)

die ε–Umgebung von x.Analog ist fur eine komplexe Zahl z ∈ C die ε–Umgebung von z

Bε(z) := {w ∈ C; |z − w| < ε}

eine Kreisscheibe mit Radius ε um den Punkt z in der komplexen Zahlenebene.

Die reelle oder komplexe Folge (an)n∈N konvergiert dann gegen eine (reelle oder komplexe) Zahla, falls es zu jedem noch so kleinen ε > 0 einen Index N = N(ε) gibt, so dass ab diesemFolgenindex alle Folgenglieder in der ε-Umgebung von a liegen.

Beispiele:

1. Die Folge (xn)n∈N =(

1n

)n∈N konvergiert gegen 0. Um das zu beweisen, wahlen wir uns

eine beliebig kleine Zahl ε > 0. Nach dem Lemma von Archimedes aus Kapitel 1 gibt eszu diesem ε eine naturliche Zahl N , so dass

1N< ε.

Dann ist aber fur alle n ≥ N

|xn − 0| = 1n≤ 1N< ε.

Damit ist die Bedingung aus Definition 2.1 fur a = 0 erfullt.

2. Die Folge (yn)n∈N mit yn = (−1)n−1 divergiert, denn 1 kann nicht Grenzwert der Folgesein, weil unendlich viele Folgenglieder −1 vorkommen. Eine andere Zahl kann auch nichtGrenzwert der Folge sein, da unendlich viele Folgenglieder +1 vorkommen.

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

3. Die komplexe Zahlenfolge (zn)n∈N mit zn = qn konvergiert fur |q| < 1 gegen 0, denn:Weil 1

|q| > 1 ist, gibt es ein h > 0 mit

1|q|

= 1 + h.

Wendet man nun die Bernoullische Ungleichung an, erhalt man fur n ≥ 1 die Abschatzung(1|q|

)n= (1 + h)n ≥ 1 + nh > nh.

Damit ist dann naturlich|qn − 0| = |qn| = |q|n < 1

nh.

Genau wie im ersten Beispiel zeigt man dann, dass die Folge gegen 0 konvergiert, denn furein beliebiges vorgegebenes ε > 0 findet man nach Archimedes immer ein N ∈ N, so dass1n < h · ε fur alle n ≥ N . Fur diese n ist dann naturlich

|qn − 0| < 1nh

< ε.

4. Sei a > 1. Dann konvergiert die Folge (xn)n∈N mit xn = n√a gegen 1.

Dabei ist n√a die in Kapitel 1 gefundene eindeutige positive Losung der Gleichung xn = a.

Wir setzen dazu xn := 1 + hn und zeigen, dass die hn eine Nullfolge bilden. Benutzt manwieder die Bernoullische Ungleichung, so erhalt man die Abschatzung

a = xnn = (1 + hn)n > 1 + nhn ⇒ hn <a− 1n

und man sieht wieder leicht ein, dass limn→∞ hn = 0.

Die Konvergenz einer komplexen Zahlenfolge lasst sich auf die Konvergenz der Folgen aus Real-und Imaginarteil zuruckfuhren.

Satz 2.1Sei (zn)n∈N eine Folge komplexer Zahlen mit zn = xn + iyn ∈ C. Dann konvergiert die Folge(zn) in C genau dann, wenn die beiden Folgen (xn)n∈N und (yn)n∈N in R konvergieren und esgilt

limn→∞

zn = limn→∞

xn + i limn→∞

yn.

Beweis:Wir nehmen zunachst an, dass die Folge (zn) konvergent ist mit Grenzwert z = x+ iy ∈ C. Seinun ein ε > 0 gegeben, dann finden wir ein N ∈ N, so dass

|zn − z| < ε fur alle n ≥ N.

Nun wenden wir die Dreiecksungleichung an und erhalten

|xn + iyn − x− iy| ≤ |xn − x|+ |iyn − iy| = |xn − x|+ |i| · |yn − y| = |xn − x|+ |yn − y| < ε

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Folgen und Reihen

fur alle n ≥ N . Insbesondere ist dann |xn−x| < ε und |yn− y| < ε fur alle n ≥ N . Da ε beliebigwar, bedeutet das

limn→∞

xn = x und limn→∞

yn = y.

Seien nun umgekehrt (xn)n∈N und (yn)n∈N konvergente Folgen mit limn→∞ xn = x und limn→∞ yn =y. Dann finden wir fur ein beliebiges ε > 0 wieder ein N ∈ N, so dass fur n ≥ N sogar

|xn − x| <ε

2und |yn − y| <

ε

2.

Dann ist aber auch

|xn + iyn − x− iy| ≤ |xn − x|+ |iyn − iy| = |xn − x|+ |yn − y| <ε

2+ε

2= ε.

Daraus ergibt sich die Konvergenz der Folge (zn)n∈N gegen x+ iy. 2

Satz 2.2 Eine konvergente Folge hat genau einen Grenzwert.

Beweis: Wir gehen indirekt vor, und nehmen an, eine Folge (xn)n∈N hatte zwei verschiedeneGrenzwerte a und b. Daraus mochten wir einen Widerspruch konstruieren. Anschaulich ist dasVorgehen relativ klar: Wenn die Folge gegen a konvergiert, dann liegen alle Folgenglieder abeinem bestimmten Index sehr nahe bei a und entsprechend weit weg von b.Diese Idee nun etwas formaler: Wir wahlen ε = |b−a|

2 > 0. Da die Folge gegen a konvergiert, gibtes einen Index N1, so dass

|xn − a| < ε fur alle n ≥ N1.

Genauso gibt es wegen der Konvergenz gegen b einen Index N2 mit

|xn − b| < ε fur alle n ≥ N2.

Fur alle n > max(N1, N2) ist dann wegen der Dreicksungleichung

2ε = |b− a| = |b− a− xn + xn| ≤ |b− xn|+ |a− xn| < 2ε.

Dies ist offenbar ein Widerspruch, daher muss unsere ursprungliche Annahme falsch gewesensein, dass zwei verschiedene Grenzwerte existieren. 2

Definition: Eine Folge (xn)n∈N reeller, bzw. komplexer Zahlen heißt beschrankt, falls es einereelle Zahl M > 0 gibt, so dass alle Folgenglieder vom Betrag her kleiner als M sind:

|xn| ≤ M fur alle n ∈ N.

Eine reelle Folge (xn)n∈N heißt von oben beschrankt, falls es eine Zahl C ∈ R gibt, so dass

xn ≤ C fur alle n ∈ N

und von unten beschrankt, falls es eine Zahl c ∈ R gibt, so dass

xn ≥ c fur alle n ∈ N

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

Satz 2.3 Jede konvergente Folge ist beschrankt.

Beweis: Sei (xn)n∈N eine konvergente Folge mit Grenzwert a. Dann gibt es insbesondere zuε = 1 eine naturliche Zahl N0, so dass fur alle n ≥ N0 die Ungleichung |xn − a| < 1 gilt. Dannergibt sich wieder mit Hilfe der Dreiecksungleichung

|xn| = |xn − a+ a| ≤ |xn − a|+ |a| ≤ |a|+ 1.

Die Folge (xn)n∈N ist also beschrankt. 2

Man beachte, dass unsere Argumentation gleichermaßen fur reelle wie fur komplexe Zahlenfolgengilt.

Bemerkung: Die Umkehrung des Satzes gilt naturlich nicht: Es gibt (viele) beschrankterFolgen, die nicht konvergent sind.

2.2 Monotone Folgen

Definition:Eine Folge (an)n∈N heißt monoton wachsend, falls an ≤ an+1 fur jedes n ∈ N. Falls sogaran < an+1 fur jedes n ∈ N, dann heißt die Folge streng monoton wachsend.Analog heißt eine Folge (an)n∈N monoton fallend, wenn an ≥ an+1 bzw. streng monotonfallend, wenn an > an+1 fur alle n ∈ N.

Satz 2.4 Sei (xn)n∈N eine monoton wachsende reelle Folge, die von oben beschrankt ist. Dannkonvergiert (xn)n∈N.

Beweis: Die Menge aller auftretenden Folgenglieder {xn; n ∈ N} ist von oben beschrankt, alsobesitzt sie ein Supremum

x := sup{xn; n ∈ N}.

Wir behaupten, dass diese Zahl der Grenzwert der Folge (xn)n∈N ist, also: x = limn→∞

xn.

Um das zu zeigen, wahlen wir ein beliebiges ε > 0. Dann existiert ein N0 ∈ N mit xN0 ≤ x undder Eigenschaft, dass xN0 > x− ε. Sonst ware namlich x− ε eine obere Schranke fur die Mengealler Folgenglieder und x somit nicht die kleinste obere Schranke. Aus der Ungleichung

x− ε < xN0 ≤ x

folgern wir nun auf Grund der Monotonie von (xn)n∈N, dass

x− ε < xN0 ≤ xn ≤ x fur alle n ≥ N0.

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Folgen und Reihen

Insbesondere ist daher fur n ≥ N0

|xn − x| < ε.

Nach Definition 2.1 konvergiert die Folge (xn)n∈N also gegen x. 2

Wenn wir die monotone Konvergenz betonen wollen, sagen wir xn ”konvergiert von unten“ gegenx, kurz xn ↗ x.

Lemma:Sei xn nun eine monoton fallende reelle Folge. Wenn xn zusatzlich von unten beschrankt ist,besitzt xn einen Limes

x = limn→∞

xn.

Beweis: Wir betrachten dazu einfach die Folge (−xn)n∈N. Die Menge {−xn; n ∈ N} ist vonoben beschrankt, denn es gilt fur beliebige Mengen A ⊂ R immer

sup(−A) = − inf(A) (; siehe Ubungsaufgabe).

Die Folge (−xn)n∈N ist monoton wachsend und damit nach Satz 2.4 konvergent. Wegen

xn ↘ x ⇔ −xn ↗ −x

konvergiert auch die Folge (xn)n∈N. 2

Bemerkung:

1. limn→∞

(−xn) = − limn→∞

(xn), falls eine der beiden Seiten existiert.

2. Man beachte, dass man mit Satz 2.4 die Konvergenz einer Folge zeigen kann, ohne denGrenzwert zu kennen.

Als Beispiel zeigen wir:

Satz 2.5 [Die Eulersche Zahl e]Sei (en)n∈N die Folge der Zahlen

en :=n∑k=0

1k!

=10!

+11!

+12!

+ . . .+1n!,

wobei wieder 0! = 1.Dann existiert der Grenzwert

e := limn→∞

en.

Man nennt e ≈ 2, 71828 die Eulersche Zahl.

39

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

Beweis: Die Folge (en)n∈N ist monoton wachsend, da en+1 = en + 1(n+1)! , also bleibt nur zu

zeigen, dass die Folge auch beschrankt ist. Dazu schatzen wir ab:

en = 1 + 1 +1

1 · 2+

11 · 2 · 3

+1

1 · 2 · 3 · 4+ . . . +

1n!

≤ 1 + 1 +12

+1

2 · 2+

12 · 2 · 2

+ . . . +1

2n−1≤ 3

In dieser Abschatzung haben wir zunachst jede Zahl, die großer als 2 ist, durch eine 2 ersetzt.Dadurch werden die Bruche großer, da ihre Nenner kleiner werden. So erhalten wir eine Summe

1 + q + q2 + q3 + . . . qn =n∑k=0

qk =1− qn+1

1− q.

mit q = 12 , von der wir wissen, dass sie kleiner als 1

1−q = 2 ist. Damit ist (en)n∈N beschranktund der Grenzwert e ≤ 3 existiert. 2

2.3 Teilfolgen

Definition:Sei (xn)n∈N eine Folge. Eine Folge (yk)k∈N heißt Teilfolge von (xn)n∈N, falls es eine strengmonoton wachsende Folge von Indizes n1 < n2 < n3 < . . . gibt, so dass yk = xnk fur alle k ∈ N.

Man pickt sozusagen nur diejenigen Folgenglieder der Folge (xn)n∈N heraus, deren Indizes in derFolge (n1, n2, n3, . . .) vorkommen.

Definition:Sei (xn) eine Folge reeller oder komplexer Zahlen. Eine Zahl x heißt Haufungspunkt von (xn),wenn es zu jedem ε > 0 und jeder naturlichen Zahl N ∈ N immer ein Folgenglied xn gibt mitn ≥ N und |xn − x| < ε.

Beispiele:

1. xn = (−1)n ∈ R hat die Haufungspunkte 1 und −1, denn

limk→∞

x2k = 1 limk→∞

x2k+1 = −1.

2. xn = in + 12n ∈ C hat die Haufungspunkte: 1,−1, i und −i.

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Folgen und Reihen

Satz 2.6Sei (xn)n∈N eine Folge reeller oder komplexer Zahlen. Dann gilt:Die Zahl x ist genau dann ein Haufungspunkt der Folge (xn)n∈N, wenn es eine Teilfolge (xnk)k∈Ngibt, die gegen x konvergiert.

Beweis:

”⇒“ Sei x ein Haufungspunkt der Folge (xn). Wir konstruieren sukzessive eine Teilfolge (xnk)k∈N,indem wir die Definition eines Haufungspunktes nacheinander auf ε = 1, ε = 1

2 , ε = 13 , . . .

anwenden:

Wahle n1 ∈ N, so dass |xn1 − x| < 1

Wahle n2 ∈ N, so dass |xn2 − x| <12

und n2 > n1

Wahle n3 ∈ N, so dass |xn3 − x| <13

und n3 > n2

...

Wahle also immer nk ∈ N, so dass |xnk−x| < 1k und nk > nk−1. Das geht in jedem Schritt,

weil x eben ein Haufungspunkt ist.

Die Folge (xnk)k∈N ist eine Teilfolge von (xn)n∈N, da nk+1 > nk. Da |xnk − x| < 1k fur alle

k ∈ N, konvergiert (xnk)k∈N gegen x.

”⇐“ : Sei (xnk)k∈N eine Teilfolge, die gegen x konvergiert. Wir mussen zeigen, dass x einHaufungspunkt der Folge (xn)n∈N ist. Seien dazu ε > 0 und N ∈ N gegeben.Wegen der Konvergenz der Teilfolge gibt es einen Index K0 ∈ N so dass fur alle k ≥ K0

gilt|xnk − x| < ε.

Wahle nun nk so, dass k ≥ K0 und nk > N . Dann erfullt xnk die Bedingungen, die in derDefinition eines Haufungspunktes gefordert wurden.

2

Bemerkung: Eine Zahl x ist also ein Haufungspunkt, wenn in jeder ε-Umgebung von x unend-lich viele Folgenglieder liegen.

Satz 2.7 [Satz von Bolzano-Weierstraß]Jede beschrankte Folge reeller oder komplexer Zahlen besitzt eine konvergente Teilfolge.

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

Beispiel: Die divergente Folge (+1,−1,+1,−1, . . .) mit xn = (−1)n−1 besitzt unter anderemdie konstanten (und daher konvergenten) Teilfolgen (x2, x4, x6, x8, . . .) und (x1, x3, x5, . . .).

Beweis von Satz 2.7: Sei zunachst (xn)n∈N eine reelle Folge und M > 0, so dass

|xn| ≤M fur alle n ∈ N

Wir definierenbn := sup{xk; k ∈ N, k ≥ n}

als das Supremum der Folgenglieder ab xn. Dann ist automatisch bn+1 ≤ bn fur alle n ∈ N,da das Supremum uber eine kleinere Menge gebildet wird. Außerdem erfullt das Supremum alskleinste obere Schranke die Ungleichung bn ≤ c fur alle n ∈ N. Nach Satz 2.4 konvergiert dieFolge (bn)n∈N, das heißt

b := limn→∞

bn existiert.

Behauptung: b ist ein Haufungspunkt der Folge (xn)n∈N.Sei dazu ε > 0 und N ∈ N eine beliebige naturliche Zahl.Dann gibt es einen Index N0 ∈ N, so dass fur alle n ≥ N0

|bn − b| <ε

2.

Sei n1 := max{N0, N}. Wegen der Supremumseigenschaft von bn1 = sup{xk; k ≥ n1} existiertein k ≥ n1, so dass

bn1 −ε

2< xk ≤ bn1

⇒ |xk − bn1 | <ε

2⇒ |xk − b| ≤ |xk − bn1 |︸ ︷︷ ︸

<ε/2

+ |bn1 − b|︸ ︷︷ ︸<ε/2

< ε.

Da wir dieses Argument mit beliebig kleinem ε > 0 und beliebigem N ∈ N durchfuhren konnenund immer ein passendes Folgenglied xk finden, ist b ein Haufungspunkt der Folge. Also gibt esnach dem vorigen Satz auch eine Teilfolge, die gegen b konvergiert.Fur komplexwertige Folgen betrachtet man zunachst die (beschrankte) Folge der Realteile. Alsoexistiert eine Teilfolge, so dass die Realteile gegen einen Grenzwert konvergieren. Bei dieser Teil-folge ist (wie schon bei der ursprunglichen Folge) auch die Folge der Imaginarteile beschrankt.Daher kann man ein zweites Mal eine Teilfolge auswahlen und erreicht so, dass fur diese ”Teilfol-ge der Teilfolge“ auch die Imaginarteile konvergieren. Dann konvergiert aber die gesamte Folgein C. 2

Bemerkung: Der Satz von Bolzano-Weierstraß ist wieder eine Konsequenz des Vollstandig-keitsaxioms fur R.

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Folgen und Reihen

Definition:Sei (xn)n∈N eine reelle Zahlenfolge. Die Zahl

lim supn→∞

xn := limn→∞

sup{xk; k ≥ n} ∈ R ∪ {∞}

heißt Limes superior von (xn)n∈N.

Analog ist der Limes inferior von (xn)n∈N definiert als

lim infn→∞

xn := limn→∞

inf{xk; k ≥ n} ∈ R ∪ {−∞}.

Falls die Folge von oben beschrankt ist, dann ist lim supn→∞

xn eine reelle Zahl. Fur Folgen, die nicht

von oben beschrankt sind, setzen wir lim supn→∞

xn := +∞.

Diese Konvention hilft uns spater in 2.11, da auf diese Weise jede reelle Folge einen Limessuperior besitzt.Der nachste Satz zeigt, dass der Limes inferior bzw. der Limes superior der kleinste bzw. großteHaufungspunkt der Folge (xn)n∈N sind.

Satz 2.8

i) Jeder weitere Haufungspunkt h von (xn)n∈N erfullt

lim infn→∞

xn ≤ h ≤ lim supn→∞

xn.

ii) lim infn→∞

xn = lim supn→∞

xn ⇒ (xn)n∈N konvergiert.

Beweis:

i) Sei h ein Haufungspunkt der Folge (xn)n∈N. Wir zeigen nur, dass h nicht großer als derLimes superior der Folge sein kann. Wahle dazu ε so klein, dass h−ε > lim supn→∞ xn+ε.

ii) Sei ε > 0.Wir wissen,dass es einen Index N1 gibt, so dass fur alle n ≥ N1 das Supremum

bn = sup{xk; k ≥ n}

in einer ε-Umgebung des Limes superior liegt. Daher ist lim supn→∞

xn+ε eine obere Schranke

fur alle xn mit n ≥ N1.Genauso gibt es einen Index N2 ∈ N, so dass fur alle n ≥ N2

xn ≥ lim infn→∞

xn − ε.

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

Insgesamt ist also fur alle n ≥ max(N1, N2)

lim infn→∞

xn − ε ≤ xn ≤ lim supn→∞

xn + ε.

Wenn nuna := lim inf

n→∞xn = lim sup

n→∞xn

bedeutet das gerade|xn − a| < ε fur alle n ≥ max(N1, N2).

Daher konvergiert die Folge gegen a.

2

Bemerkung: Der Limes superior einer von oben beschrankten reellen Folge ist also die großtereelle Zahl, fur die jede ε-Umgebung unendlich viele Folgenglieder enthalt.Analog ist der Limes inferior einer von unten beschrankten reellen Folge die kleinste reelle Zahlmit der Eigenschaft, dass in jeder ε-Umgebung unendlich viele Folgenglieder liegen.

2.4 Das Cauchy-Kriterium

Wir lernen nun noch eine weitere Moglichkeit kennen, um zu zeigen, dass eine Folge konvergiert,fur die man den Wert x des Grenzwertes x = lim

n→∞xn nicht kennen muss.

Definition:Eine Folge (xn)n∈N heißt Cauchy-Folge, falls fur jedes ε > 0 eine Zahl N∗(ε) existiert, so dassfur beliebige m,n ≥ N∗(ε) gilt:

|xn − xm| < ε.

Statt des Abstandes von einem (unbekannten oder moglicherweise gar nicht vorhandenen) Grenz-wert, verlangt man hier, dass Folgenglieder mit hohem Index beliebig kleinen Abstand voneinan-der haben. Wichtig ist dabei, dass es nicht um die Differenz zwischen zwei aufeinanderfolgendenFolgengliedern geht, sondern um den Abstand zweier beliebiger Folgenglieder mit genugendhohem Index.Mit ε-Umgebungen lassen sich Cauchy-Folgen so charakterisieren:Eine Folge ist Cauchy-Folge, wenn es zu jedem ε > 0 ein N = N(ε) ∈ N gibt, so dass fur m ≥ Nalle Folgenglieder xn mit n ≥ N in der ε-Umgebung von xm liegen.Es gilt nun zunachst:

Lemma:Jede konvergente Folge ist eine Cauchy-Folge.

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Folgen und Reihen

Beweis: Sei (xn)n∈N eine reelle oder komplexe Folge mit Grenzwert a. Dann gibt es nachDefinition 2.1 zu jedem ε > 0 eine Zahl N(ε), so dass fur alle n ≥ N(ε)

|xn − a| <ε

2.

Dann gilt aber wegen der Dreiecksungleichung fur alle m,n ≥ N(ε)

|xn − xm| = |xn − a+ a− xm| ≤ |xn − a|+ |a− xm| <ε

2+ε

2= ε.

Die Folge ist also eine Cauchy-Folge. 2

Dass auch die Umkehrung gilt, dass also jede Cauchy-Folge konvergiert, beruht ganz wesentlichauf der Vollstandigkeit der reellen bzw. komplexen Zahlen.

Satz 2.9 [Cauchy-Kriterium]Sei (xn)n∈N eine reelle oder komplexe Cauchy-Folge. Dann konvergiert die Folge (xn).

Beweis:

1. Schritt: Die Folge (xn)n∈N ist beschrankt.Wahle einfach ε = 1 und das zugehorige N∗(1) dazu. Dann folgt fur festes m ≥ N∗(1) undalle n ≥ N∗(1) ganz ahnlich wie im vorigen Lemma

|xn| = |xn − xm + xm| ≤ |xn − xm|+ |xm| ≤ 1 + |xm|.

Insgesamt ist dann fur beliebiges n ∈ N

|xn| ≤ max{|x1|, . . . , |xm−1|, |xm|+ 1}.

Somit ist die Folge xn beschrankt und besitzt eine konvergente Teilfolge, zum Beispiel

xnkk→∞−→ a = lim sup

n→∞xn

2. Schritt: Sogar die ganze Folge konvergiert gegen a, d.h. limn→∞ xn = a.

Die Idee ist hier Folgende: Die konvergente Teilfolge sorgt dafur, dass immer wieder Fol-genglieder sehr nahe an a herankommen. Die Cauchy-Eigenschaft der Folge benutzt mandann, um zu zeigen, dass auch die anderen Folgenglieder in der Nahe von a liegen mussen,wenn ihr Index groß genug ist.

Diese Idee werden wir nun formal umsetzen.

Sei ein ε > 0 vorgegeben. Dann existiert einerseits ein K0 ∈ N, so dass fur alle k ≥ K0 gilt

|xnk − a| < ε.

Da die Folge eine Cauchy-Folge ist, gibt es zusatzlich ein N∗(ε), so dass

|xn − xm| < ε

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

fur alle m,n ≥ N∗(ε).Insbesondere konnen wir als xm ein Glied xnκ der Teilfolge wahlen, so dass κ ≥ K0 undnκ ≥ N∗(ε). Dann gilt fur alle n ≥ N∗(ε)

|xn − a| = |xn − xnκ + xnκ − a|≤ |xn − xnκ |+ |xnκ − a| (wegen der Dreiecksungleichung)≤ 2ε.

Das bedeutet, dass die Folge (xn)n∈N gegen a konvergiert.

2

2.5 Grenzwerte und Anordnung

Eine wichtige Eigenschaft von Grenzwerten besteht darin, dass sie die Anordnung nicht andern.

Satz 2.10Seien (xn)n∈N und (yn)n∈N zwei konvergente Folgen, die die Ungleichung

xn ≤ yn fur alle n ∈ N

erfullen. Dann ist auchlimn→∞

xn ≤ limn→∞

yn.

Beweis: Ubungsaufgabe (Fuhre die Annahme limn→∞ xn > limn→∞ yn zu einem Widerspruch.)2

Achtung ! Es ist durchaus moglich, dass sogar xn < yn fur alle n ∈ N gilt und trotzdemlimn→∞ xn = limn→∞ yn.

Man kann diesen Satz benutzen, um die Konvergenz einer Folge zu beweisen, indem man siezwischen zwei Folgen mit demselben Grenzwert ”einzwangt“:

Satz 2.11 [”Sandwich-Kriterium“]Seien (xn)n∈N, (yn)n∈N und (zn)n∈N drei Folgen, die der Ungleichung

xn ≤ yn ≤ zn fur alle n ∈ N

genugen. Falls die Grenzwertelimn→∞

xn = limn→∞

zn

existieren, dann konvergiert auch die Folge (yn)n∈N und es gilt

limn→∞

yn = limn→∞

xn = limn→∞

zn

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Folgen und Reihen

Beweis: Ubungsaufgabe !2

2.6 Beispiele

1. limn→∞

1n2 = 0 zeigt man mit Hilfe des Sandwich-Kriteriums, indem man die Folge (n−2)n∈N

einzwangt zwischen die konstante Nullfolge (0, 0, . . .) und die Nullfolge 1, 12 ,

13 , . . ..

Genauso zeigt man

limn→∞

1nk

fur jedes feste k ∈ N.

2.

limn→∞

(√n+ 1−

√n) = lim

n→∞

(√n+ 1−

√n)(√n+ 1 +

√n)√

n+ 1 +√n

= limn→∞

n+ 1− n√n+ 1 +

√n

= limn→∞

1√n+ 1 +

√n≤= lim

n→∞

12√n

= 0.

Da√n+ 1−

√n > 0 folgt die Konvergenz mit Hilfe des Sandwich-Kriteriums.

3. limn→∞ n1/n = 1.

Setze n1/n = 1 + hn mit h > 0 fur n ≥ 2. Dann gilt nach dem Binomischen Satz 1.5

n = (1 + hn)n ≥(n

2

)h2n =

n(n− 1)2

h2n

n ≥ n(n− 1)2

h2n

2n− 1

≥ h2n

Da hn > 0 folgt daraus

0 < hn ≤√

2n− 1

< ε

fur n ≥ n0(ε), also limn→∞ hn = 0. Folglich gilt

limn→∞

n1/n = limn→∞

(1 + hn) = 1 + 0 = 1.

Eine weitere Konsequenz des Sandwich-Kriteriums ist das folgende

Lemma:Falls die Folge (an)n∈N gegen die Zahl a konvergiert, dann gilt auch

|an| → |a|.

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

Denn: Wir schatzen |an| − |a| mit Hilfe der umgekehrten Dreiecksungleichung ab: Einerseits ist

|an| = |an − a+ a| ≤ |an − a|+ |a| ⇒ |an| − |a| ≤ |an − a|,

andererseits

|a| = |a− an + an| ≤ |an − a|+ |an| ⇒ |a| − |an| ≤ |an − a|.

Insgesamt folgt also0 ≤ ||an| − |a|| ≤ |an − a|.

Nach Voraussetzung konvergiert an − a gegen 0. Man erhalt daher die Konvergenz |an| → |a|durch Anwendung des Sandwich-Kriteriums. 2

2.7 Rechenregeln fur Grenzwerte

Viele Grenzwerte von Folgen kann man dadurch bestimmen, dass man sie auf einige ”bekann-te“ Grenzwerte zuruckfuhrt. Dazu dienen die nun folgenden Rechenregeln fur Grenzwerte.

Satz 2.12Seien (xn)n∈N und (yn)n∈N reelle Folgen.Falls die Grenzwerte x = limn→∞ xn und y = limn→∞ yn beide existieren, gilt:

(i) limn→∞

(xn + yn) = ( limn→∞

xn) + ( limn→∞

yn)

(ii) limn→∞

(xn · yn) = ( limn→∞

xn) · ( limn→∞

yn)

(iii) limn→∞

(xnyn

)=

limn→∞ xnlimn→∞ yn

, falls limn→∞

yn 6= 0.

Beweis: Betrachte nur reelle Folgen (xn)n∈N und (yn)n∈N, im Fall von komplexen Folgen genugtes dann, Real- und Imaginarteil getrennt zu betrachten.

(i) Zu einem festen ε finden wir zunachst N0(ε) ∈ N, so dass

|xn − x| ≤ ε und |yn − y| ≤ ε fur alle n ≥ N0(ε).

Beide Folgen sind außerdem beschrankt, d.h. es gibt eine Konstante C > 0, so dass

|xn| ≤ C und |yn| ≤ C fur alle n ∈ N.

Dann ist aber

|xn + yn − x− y| ≤ |xn − x|+ |yn − y| < 2ε (Dreiecksungleichung!)

fur n ≥ N0(ε).

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Folgen und Reihen

(ii)

|xn · yn − x · y| = |xn · yn − xn · y + xn · y − x · y| kleiner Trick...)≤ |xn · yn − xn · y|+ |xn · y − x · y|= |xn · (yn − y)|+ |(xn − x) · y|≤ |xn| · |yn − y|+ |xn − x| · |y|≤ C · ε + ε · C= 2Cε

wieder fur n ≥ N0(ε).

(iii) Wir wissen, dassxnyn

= xn ·1yn

und aus (ii), dass

limn→∞

xnyn

= limn→∞

xn · limn→∞

1yn.

Also genugt es zu zeigen, dass

limn→∞

1yn

=1

limn→∞ yn.

Da die Folge gegen eine Zahl y 6= 0 konvergiert, gibt es ein N1 ∈ N, so dass fur alle n ≥ N1

die Folgenglieder vom Betrag großer als c := |y|/2 sind. Dann folgt aber∣∣∣∣ 1yn− 1y

∣∣∣∣ =|y − yn||yn| · |y|

≤ 1c2· ε

fur alle n ≥ max(N0(ε), N1).

Beispiele:1.

limn→∞

n

n+ 1= lim

n→∞(1− 1

n+ 1) = lim

n→∞1− lim

n→∞

1n+ 1

= 1− 0 = 1

Insbesondere existiert somit limn→∞nn+1 .

2. Es ist

limn→∞

n+ 12n− 1

= limn→∞

1 + 1n

2− 1n

= limn→∞

1 + limn→∞1n

2− limn→∞1n

=12.

3. Sei a > 0. Dann gilt (fur die positive n-te Wurzel):

limn→∞

a1/n = limn→∞

n√a = 1,

denn: Den Fall a > 1 haben wir bereits bewiesen, a = 1 ist einfach, es bleibt noch der Fall0 < a < 1.In diesem Fall ist aber 1

a > 1 und es gilt

limn→∞

a1/n = limn→∞

1( 1a)1/n

=1

limn→∞( 1a)1/n

=11

= 1.

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

4. Approximation der Quadratwurzel einer positiven Zahl

Sei a > 0 eine positive Zahl. Dann hat die Gleichung x2 = a genau eine positive Losung,die wir mit

√a bezeichnen. Dass eine solche Zahl existiert, haben wir in Kapitel 1 schon

gesehen, nun wollen wir sie (naherungsweise) berechnen.

Sei dazu b > 0 eine positive reelle Zahl mit b2 > a und (xn)n∈N die durch

x1 := b

xn+1 =12

(xn +

a

xn

)rekursiv definierte Folge. Dann ist

limn→∞

xn =√a,

denn: Die Folgenglieder xn sind alle positiv, da sie durch die Addition zweier positiverZahlen entstehen. Weiter gilt xn ≥

√a fur alle n. Das zeigen wir mit Vollstandiger Induk-

tion. Der Induktionsanfang ist klar, da der Startwert b so gewahlt sein soll, dass er großerals√a ist. Fur den Induktionsschritt setzen wir die Ungleichung x2

n − a ≥ 0 voraus undberechnen dann

x2n+1 − a =

14

(xn +

a

xn

)2

− a

=14

(x2n + 2a+

a2

x2n

)− a

=14

(x2n − 2a+

a2

x2n

)=

14

(xn −a

xn)2 =

14x2

n︸︷︷︸>0

(x2n − a︸ ︷︷ ︸≥0

)2 ≥ 0

die Folge der xn ist also monoton fallend. Nach Lemma 2.4 besitzt sie also einen Grenzwert

x := limn→∞

xn.

Mit Hilfe der Rechenregeln fur Grenzwerte zeigt man nun

0 = limn→∞

(xn+1 −

12

(xn +

a

xn

))= lim

n→∞xn+1 −

12

limn→∞

(xn +

a

xn

)= x− 1

2

(x+

a

x

)⇒ x2 = a

⇒ x =√a,

die Folge (xn)n∈N liefert also Naherungswerte fur√a.

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Folgen und Reihen

5. IntervallschachtelungenEine Intervallschachtelung besteht aus einer Folge von Intervallen [an, bn] mit n =1, 2, 3, . . ., so dass

• Die Folge (an)n∈N der Intervalluntergrenzen monoton wachsend ist,

• die Folge (bn)n∈N der Intervallobergrenzen monoton fallend ist und

• die Intervalllangen bn − an gegen 0 konvergieren.

Dann wird durch die Intervallschachtelung eine einzige reelle Zahl x beschrieben:

x =∞⋂n=1

[an, bn].

Die Anordnung der Folgen bedeutet

a1 ≤ a2 ≤ a3 ≤ . . .︸︷︷︸alle weiteren aj

≤ . . .︸︷︷︸alle weiteren bj

≤ b3 ≤ b2 ≤ b1.

Nach Satz 2.4 existiert sowohl a := limn→∞ an als auch b := limn→∞ bn. Wegen derBedingung bn − an → 0 mussen die beiden Grenzwerte ubereinstimmen.

Bemerkung: Fur limn→∞

= ±∞ gelten Einschrankungen der Rechenregeln: Beispielsweise wirdkeine Aussage getroffen uber Grenzwerte der Form

∞+ (−∞) , ∞ · 0 , (−∞) · 0 , ∞∞

,−∞∞

oder00.

Es gilt aber zum Beispielx+∞ = +∞ fur x ∈ R,

(+∞) + (+∞) = +∞ und (−∞) + (−∞) = −∞sowie

∞ ·∞ =∞, (−∞) · (−∞) = +∞ und (−∞) · (+∞) = −∞.Fur x 6= 0 und sign(x) := x

|x| ist

x · (+∞) = (sign(x)) · (+∞).

Beispiel: Nochmal die Eulersche Zahl eWir haben die Eulersche Zahl e als Grenzwert der Folge

en =n∑k=0

1k!

definiert. Nun betrachten wir die Folge (e)n∈N mit

en :=(

1 +1n

)n,

die man sich fur n→∞ als kontinuierliche Verzinsung vorstellen kann.

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

Satz 2.13 Es existiert der Grenzwert

limn→∞

en = e.

Beweis:1. Schritt: e := limn→∞ en existiert.Wegen des Binomischen Satzes 1.5 gilt

(1 + 1

n

)n =∑n

k=0

(nk

) (1n

)k, also gilt

en =(

1 +1n

)n=

n∑k=0

(n

k

)(1n

)k=

n∑k=0

1k!n · (n− 1) · . . . · (n− k + 1)

n · n · . . . · n

=n∑k=0

1k!· 1 ·

(1− 1

n

)·(

1− 2n

)· . . . ·

(1− k − 1

n

)< en ≤ e ≤ 3.

Die letzte Ungleichung gilt, da in der vorletzten Zeile die Terme in den Klammern jeweils kleinerals 1 sind, und somit der ganze Ausdruck durch

∑nk=0

1k! = en abgeschatzt werden kann.

Außerdem ist en monoton wachsend, da fur en+1 die Klammerterme der vorletzten Zeile mitk = 0, 1, 2, . . . , n alle großer sind als fur en, denn die k Faktoren ((1− 1

n) · . . . · (1− k−1n )) werden

alle großer. Daruber hinaus kommt noch der Term mit k = n + 1 hinzu. Somit ist (en)n∈Ndurch die Zahl e von oben beschrankt und monoton wachsend, daher existiert der Grenzwerte = limn→∞ en ≤ e.

2. Schritt: Es ist e = e.Nach dem Ergebnis des 1. Schritts mussen wir nur noch die Ungleichung e ≥ e zeigen.Fur n ≥ m ist

em =m∑k=0

1k!

(1− 1

m

)·(

1− 2m

)· . . . ·

(1− k − 1

m

)

≤m∑k=0

1k!

(1− 1

n

)·(

1− 2n

)· . . . ·

(1− k − 1

n

)

≤n∑k=0

1k!

(1− 1

n

)·(

1− 2n

)· . . . ·

(1− k − 1

n

)= en.

Die erste Ungleichung ergibt sich wieder daraus, dass wir die einzelnen Faktoren großer gemachthaben. Betrachtet man nun in der Ungleichung

em ≤m∑k=0

1k!

(1− 1

n

)·(

1− 2n

)· . . . ·

(1− k − 1

n

)≤ en

52

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Folgen und Reihen

fur festes m ∈ N den Grenzwert n→∞, so erhalt man wegen Satz 2.10

em ≤m∑k=0

1k!︸ ︷︷ ︸

= em

·1 · 1 · . . . · 1 ≤ e.

Lasst man nun noch m→∞ gehen, folgt:

e ≤ e ≤ e ⇒ e = e.

2

Bemerkung: Man konnte mit unseren Mitteln auch noch zeigen, dass e eine irrationale Zahlist. Die Zahl e ist sogar tranzendent, d.h. sie lasst sich nicht als Losung einer polynomialenGleichung mit ganzzahligen Koeffizienten darstellen.

Satz 2.14 Es istlimn→∞

xn

n!= 0, fur alle x ∈ C.

Beweis: Wir zeigen zunachst die Abschatzung

nn

n!≤ en−1.

Dazu betrachten wirn−1∏k=1

(1 +

1k

)k=

n−1∏k=1

(k + 1k

)k=

2 · 32 · 43 · . . . · nn−1

1 · 22 · 33 · . . . · (n− 1)n−1

=1 · 1 · 1 · . . . · nn−1

1 · 2 · 3 · . . . · (n− 1)

=nn−1

(n− 1)!=

nn

n!

Wir wissen vom Beweis des vorigen Satzes, dass (1 + 1k )k = ek ≤ e. Daher ist

nn

n!=

n−1∏k=1

(k + 1k

)k=

n−1∏k=1

(1 +

1k

)k≤

n−1∏k=1

e = en−1.

Daraus folgt dann

0 ≤ |x|n

n!≤ |x|n

nn · e−(n−1)=|x|n·(|x|en

)n−1

→ 0,

da |x|n gegen 0 geht fur n→∞ und ( |x|en )n−1 fur große n kleiner als 1 ist. 2

53

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

Bemerkung: Die verwendete Abschatzung nn

n! e−(n−1) ≤ 1 kann man mit mehr Aufwand zur

Stirlingschen Formel

limn→∞

√2πn

nn

n!e−n = 1

verbessern.

2.8 Reihen

Definition: Unter einer unendliche Reihe, kurz Reihe,

∞∑k=0

ak

mit ak ∈ R oder C versteht man die Folge der Partialsummen

sn :=n∑k=0

ak.

Die Zahlen ak heißen Glieder der Reihe. Die Reihe heißt konvergent, wenn die Folge derPartialsummen konvergiert, also lim

n→∞sn existiert. Wir schreiben dann auch

∞∑k=0

ak = limn→∞

sn = s 6= ±∞.

Existiert kein solcher Limes, so heißt die Reihe divergent.Die Reihe heißt absolut konvergent, wenn sogar

∞∑k=0

|ak|

konvergent ist.

Man sollte eine Reihe∞∑k=0

ak also in erster Linie als eine Abkurzung fur die Folge ihrer Partial-

summen betrachten.

Beispiele:

(a) Die geometrische Reihe∞∑k=0

qk = 11−q ist konvergent fur alle q ∈ R oder q ∈ C mit |q| < 1,

denn

sn =n∑k=0

qk =1− qn+1

1− qn→∞−→ 1

1− q,

da ja limn→∞

qn+1 = 0 fur |q| < 1.

54

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Folgen und Reihen

Beispielsweise ist also

1 +12

+14

+18

+116

+ . . . =1

1− 12

= 2

1− 13

+19− 1

27+

181−+ . . . =

11 + 1

3

=34

(b) Die harmonische Reihe∞∑k=1

1k

divergiert, denn

s2n+1 =2n+1∑k=1

1k

= s2n +1

2n + 1+

12n + 2

+ . . .+1

2n + 2n

≥ s2n +1

2n+1+

12n+1

+ . . .+1

2n+1

= s2n + 2n · 12n+1

= s2n +12

Mit s1 = s20 = 1 folgt also (streng genommen per Vollstandiger Induktion)

s2n ≥ 1 +n

2.

Die Reihe divergiert also gegen +∞.

(c) Die Folge (en)n∈N, mit der wir die Eulersche Zahl e definiert haben, besteht gerade ausden Partialsummen der Reihe

∞∑k=0

1k!

= e.

Bemerkung:

1. Vorsicht: Bei einer konvergenten Reihe durfen beliebig Klammern hinzugefugt werden

a1 + a2 + a3 + . . . = (a1 + . . .+ an1) + (an1+1 + . . .+ an2) + . . .

Es durfen aber keine Klammern weggelassen werden: Es ist naturlich

0 = (1− 1) + (1− 1) + (1− 1) + . . . ,

aber die Reihe1− 1 + 1− 1 + 1− 1 + 1− 1 + . . .

divergiert, da die Partialsummen zwischen 1 und 0 hin- und herspringen.

55

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

2. Wie bei Folgen andert sich das Konvergenzverhalten einer Reihe nicht, wenn man endlichviele Glieder abandert oder weglasst. Allerdings verandert man dabei sehr wohl den Werteiner Reihe.

3. Aus den Rechenregeln fur Folgen ergibt sich Reihen:

Falls∞∑k=0

ak =: a und∞∑k=0

bk =: b zwei konvergente Reihen und c ∈ C eine beliebige Zahl

sind, dann ist

∞∑k=0

(ak + bk) =∞∑k=0

ak +∞∑k=0

bk = a+ b

∞∑k=0

c ak = c∞∑k=0

ak = c · a

2.9 Konvergenzkriterien

Einige Kriterien fur die Konvergenz von Reihen erhalten wir, indem wir Konvergenzkriterien furFolgen direkt auf die Folge der Partialsummen anwenden.

Satz 2.15 [Cauchy-Kriterium fur Reihen]Die Reihe

∞∑k=0

ak

ist genau dann konvergent, wenn fur alle ε > 0 ein N∗ = N∗(ε) existiert mit∣∣∣∣∣n∑

k=m

ak

∣∣∣∣∣ < ε

fur alle N∗(ε) ≤ m ≤ n.

Beweis: Man wendet das Cauchy-Kriterium fur Folgen auf die Partialsummen sn der Reihe an:∣∣∣∣∣n∑

k=m

ak

∣∣∣∣∣ = |sn − sm−1| < ε

Der Satz folgt also unmittelbar aus dem Cauchy-Kriterium fur die Partialsummen-Folge sn.

1. Folgerung: Ist∑∞

k=0 ak konvergent, dann gilt limn→∞ an = 0, denn fur ein beliebiges ε > 0gilt: Wahlt man N∗(ε) nach dem Cauchy-Kriterium, dann ist fur alle n > N∗(ε) + 1

|an| = |sn − sn−1| < ε.

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Folgen und Reihen

Achtung ! Die Umkehrung ist falsch, was man beispielsweise an der harmonischen Reihe mitak = 1

k sehen kann.

2. Folgerung: Wenn die Reihe∞∑k=0

ak absolut konvergent ist, dann konvergiert auch∞∑k=0

ak,

denn nach dem Cauchy-Kriterium gilt

n∑k=m

|ak| < ε

fur beliebige m,n ≥ N∗(ε). Wendet man auf den linken Term (n −m)-mal die Dreiecksunglei-chung an, ergibt sich ∣∣∣∣∣

n∑k=m

ak

∣∣∣∣∣ ≤n∑

k=m

|ak| < ε.

Nach dem Cauchy-Kriterium ist dann auch die Reihe∞∑k=0

ak konvergent.

Satz 2.16 [Konvergenz positiver Reihen]Seien alle an ≥ 0. Dann ist die Reihe

∞∑n=0

an

genau dann konvergent, wenn die Folge der Partialsummen beschrankt ist, d.h. wenn es eineZahl C > 0 gibt, so dass

sN :=N∑n=0

an < C

fur alle N ∈ N.

Beweis: Die Folge der Partialsummen sN ist eine monoton wachsende Folge. Also ist sN kon-vergent, genau dann wenn sN beschrankt ist (siehe Satz uber monotone Konvergenz 2.4). 2

Satz 2.17 [Majoranten-Kriterium]Sei

∑ak eine beliebige Reihe mit |ak| ≤ bk fur alle k und

∑bk ≤ ∞. Dann konvergiert

∑ak

(sogar absolut) und∑bk heißt Majorante zu

∑ak.

Beweis: Man kann das Cauchy-Kriterium auf∑bk anwenden. Zu ε > 0 gibt es dann eine Zahl

N∗ = N∗(ε) ∈ N, so dass fur N∗(ε) ≤ m ≤ n immer∣∣∣∣∣n∑

k=m

bk

∣∣∣∣∣ < ε.

57

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

Daraus folgtn∑

k=m

|ak| ≤ |n∑

k=m

bk| < ε.

Also ist das Cauchy-Kriterium auch fur∑|ak| erfullt, folglich ist die Reihe

∑ak absolut kon-

vergent. 2

Bemerkung: Auch wenn |ak| ≤ bk nur fur fast alle k gilt, reicht das schon aus. (”fast alle“ heißthier: fur alle, bis auf endlich viele).

Satz 2.18 [Quotienten-Kriterium]Die Reihe

∑ak ist absolut konvergent, falls

q := lim supn→∞

∣∣∣∣ak+1

ak

∣∣∣∣ < 1.

Beweis: Wahle ein q mit q < q < 1. Da der Limes superior der großte Haufungspunkt einerFolge ist, konnen nur endlich viele Glieder der Folge

(∣∣∣ak+1

ak

∣∣∣)k∈N

großer oder gleich q sein. Sonst

konnte man eine Teilfolge finden, die entweder nicht von oben beschrankt ist oder nach Bolzano-Weierstraß einen Haufungspunkt besitzt, der großer oder gleich q ist. Beide Moglichkeiten stehenim Widerspruch zur Voraussetzung, dass q < q der Limes superior der Folge ist.Es existiert also ein Index N0, so dass∣∣∣∣ak+1

ak

∣∣∣∣ < q fur alle k ≥ N0.

Da aber|aN0 | ≥

1q|aN0+1| ≥

1q2|aN0+2| ≥ . . . ≥

1qk|aN0+k|

folgt daraus|aN0+k| ≤ |aN0 | · qk fur alle k ≥ 0.

Folglich gilt fur die Reihe

∞∑k=0

|ak| =N0−1∑k=0

|ak|+∞∑

k=N0

|ak| ≤N0−1∑k=0

|ak|+∞∑

k=N0

|aN0 |qk−N0

Mit ` = N0 + k gilt daher

∞∑k=0

|ak| ≤N0−1∑k=0

|ak|+ |aN0 |∞∑`=0

q`

=N0−1∑k=0

|ak|+ |aN0 |1

1− q<∞.

Die Konvergenz dieser positiven Reihe folgt nun direkt aus Satz2.16. 2

58

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Folgen und Reihen

Bemerkung: Wenn das Quotientenkriterium erfullt ist, kann man also eine konvergente geo-metrische Reihe als Majorante verwenden fur fast alle ak (genauer: fur alle ak mit k ≥ N0).

Satz 2.19 [Minoranten-Kriterium]

Sei∞∑k=1

ak eine beliebige Reihe mit ak ≥ bk ≥ 0 fur alle k, wobei∞∑k=1

bk eine divergente Reihe ist.

Dann divergiert auch∑ak. Die Reihe

∑bk heißt Minorante zu

∑ak.

Beweis: Die Folge der Partialsummen von∑bk wachst monoton uber alle Grenzen. Zu jedem

C > 0 gibt es eine Zahl N = N(C) ∈ N, so dass fur n ≥ N(C)

n∑k=1

bk > C.

Daraus folgt direkt, dass auchn∑k=1

ak > C.

Also streben auch die Partialsummen von∑ak gegen +∞, die Reihe

∑ak ist daher divergent. 2

Satz 2.20 [Wurzelkriterium]Falls

q := lim supk→∞

|ak|1k < 1,

dann ist∞∑k=1

ak absolut konvergent.

Fallsq = lim sup

k→∞|ak|

1k > 1,

dann divergiert die Reihe∞∑k=1

ak.

Beweis: Wahle wie beim Quotientenkriterium q < q < 1. Dann gilt

|ak|1k ≤ q fur fast alle k

das heißt |ak| ≤ qk fur k ≥ N0. Die (konvergente) geometrische Reihe∑qk mit q < 1 ist also

eine Majorante zu∑ak fur fast alle ak. Da die endlich vielen Terme mit k < N0 die Konvergenz

der Reihe nicht beeinflussen, konvergiert∑ak absolut. 2

Bemerkung:

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

1. Das Wurzelkriterium ist etwas starker als das Quotientenkriterium. Man kann zeigen, dass

lim supk→∞

|ak|1k ≤ lim sup

k→∞

∣∣∣∣ak+1

ak

∣∣∣∣ ,das heißt, wenn das Quotientenkriterium erfullt ist, dann ist auch das Wurzelkriteriumerfullt. Im Einzelfall kann es trotzdem einfacher sein, das Quotientenkriterium anzuwenden.

2. Fur lim supk→∞ |ak|1k = 1 macht das Wurzelkriterium keine Aussage. Die Reihen

∑∞k=1 k

−s

zeigen, dass in diesem Fall sowohl Konvergenz (fur s > 1) als auch Divergenz (fur 0 < s ≤1) moglich ist.

3. Die Tatsache

lim supk→∞

∣∣∣∣ak+1

ak

∣∣∣∣ > 1

erlaubt keine Aussage uber das Konvergenzverhalten der Reihe∑ak.

Definition:Eine unendliche Reihe heißt alternierend, wenn ihre Glieder abwechselnd positiv und negativsind, d.h. von der Form

∞∑k=1

(−1)kak oder∞∑k=1

(−1)k+1ak

mit positiven ak.

Satz 2.21 [Leibniz-Kriterium]Sei (ak)k∈N eine Folge positiver Zahlen, die monoton fallend gegen 0 konvergiert. Dann konver-giert die alternierende Reihe

∞∑k=0

(−1)kak.

Beweis: Wir betrachten die Partialsummen

sn :=n∑k=0

(−1)kak.

Die (Teil-)Folge der Partialsummen sn mit ungeradem n ist monoton wachsend, da

s2n+1 = s2n−1 + a2n − a2n+1︸ ︷︷ ︸≥0

≥ s2n−1

Fur die Partialsummen mit geradem Index gilt dagegen

s2n+2 = s2n−a2n+1 + a2n+2︸ ︷︷ ︸≤0

≤ s2n.

60

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Folgen und Reihen

Sie bilden also eine monoton fallende Folge. Außerdem ist s2n+1 = s2n−a2n+1 ≤ s2n. Schematischkann man diese Ungleichungen so darstellen:

s0 ≥ s2 ≥ s4 ≥ . . . ≥ s2n ≥ . . . ≥ s|∨ |∨ |∨ |∨s1 ≤ s3 ≤ s5 ≤ . . . ≤ s2n+1 ≤ . . . ≤ s

Also fallen die s2n und sind nach unten beschrankt durch s1. Nach dem Satz 2.4 uber mono-tone Konvergenz existiert der Limes s.Die monoton wachsende Folge der s2n+1 ist nach obenbeschrankt durch s0. Folglich existiert der Limes s. Wir wissen nun

s2n → s|∨ |∨

s2n+1 → s

Es bleibt noch zu zeigen, dass s = s:Da s ≤ s2n und −s ≤ −s2n+1, gilt

0 ≤ s− s ≤ s2n − s2n+1 = (−1)2n+1a2n+1.

Weil vorausgesetzt war, dass (an)n∈N eine Nullfolge bilden, konvergiert der letzte Term furn→∞ gegen 0. Daraus folgt mit Hilfe des Sandwich-Kriteriums s = s. 2

Bemerkung:

1. Es ist wichtig, dass die Folge der an monoton gegen 0 konvergiert. Aus limn→∞

an = 0 kann

im allgemeinen nicht auf die Konvergenz der Reihe∑

(−1)nan geschlossen werden.

2. Das Leibniz-Kriterium ist in besonderer Weise fur Reihen geeignet, die konvergent, abernicht absolut konvergent sind. Bei solchen Reihen liefern namlich weder das Quotienten-noch das Wurzelkriterium ein verwertbares Ergebnis.

Beispiele:

1. Mercator(1568)∞∑n=1

(−1)n+1

n(= log 2)

Mercator verbrachte ubrigens die meiste Zeit seines Lebens in Duisburg.

2. Madhava(1340-1425)∞∑n=0

(−1)n

2n+ 1(=

π

4)

Bemerkung: Man darf Reihen, die konvergent, aber nicht absolut konvergent sind, nichtumordnen. Auf diese Weise andert man die ”Balance“ zwischen den positiven und den negativenTermen und damit den Wert der Reihe. Beispielsweise ist

1− 12

+13− 1

4+

15− 1

6+

17− 1

8+− . . . = s

61

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

aber1− 1

2− 1

4+

13− 1

6− 1

8+

15− 1

10− 1

12+−− . . . =

s

2.

Man kann diese Reihe sogar so umordnen, dass sie gegen +∞ (oder gegen −∞) divergiert.Bei absolut konvergenten Reihen darf man die Glieder umsortieren, ohne den Wert der Reihezu andern.

Satz 2.22 Sei (an)n∈N eine Folge positiver, reeller Zahlen, die monoton gegen 0 konvergiert.

Dann konvergiert die Reihe∞∑n=1

an genau dann, wenn die ”verdichtete“ Reihe∞∑n=0

2n · a2n kon-

vergiert.

Beweis: Es genugt zu zeigen, dass die Folge der Partialsummen beschrankt ist, da die Reihen-glieder alle positiv sind (siehe Satz 2.16). Wahlt man ` so, dass 2` ≤ n < 2`+1, dann gilt

n∑k=1

ak = a1 + a2 + a3 + a4 + a5 + a6 + a7 + a8 + . . .+ a15 + . . .+ an

≤ a1 + (a2 + a2) + (a4 + a4 + a4 + a4) + (a8 + . . .+ a8) + . . .+ a2`+1−1

= 20a20 + 21a21 + 22a22 + 23a23 + . . .+ 2`a2`

=∑k=0

2k · a2k

Hierbei wurde nur verwendet, dass an ≥ an−1 ist. Also folgt

n∑k=1

ak ≤∞∑k=0

2k · a2k .

Somit sind die Partialsummen auf der linken Seite alle durch den Wert der rechten Reihe be-schrankt. Wenn diese konvergiert, dann konvergiert auch

∞∑k=1

ak.

Andererseits ist

2 ·n∑k=1

ak = 2 (a1 + a2 + a3 + a4 + a5 + a6 + a7 + a8 + . . .+ an)

≥ 2 (a1 + a2 + a3 + a4 + a5 + a6 + a7 + a8 + . . .+ a2`)

≥ 2 (a1 + a2 + (a4 + a4) + (a8 + a8 + a8 + a8) + . . .+ a2`)

= 2a1 + 2a2 + 2 · 2a4 + 2 · 4a8 + . . .+ 2 · 2`−1a2`

= a1 +`−1∑k=0

2k · a2k

Es ist also fur jedes ` ∈ N ∑k=0

2k · a2k ≤ 2∞∑k=1

ak.

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Folgen und Reihen

Wieder sind die Partialsummen auf der linken Seite durch das zweifache des Wertes der rechtenReihe beschrankt, falls dieser konvergent ist. Also konvergiert die Reihe

∞∑n=0

2n · a2n , wenn die

Reihe∞∑n=1

an konvergiert. 2

Beispiele:

1. Die Reihe∞∑n=1

1nα konvergiert fur α > 1 (bis jetzt ”nur“ mit Exponenten α ∈ Q).

Beweis: Anwendung des Cauchyschen Verdichtungssatzes (Ubungsaufgabe).

2. Die Reihe∞∑n=1

1n(n+1) konvergiert.

Beweis: Die Behauptung kann auf verschiedene Arten bewiesen werden:

(i) Eine Majorante zu∞∑n=1

1n(n+1) ist

∞∑n=1

1n2 . Diese Reihe konvergiert nach dem vorherge-

henden Beispiel.

(ii) durch Anwendung des Cauchyschen Verdichtungungssatzes

(iii) Durch explizites Ausrechnen der Partialsummen:

∞∑n=1

1n(n+1) =

∞∑n=1

(1n −

1n+1

)= 1 − 1

2

+ 12 − 1

3

+ 13 − 1

4

+ 14 − 1

5

+.. .

⇒∞∑n=1

1n(n+ 1)

= limn→∞

(1− 1

n+ 1

)= 1.

Eine Reihe, die sich in einer solchen Form schreiben lasst, nennt man Teleskopreihe.2

2.10 Der Produktsatz fur Reihen

Fur endliche Summen∑m

j=1 aj und∑n

k=1 bk berechnet man bekannterweise das Produkt durch

”Ausmultiplizieren“, d.h. alle Terme der Form ajbk werden aufsummiert. Bei unendlichen Reihen∑∞j=1 aj und

∑∞k=1 bk stellt sich die Frage, wie man die Summation durchfuhrt, um alle Terme

ajbk systematisch zu erfassen.Die folgende Definition basiert auf einer ahnlichen Idee wie das Cantorsche Diagonalverfahrenzur Abzahlung von N× N. Dort wurden die Diagonalen im Gitter N× N benutzt, um sicher zugehen, dass jedes Paar von naturlichen Zahlen erfasst wird.

63

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

Definition: Das Cauchy-Produkt von zwei Reihen∞∑k=0

ak und∞∑k=0

bk ist die Reihe∞∑k=0

ck mit

ck =k∑j=0

ajbk−j =∑i+j=k

aibj .

Satz 2.23 Seien∞∑k=0

ak und∞∑k=0

bk zwei absolut konvergente Reihen. Dann konvergiert auch das

Cauchy-Produkt∞∑k=0

ck absolut und es ist

∞∑k=0

ck =

( ∞∑k=0

ak

( ∞∑k=0

bk

).

Beweis: Wir betrachten in einem ersten Schritt die (Partial-)summen

Sn :=n∑k=0

k∑j=0

|aj | |bk−j |.

Fur diese gilt: [n2 ]∑j=0

|aj |

[n2 ]∑j=0

|bj |

≤ n∑k=0

k∑j=0

|aj | |bk−j | ≤

n∑j=0

|aj |

n∑j=0

|bj |

(∗)

Hierbei bezeichnet die Gauß-Klammer[n2

]die großte ganze Zahl kleiner oder gleich n

2 . Die Be-grundung fur diese Ungleichung veranschaulicht man sich mit Hilfe einer Skizze. Jeder der Kreu-zungspunkte des Gitters steht fur einen Term der Form ajbk−j , wobei die Terme mit demselbenk auf einer der grnen Diagonalen liegen. Die Punkte des rot schraffierten Quadrats entsprechenden Termen auf der linken Seite, die grnen Punkte entsprechen der mittleren Summe und diePunkte des blau schraffierten, großen Quadrats der rechten Summe.

Da fur n→∞ die linke und die rechte Seite der Ungleichung (∗) beide gegen

(∞∑j=0|aj |

)(∞∑j=0|bj |

)streben, muss auch Sn fur n→∞ gegen diesen Wert konvergieren.Damit ist der Satz bewiesen fur Reihen

∑aj und

∑bj , die nur positive Glieder besitzen.

Im allgemeineren Fall benotigt man noch einen Schritt mehr:∣∣∣∣∣∣ n∑j=0

aj

· n∑j=0

bj

− n∑k=0

k∑j=0

ajbk−j

∣∣∣∣∣∣ ≤∣∣∣∣∣∣

2n∑k=n+1

k∑j=0

ajbk−j

∣∣∣∣∣∣≤

2n∑k=n+1

k∑j=0

|aj | |bk−j | = S2n − Sn.

64

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Folgen und Reihen

b1

b2

b3

b4

b5

b6

b7

b8

b0

b9

0 a

1 a

2 a

3 a

4 a

5 a

6 a

7 a

8 a

9 a

k=2k=1k=0 k=3 k=4 k=5 k=6 k=7 k=8

Beim Ubergang von der ersten zur zweiten Zeile wird mal wieder (sehr oft) die Dreiecksunglei-chung angewandt.Da die Folge (Sn)n∈N eine Cauchy-Folge ist, findet man zu jedem vorgegebenen ε ein N∗ = N∗(ε),so dass S2n − Sn < ε fur alle n ≥ N∗. Dann ist aber fur alle n ≥ N∗ auch∣∣∣∣∣∣

n∑j=0

aj

· n∑j=0

bj

− n∑k=0

k∑j=0

ajbk−j

∣∣∣∣∣∣ < ε.

Da die beiden Reihen∑∞

j=0 aj und∑∞

j=0 bj konvergent sind, findet man eine Zahl N1, so dassfur n ≥ N1 gilt ∣∣∣∣∣∣

n∑j=0

aj

· n∑j=0

bj

− ∞∑j=0

aj

· ∞∑j=0

bj

∣∣∣∣∣∣ < ε.

Insgesamt ist dann∣∣∣∣∣∣ ∞∑j=0

aj

· ∞∑j=0

bj

− n∑k=0

k∑j=0

ajbk−j

∣∣∣∣∣∣≤

∣∣∣∣∣∣ ∞∑j=0

aj

· ∞∑j=0

bj

− n∑j=0

aj

· n∑j=0

bj

∣∣∣∣∣∣+

∣∣∣∣∣∣ n∑j=0

aj

· n∑j=0

bj

− n∑k=0

k∑j=0

ajbk−j

∣∣∣∣∣∣< ε + ε.

Daraus folgt dann die Konvergenz des Cauchy-Produkts. 2

2.11 Potenzreihen und elementare Funktionen

65

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

Definition: Reihen der Form∞∑n=0

an(x− x0)n

mit beliebigen Koeffizienten an ∈ R oder an ∈ C heißen Potenzreihen in x mit Entwicklungs-punkt x0 ∈ C. Der Konvergenzradius ρ ∈ [0,∞] ist definiert als

ρ :=1

lim supn→∞n√|an|

Ist lim supn→∞n√|an| = 0, dann ist ρ =∞ und die Potenzreihe konvergiert fur alle z ∈ C.

Satz 2.24Eine Potenzreihe konvergiert absolut im Innern des Konvergenzkreises, d.h. die Reihe

∞∑n=0

an(x−

x0)n konvergiert fur alle x ∈ C mit |x− x0| < ρ.

Bemerkung: In einigen Fallen konvergiert die Reihe auch auf dem Rand des Konvergenzkreisesoder in einzelnen Punkten dieses Randes. Das muss aber in jedem Fall gesondert untersuchtwerden.

Beweis:Nach dem Wurzelkriterium gilt fur |x− x0| < ρ

lim sup n√|an(x− x0)n| < lim sup n

√|ρnan|

= lim sup n√|an|ρ

= lim sup n√|an| ·

1lim sup n

√|an|

= 1.

Also konvergiert die Potenzreihe absolut. 2

Bemerkung: Betrachtet man die geometrischen Reihe

∞∑n=0

(−1)nx2n =∞∑n=0

qn

mit q = −x2 als Potenzreihe mit Entwicklungspunkt 0, dann wissen wir, dass

∞∑n=0

(−1)nx2n =1

1− q=

11 + x2

.

Man konnte sich nun fragen, warum die Reihe nur fur |x| < 1 konvergiert, obwohl der Ausdruckauf der rechten Seite doch fur alle x ∈ R unproblematisch aussieht. Das kann man mit Hilfe

66

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Folgen und Reihen

des Konvergenzkreises im Komplexen gut verstehen. Die beiden Nullstellen x = ±i des Nennersliegen auf dem Rand des Konvergenzkreises mit Radius

ρ =1

lim n√|an|

=11

= 1.

Satz 2.25Konvergiert die Reihe

∞∑n=0

an xn

fur ein x = ξ 6= 0, dann gilt ρ ≥ |ξ| > 0. Insbesondere konvergiert die Potenzreihe (sogar absolut)fur alle x ∈ C mit |x| ≤ |ξ|.

Beweis:Da

∑∞n=0 an ξ

n konvergiert, gilt auf jeden Fall

limn→∞

|an| · |ξn| = 0.

Wahle nun ε > 0 beliebig. Dann existiert wegen der Eigenschaften des Limes superior eineTeilfolge (ank) mit nk →∞ und

nk

√|ank | >

1ρ− ε.

Somit gilt auch

|ank | >(

1ρ− ε)nk

.

Daraus folgt

|ank | · |ξ|nk >

(1ρ− ε)nk· |ξ|nk .

Also gilt fur alle ε > 0

0 = limk→∞

|ank | · |ξ|nk ≥ lim

k→∞((

1ρ− ε) · ξ|)nk .

Damit der Ausdruck auf der rechten Seite konvergiert, muss gelten

(1ρ− ε) · |ξ| ≤ 1

Daraus folgt1ρ− ε ≤ 1

|ξ|⇔ |ξ| ≤ 1

1ρ − ε

Diese Ungleichung muss fur beliebig kleine ε > 0 gelten, daher ist

|ξ| ≤ 11ρ

= ρ.

2

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

Bemerkung: Das Cauchy-Produkt zweier Potenzreihen∑∞

n=0 anxn und

∑∞n=0 bnx

n ist nachDefinition gerade

∞∑k=0

ckxk

mit ck =∑k

j=0 ajbk−j . Es werden also genau die Terme erfasst, die zur Potenz xk gehoren. DieDefinition des Cauchy-Produkts ist also durch das Vorgehen bei der Multiplikation von zweiPotenzreihen motiviert.

Beispiel: Die Exponentialfunktion expWir definieren

exp(x) :=∞∑n=0

1n!xn fur x ∈ C

Der Konvergenzradius dieser Potenzreihe ist ρ =∞, weil

lim supn→∞

n√|an| = lim sup

n→∞(

1n!

)1/n.

Im Beweis zu Satz 2.14 haben wir die Abschatzung n! ≥ nn · e−(n−1) gezeigt. Daraus folgt

lim supn→∞

(1n!

)1/n

≤ lim supn→∞

(1

nn · e−(n−1)

)1/n

= limn→∞

1

n · e−n−1n

= 0.

Satz 2.26 Die Exponentialfunktion genugt der Funktionalgleichung

exp(x+ y) = exp(x) · exp(y) (2.1)

Beweis: Man verwendet den Produktsatz 2.23 fur Reihen. Es gilt

exp(x) · exp(y) =

∞∑j=0

xj

j!

· ∞∑j=0

xj

j!

.

Da beide Terme absolut konvergieren gilt nach dem Produktsatz ∞∑j=0

xj

j!

· ∞∑j=0

yj

j!

=∞∑n=0

(n∑k=0

xk

k!· yn−k

(n− k)!

)

=∞∑n=0

n∑k=0

(1n!·(n

k

)· xk · yn−k

)

=∞∑n=0

1n!

(n∑k=0

(n

k

)· xk · yn−k

)

68

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Folgen und Reihen

Nach dem Binomischen Satz 1.5 gilt aber∑n

k=0

(nk

)· xk · yn−k = (x+ y)n, also folgt

∞∑n=0

1n!

(n∑k=0

(n

k

)· xk · yn−k

)=∞∑n=0

1n!

(x+ y)n = exp(x+ y).

2

Bemerkung: Es gilt fur alle rationalen x = p/q ∈ Q die Identitat exp(x) = ex. Mit ex ist dabeidie schon fruher fur rationale x = p/q ∈ Q definierte Potenz gemeint ist.

Beweis:

• Gilt fur x = 1 , weil e =∞∑n=0

1n! nach Definition von e.

• Gilt fur x = p ∈ N , weil wegen (2.1) gilt

exp(p) = exp(1 + 1 + ...+ 1︸ ︷︷ ︸p-mal

)

= exp(1) · exp(1) · ... · exp(1)︸ ︷︷ ︸p-mal

= e · e · ... · e︸ ︷︷ ︸p-mal

= ep

• Gilt fur x = p/q mit p, q ∈ N, denn exp(p/q) = ep/q genau dann wenn (exp(p/q))q = ep

ist, was aber wegen (2.1)gilt:

(exp(p/q))q = exp(p/q) · exp(p/q) · ... · exp(p/q)︸ ︷︷ ︸q−mal

= exp(p

q+p

q+ ...+

p

q︸ ︷︷ ︸q−mal

) = exp(p) = ep.

• Somit gilt die Behauptung fur x ≥ 0 in Q. Sei x < 0, dann ist −x > 0, also gilt wegen(2.1)

exp(−x) · exp(x) = exp(0) = 1.

Daraus folgt

exp(x) =1

exp(−x),

also gilt die Behauptung fur alle x ∈ Q.

2

Die Exponentialfunktion exp ist also eine Erweiterung der bisher bekannten Potenzen von e aufbeliebige komplexe Exponenten. Die Reihe ist auch geeignet, um Naherungswerte fur e oder furex zu berechnen.

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

Bemerkung: Fur |x| ≤ 1 ist∣∣∣∣∣ex −n∑k=0

xk

k!

∣∣∣∣∣ =

∣∣∣∣∣∞∑

k=n+1

xk

k!

∣∣∣∣∣ ≤ |x|n+1

(n+ 1)!

(1 +

|x|n+ 2

+|x|2

(n+ 2)(n+ 3)+ ...

)

≤ |x|n+1

(n+ 1)!

(1 +

12

+14

+18

+ ...

)≤ 2|x|n+1

(n+ 1)!

Wir konnen daher den Fehler abschatzen, wenn wir nur die ersten Terme der Reihe verwenden:∣∣∣∣e− 2− 12!− 1

3!− 1

5!− 1

6!

∣∣∣∣ < 27!

=1

360 · 7<

12000

.

Beispiel: Die trigonometrischen Funktionen

Definition: Sei x ∈ C. Dann ist sind Cosinus und Sinus von x definiert durch

cos(x) :=12(eix + e−ix

)sin(x) :=

12i(eix − e−ix

).

Fur x ∈ R gilt deswegen

cos(x) = Re(eix)sin(x) = Im(eix)

denn Re (z) = 12(z + z) und Im (z) = 1

2i(z − z) und fur x ∈ R folgt

(eix) =∞∑k=0

(ix)k

k!=∞∑k=0

(ix)k

k!=∞∑k=0

(ix)k

k!= eix = e−i x = e−ix

Daher gilt fur alle x ∈ C:eix = cos(x) + i sin(x) (2.2)

Satz 2.27 Cosinus und Sinus haben die Potenzreihendarstellung

cos(x) =∞∑n=0

(−1)n

(2n)!x2n

sin(x) =∞∑n=0

(−1)n

(2n+ 1)!x2n+1

mit x ∈ C.

70

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Folgen und Reihen

Beweis: Es ist

cos(x) =12(eix + e−ix

)=

12

( ∞∑k=0

1k!ik · xk +

∞∑k=0

1k!

(−i)k · xk)

=12

∞∑k=0

1k!

(ik + (−i)k︸ ︷︷ ︸=ak

)xk

Betrachte nun die Folge ak. Fur ungerade k ist ik + (−i)k = 0, das heißt nur gerade k tragenetwas zur Summe bei. Man uberpruft leicht, dass ik + (−i)k = 2 fur k = 0, 4, 8, 12, . . . undik + (−i)k = −2 fur k = 2, 6, 10, 14, . . .. Damit ergibt sich

cos(x) =∞∑k=0

(−1)k

(2k)!x2k.

Fur sin(x) kann man ahnlich argumentieren, hier bleiben nur die Terme mit ungeradem k ubrig.2

Wegen |z|2 = z · z und Im(z) = 12i(z − z) mit z ∈ C gilt:∣∣eix∣∣2 = eix · eix = eix · eix = eix · e−ix = ei(x−x) = e2·i·i

12i

(x−x) = e−2·Im(x).

Insbesondere ist fur reelle x dann e−2·Im(x) = 1, da Im(x) = 0. Weil fur komplexe Zahlen|z|2 = (Re (z))2 + (Im(z))2, gilt daher fur reelle x

cos2(x) + sin2(x) = |eix|2 = 1,

eine Identitat, die Ihnen sicher aus der Schule bekannt ist.

Satz 2.28 (i) Cosinus und Sinus erfullen die Additionstheoreme,

cos(x+ y) = cos(x) · cos(y)− sin(x) · sin(y)sin(x+ y) = cos(x) · sin(y) + sin(x) · cos(y)

(ii) Fur n ∈ N und x ∈ C ist

cos(nx) =[n2]∑

`=0

(−1)`(n

2`

)sin2`(x) cosn−2`(x)

Hierbei bezeichnet wieder [n2 ] die Gauß-Klammer.

Beweis:(i) Ubungsaufgabe

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

(ii) Unter Verwendung von (2.1), (2.2) und des binomischen Satzes 1.5 gilt

cos(nx) =12

(einx + e−inx)

=12(

(eix)n + (e−ix)n)

=12

( (cos(x) + i sin(x))n + (cos(x)− i sin(x))n )

=12

(n∑k=0

(n

k

)cosn−k(x)ik sink(x) +

n∑k=0

(n

k

)cosn−k(x)(−i)k sink(x)

)

=12

n∑k=0

(1 + (−1)k

)ik︸ ︷︷ ︸

= 0 fur ungerade k

(n

k

)sink(x) cosn−k(x)

Da nur die geraden k einen Beitrag leisten, kann man k = 2` setzen und die Summe als Summeuber ` schreiben:

cos(nx) =[n2]∑

`=0

(−1)`(n

2`

)sin2`(x) cosn−2`(x).

2

Speziell fur n = 2, 3, 4 erhalt man beispielsweise die Darstellungen

cos(2x) = cos2 x− sin2 x

cos(3x) = cos3 x− 3 sin2 x cosx = 4 cos3 x− 3 cosxcos(4x) = cos4 x− 6 sin2 x cos2 x+ sin4 x = 8 cos4 x− 8 cos2 x+ 1

72

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3 Stetigkeit

Ausgehend von Grenzwerten fur Zahlenfolgen kann man auch Grenzwerte reellwertiger bzw. kom-plexwertiger Funktionen betrachten.

Definition:Sei D ⊂ R und f : D → R eine Funktion. Dann sagen wir, dass der Grenzwert

limx→a

f(x) = c

existiert, falls fur jede Folge (xn)n∈N in D mit limn→∞

xn = a auch die Folge (f(xn))n∈N konvergiert

mit limn→∞

f(xn) = c.

Bemerkung: Es ist hier nicht vorausgesetzt, dass a in D liegt. Wichtig ist nur, dass alle Fol-genglieder der Folge (xn)n∈N in D liegen. Dies wird bei der Differentiation in Kapitel 4 wichtigsein, wenn wir den Grenzwert des Differenzenquotienten fur h→ 0 betrachten. Dieser Differen-zenquotient ist namlich fur h = 0 nicht definiert.

Definition:Sei D ⊂ R, a ∈ I und f : D → R eine Funktion. Dann heißt f stetig im Punkt a, falls

limx→a

f(x) = f(a).

Dies bedeutet, dass limn→∞

f(xn) = f(a) fur jede Folge (xn)n∈N in D mit limn→∞

xn = a.

Die Funktion f heißt stetig auf D oder einfach stetig, wenn sie in jedem Punkt ihres Definiti-onsbereichs D stetig ist.

Beispiele:

1. Sei c ∈ R eine beliebige Zahl. Dann ist die konstante Funktion f : R→ R mit f(x) = c furalle x ∈ R stetig in jedem Punkt a, denn:Fur jede Folge (xn), die gegen a konvergiert, ist (f(xn))n∈N eine konstante Folge undkonvergiert daher gegen f(a) = c.

2. Die Heaviside-Funktion

H(x) ={

0 fur x < 01 fur x ≥ 0

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

ist unstetig im Punkt x0 = 0. Dazu genugt es, die Folge −1,−12 ,−

13 ,−

14 , . . . zu betrachten,

die gegen 0 konvergiert. Die Funktionswerte der Folgenglieder sind allesamt 0 und konver-gieren daher nicht gegen H(0) = 1.Die Heaviside-Funktion ist mit der Delta-”Funktion“verwandt, die in der Physik oft be-nutzt wird, die aber im mathematischen Sinne gar keine Funktion ist.

3. Die Identitat Id : R → R, definiert durch Id(x) = x ist stetig in jedem a ∈ R, denn dieFolgen (xn)n∈N und (Id(xn))n∈N stimmen uberein. Wenn also lim

n→∞xn = a, dann gilt auch

limn→∞

Id(xn) = a = Id(a).

4. Die Funktion h : R→ R mit h(x) = 1x fur x 6= 0 und h(0) = 0 ist unstetig in a = 0, da fur

eine Folge (xn)n∈N mit limn→∞

xn = 0 auf jeden Fall |h(xn)| gegen unendlich strebt.

Bemerkung:

1. Anschaulich bedeutet Stetigkeit, dass die Funktion keine Sprunge macht und man ihrenGraphen zeichnen kann, ohne abzusetzen.Achtung ! Wenn D beispielsweise kein Intervall ist, dann kann der Begriff der Stetigkeitdiese Anschaulichkeit verlieren. Zum Beispiel ist jede Funktion f : N → R stetig, dafur n0 ∈ N jede Folge (xk)k∈N naturlicher Zahlen, die gegen n0 konvergiert irgendwannkonstant wird, das heißt

xk → n0 ⇒ ∃K0 : xk = n0 fur alle k ≥ K0.

Dann ist naturlich auch f(xk) = f(n0) fur alle k ≥ K0 und daher limk→∞

f(xk) = f(n0).

Stetigkeit kann auch verletzt sein, wenn eine Funktion in der Nahe eines Punktes zu starkoszilliert. Dann kann die Funktion ebenfalls unstetig sein, ohne dass ein ”Sprung“ zuerkennen ist.

2. Die Stetigkeit einer Funktion f im Punkt a kann man auch durch die Gleichung

limx→a

(f(x)) = f( limx→a

x).

ausdrucken. Stetigkeit erlaubt also die Grenzwertbildung mit der Anwendung der Funktionf zu vertauschen. Wir werden im Laufe des Semesters noch weitere ahnliche Situationenkennenlernen.

3. Man kann ganz genauso wie oben auch die Stetigkeit von Funktionen f : D → C fur D ⊂ Cdefinieren. Eine Funktion ist also genau dann stetig im Punkt a ∈ D, wenn fur jede Folge,die gegen a konvergiert, die Folge der Bildpunkte in C gegen f(a) konvergiert. Insbesonderemuss also sowohl die Folge der Realteile, als auch die der Imaginarteile konvergieren.

Da die Stetigkeit reellwertiger Funktionen wichtigere Konsequenzen hat als die Stetigkeitkomplexwertiger Funktionen, betrachten wir in diesem Kapitel meistens reelle Funktionen.

Eine alternative Charakterisierung der Stetigkeit benutzt die ε-Umgebungen von Punkten, diewir schon bei Folgen benutzt hatten.

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Stetigkeit

Definition: [”ε–δ–Definition“]Sei D ⊂ R, a ∈ D und f : D → R eine Funktion. Dann heißt f stetig im Punkt a, falls es zujedem ε > 0 ein δ = δ(ε, a) > 0 gibt, so dass

|x− a| < δ ⇒ |f(x)− f(a)| < ε.

Die Funktion f heißt stetig, wenn sie in jedem Punkt ihres Definitionsbereichs stetig ist.

y

f(a)+

f(a)

f(a)−

x

a+δaδa−

ε

ε

y=f(x)

Abbildung 3.1: Zur ε-δ-Definition der Stetigkeit

Anschaulich bedeutet das, dass der Funktionswert f(x) sehr nahe bei f(x0) liegt, wenn mannur x nahe genug bei x0 wahlt. Wie nahe genau, das hangt vom Abstand zwischen f(x) undf(x0) ab. Dieser Zusammenhang wird durch ε und δ mathematisch prazise gemacht. Auch dieseDefinition kann man wieder ”reell“ oder ”komplex“ lesen.

Beispiele:

1. Die Identitat Id : R → R, definiert durch Id(x) = x ist stetig in jedem x0 ∈ R, denn wirkonnen in der Definition der Stetigkeit einfach δ = ε wahlen.

2. Die Funktion f : R→ R mit f(x) = |x| ist stetig, denn auch hier kann man nachrechnen,dass die ε-δ-Definition mit δ = ε erfullt ist.

Die Folgen-Definitionen der Stetigkeit und die ε-δ-Definition sind fur reelle Funktionen aquiva-lent zueinander.

Satz 3.1Sei D ⊂ R und f : D → R eine Funktion. Dann ist f genau dann stetig im Punkt a ∈ D nachder ε–δ-Definition, wenn fur jede Folge (xn)n∈N mit lim

n→∞xn = a gilt: lim

n→∞f(xn) = f(a).

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

Beweis:

”⇒“ Wir nehmen an, dass f die ε-δ-Definition der Stetigkeit im Punkt a erfullt und (xn)n∈Neine Folge in D ist, die gegen a konvergiert. Zu zeigen ist, dass dann f(xn) gegen f(a) kon-vergiert. Wir benutzen dabei die Definition der Konvergenz von Zahlenfolgen und zeigen,dass es zu jedem ε > 0 ein N0 gibt, so dass

|f(xn)− f(a)| ≤ ε fur alle n ≥ N0.

Um das richtige N0 zu finden, benotigen wir das δ aus der ε-δ-Definition. Fur |x− a| < δist dann |f(x)− f(a)| < ε. Da die Folge (xn) gegen a konvergiert, gibt es ein N0, so dass|xn−a| < δ ist fur alle n ≥ N0. Dies ist genau das gesuchte N0, ab dem |f(xn)− f(a)| < εist.

”⇐“ Wir durfen annehmen, dass alle Folgen (xn)n∈N mit limn→∞

xn = a auch limn→∞

f(xn) = f(a)erfullen. Sei nun ein ε > 0 gegeben, zu dem wir ein passendes δ finden mochten. Wirgehen dabei indirekt vor und nehmen zunachst an, dass es kein solches δ > 0 gibt. Dasbedeutet im Umkehrschluss, dass es zu jedem noch so kleinen δ > 0 einen Punkt x gibtmit |x−a| < δ, aber |f(x)−f(a)| > ε. Speziell mit δ = 1, 1

2 ,13 ,

14 , . . . konnen wir uns daher

eine Folge x1, x2, x3, x4, . . . von Zahlen verschaffen, fur die gilt:

|xn − a| <1n

und |f(xn)− f(a)| > ε.

Da diese Folge offensichtlich gegen a konvergiert, f(xn) aber nicht gegen f(a), erhaltenwir einen Widerspruch. Unsere Annahme, dass kein passendes δ existiert war also falsch,und es muss zu dem vorgegebenen ε ein δ wie in Definition 3 geben.

2

Definition:Sie D ⊂ R. Eine Funktion f : D → R heißt Lipschitz-stetig, wenn eine Konstante L > 0existiert, so dass fur alle x, y ∈ D gilt:

|f(x)− f(y)| ≤ L · |x− y|.

L heißt Lipschitz-Konstante der Abbildung.

Der Name ist gerechtfertigt, denn

Lemma:Lipschitz-stetige Funktionen sind stetig.

Beweis: Man verwendet die ε–δ–Definition mit δ = εL . Um zu zeigen, dass f im Punkt y stetig

ist, verifiziert man, dass fur alle x mit |x− y| ≤ δ gilt:

|f(x)− f(y)| ≤ L|x− y| ≤ Lδ = Lε

L= ε.

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Stetigkeit

Dasselbe Argument lasst sich fur jedes y ∈ D anwenden, die Funktion f ist also stetig auf ganzD. 2

Definition:Funktionen f, g : D → R, deren Definitionsbereich ubereinstimmt, kann man auf ganz naturli-che Art und Weise addieren und miteinander multiplizieren. Die punktweise Addition,bzw. Multiplikation ist definiert durch

(f + g)(x) = f(x) + g(x)(f · g)(x) = f(x) · g(x)

Satz 3.2Sei D ⊂ R und f : D → R sowie g : D → R stetige Funktionen. Dann gilt:

(i) Die Funktionen f + g und f · g sind stetig. Falls g(x) 6= 0 fur alle x ∈ D, dann ist auchf/g stetig

(ii) die Hintereinanderausfuhrung g ◦ f ist stetig (vorausgesetzt, dass f(x) fur alle x im Defi-nitionsbereich von g liegt).

Beweis:(i) Wir zeigen fur ein beliebiges a ∈ D, dass f + g stetig in a ist. Sei dazu (xn)n∈N eine beliebigeFolge mit lim

n→∞xn = a. Nach den Rechenregeln fur Grenzwerte von Folgen ist dann

limn→∞

(f + g)(xn) = limn→∞

(f(xn) + g(xn))

= limn→∞

f(xn) + limn→∞

g(xn)

= f(a) + g(a) = (f + g)(a).

Ganz genauso zeigt man die Stetigkeit von f · g.(ii) Seien wieder ε > 0 und x0 ∈ D beliebig. Wegen der Stetigkeit von g im Punkt y0 := f(a)findet man ein δ1, so dass |g(y)−g(y0)| ≤ ε, falls |y−y0| ≤ δ1. Nutzen wir jetzt die Stetigkeit vonf im Punkt a aus (allerdings mit δ1 anstelle von ε), so finden wir ein δ > 0 mit der Eigenschaft

|x− a| ≤ δ ⇒ |f(x)− f(a)| = |f(x)− y0| ≤ δ1.

Daraus folgt dann aber sofort

|g(f(x))− g(y0)| = |g(f(x))− g(f(a))| ≤ ε.

Nach Definition 3 ist daher g ◦ f stetig in a. 2

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

Lemma:Polynome sind stetig auf R.

Beweis: Sei

P (x) =n∑j=0

ajxj = a0 + a1x+ a2x

2 + . . .+ anxn

ein beliebiges Polynom. Es ist als Summe und Produkt von stetigen Funktionen nach dem vori-gen Satz ebenfalls stetig auf ganz R. 2

Fur komplexwertige Funktionen notieren wir nur:

Lemma:Eine Funktion f : R → C bzw. f : C → C ist stetig genau dann, wenn ihr Realteil und ihrImaginarteil beide stetige Funktionen sind, d.h.

f(x) = f1(x) + if2(x)

ist genau dann stetig, wenn f1 und f2 stetig sind.

Beweis: Um die Stetigkeit in einem Punkt a zu beweisen, betrachtet man (reelle oder komple-xe) Folgen, die gegen a konvergieren. Diese konvergieren nach Kapitel 2 genau dann, wenn dieFolgen aus Real- und Imaginarteil beide konvergieren. Dies bedeutet aber genau, dass sowohlder Realteil als auch der Imaginarteil der Funktion stetig sind. 2

Satz 3.3 Die Exponentialfunktion x 7→ exp(x) ist stetig.

Beweis:Wir hatten die Exponentialfunktion uber die Reihendarstellung

ex = 1 +x

1!+x2

2!+x3

3!+ . . . =

∞∑j=0

xj

j!

definiert.Wir zeigen zunachst die Stetigkeit in x = 0 und werden spater sehen, dass daraus die Stetigkeitin einem beliebigen anderen Punkt x0 folgt.Um zu zeigen, dass die Exponentialfunktion in 0 stetig ist, mussen wir beweisen, dass ex furx→ 0 gegen e0 = 1 konvergiert. Fur |x| < 1 gilt immer

0 ≤ |ex − 1| =∣∣∣∣ x1!

+x2

2!+x3

3!+ . . .

∣∣∣∣≤ |x| ·

(1 +|x|2!

+|x|2

3!+|x|3

4!+ . . .

)

78

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Stetigkeit

≤ |x| ·(

1 +12!

+13!

+14!

+ . . .

)≤ |x| · (e− 1).

Die rechte Seite konvergiert fur |x| → 0 gegen 0, also ist die Stetigkeit in x = 0 bewiesen.Um die Stetigkeit in irgendeinem Punkt x0 ∈ R nachzuweisen, benutzen wir die Funktionalglei-chung der Exponentialfunktion und die Stetigkeit in 0: Wegen

|ex0 − ex| = |ex0 | ·∣∣∣1− e(x−x0)

∣∣∣︸ ︷︷ ︸→ 0 fur x− x0 → 0

konvergiert ex gegen ex0 fur x→ x0. 2

Bemerkung: Wir haben nirgends benutzt, dass x eine reelle Zahl ist. Die Aussage ist alsoauch fur die Exponentialfunktion exp : C → C richtig. Aus diesem Grund steht in der letztenAbschatzung des Beweises |ex0 | und nicht ex0 , obwohl das fur reelle x0 genugt hatte....

Eine Konsequenz davon ist:

Satz 3.4 Die Funktionen cos : C→ C und sin : C→ C sind stetig.

Beweis: Zunachst sind die beiden Funktionen

z 7→ eiz undz 7→ e−iz

als Verkettung stetiger Funktionen wieder stetig. Damit sind dann auch

cos z =eiz + e−iz

2und sin z =

eiz − e−iz

2istetig. 2

Wir werden spater sehen, dass ganz allgemein Funktionen, die durch Potenzreihen dargestelltwerden, im Innern ihres Konvergenzkreises immer stetig sind.

3.1 Ein paar topologische Grundbegriffe

Definition:Eine Menge reeller Zahlen A ⊂ R heißt offen, falls es zu jedem a ∈ A eine ε-Umgebung gibt,die in A enthalten ist, d.h.

∀a ∈ A : ∃ε > 0 : (a− ε, a+ ε) ⊂ A.

79

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

Anschaulich bedeutet dies, dass kein Punkt von A ganz ”am Rand“liegt, sondern immer nochPunkte aus A um sich herum hat. Dabei darf die Große der Umgebung (das ”ε“) vom Punkt aabhangen. Fur Punkte, die ”naher am Rand“sind, wird ε entsprechend kleiner sein.

Definition:Ein Punkt y ∈ R heisst Haufungspunkt einer Menge A ⊂ R, wenn es eine Folge (xn)n∈N gibt,so dass xn ∈ A fur alle n ∈ N und lim

n→∞xn = y.

Eine Menge reeller Zahlen A ⊂ R heißt abgeschlossen, falls alle Haufungspunkte von A in Aenthalten sind, d.h. wenn fur jede konvergente Folge (xn)n∈N, deren Glieder in A liegen, auchder Grenzwert in A liegt.

Beispiele:

1. Offene bzw. abgeschlossene Intervalle sind Beispiele fur offene bzw. abgeschlossene Mengenin R.

2. Die Menge {0, 1, 12 ,

13 ,

14 , . . .} ist abgeschlossen.

3. Die Menge [0,∞) = {x ∈ R; x ≥ 0} ist abgeschlossen.

4. Die Menge Q der rationalen Zahlen ist weder offen noch abgeschlossen.

Satz 3.5

(i) Die Vereinigung (beliebig vieler) offener Mengen ist offen.

(ii) Der Durchschnitt (beliebig vieler) abgeschlossener Mengen ist abgeschlossen.

Beweis:

(i) Sei O :=⋃j∈J Oj die Vereinigung von offenen Mengen. Jeder Punkt x aus O liegt in einem

der Oj . Da diese Menge offen ist, gibt es ein ε > 0, so dass auch Uε(x) in Oj und damitauch in O enthalten ist.

(ii) Sei A :=⋂j∈J Aj der Durchschnitt lauter abgeschlossener Mengen. Betrachte eine Folge

(xn)n∈N in A, die in R konvergiert. Dann liegt diese Folge in allen Mengen Aj . Da die Ajabgeschlossen sind, liegt auch der Grenzwert in jedem der Aj , und damit auch in derenDurchschnitt A.

2

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Stetigkeit

Definition:Eine Menge K ⊂ R heißt (folgen-)kompakt, falls jede Folge in K eine (in K) konvergenteTeilfolge besitzt, d.h der Grenzwert der Teilfolge liegt ebenfalls in K.

Eine nutzliche, andere Charakterisierung der Kompaktheit benutzt Uberdeckungen der MengeK.

Definition:Eine offene Uberdeckung der Menge K ⊂ R ist eine Familie (Uj)j∈J offener Mengen, so dass

K ⊂⋃j∈J

Uj .

Dabei kann die Indexmenge J sogar uberabzahlbar sein. Die Vereinigung aller Uj besteht dannwie gewohnt aus denjenigen z ∈ R, die in irgendeinem der Uj enthalten sind.

Satz 3.6 [ohne Beweis]Die Menge K ⊂ R ist kompakt genau dann, wenn jede offene Uberdeckung von K bereits eineendliche Teiluberdeckung besitzt, d.h. wenn man aus jeder offenen Uberdeckung (Uj)j∈J endlichviele Mengen U1, U2, . . . , UN auswahlen kann, so dass

K ⊂N⋃k=1

Uk.

Den Beweis dieses Satzes finden Sie beispielsweise in den Buchern [Konigsberger: Analysis 1,

”Uberdeckungssatz von Heine-Borel“] oder [Heuser: Lehrbuch der Analysis, Teil 2].

Satz 3.7 [Heine-Borel]Eine Menge K ⊂ R ist genau dann kompakt, wenn sie beschrankt und abgeschlossen ist.

Beweis:

”⇒“ Sei K kompakt. Wir mussen zeigen, dass K beschrankt und abgeschlossen ist. Das gehtmal wieder indirekt. Wenn K nicht beschrankt ware, konnten wir eine Folge (xn) in Kfinden mit |xn| ≥ n fur alle n. Dann divergiert aber offensichtlich auch jede Teilfolge, imWiderspruch zur Kompaktheit von K.

Ware K nicht abgeschlossen, dann gabe es einen Haufungspunkt h von K, der nicht inK liegt. Wahlt man eine Folge (yn) in K, die gegen h konvergiert, dann konvergiert auchjede Teilfolge davon gegen h. Wegen h /∈ K besitzt die Folge (yn) keine in K konvergenteTeilfolge ; Widerspruch.

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

”⇐“ Sei K beschrankt und abgeschlossen. Dann ist jede Folge in K eine beschrankte Folgeund besitzt nach dem Satz von Bolzano-Weierstraß eine konvergente Teilfolge. Sei a derGrenzwert dieser Teilfolge. Da K abgeschlossen ist, liegt a ∈ K, also besitzt jede Folgeeine in K konvergente Teilfolge. K ist daher kompakt.

2

Bemerkung: Insbesondere sind also alle abgeschlossenen Intervalle [a, b] kompakte Teilmengenvon R.

3.2 Stetige Funktionen auf kompakten Intervallen

Die Stetigkeit einer auf einem abgeschlossenen Intervall definierten Funktion hat einige inter-essante Konsequenzen.

Definition:Eine Funktion f : A→ R von einer Menge A in die reellen Zahlen heißt von oben beschrankt,falls es eine Zahl C ∈ R gibt, so dass

f(x) ≤ C ∀x ∈ A.

Ganz analog heißt f nach unten beschrankt, falls es eine Zahl c ∈ R gibt, so dass

f(x) ≥ c ∀x ∈ A.

Eine Funktion, die sowohl nach oben als auch nach unten beschrankt ist, heißt beschrankt. Indiesem Fall gibt es eine Zahl C ∈ R mit

|f(x)| ≤ C ∀x ∈ A.

Satz 3.8Sei f : [a, b]→ R stetig. Dann ist die Funktion f auf dem Intervall [a, b] beschrankt.

Beweis:Wieder indirekt. Ware die Funktion nicht beschrankt, dann gabe es eine Folge (xn)n∈N in [a, b]mit |f(xn)| ≥ n. Da [a, b] kompakt ist, gibt es eine konvergente Teilfolge (xnk)k∈N, die gegeneine Zahl ξ ∈ [a, b] konvergiert. Wegen der Stetigkeit von f sollte dann auch f(xnk) fur k →∞gegen f(ξ) konvergieren. Da aber |f(xnk)| ≥ nk, divergiert die Folge der Funktionswerte.Aus diesem Widerspruch folgt, dass f auf dem Intervall [a, b] beschrankt sein muss. 2

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Stetigkeit

Bemerkung: Diese Aussage gilt fur offene Intervalle nicht. Beispielsweise ist die Funktion f :(0,∞) → (0,∞), die durch f(x) = 1

x definiert wird auf ihrem Definitionsbereich stetig, abernicht beschrankt.

Satz 3.9 [Satz vom Maximum (und Minimum)]Sei f : [a, b] → R stetig. Dann nimmt die Funktion f ihr Supremum und ihr Infimum auf demIntervall [a, b] an, d.h. es existiert ein xmax ∈ [a, b] so dass

f(xmax) = supx∈[a,b]

f(x)

und ein xmin, so dassf(xmin) = inf

x∈[a,b]f(x).

Beweis des Satzes vom Maximum: Nach dem vorigen Satz ist f von oben beschrankt, esexistiert also

M := supx∈[a,b]

f(x) <∞.

Da M die kleinste obere Schranke ist, kann man eine Folge (yn)n∈N mit yn ∈ [a, b] finden, furdie gilt:

M − 1n≤ f(yn) ≤M,

denn sonst gabe es eine kleinere oberste Schranke. Die Folge (f(yn)) konvergiert also nachdem Sandwich-Kriterium gegen M . Andererseits besitzt die beschrankte Folge (yn)n∈N einekonvergente Teilfolge (yn`)`∈N mit lim`→∞ yn` = xmax ∈ [a, b]. Dann ist aber wegen der Stetigkeitvon f

f(xmax) = f( lim`→∞

yn`) = lim`→∞

f(yn`) = M,

das Supremum von f wird also im Punkt xmax angenommen.Der Beweis fur das Infimum ist vollig analog. 2

Dass dies fur unstetige Funktionen nicht selbstverstandlich ist, zeigt das Beispiel der Funktionf : [0, 2]→ R mit

f(x) = x− [x]

wobei wieder [x] die Gauß-Klammer von x darstellt, also die großte ganze Zahl kleiner odergleich x. Hier ist das Supremum der Funktion 1, da f(x) = x fur alle x mit 0 ≤ x < 1. DiesesSupremum wird aber nicht angenommen, da f(1) = f(2) = 0 ist.

Dass die Abgeschlossenheit bzw. Kompaktheit des Intervalls benotigt wird, sieht man an derFunktion f(x) = 1

x mit dem offenen Definitionsbereich D = (1,∞). Das Supremum dieserFunktion auf D ist 1, der Wert 1 wird aber in D nicht angenommen.

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

Satz 3.10 [Zwischenwertsatz]Sei f : [a, b]→ R eine stetige Funktion. Dann nimmt f auf (a, b) jeden Wert zwischen f(a) undf(b) an.

Beweis: Wir nehmen zunachst an, dass f(a) ≤ y ≤ f(b) und suchen ein x0 mit der Eigenschaftf(x0) = y. Falls f(a) = y oder f(b) = y, dann sind wir schon fertig, indem wir x0 = a oderx0 = b wahlen, wir nehmen daher an, es sei f(a) < y < f(b).Betrachte die Menge

M := {x ∈ [a, b]; f(x) < y }.Diese Menge kann nicht leer sein, denn a ∈M . Da M beschrankt ist, existiert die kleinste obereSchranke ξ := supM .Behauptung: f(ξ) = y.Da ξ die kleinste obere Schranke fur M ist, gibt es eine Folge (xn)n∈N von Punkten aus M , diegegen x0 konvergiert. Wegen der Stetigkeit von f in ξ ist daher

f(ξ) = limn→∞

f(xn)︸ ︷︷ ︸≤y

≤ y.

Andererseits ist ξ + 1n /∈ M fur alle n ∈ N, da ja ξ eine obere Schranke fur M ist. Die Folge

zn = ξ + 1n konvergiert gegen ξ und f(zn) ≥ y fur alle n. Wiederum wegen der Stetigkeit von f

in ξ konvergieren die f(zn) gegen f(ξ). Es muss also auch f(ξ) ≥ y sein.Insgesamt folgt also f(ξ) = y. 2

Folgerungen aus dem Zwischenwertsatz

Lemma:Jedes Polynom ungeraden Grades besitzt (mindestens) eine reelle Nullstelle.

Beweis: Seip(x) = a2n+1x

2n+1 + a2nx2n + . . .+ a1x+ a0

mit a2n+1 6= 0 ein Polynom ungeraden Grades. Da wir durch a2n+1 teilen konnen, ohne dieNullstellen des Polynoms zu andern, durfen wir a2n+1 = 1 annehmen. Setze nun

A := |a2n|+ |a2n−1|+ . . .+ |a1|+ |a0|

Fur x 6= 0 kann man

p(x) = x2n+1(

1 +a2n

x+a2n−1

x2+ . . .+

a1

x2n+

a0

x2n+1

)schreiben. Wahlt man x+ = max(2A, 1), dann ist

a2n

x++a2n−1

x2+

+. . .+a1

x2n+

+a0

x2n+1+

≤ a2n

x++a2n−1

x++. . .+

a1

x++a0

x+≤ |a2n|

x++|a2n−1|x+

+. . .+|a1|x+

+|a0|x+≤ 1

2

Damit ist p(x+) ≥ 2A(1 − 12) = A. Auf die gleiche Weise zeigt man, dass p(x−) ≤ −A ist fur

x− = min(−2A,−1). Nach dem Zwischenwertsatz besitzt p dann eine Nullstelle zwischen x−und x+. 2

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Stetigkeit

3.3 Mehr zur Cosinus- und Sinusfunktion

Nachdem bisher die Reihendarstellung, die Additionstheoreme sowie die Stetigkeit das einzigewaren, was wir uber die trigonometrischen Funktionen wissen, wollen wir nun einige konkretereEigenschaften herleiten, insbesondere uber Nullstellen und Periodizitat.Dazu brauchen wir ein paar einfache Tatsachen, die sich aus der Potenzreihendarstellung undden Additionstheoremen ergeben.

Satz 3.11 (i) Fur 0 ≤ x ≤ 2 ist sinx > 0.

(ii) Die Cosinusfunktion ist monoton fallend im Intervall [0, 2], d.h.

0 ≤ x < y ≤ 2 ⇒ cosx > cos y.

(iii) Die Cosinusfunktion besitzt genau eine Nullstelle im Intervall [0, 2].

Beweis:

(i) Sei 0 ≤ x ≤ 2. Da die Potenzreihe der Sinusfunktion fur diese Werte von x eine alternieren-de Reihe ist, deren Glieder monoton abnehmen, liegt der Grenzwert sinx immer zwischenzwei aufeinanderfolgenden Gliedern der Reihe. Insbesondere ist

sinx ≥ x− x3

3!= x

(1− x2

6

)> 0

solange x <√

6.

(ii) Sei 0 ≤ x < y ≤ 2. Setze

a :=x+ y

2und b :=

y − x2

.

Dann ist x = b− a und y = b+ a, also folgt aus den Additionstheoremen fur die Cosinus-funktion

cosx− cos y = cos(b− a) − cos(b+ a)= cos b cos a+ sin b sin a − cos b cos a+ sin b sin a= 2 sin a sin b

= 2 sin(x+ y

2

)sin(y − x

2

)> 0

wegen (i).

(iii) Es ist

cos(2) < 1− 42 + 16

24 = 1− 2 + 23 = −1 + 2

3 = −13 < 0

cos (0) = 1 > 0

Also existiert nach dem Zwischenwertsatz eine Nullstelle im Intervall (0, 2).Diese Nullstelle ist eindeutig, da die Cosinusfunktion streng monoton fallend ist.

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

2

Definition: Wir nennen die erste Nullstelle der Cosinusfunktion π2 .

Bemerkung: Dass die so definierte Zahl π tatsachlich auf die Formeln 2πr und πr2 fur Umfangund Flacheninhalt eines Kreises vom Radius r fuhrt, werden wir erst im weiteren Verlauf derVorlesung sehen.

Satz 3.12 (i) sin(π2

)= 1

(ii) Es ist eiπ2 = i, eiπ = −1 und e2πi = 1.

(iii)

cos(z + π

2

)= − sin z sin

(z + π

2

)= cos z

cos (z + π) = − cos z sin (z + π) = − sin zcos (z + 2π) = cos z sin (z + 2π) = sin z

(iv) ez+2πi = ez

Beweis:

(i) Die Additionstheoreme aus Satz 2.28 liefern uns

cos2 π

2+ sin2 π

2= 1 ⇒ sin2 π

2= 1.

Da sinx > 0 fur x ∈ (0, 2) ergibt sich daraus das Vorzeichen sin π2 = 1.

(ii)

eiπ2 = cos

π

2+ i sin

π

2= i

eπi =(eiπ2

)2= i2 = −1

e2πi =(eπi)2 = (−1)2 = 1

(iii) siehe Ubungsaufgabe

cos(z +

π

2

)= cos z cos

(π2

)− sin z sin

(π2

)= − sin z

sin(z +

π

2

)= sin z cos

(π2

)+ cos z sin

(π2

)= cos z

cos (z + π) = cos z cos(π)− sin z sin(π) = − cos zsin (z + π) = sin z cos(π) + cos z sin(π) = − sin z

cos (z + 2π) = cos z cos(2π)− sin z sin(2π) = cos zsin (z + 2π) = sin z cos(2π) + cos z sin(2π) = sin z

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Stetigkeit

(iv) folgt direkt aus Teil (i)

2

3.4 Polarkoordinatendarstellung komplexer Zahlen

Satz 3.13Jede komplexe Zahl z ∈ C lasst sich in der Form z = ρeiϕ darstellen mit ρ = |z|.

Beweisidee: Wir skizzieren hier nur kurz das Vorgehen, um zu einer gegebenen Zahl z = x+ iydas entsprechende ρ und ϕ zu finden.Sei zuerst |z| = 1 und x, y ≥ 0. Da x2 +y2 = 1, muss 0 ≤ x ≤ 1 sein, nach dem Zwischenwertsatzexistiert also wegen cos 0 = 1 und cos π2 = 0 ein ϕ ∈ [0, π2 ], so dass cosϕ = x. Dann ist abersinϕ =

√1− cos2 ϕ = y und damit z = cosϕ+ i sinϕ = eiϕ.

Fur |z| = 1 und andere Vorzeichen von x und y muss der Winkel ϕ jeweils in einem anderenIntervall gesucht werden.Falls |z| 6= 1, betrachtet man w := z

|z| . Dann ist |w| = 1, wir konnen also w = eiϕ schreiben miteinem ϕ ∈ R. Setzt man nun ρ = |z|, dann erhalt man daraus sofort z = ρeiϕ. 2

Bemerkung: Diese Darstellung komplexer Zahlen eignet sich besonders gut fur die Multipli-kation. Fur z1 = ρ1e

iϕ1 und z2 = ρ2eiϕ2 ist

z1 · z2 = ρ1eiϕ1ρ2e

iϕ2 = ρ1ρ2ei(ϕ1+ϕ2)

das heißt, die Betrage werden miteinander multipliziert und die Winkel addiert. Auf diese Weiselassen sich auch hohe Potenzen komplexer Zahlen relativ leicht bestimmen, z.B. ist

(1 + i)2007 =(√

2eiπ4

)2007=(√

2)2007

e2007π4i =√

2 · 21003 · e7π4i.

Das ware mit dem Binomischen Satz 1.5 wohl nicht so einfach zu berechnen.

Satz 3.14 [Fundamentalsatz der Algebra]Jedes Polynom p : C → C vom Grad n besitzt genau n komplexe Nullstellen, wenn man mehr-fache Nullstellen entsprechend ihrer Vielfachheit zahlt.

Diesen Satz werden wir voraussichtlich im kommenden Semester beweisen.

Satz 3.15 [Komplexe Einheitswurzeln]Die Gleichung zn = 1 besitzt n verschiedene komplexe Losungen z1, z2, . . . zn mit

zk = e2kπin , k = 0, 1, 2, 3, . . . , n− 1.

Diese Zahlen heißen n-te Einheitswurzeln.

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

Zum Beweis uberpruft man, dass znk − 1 = e2kπi − 1 = 0. Da ein Polynom n-ten Grades genaun Nullstellen besitzt, hat man somit alle Losungen gefunden.

3.5 Umkehrfunktionen streng monotoner Funktionen

Satz 3.16 [Satz von der Umkehrfunktion]Sei f : [a, b]→ R eine stetige, streng monoton wachsende Funktion. Dann ist die Umkehrfunktionf−1 stetig und ebenfalls streng monoton wachsend.Analog ist die Umkehrfunktion einer stetigen, streng monoton fallenden Funktion ebenfalls stetigund streng monoton fallend.

Der Beweis dieser Aussage beruht auf dem Zwischenwertsatz und findet sich in den meistenLehrbuchern zur Analysis. Wir beschaftigen uns lieber mit den Konsequenzen dieses Satzes. Alserstes wenden wir ihn auf die Funktion f : [0,∞) mit f(x) = x2 an. Diese ist als Polynom stetigund offenbar auch streng monoton. Nach dem Satz von der Umkehrfunktion gilt also:

Lemma:Die Wurzelfunktion x 7→

√x ist stetig auf [0,∞).

Genauso zeigt man auch die Stetigkeit der Funktionen x 7→ n√x als Umkehrfunktion der Funktion

f : [0,∞) mit f(x) = xn.

3.6 Der naturliche Logarithmus

In den Ubungen wurde gezeigt, dass die Exponentialfunktion auf der reellen Geraden eine strengmonoton wachsende Funktion ist.Damit ist die Exponentialfunktion auf R automatisch injektiv, denn x 6= y bedeutet, dass ent-weder x < y und damit auch ex < ey oder x > y und damit ex > ey.

Die Abbildung exp : R→ (0,∞) ist auch surjektiv. Um dies zu zeigen, benotigt man wieder denZwischenwertsatz. Sei also ein y > 0 gegeben. Wir suchen x ∈ R so dass exp(x) = y.

• 1. Fall: y = 1⇒ x = 0

• 2. Fall: y > 1

exp(0) = 1

exp(y) = 1 + y +y2

2!+ ... > y

Es gilt also exp(0) < y < exp(y). Nach dem Zwischenwertsatz existiert dann x ∈ [0, y] mitexp(x) = y.

• 3. Fall: 0 < y < 1 Dann ist aber 1y > 1 und es gibt ein z ∈ R mit exp(z) = 1

y undexp(−z) = 1

exp(z) = y.

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Stetigkeit

Den (naturlichen) Logarithmus definieren wir als Umkehrfunktion der monotonen Exponen-tialfunktion.

log := exp−1 : (0,∞)→ R

log(y) = x⇔ y = ex y = elog y x = log ex.

Satz 3.17 [Eigenschaften der Logarithmusfunktion]

i) 0 < x < y ⇒ log x < log y

ii) log ist stetig

iii) Die Logarithmusfunktion genugt der Funktionalgleichung log(xy) = log(x) + log(y)

iv) Es existiert der Grenzwert

limx→0

log(x+ 1)x

= 1.

Beweis:

i) Fur 0 < x < y ist

x = elog x < y = elog y

⇒ log x < log y

ii) Sei a < b und [a, b] kompakt. Dann ist die Einschrankung

exp |[a,b] : [a, b]→ [ea, eb]

wegen der Monotonie der Exponentialfunktion bijektiv und stetig.

⇒ log = exp−1[ea, eb]→ R

⇒ log |[ea,eb] ist stetig fur alle a < b

Fur ein beliebiges y > 0 wahle a < b, so dass ea < y < eb

⇒ log ist stetig an der Stelle y. Da dieses Argument fur jedes y ∈ (0,∞) gilt, ist dieLogarithmusfunktion dort uberall stetig.

iii) log(xy)

elog(xy) = xy = elog xelog y = elog x+log y

⇒ log (xy) = log x+ log y

iv) Betrachte eine Folge (xn)n∈N mit xn ∈ R \ {0} und xn → 0.Setze yn := log (1 + xn)

⇒ limn→∞

yn = log 1 = 0

⇒ ynxn

=yn

eyn − 1=

1(eyn−1yn

) → 1

89

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

2

Genauso wie wir fur die Exponentialfunktion ez komplexe Exponenten zulassen konnten, konnenwir auch allgemeine Potenzfunktionen verallgemeinern.

Definition:Fur a > 0 und z ∈ C definieren wir die allgemeine Potenzfunktion durch

az := ez log a.

Satz 3.18 [Eigenschaften der Potenzfunktion] Es gilt:

(i) a0 = 1, a1 = a

(ii) az+w = azaw

(iii) (az)w = azw fur alle z ∈ R und w ∈ C

(iv) (ab)z = az bz

(v) |az| = aRez

Beweis:

(i) und (ii) folgen direkt aus der Definition

(iii) log az = z log a⇒ (az)w = ew log az = e(wz) log a = awz

(iv) (ab)z

(ab)z = ez log(ab) = ez log a+z log b = ez log aez log b = azbz.

(v) |az||az|2 = az · az = az · az ii)

= az+z = a2Rez = (aRez)2

2

Bemerkung: ns = es logn ist damit wohldefiniert fur jedes s ∈ C. Die Reihe

ζ(s) =∞∑n=1

1ns, s ∈ C

konvergiert absolut fur Re s > 1. Die so definierte Riemannsche Zeta-Funktion ist Gegenstandder wohl bekanntesten, unbewiesenen mathematischen Vermutung: Seit uber 150 Jahren versuchtman zu beweisen, dass alle komplexen Nullstellen der Zetafunktion auf der Geraden Rez = 1

2liegen.

90

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Stetigkeit

3.7 Die Umkehrfunktionen der trigonometrischen Funktionen

Die bisher behandelten trigonometrischen Funktionen cos : R → [−1, 1] und sin : R → [−1, 1]sind periodisch (siehe Ubungsaufgabe) und daher zunachst nicht umkehrbar. Wenn man siejedoch auf ein geeignetes kleines Intervall einschrankt, kann man doch eine Umkehrfunktiondefinieren. Man benutzt dazu jeweils das maximale Intervall, das den Punkt x = 0 enthalt, undauf dem die Funktion noch streng monoton ist. Die Cosinusfunktion ist streng monoton auf[0, π], die Umkehrfunktion nennen wir Arcuscosinus. Die Sinusfunktion ist streng monoton auf[−π

2 ,π2 ], die Umkehrfunktion nennen wir Arcussinus. Dann gilt

arccos : [−1, 1] → [0, π], arccos(cosx) = x

arccos : [−1, 1] → [−π2,π

2], arcsin(sinx) = x

Die Tangensfunktion ist definiert als

tanx =sinxcosx

, x 6= π

2+ kπ

fur alle x ∈ C, fur die cosx 6= 0.Wir betrachten die Tangensfunktion auf dem reellen Intervall (−π

2 ,π2 ).

Behauptung: Die Tangensfunktion tan ist streng monoton wachsend auf(−π

2 ,π2

), das heißt fur

−π2 < x < y < π

2 ist tanx < tan y. Fur x ≥ 0 folgt dies aus den Ungleichungen

cosx > cos y sinx < sin y

denn dann istsinxcosx

<sin ycos y

fur x ≤ 0 benutzt man die Symmetrie tan(−x) = − tanx, die aus den entsprechenden Relationensin(−x) = − sinx und cos(−x) = cosx folgt. Da limx→π

2cosx = 0, strebt tanx fur x→ π

2 gegen+∞ und entsprechend fur x→ −π

2 gegen −∞Nach dem Zwischenwertsatz ist tan :

(−π

2 ,π2

)→ R daher surjektiv und wegen der strengen

Monotonie insgesamt also bijektiv.

Definiere den Arcustangens als Umkehrfunktion der Tangensfunktion

arctan := tan−1 : R→(−π

2,π

2

)3.8 Grenzwerte fur x→ ±∞Um die Eigenschaften von Funktionen zu beschreiben, ist es nutzlich, den Begriff des Grenz-werts zu erweitern und sogenannte uneigentliche Grenzwerte einzufuhren, bei denen f(xn)betrachtet wird fur Folgen mit xn →∞.

Definition: Sei f : R→ R eine Abbildung. Dann heißt

limx→∞

f(x) = a

91

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

uneigentlicher Grenzwert von f bei +∞, falls es fur jede Zahl ε > 0 ein x0 = x0(ε) gibt, sodass

x ≥ x0 ⇒ |f(x)− a| ≤ ε

Alternativ konvergiert fur jede Folge (xn) mit xn → +∞ fur n→∞ die Folge (f(xn)) gegen a.Uneigentliche Grenzwerte von Funktionen bei −∞ sind analog definiert.

Die Rechenregeln fur Grenzwerte ubertragen sich auch auf diesen Fall, d.h. falls beispielsweiselimx→∞ f(x) = a und limx→∞ g(x) = b beide existieren, dann ist auch limx→∞(f +g)(x) = a+bund limx→∞(f · g)(x) = ab.

Beispiele:

1.

limx→∞

1x

= 0

denn: Zu jedem vorgegebenen ε > 0 gibt es eine naturliche Zahl N , so dass 1N < ε. Jede

Folge (xn), die uneigentlich gegen∞ konvergiert liegt aber ab einem Index N0 jenseits vonN , daher ist dann 0 < xn <

1N < ε.

2.

limx→∞

x+ 1x

= 1

Satz 3.19Die Logarithmusfunktion strebt langsamer gegen +∞ als jede Wurzelfunktion, d.h.

limx→∞

log xn√x

= 0

Beweis:ey

yny→∞−→ ∞ ⇒ yn

ey=

(log x)n

x

x→∞−→ 0 ⇒ log xn√x

x→∞−→ 0

2

Falls fur x→ +∞ auch f(x)→ +∞ schreiben wir fur den uneigentlichen Grenzwert wieder

limx→∞

f(x) = +∞,

obwohl es sich streng genommen nicht um einen ”Limes“ handelt.

92

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4 Differenzierbarkeit

4.1 Differenzierbare Funktionen

Definition: Sei (a, b) ⊂ R ein offenes Intervall und x0 ∈ (a, b). Dann heißt die Funktion f :(a, b)→ R differenzierbar im Punkt x0, falls der Grenzwert

limh→0

f(x0 + h)− f(x0)h

existiert. Wir nennen diesen Grenzwert f ′(x0) die Ableitung von f an der Stelle x0.Die Funktion f heißt differenzierbar auf (a, b), falls sie in jedem Punkt x0 ∈ (a, b) differen-zierbar ist.

Die Ableitung hat eine einfache geometrische Interpretation: Fur kleines, aber endliches h gibtder Differenzenquotient f(x0+h)−f(x0)

h die Steigung der Sehne durch zwei Punkte auf demGraphen von f an. Fur h → 0 geht die Sekante in die Tangente an den Graphen im Punkt(x0, f(x0)) uber. Die Ableitung im Punkt x0 entspricht also gerade der Steigung der Tangentean den Graphen von f im Punkt (x0, f(x0)).

Tangente

y=f(x)

y Sekante

xx 0x

Abbildung 4.1: Zur Definition der Ableitung

Anders ausgedruckt liefert eine Gerade mit Steigung f ′(x0) durch den Punkt (x0, f(x0)) die

93

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

bestmogliche lineare Approximation an die Funktion f in der Nahe des Punktes x0.Andere Schreibweisen fur die Ableitung sind d

dxf(x0) oder f(x).

Beispiele:

1. Die Funktion f : R → R mit f(x) = xn ist differenzierbar in x0 mit Ableitung f ′(x0) =nxn−1

0 , denn mit Hilfe des Binomischen Satzes 1.5 erhalt man

limh→0

(x0 + h)n − xn0h

= limh→0

(n0

)xn0 +

(n1

)xn−1

0 h+(n2

)xn−2

0 h2 + . . .(nn

)hn − xn0

h

= limh→0

(nxn−1

0 +(n

2

)xn−2

0 h+ . . .

(n

n

)hn−1

)= nxn−1

0 .

2. Die Betragsfunktion b(x) = |x| ist nicht differenzierbar in x0 = 0, denn

|h| − |0|h

=|h|h

={

+1 fur h > 0−1 fur h < 0

Der Grenzwert fur h→ 0 existiert daher nicht.

3. Die Exponentialfunktion ist differenzierbar in x0 = 0, denn in den Ubungen hatten wirschon den Grenzwert

limh→0

eh − e0

h= lim

h→0

eh − 1h

= 1

berechnet. In einem beliebigen x0 ∈ R ist die Ableitung dann

limh→0

ex0+h − ex0

h= lim

h→0ex0

eh − 1h

= ex0 .

Eine alternative Charakterisierung der Differenzierbarkeit erhalt man mit Hilfe der in der Physikhaufig verwendeten Landauschen Ordnungssymbole.Eine Funktion f : (a, b) → R ist differenzierbar im Punkt x0 ∈ (a, b), wenn es eine Zahl α ∈ Rgibt, so dass

f(x0 + h) = f(x0) + αh+ O(h).

Es ist dann f ′(x0) = α. Das Landausche Symbol O(h) (”klein-O von h“) bedeutet dabei, dassder Rest r(h) := f(x0 + h) − f(x0) − αh selbst dann noch gegen 0 konvergiert, wenn man ihndurch h dividiert. Der Rest r(h) konvergiert fur h→ 0 also ”schneller“ gegen 0 als h.

Satz 4.1 [Differenzierbarkeit ⇒ Stetigkeit]Sei f : (a, b)→ R eine differenzierbare Funktion und x0 ∈ (a, b). Dann ist f in x0 stetig.

Beweis: Aus der Darstellung

f(x0 + h) = f(x0) + αh+ O(h).

folgt, dass limh→0

f(x0 + h) = f(x0). Also ist f stetig in x0. 2

94

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Differenzierbarkeit

4.2 Differenzierbarkeitsregeln

Satz 4.2Sei (a, b) ⊂ R ein Intervall und f, g : (a, b)→ R im Punkt x0 differenzierbare Funktionen. Dannsind auch f + g und f · g differenzierbar in x0 und es ist

(f + g)′(x0) = f ′(x0) + g′(x0)(f · g)′(x0) = f ′(x0) · g(x0) + f(x0) · g′(x0) (Produktregel)

Falls g(x0) 6= 0, dann ist auch f/g in x0 differenzierbar und es gilt die Quotientenregel(f

g

)′(x0) =

f ′(x0) · g(x0)− f(x0) · g′(x0)g2(x0)

Beweis: Berechne einfach(f + g)(x0 + h)− (f + g)(x0)

h=

f(x0 + h)− f(x0)h

+g(x0 + h)− g(x0)

h→ f ′(x0) + g′(x0)

(fg)(x0 + h)− (fg)(x0)h

= f(x0 + h)g(x0 + h)− g(x0)

h+f(x0 + h)− f(x0)

hg(x0)

→ f(x0)g′(x0) + f ′(x0)g(x0)

Zum Beweis der Quotientenregel sei g(x0) 6= 0.Da g stetig ist an der Stelle x0 existiert ein δ > 0 so dass g(x) 6= 0 fur allle x mit |x− x0| < δ.Daher ist f/g zumindest auf dem Intervall (x0 − δ, x0 + δ) definiert. Fur |h| < δ ist dann(

f

g

)′(x0) = lim

h→0

1h

(f(x0 + h)g(x0 + h)

− f(x0)g(x0)

)= lim

h→0

1h

f(x0 + h)g(x0)− f(x0)g(x0 + h)g(x0 + h)g(x0)

= limh→0

f(x0 + h)− f(x0)h

g(x0)g(x0 + h)g(x0)

− f(x0)g(x0 + h)g(x0)

g(x0 + h)− g(x0)h

= f ′(x0) · 1g(x0)

− f(x0)g(x0)2

· g′(x0)

2

Satz 4.3 [Kettenregel]Seien I, J ⊂ R offene Intervalle, f : I → J differenzierbar an der Stelle x0 ∈ I und g : J → Rdifferenzierbar an der Stelle y0 = f(x0) ∈ J . Dann ist auch g ◦ f : I → R differenzierbar an derStelle x0 und es ist

(g ◦ f)′(x0) = g′(f(x0)) · f ′(x0).

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

Beweis:Man konnte zunachst versuchen, den Differenzenquotienten wie folgt zu berechnen:

limh→0

g(f(x0 + h))− g(f(x0)h

= limh→0

g(f(x0 + h))− g(f(x0)f(x0 + h)− f(x0)

f(x0 + h)− f(x0)h

→ g′(f(x0)) f ′(x0)

Das ist aber leider nicht ganz sauber, denn es konnte f(x0 +h)− f(x0) = 0 sein. Dann ware dieUmformung gar nicht erlaubt.Um die Idee zu retten, behilft man sich mit einem Kniff und definiert die Funktion g durch

g(y) =

g(y)− g(f(x0))y − f(x0)

fur y 6= f(x0)

g′(f(x0)) fur y = f(x0)

Da g im Punkt f(x0) differenzierbar ist, ist die Funktion g stetig und es gilt fur alle y (auch fury = f(x0))

g(y) (y − f(x0)) = g(y)− g(f(x0)).

Speziell fur y = f(x0 + h) lautet dieser Ausdruck dann

g(f(x0 + h)) (f(x0 + h)− f(x0)) = g(f(x0 + h))− g(f(x0)).

Nach Division durch h ergibt sich dann

g(f(x0 + h))f(x0 + h)− f(x0)

h=g(f(x0 + h))− g(f(x0))

h.

Fur h→ 0 konvergieren alle drei Terme und wir erhalten

g(f(x0))f ′(x0) = (g ◦ f)′(x0).

Da g(f(x0)) = g′(f(x0)) folgt daraus dann die Behauptung. 2

Beispiel: Die in der statistischen Physik bei der Maxwell-Boltzmann-Verteilung auftretendeFunktion f(x) = x2e−x

2lasst sich unter Anwendung der Produkt- und der Kettenregel differen-

zieren. Dazu schreiben wir k(x) = e−x2

als Verkettung k = h ◦ g mit h(x) = ex und g(x) = −x2.Diese hat daher die Ableitung k′(x) = −2xe−x

2. Insgesamt ergibt sich als Ableitung dann mit

Hilfe der Produktregel f ′(x) = 2x(1− x2)e−x2.

4.3 Differenzierbarkeit von Umkehrfunktionen

Satz 4.4Sei f : [a, b] → [c, d] eine stetige, streng monotone Funktion und g = f−1 : [c, d] → [a, b] diezugehorige Umkehrfunktion. Falls f ′(x0) 6= 0, dann ist f−1 in y0 := f(x0) differenzierbar mitAbleitung

g′(y0) = g′(f(x0)) =1

f ′(x0)=

1f ′(g(y0))

.

96

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Differenzierbarkeit

Bemerkung: Differenziert man beide Seiten der Gleichung g(f(x)) = x mit Hilfe der Ketten-regel erhalt man g′(f(x0))f ′(x0) = 1 und damit g′(y0) = 1

f ′(x0) . So kann man oft die Ableitungder Umkehrfunktion bestimmen. Ein Beweis des Satzes ist dies allerdings noch nicht, denn wirhaben hier schon vorausgesetzt, dass die Umkehrfunktion differenzierbar ist.

Beweis: Im vorigen Kapitel bzw. im Tutorium hatten wir gesehen, dass die Umkehrfunktion gan der Stelle y0 zumindest stetig ist. Nun wollen wir zeigen, dass g sogar differenzierbar an derStelle y0 = f(x0) ist, falls f ′(x0) 6= 0.Wir bilden dazu den Differenzenquotienten

g(y)− g(y0)y − y0

fur y 6= y0 = f(x0). Wir konnen diesen Ausdruck auch schreiben als

g(f(x))− g(f(x0))f(x)− f(x0)

=x− x0

f(x)− f(x0).

Da f in x0 differenzierbar ist, existiert der Grenzwert

limx→x0

x− x0

f(x)− f(x0)=

1f ′(x0)

.

Wegen der Stetigkeit von f bedeutet y → y0, dass auch x→ x0 konvergiert. Also ist

limy→y0

g(y)− g(y0)y − y0

= limx→x0

x− x0

f(x)− f(x0)=

1f ′(x0)

=1

f ′(f−1(y0))

die gesuchte Ableitung von g in y0. 2

Beispiel: Wir betrachten die Exponentialfunktion f(x) = ex. Diese ist als Funktion von R nach(0,∞) invertierbar mit der Logarithmusfunktion g(y) = log y als Ableitung. Die Ableitung derLogarithmusfunktion ist also

g′(y) =1

f ′(g(y))=

1f(g(y))

=1y.

oder kurz ddy log y = (log)′(y) = 1

y .

Als Konsequenz zeigen wir noch

Satz 4.5Fur alle x ∈ R ist

ex = limn→∞

(1 +

x

n

)n.

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

Beweis:Die Ableitung der Logarithmusfunktion log x in x0 = 1 ist 1. Nach der Definition der Ableitungbedeutet dies

limh→0

log(1 + h)h

= limh→0

log(1 + h)− log 1h

= 1

Insbesondere ergibt sich dieser Grenzwert, wenn wir h speziell die Folge x1 ,

x2 ,

x3 , . . . durchlaufen

lassen, also

limn→∞

log(1 + x

n

)x/n

= limn→∞

n log(1 + x

n

)x

= 1.

Nach Multiplikation mit x ergibt sich daraus

limn→∞

(n log

(1 +

x

n

))= lim

n→∞log(

1 +x

n

)n= x

Man erhalt die Behauptung, wenn man auf beiden Seiten der Gleichung die Exponentialfunktionanwendet. Da die Exponentialfunktion stetig ist, gilt fur die linke Seite der Gleichung

exp(

limn→∞

(n log

(1 +

x

n

)))= lim

n→∞exp

(n log

(1 +

x

n

))= lim

n→∞

(1 +

x

n

)n.

2

Drei weitere Beispiele zur Differentiation.

Beispiele:

1. Potenzfunktionen f : (0,∞) → (0,∞), f(x) := xa := ea log x, a ∈ R lassen sich mit Hilfeder Kettenregel differenzieren, denn es ist f := g ◦ h ◦ k, wobei

k(x) := log x h(y) := ay und g(z) := ez.

Daher ist

f ′(x) = g′(h ◦ k(x))h′(k(x))k′(x) = g(h ◦ k(x))a

x= xa

a

x⇒ f ′(x) = axa−1

2. Ableitung von Sinus und CosinusMan kann die Definition der Differenzierbarkeit auch ausweiten auf komplexwertige Funk-tionen einer reellen Variablen x. Die Funktion f : (a, b)→ C ist dann (reell) differenzierbarim Punkt x0, falls der Grenzwert

limh→0

f(x0 + h)− f(x0)h

existiert. Alle Rechenregeln fur Ableitungen gelten auch in diesem Fall. Dann ist

(sinx)′ =(eix − e−ix

2i

)′=ieix + ie−ix

2i=eix + e−ix

2= cosx

und

(cosx)′ =(eix + e−ix

2

)′=ieix − ie−ix

2= −e

ix − e−ix

2i= − sinx.

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Differenzierbarkeit

3. Die Ableitung der Tangens- und Arcustangensfunktion

• tan′(x) erhalt man aus der Quotientenregel

tan′(x) =sin′ x cosx− sinx cos′ x

cos2 x

=cos2 x+ sin2 x

cos2 x

=1

cos2 x= 1 + tan2 x

• Durch Differenzieren der Gleichung tan(arctan y) = y mit der Kettenregel bestimmtman die Ableitung der Arcustangensfunktion:

tan′(arctan y) arctan′(y) = 1(1 + tan2(arctan y)

)arctan′ y = 1

(1 + y2) arctan′ y = 1

⇒ arctan′ y =1

1 + y2

4.4 Extrema und Mittelwertsatz der Differentialrechnung

Definition:Sei I ⊂ R ein Intervall und f : I → R eine stetige Funktion.Ein Punkt x0 ∈ I heißt lokales Maximum (bzw. lokales Minimum) von f , wenn es eineKonstante δ > 0 gibt, so dass fur alle x ∈ R gilt:

|x− x0| < δ ⇒{x ∈ If(x) ≤ f(x0) (bzw. f(x) ≥ f(x0))

Ein Punkt x0 ∈ I heißt lokales Extremum von f , wenn x0 entweder ein lokales Maximumoder ein lokales Minimum ist.

Beispiel: Fur die Funktion f : R→ R mit f(x) = x4 − x2 ist x0 = 0 ein lokales Maximum.

Satz 4.6Sei I ⊂ R ein Intervall, f : I → R stetig, x0 ∈ I ein lokales Extremum. Falls f an der Stelle x0

differenzierbar ist, dann ist f ′(x0) = 0.

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

Beweis: Wir zeigen die Aussage fur den Fall, dass x0 ein lokales Minimum ist. Der Beweis furein lokales Maximum ergibt sich dann aus der Tatsache, dass ein lokales Maximum von f einlokales Minimum der Funktion −f ist.Es sei δ > 0 so klein, dass f(x) ≥ f(x0) fur alle x im Intervall (x0 − δ, x0 + δ). Wenn wir n großgenug wahlen, dann liegt x0 − 1

n und x0 + 1n in diesem Intervall (x0 − δ, x0 + δ). Nun berechnen

wir die Ableitung der Funktion f in x0 auf zwei Arten. Einerseits ist

f ′(x0) = limn→∞

f(x0 + 1n)− f(x0)1n

≥ 0,

da sowohl Zahler als auch Nenner nicht-negativ sind. Andererseits ist

f ′(x0) = limn→∞

f(x0 − 1n)− f(x0)− 1n

≤ 0,

da hier der Zahler nicht-negativ, der Nenner aber immer negativ ist. Beide Ungleichungen zu-sammen konnen nur erfullt sein, wenn f ′(x0) = 0 ist. 2

Definition: Sei f : I → R differenzierbar.x0 ∈ I heißt kritischer Punkt von f , wenn f ′(x0) = 0.

Beispiele:

1. f(x) = x4 − x2

f ′(x) = 4x3 − 2x = 0 ⇒ 2x(2x2 − 1) = 0 ⇒ 2x2 = 1

⇒ x1 = 0, x2,3 = ± 1√2

2. f(x) = x3

Hier ist f ′(0) = 0, d.h. x0 = 0 ist ein kritischer Punkt. Dort ist aber kein lokales Extremum,die Bedingung f ′(x0) = 0 ist nur notwendig, aber nicht hinreichend !

Satz 4.7 [Satz von Rolle]Sei f : [a, b]→ R differenzierbar auf (a, b), stetig auf [a, b] und sei f(a) = f(b).Dann existiert ein ξ ∈ (a, b) mit f ′(ξ) = 0.

Beweis: Wir betrachten drei mogliche Falle.

• Fall 1: f ist konstant auf dem Intervall [a, b]

⇒ f ′(ξ) = 0 ∀ξ ∈ (a, b)

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Differenzierbarkeit

• Fall 2: Es gibt ein x0 ∈ (a, b) mit f(x0) > f(a) = f(b) Nach Kapitel 3 nimmt die stetigeFunktion f auf dem kompakten Intervall [a, b] ihr Maximum an, es existiert also ein ξ ∈[a, b] mit f(ξ) ≥ f(x)∀x ∈ [a, b]. Da ξ ∈ (a, b) und nicht am Rand des Intervalls [a, b] liegt,ist ξ ein lokales Maximum. Nach Satz 4.6 ist dann f ′(ξ) = 0.

• Fall 3: Es existiert ein x0 ∈ (a, b) mit f(x0) < f(a) = f(b). Dann argumentiert man ahnlichwie im 2. Fall, denn die stetige Funktion f nimmt auf dem kompakten Intervall [a, b] ihrMinimum an in einem Punkt ξ. Dieser muss im offenen Intervall (a, b) liegen und ist daherein lokales Minimum. Also ist dort f ′(ξ) = 0.

2

Daraus folgt direkt einer der wichtigsten Satze der Analysis.

Satz 4.8 [Mittelwertsatz]Sei f : [a, b]→ R stetig und differenzierbar an der Stelle x ∈ (a, b).

⇒ ∃ξ ∈ (a, b) : f ′(ξ) =f(b)− f(a)

b− a.

y=f(x)

y

xba ξ

Abbildung 4.2: Zum Mittelwertsatz

101

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

Beweis:Definiere eine Hilfsfunktion g : [a, b]→ R durch

g(x) := f(x)− (x− a) · f(b)− f(a)b− a

Dann ist g stetig auf [a, b] und differenzierbar auf (a, b) mit

g(a) = f(a)

g(b) = f(b)− f(b)− f(a)b− a

(b− a) = f(a)

Wir konnen also den Satz von Rolle anwenden. Daher existiert ein ξ ∈ (a, b) mit g′(ξ) = 0. Andieser Stelle ξ ist dann f ′(ξ)− f(b)−f(a)

b−a = 0. 2

Lemma:

Sei I ein Intervall und f : I → R eine differenzierbare Funktion. Falls f ′(x) = 0 fur allex ∈ I, dann ist f konstant auf dem Intervall I.

Beweis: Ubungsaufgabe

Beispiel: Sei f : R→ R differenzierbar und f ′ = f, f(0) = 1. Dann ist f(x) = ex fur alle x ∈ R.denn: Setze g(x) := f(x)e−x. Dann ist g′(x) = f ′(x)e−x − f(x)e−x = 0. Also muss g konstantsein, d.h. g(x) ≡ const = g(0) = 1 fur alle x ∈ R. Daraus folgt wiederum f(x)e−x = 1 fur alle xund daher f(x) = ex.

Satz 4.9Sei I ⊂ R ein Intervall und f : I → R differenzierbar. Falls |f ′(x)| ≤ L ist fur eine KonstanteL > 0 und alle x ∈ I, dann ist f Lipschitz-stetig mit Lipschitz-Konstante L, das heißt fur allex0, x1 ∈ I gilt die Abschatzung

|f(x1)− f(x0)| ≤ L|x1 − x0|.

Beweis: Ohne Einschrankung sei x0 < x1. Nach dem Mittelwertsatz existiert ein ξ ∈ (x0, x1)mit

f ′(ξ) =f(x1)− f(x0)

x1 − x0.

Also ist ∣∣∣∣f(x1)− f(x0)x1 − x0

∣∣∣∣ ≤ LDaraus folgt die Behauptung. 2

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Differenzierbarkeit

Konsequenz: FehlerfortpflanzungMisst man eine physikalische Große und rechnet mit dem fehlerbehafteten Messwert xm stattdes exakten Wertes xe weiter, dann kann der Fehler dabei hochstens um den Faktor L verstarktwerden, wenn die Abschatzung |f ′(x)| ≤ L fur alle x gilt, denn es ist der (absolute) Fehler

|f(xm)− f(xe)| ≤ L · |xm − xe|

wobei |xm − xe| der ursprungliche absolute Messfehler ist.

Beispiel:Die Periode eines Fadenpendels der Lange ` ist fur kleine Auslenkungen in sehr guter NaherungT (`) = 2π

√`g , wobei g die Erdbeschleunigung ist. Ein Messfehler bei der Fadenlange wirkt sich

wie folgt aus: Wird statt `exakt die Naherung `mess zur Berechnung der Periode verwendet, erhaltman dort den Fehler

T (`exakt)− T (`mess) = 2π√`exakt −

√`mess√

g.

Nach dem Mittelwertsatz ist dann

T (`exakt)− T (`mess)`exakt − `exakt

= T ′(ξ)

mit ξ zwischen `exakt und `mess. Damit ist

|T (`exakt)− T (`mess)| = π1√gξ· |`exakt − `mess|.

Der relative Messfehler|`exakt − `mess|

`exakt

fuhrt auf einen relativen Fehler

|T (`exakt)− T (`mess)|T (`exakt)

=π√g

2π√g`exaktξ

· |`exakt − `mess| ≈|`exakt − `mess|

2`exakt

bei der Periode, der nur noch halb so groß ist.

Satz 4.10Sei I ⊂ R ein Intervall und f : I → R eine differenzierbare Funktion. Dann gilt:

(i) f ′(x) ≥ 0 fur alle x ∈ I ⇔ f ist monoton wachsend, d.h. x < y ⇒ f(x) ≤ f(y)

(ii) f ′(x) > 0 fur alle x ∈ I ⇒ f ist streng monoton wachsend, d.h. x < y ⇒ f(x) < f(y)

(i) f ′(x) ≤ 0 fur alle x ∈ I ⇔ f ist monoton fallend, d.h. x < y ⇒ f(x) ≥ f(y)

(ii) f ′(x) < 0 fur alle x ∈ I ⇒ f ist streng monoton fallend, d.h. x < y ⇒ f(x) > f(y)

Beweis:

103

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

(i) ”⇒“: Seien x, y ∈ I mit x < y. Dann gilt nach dem Mittelwertsatz fur ein ξ ∈ (x, y)

f ′(ξ) =f(y)− f(x)

y − x

Da f ′(ξ) ≥ 0 und y − x > 0, muss f(y)− f(x) ≥ 0 sein.

”⇐“: Sei x0 ∈ I beliebig. Wahle eine Folge (hn)n∈N mit hn > 0 und limn→∞ hn = 0. Dannist f(x0 + hn)− f(x0) ≥ 0. Da f in x0 differenzierbar ist, existiert der Grenzwert

f ′(x) = limn→∞

f(x0 + hn)− f(x0)h︸ ︷︷ ︸≥0

≥ 0

falls x0 nicht der rechte Randpunkt ist.

(ii), (iii) und (iv) zeigt man genauso.

2

Beispiele:

1. Die Exponentialfunktion f(x) = ex hat die Ableitung f ′(x) = ex > 0 und ist daher strengmonoton wachsend.

2. Die Logarithmusfunktion `(x) = log x hat auf (0,∞) die Ableitung `′(x) = 1x > 0 und ist

dort streng monoton wachsend.

3. Die Sinusfunktion f(x) = sinx hat die Ableitung f ′(x) = cosx, die auf dem Intervall(−π

2 ,π2 ) positiv ist und ist daher auf diesem Intervall streng monoton wachsend.

Definition: Sei (a, b) ⊂ R ein Intervall. Die Funktion f : (a, b) → R heißt zweimal diffe-renzierbar, wenn f differenzierbar ist und die die Ableitung f ′ ebenfalls eine differenzierbareFunktion ist. Wir schreiben dann f ′′ fur (f ′)′.

Satz 4.11 [Lokale Extrema]Sei f : (a, b)→ R zweimal differenzierbar und f ′′ eine stetige Funktion. Falls

f ′(x0) = 0 und f ′′(x0) < 0

fur ein x0 ∈ (a, b), dann hat f in x0 ein striktes lokales Maximum, d.h. es gibt ein ε > 0, sodass gilt:

|x− x0| ≤ ε ⇒ f(x) < f(x0).

Analog hat f ein striktes lokales Minimum in x0, falls f ′(x0) = 0 und f ′′(x0) > 0.

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Differenzierbarkeit

Beweis: Wir betrachten nur den Fall eines Maximums. Da f ′′(x0) < 0 gibt es eine Umgebung(x0− ε, x0 + ε) in der f ′′ negativ ist (siehe Ubungsaufgabe S33). Also ist f ′ in dieser Umgebungstreng monoton fallend. Da f ′(x0) = 0 ist also f ′(x) > 0 fur x ∈ (x0 − ε, x0) und f ′(x) < 0fur x ∈ (x0, x0 + ε). Also ist f links von x0 streng monoton wachsend und rechts von x0 strengmonoton fallend. 2

4.5 Die Regel von L’Hospital

Mit Hilfe der Differenzierbarkeit und des Mittelwertsatzes lassen sich auch Grenzwerte berech-nen, die sonst schwierig oder gar nicht zuganglich sind. Dazu gehoren insbesondere Grenzwerteder Typen ”

00“, ”

∞∞“, ”0 · ∞“ und ”10“. Sie lassen sich mit Hilfe der Regel von L’Hospital auf

andere Grenzwerte zuruckfuhren, die in vielen Fallen leichter zu berechnen sind (wenn mansich geschickt anstellt...). Die Regel von L’Hospital stammen interessanterweise nicht von jenemMarquis de L’Hospital (1661-1704), nach dem sie benannt sind, sondern von Johann Bernoulli.L’Hospital kaufte sie von Bernoulli und veroffentlichte sie dann unter seinem Namen.

Definition:Sei f : (a, b) → R auf einem offenen Intervall definiert. Dann existiert fur f der linksseitigeGrenzwert c := lim

x→b−f(x), falls fur jede Folge (xn)n∈N mit xn ≤ b und lim

n→∞xn = b gilt:

limn→∞

f(xn) = c. Andere Schreibweisen fur linksseitige Grenzwerte sind limx↗b

f(x) und limx→b−0

f(x).

Analog existiert der rechtsseitige Grenzwert c := limx→a+

f(x), falls fur jede Folge (xn)n∈N mit

xn ≥ a und limn→∞

xn = a gilt: limn→∞

f(xn) = c. Andere Schreibweisen fur rechtsseitige Grenzwerte

sind limx↘a

f(x) und limx→a+0

f(x).

Satz 4.12 [Regel von l’Hospital]Seien f, g : (a, b)→ R differenzierbare Funktionen, g(x) 6= 0 fur alle x ∈ (a, b) und

limx→b

f(x) = 0 = limx→b

g(x).

Falls g′(x) 6= 0∀x ∈ (a, b) und der linksseitige Limes von f ′

g′ fur x→ b existiert, dann konvergiert

auch fg fur x→ b und es ist

limx→b−

f(x)g(x)

= limx→b−

f ′(x)g′(x)

.

Beweis:Die Tatsache, dass c := lim

x→b−f ′(x)g′(x) existiert bedeutet, dass es zu jedem ε > 0 ein δ > 0 gibt mit

der Eigenschaft, dass

b− δ < x < b ⇒∣∣∣∣f ′(x)g′(x)

− c∣∣∣∣ < ε

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

Wir wollen zeigen, dass fur dasselbe δ gilt:

b− δ < x < b ⇒∣∣∣∣f(x)g(x)

− c∣∣∣∣ < ε.

Wahle dazu x ∈ R, so dass b− δ < x < b.Definiere eine Funktion h : (x, b)→ R durch

h(y) := f(x)g(y)− f(y)g(x)

Diese Funktion kann man stetig fortsetzen, indem man h(b) := 0 setzt, da ja limy→b−

f(y) =

limy→b−

g(y) = 0. Also ist h(x) = 0 = h(b). Da h auf dem Intervall (x, b) bezuglich y(!) differenzier-

bar ist, kann man den Satz von Rolle anwenden. Es existiert also ein ξ ∈ (x, b) mit h′(ξ) = 0

⇒ f(x)g′(ξ) = f ′(ξ)g(x)

⇒∣∣∣∣f(x)g(x)

− c∣∣∣∣ =

∣∣∣∣f ′(ξ)g′(ξ)− c∣∣∣∣ < ε

da |ξ − b| < δ. Da dieses Argument fur beliebige x ∈ (b− δ, b) gilt, ist demnach∣∣∣∣f(x)g(x)

− c∣∣∣∣ < ε

fur alle x ∈ (b− δ, b). 2

Bemerkung:Es gibt einige weitere Varianten dieses Satzes, die man ganz analog beweisen kann. Er gilt auchfur einen rechtsseitigen Grenzwert limx→a

f(x)g(x) oder falls lim

x→b−f(x) = lim

x→b−g(x) = ∞ beide

uneigentlich gegen +∞ konvergieren.

Beispiele:

1. Verhalten der Sinusfunktion nahe 0:

limx→0

sinxx

= limx→0

cosx1

= 1

2. Gebrochen-rationale Funktionen

limx→1+

4x2 + 5x− 93x3 − 7x+ 4

= limx→1+

8x+ 59x2 − 7

=132

3. Die im Tutorium eingefuhrten Hyperbelfunktionen sind definiert als

sinhx =ex − e−x

2, coshx =

ex + e−x

2, und tanhx =

sinhxcoshx

.

Ma rechnet leicht nach, dass (sinhx)′ = cosh und (coshx)′ = sinhx. Daher ist

(tanhx)′ =(sinhx)′ coshx− sinhx (coshx)′

cosh2 x= 1− tanh2 x

limx→0

log cosh(αx)log cosh(βx)

= limx→0

α tanh(αx)β tanh(βx)

= limx→0

α2(1− tanh2(αx))β2(1− tanh2(βx))

=α2

β2

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Differenzierbarkeit

4. Auch fur Grenzwerte des Typs ”0 · ∞“ kann man die L’Hospitalsche Regel anwenden:

limx→0

(x · log x) = limx→0

log x1/x

= limx→0

1/x−1/x2

= limx→0

(−x) = 0.

5. Fur Grenzwerte des Typs 1∞ kann es hilfreich sein, den Logarithmus des betrachtetenAusdrucks zu bilden. Um lim

x→0(cosx)1/x

2zu berechnen, betrachtet man zunachst

limx→0

log(

(cosx)1/x2)

= limx→0

1x2

log (cosx)

= limx→0

log (cosx)x2

= limx→0

− sinx2x cosx

= limx→0

− cosx2 cosx− 2x sinx

= −12

Wegen der Stetigkeit der Exponentialfunktion folgt daraus

limx→0

(cosx)1/x2

= e−1/2 =1√e.

4.6 Hohere Ableitungen und Taylor-Polynome

Hohere Ableitungen lassen sich am einfachsten rekursiv definieren.

Definition:Sei I ⊂ R ein Intervall.f : I → R heißt n-mal differenzierbar, wenn f (n−1)-mal differenzierbar ist und die (n−1)-teAbleitung f (n−1) differenzierbar ist.Eine Funktion f heißt stetig differenzierbar auf [a, b], falls f ′ stetig auf [a, b] ist und n-malstetig differenzierbar, falls f (n) stetig auf [a, b] ist.

Notation: f (n) : I → R ist die n-te Ableitung von f . Manchmal schreibt man auch dnfdxn .

Die Ableitungen f ′, f ′′, ..., f (n−1) einer n-mal differenzierbaren Funktion sind alle stetig, sonstkonnte f gar nicht n-mal differenzierbar sein.

Beispiel: Sei f : R→ R differenzierbar mit

f(x) :={x2 sin 1

x x 6= 00 x = 0

a) f ist differenzierbar in x = 0 mit f ′(0) = 0 denn∣∣∣∣f(h)− f(0)h

∣∣∣∣ =∣∣∣∣h sin

1h

∣∣∣∣ ≤ |h| h→0−→ 0

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

b) Fur x 6= 0 ist f ′(x) = 2x sin 1x − cos 1

x⇒ f ′ ist unstetig an der Stelle x0 = 0⇒ f ist differenzierbar, aber nicht stetig differenzierbar.

Mit Hilfe der Ableitungen sind auch einige wichtige Funktionenraume definiert, die uns imLauf der Vorlesung noch haufig begegnen werden. Sie enthalten jeweils Funktionen mit einerbestimmten ”Glattheit“.

C0([a, b]) := {f : [a, b]→ R; f ist stetig}Cn([a, b]) := {f : [a, b]→ R; f ist n-mal stetig differenzierbar}C∞([a, b]) := {f : [a, b]→ R; f ist beliebig oft stetig differenzierbar}

Zum Beispiel gehoren alle Polynome, die Exponentialfunktion und die trigonometrischen Funk-tionen zu C∞(R).Die Frage, ob eine Funktion f in einem Punkt x0 differenzierbar ist, hing damit zusammen, obsie sich in einer Umgebung von x0 gut durch eine lineare Funktion (namlich durch f(x0) + (x−x0) · f ′(x0)) approximieren lasst. Genauso kann man sich fragen, wie man eine Funktion f inder Nahe eines Punktes durch eine quadratische oder kubische Funktion oder allgemein durchein Polynom n-ten Grades moglichst gut approximiert. Wir beginnen zum Warmwerden mitFunktionen f , die bereits ein Polynom sind.

Satz 4.13Sei f : R→ R ein Polynom n-ten Grades und sei x0 ∈ R. Dann gilt die Darstellung

f(x) =n∑k=0

f (k)(x0)k!

(x− x0)k.

Beweis: Wir konnen ein Polynom n-ten Grades immer in der Form

f(x) =n∑k=0

ak(x− x0)k

schreiben. Wertet man diese Funktion bei x0 aus, erhalt man a0 = f(x0). Differenziert man dieGleichung ergibt sich

f ′(x) =n∑k=1

akk(x− x0)k−1,

also f ′(x0) = a1. Genauso erhalt man fur die m-te Ableitung die Darstellung

f (m)(x) =n∑

k=m

akk(k − 1) . . . (k −m+ 1)(x− x0)k−m,

und wenn man x = x0 einsetzt daraus

f (m)(x0) = amm!.

2

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Differenzierbarkeit

Satz 4.14 [Taylor-Formel]Die Funktion f : [a, b] → R sei im Innern des Intervalls [a, b] (n + 1)-mal stetig differenzierbarund die ersten n Ableitungen seien stetig auf [a, b]. Dann gibt es eine Funktion ξ ∈ (a, b)), sodass

f(x) =n∑k=0

f (k)(a)k!

(x− a)k +f (n+1)(ξ)(n+ 1)!

(x− a)n+1.

Definition:Das Polynom

Tn(x; f, a) :=n∑k=0

f (k)(a)k!

(x− a)k

nennt man das n-te Taylor-Polynom von f zum Entwicklungspunkt a.Den Term

Rn+1(x) :=f (n+1)(ξ)(n+ 1)!

(ξ − a)n+1,

der den Unterschied zwischen f(x) und Tn(x; f, a) misst, also den Fehler der Approximationvon f durch Tn, nennt man Lagrange-Restglied. Da ξ zwischen a und x liegt, gilt fur dasRestglied die Abschatzung

|Rn+1(x)| ≤ 1(n− 1)!

supa<ξ<x

∣∣∣f (n+1)(ξ)∣∣∣ · |x− a|n+1.

Wenn man die (n+ 1)-te Ableitung auf dem Intervall [a, x] abschatzen kann, hat man also einenAnhaltspunkt dafur, wie genau f durch das n-te Taylor-Polynom approximiert wird.Beweis des Satzes: Wir halten x fest und betrachten die Funktion

g(t) = f(x)− f(t)− f ′(t)(x− t)− 12!f ′′(t)(x− t)2 − . . .− 1

n!f (n)(t)(x− t)n − α(x− t)n+1

(n+ 1)!

wobei α so gewahlt ist, dass g(a) = 0 ist. Außerdem ist g(x) = 0, wie man schnell nachpruft. DieFunktion g ist differenzierbar im Intervall (a, x), da f als (n+1)-mal differenzierbar vorausgesetztwurde und der letzte Term als Polynom beliebig oft differenzierbar ist.Die Ableitung ist

g′(t) = −f ′(t) + f ′(t)− f ′′(t)(x− t) +12!f ′′(t)(2(x− t))− 1

2!f ′′′(t)(x− t)2 − . . .

− 1n!f (n)(t)(n(x− t)n−1)− 1

n!f (n+1)(t)(x− t)n + α

(x− t)n

n!

= − 1n!f (n+1)(t)(x− t)n + α

(x− t)n

n!

Nach dem Satz von Rolle existiert ein ξ zwischen a und x mit der Eigenschaft g′(ξ) = 0, also

1n!f (n+1)(c)(x− c)n = α

(x− c)n

n!.

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

Lost man diese Gleichung nach α auf, erhalt man α = f (n+1)(c). Setzt man dies wiederum indie Definition von g ein und wertet g an der Stelle t = a aus, ergibt sich die Gleichung

0 = g(a) = f(x)−f(a)−f ′(a)(x−a)− 12!f ′′(a)(x−a)2−. . .− 1

n!f (n)(a)(x−a)n−f (n+1)(c)

(x− a)n+1

(n+ 1)!

Dies ist genau die gewunschte Darstellung. 2

Beispiele:

1. Die Taylor-Polynome der Funktion f(x) = ex zum Entwicklungspunkt a = 0 erhalt man,indem man die Ableitung der Exponentialfunktion in a = 0 berechnet. Da (ex)′ = ex

sind auch alle hoheren Ableitungen identisch und es ist dn

dxn ex(0) = 1 fur alle n ∈ N. Das

Taylor-Polynom n-ter Ordnung ist also

Tn(x) =n∑k=0

1k!xk

und stimmt mit den ersten n + 1 Gliedern der Potenzreihe von ex uberein. Um den ma-ximalen Fehler fur x aus einem Intervall [0,M ] abzuschatzen benutzen wir das Lagrange-Restglied. Es ist demnach

|f(x)− Tn(x)| =≤ 1(n+ 1)!

sup0≤c≤M

ecxn+1

Fur x ∈ [0, 1] ist der maximale Fehler also

|f(x)− Tn(x)| =≤ e

(n+ 1)!.

Man kann die Exponentialfunktion auch um a = 1 (oder irgendeine andere Stelle) entwi-ckeln, was dann auf

Tn(x) = e+e

1!(x− 1) +

e

2!(x− 1)2 +

e

3!(x− 1)3 + . . .+

e

n!(x− 1)n

fuhrt.

2. Wir wollen die Taylor-Polynome der durch w(x) =√

1 + x = (1 + x)1/2 gegebenen Funk-tion w : [0,∞) → R mit Entwicklungspunkt a = 0 berechnen. Dazu benotigen wir dieAbleitungen von w. Zunachst ist

w′(x) =12

(1 + x)−1/2, w′′(x) = −12· 1

2(1 + x)−3/2, w′′′(x) =

12· 1

2· 3

2(1 + x)−5/2.

Es ist nun nicht mehr schwierig, zu erraten, wie es weitergeht:

w(k+1)(x) =(−2k − 1

2

)w(k)(x)1 + x

Damit erhalt man als Taylor-Polynome zur Funktion w im Entwicklungspunkt a = 0:

Tn(x) = 1 +12x− 1 · 1

2 · 4x2 +

1 · 1 · 32 · 4 · 6

x3 −+ . . .+ (−1)n−1 1 · 1 · 3 · . . . · (2n− 3)2 · 4 · . . . · (2n)

xn

110

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Differenzierbarkeit

Man kann dies auch etwas kurzer darstellen, wenn man verallgemeinerte Binomialko-effizienten benutzt, die durch(

α

0

):= 1,

k

)=α · (α− 1) · (α− 2) · . . . · (α− k + 1)

k!

definiert sind. In diesem Fall ist

Tn(x) =n∑k=0

(1/2k

)xk.

In der speziellen Relativitatstheorie tritt haufig der Term√

1− v2

c2auf. Das Taylor-Polynom

der Funktion W : (−∞, 1]→ R mit W (x) =√

1− x lautet

Tn(x) = 1− 12x− 1 · 1

2 · 4x2 − 1 · 1 · 3

2 · 4 · 6x3 − . . .− 1 · 1 · 3 · . . . · (2n− 3)

2 · 4 · . . . · (2n)xn

Fur v � c, d.h. vc � 1 (nichtrelativistische Geschwindigkeiten) benutzt man als Naherung

fur√

1− v2

c2daher oft das erste Taylor-Polynom T1 = 1− 1

2v2

c2.

Fur die Masse m eines bewegten Teilchens gilt nach der Speziellen Relativitatstheorie dieGleichung

m =m0√

1− (vc )2

wobei m0 die Ruhmasse des Teilchens ist. Fur die Energie e = mc2 erhalt man dann uberdas Taylor-Polynom 2. Ordnung in x

E ≈ m0c2 +

12m0v

2 +38m0

v4

c2.

Die ersten beiden Terme beschreiben dabei die Ruhenergie und die (klassische) kinetischeEnergie des Teilchens.

Bemerkung: Falls eine Funktion f beliebig oft differenzierbar ist, kann man statt der Taylor-Polynome die unendliche Taylor-Reihe

T (x) =∞∑k=0

f (k)(a)k!

(x− a)k

betrachten. Leider stellt diese Potenzreihe nicht immer die Funktion f dar. Einerseits kann derKonvergenzbereich der Reihe kleiner als der Definitionsbereich der Funktion f sein. Es kann aberauch vorkommen, dass die Reihe fur manche (oder alle) x konvergiert, jedoch nicht gegen f(x).Mit solchen Funktionenreihen befassen wir uns im nachsten Kapitel. Funktionen, die unendlichoft differenzierbar sind und sich durch ihre Taylor-Reihe darstellen lassen, nennt man (reell)analytisch.

111

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

4.7 Das Newton-Verfahren

Viele Gleichungen lassen sich nicht exakt losen und man ist fur praktische Zwecke darauf ange-wiesen, die Losungen naherungsweise so genau und effektiv wie moglich zu bestimmen.Wir werden im Verlauf der Vorlesung gelegentlich uber solche Verfahren sprechen, zum Beispielzur Losung von Differentialgleichungen oder zur naherungsweisen Berechung von Integralen.Das erste Naherungsverfahren, mit dem wir uns beschaftigen wollen, geht auf Isaac Newtonzuruck und dient der Bestimmung von Nullstellen einer differenzierbaren Funktion. In vielenVarianten spielt dieses Verfahren auch heute noch eine extrem wichtige Rolle in der Numerik.Fur reelle Funktionen f : R→ R lasst sich das Verfahren geometrisch sehr einleuchtend motivie-ren. Ausgehend von einem Startwert x0 wird eine Folge von Naherungen x1, x2, x3, . . . rekursivkonstruiert. Dabei erhalt man xn+1 aus xn, indem man die Funktion f durch ihre Tangente imPunkt (xn, f(xn)) ersetzt und die Nullstelle der Funktion

f(x) = f(xn) + (x− xn)f ′(xn)

berechnet. Diese liefert dann den nachsten Naherungswert xn+1. Es ist daher

x

f(x )

x

y=f(x)y

x

n

nn+1

Abbildung 4.3: Die Geometrie des Newton-Verfahrens

xn+1 = xn −f(xn)f ′(xn)

.

Beispiel: Die Gleichung sinx = x − 1 besitzt nach dem Zwischenwertsatz mindestens eineLosung im Intervall [0, π], denn betrachtet man die Funktion f(x) := sinx − x + 1, so istf(0) = 1 > 0 und f(π) = 0 − π + 1 < 0. Die Funktion f besitzt also eine Nullstelle zwischen0 und π. Um diese naherungsweise zu berechnen kann man das Newton-Verfahren verwenden,beispielsweise mit Startwert x0 = 2.Die Iterationsvorschrift

xn+1 = xn −sinxn − xn + 1

cosxn − 1

112

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Differenzierbarkeit

fuhrt auf

x1 = 1− sin(1)cos(1)− 1

≈ 2, 8304877

x2 ≈ 2, 04955524x3 ≈ 1, 93865612x4 ≈ 1, 9345689621x5 ≈ 1, 934563210763

Die Folge scheint also zu konvergieren. Außerdem scheint der Grenzwert tatsachlich eine Null-stelle zu sein, denn

sin(1, 934563210763)− 1, 934563210763 + 1 = −1, 545 · 10−11.

Es stellt sich nun die Frage, ob dieses Verfahren immer so gut funktioniert. Leider gibt es dazueine positive und eine negative Antwort. Zunachst die negative: Man kann sich anhand dergeometrischen Konstruktion Funktionen f und Startwerte x0 uberlegen, bei denen die Folge derNewton-Iterierten keinesfalls konvergiert.Die gute Nachricht: Wenn man den Startwert bereits ”gut genug“ gewahlt hat, das heißt ”nahegenug“ an der richtigen Losung, dann kann dies nicht passieren. Mit Hilfe der Taylor-Polynomekonnen wir diese Aussage prazise machen.

Satz 4.15 Sei [a, b] ⊂ R und f : [a, b]→ R zweimal stetig differenzierbar und sei f ′(x) 6= 0 furalle x ∈ [a, b]. Sei weiter f(a) · f(b) < 0, so dass f nach dem Zwischenwertsatz eine Nullstellex∗ im Intervall (a, b) besitzt.Dann existiert ein δ > 0, so dass das Newton-Verfahren fur jeden Startwert x0 ∈ (x∗− δ, x∗+ δ)gegen x∗ konvergiert.Die Konvergenz ist quadratisch, d.h. es gibt eine Konstante c > 0, so dass fur den (absoluten)Fehler die Ungleichung

|xn+1 − x∗| ≤ c|xn − x∗|2

gilt.

Beweis: Wegen der Stetigkeit von f ′ und da f ′(x∗) 6= 0 ist, gibt es ein ε > 0 und ein δ > 0, sodass fur |x− x∗| < δ gilt: |f ′(x)| > ε. Unter Anwendung des Mittelwertsatzes ist

|xn+1 − x∗| =∣∣∣∣xn − x∗ − f(xn)

f ′(xn)

∣∣∣∣=

∣∣∣∣xn − x∗ − f(xn)− f(x∗)f ′(xn)

∣∣∣∣=

∣∣∣∣xn − x∗ − (xn − x∗)f ′(η)f ′(xn)

∣∣∣∣= |xn − x∗| ·

∣∣∣∣1− f ′(η)f ′(xn)

∣∣∣∣113

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

fur eine Zwischenstelle η zwischen xn und x∗. Ebenfalls mit dem Mittelwertsatz erhalt man dieGleichung

1− f ′(η)f ′(xn)

=f ′(xn)− f ′(η)

f ′(xn)= (xn − η)

f ′′(τ)f ′(xn)

mit einer weiteren Zwischenstelle τ zwischen η und x∗.Insgesamt gilt also

|xn+1 − x∗| = |xn − x∗| ·∣∣∣∣1− f ′(η)

f ′(xn)

∣∣∣∣ = |xn − x∗| · |xn − η| ·|f ′′(τ)||f ′(xn)|

≤ |xn − x∗|2 ·|f ′′(τ)||f ′(xn)|

Nach dem Satz vom Maximum nimmt die stetige Funktion |f ′′| ihr Maximum auf dem Intervall[a, b] an, es gibt also eine Zahl M > 0, so dass |f ′′(x)| ≤M fur alle x ∈ [a, b].Dann gilt also

|xn+1 − x∗| ≤ |xn − x∗|2M

ε.

Wir verkleinern (falls notig) δ noch etwas, so dass δMε < 12 ist. Dann ist

|xn+1 − x∗| ≤ δM

ε|xn − x∗| <

12|xn − x∗|

und der Abstand der Iterierten zum Fixpunkt wird immer kleiner. Auf diese Weise ist sicherge-stellt, dass das Newton-Verfahren auf jeden Fall gegen x∗ konvergiert. 2

114

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5 Funktionenfolgen und -reihen

5.1 Punktweise und gleichmaßige Konvergenz

Nach den Grenzwerten von Zahlenfolgen betrachten wir nun Folgen von Funktionen. Zuerst wirdes naturlich wieder um Konvergenz gehen, d.h. ob eine “Grenzfunktion” existiert. Danach werdenwir uns auch die Frage stellen, welche Eigenschaften einer Folge von Funktionen (Stetigkeit,Differenzierbarkeit, Monotonie,...) auf diese Grenzfunktion “vererbt” werden.

Beispiel: Wir betrachten das “Standardbeispiel”, die Folge (fn)n∈N von Funktionen fn : [0, 1]→R, die definiert sind durch fn(x) = xn.Fur jedes feste x ∈ [0, 1] ist die Folge (fn(x))n∈N einfach eine Folge reeller Zahlen, namlich

x, x2, x3, x4, . . .

die gegen einen Grenzwert konvergiert. Dieser Grenzwert ist 0 fur 0 ≤ x < 1 und 1 fur x = 1.

n=1

n=2

n=4

y

x1

n=3

Abbildung 5.1: Die Funktionenfolge fn

115

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

Definition: Sei D ⊂ R eine Menge und seien fn : D → R und f : D → R Funktionen. Mansagt, die Funktionenfolge (fn)n∈N konvergiert punktweise gegen f , falls fur jedes x ∈ D gilt:f(x) = lim

n→∞fn(x). Wir nennen die Funktion f die Grenzfunktion der Funktionenfolge.

Leider ist das Konzept der punktweisen Konvergenz zu schwach, um Eigenschaften wie dieStetigkeit von den fn auf die Grenzfunktion f zu ubertragen. Wesentlich besser dafur geeignetist folgende Art der Konvergenz.

Definition: Sei D ⊂ R eine Menge und seien fn : D → R und f : D → R Funktionen. Mansagt, die Funktionenfolge (fn)n∈N konvergiert gleichmaßig gegen f , falls es fur jedes ε > 0ein N = N(ε) gibt, so dass

n ≥ N ⇒ |fn(x)− f(x)| < ε fur alle x ∈ D.

Falls n also groß genug gewahlt wird, ist also der Abstand von fn zu f fur alle x klein. In einemgewissen Sinne konvergiert fn(x) uberall gleich schnell gegen f(x).Anschaulich bedeutet gleichmaßige Konvergenz: Fur ein gewahltes ε > 0 liegen die Graphen derFunktionen fn ab dem Index N in dem “Schlauch” zwischen f(x)− ε und f(x) + ε.

n

y=f(x)− ε

y=f(x)+ ε

x

y

y=f(x)

y=f (x)

116

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Funktionenfolgen und -reihen

Beispiel: Betrachte die Funktionenfolge (fn)n∈N mit fn : [0, 1]→ R definiert durch

fn(x) =

2nx, fur x ∈ [0, 1

2n ]

2− 2nx, fur x ∈ [ 12n ,

1n ]

0 fur x ∈ ( 1n , 1]

Dann konvergiert (fn) punktweise gegen 0. Das ergibt sich fur jedes (feste) x0 > 0 daraus, dassfn(x0) = 0 ist, sobald n > 1/x0 ist. Fur x0 = 0 ist aber ohnehin fn(0) = 0 fur alle n.Die Konvergenz kann aber nicht gleichmaßig sein, denn fur jedes n gibt es immer ein x0, namlichx0 = 1

2n mit |fn(x0)−f(x0)| = 1. Versucht man also, die Definition der gleichmaßigen Konvergenzbeispielsweise mit ε = 1/2 (oder mit jedem anderen ε, das kleiner als 1 ist) nachzuprufen, sowird man damit nicht erfolgreich sein.Eine Funktionenfolge, die hingegen gleichmaßig konvergiert ist (gn)n∈N mit gn : [0, 1] → Rdefiniert durch

gn(x) =

2x, fur x ∈ [0, 1

2n ]

2n − 2x, fur x ∈ [ 1

2n ,1n ]

0 fur x ∈ ( 1n , 1]

Dasselbe Argument wie oben zeigt, dass die Grenzfunktion g(x) = 0 sein muss. Im Unterschiedzur Folge (fn) ist aber hier |gn(x) − g(x)| ≤ 1

n fur alle x ∈ [0, 1]. Fur jedes vorgegebene ε > 0kann man also n > 1/ε so groß wahlen, dass |gn(x)−g(x)| ≤ ε wird gleichzeitig fur alle x ∈ [0, 1].

Bemerkung: Konvergiert eine Funktionenfolge (fn)n∈N gleichmaßig gegen eine Funktion f ,dann konvergiert sie auch punktweise gegen f .

Satz 5.1 [Rechenregeln fur gleichmaßige Konvergenz]Sei D ⊂ R eine Menge und seien (fn) und (gn) auf D definierte Funktionenfolgen, diegleichmaßig gegen f : D → R bzw. g : D → R konvergieren. Dann gilt:

(i) Die Funktionenfolge (fn + gn) konvergiert gleichmaßig gegen f + g.

(ii) Falls f und g beschrankte Funktionen sind, dann konvergiert fn ·gn gleichmaßig gegen f ·g.

(iii) Falls es eine Zahl α > 0 gibt, so dass |fn(x)| ≥ α fur alle n ∈ N und alle x ∈ D, dannkonvergiert

(1fn

)gleichmaßig gegen 1

f .

Beweis:

(i) Sei ε > 0 gegeben. Dann finden wir ein N1 ∈ N, so dass

|fn(x)− f(x)| < ε

2fur alle n ≥ N1

117

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

und ein N2 ∈ N, so dass

|gn(x)− g(x)| < ε

2fur alle n ≥ N2.

Fur n ≥ max(N1, N2) ist also

|fn(x) + gn(x)− f(x)− g(x)| = |fn(x)− f(x) + gn(x)− g(x)|≤ |fn(x)− f(x)|+ |gn(x)− g(x)|

2+ε

2= ε,

d.h. die Funktionenfolge (fn + gn)n∈N konvergiert gleichmaßig gegen f + g.

(ii) Sei ε > 0 und N1, N2 wie eben. Da die Funktionen f und g beschrankt sind, gibt es eineKonstante M > 0, so dass |f(x)| ≤M − ε und |g(x)| ≤M − ε. Dann ist fur n ≥ N1 auch

|fn(x)| ≤ |f(x)|+ ε ≤M − ε+ ε = M

und fur n ≥ N2 entsprechend

|gn(x)| ≤ |g(x)|+ ε ≤M − ε+ ε = M.

Fur n ≥ max(N1, N2) ist also

|fn(x) · gn(x)− f(x) · g(x)| = |fn(x) · gn(x)− f(x) · gn(x) + f(x) · gn(x)− f(x) · g(x)|≤ |(fn(x)− f(x)) · gn(x)|+ |f(x) · (gn(x)− g(x))|

< Mε

2+M

ε

2= Mε

also konvergiert (fn · gn)n∈N gleichmaßig gegen f · g.

(iii) geht ahnlich wie (ii)...

2

Bemerkung:Aussage (ii) wird im allgemeinen falsch, wenn f oder g unbeschrankt sind.Gegenbeispiel:

fn(x) =1x

+1n

gn(x) = x+1n

Man kann naturlich auch Reihen von Funktionen betrachten und ihre Konvergenz untersuchen.

118

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Funktionenfolgen und -reihen

Definition:Die Funktionenreihe

∑fk(x) mit fk : D → R heißt punktweise konvergent gegen F (x), wenn

die Folge ihrer Partialsummen punktweise konvergiert, wenn also

F (x) = limn→∞

n∑k=0

fk(x)

fur jedes x ∈ D.

Sie heißt gleichmaßig konvergent, wenn die Folge der Partialsummen Sn(x) =n∑k=0

fk(x)

gleichmaßig konvergiert, falls es also zu jedem ε > 0 ein N ∈ N gibt mit

|Sn(x)− F (x)| =

∣∣∣∣∣n∑k=1

fk(x)−∞∑k=1

fk(x)

∣∣∣∣∣ =

∣∣∣∣∣∞∑

k=n+1

fk(x)

∣∣∣∣∣ < ε fur alle x ∈ D.

Wie schon bei Zahlenfolgen und -reihen gibt es auch hier ein Cauchy-Kriterium, mit dem manentscheiden kann, ob eine Funktionenfolge (bzw. -reihe) konvergiert, ohne dass man die Grenz-funktion kennen muss.

Satz 5.2 [Cauchy-Kriterium fur gleichmaßige Konvergenz]

Eine Folge (fn) von Funktionen fn : D → R bzw. fn : D → R konvergiert genau danngleichmaßig, falls es zu jedem ε > 0 ein N ∈ N gibt, so dass fur beliebige m,n ≥ N gilt:

|fn(x)− fm(x)| ≤ ε fur alle x ∈ D.

Analog konvergiert eine Reihe∞∑k=1

gk von Funktionen gk : D → R genau dann gleichmaßig, wenn

es zu jedem ε > 0 ein N ∈ N gibt, so dass fur beliebige N ≤ m < n gilt:

|n∑

k=m

gk(x)| ≤ ε fur alle x ∈ D.

Beweis:Wir zeigen nur die Aussage uber Funktionenfolgen, die Aussage uber Funktionenreihen folgtdaraus direkt, indem man die Folge der Partialsummen betrachtet.

”⇒“: Wenn die Folge (fn) gleichmaßig gegen eine Grenzfunktion f konvergiert, dann gibt es zueinem vorgegebenen ε > 0 immer ein N ∈ N, so dass

n ≥ N ⇒ |fn(x)− f(x)| < ε

2fur alle x ∈ D.

Dann ist aber wegen der Dreiecksungleichung fur beliebige m,n ≥ N

|fn(x)− fm(x)| = |fn(x)− f(x) + f(x)− fm(x)| ≤ |fn(x)− f(x)|+ |f(x)− fm(x)| < ε

2+ε

2= ε

119

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

fur alle x ∈ D und das Cauchy-Kriterium ist erfullt.

”⇐“: Da fur jedes feste x0 ∈ D das Cauchy-Kriterium fur (reelle oder komplexe) Zahlenfolgenerfullt ist, konvergiert die Folge (fn(x0))n∈N fur festes x0. Wir erhalten auf diese Weise dieGrenzfunktion

f(x) := limn→∞

fn(x).

zu zeigen ist noch, dass die Konvergenz gegen f tatsachlich gleichmaßig ist. Dazu geben wir einε > 0 vor und wahlen N ∈ N so groß, dass

m,n ≥ N ⇒ |fn(x)− fm(x)| < ε

2fur alle x ∈ D.

Nun lassen wir n ≥ N fest und betrachten die Differenz |fn(x)− f(x)|. Dann ist

|f − n(x)− f(x)| ≤ |fn(x)− fm(x)|+ |fm(x)− f(x)| < ε

2+ |fm(x)− f(x)|

fur jedes m ≥ N . Wenn wir m groß genug wahlen, wird auch |fm(x) − f(x)| < ε2 sein und wir

erhalten die gewunschte Abschatzung

n ≥ N ⇒ |f − n(x)− f(x)| < ε fur alle x ∈ D.

2

Das vermutlich wichtigste Beispiel fur Funktionenreihen sind Potenzreihen∞∑k=0

akxk, die man als

Grenzwert endlicher SummenN∑k=0

akxk auffassen mochte.

Aus Kapitel 2, Satz 2.24 wissen wir bereits, dass eine Potenzreihe im Innern ihres Konver-genzkreises punktweise gegen eine Grenzfunktion konvergiert. Außerhalb des Konvergenzkreiseskonvergiert sie nicht einmal punktweise, den Rand des Konvergenzkreises muss man getrenntuntersuchen. Es gilt sogar:

Satz 5.3Eine Potenzreihe

∞∑n=0

anzn konvergiert gleichmaßig auf jeder kompakten Teilmenge ihres Kon-

vergenzkreises.

Beweis: Sei ρ > 0 der Konvergenzradius der Potenzreihe. Wir wahlen r < ρ und wollen zeigen,dass die Potenzreihe auf dem abgeschlossenen Kreis {z ∈ C; |z| ≤ r} gleichmaßig konvergiert.Dass sie uberhaupt konvergiert wissen wir schon aus Satz 2.24, wo wir die punktweise Konvergenzuntersucht haben. Die Grenzfunktion nennen wir f(x). Ebenfalls aus Satz 2.24 wissen wir, dass

ρ =1

lim supn→∞n√|an|

bzw. lim supn→∞

n√|an| =

1ρ.

Fur ein beliebig gewahltes r0 ∈ (r, ρ) ist 1r0> 1

ρ . Insbesondere kann man also ein N ∈ N finden,so dass

n√|an| ≤

1r0

fur alle n ≥ N.

120

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Funktionenfolgen und -reihen

Fur beliebige z mit |z| ≤ r und n ≥ N ist dann

|anzn| =(n√|an||z|

)n≤(r

r0

)nSetzt man nun q := r

r0< 1, so kann man fur n ≥ N den Reihenrest wie folgt abschatzen:∣∣∣∣∣

∞∑k=n

akzk

∣∣∣∣∣ ≤∞∑k=n

|akzk|

≤∞∑k=n

qk = qn∞∑k=0

qk =qn

1− q

unabhangig von x. Fur ein vorgegebenes ε > 0 kann man nun n so groß wahlen, dass der Aus-druck auf der rechten Seite kleiner als ε wird. Damit ist gezeigt, dass die Potenzreihe fur |z| ≤ rgleichmaßig konvergiert. 2

Bemerkung: Aus Satz 5.3 folgt nicht, dass die Potenzreihe im Innern ihres Konvergenzkreisesgleichmaßig konvergiert. Man muss also wirklich einen kleinen Abstand zum Rand des Konver-genzkreises einhalten.

Satz 5.4 Konvergiert eine Funktionenfolge (fn) gleichmaßig gegen f und sind die fn : D → Ralle stetig, dann ist auch f stetig.

Beweis: Wir wahlen einen beliebigen Punkt a ∈ D und zeigen, dass die Grenzfunktion f dortstetig ist. Wir benutzen dazu die ε-δ-Definition. Sei also ein ε > 0 vorgegeben. Dann gibt es zudiesem ε ein N , so dass

|fn(x)− f(x)| < ε

3fur alle n ≥ N und alle x ∈ D. Da insbesondere die Funktion fN stetig ist, gibt es zu ε ein δ > 0,so dass

|x− x0| < δ ⇒ |fN (x)− fN (x0)| < ε

3Unter Verwendung der Dreiecksungleichung ergibt sich aus den beiden Ungleichungen nun fur|x− x0| < δ

|f(x)− f(x0)| = |f(x)− fN (x) + fN (x)− fN (x0) + fN (x0)− f(x0)|≤ |f(x)− fN (x)|+ |fN (x)− fN (x0)|+ |fN (x0)− f(x0)|

3+ε

3+ε

3= ε.

2

Eine direkte Konsequenz ist der folgende

121

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

Satz 5.5 Potenzreihen sind auf jeder kompakten Teilmenge ihres Konvergenzkreises stetig.

Bemerkung: Die Stetigkeit gilt auch noch bis zum Rand des Konvergenzbereichs, falls

• die Potenzreihe dort konvergiert und

• die Funktion, die durch die Potenzreihe dargestellt wird, stetig bis zum Rand fortgesetztwerden kann.

Dies ist die Aussage des Abelschen Grenzwertsatzes. Insbesondere rechtfertigt man so beispiels-weise die Formel

log 2 = 1− 12

+13− 1

4+

15−+ . . .

Bemerkung: Man kann die Aussage von Satz 5.4 auch wieder als eine Vertauschung von Grenz-werten auffassen: Fur stetige Funktionen fn : (a, b)→ R und x0 ∈ (a, b) ist lim

x→x0

fn(x) = fn(x0)

und limn→∞

fn(x) = f(x). Da f ebenfalls stetig ist gilt also

limn→∞

limx→x0

fn(x) = f(x0) = limx→x0

limn→∞

fn(x).

5.2 Differentiation von Funktionenfolgen und Potenzreihen

Als Nachstes geht es um die Differenzierbarkeit von Funktionenfolgen. Auch hier stellt sichheraus, dass gleichmaßige Konvergenz dafur sorgt, dass sich die Differentiation gut mit demGrenzubergang innerhalb der Funktionenfolge vertragt.

Satz 5.6 [Differentiation von Funktionenfolgen]Seien fn : (a, b) → R differenzierbare Funktionen, deren Ableitungen f ′n gleichmaßig gegeneine Funktion g konvergieren. Falls die Folge (fn(x0))n∈N fur einen einzigen Punkt x0 ∈ (a, b)konvergent ist, dann konvergiert fn sogar gleichmaßig auf (a, b) gegen eine Funktion f und esist f ′ = g.

Beweis: Sei ein ε > 0 gegeben. Wir benutzen das Cauchy-Kriterium sowohl fur die Zahlenfolge(fn(x0)) als auch fur die gleichmaßig konvergente Funktionenfolge (f ′n). Demnach gibt es einN1 ∈ N, so dass

m,n ≥ N1 ⇒ |fn(x0)− fm(x0)| < ε

2und ein N2 ∈ N, so dass

m,n ≥ N2 ⇒ |f ′n(x)− f ′m(x)| < ε

2(b− a)fur alle x ∈ (a, b).

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Funktionenfolgen und -reihen

Wir setzen N := max(N1, N2). Dann ist fur m,n ≥ N und x ∈ (a, b) beliebig

|fn(x)− fm(x)| = |fn(x)− fm(x)− fn(x0) + fn(x0)− fm(x0) + fm(x0)|≤ |fn(x)− fm(x)− (fn(x0)− fm(x0))|+ |fn(x0)− fm(x0)|

MWS=∣∣(fn − fm)′(ξ) · (x− x0)

∣∣+ |fn(x0)− fm(x0)|

2(b− a)(b− a) +

ε

2= ε.

Die Folge (fn) erfullt also das Cauchy-Kriterium aus Satz 5.2 und ist daher gleichmaßig konver-gent gegen eine Grenzfunktion f .Es bleibt zu zeigen, dass f ′ = g ist. Sei dazu x ∈ (a, b) ein beliebiger Punkt. Wir definieren eineneue Funktionenfolge auf (a, b) \ {x} durch

ϕn(y) :=fn(y)− fn(x)

y − x

Da die fn differenzierbar vorausgesetzt sind, gilt limy→x

ϕn(y) = f ′n(x).

Außerdem konvergiert (ϕn) punktweise, denn es ist

limn→∞

ϕn(y) :=f(y)− f(x)

y − x.

Die Funktionenfolge (ϕn) konvergiert auf (a, b) \ {x} sogar gleichmaßig nach dem Cauchy-Kriterium aus Satz 5.2, denn fur ein ε > 0 ist

|ϕn(y)− ϕm(y)| =∣∣∣∣fn(y)− fn(x)− (fm(y)− fm(x))

y − x

∣∣∣∣=

∣∣∣∣(fn − fm)(y)− ((fn − fm)(x))y − x

∣∣∣∣=

∣∣f ′n(ξ)− f ′m(ξ)∣∣ ≤ ε

2(b− a)

Nach der Bemerkung uber die Vertauschbarkeit von Grenzwerten ist also

g(x) = limn→∞

limy→x

ϕn(y)︸ ︷︷ ︸=f ′n(x)

= limy→x

limn→∞

ϕn(y)︸ ︷︷ ︸=f(y)−f(x)

y−x

= f ′(x).

2

Satz 5.7 [Differenzierbarkeit von Potenzreihen]Sei f(x) =

∑∞n=0 anx

n eine reelle Potenzreihe mit Konvergenzradius 0 < ρ ≤ ∞. Dann ist fstetig differenzierbar fur |x| < ρ und die Ableitung erhalt man durch gliedweise Differentiationder Potenzreihe, also

f ′(x) =∞∑n=1

annxn−1.

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

Beweis: Die Potenzreihe konvergiert fur alle x ∈ R mit |x| < ρ punktweise. Dort stellt sie eineFunktion f : (−ρ, ρ)→ R mit

f(x) :=∞∑n=1

anxn

dar. Die Funktionenfolge (fn)n∈N mit

fn(x) :=n∑k=0

akxk

konvergiert gleichmaßig auf [−r, r] fur jedes r < ρ.In Ubungsaufgabe S46 wird gezeigt, dass die durch gliedweise Differentiation erzeugte Potenz-reihe

n∑k=1

kakxk−1 =

n−1∑k=0

(k + 1)ak+1xk

ebenfalls den Konvergenzradius % besitzt. Also konvergiert die Folge (f ′n) mit

f ′n(x) =n∑k=1

kakxk−1

auf [−r, r] gleichmaßig gegen eine Funktion g. Nach dem vorigen Satz 5.6 ist f dann auf (−r, r)differenzierbar mit f ′ = g. 2

Bemerkung: Auch hier handelt es sich wieder um eine Vertauschung von Grenzwerten: Unterden Voraussetzungen des Satzes gilt namlich

limn→∞

(fn)′ =(

limn→∞

fn

)′

5.3 Der Funktionenraum B(D)

An dieser Stelle soll noch eine andere Sichtweise auf die gleichmaßige Konvergenz vorgestelltwerden, die uns spater noch ofter begegnen wird und an die man sich fruhzeitig gewohnen sollte.Wir bezeichnen mit B(D) den Raum aller beschrankten Funktionen f : D → R. Fur zweibeschrankte Funktionen f, g ∈ B(D) konnen wir einen Abstand ‖f − g‖ definieren durch

‖f − g‖ := supx∈D|f(x)− g(x)|.

Es handelt sich hier tatsachlich um so etwas wie einen “Abstand”, denn

• ‖f − g‖ ist nie negativ, und wenn ‖f − g‖ = 0 ist, dann stimmen f und g uberein

• ‖f − g‖ = ‖g− f‖, d.h. der “Abstand” von f zu g ist gleich dem Abstand von g zu f und

124

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Funktionenfolgen und -reihen

• es gilt die Dreiecksungleichung ‖f−g‖ ≤ ‖f−h‖+‖h−g‖ fur beliebige f, g, h ∈ C0([a, b]).

Um die Dreiecksungleichung einzusehen, rechnet man am einfachsten wie folgt nach:

‖f − g‖ = supx∈D|f(x)− g(x)|

= supx∈D|f(x)− h(x) + h(x)− g(x)|

≤ supx∈D

(|f(x)− h(x)|+ |h(x)− g(x)|)

≤ supx∈D|f(x)− h(x)|+ sup

x∈D|h(x)− g(x)| = ‖f − h‖+ ‖h− g‖

Falls D = [a, b] ein kompaktes Intervall ist, dann sind alle stetigen Funktionen auf D automatischbeschrankt nach Satz 3.8, es ist also

C0([a, b]) ⊂ B([a, b]).

Falls f, g ∈ C0([a, b]) stetig sind, dann ist auch |f − g| eine stetige Funktion. Wegen des Satzesvom Maximum nimmt die Funktion |f − g| ihr Maximum sogar an und das Supremum ist indiesem Fall ein Maximum.Den Zusammenhang zwischen dem oben definierten Abstand zweier Funktionen und der gleichmaßi-gen Konvergenz von Funktionenfolgen stellt der folgende Satz her.

Satz 5.8Seien fn : [a, b] → R beschrankte Funktionen. Die Funktionenfolge (fn)n∈N konvergiert genaudann gleichmaßig gegen f , wenn

limn→∞

‖fn − f‖ = 0.

Beweis:“⇒”: Wir nehmen an, dass die Folge (fn) gleichmaßig gegen eine Grenzfunktion f konvergiert.Sei nun ε > 0 gegeben. Wir mussen ein N ∈ N finden, so dass fur alle n ≥ N die Ungleichung

‖fn − f‖ < ε

gilt. Wegen der gleichmaßigen Konvergenz der Funktionenfolge gibt es zu dem gewahlten ε einN ∈ N, so dass fur n ≥ N und alle x ∈ [a, b] die Ungleichung |fn(x) − f(x)| < ε/2 gilt.Fur das Supremum von |fn − f | gilt daher auf jeden Fall supa≤x≤b |fn(x) − f(x)| < ε unddamit ‖fn − f‖ < ε. “⇐”: Gelte nun umgekehrt limn→∞ ‖fn − f‖ = 0. Dann gibt es zu jedemvorgegebenen ε > 0 ein N ∈ N, so dass fur n ≥ N die Ungleichung ‖fn − f‖ < ε erfullt ist. Daauf der linken Seite ein Supremum steht, ist also fur jedes x ∈ [a, b]

|fn(x)− f(x)| ≤ ‖fn − f‖ < ε.

Das ist aber gerade die Definition gleichmaßiger Konvergenz. 2

125

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6 Integration

Die Integralrechnung ist historisch aus dem Bedurfnis heraus entstanden, den Flacheninhaltund das Volumen von krummlinig begrenzten Gebieten zu berechnen. Spater kamen dann vieleweitere Fragestellungen dazu, die sich mit ihrer Hilfe losen lassen, aus der Physik beispielsweisedie langs eines Weges verrichtete Arbeit, die Durchflussmenge einer Flussigkeit durch einenRohrquerschnitt,...Schon in der Antike wurde der Flacheninhalt des Kreises durch Approximation mit regularenVielecken sehr genau bestimmt. Den Zusammenhang zwischen Differential- und Integralrechnungerkannten allerdings erst Ende des 17. Jahrhundert Leibniz und Newton.Es gibt einige verschiedene Integralbegriffe, die das Integral einer Funktion durch unterschied-liche Grenzubergange einfuhren. Aus der Schule ist Ihnen vermutlich das Riemann-Integral be-kannt, aber es gibt daneben beispielsweise noch das Regel- (oder Cauchy-)Integral und dasLebesgue-Integral. Sie unterscheiden sich in vielen Fallen nicht, jedoch ist die Menge der Funk-tionen, die man ”integrieren“ kann, je nach Integralbegriff großer oder kleiner. Die Menge derstetigen Funktionen auf einem abgeschlossenen Intervall gehort aber in allen Fallen zu den ”in-tegrierbaren“ Funktionen. Mathematisch hat das Lebesgue-Integral wohl die schonsten Eigen-schaften und wird von den ”Profis“ daher bevorzugt. Da seine Definition etwas umstandlich ist,werden wir es erst in Teil 3 der Vorlesung kennenlernen und fuhren hier zunachst das einfachereRegelintegral ein. Im Gegensatz zum Riemann-Integral, bei dem die zu integrierende Funktion

”von oben“ und ”von unten“ durch einfachere Funktionen approximiert wird, genugt hier ei-ne Folge von approximierenden Funktionen. Dafur verlangt man, dass diese Folge gleichmaßigkonvergiert.

6.1 Treppenfunktionen und Regelintegral

Definition: Sei [a, b] ⊂ R ein Intervall. Eine Funktion ϕ : [a, b] → R heißt Treppenfunktion,wenn es Zahlen a = x0 < x1 < x2 < . . . < xn = b gibt, so dass ϕ auf jedem der Intervalle(xj−1, xj) mit 1 ≤ j ≤ n konstant ist. Die Zerlegung des Intervalls durch die Stutzstellen xjnennen wir eine Zerlegung des Intervalls.Die Menge aller Treppenfunktionen auf dem Intervall [a, b] bezeichnen wir mit T ([a, b]).

Bemerkung:

1. Wir kummern uns der Einfachheit halber nicht um die Funktionswerte der Treppenfunk-tion ϕ an den Stutzstellen. Sie spielen bei der Integration keine Rolle.

2. Zu einer Treppenfunktion ϕ gibt es viele verschiedene Zerlegungen. Beispielsweise kannman weitere Stutzstellen hinzufugen, ohne die Funktion zu andern.

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Integration

a=x x b=x

x

x x x0 2 4 51 3

y

Abbildung 6.1: Eine Treppenfunktion

3. Wenn ϕ und ψ zwie Treppenfunktionen sind, dann sind auch ϕ+ψ und ϕ ·ψ Treppenfunk-tionen. Das sieht man am einfachsten ein, wenn man die gemeinsame Verfeinerung derZerlegungen zu ϕ und ψ benutzt, die als Stutzstellen sowohl die Stutzstellen zur Funktionϕ als auch die zur Funktion ψ enthalt.

Definition: Sei [a, b] ⊂ R ein Intervall und ϕ ∈ T ([a, b]) eine Treppenfunktion mit zugehorigerZerlegung a = x0 < x1 < x2 < . . . < xn = b, d.h. es gibt Zahlen c1, c2, . . . , cn, so dass

ϕ(x) = cj fur x ∈ (xj−1, xj).

Dann ist das Integral uber ϕ definiert als∫ b

aϕ(x) dx :=

n∑j=1

cj · (xj − xj−1).

Diese Definition entspricht in etwa unserer Vorstellung von Flacheninhalt, denn zumindest furnicht-negative Treppenfunktionen ϕ ist

∫ ba ϕ(x) dx gerade der Flacheninhalt unter dem Graph

der Treppenfunktion. Er setzt sich aus Rechtecken der Flache cj · (xj − xj−1) zusammen.Genau genommen muss man noch zeigen, dass das Integral nicht von der Wahl der Zerlegungabhangt. Wenn die Treppenfunktion ϕ sich also auch durch eine andere Zerlegung a = ξ0 < ξ1 <ξ2 < . . . < ξm = b mit

ϕ(x) = dj fur x ∈ (ξj−1, ξj)

darstellen lasst, dann andert sich der Wert des Integrals nicht, wenn man ihn mit Hilfe der neuenPartition berechnet.Um dies zu beweisen betrachtet man wieder die gemeinsame Verfeinerung der beiden Zerle-gungen, die sowohl die xj als auch die ξj als Stutzstellen enthalt und zeigt, dass das mit dergemeinsamen Verfeinerung berechnete Integral den selben Wert hat wie jedes der beiden anderenIntegrale.

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

Satz 6.1 [Linearitat des Integrals]Seien ϕ : [a, b] → R und ψ : [a, b] → R zwei Treppenfunktionen aus T ([a, b]) und λ ∈ R eineZahl. Dann sind auch ϕ+ ψ ∈ T ([a, b]) und λ · ϕ ∈ T ([a, b]) und es gilt:∫ b

a(ϕ(x) + ψ(x)) dx =

∫ b

aϕ(x) dx+

∫ b

aψ(x) dx∫ b

aλϕ(x) dx = λ

∫ b

aϕ(x) dx

Beweis: Sei a = x0 < x1 < x2 < . . . < xn = b die Zerlegung zur Treppenfunktion ϕ unda = ξ0 < ξ1 < ξ2 < . . . < ξm = b die Zerlegung zur Treppenfunktion ψ. 2

Eine weitere Eigenschaft des Integrals ist die sogenannte Beschranktheit. Dazu mussen wir die

”Große“ einer Funktion messen. Wir benutzen dazu ahnlich wie bei den reellen und komplexenZahlen als Maß den Abstand zur Null(-funktion). Den Abstand messen wir genau so wie inKapitel 5.

Definition:Sei D eine Menge. Betrachte wieder den Raum B(D) der beschrankten Funktionen f : D → R.Dann heißt

‖f‖ := supx∈D|f(x)|

die Supremumsnorm von f .

Satz 6.2 Fur beliebige f, g ∈ B(D) gilt:

(i) ‖f‖ ≥ 0 und ‖f‖ = 0 genau dann, wenn f(x) = 0 fur alle x ist.

(ii) ‖αf‖ = |α| · ‖f‖ fur alle α ∈ R.

(iii) ‖f + g‖ ≤ ‖f‖+ ‖g‖ (”Dreiecksungleichung“)

Beweis: Bis auf die Dreiecksgleichung ergibt sich alles direkt aus den Eigenschaften des (reellen)Betrags.Der Beweis der Dreiecksungleichung wurde am Ende von Kapitel 5 schon gezeigt.

‖f + g‖ = supx∈D|f(x) + g(x)| ≤ sup

x∈D|f(x)|+ |g(x)| ≤ sup

x∈D|f(x)|+ sup

x∈D|g(x)| = ‖f‖+ ‖g‖

2

Das Integral uber eine Treppenfunktion kann man nun mit Hilfe der Supremumsnorm abschatzen.

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Integration

Satz 6.3 Sei ϕ ∈ T ([a, b]) eine Treppenfunktion. Dann gilt∣∣∣∣∫ b

aϕ(t) dt

∣∣∣∣ ≤ (b− a) · ‖ϕ‖.

Beweis: Sei a = x0 < x1 < x2 < . . . < xn = b die Zerlegung zu ϕ und

ϕ(x) = cj fur x ∈ (xj−1, xj).

Dann ist ‖ϕ‖ ≤ maxj |cj |. Fur das Integral gilt dann

∣∣∣∣∫ b

aϕ(t) dt

∣∣∣∣ =

∣∣∣∣∣∣n∑j=1

cj(xj − xj−1)

∣∣∣∣∣∣ ≤n∑j=1

|cj | · |xj − xj−1| ≤ (b− a) ·maxj|cj | ≤ (b− a) · ‖ϕ‖.

2

Definition:Eine Funktion f : [a, b]→ R heißt Regelfunktion, falls es ein Folge (ϕn)n∈N von Treppenfunk-tionen gibt, die gleichmaßig gegen f konvergiert.Die Menge aller Regelfunktionen auf dem Intervall [a, b] bezeichnen wir mit R([a, b]).

Fur Regelfunktionen lasst sich das Integral mit Hilfe eines Grenzubergangs definieren.

Definition:Sei f ∈ R([a, b]) eine Regelfunktion und (ϕn)n∈N eine Folge von Treppenfunktionen, die gleich-maßig gegen f konvergiert. Dann setzen wir

b∫a

f(t) dt := limn→∞

b∫a

ϕn(t) dt.

Damit diese Definition sinnvoll ist, mussen wir zeigen, dass der Grenzwert auf der rechten Seitewirklich existiert und dass er nicht davon abhangt, mit welcher Folge von Treppenfunktionenman f approximiert.Um zu zeigen, dass der Grenzwert existiert, hilft mal wieder das Cauchy-Kriterium: Sei ε > 0gegeben. Da die Folge (ϕn)n∈N gleichmaßig gegen f konvergiert, gibt es ein N ∈ N, so dass furalle n ≥ N gilt:

‖ϕn − f‖ = supx∈[a,b]

|ϕn(x)− f(x)| < ε

2(b− a).

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

Dann ist fur n,m ≥ N

b∫a

ϕn(t) dt−b∫a

ϕm(t) dt =

b∫a

(ϕn(t)− ϕm(t)) dt

≤ (b− a) · ‖ϕn − ϕm‖≤ (b− a) · (‖ϕn − f‖+ ‖f − ϕm‖) < ε

Die Folge der Integrale(∫ b

a ϕn(t) dt)n∈N

besitzt daher tatsachlich einen Grenzwert.

Dass dieser Grenzwert nicht von der Folge von Treppenfunktionen abhangt, mit denen man fapproximiert hat, kann man ahnlich zeigen.Auch die Rechenregeln aus Satz 6.1 und Satz 6.3 bleiben erhalten und gelten fur Regelfunktionengenauso wie sie fur Treppenfunktionen gelten.

Beispiel: Wir wollen die Funktion f(x) = ex auf dem Intervall [0, 1] ”von Hand“ integrieren.Dazu wahlen wir fur eine beliebige Zahl n ∈ N aquidistante Stutzstellen xj = j

n mit j =0, 1, 2, 3, . . . , n. Die zugehorige Treppenfunktion ϕn habe die Werte

ϕn(x) = exj = ej/n fur x ∈ [xj−1, xj).

Als Integral ergibt sich dann

n−1∑j=0

ej/n1n

=1n

n−1∑j=0

(e1/n

)j=

1n

1−(e1/n

)n1− e1/n

= (1− e)1n

1− e1/n︸ ︷︷ ︸→−1

→ e− 1 fur n→∞.

Welche Funktionen lassen sich denn nun integrieren ?Naturlich sind alle Treppenfunktionen auch Regelfunktionen, aber die Menge der Regelfunktio-nen ist wesentlich großer. Insbesondere enthalt sie alle stetigen Funktionen auf dem Intervall[a, b]. Um das zeigen zu konnen, benotigen wir noch eine Eigenschaft stetiger Funktionen aufabgeschlossenen Intervallen, die in Kapitel 3 nicht erwahnt wurde, da sie erst jetzt von Nutzenist.

Definition: Sei D eine Menge. Dann heißt eine Funktion f : D → R gleichmaßig stetig, wennes zu jedem ε > 0 ein δ > 0 gibt, so dass fur x, y ∈ D gilt:

|x− y| < δ ⇒ |f(x)− f(y)| < ε.

Bemerkung:

1. Gleichmaßig stetige Funktionen sind immer auch stetig: Um die Stetigkeit in einem Punktx0 nachzuprufen lassen wir einfach x = x0 fest und variieren nur y. Dann ergibt sich sofort

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Integration

die ε-δ-Definition der Stetigkeit im Punkt x0.

2. Ist eine Funktion gleichmaßig stetig, dann hangt das δ aus der ε-δ-Definition der Stetigkeitnicht mehr von dem Punkt x0 ab, in dem wir die Stetigkeit untersuchen. Das ist hier mitdem Begriff ”gleichmaßig“ gemeint.

3. Fur die gleichmaßige Stetigkeit gibt es keine alternative Definition uber Folgen, hier mussman wirklich mit ε und δ arbeiten.

Satz 6.4 Sei f : [a, b]→ R eine stetige Funktion. Dann ist f gleichmaßig stetig.

Beweis: Wir zeigen diese Aussage indirekt und nehmen daher an, dass es ein ε0 > 0 gibt, zudem man kein passendes δ finden kann. Insbesondere funktioniert also die Wahl δ = 1

n fur keinn ∈ N.Das heißt aber, dass wir zu jedem n ∈ N Zahlen xn, yn ∈ [a, b] finden konnen mit |xn − yn| < 1

nund |f(xn)− f(yn)| ≥ ε.

Die (xn)n∈N fassen wir als eine Folge von Zahlen im Intervall [a, b] auf. Nach dem Satz vonBolzano-Weierstrass hat diese Folge eine konvergente Teilfolge, die wir (xn)n∈N nennen wollen,und die gegen einen Grenzwert x ∈ [a, b] konvergiert. Da f stetig ist, konvergiert auch die Folgeder (f(xn))n∈N gegen f(x). Die Folge der zugehorigen yn konvergiert ebenfalls gegen x, da ja

|yn − x| = |yn − xn + xn − x| ≤ |yn − xn|+ |xn − x|

und beide Terme auf der rechten Seite gegen 0 konvergieren. Andererseits kann die Folge(f(yn))n∈N nicht gegen f(x) konvergieren, da ja

|f(yn)− f(x)| ≥ |f(yn)− f(xn)︸ ︷︷ ︸≥ε

− f(xn)− f(x)|︸ ︷︷ ︸→0

.

Daraus ergibt sich ein Widerspruch zur Stetigkeit von f . Also kann unsere Annahme, dass fnicht gleichmaßig stetig ist, nicht richtig gewesen sein. 2

Damit ist es nun nicht mehr schwer, den folgenden Satz zu beweisen

Satz 6.5 Sei f : [a, b]→ R stetig. Dann ist f eine Regelfunktion, d.h. es gibt eine Folge (ϕn)n∈Naus Treppenfunktionen, die gleichmaßig gegen f konvergiert.

Beweis: Wir mussen zeigen, dass man zu einem gegebenen ε > 0 eine Treppenfunktion ϕkonstruieren kann mit der Eigenschaft, dass

|f(x)− ϕ(x)| < ε fur alle x ∈ [a, b] (∗)

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

Dazu nutzen wir die gleichmaßige Stetigkeit von f auf dem abgeschlossenen Intervall [a, b] ausund finden zunachst ein δ > 0 mit der Eigenschaft

|x− y| < δ ⇒ |f(x)− f(y)| < ε.

Jetzt wahlen wir n so groß, dass 1n < δ wird. Wir zerlegen das Intervall [a, b] in gleich große

Teilintervalle a = x0 < x1 < x2 < . . . < xn = b mit xj = a+ j b−an und definieren ϕ(x) = f(xj−1)fur x ∈ [xj−1, xj). Außerdem setzen wir ϕ(b) = f(b).Behauptung: Diese Funktion ϕ erfullt die Bedingung (∗).denn: Betrachte ein beliebiges x ∈ [a, b]. Es gehort zu einem Intervall [xj−1, xj) und erfullt damitinsbesondere |x− xj−1| ≤ 1

n < δ. Also ist |f(x)− f(xj−1)| < ε und daher wegen der Definitionvon ϕ auch |f(x)− ϕ(x)| < ε 2

Eine prazisere Beschreibung aller Regelfunktionen liefert der folgende Satz, dessen Beweis zwarnicht zu schwer, aber zu lang fur diese Vorlesung ist.

Satz 6.6 [ohne Beweis]Eine Funktion f : [a, b] → R ist genau dann eine Regelfunktion, wenn an jeder Stelle x ∈ [a, b]die einseitigen Grenzwerte

limx→x0−

f(x) und limx→x0+

f(x)

existieren. (Am Rand naturlich nur limx→b− f(x) und limx→a+ f(x).)

Daraus folgt unter anderem, dass Regelfunktionen hochstens abzahlbar viele Sprungstellen be-sitzen konnen und dass beispielsweise die Funktion f : [−1, 1]→ R mit

f(x) ={

sin( 1x) fur x 6= 0

0 fur x = 0

keine Regelfunktion ist, obwohl sie nur an einer einzigen Stelle (x = 0) unstetig ist.

6.2 Der Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung

Jetzt haben wir zwar genau definiert, was wir unter dem Integral einer Funktion verstehen,zur konkreten Berechnung ist die Approximation durch Treppenfunktionen aber nur in Ausnah-mefallen geeignet.Viele Integrale lassen sich viel einfacher mit Hilfe eines Satzes berechnen, der aussagt, dassDifferenzieren und Integrieren zwei zueinander inverse Operationen sind.Ist eine Funktion f ∈ R([a, b]) und ist c ∈ (a, b), dann konnen wir f auch uber die kleinerenIntervalle [a, c] und [c, b] integrieren und es gilt

b∫a

f(x) dx =

c∫a

f(x) dx+

b∫c

f(x) dx. (∗)

Das ergibt sich direkt aus der Definition des Integrals, denn eine Folge von Treppenfunktionen(ϕn), die auf [a, b] gleichmaßig gegen f konvergiert, konvergiert naturlich auch auf den Teilin-tervallen gleichmaßig gegen f .

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Integration

Definiert man nochb∫a

f(x) dx := −b∫a

f(x) dx

so ist (∗) sogar fur beliebige a, b, c gultig, falls alle vorkommenden Integrale existieren.

Satz 6.7 [Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung]Sei f ∈ C0([a, b]) eine stetige Funktion. Definiere F (x) :=

∫ xa f(t) dt. Dann ist F differenzierbar

und fur c ∈ (a, b) ist F ′(c) = f(c).

Beweis: Da f im Punkt c stetig ist, gibt es zu einem vorgegebenen ε > 0 immer ein δ > 0, sodass |f(t)− f(c)| < ε ist fur |t− c| < δ. Betrachte den Differenzenquotienten und untersuche furkleine h

∣∣∣∣F (c+ h)− F (c)h

− f(c)∣∣∣∣ =

∣∣∣∣∣∣∣∣∣c+h∫af(t) dt−

c∫af(t) dt

h− f(c)

∣∣∣∣∣∣∣∣∣=

1h

∣∣∣∣∣∣c+h∫c

f(t) dt− f(c)

∣∣∣∣∣∣=

1h

∣∣∣∣∣∣c+h∫c

f(t) dt−c+h∫c

f(c) dt

∣∣∣∣∣∣≤ 1

h

c+h∫c

|(f(t)− f(c)|︸ ︷︷ ︸<ε

dt < ε.

Also ist

F ′(c) = limh→0

F (c+ h)− F (c)h

= f(c).

2

Definition: Sei f : [a, b] → R eine stetige Funktion. Wir nennen F eine Stammfunktion vonf , falls F differenzierbar ist mit F ′ = f .

Bemerkung: Es gibt also auch (unstetige) Funktionen, deren Integral existiert, die aber keine(differenzierbare) Stammfunktion besitzen.

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

Satz 6.8 (i) Seien F1 und F2 zwei Stammfunktionen einer Funktion f : [a, b] → R. Danngibt es eine Konstante C ∈ R, so dass F1(x)− F2(x) = C.

(ii) Ist f : [a, b]→ R stetig und F eine Stammfunktion von f , so ist

b∫a

f(x) dx = F (b)− F (a) = [F (x)]ba .

Beweis:

(i) Es ist(F1(x)− F2(x))′ = f(x)− f(x) = 0

fur alle x ∈ [a, b]. Eine Konsequenz des Mittelwertsatzes ist es, dass F1−F2 dann konstantsein muss (siehe Ubungsaufgabe S38).

(ii) nach Satz 6.7 ist außer F auch F (x) :=∫ xa f(t) dt eine Stammfunktion von f . Nach Teil

(i) ist also

F (x) =

x∫a

f(t) dt+ C

fur eine Konstante C. Setzt man x = a ein, ergibt sich

F (a) =

a∫a

f(t) dt

︸ ︷︷ ︸=0

+C = C

Indem man x = b einsetzt, erhalt man daraus dann wie gewunscht

F (b) =

b∫a

f(t) dt+ F (a).

2

Eine andere Schreibweise fur die Stammfunktion F ist∫f oder

∫f(x) dx ohne Integrations-

grenzen. Man spricht dann auch vom unbestimmten Integral von f .

6.3 Integrationsregeln

Anders als bei der Differentiation gibt es kein Rezepte, mit denen man große Klassen von Funk-tionen einfach integrieren konnte. Stattdessen versucht man die Integration unbekannter Funk-tionen durch einige Rechenregeln auf die Berechnung schon bekannter Integrale zuruckzufuhren.Das funktioniert leider nicht immer: Es gibt einige recht ”einfache“ Funktionen, deren Stamm-funktion nicht geschlossen darstellbar sind, die also nicht als Summe, Produkt oder Verkettungvon elementaren Funktionen wie Polynomen, Exponetialfunktion oder trigonometrischen Funk-tionen geschrieben werden konnen. Dazu zahlen f(x) = e−x

2, g(x) = sinx

x oder h(x) = log xx .

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Integration

Partielle Integration

Satz 6.9 Sei f : [a, b] → R stetig mit Stammfunktion F und sei g : [a, b] → R stetig differen-zierbar. Dann ist

b∫a

f(x) · g(x) dx = [F (x) · g(x)]ba −b∫a

F (x) · g′(x) dx.

Beweis: Nach der Produktregel ist

(F · g)′ = F ′ · g + F · g′

Durch Integration ergibt sich mit Hilfe des Hauptsatzes 6.7 daraus

[F (x) · g(x)]ba =

b∫a

(F · g)′(x) dx =

b∫a

(F ′(x) · g(x) + f(x) · g′(x)

)dx

2

Beispiele:

1. Umb∫axex dx zu berechnen, setzen wir f(x) = ex und g(x) = x. Dann ist

b∫a

xex dx = [xex]ba −b∫a

ex dx = [xex − x]ba .

Eine Stammfunktion zu xex ist also F (x) = xex − x.

Auf analoge Weise kann man auch Stammfunktionen zu xmex, zu xm sinx oder xm cosxfinden.

2. Auch die Stammfunktionen zu sin2 x und cos2 x kann man mit partieller Integration be-stimmen.

b∫a

cos2 x dx =

b∫a

cosx · cosx dx = [− cosx · sinx]ba +

b∫a

sin2 x dx

= [− cosx · sinx]ba +

b∫a

1− cos2 x dx

Betrachtet man dies als Gleichung fur das gesuchte Integral und lost diese Gleichung auf,erhalt man

b∫a

cos2 x dx =12

[− cosx · sinx+ x]ba .

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

Insbesondere istπ/2∫0

cos2 x dx =12

[− cosx · sinx+ x]π/20 =π

4.

Satz 6.10 [Substitutionsregel]Sei f : [c, d]→ R stetig und ϕ : [a, b]→ [c, d] stetig differenzierbar. Dann ist

b∫a

f(ϕ(t))ϕ′(t) dt =

ϕ(b)∫ϕ(a)

f(x) dx.

Beweis: Sei F eine Stammfunktion von f . Nach der Kettenregel ist dann

(F ◦ ϕ)′(t) = F ′(ϕ(t)) · ϕ′(t) = f(ϕ(t)) · ϕ(t).

Mit Hilfe des Hauptsatzes ergibt sich durch Integration dann

ϕ(b)∫ϕ(a)

f(x) dx = F (ϕ(b))− F (ϕ(a)) =

b∫a

(F ◦ ϕ)′(t) dt =

b∫a

f(ϕ(t))ϕ′(t) dt.

2

Beispiele:

1. Integrale der Formb∫a

ϕ′(x)ϕ(x)

dx

lassen sich durch die Substitution v = ϕ(x) berechnen, denn dann ist (rein formal) dv =ϕ′(x)dx, also

b∫a

ϕ′(x)ϕ(x)

dx =

ϕ(b)∫ϕ(a)

1v

dv = [log v]ϕ(b)v=ϕ(a) = [logϕ(x)]bx=a

Speziell fur ϕ(x) = cosx findet man so beispielsweise∫tanx dx = − log(cosx) + C.

2. Der Flacheninhalt des Kreises

Fur r > 0 istr∫0

√r2 − x2 dx die Flache eines Viertelkreises mit Radius r. Substituiert man

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Integration

x = r sin t mit t ∈ [0, π2 ] so erhalt man wegen dx = r cos t dt

r∫0

√r2 − x2 dx =

π2∫

0

√r2 − r2 sin2 t r cos tdt = r2

π2∫

0

cos2 tdt = r2π

4

nach dem Beispiel aus dem vorigen Abschnitt. Fur die Flache des gesamten Kreises erhaltenwir also A = πr2. Dabei ist π immer noch die Zahl, die wir ganz abstrakt mit Hilfe derersten Nullstelle der Cosinusfunktion definiert hatten.

6.4 Partialbruchzerlegung

Es soll im folgenden an drei Beispielen gezeigt werden, wie man rationale Funktionen, d.h. Funk-tionen der Form f(x) = P (x)

Q(x) integriert, wobei P und Q Polynome sind. Das allgemeine Resultatwird dann am Ende ohne Beweis angegeben.

Beispiel 1:∫ x3 + 2x2 − 1

dx

Wenn der Grad des Nennerpolynoms kleiner ist als der Grad des Zahlerpolynoms, dann kannman das Integral durch ”Polynomdivision mit Rest“ zerlegen in ein Polynom und eine rationaleFunktion, deren Zahler einen kleineren Grad hat als der Nenner. In unserem Beispiel ist

x3 + 2x2 − 1

=x3 − x+ x+ 2

x2 − 1= x+

x+ 2x2 − 1

Da sich der erste Term leicht integrieren lasst, mussen wir uns nur noch um den Bruch kummern.Dazu macht man den Ansatz

x+ 2x2 − 1

=x+ 2

(x+ 1)(x− 1)=

A

x+ 1+

B

x− 1

mit geeigneten Koeffizienten A und B. Bringt man die Summe auf der rechten Seite wieder aufden Hauptnenner, dann erhalt man

x+ 2x2 − 1

=A(x− 1) +B(x+ 1)

x2 − 1=

(A+B)x−A+B

x2 − 1.

Damit diese Identitat fur alle x richtig ist, mussen die Polynome im Zahler ubereinstimmen.Durch Koeffizientenvergleich erhalt man die Gleichungen

A+B = 1−A+B = 2

mit der eindeutigen Losung A = −1/2 und B = 3/2. Insgesamt erhalten wir so∫x3 + 2x2 − 1

dx =∫x dx− 1

2

∫1

x+ 1dx+

32

∫1

x− 1dx =

x2

2− 1

2log(x+ 1) +

32

log(x− 1).

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

Allgemein kann man bei einem Nennerpolynom Q(x) = (x − x1)(x − x2) . . . (x − xn), dasvollstandig in Linearfaktoren zerfallt, den Ansatz

P (x)Q(x)

=A1

x− x1+

A2

x− x2+ . . .

Anx− xn

verwenden, der mittels Koeffizientenvergleich auf ein lineares Gleichungssystem fur die Unbe-kannten A1, A2, . . . , An fuhrt. Wie man solche linearen Gleichungssysteme systematisch lost,lernen wir im zweiten Semester.

Beispiel 2:∫ x+ 1

(x− 2)2dx

In diesem Fall hat der Nenner eine doppelte Nullstelle und wir mussen unseren Ansatz ein wenigmodifizieren: Wir suchen A und B so, dass

x+ 1(x− 2)2

=A

x− 2+

B

(x− 2)2

fur alle x erfullt ist. Das fuhrt auf das Gleichungssystem A = 1 und −2A+ B = 1, also B = 3.Damit ist ∫

x+ 1(x− 2)2

dx =∫

1x− 2

dx+∫

3(x− 2)2

dx

und diese beiden Integrale lassen sich leicht berechnen.

Beispiel 3:∫ 4x− 1

4x2 − 4x+ 2dx

Man kann hier leicht nachrechnen, dass der Nenner keine reellen Nullstellen besitzt, eine Zerle-gung wie in Beispiel 1 also nicht funktioniert. Die komplexen Nullstellen fur eine Zerlegung zubenutzen, hilft uns auch nicht weiter, da wir sonst moglicherweise Ausdrucke wie log(x+ i) etc.als Stammfunktionen erhalten.Wenn hier im Zahler gerade die Ableitung des Nenners stunde, dann konnten wir einfach denNenner substituieren.Dies motiviert aber die folgende Zerlegung:∫

4x− 14x2 − 4x+ 2

dx =12

∫8x− 4

4x2 − 4x+ 2dx+

∫1

4x2 − 4x+ 2dx

Beide Integrale konnen wir nun durch Substitution losen:Mit u = 4x2 − 4x+ 2 also du = (8x− 4)dx ist∫

8x− 44x2 − 4x+ 2

dx =∫

duu

= log u = log(4x2 − 4x+ 2).

Fur das zweite Integral wahlt man wegen 4x2−4x+2 = (2x−1)2 +1 die Substitution v = 2x−1und erhalt dann ∫

14x2 − 4x+ 2

dx =∫

dvv2 + 1

= arctan v = arctan(2x− 1).

Im allgemeinen kann man jedes Integral einer rationalen Funktion durch Partialbruchzerlegungin einfachere Integrale zerlegen, die man dann geschlossen darstellen kann. Die einzige prinzipielle

138

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Integration

Schwierigkeit besteht darin, den Nenner in Linearfaktoren und quadratische Terme ohne reelleNullstellen zu zerlegen.Zumindest theoretisch gilt jedoch:

Satz 6.11 [ohne Beweis]Die Integration rationaler Funktionen kann durch Partialbruchzerlegung und geeignete Skalie-rung auf Integrale der Form∫

1x− a

dx = log |x− a|∫1

(x− a)mdx =

11−m

1(x− a)m−1∫

11 + x2

dx = arctanx∫2x

1 + x2dx = log(x2 + 1)∫

2x(1 + x2)m

dx =1

1−m1

(x2 + 1)m−1und∫

1(1 + x2)m

dx =x

2(m− 1)(1 + x2)m−1+

2m− 32(m− 1)

∫1

(1 + x2)m−1dx

zuruckgefuhrt werden. Das letzte Integral lasst sich durch partielle Integration rekursiv bestim-men.

Bemerkung: Rationale Funktionen von sinx und cosx lassen sich mit Hilfe der Substitutiont := tan(x2 ) auf rationale Funktionen in t zuruckfuhren, denn es ist

sinx =2t

1 + t2, cosx =

1− t2

1 + t2,

12

(1 + t2)dx = dt.

6.5 Taylorformel mit Restglied in Integralform

In Kapitel 4 hatten wir die Taylorformel zur Approximation einer Funktion f in der Naheeines Punktes x0 kennengelernt. Die Abweichung des n-ten Taylor-Polynoms von der Funktionf wurde damals durch das Lagrange-Restglied ausgedruckt, bei dem die (n+ 1)-te Ableitung aneiner unbekannten Zwischenstelle ξ eingeht. Eine andere Version, dieses Restglied auszudrucken,kommt ohne diese Zwischenstelle aus:

Satz 6.12Sei f : [a, b]→ R (n+ 1)-mal stetig differenzierbar und seien x, x0 ∈ [a, b]. Dann gilt

f(x) =n∑k=0

f (k)(x0)k!

(x− x0)k +Rn+1(x, x0)

139

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

mit dem Restglied

Rn+1(x, x0) =1n!

x∫x0

(x− s)nf (n+1)(s) ds.

Statt der unbekannten Zwischenstelle ξ dient jetzt ein Integral dazu, den ”Fehler“ anzugeben,den man macht, wenn man f durch sein Taylor-Polynom ersetzt.Beweis des Satzes: mittels Induktion nach n.Induktionsanfang (n = 0):

f(x) = f(x0) +R1 = f(x0) +

x∫x0

f ′(s) ds

Diese Gleichung ist nach dem Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung richtig.Induktionsschritt (n− 1 ; n):Durch partielle Integration des Restglieds Rn erhalt man

Rn(x, x0) =1

(n− 1)!

x∫x0

(x− s)n−1f (n)(s) ds

=1

(n− 1)!

[− 1n

(x− s)n−1f (n)(s)]xs=x0

+1

(n− 1)!

x∫x0

1n

(x− s)nf (n+1)(s) ds

=f (n)(x0)

n!(x− x0)n +Rn+1(x, x0).

Dann ist aber

f(x) =n−1∑k=0

f (k)(x0)k!

(x− x0)k +Rn(x, x0) =n∑k=0

f (k)(x0)k!

(x− x0)k +Rn+1(x, x0).

2

6.6 Monotonie und Mittelwertsatz der Integralrechnung

Eine Eigenschaft des Integrals haben wir bisher nicht benutzt: die Monotonie. Sind f, g ∈R([a, b]) zwei Regelfunktionen, und gilt f(x) ≤ g(x) fur alle x, dann ist auch

b∫a

f(x) dx ≤b∫a

g(x) dx.

denn: Da f − g eine Regelfunktion ist, die nur nicht-negative Werte annimmt, kann man sieauch gleichmaßig durch eine Folge von Treppenfunktionen (ϕn) approximieren, die alle ebenfallsnicht-negativ sind.

140

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Integration

Damit ist auch∫ ba ϕn(x) dx ≥ 0 fur alle n und im Limes n→∞

b∫a

g(x)− f(x) dx = limn→∞

b∫a

ϕn(x) dx ≥ 0.

Wegen der Linearitat des Integrals aus Satz 6.1 folgt daraus direkt

b∫a

g(x) dx ≥b∫a

f(x) dx.

2

Satz 6.13 [Mittelwertsatz der Integralrechnung]Ist f : [a, b]→ R eine stetige Funktion, dann gibt es ein ξ ∈ (a, b) mit

b∫a

f(x) dx = f(ξ)(b− a).

Etwas allgemeiner gilt sogar folgende Aussage: Falls f : [a, b] → R stetig und g ∈ R([a, b]) eineRegelfunktion ist, dann gibt es ein ξ ∈ (a, b) mit

b∫a

f(x)g(x) dx = f(ξ)

b∫a

g(x) dx.

Beweis: Da die erste Aussage nur ein Spezialfall der zweiten Aussage mit g(x) ≡ 1 ist, zeigenwir gleich die allgemeinere Aussage.Nach Kapitel 3 ist die stetige Funktion f beschrankt, d.h. es gibt Zahlen m,M , so dass

m ≤ f(x) ≤M fur alle x ∈ [a, b]

also auchmg(x) ≤ f(x)g(x) ≤M g(x) fur alle x ∈ [a, b].

Wegen der Monotonie des Integrals ist dann

m

b∫a

g(x) dx ≤b∫a

f(x)g(x) dx ≤Mb∫a

g(x) dx

und damit

m ≤

b∫af(x) dx

b∫ag(x) dx

≤M.

141

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

Nach dem Zwischenwertsatz nimmt aber f jeden Wert zwischen m und M an, d.h. es gibt ein ξmit der Eigenschaft

f(ξ) =

b∫af(x) dx

b∫ag(x) dx

.

2

6.7 Trapezregel

Wenn man Integrale naherungsweise berechnen will, konnte man wie in der Konstruktion eineApproximation mit Treppenfunktionen durchfuhren.In diesem Abschnitt soll kurz eine Methode vorgestellt werden, die genauso einfach zu verstehenist, in einem gewissen Sinn aber bessere Ergebnisse liefert. Um die Flache unter dem Grapheneiner Funktion f zu berechnen, ersetzt man diese Flache durch ein Trapez, bzw. durch meh-rere Trapeze. Um zu sehen, wie gut die Trapezflache b−a

2 (f(a) + f(b)) das Integral∫ ba f(x) dx

x

y

y=f(x)

a=x x b=x0 1 2

Abbildung 6.2: Warum die Trapezregel Trapezregel heißt

approximiert, berechnen wir mit Hilfe von partieller Integration

b∫a

f(x) dx =

b∫a

f(x)(x− a+ b

2)′ dx

=[f(x) · (x− a+ b

2)]ba

−b∫a

f ′(x)(x− a+ b

2) dx

142

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Integration

=(b− a)(f(a) + f(b)

2−[f ′(x)(x− a)(b− x)

]ba︸ ︷︷ ︸

=0

+

b∫a

f ′′(x)(x− a)(b− x) dx

=(b− a)(f(a) + f(b)

2+ f ′′(ξ)

b∫a

(x− a)(b− x) dx

=(b− a)(f(a) + f(b)

2+

16f ′′(ξ)(b− a)3

wobei beim Schritt von der vorletzten zur letzten Zeile der Mittelwertsatz der Integralrechnungverwendet wurde und ξ eine (unbekannte) Zwischenstelle zwischen a und b ist. Wenn man alsoeine obere Schranke C an die zweite Ableitung |f ′′| kennt, dann kann man den Fehler durchC6 (b − a)3 abschatzen. Um diesen Fehler moglichst klein zu machen, unterteilt man nun dasIntervall [a, b] in kleinere Teilintervalle der Lange h := b−a

n und setzt x0 := a, x1 := a + h,x2 := a+2h, . . . xn = a+nh = b. Approximiert man das Integral in jedem Teilintervall [xj−1, xj ]durch ein Trapez mit Flacheninhalt f(xj−1+f(xj)

2 h , dann erhalt man als Summe

T (h) :=n∑j=1

f(xj−1 + f(xj)2

h

=(f(x0) + f(x1)

2+f(x1) + f(x2)

2+ +

f(x2) + f(x3)2

. . .+f(xn−1) + f(xn)

2

)h

=

f(a)2

+n−1∑j=1

f(xj) +f(b)

2

h.

Indem man die Abschatzung von weiter oben auf jedes Teilintervall anwendet, erhalt man denfolgenden Satz.

Satz 6.14Sei f ∈ C2([a, b]). Teilt man das Intervall [a, b] in n gleich lange Teilintervalle der Lange h = b−a

nund berechnet mit den Stutzstellen xj = a+ j · h wobei j = 0, 1, 2, . . . , n die Trapezsumme

T (h) =

f(a)2

+n−1∑j=1

f(xj) +f(b)

2

h

so gilt die Fehlerabschatzung∣∣∣∣∣∣b∫a

f(x) dx− T (h)

∣∣∣∣∣∣ ≤ 16

maxx∈[a,b]

|f ′′(x)|h2

Beweis:

143

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

Auf jedem Teilintervall [xj−1, xj ] der Lange h gilt die Abschatzung

xj∫xj−1

f(x) dx = h(f(xj−1) + f(xj)

2+

16f ′′(ξ)h3

∣∣∣∣∣∣∣xj∫

xj−1

f(x) dx− h(f(xj−1) + f(xj)2

∣∣∣∣∣∣∣ ≤16

max |f ′′|h3

Addiert man diese n Ungleichungen, so erhalt man∣∣∣∣∣∣b∫a

f(x) dx− T (h)

∣∣∣∣∣∣ ≤n∑j=1

∣∣∣∣∣∣∣xj∫

xj−1

f(x) dx− h(f(xj−1) + f(xj)2

∣∣∣∣∣∣∣≤ n · 1

6max |f ′′|h3 =

b− a6

max |f ′′|h2

denn es ist ja n · h = b− a. 2

Bemerkung: Es gibt noch einige weitere numerische Integrationsverfahren, die auf ahnlichenIdeen beruhen. Bei der Keplerschen Fassregel beispielsweise wird die Funktion f auf dem Intervall[a, b] durch eine quadratische Parabel approximiert, die durch die drei Punkte (a, f(a)), (b, f(b))und (a+b2 , f(a+b2 )) verlauft.Man kann auch die Taylor-Formel verwenden, um f lokal durch ein Polynom anzunahern, dassich dann einfach integrieren lasst.

6.8 Integration von Potenzreihen

In Kapitel 5 haben wir schon gesehen, dass man Potenzreihen gliedweise differenzieren darfund dass sich dadurch der Konvergenzradius nicht verandert. Dies hilft beim Rechnen mit Po-tenzreihen ungemein. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass man Potenzreihen ebenfallsgliedweise integrieren darf.

Satz 6.15Sei

∞∑k=0

ak(x−x0)k eine Potenzreihe mit Konvergenzradius ρ ∈ (0,∞], die in ihrem Konvergenz-

kreis eine Funktion f darstellt, d.h.∞∑k=0

ak(x− x0)k = f(x) fur |x− x0| < ρ.

Dann hat die gliedweise integrierte Potenzreihe F (x) =∞∑k=0

ak(x−x0)k+1

k+1 ebenfalls den Konver-

genzradius ρ und fur |x− x0| < ρ gilt F ′ = f .

144

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Integration

Beweis: Die Behauptung folgt unmittelbar aus Satz 5.7, wenn man diesen Satz uber die Dif-ferenzierbarkeit von Potenzreihen auf die gliedweise integrierte Reihe anwendet. Falls namlich

ρ der Konvergenzradius der gliedweise integrierten Reihe ist, und∞∑k=0

ak(x−x0)k+1

k+1 = F (x) fur

|x− x0| < ρ, dann sagt Satz 5.7 gerade aus, dass ρ = ρ und F ′ = f ist. 2

Beispiel: Wir betrachten die Potenzreihe

11 + x

= 1− x+ x2 − x3 + x4 −+ . . . =∞∑k=0

(−1)kxk

deren Konvergenzradius ρ = 1 ist. Die gliedweise integrierte Reihe

x− x2

2+x3

3− x4

4+− . . . =

∞∑k=1

(−1)k+1xk

k

hat dann ebenfalls Konvergenzradius ρ = 1 und stellt eine Stammfunktion zu f(x) = 11+x dar,

also F (x) = log(1 + x) + C. Um die richtige Integrationskonstante C zu bestimmen, setzen wirx = 0 ein und erhalten so die Gleichung 0 = log(1 + 0) + C, woraus C = 0 folgt. Daher gilt fur|x| < 1 die Reihendarstellung des Logarithmus

log(1 + x) = x− x2

2+x3

3− x4

4+− . . .

Mit Hilfe des Abelschen Grenzwertsatzes kann man zeigen, dass diese Darstellung auch fur x = 1noch gultig ist. Daher ist

1− 12

+13− 1

4+− . . . = log 2.

Auf eine ganz ahnliche Weise kann man auch die Arcustangens-Reihe

arctanx = x− x3

3+x5

5− x7

7+− . . .

herleiten.

6.9 Uneigentliche Integrale

Bisher hatten wir Integrale von Regelfunktionen nur auf kompakten, also insbesondere be-schrankten Intervallen [a, b] betrachtet. Versucht man Integrale uber offene oder sogar unbe-schrankte Intervalle mittels Approximation durch Treppenfunktionen zu erklaren stoßt man aufSchwierigkeiten, da sich nicht einmal stetige Funktionen auf nicht-kompakten Intervallen immergleichmaßig durch Treppenfunktionen approximieren lassen.Aus diesem Grund beschreitet man einen anderen Weg.

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

Definition:Sei −∞ ≤ a < b <∞ und f : (a, b]→ R eine Funktion, deren Einschrankung auf jedes kompakteTeilintervall [α, b] ⊂ (a, b] eine Regelfunktion ist.Wir nennen

b∫a

f(x) dx := limα→a+

b∫α

f(x) dx ∈ R

uneigentliches Integral, falls der Grenzwert auf der rechten Seite existiert.Genauso definiert man fur eine Funktion f : [a, b) → R mit −∞ < a < b ≤ ∞, deren Ein-schrankung auf jedes kompakte Teilintervall [a, β] ⊂ [a, b) eine Regelfunktion ist,

b∫a

f(x) dx := limβ→b−

β∫a

f(x) dx,

falls dieser Limes existiert.Schließlich erklart man fur f : (a, b)→ R mit −∞ ≤ a < b ≤ ∞ das uneigentliche Integral

b∫a

f(x) dx :=

c∫a

f(x) dx+

b∫c

f(x) dx

sofern die uneigentlichen Integrale auf der rechten Seite beide existieren. Der Wert des uneigent-lichen Integrals hangt dabei nicht von der Wahl von c ∈ (a, b) ab.

Bemerkung: Insbesondere darf der Grenzwert

limn→∞

b∫αn

f(x) dx

nicht von der Wahl der Folge αn → a bzw. βn → b abhangen.

Beispiele:

1. Sei α ∈ R. Das uneigentliche Integral1∫0

xα dx existiert fur α > −1.

Dazu berechnen wir das bestimmte Integral

1∫c

xα dx =

[

1α+ 1

xα+1

]1

c

=1− cα+1

α+ 1fur α 6= −1

[log x]1c = − log c fur α 6= −1

Da limc→0− log c = +∞ existiert das uneigentliche Integral fur α = −1 nicht.

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Integration

Fur α > −1 ist limc→0

cα+1 = 0, wahrend der Grenzwert fur α < −1 nicht existiert.

Das uneigentliche Integral existiert also genau dann, wenn α > −1 ist und hat dann den

Wert1∫0

xα dx =1

α+ 1.

2. Das uneigentliche Integral∞∫1

xα dx existiert fur α < −1.

Wie eben berechnen wir explizit

c∫1

xα dx =

[

1α+ 1

xα+1

]c1

=cα+1 − 1α+ 1

fur α 6= −1

[log x]c1 = log c fur α 6= −1

Diesmal existiert nur im Fall α < −1 der Grenzwert fur c → +∞. Das uneigentliche

Integral ist dann∞∫1

xα dx = − 1α+ 1

.

3. Fur α > 0 existiert das uneigentliche Integral

∞∫0

e−αx dx = limc→∞

∞∫0

e−αx dx =1α.

4. Ein anderes uneigentliches Integral, das sich explizit berechnen lasst ist∞∫−∞

dx1+x2 . Fur

a < 0 < b ist0∫a

dx1 + x2

= − arctan a und

b∫0

dx1 + x2

= arctan b.

Lasst man a→ −∞ und b→ +∞ streben, so ergibt sich direkt

∞∫−∞

dx1 + x2

2−(−π

2

)= π.

Nicht immer kann man entscheiden, ob ein uneigentliches Integral existiert, indem man eineexplizite Stammfunktion benutzt.

Beispiel: Das Dirichlet-Integral∞∫0

sin tt dt

Fur die Funktion sin tt kann man keine Stammfunktion berechnen. Hier muss man sich anders

behelfen. Betrachtet man das Schaubild der Funktion sin tt , dann erkennt man, dass sich das

Integral aus unendlich vielen Abschnitten zusammensetzt.

147

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

Abbildung 6.3: Zum Dirichlet-Integral

Da die Abschnitte abwechselnd einen positiven und einen negativen Beitrag zum Integral leisten,definieren wir

an := (−1)n(n+1)π∫nπ

sin tt

dt > 0.

Es ist dann

Sn :=

nπ∫0

sin tt

dt = a0 − a1 + a2 − a3 + a4 −+ . . .+ (−1)n−1an−1

Die Glieder der Folge (Sn)n∈N sind gerade die Partialsummen der Reihe∑∞

k=0(−1)kak. DieseReihe konvergiert nach dem Leibnizkriterium, wenn wir zeigen, dass die Folge (an)n∈N einemonotone Nullfolge ist. Um das einzusehen, nutzen wir die Identitat sin(t + π) = − sin t aus,denn dann ist ∣∣∣∣sin(t+ π)

t+ π

∣∣∣∣ < ∣∣∣∣sin(t)t

∣∣∣∣und wenn man diese Ungleichung uber das Intervall [nπ, (n+ 1)π] integriert, ergibt sich darausan+1 < an. Die Folge ist auch eine Nullfolge, denn

|an| ≤(n+1)π∫nπ

∣∣∣∣sin tt∣∣∣∣ dt ≤

(n+1)π∫nπ

1t︸︷︷︸

≤1/(nπ)

dt ≤ 1n

Somit haben wir gezeigt, dass zumindest

limn→∞

nπ∫0

sin tt

dt

148

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Integration

existiert.

Da fur x ∈ [nπ, (n + 1)π] der Wert des Integralsx∫0

sin tt dt zwischen Sn−1 und Sn liegt, existiert

auch der Grenzwert

limx→∞

x∫0

sin tt

dt

und damit das uneigentliche Integral.Man kann den Wert des Integrals sogar explizit berechnen, namlich

∞∫0

sin tt

dt =π

2,

aber im Moment ist das fur uns noch zu schwierig...

Eine andere Methode, um zu zeigen, dass ein uneigentliches Integral existiert, besteht darin, esnach oben durch ein anderes uneigentliches Integral abzuschatzen, dessen Existenz man schonkennt.

Satz 6.16 [Majorantenkriterium fur uneigentliche Integrale]Sei a < b ≤ ∞ und f : [a, b) → R eine Funktion, deren Einschrankung auf jedes kompakteIntervall [a, c] ⊂ [a, b) eine Regelfunktion in R([a, c]) ist. Sei weiter ϕ : [a, b) → R eine nicht-

negative Funktion, fur die das uneigentliche Integralb∫aϕ(x)dx existiert. Außerdem gelte fur alle

x ∈ [a, b) die Ungleichung |f(x)| ≤ ϕ(x).

Dann existiert auch das uneigentliche Integralb∫af(x)dx und es ist

∣∣∣∣∣∣b∫a

f(x)dx

∣∣∣∣∣∣ ≤b∫a

ϕ(x) dx.

Beweis: Wir mochten ein letztes Mal in diesem Semester das beliebte Cauchy-Kriterium an-wenden, und zwar auf eine Folge von Integralen

In :=

tn∫a

f(x) dx

wobei (tn)n∈N eine Folge ist, die gegen b konvergiert.Bevor wir zeigen, dass (In)n∈N eine Cauchy-Folge ist, setzen wir jetzt noch

Jn :=

tn∫a

ϕ(x) dx.

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

Da das uneigentliche Integral∫ ba ϕ(x) dx existiert, bilden die Jn eine Cauchy-Folge. Man findet

also zu einem vorgegebenen ε > 0 ein N ∈ N, so dass fur n,m ≥ N die Ungleichung |Jn−Jm| < εgilt.Fur n,m ≥ N gilt dann aber auch

|In − Im| =

∣∣∣∣∣∣tn∫a

f(x) dx−tm∫a

f(x) dx

∣∣∣∣∣∣ =

∣∣∣∣∣∣tn∫

tm

f(x)dx

∣∣∣∣∣∣≤

tn∫tm

|f(x)|dx

≤tn∫

tm

ϕ(x)︸︷︷︸≥0

dx

=

∣∣∣∣∣∣tn∫a

ϕ(x)dx−tm∫a

ϕ(x)dx

∣∣∣∣∣∣ = |Jn − Jm| < ε.

Also ist auch die Folge (In)n∈N eine Cauchy-Folge und ist daher konvergent.Es kommt dabei auch nicht auf die Wahl der Folge (tn) an, denn wenn man eine andere Folge(sn) nimmt, fur die ebenfalls limn→∞ sn = b gilt, dann ist mit einer analogen Rechnung wie eben∣∣∣∣∣∣

tn∫a

f(x) dx−sn∫a

f(x) dx

∣∣∣∣∣∣ ≤∣∣∣∣∣∣tn∫a

ϕ(x)dx−sn∫a

ϕ(x)dx

∣∣∣∣∣∣und da die rechte Seite fur n→∞ gegen 0 konvergiert, ist auch die linke Seite eine Nullfolge. 2

Beispiel: Die Gamma-Funktion Eine ganze Familie uneigentlicher Integrale muss man un-tersuchen, um die sogenannte Gammafunktion zu definieren, die gegeben ist durch

Definition:

Γ(x) :=

∞∫0

tx−1e−t dt

Das Integral konvergiert fur x > 0 nach dem Majorantenkriterium, denn

|tx−1e−t| ≤{tx−1 fur 0 < t ≤ 1C(x)e−t/2 fur 1 ≤ t <∞

Die Gamma-Funktion erfullt die Funktionalgleichung

Γ(x+ 1) = xΓ(x) ∀x > 0

denn durch partielle Integration folgt∫ b

atxe−t dt =

[−txe−t

]ba

+ x

b∫a

tx−1e−t dt

150

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Integration

Fur x > 0 istlima→0−axe−a = lim

b→∞−bxe−b = 0.

Die rechte Seite der Gleichung konvergiert fur a→ 0 und b→∞ also gegen xΓ(x), wahrend dielinke gegen Γ(x+ 1) konvergiert.Außerdem ist die Gamma-Funktion eine Erweiterung der Fakultat, denn fur n ∈ N ist

Γ(n) = (n− 1)!

Um das zu sehen, benutzen wir noch ein letztes Mal in diesem Semester Vollstandige Induktion:Fur n = 1 ist

Γ(1) =

∞∫0

e−t dt = 1 = 0!

Falls aber Γ(n) = (n− 1)! schon gezeigt ist, dann folgt mit Hilfe der Funktionalgleichung sofort

Γ(n+ 1) = nΓ(n) = n · (n− 1)! = n!

Dass Γ(n) = (n− 1)! und nicht n! hat historische Grunde.Zum Abschluss hier noch das Schaubild der Gammafunktion:

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J. Harterich: Mathematik fur Physiker I

0 50 100 150 200 2500

5

10

15

20

25

x

Gam

ma(

x)

Abbildung 6.4: Die Gammafunktion

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Stichwortverzeichnis

Uberdeckung, 81uberabzahlbar, 31

Abbildung, 9abelsche Gruppe, 23Abelscher Grenzwertsatz, 122Ableitung, 93absolut konvergent, 54abzahlbar, 31Additionstheoreme, 71Arcuscosinus, 91Arcussinus, 91Arcustangens, 91assoziativ, 22

Bernoullische Ungleichung, 17beschrankt, 26, 37Betrag, 28bijektiv, 11Binomialkoeffizient, 20Binomischer Satz, 21

Cauchy-Folge, 44Cauchy-Kriterium

fur Folgen, 45fur gleichmaßige Konvergenz, 119fur Reihen, 56

Cauchy-Produkt, 64Cosinus, 70

Definitionsbereich, 9Differenzenquotient, 93differenzierbar, 93divergent, 34Dreiecksungleichung, 29, 128

Einheitswurzeln, 87Einschrankung, 10Eulersche Zahl, 39Exponentialfunktion, 68

Fehlerfortpflanzung, 103Fibonacci-Zahlen, 19Flacheninhalt, 127Folge, 34Folgenglied, 34Fundamentalsatz der Algebra, 87Funktion, 9Funktionenreihe, 119

Gamma-Funktion, 150Gauß-Klammer, 64geometrische Reihe, 54gleichmaßig konvergent, 116gleichmaßig stetig, 130Grenzwert, 34, 73

uneigentlicher, 92Gruppe, 22

Haufungspunkt, 40, 80harmonische Reihe, 55Hauptsatz der Differential- und Integralrech-

nung, 133Hintereinanderausfuhrung, 12

Imaginarteil, 30Infimum, 27injektiv, 11Integral

uneigentliches, 146inverses Element, 22

Korper, 23kartesisches Produkt, 9Kettenregel, 95kompakt, 81komplex konjugiert, 30komplexe Zahl, 29konvergent, 54Konvergenz, 34Konvergenzradius, 66

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Lagrange-Restglied, 109Landausche Ordnungssymbole, 94Leibniz-Kriterium, 60Limes, 34Limes inferior, 43Limes superior, 43Lipschitz-Konstante, 76Lipschitz-stetig, 76Logarithmus, 89

Majoranten-Kriterium, 57Majorantenkriterium, 149Menge, 5

abgeschlossene, 80offene, 79

Minimumlokales, 104

Minoranten-Kriterium, 59Mittelwertsatz

der Differentialrechnung, 101der Integralrechnung, 141

monoton fallend, 38monoton wachsend, 38

neutrales Element, 22Newton-Verfahren, 112

Partialbruchzerlegung, 137Partialsumme, 54Partielle Integration, 135Polarkoordinaten, 87Polynom, 10Potenzmenge, 18Potenzreihe, 66Produktregel, 95punktweise konvergent, 116

Quantoren, 7Quotientenkriterium, 58Quotientenregel, 95

Realteil, 30Regel von l’Hospital, 105Regelfunktion, 129Reihe

alternierende, 60unendliche, 54

rekursive Definition, 18

Restgliedin Integralform, 139

Sandwich-Kriterium, 46Satz

vom Maximum, 83von Bolzano-Weierstraß, 41von der Umkehrfunktion, 88von Heine-Borel, 81von Rolle, 100

Schranke, 26Sinus, 70Stutzstellen, 126Stammfunktion, 133stetig, 73Stirlingsche Formel, 54Substitutionsregel, 136Supremum, 26Supremumsnorm, 128surjektiv, 11

Tangens, 91Taylor-Polynom, 109Teilfolge, 40Teleskopreihe, 63Trapezregel, 142Treppenfunktion, 126

Umgebung, 35Umkehrabbildung, 12Urbild, 11

Verdichtungssatz, 62Verfeinerung, 127Vollstandige Induktion, 16Vollstandigkeit, 26, 27

Wurzelkriterium, 59

Zerlegung, 126Zwischenwertsatz, 84

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