Mathematisches Seminar der CAU Kiel Fassung vom 6. April...

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Analysis I Walter Bergweiler Mathematisches Seminar der CAU Kiel WS 2016/17 Fassung vom 6. April 2017 Inhaltsverzeichnis Einleitung 1 1 Grundlagen 1 1.1 Aussagenlogik .............................. 1 1.2 Mengen ................................. 4 1.3 Quantoren ................................ 7 1.4 Relationen und Funktionen ....................... 9 1.4.1 ¨ Aquivalenzrelationen ...................... 10 1.4.2 Ordnungsrelationen ....................... 11 1.4.3 Funktionen ........................... 12 1.5 Vollst¨ andige Induktion ......................... 15 1.6 orper .................................. 18 1.6.1 Die K¨ orperaxiome ....................... 18 1.6.2 Angeordnete K¨ orper ...................... 21 1.7 Reelle Zahlen .............................. 23 1.8 Komplexe Zahlen ............................ 29 2 Folgen und Reihen 33 2.1 Folgen .................................. 33 2.2 Rechenregeln .............................. 38 2.3 Konvergenzkriterien ........................... 41 2.3.1 Monotone Folgen ........................ 41 2.3.2 Der Satz von Bolzano-Weierstraß ............... 43 2.3.3 Cauchyfolgen .......................... 44 2.4 Limes superior und Limes inferior sowie uneigentliche Grenzwerte . 47 2.5 Reihen .................................. 49 2.6 Absolute und bedingte Konvergenz .................. 53 2.7 Kriterien f¨ ur absolute Konvergenz ................... 56 2.8 Potenzreihen ............................... 59 i

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Analysis I

Walter BergweilerMathematisches Seminar der CAU Kiel

WS 2016/17Fassung vom 6. April 2017

Inhaltsverzeichnis

Einleitung 1

1 Grundlagen 11.1 Aussagenlogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2 Mengen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41.3 Quantoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71.4 Relationen und Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

1.4.1 Aquivalenzrelationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101.4.2 Ordnungsrelationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111.4.3 Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

1.5 Vollstandige Induktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151.6 Korper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18

1.6.1 Die Korperaxiome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181.6.2 Angeordnete Korper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

1.7 Reelle Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231.8 Komplexe Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

2 Folgen und Reihen 332.1 Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332.2 Rechenregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382.3 Konvergenzkriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

2.3.1 Monotone Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412.3.2 Der Satz von Bolzano-Weierstraß . . . . . . . . . . . . . . . 432.3.3 Cauchyfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44

2.4 Limes superior und Limes inferior sowie uneigentliche Grenzwerte . 472.5 Reihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492.6 Absolute und bedingte Konvergenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 532.7 Kriterien fur absolute Konvergenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 562.8 Potenzreihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

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3 Stetigkeit und Grenzwerte von Funktionen 643.1 Stetigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643.2 Der Zwischenwertsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 673.3 Grenzwerte von Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 693.4 Trigonometrische und hyperbolische Funktionen . . . . . . . . . . . 73

3.4.1 Sinus und Cosinus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 733.4.2 Tangens und Cotangens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 763.4.3 Hyperbolische Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

3.5 Polarkoordinaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 793.6 Kompakte Mengen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 803.7 Folgen und Reihen stetiger Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . 84

4 Differenzierbarkeit 874.1 Grundlegende Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87

4.1.1 Definition der Differenzierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . 874.1.2 Rechenregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 894.1.3 Stetige Differenzierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92

4.2 Der Mittelwertsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 944.3 Anwendungen des Mittelwertsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96

4.3.1 Monotonie, Extremwerte und Konvexitat . . . . . . . . . . . 964.3.2 Die Regeln von de l’Hospital . . . . . . . . . . . . . . . . . . 994.3.3 Das Newton-Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

4.4 Folgen und Reihen differenzierbarer Funktionen . . . . . . . . . . . 104

Literatur 111

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Einleitung

”Was ist Mathematik?“ Dies ist der Titel eines (lesenswerten) Buches von R. Cou-

rant und H. Robbins. Die Antwort ist nicht einfach, und das genannte Buch gibtsie, indem es in mathematische Methoden und Denkweisen einfuhrt. Wir verzichtenauf eine

”Definition“ des Begriffs

”Mathematik“, sondern begnugen uns zunachst

mit der Feststellung, dass die Mathematik eine Wissenschaft ist, die Aussagen uber(abstrakte) Objekte wie Zahlen, Mengen, Funktionen, usw. macht.

Die Vorgehensweise ist dabei folgende: Man beginnt mit gewissen Grundaussa-gen, den sogenannten Axiomen. Neue Aussagen gewinnt man aus diesen Axiomen(und bereits gewonnenen Aussagen) durch logisches Schließen. Eine so gewonneneAussage nennt man Satz (oder auch Theorem), in manchen Fallen auch Hilfssatz(Lemma), Folgerung (Korollar) oder ahnlich. Die Herleitung einer solchen Aussagedurch logisches Schließen nennt man Beweis. Die Festlegung eines neuen Begriffsnennt man Definition.

Was ist Analysis? Auch auf eine Definition des Begriffs”Analysis“ soll hier ver-

zichtet werden. Wir nennen lediglich einige der Grundbegriffe: reelle und komplexeZahlen, Funktionen, Stetigkeit, Ableitung, Integral, . . . . Wie die meisten anderenmathematischen Disziplinen hat auch die Analysis vielfaltige Anwendungen. Sobedient man sich etwa bei der mathematischen Beschreibung von Vorgangen inNaturwissenschaft und Technik oft der Sprache und Methoden der Analysis. Stelltman beispielsweise die Position eines beweglichen Teilchens als Funktion der Zeitdar, so ist seine Geschwindigkeit durch die Ableitung und seine Beschleunigungdurch die zweite Ableitung gegeben.

1 Grundlagen

1.1 Aussagenlogik

(Mathematische) Aussagen konnen wahr (w) oder falsch (f) sein:

• 2+3=4 (f)

• 7 ist eine Primzahl (w)

Es muss nicht bekannt sein, ob eine Aussage wahr oder falsch ist:

• Es gibt unendlich viele naturliche Zahlen n, so dass n und n+ 2 beide Prim-zahlen sind (?)

Die Verneinung (Negation) einer Aussage A wird mit ¬A bezeichnet; gesprochen

”nicht A“. Es ist ¬A genau dann wahr, wenn A falsch ist.

Aus Aussagen A und B lassen sich durch die folgenden Operationen neue Aus-sagen gewinnen:

• A∧B, gesprochen”A und B“: wahr genau dann, wenn A und B beide wahr

sind.

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2 1 GRUNDLAGEN

• A ∨B, gesprochen”A oder B“: wahr genau dann, wenn mindestens eine der

Aussagen A,B wahr ist.

• A ⇒ B, gesprochen”aus A folgt B“,

”A impliziert B“ oder

”wenn A, dann

B“: nur dann falsch, wenn A wahr und B falsch; gleichbedeutend mit ¬A∨B.(Mit ¬A ∨ B ist hier (¬A) ∨ B und nicht (¬A ∨ B) gemeint.) Man schreibtauch B ⇐ A statt A⇒ B.

• A⇔ B, gesprochen”A ist aquivalent zu B“: genau dann wahr, wenn A und B

beide wahr oder beide falsch sind; gleichbedeutend mit (A⇒ B)∧ (B ⇒ A).

Die Wahrheitswerte der Aussagen ¬A, A ∧ B, A ∨ B, A ⇒ B sowie A ⇔ B sindalso durch die von A und B festgelegt. Man stellt dies auch in einer sogenanntenWahrheitstafel dar:

A B ¬A A ∧B A ∨B A⇒ B ¬A ∨B A⇔ Bw w f w w w w ww f f f w f f ff w w f w w w ff f w f f w w w

Man erkennt hier die Aquivalenz von A ⇒ B und ¬A ∨ B. Anders gesagt, dieAussage (A⇒ B)⇔ ¬A∨B ist immer wahr, unabhangig vom Wahrheitswert vonA und B.

Ebenso erkennt man, dass A⇒ B immer dann wahr ist, wenn A falsch ist. Auseiner falschen Aussage kann also jede Aussage gefolgert werden!

Schließlich beachte man, dass A ∨B auch dann wahr ist, wenn A und B beidegelten. In der Mathematik ist mit

”oder“ also immer das

”einschließende oder“ und

nicht”entweder-oder, aber nicht beides“ gemeint.

Mathematische Satze haben in der Regel die Form A ⇒ B. Dann heißt A dieVoraussetzung und B die Behauptung. Man sagt auch, dass A eine hinreichendeBedingung fur B ist und B eine notwendige Bedingung fur A ist.

Gleichbedeutend mit A⇒ B ist ¬B ⇒ ¬A. Hiervon uberzeugt man sich anhandder Wahrheitstafel:

A B ¬A ¬B A⇒ B ¬B ⇒ ¬Aw w f f w ww f f w f ff w w f w wf f w w w w

Die Aussage ¬B ⇒ ¬A heißt Kontraposition der Aussage A ⇒ B. Die Kon-traposition der (wahren) Aussage

”Wenn eine naturliche Zahl durch 9 teilbar ist,

dann ist sie auch durch 3 teilbar“ lautet beispielsweise:”Wenn eine naturliche Zahl

nicht durch 3 teilbar ist, so ist sie auch nicht durch 9 teilbar“.Die Gultigkeit der folgenden Aussagen verifiziert man leicht durch Aufstellen

der Wahrheitstafel. Dabei sind A,B und C beliebige Aussagen.

(i) A ∧B ⇔ B ∧ A,

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1.1 Aussagenlogik 3

(ii) A ∨B ⇔ B ∨ A,

(iii) (A ∧B) ∧ C ⇔ A ∧ (B ∧ C),

(iv) (A ∨B) ∨ C ⇔ A ∨ (B ∨ C),

(v) A ∧ (B ∨ C)⇔ (A ∧B) ∨ (A ∧ C),

(vi) A ∨ (B ∧ C)⇔ (A ∨B) ∧ (A ∨ C),

(vii) ¬(¬A)⇔ A,

(viii) ¬(A ∨B)⇔ ¬A ∧ ¬B,

(ix) ¬(A ∧B)⇔ ¬A ∨ ¬B.

Man nennt (i) und (ii) Kommutativgesetz, (iii) und (iv) Assoziativgesetz sowie (v)und (vi) Distributivgesetz. Aufgrund des Assoziativgesetzes kann man bei den Aus-drucken A ∧B ∧ C sowie A ∨B ∨ C also auf Klammern ganz verzichten.

Zum Beweis eines Satzes der Form”A⇒ B“ gibt es zwei Moglichkeiten.

Direkter Beweis. Man findet Aussagen A1, A2, . . . An mit

(A⇒ A1) ∧ (A1 ⇒ A2) ∧ · · · ∧ (An ⇒ B).

Man schreibt dies auch kurz als

A⇒ A1 ⇒ A2 ⇒ · · · ⇒ An ⇒ B.

Man uberzeugt sich (durch die Wahrheitstafel), dass (A ⇒ A1) ∧ (A1 ⇒ B)tatsachlich A⇒ B impliziert, d.h., es gilt

((A⇒ A1) ∧ (A1 ⇒ B))⇒ (A⇒ B)

fur Aussagen A,A1, B. Dies ist obige Situation falls n = 1. Wir werden spater sehen,wie man den Fall beliebiger naturlicher Zahlen n behandeln kann (vollstandigeInduktion).

Indirekter Beweis. Die einfachste Form des indirekten Beweises ist der direkte Be-weis der Kontraposition ¬B ⇒ ¬A. Eine andere Form ist der Beweis durch Wider-spruch. Man nimmt A∧¬B sowie eventuell weitere bekannte (wahre) Aussagen an,und erzielt ein Widerspruch zu bekannten (wahren) Aussagen. Formal zeigt manalso mit wahren Aussagen C und D, dass A ∧ ¬B ∧ C ⇒ ¬D gilt. (Man beachte,dass ¬(A⇒ B)⇔ ¬(¬A ∨B)⇔ A ∧ ¬B.)

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4 1 GRUNDLAGEN

1.2 Mengen

Nach G. Cantor (1895) ist eine Menge M eine”Zusammenfassung aus wohlbe-

stimmten und wohlunterschiedenen Objekten unserer Anschauung oder unseresDenkens (welche die Elemente von M genannt werden) zu einer Gesamtheit“.

Ist x ein Element der Menge M , so bezeichnen wir dies mit x ∈ M . Ist x keinElement von M , so schreiben wir x /∈M . Es gilt also x /∈M ⇔ ¬(x ∈M).

Mengen konnen durch explizite Angabe ihrer Elemente definiert werden. So ist

M = {x1, x2, . . . , xn}

die aus den Elementen x1, . . . , xn bestehende Menge M . Mengen konnen auch durchdie Eigenschaften ihrer Elemente definiert werden:

M = {x : x hat die Eigenschaft E}.

Zum Beispiel ist

{x : x ist Primzahl und x ≤ 10} = {2, 3, 5, 7}.

Die leere Menge ist die Menge, die kein Element enthalt. Sie wird mit ∅ bezeichnet.Wir definieren einige weitere wichtige Mengen. Das Zeichen

”:=“ bedeutet hier

und im Folgenden”wird definiert als“. (Bei der Definition von Aussagen benutzt

man analog das Zeichen”:⇔“.)

• N := {1, 2, 3, . . . } ist die Menge der naturlichen Zahlen,

• N0 := {0, 1, 2, 3, . . . },

• Z := {0,±1,±2, . . . } = {. . . ,−2,−1, 0, 1, 2, . . . } ist die Menge der ganzenZahlen,

• Q :=

{p

q: p, q ∈ Z ∧ q 6= 0

}ist die Menge der rationalen Zahlen,

• R ist die Menge der reellen Zahlen.

Teilweise wird in der Literatur auch die von uns als N0 bezeichnete Menge mit Nbezeichnet. Hier ist also Vorsicht geboten.

Eine Menge N heißt Teilmenge der Menge M , falls x ∈ N impliziert, dassx ∈ M gilt. Wir bezeichnen dies mit N ⊂ M oder M ⊃ N . Insbesondere beiBenutzung der zweiten Schreibweise sagen wir auch, dass M Obermenge von N ist.Man beachte, dass N = M zugelassen ist. Es gilt

N = M ⇔ (N ⊂M) ∧ (M ⊂ N).

Zum Beispiel gilt N ⊂ Z ⊂ Q ⊂ R. (Dies ist eine verkurzte Schreibweise fur(N ⊂ Z) ∧ (Z ⊂ Q) ∧ (Q ⊂ R).)

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1.2 Mengen 5

Weiter heißt N echte Teilmenge von M falls N ⊂ M und N 6= M . Dafurbenutzen wir die Schreibweise N (M oder M ) N . Analog spricht man auch vonechten Obermengen. Es gilt auch N ( Z ( Q ( R.

Hinweis. Die Terminologie ist in der Literatur uneinheitlich. Manche Autoren be-nutzen das Symbol

”⊆“ anstelle von

”⊂“, und dort entspricht

”⊂“ dann dem hier

verwandten”(“.

Die Potenzmenge P (M) einer Menge M ist die Menge aller Teilmengen von M ,also

P (M) = {N : N ⊂M}.

Zum Beispiel ist P ({1, 2}) = {∅, {1}, {2}, {1, 2}}.Fur Mengen M und N heißen

M ∩N := {x : x ∈M ∧ x ∈ N}

Durchschnitt und

M ∪N := {x : x ∈M ∨ x ∈ N}

Vereinigung von M und N .Die Mengen M und N heißen disjunkt falls M ∩N = ∅. Weiter ist

M\N := {x : x ∈M ∧ x 6∈ N},

gesprochen”M ohne N“. Im Falle N ⊂ M heißt M\N auch Komplement von N

(in M).Fur M = {1, 2} und N = {2, 3} ist also M ∩N = {2}, M ∪N = {1, 2, 3} und

M\N = {1}.Die folgenden Regeln fur Mengen L, M und N sind analog zu den entsprechen-

den Regeln der Aussagenlogik:

(i) M ∩N = N ∩M ,

(ii) M ∪N = N ∪M ,

(iii) (L ∩M) ∩N = L ∩ (M ∩N),

(iv) (L ∪M) ∪N = L ∪ (M ∪N),

(v) L ∩ (M ∪N) = (L ∩M) ∪ (L ∩N),

(vi) L ∪ (M ∩N) = (L ∪M) ∩ (L ∪N),

(vii) M\(M\N) = M ∩N ,

(viii) L\(M ∪N) = L\M ∩ L\N ,

(ix) L\(M ∩N) = L\M ∪ L\N .

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6 1 GRUNDLAGEN

Im Falle N ⊂ M gilt mit (vii) also M\(M\N) = N . Man bezeichnet (i)–(vi)wieder als Kommutativ-, Assoziativ- bzw. Distributivgesetz. Die Gleichungen (viii)und (ix) heißen Regeln von de Morgan.

Exemplarisch zeigen wir, wie man (v) aus der entsprechenden Regel der Aus-sagenlogik erhalt. Es gilt namlich

x ∈ L ∩ (M ∪N)

⇔ x ∈ L ∧ (x ∈M ∪N)

⇔ x ∈ L ∧ (x ∈M ∨ x ∈ N)

⇔ (x ∈ L ∧ x ∈M) ∨ (x ∈ L ∧ x ∈ N)

⇔ (x ∈ L ∩M) ∨ (x ∈ L ∩N)

⇔ x ∈ (L ∩M) ∪ (L ∩N).

Die obige Regel (v) folgt also. Die anderen Regeln beweist man analog.

Das kartesische Produkt M × N zweier Mengen M und N ist die Menge allergeordneten Paare (x, y) mit x ∈M und y ∈ N , also

M ×N = {(x, y) : x ∈M ∧ y ∈ N}.

Man beachte, dass M ×N 6= N ×M fur M 6= N und (x, y) 6= (y, x) fur x 6= y.Allgemeiner setzt man fur n ∈ N und Mengen M1,M2, . . . ,Mn auch

M1 ×M2 × · · · ×Mn := {(x1, x2, . . . , xn) : x1 ∈M1 ∧ · · · ∧ xn ∈Mn}.

Im Falle M1 = M2 = · · · = Mn = M schreibt man statt

M ×M ×M · · · ×M︸ ︷︷ ︸n-mal

auch Mn. So ist R2 = R×R und R3 = R×R×R. Die Punkte des R3 entsprechenden Punkten des dreidimensionalen Raumes, die des R2 denen der Ebene.

Der hier verwandte”naive“ Mengenbegriff fuhrt zu Widerspruchen (Antino-

mien). Klassisches Beispiel ist die Russellsche Antinomie: Sei M die Menge allerMengen, die sich nicht selbst als Element enthalten, d.h.,

M = {x : x Menge ∧ x 6∈ x}

Aus M /∈M folgt dann M ∈M , und umgekehrt. Es gilt also

M ∈M ⇔ ¬(M ∈M),

was ein Widerspruch ist. Der Widerspruch ist nur behebbar durch eine genauereDefinition des Begriffs Menge – wir verzichten aber hier darauf.

Das obige Problem tritt nicht auf, falls – wie wir es tun werden – nur Teilmengengewisser

”unproblematischer“ Grundmengen betrachtet werden.

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1.3 Quantoren 7

1.3 Quantoren

In mathematischen Aussagen treten haufig Variable auf, etwa die Variable x in derdurch

”x ist Primzahl“ gegebenen Aussage A(x). Sinnvoll sind solche Aussagen im

Allgemeinen nur fur Variable aus gewissen Mengen, im genannten Beispiel etwax ∈M mit M = N.

Mit Hilfe der Quantoren ∀ (”fur alle“) und ∃ (

”es existiert“) lassen sich aus

einer fur x ∈M erklarten Aussage A(x) neue Aussagen bilden. Die Aussage

∀x ∈M : A(x),

bedeutet:”Fur alle x ∈ M gilt A(x)“. Formal kann man die Aussage

”∀x ∈

M : A(x)“ definieren, indem man sie als wahr definiert falls M = {x ∈ M : A(x)},und als falsch sonst. Die Aussage

∃x ∈M : A(x)

bedeutet:”Es gibt ein x ∈ M fur welches A(x) gilt“. Dies ist gleichbedeutend mit

{x ∈M : A(x)} 6= ∅. Ist etwa M = {a, b}, so gilt

(∀x ∈M : A(x)) ⇔ A(a) ∧ A(b)

und

(∃x ∈M : A(x)) ⇔ A(a) ∨ A(b)

Analoges gilt fur beliebige endliche Mengen M . Quantoren erlauben eine Verallge-meinerung auf unendliche Mengen M .

Da Quantoren so als Verallgemeinerung von”und“ bzw.

”oder“ betrachtet wer-

den konnen, findet man in der Literatur statt ∀x ∈ M : A(x) bzw. ∃x ∈ M : A(x)auch die Schreibweisen ∧

x∈M

A(x) bzw.∨x∈M

A(x).

Regeln wie ¬(A ∧B)⇔ ¬A ∨ ¬B verallgemeinern sich wie folgt:

¬(∀x ∈M : A(x)) ⇔ ∃x ∈M : ¬A(x),

¬(∃x ∈M : A(x)) ⇔ ∀x ∈M : ¬A(x).

Der Beweis der ersten Aquivalenz folgt aus

¬(∀x ∈M : A(x))

⇔ ¬(M = {x ∈M : A(x)})⇔ M 6= {x ∈M : A(x)}⇔ M\{x ∈M : A(x)} 6= ∅⇔ {x ∈M : ¬A(x)}) 6= ∅

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8 1 GRUNDLAGEN

⇔ ∃x ∈M : ¬A(x).

Der Beweis der zweiten Aquivalenz ist analog.Als Beispiel betrachten wir die (falsche) Aussage

”Alle Primzahlen sind unge-

rade“. Ist A(x) die (fur ganze Zahlen erklarte) Aussage”x ist ungerade“ und P

die Menge der Primzahlen, so konnen wir die Aussage”Alle Primzahlen sind unge-

rade“ in der Form”∀x ∈ P : A(x)“ schreiben. Die Negation davon ist die (wahre)

Aussage”∃x ∈ P : ¬A(x)“, die wir in Worten als

”Es gibt eine Primzahl, die nicht

ungerade ist“ ausdrucken konnen. (Die Aussage ist wahr, da 2 eine gerade Primzahlist.) Ein haufiger Fehler ist, als Negation der Aussage

”∀x ∈ P : A(x)“ die Aussage

”∀x ∈ P : ¬A(x)“ anzugeben (

”Alle Primzahlen sind gerade.“).

Eine Aussage kann mehrere Quantoren enthalten. Bei verschiedenen Quantorenkommt es dabei auf die Reihenfolge an. Sei zum Beispiel S die Menge der Studie-renden (an der CAU), L die Menge der (deutschen) Bundeslander und A(x, y) diefur x ∈ S und y ∈ L erklarte Aussage: x ist in y zu Schule gegangen. Etwa durchUmzug kann es sein, dass bei einem Studierenden x die Aussage A(x, y) fur meh-rere y richtig ist. Ebenso kann es sein, dass fur manche x die Aussage A(x, y) furkein y richtig ist (etwa bei Studierendem aus dem Ausland). Die Aussage

∀y ∈ L∃x ∈ S : A(x, y)

bedeutet:”Fur jedes Bundesland gibt es einen Studierenden, der dort die Schule

besucht hat“. Diese Aussage ist vermutlich richtig. Die Aussage

∃x ∈ S ∀y ∈ L : A(x, y)

bedeutet:”Es gibt einen Studierenden, der in jedem Bundesland die Schule besucht

hat“. Das ist vermutlich falsch. (Denn es musste schon mit sehr vielen Umzugeneinhergehen.) Auf jeden Fall sind beide Aussagen verschieden.

Die Negation der letzten Aussage lasst sich rein formal bilden:

¬(∃x ∈ S ∀y ∈ L : A(x, y))

⇔ ∀x ∈ S : ¬(∀y ∈ L : A(x, y))

⇔ ∀x ∈ S ∃y ∈ L : ¬A(x, y)

Wir erhalten:”Zu jedem Studierenden existiert ein Bundesland, in dem er nicht

die Schule besucht hat“. Auch wenn sich Verneinungen oder andere Operationenmit Aussagen also auf rein formalem Wege bilden lassen, so ist es aber defini-tiv ratsam und in jedem Fall eine gute Ubung, das Ergebnis

”mit dem gesunden

Menschenverstand“ zu uberprufen.Quantoren erlauben auch, Vereinigung und Durchschnitt von unendlich vielen

Mengen zu definieren. Fur eine Menge S von Mengen setzen wir⋂M∈S

M := {x : (∀M ∈ S : x ∈M)}

und ⋃M∈S

M := {x : (∃M ∈ S : x ∈M)}.

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1.4 Relationen und Funktionen 9

Die Regeln von de Morgan gelten dann entsprechend. Mit einer Menge N ist dann

N\⋂M∈S

M =⋃M∈S

N\M

undN\

⋃M∈S

M =⋂M∈S

N\M.

Neben den Quantoren ∀ und ∃ benutzen wir auch noch das Symbol”∃!“ fur

”es gibt

genau ein“. Die Aussage”∃!x ∈M : A(x)“ ist also definiert durch

”{x ∈M : A(x)}

besteht aus genau einem Element“.

Bemerkung zum Gebrauch von Quantoren. Benutzt man die (ubliche) Bezeichnung

”m|n“ fur

”m ist Teiler von n“, so kann man die Aussage

(A) Wenn eine naturliche Zahl durch 9 teilbar ist, so ist sie auch durch 3 teilbar

auch in der Form

(B) ∀n ∈ N : 9|n⇒ 3|n

schreiben. Der geubte Mathematiker1 erkennt sofort, dass es sich hier um die glei-che Aussage handelt, die lediglich in zwei verschiedenen Formen ausgedruckt ist.In mathematischen Texten (Seminarausarbeitung, Bachelor- oder Masterarbeit,Buch,. . . ) wird man im Allgemeinen die Form (A) bevorzugen. Bei Vortragen undVorlesungen wird man aus Zeitgrunden haufig die Form (B) wahlen – die Quan-toren werden also als abkurzende Schreibweise benutzt. Um mit der Schreibweisevertraut zu machen und um die Diskrepanz zwischen Tafelbild und Vorlesungs-skript gering zu halten, wird in diesem Vorlesungsskript die Quantorenschreibweisehaufiger benutzt als dies ublicherweise in einem mathematischen Text der Fall ist.

Um einem gerade bei Studienanfangern verbreiteten Irrglauben entgegenzuwir-ken, sei ausdrucklich darauf hingewiesen, dass die Schreibweise (B) nicht praziser(oder in irgendeinem Sinne

”mathematischer“) als die Schreibweise (A) ist.

1.4 Relationen und Funktionen

Seien M und N Mengen und R ⊂ M × N . Dann heißt R Relation (zwischen Mund N). Im Falle M = N nennen wir R auch Relation auf M . Statt (x, y) ∈ Rschreiben wir im Allgemeinen xRy. Anstelle von Buchstaben benutzen wir meistenssuggestive Symbole wie ∼,', <,⊂, usw. zur Bezeichnung von Relationen.

Beispiel. Sei M = N = R, also M ×N = R2, und

R = {(x, y) ∈ R2 : x2 ≥ y2}.

Es gilt also xRy ⇔ x2 ≥ y2, also xRy ⇔ |x| ≥ |y|. Die durch R gegebene Teilmengevon R2 kann auch graphisch dargestellt werden; siehe Abbildung 1.

Wir betrachten drei wichtige Spezialfalle von Relationen.

1Wer dies auch nach mehreren Monaten Mathematikstudium nicht sofort erkennt, hat nichtgenug geubt.

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10 1 GRUNDLAGEN

−2 −1 1 2

−2

−1

1

2

y

x

Abbildung 1: Graphische Darstellung der durch x2 ≥ y2 gegebenen Relation.

1.4.1 Aquivalenzrelationen

Definition 1.4.1. Sei M Menge und ∼ Relation auf M , also ∼ ⊂ M ×M . Dannheißt die Relation ∼

• reflexiv, falls ∀x ∈M : x ∼ x,

• symmetrisch, falls ∀x, y ∈M : x ∼ y ⇒ y ∼ x,

• transitiv, falls ∀x, y, z ∈M : x ∼ y ∧ y ∼ z ⇒ x ∼ z.

Eine reflexive, symmetrische und transitive Relation heißt Aquivalenzrelation.

Beispiel 1. Die Gleichheitsrelation ist eine Aquivalenzrelation.

Beispiel 2. Sei M die Menge der”Landpunkte“ der Erdoberflache (also die Menge

der Punkte, die nicht im Meer oder anderen Gewassern liegen). Fur x, y ∈ Mgelte x ∼ y falls x mit y auf dem Landweg verbunden werden kann. Dann ist ∼Aquivalenzrelation.

Grundlegende Eigenschaft einer Aquivalenzrelation ∼ auf einer Menge M ist,dass sie eine Zerlegung von M in disjunkte Teilmengen – die sogenannten Aquiva-lenzklassen – liefert, so dass fur x, y ∈ M genau dann x ∼ y gilt, wenn x und y inderselben Teilmenge liegen.

Fur x ∈M sei dazu

[x] := {y ∈M : x ∼ y}.

Sei nun x, y ∈ M mit x ∼ y. Ist dann z ∈ [y], also y ∼ z, so ist nach Transitivitatauch x ∼ z, also z ∈ [x]. Es folgt [y] ⊂ [x]. Aus Symmetriegrunden ist auch

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1.4 Relationen und Funktionen 11

[x] ⊂ [y], also [x] = [y]. Im Falle x 6∼ y (was nach Definition ¬(x ∼ y) bedeutensoll) zeigt man [x] ∩ [y] = ∅, woraus dann die Behauptung folgt.

Wir werden die Bezeichnung [x] fur die Aquivalenzklasse {y ∈ M : x ∼ y}auch im Folgenden verwenden. Man beachte, dass x ∈ [x], da Aquivalenzrelationeninsbesondere symmetrisch sind.

Im obigen Beispiel 1 (Gleichheitsrelation) gilt [x] = {x} fur alle x ∈ M . ImBeispiel 2 nennt man die Aquivalenzklassen (je nach Große) Erdteil oder Insel.

1.4.2 Ordnungsrelationen

Definition 1.4.2. Sei M Menge und ≺ Relation auf M . Dann heißt die Relation≺ antisymmetrisch (oder identitiv), falls fur alle x, y ∈ M aus x ≺ y und y ≺ xfolgt, dass x = y gilt, d.h., falls

∀x, y ∈M : x ≺ y ∧ y ≺ x⇒ x = y.

Eine reflexive, antisymmetrische und transitive Relation heißt Halbordnung.

Beispiel 1. M = R, ≺ = ≤

Beispiel 2. X Menge, M = P (X), ≺ = ⊂.

Eine Relation ≺ auf M heißt total (oder vollstandig), falls fur alle x, y ∈ Mmindestens eine der Aussagen x ≺ y und y ≺ x gilt, d.h., falls

∀x, y ∈M : x ≺ y ∨ y ≺ x.

Eine totale Halbordnung heißt Ordnung. Das Paar (M,≺) heißt dann geordneteMenge.

Im obigem Beispiel 1 ist ≤ Ordnung, wahrend ⊂ in Beispiel 2 keine Ordnungist, wenn M mindestens zwei Elemente hat. Denn sind a, b ∈ M mit a 6= b, so ist{a} ⊂ P (M) und {b} ⊂ P (M), aber weder {a} ⊂ {b} noch {b} ⊂ {a}.

Sei ≺ Halbordnung auf M und A ⊂ M . Dann heißt A nach oben beschrankt,falls s ∈ M existiert, so dass a ≺ s fur alle a ∈ A gilt. Ein solches s heißt obereSchranke von A. Eine obere Schranke von A, die in A enthalten ist, heißt Maximumvon A. Eine obere Schranke s von A heißt Supremum (oder kleinste obere Schranke)von A, wenn fur jede obere Schranke t von A gilt, dass s ≺ t.

Beispiel 1. X = {a, b, c}, M = P (X), A = {∅, {a}, {b}}, ≺ = ⊂. Die Menge {a, b}ist Supremum, aber kein Maximum von A.

Beispiel 2. M = A = N, ≺ = ≤. Hier besitzt A kein Supremum.

Satz 1.4.1. Sei M Menge, A ⊂M und ≺ Halbordnung auf M . Dann gilt:

(i) Ein Maximum von A ist auch Supremum von A.

(ii) A besitzt hochstens ein Supremum.

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12 1 GRUNDLAGEN

Beweis. (i) Sei s Maximum von A, d.h., s ist obere Schranke von A und es gilts ∈ A. Zu zeigen ist, dass s Supremum ist. Sei dazu t obere Schranke von A. Zuzeigen ist, dass s ≺ t. Dies gilt aber wegen s ∈ A nach Definition der oberenSchranke.

(ii) Seien r und s Suprema. Dann gelten sowohl r ≺ s wie auch s ≺ r, also folgtr = s.

Hier und im Folgenden wird durch das Symbol � das Ende eines Beweisesmarkiert.

Aus Satz 1.4.1 folgt, dass eine Menge hochstens ein Maximum haben kann.Wir bezeichnen das Maximum (bzw. Supremum) einer Menge A mit maxA (bzw.supA), falls es existiert.

Vollig analog definiert man nach unten beschrankt, untere Schranke, Infimum(großte untere Schranke), inf A, Minimum, minA. Satz 1.4.1 gilt entsprechend.

Eine geordnete Menge (M ≺) heißt ordnungsvollstandig, wenn jede nichtleere,nach oben beschrankte Teilmenge von M ein Supremum besitzt.

Man kann zeigen, dass (M,≺) genau dann ordnungsvollstandig ist, wenn jedenichtleere, nach unten beschrankte Teilmenge von M ein Infimum besitzt.

Ist ≺ Ordnung auf M , so heißt die durch

x � y :⇔ x ≺ y ∧ x 6= y

definierte Relation strikte Ordnung auf M . Fur x, y ∈M gilt dann genau einer derdrei Falle x � y, x = y oder y � x. Ist umgekehrt � eine transitive Relation mitder letzten Eigenschaft, so ist � strikte Ordnung, und die zugehorige Ordnung ≺ist durch

x ≺ y ⇔ x � y ∨ x = y

gegeben.Fur M = R, ≺ = ≤ ist naturlich � = <. Statt x < y bzw. x ≤ y schreiben wir

auch y > x bzw. y ≥ x.

1.4.3 Funktionen

Definition 1.4.3. Eine Relation f zwischen Mengen M und N heißt Funktion(oder Abbildung) von M nach N (oder in N), falls zu jedem x ∈ M genau einy ∈ N mit xfy existiert, d.h., falls

∀x ∈M∃!y ∈ N : (x, y) ∈ f.

Man bezeichnet das zu x ∈ N existierende, eindeutig bestimmte y, welches xfyerfullt, mit f(x) und nennt es Bild von x (unter f) oder Wert von f an der Stelle x.

Man muss zwischen der Funktion f , die eine Teilmenge von M × N ist, unddem Wert f(x), welcher ein Element von N ist, unterscheiden.

Obwohl eine Funktion f von M nach N also formal nichts anderes als eineTeilmenge von M ×N mit gewissen Eigenschaften ist, ist es oft hilfreich, sich f als

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1.4 Relationen und Funktionen 13

Vorschrift vorzustellen, die jedem Wert x ∈ M sein Bild y ∈ N zuordnet. DieserGedanke kommt auch in den Schreibweisen

f : M → N, f(x) = . . . ,

undf : M → N, x 7→ . . . ,

die wir fur Funktionen benutzen, zum Ausdruck.Man kann den obigen Gedanken, sich f als Vorschrift vorzustellen, auch zur

Definition des Funktionsbegriffes verwenden. In diesem Falle wurde man die Menge{(x, f(x)) : x ∈ M} als Graph der Funktion f bezeichnen. Wir haben hier dieFunktion f uber ihren Graphen definiert, d.h., es gilt f = {(x, f(x)) : x ∈M}.

Man sollte die Vorstellung, dass eine Funktion f : M → N eine Vorschrift ist,die jedem x ∈ M ein y ∈ N zuordnet, aber nicht so interpretieren, dass dieses yauch immer effektiv berechnet werden kann. Beispielsweise ist bei der Funktion

f : N→ N, x 7→ großte Primzahl, die x teilt

der Wert f(x) fur große x (mit mehreren hundert Stellen) kaum zu berechnen.Fur eine Funktion f : M → N nennen wir M den Definitionsbereich und

N den Zielbereich. Man beachte, dass M durch f eindeutig festgelegt ist, dennM = {x : ∃y : (x, y) ∈ f)}. Der Zielbereich ist durch die Funktion f (also durch dieMenge f) aber nicht eindeutig festgelegt. Zum Beispiel kann er durch jede Ober-menge ersetzt werden, d.h., ist f Funktion von M nach N und ist N ′ ⊃ N , so istf auch Funktion von M nach N ′.

Eine Funktion f : M → N heißt injektiv (oder eineindeutig) falls fur alle x, y ∈M mit x 6= y auch f(x) 6= f(y) gilt, d.h., falls

∀x, y ∈M : x 6= y ⇒ f(x) 6= f(y).

Aquivalent zur Implikation x 6= y ⇒ f(x) 6= f(y) ist naturlich ihre Kontrapositionf(x) = f(y)⇒ x = y. Die Funktion f : M → N ist also injektiv, falls

∀x, y ∈M : f(x) = f(y)⇒ x = y.

Eine Funktion f : M → N heißt surjektiv (oder Funktion von M auf N) fallsfur alle y ∈ N ein x ∈M mit f(x) = y existiert, d.h., falls

∀y ∈ N∃x ∈M : f(x) = y.

Eine Funktion heißt bijektiv, wenn sie injektiv und surjektiv ist. Ist f : M → Nbijektiv, so gilt

∀y ∈ N∃!x ∈M : f(x) = y.

Man beachte, dass Surjektivitat und damit Bijektivitat keine Eigenschaft der Funk-tion (also Menge) selbst ist, sondern die Angabe eines Zielbereiches erfordert. BeiInjektivitat ist dies nicht der Fall. Abbildung 2 ist eine Prinzipskizze zu den Be-griffen Injektivitat und Surjektivitat.

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14 1 GRUNDLAGEN

injektiv, abernicht surjektiv

surjektiv, abernicht injektiv

bijektiv

Abbildung 2: Injektivitat, Surjektivitat und Bijektivitat.

Beispiel 1. Die Funktion f : Z→ Z, x 7→ x2, ist weder injektiv noch surjektiv. Dennwegen f(−1) = (−1)2 = 1 = 12 = f(1) ist sie nicht injektiv. Und da keine ganzeZahl x mit f(x) = x2 = 2 existiert, ist sie nicht surjektiv.

Beispiel 2. f : Z→ Z, x 7→ x3, ist injektiv aber nicht surjektiv.

Beispiel 3. Sei f : N → N die Funktion, die eine naturliche Zahl x auf die großtenaturliche Zahl, die nicht großer als

√x ist, abbildet. Dann ist f surjektiv, da fur

jedes y ∈ N zum Beispiel f(y2) = y gilt. Die Funktion f ist aber nicht injektiv, dazum Beispiel f(1) = f(2).

Man bezeichnet zu einer reellen Zahl x die großte ganze Zahl, die nicht großerals x ist, auch mit [x]. (Auch die Bezeichnung bxc ist ublich.) Durch x 7→ [x] wirddamit eine Funktion von R nach Z definiert. Man nennt [x] auch Gaußklammervon x. Die Funktion f kann damit auch als f : N → N, f(x) = [

√x ], geschrieben

werden.

Ist f : M → N bijektiv, so existiert zu jedem y ∈ N genau ein x ∈ M mitf(x) = y. Damit existiert eine Funktion von N nach M , die jedem y ∈ N diesesx ∈M zuordnet. Sie heißt Umkehrfunktion (oder inverse Funktion) von f und wirdmit f−1 bezeichnet. Formal gilt einfach f−1 = {(f(x), x) : x ∈M} ⊂ N ×M .

Sei f : M → N Funktion und seien A ⊂M und B ⊂ N . Dann heißt

f(A) := {f(x) : x ∈ A}

Bild von A (unter f) und

f−1(B) := {x ∈M : f(x) ∈ B}

Urbild von B (unter f). Man beachte, dass bei der Bezeichnung f−1(B) die Existenzder Umkehrfunktion f−1 nicht vorausgesetzt wird.

Etwa fur die bereits oben in Beispiel 1 betrachtete, weder injektive noch surjekti-ve Funktion f : Z→ Z, x 7→ x2, gilt f({3, 4}) = {9, 16} und f−1({3, 4}) = {−2, 2}.

Das Bild von M , also die Menge f(M), heißt Wertebereich (von f). Man be-achte, dass die Bezeichnungen hier uneinheitlich sind: In manchen Buchern wirdauch N als Wertebereich bezeichnet. Fur y ∈ N schreibt man statt f−1({y}) auchf−1(y).

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1.5 Vollstandige Induktion 15

Seien f : M → N und g : P → Q Funktionen mit f(M) ⊂ P . Dann ist dieKomposition (oder Zusammensetzung) g ◦ f definiert durch

g ◦ f : M → Q, x 7→ g(f(x)).

SeiidM : M →M, x 7→ x,

die Identitat (oder identische Abbildung) einer Menge M . Ist dann f : M → Nbijektiv, so ist

f−1 ◦ f = idM und f ◦ f−1 = idN .

Beispiel. Die Funktion f : N→ N\{1}, x 7→ x+1, ist bijektiv mit f−1 : N\{1} → N,x 7→ x− 1.

Sei f : M → N Funktion, L ⊂ M . Die Funktion g : L → N , x 7→ f(x), heißtEinschrankung (oder Restriktion) von f auf L und wird mit f |L bezeichnet. Ist gEinschrankung von f , so nennt man f auch Fortsetzung von g. Die Fortsetzungeiner Funktion ist naturlich nicht eindeutig.

1.5 Vollstandige Induktion

Wir setzen die naturlichen Zahlen N = {1, 2, 3, . . . } als gegeben voraus. WichtigesBeweismittel bei Aussagen uber naturliche Zahlen ist das Folgende.

Beweisprinzip der vollstandigen Induktion. Es sei fur alle n ∈ N eine Aus-sage A(n) gegeben. Gilt dann

(i) A(1) ist wahr

und

(ii) fur alle n ∈ N folgt die Wahrheit von A(n+ 1) aus der von A(n),

so ist A(n) fur alle n ∈ N wahr.

Man nennt dabei (i) den Induktionsanfang und (ii) den Induktionsschluss (oderInduktionsschritt). Im Induktionsschluss nennt man auch A(n) Induktionsvoraus-setzung und A(n+1) Induktionsbehauptung. Formal ausgedruckt lautet das Prinzipder vollstandigen Induktion wie folgt:

[A(1) ∧ (∀n ∈ N : A(n)⇒ A(n+ 1))]⇒ ∀n ∈ N : A(n).

Beispiel. Man zeige, dass

1 + 2 + 3 + · · ·+ n =n(n+ 1)

2

fur alle n ∈ N gilt.Sei dazu A(n) die (fur naturliche Zahlen n) erklarte Aussage

1 + 2 + 3 + · · ·+ n =n(n+ 1)

2.

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16 1 GRUNDLAGEN

(i) A(1) ist wahr, denn

1 =1(1 + 1)

2.

(ii) Es sei n ∈ N und es gelte A(n). Zu zeigen ist, dass A(n+ 1) gilt, d.h.,

1 + 2 + 3 + · · ·+ n+ (n+ 1) =(n+ 1)(n+ 2)

2

Dies gilt aber wegen

1 + 2 + 3 + · · ·+ n+ (n+ 1) = (1 + 2 + 3 + · · ·+ n) + n+ 1

A(n)=

n(n+ 1)

2+ n+ 1

=(n+ 1)(n+ 2)

2.

Wir haben hier die Stelle, an der die Induktionsvoraussetzung A(n) benutztwurde, mit einem entsprechenden Vermerk uber dem Gleichheitszeichen markiert.Dies ist in mathematischen Texten eher unublich, wird aber als Kurzschreibweisein Vorlesungen (oder Vortragen) verwendet.

Ausdrucke der Form f(m) + f(m + 1) + · · · + f(n) mit m,n ∈ Z und m ≤ nschreiben wir im Folgenden kurz als

n∑k=m

f(k).

Die oben bewiesene Formel lautet dann

n∑k=1

k =n(n+ 1)

2.

Eine analoge Schreibweise gilt fur Produkte:

n∏k=m

f(k) := f(m) · f(m+ 1) · . . . · f(n).

Fur n ∈ N definieren wir

n! :=n∏k=1

k,

gesprochen n Fakultat. Wir setzen außerdem 0! := 1. Fur k, n ∈ N0 mit k ≤ ndefinieren wir die Binomialkoeffizienten durch(

nk

):=

n!

k!(n− k)!,

gesprochen n uber k.

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1.5 Vollstandige Induktion 17

Beispiel. Man zeige, dass (2nn

)≥ 2n

fur alle n ∈ N gilt.

Induktionsanfang. Wegen(21

)=

2!

1! · 1!=

1 · 21 · 1

= 2 = 21

gilt die Ungleichung fur n = 1.

Induktionsschritt. Sei n ∈ N und es gelte(2nn

)≥ 2n.

Zu zeigen ist, dass (2(n+ 1)n+ 1

)≥ 2n+1.

Nun gilt (2(n+ 1)n+ 1

)=

(2n+ 2n+ 1

)=

(2n+ 2)!

(n+ 1)!(n+ 1)!

=(2n+ 2)(2n+ 1)(2n)!

(n+ 1)2(n!)2

=2(2n+ 1)

n+ 1· (2n)!

(n!)2

=2(2n+ 1)

n+ 1·(

2nn

).

Die Induktionsvoraussetzung liefert jetzt(2(n+ 1)n+ 1

)≥ 2(2n+ 1)

n+ 1· 2n

=2n+ 1

n+ 1· 2n+1

≥ 2n+1.

Will man fur gegebenes N ∈ Z Aussagen uber {n ∈ Z : n ≥ N} beweisen, kannman dies durch eine einfache Modifikation des obigen Prinzips tun. Man musslediglich den Induktionsanfang fur n = N machen.

Es ist auch moglich, im Induktionsschritt nicht nur die Gultigkeit von A(n),sondern die von A(k) fur alle k ≤ n vorauszusetzen.

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18 1 GRUNDLAGEN

1.6 Korper

1.6.1 Die Korperaxiome

Wir formalisieren jetzt Addition und Multiplikation sowie ihre Eigenschaften.

Definition 1.6.1. Sei K Menge und seien +: K ×K → K und · : K → K Funk-tionen, wobei wir aber im Folgenden x + y statt +((x, y)) und x · y oder xy statt·((x, y)) schreiben. Das Tripel (K,+, ·) heißt Korper (englisch: field), falls die fol-genden neun Eigenschaften gelten:

(A1) ∀x, y ∈ K : x+ y = y + x,

(A2) ∀x, y, z ∈ K : (x+ y) + z = x+ (y + z),

(A3) ∃0 ∈ K∀x ∈ K : x+ 0 = x,

(A4) ∀x ∈ K∃y ∈ K : x+ y = 0,

(M1) ∀x, y ∈ K : x · y = y · x,

(M2) ∀x, y, z ∈ K : (x · y) · z = x · (y · z),

(M3) ∃1 ∈ K\{0}∀x ∈ K\{0} : x · 1 = x,

(M4) ∀x ∈ K\{0}∃y ∈ K\{0} : x · y = 1,

(D) ∀x, y, z ∈ K : (x+ y) · z = x · z + y · z.

Beispiele sind (Q,+, ·), (R,+, ·) sowie (Menge der rationalen Funktionen, +, ·).(Eine rationale Funktion ist ein Quotient von Polynomen.) Statt

”(K,+, ·) ist

Korper“ sagt man oft auch”K ist Korper“.

Man nennt (A1)–(A4) Axiome der Addition, (M1)–(M4) Axiome der Multipli-kation und (D) Distributivgesetz. (A1) und (M1) heißen Kommutativgesetze und(A2) und (M2) heißen Assoziativgesetze. Insgesamt nennt man die obigen Regelndie Korperaxiome.

Wir ziehen einige Folgerungen aus den Korperaxiomen.

Satz 1.6.1. Die mit 0 und 1 bezeichneten Elemente sind eindeutig bestimmt.

Beweis. Seien 0 und 0′ Elemente von K mit der in (A3) geforderten Eigenschaft,d.h., ∀x ∈ K : x+ 0 = x und ∀x ∈ K : x+ 0′ = x. Zu zeigen ist 0 = 0′.

Wahlt man oben x = 0′ bzw. x = 0, so erhalt man 0′ + 0 = 0′ bzw. 0 + 0′ = 0.Mit (A1) folgt also 0 = 0 + 0′ = 0′ + 0 = 0′. Analog zeigt man die Eindeutigkeitder 1.

Man beachte, dass zum Beweis der Eindeutigkeit der 0 lediglich (A1) und (A3)verwandt wurden. Genau genommen sollte man diesen Beweis erst fuhren, bevorman (A4) formuliert. Entsprechendes gilt fur (M4).

Satz 1.6.2. Die in (A4) und (M4) genannten Elemente y sind eindeutig.

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1.6 Korper 19

Beweis. Wir beschranken uns auf (A4). Der Beweis fur (M4) ist analog.Seien also x, y, y′ ∈ K mit x+ y = 0 und x+ y′ = 0. Es folgt x+ y = x+ y′ und

damit y + (x+ y) = y + (x+ y′). Mit (A2) folgt (y + x) + y = (y + x) + y′. Wegen(A1) ist aber y + x = x+ y, also y + x = 0. Wir erhalten 0 + y = 0 + y′ und damity = y′.

Wir bezeichnen fur x ∈ K das (nach Satz 1.6.2) eindeutig bestimmte y mitx + y = 0 mit −x. Analog wird fur x ∈ K\{0} das eindeutig bestimmte y mit

x ·y = 1 mit x−1 oder1

xbzw. 1/x bezeichnet. Weiter schreiben wir auch a− b statt

a+ (−b) sowiea

boder a/b statt a · 1

b.

Sind a, b ∈ K, so existiert ein eindeutig bestimmtes x ∈ K mit a + x = b,namlich x = b − a. Analog existiert zu a, b ∈ K\{0} ein eindeutig bestimmtesx ∈ K mit ax = b, namlich x = b/a. Auf den einfachen Beweis dieser Tatsachenverzichten wir.

Satz 1.6.3. Sei K Korper, x, y ∈ K. Dann gilt: xy = 0⇔ x = 0 ∨ y = 0.

Beweis.”⇐“: Wegen xy = yx kann man ohne Beschrankung der Allgemeinheit

(o.B.d.A.) annehmen, dass y = 0 gilt. Zu zeigen ist x · 0 = 0.Nun ist 0+0 = 0 nach (A3), nach (D) also x0+x0 = x(0+0) = x0. Andererseits

ist nach (A3) auch x0+0 = x0. Wegen der Eindeutigkeit der Losungen von a+x = bfolgt x0 = 0.

”⇒“: Sei x·y = 0 und x 6= 0. Zu zeigen ist, dass y = 0. (Wir haben eine Aussage

der Form A ⇒ (B ∨ C) zu zeigen, und wir haben benutzt, dass diese aquivalentzu (A ∧ ¬B) ⇒ C ist.) Nun gilt aber y = y · 1 = y(xx−1) = (yx)x−1 = (xy)x−1 =0 · x−1 = 0.

Wir geben einige weitere Rechenregeln, die leicht aus den Korperaxiomen ge-folgert werden konnen, ohne Beweis an:

(i) ∀x ∈ K : − (−x) = x,

(ii) ∀x ∈ K\{0} : (x−1)−1 = x,

(iii) ∀x, y ∈ K : − (x+ y) = (−x) + (−y),

(iv) ∀x, y ∈ K\{0} : (xy)−1 = x−1y−1,

(v) ∀x, y ∈ K : (−x)y = −(xy) = x(−y).

Auch einige Rechenregeln, die hier nicht explizit aufgefuhrt sind, werden im weite-ren benutzt werden.

Es sei eine Menge K mit einer”Verknupfung“ + gegeben. Gelten dann (A1)–

(A4), so heißt das Paar (K,+) kommutative Gruppe (oder abelsche Gruppe).Ist (K,+, ·) Korper, so ist also (K,+) kommutative Gruppe. Aus (M1)–(M4)

folgt, dass auch (K\{0}, ·) kommutative Gruppe ist. Ist umgekehrt (K\{0}, ·) kom-mutative Gruppe, so folgen hieraus nicht unmittelbar (M1) und (M2), da dort ja

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20 1 GRUNDLAGEN

auch x = 0, y = 0 oder z = 0 zugelassen ist. Setzt man aber voraus, dass (K,+)und (K\{0}, ·) kommutative Gruppen sind und dass (D) gilt, so folgt wie im Be-weis von Satz 1.6.3, dass (M1) und (M2) auch dann gelten, wenn ein Faktor 0ist. Damit erhalt man, dass (K,+, ·) genau dann ein Korper ist, wenn (K,+) und(K\{0}, ·) kommutative Gruppen sind und (D) gilt. Dies macht die Korperaxiomeeinpragsamer.

Korper und (kommutative) Gruppen sind Beispiele fur algebraische Strukturen.Eine genauere Untersuchung dieser und anderer Strukturen wie Ring, Halbgruppe,Schiefkorper, Vektorraum, usw. findet in der (linearen) Algebra statt.

Wir notieren hier noch, dass (K,+, ·) Integritatsbereich heißt, falls alle Korper-axiome bis auf (M4) gelten und außerdem noch

∀x, y ∈ K : xy = 0⇒ x = 0 ∨ y = 0

gilt. Die letzte Eigenschaft nennt man Nullteilerfreiheit. Fur Korper wurde sie mitHilfe von (M4) in Satz 1.6.3 gezeigt. Beispiel eines Integritatsbereichs ist (Z,+, ·).

Exkurs: Konstruktion der rationalen Zahlen. Wir skizzieren, wie man denIntegritatsbereich (Z,+, ·) zu einem Korper erweitern kann. Dazu betrachten wirdie auf Z× Z\{0} durch

(a, b) ∼ (c, d) :⇔ ad = bc

definierte Relation ∼. Die Idee dabei ist, (a, b) mit dem Bruch a/b zu identifizieren.Zunachst zeigen wir, dass ∼ Aquivalenzrelation ist. Um etwa die Transitivitat

zu zeigen, sei (a, b) ∼ (c, d) und (c, d) ∼ (e, f). Es ist dann ad = bc und cf = de.Zu zeigen ist (a, b) ∼ (e, f), also af = be. Nun ist aber (af − be)d = afd − bed =(ad)f−(de)b = (bc)f−(cf)b = 0. Wegen d 6= 0 und Nullteilerfreiheit folgt af = be.

Als nachstes definiert man auf der Menge der Aquivalenzklassen [(a, b)] eineAddition und eine Multiplikation durch

[(a, b)] + [(c, d)] := [(ad+ bc, bd)]

und

[(a, b)] · [(c, d)] := [(a · c, b · d)].

Zunachst muss man jetzt zeigen, dass diese Addition und Multiplikation von Aqui-valenzklassen wohldefiniert ist, d.h., nicht von den Reprasentanten der Aquivalenz-klassen abhangt.

Sei dazu (a, b) ∼ (a′, b′) und (c, d) ∼ (c′, d′), d.h., ab′ = ba′ und cd′ = dc′. Dannist

(ad+ bc)b′d′ = adb′d+ bcb′d′

= ab′dd′ + cd′bb′

= ba′dd′ + dc′bb′

= bd(a′d′ + b′c′),

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1.6 Korper 21

also (ad + bc, bd) ∼ (a′d′ + b′c′, b′d′). Analog (aber einfacher) zeigt man die Wohl-definiertheit der Multiplikation von Aquivalenzklassen.

Schließlich zeigt man, dass die Menge der Aquivalenzklassen mit der so definier-ten Addition und Multiplikation einen Korper bildet, d.h., ({[(a, b)] : a ∈ Z ∧ b ∈Z\{0}},+, ·) ist Korper.

Beispielsweise folgt (A1), da

[(a, b)] + [(c, d)] = [(ad+ bc, bd)] = [(cb+ da, db)] = [(c, d)] + [(a, b)].

Die anderen Korperaxiome sind ebenfalls leicht nachzurechnen. Dabei ist [(0, 1)]das Nullelement und [(1, 1)] das Einselement,

−[(a, b)] = [(−a, b)] und [(a, b)]−1 = [(b, a)].

Wie bezeichnen den erhaltenen Korper mit (Q,+, ·) und nennen ihn Korper derrationalen Zahlen.

Man kann eine ganze Zahl n mit der Aquivalenzklasse [(n, 1)] identifizieren.Denn es gilt [(n, a)] + [(m, 1)] = [(n+m, 1)] und [(n, 1)] · [(m, 1)] = [(n ·m, 1)] furm,n ∈ Z. In diesem Sinne ist Z in Q enthalten.

Fur eine formale Beschreibung dieses Sachverhalts betrachtet man die Funktioni : Z→ Q, n 7→ [(n, 1)]. Dann gilt i(n+m) = i(n) + i(m) und i(n ·m) = i(n) · i(m).Außerdem ist i injektiv.

Bemerkungen. 1. Mit dem oben angegebenen Verfahren kann man jeden Integritats-bereich zu einem Korper erweitern, dem sogenannten Quotientenkorper. Ein weite-res Beispiel ist etwa durch den Integritatsbereich der Polynome gegeben, der zumKorper der rationalen Funktionen erweitert werden kann.

2. Auf ahnliche Weise kann man Z aus N konstruieren. Spater werden wir Raus Q konstruieren. Insgesamt wird so R uber Z und Q aus N konstruiert. Zuvorgeben wir aber eine axiomatische Beschreibung von R.

1.6.2 Angeordnete Korper

Definition 1.6.2. Sei (K,+, ·) Korper und sei ≤ Ordnung auf K, d.h., (K,≤) istgeordnete Menge. Dann heißt (K,+, ·,≤) angeordneter Korper, falls gilt:

(O1) ∀x, y, z ∈ K : x ≤ y ⇒ x+ z ≤ y + z,

(O2) ∀x, y ∈ K : 0 ≤ x ∧ 0 ≤ y ⇒ 0 ≤ xy.

Man nennt (O1) und (O2) die Ordnungsaxiome.Beispiele angeordneter Korper sind Q und R. (Wir schreiben statt (K,+, ·,≤)

oft wieder nur K.)Sei K angeordneter Korper. Wir schreiben wieder x < y oder y > x statt

(x ≤ y ∧ x 6= y) und auch y ≥ x statt x ≤ y. Wir nennen x ∈ K positiv falls x > 0und negativ falls x < 0.

Aus den Korper- und Ordnungsaxiomen (und den Eigenschaften der Ordnung)erhalt man die folgenden Regeln. Dabei sind x, y, u, v, a ∈ K.

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22 1 GRUNDLAGEN

(i) x ≤ y ⇔ x− y ≤ 0⇔ y − x ≥ 0,

(ii) x ≤ y ∧ u ≤ v ⇒ x+ u ≤ y + v,

(iii) a ≥ 0 ∧ x ≤ y ⇒ ax ≤ ay,

(iv) x ≤ 0⇒ −x ≥ 0,

(v) xy > 0⇔ (x > 0 ∧ y > 0) ∨ (x < 0 ∧ y < 0),

(vi) x2 ≥ 0,

(vii) x 6= 0⇒ x2 > 0,

(viii) 1 > 0,

(ix) x > 0⇒ x−1 > 0,

(x) x > y > 0⇒ (y−1 > x−1) ∧ (xy−1 > 1).

Dabei ist in (vi) naturlich x2 := x · x. Allgemeiner ist

xn := x · x · ... · x︸ ︷︷ ︸n-mal

fur n ∈ N.Zum Beweis von (i) braucht man nur (O1) mit z = −y bzw. z = −x verwenden.

Regel (ii) folgt durch zweimalige Anwendung von (O1) und (A1):

x+ u ≤ y + u = u+ y ≤ v + y = y + v.

Um (iii) zu zeigen, beachten wir zunachst, dass y − x ≥ 0 nach (i). Mit (O2)folgt a(y − x) ≥ 0, also ay − ax ≥ 0 wegen (D). Mit (i) folgt schließlich ax ≤ ay.

Wir verzichten auf die (einfachen) Beweise von (iv)–(x). Es gibt auch nochviele weitere Rechenregeln, die wir gelegentlich benutzen werden, aber hier nichtausdrucklich auffuhren.

Wir definieren fur x ∈ K

|x| :=

{x, falls x ≥ 0,

−x, falls x < 0,

und nennen |x| den Betrag von x. Fur x, y ∈ K gelten dann die folgenden Rechen-regeln:

(i) |x| ≥ 0

(ii) |x| = 0⇔ x = 0

(iii) |x| ≥ x

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1.7 Reelle Zahlen 23

(iv) |x · y| = |x| · |y|

(v) |x+ y| ≤ |x|+ |y|

(vi) ||x| − |y|| ≤ |x− y|

Regel (v) heißt Dreiecksungleichung. Zu ihrem Beweis beachte man, dass x ≤ |x|und y ≤ |y| nach (iii). Es folgt x + y ≤ |x| + |y|. Weiter ist −x ≤ | − x| =|(−1) · x| = | − 1| · |x| = −(−1) · |x| = 1 · |x| = |x| und analog −y ≤ |y|. Wirerhalten −(x + y) = −x + (−y) ≤ |x| + |y|. Insgesamt folgt x + y ≤ |x| + |y| und−(x+ y) ≤ |x|+ |y|. Hieraus folgt die Behauptung. (Wir haben (iii) im Beweis von(v) benutzt. Naturlich muss man sich noch uberzeugen, dass (iii) ohne Zuhilfenahmevon (v) bewiesen werden kann, aber dies ist leicht zu sehen.)

Definition 1.6.3. Ein angeordneter Korper (K,+, ·,≤) heißt vollstandig, falls diegeordnete Menge (K,≤) ordnungsvollstandig ist.

In einem vollstandigen angeordneten Korper besitzt also jede nach oben be-schrankte Menge ein Supremum. Das Supremum lasst sich in Korpern auch wiefolgt charakterisieren.

Satz 1.6.4. Sei (K,+, ·,≤) angeordneter Korper und A nach oben beschrankteTeilmenge von K. Sei s eine obere Schranke A. Dann ist s Supremum von A genaudann, wenn zu jedem ε ∈ K mit ε > 0 ein x ∈ A existiert, so dass s− ε < x, d.h.,

(∗) ∀ε > 0∃x ∈ A : s− ε < x.

Beweis.”⇒“: Wir fuhren den Beweis indirekt (genauer: durch Kontraposition) und

nehmen an, dass (∗) nicht gilt. Es folgt

∃ε > 0∀x ∈ A : s− ε ≥ x,

d.h.,

∃ε > 0: s− ε ist obere Schranke von A.

Da aber s− ε < s falls ε > 0, ist s also kein Supremum von A.

”⇐“: Es gelte (∗) und es sei s′ obere Schranke von A. Zu zeigen ist, dass s′ ≥ s.

Wir nehmen an, dass dies nicht gilt. Dann ist s′ < s und damit ε := s − s′ > 0.Nach (∗) existiert x ∈ A mit x > s− ε = s′. Dies ist ein Widerspruch, da s′ obereSchranke von A.

1.7 Reelle Zahlen

Grundlegend fur die Analysis ist das folgende Resultat.

Satz 1.7.1. Es gibt einen vollstandigen angeordneten Korper.

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24 1 GRUNDLAGEN

Wir werden spater einen Beweis dieses Satzes skizzieren, indem wir andeutenwerden, wie man den angeordneten Korper der rationalen Zahlen

”vervollstandi-

gen“ kann. Den so erhaltenen vollstandigen angeordneten Korper nennen wir denKorper der reellen Zahlen und bezeichnen ihn mit (R,+, ·,≤), kurz auch R.

Daruberhinaus kann man sogar zeigen, dass die reellen Zahlen im wesentli-chen der einzige vollstandige angeordnete Korper sind: Ist (K,+K , ·K ,≤K) einvollstandiger angeordneter Korper, so existiert eine bijektive Funktion f : K → Rmit f(x +K y) = f(x) + f(y), f(x ·K y) = f(x) · f(y) und x ≤K y ⇔ f(x) ≤ f(y)fur alle x, y ∈ K. Wir verzichten hier auf einen Beweis dieser Tatsache. Stattdessenentwickeln wir die Theorie des vollstandige angeordneten Korpers (R,+, ·,≤) an-hand der in §1.6 gegebenen Korper- und Ordnungsaxiome sowie der Vollstandigkeit.Dabei betrachten wir N, Z und Q als Teilmengen von R:

n = 1 + 1 + · · ·+ 1︸ ︷︷ ︸n-mal

,m

n= m · n−1.

Satz 1.7.2. N ist nicht nach oben beschrankt (in R).

Beweis. Wir fuhren einen Widerspruchsbeweis und nehmen an, dass N nach obenbeschrankt ist. Sei s = supN. Dann gilt n ≤ s fur alle n ∈ N. Nach Satz 1.6.4existiert N ∈ N mit N > s − 1. Es folgt N + 1 > s. Dies ist ein Widerspruch, daN + 1 ∈ N.

Bemerkung. Satz 1.7.2 mag trivial erscheinen. Es sei aber angemerkt, dass es an-geordnete Korper gibt, in denen die Aussage nicht gilt. Ein Beispiel ist der Korperder rationalen Funktionen, wobei man f ≤ g dadurch definiert, dass ein x0 mitf(x) ≤ g(x) fur alle x ≥ x0 existiert.

Folgerung 1.7.1. Seien a, b ∈ R, a > 0. Dann existiert n ∈ N mit na > b.

Beweis. Andernfalls gilt na ≤ b und damit n ≤ b/a fur alle n ∈ N, im Widerspruchzu Satz 1.7.2.

Folgerung 1.7.2. Sei a ∈ R, a > 0. Dann existiert n ∈ N mit1

n< a.

Beweis. Man wende Folgerung 1.7.1 mit b = 1 an.

Satz 1.7.2 und die beiden Folgerungen daraus heißen Satz des Archimedes oderSatz des Eudoxos. Die Bezeichnungen sind hier uneinheitlich.

Satz 1.7.3. Es sei M ⊂ Z, M 6= ∅. Weiter sei M nach oben (bzw. unten) be-schrankt. Dann hat M ein Maximum (bzw. Minimum).

Beweis. Wir betrachten nur den Fall, dassM nach unten beschrankt ist. Der andereFall ist analog. Weiter kann man annehmen, dass M ⊂ N gilt, dass also 1 untereSchranke von M ist. (Denn ist M ⊂ Z und s ∈ Z untere Schranke, so betrachtenwir M ′ := {n − s + 1: n ∈ M}. Dann ist M ′ ⊂ N und ist µ Minimum von M ′, soist µ+ s− 1 Minimum von M .)

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1.7 Reelle Zahlen 25

Wir betrachten die Menge A aller naturlichen Zahlen, die untere Schranke vonM sind, also A = {n ∈ N : (∀m ∈ M : n ≤ m)}. Dann ist 1 ∈ A wegen M ⊂ N.Andererseits ist A nach oben beschrankt, da jedes Element von M obere Schrankevon A ist. Nach Satz 1.7.2 gilt damit A 6= N.

Damit existiert aber k ∈ N, so dass k ∈ A und k + 1 /∈ A. Denn andernfallswurde fur alle k ∈ N die Aussage k ∈ A die Aussage k+1 ∈ A implizieren, aufgrunddes Beweisprinzips der vollstandigen Induktion also A = N gelten.

Sei nun also k ∈ A mit k + 1 /∈ A. Dann ist k untere Schranke von M wegenk ∈ A. Wegen k+ 1 /∈ A existiert m ∈M mit m < k+ 1. Da aber auch k ≤ m gilt,und zwischen k und k + 1 keine naturliche Zahl liegt, folgt k = m, also k ∈ M .Damit ist k Minimum von M .

Wir haben im Beweis die Behauptung auf die folgende Aussage reduziert: jedenichtleere Teilmenge von N besitzt ein Minimum. Hierzu sagt man auch: N istwohlgeordnet.

Den folgenden Satz druckt man auch mit den Worten”Q ist dicht in R“ aus.

Satz 1.7.4. Seien a, b ∈ R mit a < b. Dann existiert r ∈ Q mit a < r < b.

Beweis. Es ist b − a > 0 und damit existiert nach Folgerung 1.7.2 ein n ∈ N mit1/n < b−a. Wir betrachten die Menge M := {k ∈ Z : k > na}. Nach Satz 1.7.2 giltdann M 6= ∅. Außerdem ist M nach unten (durch na) beschrankt. Nach Satz 1.7.3hat M also ein Minimum m. Es gilt dann m > na und damit

a <m

n.

Außerdem ist m− 1 ≤ na und damit m ≤ na+ 1, also

m

n≤ a+

1

n< a+ (b− a) = b.

Also leistet r := m/n das Verlangte.

Wir fuhren einige Bezeichnungen ein. Seien dazu a, b ∈ R, a < b. Dann heißen

• (a, b) := {x ∈ R : a < x < b} offenes Intervall,

• [a, b] := {x ∈ R : a ≤ x ≤ b} abgeschlossenes Intervall,

• (a, b] := {x ∈ R : a < x ≤ b} und [a, b) := {x ∈ R : a ≤ x < b} halboffeneIntervalle.

Im Falle eines abgeschlossenen Intervalls lassen wir auch a = b zu. Es ist also[a, a] := a. Bei Mengen der Form {x ∈ R : a < x} setzen wir formal b = ∞ undbezeichnen auch sie als offenes Intervall, also (a,∞) := {x ∈ R : a < x}. Analog de-finiert man das offene Intervall (−∞, b) sowie die abgeschlossenen Intervalle [a,∞)und (−∞, b]. Wir bezeichnen (−∞,∞) := R sowohl als offenes Intervall wie auchals abgeschlossenes Intervall. Weiter setzen wir noch R+ := (0,∞).

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26 1 GRUNDLAGEN

Man beachte, dass wir fur offene Intervalle und geordnete Paare die gleiche No-tation verwenden! Dies sollte aber nicht zu Missverstandnissen fuhren. Eine andereubliche Notation fur das offene Intervall (a, b) ist ]a, b[, mit einer analogen Notationfur halboffene Intervalle. Fur die Intervalle (a,∞) ist auch die Bezeichnung R>aublich, insbesondere also R>0 = R+. Analog sind die Bezeichnungen R≥a, R<a undR≥a zu verstehen.

In der jetzt eingefuhrten Terminologie lautet Satz 1.7.4 etwa: Ist I offenes In-tervall, so gilt I ∩Q 6= ∅.

Satz 1.7.5. Q ist nicht vollstandig.

Beweis. Sei M := {x ∈ Q : x2 ≤ 2}. Dann ist M 6= ∅ (etwa 0 ∈ M) und M istnach oben beschrankt (etwa durch 2). Wir nehmen an, dass Q vollstandig ist. Dannbesitzt M ein Supremum s ∈ Q. Wegen 0 ∈M gilt s ≥ 0.

Wir zeigen zunachst, dass s2 = 2 gilt. Dazu nehmen wir an, dass s2 < 2. Wirwerden zeigen, dass dann r ∈ M mit r > s existiert. Unser Ansatz fur r ist daherr = s+m, wobei m > 0 gelten soll. Wahlt man m < 1, so gilt

r2 = (s+m)2 = s2 + 2sm+m2 < s2 + 2sm+m = s2 + (2s+ 1)m.

Fur m ≤ (2− s2)/(2s+ 1) ist der letzte Ausdruck nicht großer als 2. Setzt man

m := min

{2− s2

2s+ 1,1

2

},

gilt folglich m > 0 und damit r = s + m > s. Außerdem gilt nach Wahl von mauch r2 < 2, also r ∈M , im Widerspruch zu s = supM . Ahnlich fuhrt man s2 > 2zum Widerspruch. Es gilt also s2 = 2.

Wegen s ∈ Q existieren p, q ∈ Z mit q 6= 0 und s = p/q. Man kann annehmen,dass p und q teilerfremd sind, insbesondere also, dass p und q nicht beide geradesind. Wegen

2 = s2 =p2

q2

gilt p2 = 2q2. Dies impliziert, dass p2 gerade ist. Damit ist aber auch p gerade,etwa p = 2n mit n ∈ Z. Es folgt, dass 2q2 = p2 = (2n)2 = 4n2, also q2 = 2n2. Diesimpliziert aber, dass q2 und damit q gerade ist. Dies ist ein Widerspruch.

Bemerkung. Die Menge M aus dem obigen Beweis besitzt wegen der Vollstandigkeitvon R ein Supremum s ∈ R, und das obige Argument zeigt, dass s2 = 2 gilt. Wirbezeichnen diese reelle Zahl s naturlich mit

√2.

Diese Idee benutzt man allgemeiner zur Definition rationaler Potenzen.

Definition 1.7.1. Seien m,n ∈ N und a ∈ R+. Man setzt

n√a := sup{x ∈ R : xn ≤ a}, am/n := n

√am, a−m/n :=

1

am/n

sowie a0 := 1 und√a := 2

√a.

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1.7 Reelle Zahlen 27

Ahnlich wie im Beweis von Satz 1.7.5 zeigt man ( n√a)n

= a. Daruberhinaus siehtman leicht, das n

√a die einzige positive reelle Zahl ist, deren n-te Potenz a ist. Des

Weiteren zeigt man leicht, dass am/n wohldefiniert ist, d.h., dass fur m/n = m′/n′

auch am/n = am′/n′

gilt.

Satz 1.7.6. Seien a, b ∈ R+ und r, s ∈ Q. Dann gilt

(i) aras = ar+s,

(ii) (ar)s = ars,

(iii) (ab)r = arbr,

(iv)(ab

)r=ar

br,

(v) a < b ∧ r > 0⇒ ar < br und a < b ∧ r < 0⇒ ar > br,

(vi) r < s ∧ a > 1⇒ ar < as und r < s ∧ a < 1⇒ ar > as.

Der Beweis sei als Ubung uberlassen. Man kann die Idee in Definition 1.7.1 auchbenutzen, um die Potenz ax fur a ∈ R+ und x ∈ R zu definieren: Fur a > 1 setztman

ax := sup{ar : r ∈ Q ∧ r ≤ x}.

(Fur a < 1 nimmt man das Infimum.) Wir werden die Potenz fur Exponenten inR erst spater (in §3.2) auf anderem Wege definieren.

Mit Hilfe der folgenden Definition werden wir einen weiteren wichtigen Unter-schied zwischen Q und R beschreiben.

Definition 1.7.2. Es sei M Menge, M 6= ∅.

• M heißt endlich, falls es eine naturliche Zahl n sowie eine bijektive Abbildungφ : {1, . . . , n} →M gibt.

• M heißt abzahlbar unendlich, falls es eine bijektive Abbildung φ : N → Mgibt.

• M heißt hochstens abzahlbar, falls M endlich oder abzahlbar ist.

• M heißt uberabzahlbar, falls M nicht endlich oder abzahlbar ist.

Der Begriff”abzahlbar“ wird in der Literatur uneinheitlich verwendet. Mal

entspricht er unserem”abzahlbar unendlich“, mal unserem

”hochstens abzahlbar“.

Satz 1.7.7. Q ist abzahlbar unendlich.

Beweisskizze. Wir beginnen mit 0 und durchlaufen die Zahlen mn

mit m,n ∈ Ngemaß dem in Abbildung 3 angedeuteten Schema. Außerdem fugen wir die Zahl−m

nhinter m

nein.

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28 1 GRUNDLAGEN

1 2 3 4 5 . . .1 1 → 2 3 → 4 5 . . .

↙ ↗ ↙ ↗2 1

21 3

22 5

2

↓ ↗ ↙ ↗3 1

323

1 43

53

↙ ↗4 1

412

34

1 54

↓ ↗5 1

525

35

45

1

. . . . . .

Abbildung 3: Abzahlung der rationalen Zahlen.

Bereits einmal durchlaufene Zahlen lassen wir weg und kommen so zu folgenderAnordnung der rationalen Zahlen:

0, 1,−1, 2,−2,1

2,−1

2,1

3,−1

3, 3,−3, 4,−4,

3

2,−3

2, . . . .

Die durch φ(1) = 0, φ(2) = 1, φ(3) = −1, φ(4) = 2, usw. definierte Funktionφ : N→ Q ist dann bijektiv.

Satz 1.7.8. R ist uberabzahlbar.

Bevor wir diesen Satz beweisen, formulieren wir folgendes Resultat, dessen Be-weis wir als Ubung uberlassen.

Satz 1.7.9. Fur alle n ∈ N sei ein beschranktes, abgeschlossenes Intervall I(n)gegeben, d.h., es sei I eine Abbildung von N in die Menge der beschrankten, abge-schlossenen Intervalle. Fur alle n ∈ N sei I(n+ 1) ⊂ I(n). Dann gilt

∞⋂n=1

I(n) 6= ∅.

In der Formulierung des Satzes ist⋂∞n=1 I(n) eine abkurzende Schreibweise fur⋂

I∈{I(N)} I. Entsprechende Schreibweisen werden wir im Folgenden haufiger benut-

zen.)Oft wird die in Satz 1.7.9 angegebene Eigenschaft auch als Definition der

Vollstandigkeit genommen (anstelle der Eigenschaft, dass jede nichtleere, nach obenbeschrankte Menge ein Supremum besitzt). Dies fuhrt aber zu einem anderen Voll-standigkeitsbegriff, und zur Charakterisierung von R muss dann noch eine der Aus-sagen von Satz 1.7.2, Folgerung 1.7.1 oder Folgerung 1.7.2 hinzugenommen werden.Die hinzugenommene Aussage wird dann als Archimedisches Axiom bezeichnet.

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1.8 Komplexe Zahlen 29

Beweis von Satz 1.7.8. Da R offensichtlich nicht endlich ist, mussen wir zeigen,dass keine bijektive Abbildung von N nach R existiert.

Sei also φ : N → R. Dann existiert ein abgeschlossenes, echtes (d.h., aus mehrals einem Punkt bestehendes) Intervall I(1) mit φ(1) /∈ I(1). Weiter existiert einechtes abgeschlossenes Intervall I(2) ⊂ I(1) mit φ(2) /∈ I(2). Induktiv erhalt manfur jedes n ∈ N mit n ≥ 2 ein echtes abgeschlossenes Intervall I(n) ⊂ I(n− 1) mitφ(n) /∈ I(n). Nach Satz 1.7.9 ist

⋂∞n=1 I(n) 6= ∅ und damit existiert

s ∈∞⋂n=1

I(n).

Fur alle n ∈ N gilt damit s ∈ I(n), wegen φ(n) /∈ I(n) also s 6= φ(n). Es folgts /∈ φ(N). Daher ist φ nicht surjektiv.

1.8 Komplexe Zahlen

Historisch tauchten komplexen Zahlen zuerst im 16. Jahrhundert bei der Losungkubischer Gleichungen durch del Ferro, Tartaglia und Cardano auf. Diese fanden,dass eine Losung der Gleichung x3 + px+ q = 0 durch

x =3

√−q

2+

√(q2

)2+(p

3

)3+

3

√−q

2−√(q

2

)2+(p

3

)3gegeben ist, fur x3− 3x− 4 = 0 etwa x =

3√

2 +√

3 +3√

2−√

3. Fur die Gleichung

x3 − 15x− 4 = 0

erhalt man

x =3

√2 +√−121 +

3

√2−√−121.

Hier nutzt einem die Losungsformel nur dann etwas, wenn man die Ausdrucke√−121 und 3

√2±√−121 mit Sinn fullen kann und die ublichen Rechenregeln

dafur gelten.Andererseits zeigt Einsetzen, dass x = 4 eine Losung der obigen Gleichung

ist. Tatsachlich wird sich zeigen, dass bei geeigneter Definition von√−121 und

3√

2±√−121 auch

3

√2 +√−121 +

3

√2−√−121 = 4

gilt.Die Idee ist also, den Korper R der reellen Zahlen so zu erweitern, dass Glei-

chungen wie x2+1 = 0 eine Losung haben. Ist etwa i eine Losung dieser Gleichung,also i2 = −1, so kann man Elemente der Form a+ ib mit a, b ∈ R betrachten. Fura, b, c, d ∈ R erhalt man, wenn man die ublichen Rechenregeln als gegeben hin-nimmt, und zusatzlich die Regel i2 = −1 benutzt, dann

(a+ ib) · (c+ id) = ac+ aid+ ibc+ i2bd = ac− bd+ i(ad+ bc).

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30 1 GRUNDLAGEN

Formal geht man wie folgt vor: Auf R2 = R × R definieren wir eine Addition

”+“ und eine Multiplikation

”·“ wie folgt:

(a, b) + (c, d) := (a+ c, b+ d),

(a, b) · (c, d) := (ac− bd, ad+ bc).

Es gilt dann, dass (R2,+, ·) Korper ist. Dabei ist (0, 0) das Nullelement und (1, 0)das Einselement.

Wir verzichten darauf, alle Korperaxiome nachzuweisen, sondern beschrankenuns exemplarisch auf zwei, namlich (M4) (Existenz des multiplikativen Inversen)und (D) (Distributivgesetz).

Nachweis von (M4). Sei (a, b) ∈ R2, (a, b) 6= (0, 0). Dann ist a2 + b2 > 0 und esgilt

(a, b) ·(

a

a2 + b2,−b

a2 + b2

)=

(a

a

a2 + b2− b −b

a2 + b2, a−b

a2 + b2+ b

a

a2 + b2

)=

(a2 + b2

a2 + b2,−ab+ ab

a2 + b2

)= (1, 0).

Es gilt also

(a, b)−1 =

(a

a2 + b2,−b

a2 + b2

).

Nachweis von (D). Seien a, b, c, d, e, f ∈ R. Dann gilt

((a, b) + (c, d)) · (e, f) = (a+ c, b+ d) · (e, f)

= ((a+ c)e− (b+ d)f, (a+ c)f + (b+ d)e)

= (ae− bf + ce− df, af + be+ cf + de)

= (ae− bf, af + be) + (ce− df, cf + de)

= (a, b) · (e, f) + (c, d) · (e, f).

Wir nennen den erhaltenen Korper den Korper der komplexen Zahlen und bezeich-nen ihn mit (C,+, ·) oder kurz auch C. (Es gilt also C = R2!)

Weiter zeigt man leicht, dass ({(a, 0) : a ∈ R},+, ·) ein Teilkorper von (C,+, ·)ist. Dieser Teilkorper ist

”isomorph“ zum Korper (R,+, ·), denn die Abbildung

φ : R→ {(a, 0) : a ∈ R}, a 7→ (a, 0), ist bijektiv und erfullt φ(a + b) = φ(a) + φ(b)und φ(a · b) = φ(a) · φ(b) fur a, b ∈ R.

Wir identifizieren daher die reelle Zahl a mit der komplexen Zahl (a, 0) undbetrachten in diesem Sinne die reellen Zahlen als Teilmenge von C. Weiter setzenwir i := (0, 1). Es gilt dann i2 = (0, 1) · (0, 1) = (−1, 0) = −1 und i · a = (0, 1) ·(a, 0) = (0, a) fur a ∈ R. Damit ist (a, b) = (a, 0) + (0, b) = (a, 0) + (0, 1) · (b, 0) =a + ib fur a, b ∈ R. Im Allgemeinen schreiben wir komplexe Zahlen in der letztenForm.

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1.8 Komplexe Zahlen 31

Wir fuhren einige weitere Bezeichungen ein. Dazu seien x, y ∈ R und damitz := (x, y) = x + iy ∈ C. Wir nennen x den Realteil von z und y den Imaginarteilvon z. Dafur benutzen wir die Notation x = Re z und y = Im z.

Weiter heißt z := x− iy die zu z konjugiert komplexe Zahl und |z| :=√x2 + y2

der Betrag von z. (Man beachte, dass fur z ∈ R der hier definierte Betrag mit demvorher definierten ubereinstimmt.)

Wir identifizieren wir die komplexe Zahl z = x + iy = (x, y) ∈ C = R2 mitdem Punkt der Ebene mit Koordinaten x und y. Dann konnen wir die Additionkomplexer Zahlen geometrisch deuten. Sie entspricht der Addition von Vektoren;siehe Abbildung 4. Der Betrag |z| ist der Abstand von z zum Ursprung des Ko-ordinatensystems. Die konjugiert komplexe Zahl z ist die Spiegelung von z an derx-Achse.

−1 1 2

−1

1

2

z

z

w

z + w

Abbildung 4: Geometrische Interpretation komplexer Zahlen.

Auch die Multiplikation komplexer Zahlen kann geometrisch gedeutet werden.Dies wird erst spater in §3.5 erfolgen.

Wir stellen einige Rechenregeln zusammen, die fur alle z, w ∈ C gelten:

(i) |z| ≥ 0,

(ii) |z| = 0⇔ z = 0,

(iii) z + w = z + w,

(iv) z · w = z · w,

(v) z + z = 2 Re z,

(vi) z − z = 2i Im z,

(vii) z = z ⇔ z ∈ R,

(viii) z · z = |z|2,

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32 1 GRUNDLAGEN

(ix) z 6= 0⇒ z−1 = 1|z|2 z,

(x) |z| = |z|,

(xi) |Re z| ≤ |z|,

(xii) |Im z| ≤ |z|,

(xiii) |z · w| = |z| · |w|,

(xiv) |z + w| ≤ |z|+ |w| (Dreiecksungleichung),

(xv) ||z| − |w|| ≤ |z − w| (Dreiecksungleichung nach unten).

Wir beweisen hier nur einige der obigen Rechenregeln. Dazu sei z = x+ iy undw = u+ iv, mit x, y, u, v ∈ R.

Zu (iv): Es gilt

zw = (x+ iy)(u+ iv)

= xu− yv + i(xv + yu)

= xu− yv − i(xv + yu)

= xu− (−y)(−v) + i(x(−v) + (−y)u)

= (x− iy)(u− iv)

= z w.

Zu (viii): Es ist zz = (x+ iy)(x− iy) = x2 + y2 = |z|2.Zu (xiii): Nach den gerade bewiesenen Rechenregeln ist

|z · w|2 = z · w · z · w = z · w · z · w = z · z · w · w = |z|2 · |w|2

und damit |z · w| = |z| · |w|.Zu (xiv): Es ist

|z + w|2 = (z + w)(z + w)

= (z + w)(z + w)

= zz + zw + wz + ww

= |z|2 + zw + zw + |w|2

= |z|2 + 2Re(zw) + |w|2

≤ |z|2 + 2|zw|+ |w|2

= |z|2 + 2|z| · |w|+ |w|2

= (|z|+ |w|)2

und damit |z + w| ≤ |z|+ |w|.

Satz 1.8.1. Sei w ∈ C. Dann existiert ein z ∈ C mit z2 = w.

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33

Beweis. Ist w ∈ R, w ≤ 0, so hat z = i√−w die gewunschte Eigenschaft. An-

dernfalls gilt |w| + Re w > 0 und (zur Ubung empfohlenes!) Nachrechnen zeigt,dass

z =|w|+ w√

2√|w|+ Re w

die geforderte Eigenschaft hat.

Allgemeiner zeigt man (durch quadratische Erganzung), dass fur beliebige a, b ∈C die Gleichung z2 +az+b = 0 eine Losung hat. Noch allgemeiner gilt der folgendeSatz.

Satz 1.8.2. (Fundamentalsatz der Algebra) Sei n ∈ N und sei p ein Polynomvom Grad n, das heißt, es existieren a0, a1, . . . , an ∈ C mit an 6= 0, so dass

p(z) = anzn + an−1z

n−1 + · · ·+ a1z + a0

fur z ∈ C gilt. Dann existiert z1 ∈ C mit p(z1) = 0.

Einen Beweis dieses Satzes lernt man etwa in einer Einfuhrung in die Funk-tionentheorie kennen, wie sie im Allgemeinen in der Analysis IV geboten wird. Einelementarer Beweis wird in §3.6 gegeben.

Sind p und z1 wie in Satz 1.8.2, so existiert ein Polynom vom Grad n − 1,so dass p(z) = (z − z1)p1(z) fur z ∈ C. Ist n ≥ 2, so kann Satz 1.8.2 auf p1angewendet werden, und induktiv erhalt man, dass z1, z2, . . . , zn ∈ C existieren, sodass p(z) = an(z − z1) · (z − z2) · . . . · (z − zn).

Satz 1.8.3. Der Korper (C,+, ·) kann nicht angeordnet werden.

Beweis. Es sei ≤ Ordnung und < die zugehorige strikte Ordnung. Dann ist 0 <i2 = −1 und 0 < 12 = 1. Es folgt 0 < −1 + 1 = 0, was ein Widerspruch ist.

2 Folgen und Reihen

2.1 Folgen

Definition 2.1.1. Eine Funktion mit Definitionsbereich N heißt Folge. Falls au-ßerdem der Zielbereich R oder C ist, heißt sie (reelle bzw. komplexe) Zahlenfolge.

Sei M Menge und f : N → M Folge. Fur n ∈ N schreiben wir statt f(n) imAllgemeinen fn. Wir bezeichnen die Folge f mit (fn)n∈N oder kurz auch einfach mit(fn). Gelegentlich schreiben wir auch (f1, f2, f3, . . . ). Jede reelle Zahlenfolge kannauch als komplexe Zahlenfolge betrachtet werden.

Definition 2.1.2. Eine reelle Zahlenfolge (an) heißt nach oben (bzw. unten) be-schrankt, wenn die Menge {an : n ∈ N} nach oben (bzw. unten) beschrankt ist. Sieheißt beschrankt, wenn sie nach oben und nach unten beschrankt ist.

Eine komplexe Zahlenfolge (an) heißt beschrankt, falls die reelle Zahlenfolge(|an|) beschrankt ist.

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34 2 FOLGEN UND REIHEN

In der Definition der Beschranktheit der Teilmenge {an : n ∈ N} von R wirdnaturlich die durch

”≤“ gegebene Ordnung zugrunde gelegt. Bei der Beschranktheit

einer komplexen Zahlenfolge (an) kommt es naturlich nur darauf an, dass (|an|) nachoben beschrankt ist, denn nach unten ist diese Folge immer durch 0 beschrankt.

Definition 2.1.3. Eine reelle Zahlenfolge (an) heißt monoton steigend bzw. mo-noton fallend, wenn aus m ≤ n folgt, dass am ≤ an bzw. am ≥ an.

Folgt aus m < n sogar, dass am < an bzw. am > an, so heißt die Folge strengmonoton steigend bzw. streng monoton fallend.

Vollig analog definiert man Beschrankheit und (strenge) Monontonie fur eineFunktion f : M → R mit M ⊂ R. (Folgen sind der Spezialfall M = N).

Manchmal werden wir fur ein N ∈ Z und eine Menge M auch Funktionenf : {n ∈ Z : n ≥ N} → M betrachten. Wir werden auch diese (Zahlen)folgennennen und mit (fn)n≥N bezeichnen.

Beispiel. Wir betrachten die reelle Zahlenfolge (an), wobei

an =n+ 1

n

fur n ∈ N. Es ist also (an) = (2, 32, 43, 54, . . . ).

Behauptung 1. (an) ist monoton fallend.

Beweis. Seien m,n ∈ N mit m ≤ n. Zu zeigen ist, dass an ≤ am. Nun gilt aber

an ≤ am ⇔ n+ 1

n≤ m+ 1

m⇔ (n+ 1)m ≤ (m+ 1)n

⇔ nm+m ≤ mn+ n

⇔ m ≤ n.

Genauso sieht man, dass (an) sogar streng monoton fallend ist.

Behauptung 2. (an) ist beschrankt.

Beweis. (i) Da (an) monoton fallend ist, gilt an ≤ a1 = 2 fur alle n ∈ N. Also ist 2obere Schranke von (an) und damit ist (an) nach oben beschrankt.

(ii) Sei n ∈ N. Dann ist n+ 1 > n, also

an =n+ 1

n> 1.

Also ist 1 untere Schranke von (an) und damit ist (an) nach unten beschrankt.Aus (i) und (ii) folgt, dass (an) beschrankt ist.

Im obigen Beispiel ist an nahe dem Wert 1, wenn n groß ist; vgl. Abbildung 5.Wir prazisieren diesen Gedanken in der folgenden Definition.

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2.1 Folgen 35

1 a1 = 2a2a3a4a5a10a20

Abbildung 5: Die Folgenglieder a1, . . . , a5, a10 und a20 auf dem Zahlenstrahl.

Definition 2.1.4. Sei (an) (komplexe) Zahlenfolge. Dann heißt (an) konvergent,falls a ∈ C mit folgender Eigenschaft existiert:

Zu jedem ε ∈ R mit ε > 0 existiert ein N ∈ N, so dass |an − a| < ε fur allen ∈ N mit n ≥ N .

Wir schreiben in diesem Falle

a = limn→∞

an

oder an → a (fur n→∞) und sagen, dass (an) gegen a konvergiert. Wir nennen aden Grenzwert der Folge (an).

Eine Zahlenfolge, die nicht konvergent ist, heißt divergent.

Es ist nutzlich, die Definition der Konvergenz noch einmal mit Quantoren zuschreiben. Es ist (an) konvergent, falls gilt:

∃a ∈ C ∀ε ∈ R+ ∃N ∈ N ∀n ∈ N : n ≥ N ⇒ |an − a| < ε.

Die Idee bei der Definition der Konvergenz ist, |an− a| als Abstand von an zu a zuinterpretieren. Dieser Abstand kann dann im Konvergenzfall beliebig klein gemachtwerden, indem man n groß wahlt.

Dieser Gedanke kann wesentlich verallgemeinert werden. So werden wir spaterin recht allgemeinem Rahmen einen Abstandsbegriff (Metrik) definieren, und Kon-vergenz von Folgen in mit diesem Abstandsbegriff versehenen Mengen (metrischeRaume) untersuchen.

Beispiel (Fortsetzung). Sei wieder

an =n+ 1

n.

Behauptung. (an) ist konvergent und limn→∞ an = 1.

Beweis. Sei ε > 0. Zu zeigen ist, dass ein N ∈ N existiert, so dass |an − 1| < ε furalle n ∈ N mit n ≥ N .

Wir behaupten, dass N := [1/ε]+1 die verlangte Eigenschaft hat. (Es sei daranerinnert, dass fur eine reelle Zahl x mit der Gaußklammer [x] die großte ganze Zahlbezeichnet wird, die nicht großer als x ist.) Zunachst ist dann N > 1/ε und damit1/N < ε. Sei nun n ∈ N, n ≥ N . Dann ist

|an − 1| =∣∣∣∣n+ 1

n− 1

∣∣∣∣ =

∣∣∣∣n+ 1− nn

∣∣∣∣ =

∣∣∣∣ 1n∣∣∣∣ =

1

n≤ 1

N< ε.

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36 2 FOLGEN UND REIHEN

Im Folgenden werden wir statt”(an) ist konvergent und limn→∞ an = a“ oft

nur kurz”limn→∞ an = a“ schreiben. Wenn wir also den Grenzwert angeben, wird

damit seine Existenz (also die Konvergenz) impliziert.Wir haben bei einer konvergenten Folge bereits von dem Grenzwert und nicht

nur von einem Grenzwert gesprochen. Dies wird durch den folgenden Satz gerecht-fertigt.

Satz 2.1.1. Eine konvergente Zahlenfolge hat genau einen Grenzwert.

Beweis. Die Existenz eines Grenzwertes folgt aus der Definition. Wir haben alsonur die Eindeutigkeit des Grenzwertes zu zeigen.

Dazu nehmen wir an, dass a und b Grenzwerte der konvergenten Zahlenfolge(an) seien, mit a 6= b. Dann ist |a− b| > 0 und mit ε := 1

2|a− b| auch ε > 0.

Nach Definition 2.1.1 existiert nun Na ∈ N mit |an − a| < ε fur n ≥ Na und esexistiert Nb ∈ N mit |an − b| < ε fur n ≥ Nb. Mit N := max{Na, Nb} folgt dannfur n ≥ N , dass

|a− b| = |(a− aN) + (aN − b)| ≤ |a− aN |+ |aN − b| < ε+ ε = 2ε = |a− b|.

Dies ist ein Widerspruch.

Der Grundgedanke des obigen Beweises ist, dass nur eine der beiden Unglei-chungen |aN − a| < ε und |aN − b| < ε gelten kann; vgl. auch Abbildung 6, wo dieMengen {x ∈ R : |x− a| < ε} und {x ∈ R : |x− b| < ε} fur a < b der Deutlichkeitwegen fur den kleineren Wert ε = 1

3(b− a) skizziert sind.

a b

Abbildung 6: Die Mengen {x : |x− a| < ε} und {x : |x− b| < ε} und ε = 13(b− a).

Satz 2.1.2. Eine konvergente Zahlenfolge ist beschrankt.

Beweis. Sei (an) eine konvergente Folge und sei a := limn→∞ an. Dann existiertN ∈ N mit |an− a| < 1 fur n ≥ N . (Wir haben in Definition 2.1.4 ε := 1 gewahlt.)Damit folgt fur n ≥ N , dass

|an| = |(an − a) + a| ≤ |an − a|+ |a| < 1 + |a|.

Mit M := max{|a1|, |a2|, . . . , |aN−1|, 1+|a|} folgt dann |an| ≤M fur alle n ∈ N.

Beispiel 1. Es sei q ∈ C und die komplexe Zahlenfolge (an) sei gegeben durchan = qn.

Fall 1. |q| > 1. Wir zeigen, dass (an) unbeschrankt und damit wegen Satz 2.1.2divergent ist.

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2.1 Folgen 37

Sei dazu M ∈ R+. Wir haben zu zeigen, dass n ∈ N mit |qn| > M existiert.Dazu setzen wir h := |q| − 1. Dann ist h > 0 und |q| = 1 + h. Es folgt

|qn| = |q|n = (1 + h)n =n∑k=0

(nk

)hk ≥

1∑k=0

(nk

)hk = 1 + nh ≥ nh.

Fur n > M/h folgt also |an| ≥ nh > M .

Fall 2. |q| < 1. Wir zeigen, dass limn→∞ an = 0.Sei dazu ε ∈ R+. Wir haben zu zeigen, dass N ∈ N mit |qn − 0| < ε fur n ≥ N

existiert. Dies ist klar falls q = 0. Sei also q 6= 0. Wir setzen

h :=1

|q|− 1.

Es ist dann |q| = 1/(1 + h). Wegen 1/|q| > 1 ist h > 0. Wahlt man

N >1

εh,

so folgt fur n ≥ N , dass

|qn − 0| = |q|n =

(1

1 + h

)n=

1

(1 + h)n≤ 1

1 + nh≤ 1

nh≤ 1

Nh< ε.

Fall 3. |q| = 1. Hier zeigt sich, dass fur q = 1 Konvergenz gegen 1 vorliegt, wahrenddie Folge fur q 6= 1 divergent ist. Wir verzichten hier auf die Details, kommen abernach Satz 2.2.3 darauf zuruck.

Bemerkung. Die in Fall 1 und 2 benutzte Ungleichung

(1 + h)n ≥ 1 + nh

heißt Bernoullische Ungleichung. Sie gilt nicht nur fur h > 0, sondern sogar furh > −1 (und n ∈ N). Der Beweis sei als Ubung uberlassen.

Beispiel 2. limn→∞n√n = 1.

Beweis. Sei ε > 0. Zu zeigen ist, dass ein N ∈ N mit | n√n − 1| < ε fur n ≥ N

existiert.Dazu notieren wir zunachst, dass offensichtlich n

√n ≥ 1 fur alle n ∈ N gilt. Wir

setzen hn := n√n− 1 fur n ∈ N. Dann gilt also hn ≥ 0. Fur n ≥ 2 folgt

n =(

n√n)n

= (1 + hn)n =n∑k=0

(nk

)hkn ≥

(n

2

)h2n =

n(n− 1)

2h2n.

Es gilt also

h2n ≤2

n− 1und damit hn ≤

√2

n− 1

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38 2 FOLGEN UND REIHEN

fur n ≥ 2. Wahlt man also

N > max

{2,

2

ε2+ 1

},

so folgt fur n ≥ N , dass

∣∣ n√n− 1

∣∣ = |hn| = hn ≤√

2

n− 1≤√

2

N − 1<

√√√√√ 2(2

ε2+ 1

)− 1

= ε.

2.2 Rechenregeln

Satz 2.2.1. Seien (an) und (bn) konvergente Zahlenfolgen mit an → a und bn → b.Sei c ∈ C. Dann gilt

(i) (an + bn) ist konvergent und an + bn → a+ b,

(ii) (an · bn) ist konvergent und an · bn → a · b,

(iii) (c · an) ist konvergent und c · an → c · a,

(iv) Ist b 6= 0, so existiert N ∈ N mit der Eigenschaft, dass bn 6= 0 fur n ≥ N ,

und es ist

(anbn

)n≥N

konvergent mitanbn→ a

b.

Beweis. (i) Sei ε > 0. Dann existieren Na, Nb ∈ N mit |an − a| < 12ε fur n ≥ Na

und |bn − b| < 12ε fur n ≥ Nb. Mit N := max{Na, Nb} folgt dann fur n ≥ N , dass

|(an + bn)− (a+ b)| = |(an − a) + (bn − b)| ≤ |an − a|+ |bn − b| <ε

2+ε

2= ε.

(ii) Es ist

anbn − ab = anbn − abn + abn − ab = (an − a)bn + a(bn − b).

Nach Satz 2.1.2 ist (bn) beschrankt, d.h., es existiert M ∈ R+ mit |bn| ≤M fur allen ∈ N.

Sei nun ε > 0. Dann existieren Na, Nb ∈ N mit

|an − a| <ε

2Mfur n ≥ Na und |bn − b| <

ε

2(|a|+ 1)fur n ≥ Nb.

Mit N := max{Na, Nb} folgt dann fur n ≥ N , dass

|anbn − ab| = |(an − a)bn + a(bn − b)|≤ |(an − a)bn|+ |a(bn − b)|= |an − a| · |bn|+ |a| · |bn − b|

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2.2 Rechenregeln 39

2MM + |a| ε

2(|a|+ 1)

2+ε

2= ε.

(iii) Dies folgt aus (ii) mit bn = c fur alle n ∈ N.(iv) Sei b 6= 0. Dann gilt 1

2|b| > 0 und damit existiert N ∈ N, so dass |bn − b| <

12|b| fur n ≥ N . Es folgt 1

2|b| > |b| − |bn| und damit |bn| > 1

2|b| fur n ≥ N .

Insbesondere gilt also bn 6= 0 fur n ≥ N .Wir zeigen jetzt, dass (1/bn)n≥N gegen 1/b konvergiert. Dazu notieren wir

zunachst, dass fur n ≥ N∣∣∣∣ 1

bn− 1

b

∣∣∣∣ =

∣∣∣∣b− bnbnb

∣∣∣∣ =|b− bn||bn| · |b|

≤ 2|b− bn||b|2

gilt. Sei nun ε > 0. Dann existiert N ′ ∈ N mit |bn − b| < 12|b|2ε fur n ≥ N ′. Mit

N ′′ := max{N,N ′} folgt dann fur N ≥ N ′′, dass∣∣∣∣ 1

bn− 1

b

∣∣∣∣ ≤ 2|b− bn||b|2

< ε.

Damit gilt 1/bb → 1/b. Aus (ii) folgt jetzt

anbn→ a

b.

Beispiel. Sei (an) die durch

an =8n2 + n

n√n2

4n2 + 3n+n

2n

gegebene Folge. Dann folg mit den Rechenregeln aus obigem Satz sowie den inAbschnitt 2.2 behandelten Beispielen, dass

an =

n2

(8 +

1

n

n√n2

)n2

(4 +

3

n+

1

n2n

) =8 +

1

n· n√n2

4 + 3 · 1

n+

1

n·(

1

2

)n → 8 + 0 · 12

4 + 3 · 0 + 0 · 0=

8

4= 2,

also limn→∞ an = 2.

Satz 2.2.2. Eine komplexe Zahlenfolge (an) konvergiert genau dann, wenn diereellen Zahlenfolgen (Re an) und (Im an) konvergieren. Es gilt dann

limn→∞

Re an = Re(

limn→∞

an

)und lim

n→∞Im an = Im

(limn→∞

an

).

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40 2 FOLGEN UND REIHEN

Beweis. Seien zunachst (Re an) und (Im an) konvergent. Die Konvergenz von (an)folgt aus Satz 2.2.1, (i) und (iii).

Sei jetzt (an) konvergent, etwa a = limn→∞ an. Die Behauptung folgt dann aus|Re an − Re a| = |Re(an − a)| ≤ |an − a| und |Im an − Im a| = |Im(an − a)| ≤|an − a|.

Satz 2.2.3. Wenn die komplexe Zahlenfolge (an) gegen a konvergiert, so konver-gieren (|an|) gegen |a| und (an) gegen a.

Beweis. Die Behauptung folgt aus ||an| − |a|| ≤ |an − a| und |an − a| = |an − a| =|an − a|.

Wir betrachten noch einmal das Beispiel der durch an := qn definierten komple-xen Zahlenfolge (an), wobei q ∈ C, |q| = 1. Gilt dann an → a, so folgt |an| → |a|.Wegen |an| = |qn| = |q|n = 1n = 1 fur alle n ∈ N impliziert dies |a| = 1. Weitergilt auch an+1 → a. Andererseits gilt aber auch an+1 = qan → qa. Es folgt a = qa.Wegen |a| = 1 ist aber a 6= 0. Damit folgt q = 1. Fur q ∈ C, |q| = 1, konvergiertalso die komplexe Zahlenfolge (qn) genau dann, wenn q = 1.

Satz 2.2.4. Seien (an) und (bn) konvergente reelle Zahlenfolgen. Es existiere N ∈ Nmit an ≤ bn fur alle n ≥ N . Dann gilt limn→∞ an ≤ limn→∞ bn.

Beweis. Sei a := limn→∞ an und b := limn→∞ bn. Wir nehmen an, dass a > b gilt.Dann ist a − b > 0 und damit auch ε := 1

2(a − b) > 0. Also existieren Na, Nb ∈ N

mit |an − a| < ε fur n ≥ Na und |bn − b| < ε fur n ≥ Nb. Sei N ′ := max{Na, Nb}.Fur n ≥ N ′ gilt dann bn − b < ε und a− an < ε. Es folgt (bn − b) + (a− an) < 2εund damit bn − an < 2ε+ b− a = 0 fur n ≥ N ′. Es folgt bn < an fur n ≥ N ′. Diesist ein Widerspruch.

Man beachte, dass aus an < bn fur n ≥ N nicht limn→∞ an < limn→∞ bn ge-folgert werden kann. Ein Gegenbeispiel ist etwa durch an = −1/n und bn = 1/ngegeben. Hier sind beide Grenzwerte 0.

Eine wichtiger Spezialfall von Satz 2.2.4 ist der Fall, dass eine der Folgen (an)und (bn) konstant ist. So folgt etwa aus an → a und an ≤ b fur n ≥ N , dass a ≤ bgilt.

Der folgende Satz wird auch als Einschnurungssatz (englisch: Sandwich theo-rem) bezeichnet.

Satz 2.2.5. Seien (an), (bn) und (cn) reelle Zahlenfolgen. Es existiere N ∈ N mit

an ≤ bn ≤ cn

fur alle n ≥ N . Sind dann (an) und (cn) konvergent mit

limn→∞

an = limn→∞

cn,

so ist auch (bn) konvergent und hat den gleichen Grenzwert wie (an) und (cn).

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2.3 Konvergenzkriterien 41

Beweis. Sei a := limn→∞ an = limn→∞ cn und sei ε > 0. Dann existieren Na, Nc ∈ Nmit |an−a| < ε fur n ≥ Na und |cn−a| < ε fur n ≥ Nc. Mit Nb := max{N,Na, Nc}folgt dann fur n ≥ Nb, dass a− bn ≤ a− an ≤ |an − a| < ε und bn − a ≤ cn − a ≤|cn − a| < ε, also |bn − a| < ε.

Beispiel. Sei b ∈ R+. Fur n ≥ max{b, 1/b} ist dann

1

n≤ b ≤ n und damit

1n√n≤ n√b ≤ n√n.

Wegen n√n→ 1 folgt n

√b→ 1.

2.3 Konvergenzkriterien

Im vergangenen Abschnitt haben wir die Grenzwerte gewisser Folgen bestimmt,in dem wir sie auf bekannte Grenzwerte zuruckgefuhrt haben. Jetzt werden wirKriterien kennenlernen, mit denen man die Konvergenz einer Folge auch dannzeigen kann, wenn man den Grenzwert vorher nicht kennt.

2.3.1 Monotone Folgen

Satz 2.3.1. Sei (an) eine monoton steigende (bzw. fallende) und nach oben (bzw.unten) beschrankte reelle Zahlenfolge. Dann ist (an) konvergent.

Ist A := {an : n ∈ N}, so gilt limn→∞ an = supA (bzw. limn→∞ an = inf A).

Beweis. Wir betrachten nur den Fall, dass (an) monton steigend und nach obenbeschrankt ist. (Der andere Fall kann darauf zuruckgefuhrt werden.) Sei a := supA.Zu zeigen ist, dass an → a. Sei dazu ε > 0. Nach Satz 1.6.4 existiert N ∈ N mitaN > a − ε. Wegen der Monotonie von (an) folgt an > a − ε fur alle n ≥ N .Andererseits gilt an ≤ a fur alle n ∈ N wegen a = supA. Es folgt |an − a| =a− an < ε fur alle n ≥ N .

Beispiel 1. Wir betrachten die rekursiv definierte Folge (an) mit a1 = 2 und

an+1 =1

2

(an +

2

an

)fur n ∈ N.

Es gilt also

a2 =1

2

(2 +

2

2

)=

3

2, a3 =

1

2

(3

2+

2 · 23

)=

17

12, . . . .

Offensichtlich gilt an > 0 fur alle n ∈ N. (Formaler Beweis durch vollstandigeInduktion.) Genauer gilt sogar, dass an ≥

√2 fur alle n ∈ N. Dies ist klar fur n = 1

und folgt fur n ≥ 2 wegen

a2n − 2 =1

4

(an−1 +

2

an−1

)2

− 2

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42 2 FOLGEN UND REIHEN

=1

4

(a2n−1 + 4 +

4

a2n−1

)− 2

=1

4

(a2n−1 − 4 +

4

a2n−1

)=

1

4

(an−1 −

2

an−1

)2

≥ 0

und an > 0. Des Weiteren gilt fur alle n ∈ N, dass an+1 ≤ an, denn wegen an ≥√

2gilt

an+1

an=

1

2

(1 +

2

a2n

)≤ 1

2

(1 +

2

2

)= 1.

Hieraus folgt unmittelbar (durch vollstandige Induktion), dass am ≤ an fur m ≥ ngilt, d.h., die Folge (an) ist monoton fallend. Nach Satz 2.3.1 konvergiert (an) alsogegen a = inf{an : n ∈ N}.

Um den Grenzwert a zu bestimmen, notieren wir zunachst, dass wegen an ≥√

2nach Satz 2.2.4 auch a ≥

√2 gilt. Außerdem gilt auch an+1 → a, und aus der

Rekursionsformel und Satz 2.2.1 folgt damit

a =1

2

(a+

2

a

).

Dies ergibt a/2 = 1/a und damit a2 = 2, wegen a ≥√

2 also a =√

2.Allgemeiner kann man wie oben zeigen, dass fur c > 0, a1 > 0 und

an+1 =1

2

(an +

c

an

)folgt, dass an →

√c.

Mit diesem Verfahren kann man die Quadratwurzel einer naturlichen Zahl be-liebig genau durch rationale Zahlen approximieren. Das Verfahren ist nach Heronvon Alexandria (1. Jhdt. n. Chr.) benannt, war aber den Babyloniern bereits 2000Jahre vorher bekannt. Heute wird es im Schulunterricht im Allgemeinen in der 9.Klasse behandelt.

Beispiel 2. Fur n ∈ N sei

an =

(1 +

1

n

)nund bn =

(1 +

1

n

)n+1

,

also

an =

(n+ 1

n

)nund bn =

(n+ 1

n

)n+1

=

(1 +

1

n

)an.

Wir zeigen, dass (an) monoton steigend ist. Fur n ≥ 2 ist

anan−1

=

(n+ 1

n

)n(n− 1

n

)n−1

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2.3 Konvergenzkriterien 43

=

((n+ 1)(n− 1)

n2

)nn

n− 1

=

(n2 − 1

n2

)nn

n− 1

=

(1− 1

n2

)nn

n− 1.

Mit der fur α > −1 gultigen Bernoulli-Ungleichung (1 + α)n ≥ 1 + nα folgt

anan−1

≥(

1− n 1

n2

)n

n− 1= 1

und damit, dass (an) monoton steigend ist. Ahnlich zeigt man, dass (bn) monotonfallend ist. Damit gilt

a1 ≤ an < an

(1 +

1

n

)= bn ≤ b1

fur alle n ∈ N. Nach Satz 2.3.1 existieren damit a, b ∈ R mit an → a and bn → b.Wegen

an

(1 +

1

n

)= bn

folgt a = b nach Satz 2.2.1, (ii).Der gemeinsame Grenzwert von (an) und (bn) heißt Eulersche Zahl und wird

mit e bezeichnet. Es gilt e = 2, 718 . . . .

2.3.2 Der Satz von Bolzano-Weierstraß

Definition 2.3.1. Sei (an) Zahlenfolge und a ∈ C. Dann heißt a Haufungswert von(an), falls fur jedes ε ∈ R+ unendlich viele n ∈ N mit |an − a| < ε existieren.

Die Bedingung, dass unendlich viele n ∈ N mit |an − a| < ε existieren, istaquivalent dazu, dass zu vorgegebenemN ∈ N ein n ∈ Nmit n ≥ N und |an−a| < εexistiert. In Quantorenschreibweise lautet die letzte Bedingung wie folgt:

∀ε ∈ R+∀N ∈ N∃n ∈ N : n ≥ N ∧ |an − a| < ε.

Als Beispiel betrachten wir die durch an = (−1)n gegebene Folge (an). Hier sind 1und −1 Haufungswerte.

Definition 2.3.2. Sei X Menge, a : N→ X Folge und ν : N→ N streng monotonsteigende Folge. Dann heißt die Folge a ◦ ν : N→ X eine Teilfolge von a. Sie wirdmit (aν(k))k∈N oder (aνk)k∈N bezeichnet.

Satz 2.3.2. Sei (an) Zahlenfolge und a ∈ C. Dann gilt:

(i) a ist Haufungswert von (an) ⇔ Es existiert eine Teilfolge von (an), die gegena konvergiert.

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44 2 FOLGEN UND REIHEN

(ii) a ist Grenzwert von (an) ⇔ Alle Teilfolgen von (an) konvergieren gegen a.

Der Beweis sei als Ubung uberlassen.

Satz 2.3.3. (Satz von Bolzano-Weierstraß) Jede beschrankte Zahlenfolge be-sitzt eine konvergente Teilfolge.

Im Beweis des Satzes von Bolzano-Weierstraß werden wir folgenden Satz be-nutzen.

Satz 2.3.4. Jede reelle Zahlenfolge besitzt eine monotone Teilfolge.

Hierbei bedeutet”monoton“ naturlich

”monoton steigend oder monoton fal-

lend“.

Beweis von Satz 2.3.4. Sei (an) reelle Zahlenfolge. Wir nennen m ∈ N Gipfel von(an), falls an < am fur alle n > m. (Dieser Begriff wird nur fur die Zwecke diesesBeweises definiert und kann danach

”vergessen“ werden.)

Fall 1. Es existieren unendlich viele Gipfel. Seien m1,m2,m3, . . . Gipfel mit m1 <m2 < m3 < . . . . Dann ist (amk

) monoton fallende Teilfolge von (an).

Fall 2. Es existieren hochstens endlich viele Gipfel. Dann existiert n1 ∈ N, so dassalle n ∈ N mit n ≥ n1 keine Gipfel sind. Insbesondere ist n1 kein Gipfel und damitexistiert n2 > n1 mit an2 ≥ an1 . Auch n2 ist kein Gipfel, also existiert n3 > n2 mitan3 ≥ an2 , und n3 ist kein Gipfel. Induktiv erhalt man so eine monoton steigendeTeilfolge (ank

) von (an).

Beweis des Satzes von Bolzano-Weierstraß. Sei (an) beschrankte Zahlenfolge. Wirbetrachten zunachst den Fall, dass (an) reelle Zahlenfolge ist. Dann besitzt (an)nach Satz 2.3.4 eine monotone Teilfolge besitzt. Diese Teilfolge ist naturlich auchbeschrankt, und damit konvergent nach Satz 2.3.1.

Wir betrachten jetzt den Fall, dass (an) (beschrankte) komplexe Zahlenfolgeist. Dann sind die Folgen (Re an) und (Im an) reell und beschrankt. Nach dembereits bewiesenen besitzt (Re an) eine konvergente Teilfolge (Re ank

)k∈N, und die

Folge (Im ank)k∈N besitzt eine konvergente Teilfolge

(Im ankj

)j∈N

. Es folgt, dass(ankj

)j∈N

eine konvergente Teilfolge von (an)n∈N ist.

2.3.3 Cauchyfolgen

Definition 2.3.3. Eine Zahlenfolge (an) heißt Cauchyfolge, falls fur jedes ε ∈ R+

ein N ∈ N existiert, so dass |an − am| < ε fur alle m,n ≥ N .

In Quantorenschreibweise lautet die Definition wie folgt:

(an) ist Cauchyfolge⇔ ∀ε ∈ R+∃N ∈ N∀m,n ∈ N : (m ≥ N ∧ n ≥ N)⇒ |an − am| < ε.

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2.3 Konvergenzkriterien 45

Satz 2.3.5. (Cauchykriterium fur Folgen) Eine Zahlenfolge konvergiert genaudann, wenn sie Cauchyfolge ist.

Beweis. Sei zunachst (an) konvergente Zahlenfolge, etwa a = limn→∞ an. Zu zeigenist, dass (an) Cauchyfolge ist. Sei dazu ε > 0. Dann existiertN ∈ Nmit |an−a| < 1

fur alle n ≥ N . Gilt dann m ≥ N und n ≥ N , so folgt

|an − am| = |(an − a) + (a− am)| ≤ |an − a|+ |a− am| <ε

2+ε

2= ε.

Also ist (an) Cauchyfolge.Sei nun (an) Cauchyfolge. Zu zeigen ist, dass (an) konvergiert. Wir zeigen

zunachst (ahnlich wie im Beweis von Satz 2.1.2), dass (an) beschrankt ist. Da-zu notieren wir, dass ein N ∈ N existiert mit |an − am| < 1 fur m,n ≥ N . Esfolgt |an| = |an − aN + aN | ≤ |an − aN | + |aN | < 1 + |aN | fur n ≥ N , und damit|an| ≤ max{|a1|, |a2|, . . . , |aN−1|, 1 + |aN |} fur alle n ∈ N.

Nach dem Satz von Bolzano-Weierstraß existiert also eine konvergente Teilfolgevon (an), etwa ank

→ a.Wir zeigen jetzt, dass an → a gilt. Sei dazu ε > 0. Dann existiert K ∈ N mit

|ank− a| < 1

2ε fur k ≥ K. Außerdem existiert N ∈ N mit |an − am| < 1

2ε fur

m,n ≥ N . Sei nun n ≥ N . Dann existiert ` ∈ N mit ` ≥ K und n` ≥ N . Es folgt

|an − a| ≤ |an − an`|+ |an`

− a| < ε

2+ε

2= ε.

Wie bereits bemerkt ist bei obigem Satz sowie den Satzen 2.3.1 und 2.3.2 wich-tig, dass sie erlauben, die Konvergenz einer Folge nachzuweisen, ohne den Grenzwertzu kennen.

Das Entscheidende dabei ist die Vollstandigkeit von R. Umgekehrt konnte manauch wieder die Vollstandigkeit dadurch definieren, dass man die Konvergenz jederCauchyfolge verlangt. Dann musste man aber, um dem Vollstandigkeitsbegriff vonDefinition 1.6.3 zu erhalten, noch zusatzlich das Archimedische Axiom verlangen;vgl. die Diskussion nach Satz 1.7.9. (Wir werden aber spater in metrischen RaumenVollstandigkeit auf diesem Wege definieren.)

Exkurs: Konstruktion der reellen Zahlen. Wir wollen den Korper (Q,+, ·)der rationalen Zahlen zum Korper (R,+, ·) der reellen Zahlen

”vervollstandigen“.

Dazu sei C die Menge der Cauchyfolgen rationaler Zahlen. Wir betrachten die aufC durch

(xn) ∼ (yn) :⇔ limn→∞

(xn − yn) = 0

definierte Relation ∼.Man zeigt leicht, dass ∼ Aquivalenzrelation ist. Um etwa die Transivitat zu

zeigen, seien (xn), (yn), (zn) ∈ C mit (xn) ∼ (yn) und (yn) ∼ (zn). Dann gilt(xn− yn)→ 0 und (yn− zn)→ 0 und damit (xn− zn) = (xn− yn) + (yn− zn)→ 0,also (xn) ∼ (zn).

Auf der Menge C/∼ der Aquivalenzklassen definieren wir eine Addition undeine Multiplikation durch

[(xn)] + [(yn)] := [(xn + yn)]

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46 2 FOLGEN UND REIHEN

und[(xn)] · [(yn)] := [(xn · yn)].

Zunachst muss man zeigen, dass diese Addition und Multiplikation von Aquivalenz-klassen wohldefiniert sind. Dazu muss man zum einen zeigen, dass mit (xn), (yn) ∈C auch (xn + yn) ∈ C und (xn · yn) ∈ C gilt, und zum andern, dass fur (xn) ∼ (x′n)und (yn) ∼ (y′n) auch (xn + yn) ∼ (x′n + y′n) und (xn · yn) ∼ (x′n · y′n) gilt. Wirverzichten hier auf den Beweis dieser Aussagen.

Es gilt dann, dass (C/∼,+, ·) Korper ist. Auf einen Nachweis der einzelnenKorperaxiome verzichten wir. Das Nullelement des Korpers ist [(0, 0, 0, . . . )] unddas Einselement ist [(1, 1, 1, . . . )].

Wir definieren eine Ordnung ≤ auf C/∼ wie folgt:

[(xn)] ≤ [(yn)] :⇔ ∀ε > 0∃N ∈ N : n ≥ N ⇒ xn ≤ yn + ε.

(Man beachte hier, dass die”naive“ Setzung [(xn)] ≤ [(yn)] :⇔ ∀n ∈ N : xn ≤ yn

hier nicht zum Erfolg fuhrt. Diese ist noch nicht einmal wohldefiniert. Beispielsweiseist ja [(1/n)] = [(−1/n)].)

Zunachst muss man wieder zeigen, dass≤ wohldefiniert ist. Sei dazu (xn) ∼ (x′n)und (yn) ∼ (y′n) und es gelte

∀ε > 0∃N ∈ N : n ≥ N ⇒ xn ≤ yn + ε.

Zu zeigen ist∀ε > 0∃N ∈ N : n ≥ N ⇒ x′n ≤ y′n + ε.

Sei dazu ε > 0. Dann existiert M mit xn ≤ yn + 13ε fur n ≥ M . Weiter existieren

Nx, Ny ∈ N mit |xn − x′n| < 13ε fur n ≥ Nx und |yn − y′n| < 1

3ε fur n ≥ Ny. Fur

n ≥ max{M,Nx, Ny} folgt dann

x′n < xn +ε

3< yn + 2

ε

3< y′n + 3

ε

3= y′n + ε.

Es ist leicht zu sehen, dass ≤ tatsachlich Ordnung ist. Ebenso kann man nach-rechnen, dass die Ordnungsaxiome (O1) und (O2) erfullt sind. Damit erhalt man,dass (C/∼,+, ·) ein angeordneter Korper ist.

Man kann r ∈ Q mit der Aquivalenzklasse [(r, r, r, . . . )] identifizieren. In die-sem Sinne ist Q Teilkorper von C/∼. Formal betrachtet man wieder die injek-tive Abbildung i : Q → C/∼, r 7→ [(r, r, r, . . . )]. Es gilt fur r, s ∈ Q dann, dassi(r + s) = i(r) + i(s), i(r · s) = i(r) · i(s) und r ≤ s⇔ i(r) ≤ i(s).

Schließlich zeigt man dann, dass (C/∼,+, ·) vollstandig ist. Dies kann manbeispielsweise tun, indem man Folgendes zeigt:

• Jede Cauchyfolge in (C/∼,+, ·) ist konvergent.

• In (C/∼,+, ·) gilt das Archimedische Axiom.

• Ein angeordneter Korper, in dem das Archimedische Axiom gilt und in demjede Cauchyfolge konvergiert, ist vollstandig.

Wir verzichten hier auf die Einzelheiten.

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2.4 Limes superior und Limes inferior sowie uneigentliche Grenzwerte 47

2.4 Limes superior und Limes inferior sowie uneigentlicheGrenzwerte

Sei (an) eine beschrankte reelle Zahlenfolge. Fur n ∈ N sei An := {ak : k ≥ n}.Dann ist An beschrankt und damit existiert supAn. Ist m ≤ n, so gilt An ⊂Am und damit supAn ≤ supAm. Die Folge (supAn) ist also monoton fallend.Außerdem ist sie beschrankt. Deshalb ist sie nach Satz 2.3.1 konvergent und es giltlimn→∞ supAn = infn∈N supAn = infn∈N supk≥n ak.

Definition 2.4.1. Sei (ak) reelle Zahlenfolge. Dann heißen

lim supn→∞

an := infn∈N

supk≥n

ak

Limes superior undlim infn→∞

an := supn∈N

infk≥n

ak

Limes inferior von (an), falls die Suprema und Infima rechts existieren.

Statt lim sup schreibt man auch lim und statt lim inf schreibt man auch lim. Ausden obigen Uberlegungen folgt, dass Limes superior und inferior immer existieren,wenn (an) beschrankt ist. Umgekehrt sieht man sofort, dass aus der Existenz desLimes superior die Beschranktheit von (an) nach oben und aus der des Limesinferior die Beschranktheit nach unten folgt.

Wegen lim supn→∞ an = limn→∞ supAn, lim infn→∞ an = limn→∞ inf An undinf An ≤ supAn fur alle n ∈ N folgt mit Satz 2.2.4, dass

lim infn→∞

an ≤ lim supn→∞

an

gilt.

Satz 2.4.1. Eine reelle Zahlenfolge ist genau dann konvergent, wenn der Limessuperior und inferior beide existieren und den gleichen Wert haben.

Beweis. Sei (an) reelle Zahlenfolge.Sei zunachst (an) konvergent, etwa a := limn→∞ an. Sei ε > 0. Dann existiert

N ∈ N mit |an − a| < 12ε fur n ≥ N . Es folgt a− 1

2ε < an < a+ 1

2ε fur n ≥ N und

damita− ε

2≤ inf

k≥Nak ≤ sup

k≥Nak ≤ a+

ε

2.

Damit gilt

a− ε < a− ε

2≤ sup

n∈Ninfk≥n

ak = lim infn→∞

an ≤ lim supn→∞

an = infn∈N

supk≥n

ak ≤ a+ε

2< a+ ε.

Dies liefert lim infn→∞ an = lim supn→∞ an = a.Sei nun umgekehrt lim infn→∞ an = lim supn→∞ an = a und ε > 0. Dann exi-

stiert N ∈ N mit a − ε < infk≥n ak ≤ supk≥n ak < a + ε fur n ≥ N . Es folgta− ε < an < a+ ε und damit |an − a| < ε fur n ≥ N .

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48 2 FOLGEN UND REIHEN

Satz 2.4.2. Sei (an) eine beschrankte reelle Zahlenfolge und sei H die Menge derHaufungswerte von (an). Dann ist H 6= ∅ und es gilt lim supn→∞ an = maxH undlim infn→∞ an = minH.

Beweis. Es genugt, lim supn→∞ an = maxH zu zeigen.Sei wieder An := {ak : k ≥ n} und damit a := lim supn→∞ an = limn→∞ supAn.

Wir zeigen zunachst, dass a ∈ H. Aufgrund der Bemerkung nach Definition 2.3.1haben wir Folgendes zu zeigen:

∀ε > 0∀N ∈ N∃k ∈ N : k ≥ N ∧ |ak − a| < ε.

Sei also ε > 0 und N ∈ N. Zunachst existiert N ′ ∈ N mit | supAn − a| < 12ε

fur n ≥ N ′. Sei nun n ≥ max{N,N ′}. Nach Satz 1.6.4 existiert x ∈ An mitx > supAn − 1

2ε, das heißt, es existiert k ≥ n ≥ N mit ak > supAn − 1

2ε. Wegen

ak ≤ supAn ist also | supAn − ak| < 12ε. Es folgt

|ak − a| ≤ |ak − supAn|+ | supAn − a| <ε

2+ε

2= ε.

Also gilt a ∈ H.Wir zeigen nun, dass a = maxH. Sei dazu b ∈ H. Wir haben zu zeigen, dass

b ≤ a gilt. Wir nehmen an, dass b > a gilt. Dann ist ε := b−a > 0. Wieder existiertN ′ ∈ N mit | supAn − a| < 1

2ε fur n ≥ N ′. Außerdem existiert k ∈ N mit k ≥ N ′

und |ak − b| < 12ε. Es folgt

ε = b− a = b− ak + ak − a ≤ |b− ak|+ | supAk − a| <ε

2+ε

2= ε,

was ein Widerspruch ist.

Wir erweitern nun R durch Hinzufugen zweier Elemente ∞ (gelegentlich auchmit +∞ bezeichnet) und −∞ zu einer Menge R, also R = R ∪ {∞,−∞}. DieOrdnung ≤ auf R erweitern wir zu einer Ordnung auf R, indem wir −∞ < xund x < ∞ fur x ∈ R und außerdem −∞ < ∞ setzen. Man rechnet leicht nach,dass (R,≤) geordnete Menge ist. Es ist dabei jede Teilmenge von R beschrankt,denn ∞ ist immer obere und −∞ ist immer untere Schranke. Außerdem ist diegeordnete Menge (R,≤) ordnungsvollstandig. Um dies einzusehen, bezeichnen wir(vorubergehend) das Supremum in (R,≤) mit supR und das in (R,≤) mit supR.Sei nun A ⊂ R. Es zeigt sich dann, dass supRA =∞ falls ∞ ∈ A oder falls A ∩ Rnicht nach oben beschrankt ist, und dass supRA = supR(A ∩ R) falls ∞ /∈ A undA ∩ R nicht leer und nach oben beschrankt ist. Im verbleibenden Fall ist ∞ /∈ Aund A∩R = ∅, also A = {−∞} oder A = ∅, und es folgt supA = −∞. Analog lasstsich auch das Infimum von Teilmengen von R kennzeichnen. Wir halten also fest,dass jede Teilmenge von R ein Supremum und ein Infimum (bzgl. der geordnetenMenge (R,≤)) besitzt.

Nach Definition 2.4.1 und Satz 2.4.1 sind Limes superior, Limes inferior undGrenzwert einer reellen Zahlenfolge Suprema und Infima gewisser Teilmengen vonR. Wir nehmen nun diese Suprema und Infima bzgl. der geordneten Menge (R,≤).

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2.5 Reihen 49

Es folgt, dass Limes superior und Limes inferior dann fur jede reelle Zahlenfolge(und sogar fur jede Folge nach R) existieren, moglicherweise aber den Wert ∞oder −∞ haben. Gilt fur eine reelle Zahlenfolge (an), dass lim infn→∞ an =∞ (unddamit auch lim supn→∞ an =∞), so schreiben wir auch limn→∞ an =∞ und nennen(an) bestimmt divergent gegen∞. Analog definiert man bestimmte Divergenz gegen−∞. Man bezeichnet ∞ und −∞ auch als uneigentliche Grenzwerte.

Beispiel 1. Sei an = n. Dann ist limn→∞ an = ∞, denn mit An := {ak : k ≥ n}ist infRAn = infRAn = n und folglich lim infn→∞ an = supR{infRAn : n ∈ N} =supRN =∞.

Beispiel 2. Sei an = (−1)n. Dann ist An := {−1, 1} fur alle n ∈ N. Hieraus folgt,dass lim supn→∞ an = 1 und lim infn→∞ an = −1.

2.5 Reihen

Definition 2.5.1. Sei N ∈ Z und (an)n≥N Zahlenfolge. Die durch

sn :=n∑

k=N

ak

definierte Folge (sn)n≥N heißt die zu (an) gehorige (unendliche) Reihe. Sie wirdmit

∑∞n=N an oder auch

∑an bezeichnet. Die Folge (sn) heißt auch Folge der

Partialsummen (oder Teilsummen) der Reihe∑an.

Die Reihe heißt konvergent, wenn die Folge (sn) konvergiert. In diesem Fall heißtder Grenzwert von (sn) die Summe der Reihe

∑an und man setzt

∞∑n=N

an := limn→∞

sn.

Eine Reihe, die nicht konvergiert, heißt divergent (und bei Existenz des unei-gentlichen Grenzwertes ∞ oder −∞ auch bestimmt divergent).

Wir bezeichnen mit∑∞

n=N an bzw.∑an also sowohl die Reihe selbst, wie auch

– im Konvergenzfall – ihre Summe. Das sollte im Allgemeinen aber nicht zu Ver-wechslungen fuhren.

Beispiel. Sei q ∈ C. Wir betrachten die Reihe∑∞

n=0 qn. Es ist also an = qn. Diese

Reihe heißt geometrische Reihe.

Fall 1. q = 1. Dann gilt an = 1 und sn =∑n

k=0 1 = n+ 1. Die Reihe ist (bestimmt)divergent.

Fall 2. q 6= 1. Es gilt

sn =n∑k=0

qk =1− qn+1

1− q,

denn

(1− q)n∑k=0

qk =n∑k=0

(1− q)qk

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50 2 FOLGEN UND REIHEN

=n∑k=0

(qk − qk+1

)= 1− q + q − q2 + q2 − q3 + · · ·+ qn − qn+1

= 1− qn+1.

Wegen qn+1 → 0 fur |q| < 1 folgt, dass

∞∑k=0

qk =1

1− qfur |q| < 1,

d.h., die Reihe konvergiert fur |q| < 1 und ihre Summe ist 1/(1− q).Fur |q| ≥ 1 divergiert die Reihe.

Im obigen Beispiel gilt fur |q| < 1 also einerseits

∞∑k=0

qk = (sn)n≥0 =

(1− qn+1

1− q

)n≥0

und andererseits∞∑k=0

qk =1

1− q.

Aber es gilt naturlich (1− qn+1

1− q

)n≥06= 1

1− q,

denn in der ersten Formel war mit∑∞

k=0 qk die unendliche Reihe selbst gemeint

(also die Folge der Partialsummen), wahrend in der zweiten Formel die Summe derReihe gemeint war. Anders gesagt: In der letzten Formel steht links eine Folge undrechts eine Zahl, und die konnen nicht gleich sein.

Da Reihen nach Definition also nichts anderes als Folgen sind, haben Satzeuber Folgen Analoga fur Reihen. Aus Satz 2.2.1, (i), erhalt man z.B., dass aus derKonvergenz von

∑an und

∑bn die von

∑(an+bn) folgt, und dass fur die Summen∑

(an + bn) =∑an +

∑bn gilt. Analog ubertragt sich Satz 2.2.1, (iii).

Satz 2.5.1. Sei∑an eine Reihe nichtnegativer reeller Zahlen, d.h., es gelte an ≥ 0

fur alle n. Dann konvergiert∑an genau dann, wenn die Folge der Partialsummen

beschrankt ist.

Beweis. Eine Richtung folgt direkt aus Satz 2.1.2 (”Konvergente Folgen sind be-

schrankt“), und die andere folgt aus Satz 2.3.1, da die Folge der Partialsummenwegen an ≥ 0 monoton steigend ist.

Bemerkung. Sind die Partialsummen einer Reihe∑an mit nichtnegativen reellen

Zahlen an nicht beschrankt, so ist die Reihe bestimmt divergent gegen∞. In diesemFall schreibt man auch

∑an =∞. Umgekehrt schreibt man im Konvergenzfall auch∑

an < ∞. Diese Schreibweisen fur Divergenz und Konvergenz werden aber nurbei Reihen mit nichtnegativen reellen Zahlen verwendet.

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2.5 Reihen 51

Satz 2.5.2. (Cauchyscher Verdichtungssatz) Sei (ak)k∈N eine monoton fal-lende Folge nichtnegativer reeller Zahlen. Dann konvergiert

∑∞k=1 ak genau dann,

wenn∞∑k=0

2ka2k

konvergiert.

Beweis. Mit sn =∑n

k=1 ak ist

s2n+1−1 = a1 + a2 + a3 + a4 + a5 + a6 + a7 + a8 + a9 + · · ·+ a2n+1−1

≤ a1 + a2 + a2 + a4 + a4 + a4 + a4 + a8 + a8 + · · ·+ a2n

=n∑k=0

2ka2k

≤ a1 + a2 + a2 + a3 + a3 + a4 + a4 + a5 + a5 + · · ·+ a2n

= 2s2n − a1≤ 2s2n .

Die Behauptung folgt mit Satz 2.5.1.

Beispiel. Sei α ∈ Q, α > 0 und an = n−α = 1/nα. (Wir beschranken uns hierauf rationale α, da wir die Potenz fur irrationale Exponenten noch nicht definierthaben. Aus der spater folgenden Definition wird aber sofort ersichtlich sein, dassdie folgenden Ergebnisse auch fur irrationale α gelten.) Die Voraussetzungen vonSatz 2.5.2 sind erfullt und damit ist

∞∑n=1

1

genau dann konvergent, wenn

∞∑k=0

2k1

(2k)α=∞∑k=0

2k(1−α) =∞∑k=0

(21−α)k

konvergiert. Dies ist aber die geometrische Reihe, und diese konvergiert genau dann,wenn 21−α < 1, also wenn α > 1 gilt.

Insgesamt konvergiert also∞∑n=1

1

fur α > 1, und die Reihe divergiert fur 0 < α ≤ 1. Insbesondere divergiert diesogenannte harmonische Reihe

∞∑n=1

1

n.

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52 2 FOLGEN UND REIHEN

Satz 2.5.3. (Leibnizkriterium) Sei (ak)k∈N eine monoton fallende Folge positi-ver reeller Zahlen mit limk→∞ ak = 0. Dann konvergiert

∞∑k=1

(−1)k+1ak.

Fur die Folge (sn) der Partialsummen gilt dabei

s2n ≤∞∑k=1

(−1)k+1ak ≤ s2n−1

fur n ∈ N.

Beweis. Es ist

s2n+1 − s2n−1 = (−1)2n+2a2n+1 + (−1)2n+1a2n = a2n+1 − a2n ≤ 0

fur n ∈ N, also ist (s2n−1) monoton fallend. Analog ist (s2n) monoton steigend.Außerdem gilt

s2n − s2n−1 = (−1)2n+1a2n = −a2n < 0

und damit s2 ≤ s2n < s2n−1 ≤ s1.Nach Satz 2.3.1 konvergieren damit die Folgen (s2n−1) und (s2n), und wegen

s2n − s2n−1 = −a2n → 0 haben sie den gleichen Grenzwert. Daraus folgt die Be-hauptung.

Beispiel. Die Reihe∞∑n=1

(−1)n+1

n= 1− 1

2+

1

3− . . .

ist konvergent. Fur die Summe s gilt

s2 =1

2≤ s ≤ 1 = s1.

Tatsachlich ist s = 0,6931471806 . . . .

Satz 2.5.4. (Cauchykriterium fur Reihen) Eine Reihe∑∞

k=K ak konvergiertgenau dann, wenn fur alle ε ∈ R+ ein N ∈ N mit N ≥ K existiert, so dass fur allem,n ∈ N mit n > m ≥ N die Ungleichung

∣∣∑nk=m+1 ak

∣∣ < ε gilt, d.h., falls

∀ε ∈ R+∃N ≥ K∀m,n ∈ N : n > m ≥ N ⇒

∣∣∣∣∣n∑

k=m+1

ak

∣∣∣∣∣ < ε.

Beweis. Wegen sn − sm =∑n

k=m+1 ak folgt die Behauptung aus Satz 2.3.5.

Satz 2.5.5. Konvergiert∑∞

k=K ak, so gilt limk→∞ ak = 0.

Beweis. Man wahle n = m+ 1 im Cauchykriterium.

Die harmonische Reihe zeigt, dass in Satz 2.5.5 nicht die Umkehrung gilt.

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2.6 Absolute und bedingte Konvergenz 53

2.6 Absolute und bedingte Konvergenz

Definition 2.6.1. Eine Reihe∑an heißt absolut konvergent, wenn

∑|an| konver-

giert.

Satz 2.6.1. Absolut konvergente Reihen sind konvergent.

Der Beweis folgt wegen ∣∣∣∣∣n∑

k=m+1

ak

∣∣∣∣∣ ≤n∑

k=m+1

|ak|

unmittelbar aus dem Cauchykriterium.

Die Umkehrung des Satzes gilt nicht. So ist

∞∑n=1

(−1)n+1

n

konvergent, aber nicht absolut konvergent.

Wir betrachten dieses Beispiel genauer:

s = 1 −12

+13−1

4+1

5−1

6+1

7−1

8+ . . .

12s = 1

2−1

4+1

6−1

8+ . . .

32s = 1 +1

3−1

2+1

5+1

7−1

4+ . . .

Durch Addition der Reihen fur s und 12s erhalten wir eine Reihe fur 3

2s. Es zeigt

sich, dass in der Reihe fur 32s dieselben Folgenglieder auftreten wie in der Reihe

fur s, aber in anderer Reihenfolge.

Dies ist kein Gegenbeispiel zum Kommutativgesetz der Addition, sondern be-sagt lediglich, dass ein (vielleicht naheliegend erscheinendes) Analogon des Kom-mutativgesetzes fur unendliche Reihen nicht gilt.

Definition 2.6.2. Sei ν : N→ N bijektiv und sei∑∞

k=1 ak eine Reihe. Dann heißtdie Reihe

∑∞k=1 aν(k) eine Umordnung der Reihe

∑∞k=1 ak.

Eine Reihe heißt unbedingt konvergent, wenn jede ihrer Umordnungen konver-giert, und zwar zur selben Summe.

Eine konvergente, aber nicht unbedingt konvergente Reihe heißt bedingt kon-vergent.

Satz 2.6.2. Absolut konvergente Reihen sind unbedingt konvergent.

Bemerkung. Es gilt auch die Umkehrung.

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54 2 FOLGEN UND REIHEN

Beweis von Satz 2.6.2. Sei∑∞

k=1 ak absolut konvergente Reihe und sei∑∞

k=1 aν(k)eine Umordnung der Reihe. Sei sn =

∑nk=1 ak und sei tn =

∑nk=1 aν(k). Dann ist

(sn) konvergent, und wir mussen zeigen, dass (tn) ebenfalls konvergent ist unddenselben Grenzwert hat. Dazu reicht es zu zeigen, dass tn − sn → 0.

Wegen der absoluten Konvergenz und aufgrund des Cauchykriteriums existiertN ∈ N mit

∑nm+1 |ak| < ε fur n > m ≥ N . Weiter existiert M ∈ N mit M > N

und ν({1, 2, . . . ,M}) ⊃ {1, 2, . . . , N}. Fur n ≥M folgt dann

|tn − sn| =

∣∣∣∣∣n∑k=1

aν(k) −n∑k=1

ak

∣∣∣∣∣=

∣∣∣∣∣∣∑

k∈ν({1,2,...,n})

ak −n∑k=1

ak

∣∣∣∣∣∣=

∣∣∣∣∣∣∑

k∈ν({1,2,...,n})\{1,2,...,N}

ak −n∑

k=N+1

ak

∣∣∣∣∣∣≤

max ν({1,2,...,n})∑k=N+1

|ak|

< ε.

Satz 2.6.3. Seien∑∞

k=0 ak und∑∞

k=0 bk absolut konvergente Reihen mit Summena und b. Dann ist die aus allen Produkten ajbk, wobei j, k ∈ N0, gebildete Reiheabsolut konvergent und ihre Summe ist ab.

Eine etwas formalere Fassung der Behauptung des Satzes ist die Folgende: Istφ : N0 → N0 × N0 bijektiv und ist pn := ajbk falls φ(n) = (j, k), so ist

∑∞n=0 pn

konvergent mit∑∞

n=0 pn = ab.

Beweis von Satz 2.6.3. Seien φ und pn wie oben, mit φ(n) = (φ1(n), φ2(n)) furn ∈ N. Fur i ∈ {1, 2} und n ∈ N sei Mi,n := maxφi({1, 2, . . . , n}). Dann ist

n∑`=0

|p`| =n∑`=0

|aφ1(`)||bφ2(`)|

≤M1,n∑j=0

M2,n∑k=0

|aj||bk|

=

(M1,n∑j=0

|aj|

)(M2,n∑k=0

|bk|

)

(∞∑j=0

|aj|

)(∞∑k=0

|bk|

).

Also konvergiert∑∞

n=0 |pn| nach Satz 2.5.1.

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2.6 Absolute und bedingte Konvergenz 55

Es reicht nun,∑∞

n=0 pn = ab fur eine Summationsreihenfolge (d.h., fur eineFunktion φ) zu zeigen. Dazu betrachten wir die in Abbildung 7 angedeutete Sum-mationsreihenfolge.

a0b0 → a0b1 a0b2 → a0b3 a0b4↓ ↑ ↓ ↑

a1b0 ← a1b1 a1b2 a1b3 a1b4↓ ↑ ↓ ↑a2b0 → a2b1 → a2b2 a2b3 a2b4

↓ ↑a3b0 ← a3b1 ← a3b2 ← a3b3 a3b4↓ ↑a4b0 → a4b1 → a4b2 → a4b3 → a4b4

Abbildung 7: Summationsreihenfolge einer Doppelreihe.

Es gilt dann(n+1)2−1∑k=0

pk =

(n∑j=0

aj

)(n∑k=0

bk

)→ ab

und damit∑n

k=0 pk → ab.

Eine andere wichtige Summationsreihenfolge wird durch die folgende Definitiongegeben.

Definition 2.6.3. Seien∑∞

k=0 ak und∑∞

k=0 bk Reihen. Fur n ∈ N0 sei cn :=∑nk=0 akbn−k. Dann heißt

∑∞n=0 cn Cauchyprodukt der Reihen

∑∞k=0 ak und

∑∞k=0 bk.

Die Summationsreihenfolge ist dabei in Abbildung 8 angedeutet. (Dabei ist dieReihenfolge in der endlichen Summe

∑nk=0 akbn−k naturlich beliebig. Entsprechen-

des gilt fur die Summen∑n

k=0 akbn bzw.∑n

k=0 anbk in Abbildung 7.)

a0b0 → a0b1 a0b2 → a0b3 a0b4

↙ ↗ ↙ ↗a1b0 a1b1 a1b2 a1b3

↓ ↗ ↙ ↗a2b0 a2b1 a2b2

↙ ↗a3b0 a3b1

↓ ↗a4b0

Abbildung 8: Summationsreihenfolge beim Cauchyprodukt.

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56 2 FOLGEN UND REIHEN

Nach Satz 2.6.3 ist das Cauchyprodukt zweier absolut konvergenter Reihenebenfalls absolut konvergent. Daruberhinaus kann man zeigen, daß das Cauchy-produkt auch dann konvergiert, und zwar zur

”richtigen“ Summe, wenn nur eine

der beiden beteiligten Reihen absolut konvergiert und die andere nur im gewohn-lichen Sinne konvergiert.

2.7 Kriterien fur absolute Konvergenz

Satz 2.7.1. (Vergleichskriterium) Seien∑∞

n=N an und∑∞

n=N bn Reihen.

(i) Existiert M ≥ N mit |an| ≤ bn fur n ≥ M und ist∑∞

n=N bn konvergent, soist∑∞

n=N an absolut konvergent.

(ii) Existiert M ≥ N mit 0 ≤ bn ≤ an fur n ≥ M und ist∑∞

n=N bn divergent, soist∑∞

n=N an divergent.

In (i) kann an komplex sein, in (ii) muss an reell sein. Sowohl in (i) wie in (ii)ist bn reell. Man nennt (i) Majorantenkriterium und (ii) Minorantenkriterium.

Beweis. (i). Mit sn =∑n

k=M |an| und tn =∑n

k=M bn ist sn ≤ tn fur n ≥ M . Kon-vergiert

∑∞n=N bn, so ist auch (tn)k≥M konvergent und folglich beschrankt. Damit

ist (sn)k≥M beschrankt, also konvergent, und damit auch∑∞

n=N |an| konvergent.

Der Beweis von (ii) ist analog.

Beispiel. Sei

an :=

√n

n2 + 1

(3 + 4i

5

)nfur n ∈ N. Dann gilt

|an| =√n

n2 + 1

(|3 + 4i|

5

)n=

√n

n2 + 1

(√32 + 42

5

)n

=

√n

n2 + 1≤√n

n2=

1

n3/2.

Da∞∑n=1

1

n3/2

konvergiert, ist auch∑∞

n=1 an absolut konvergent.

Satz 2.7.2. (Wurzelkriterium) Sei∑∞

n=N an Reihe.

(i) Existieren q ∈ [0, 1) und M ∈ N mit M ≥ N so, dass n√|an| ≤ q fur n ≥M ,

so ist∑∞

n=N an absolut konvergent.

(ii) Ist n√|an| ≥ 1 fur unendlich viele n, so ist

∑∞n=N an divergent.

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2.7 Kriterien fur absolute Konvergenz 57

Bemerkung. Die Voraussetzung in (i) ist aquivalent zu lim supn→∞n√|an| < 1, und

die Voraussetzung in (ii) ist erfullt, falls lim supn→∞n√|an| > 1.

Das Wurzelkriterium ist also insbesondere immer dann anwendbar, wenn

lim supn→∞

n√|an| 6= 1.

Die Reihe∑an konvergiert absolut bzw. divergiert, je nachdem ob dieser Limes

superior kleiner bzw. großer als 1 ist.

Beweis von Satz 2.7.2. (i) Aus n√|an| ≤ q folgt |an| ≤ qn, und damit folgt die

Behauptung aus dem Vergleichskriterium, da die geometrische Reihe∑qn fur 0 ≤

q < 1 konvergiert.(ii) Aus n

√|an| ≥ 1 folgt |an| ≥ 1. Gilt dies fur unendlich viele n, so ist (an)

keine Nullfolge, und damit die Reihe∑an divergent nach Satz 2.5.5.

Beispiel. Sei

an :=

(in

n+ 1

)n(n+1)

fur n ∈ N. Dann gilt

n√|an| =

(∣∣∣∣ in

n+ 1

∣∣∣∣n(n+1))1/n

=

(n

n+ 1

)n+1

=1(

1 + 1n

)n+1 →1

e.

Wegen 1/e < 1 folgt, dass∑∞

n=N an absolut konvergent ist.

Satz 2.7.3. (Quotientenkriterium) Sei∑∞

n=N an Reihe.

(i) Existieren q ∈ [0, 1) und M ∈ N mit M ≥ N so, dass an 6= 0 und∣∣∣∣an+1

an

∣∣∣∣ ≤ q

fur n ≥M , so ist∑∞

n=N an absolut konvergent.

(ii) Existiert M ∈ N mit M ≥ N so, dass an 6= 0 und∣∣∣∣an+1

an

∣∣∣∣ ≥ 1

fur n ≥M , so ist∑∞

n=N an divergent.

Bemerkung. Es gelte an 6= 0 fur n ≥M . Analog zur Bemerkung nach dem Wurzel-kriterium ist die Voraussetzung in (i) dann aquivalent zu

lim supn→∞

∣∣∣∣an+1

an

∣∣∣∣ < 1,

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58 2 FOLGEN UND REIHEN

und die Voraussetzung in (ii) ist erfullt, falls

lim infn→∞

∣∣∣∣an+1

an

∣∣∣∣ > 1.

Das Quotientenkriterium ist also insbesondere immer dann anwendbar, wennder Grenzwert

limn→∞

∣∣∣∣an+1

an

∣∣∣∣existiert und von 1 verschieden ist. Die Reihe

∑an konvergiert absolut bzw. diver-

giert, je nachdem ob dieser Grenzwert kleiner bzw. großer als 1 ist.

Beweis von Satz 2.7.3. Es ist

|an| ≤ q|an−1| ≤ q2|an−2| ≤ · · · ≤ qn−M |aM | = qnq−M |aM |

fur n ≥M . Die Behauptung folgt aus dem Vergleichskriterium.

(ii) Analog zu (i) folgt |an| ≥ |aM | fur n ≥ M . Damit ist (an) keine Nullfolge,also

∑an divergent.

Beispiel. Sei

an :=7n(3nn

) =7n(2n)!n!

(3n)!

fur n ∈ N. Dann gilt∣∣∣∣an+1

an

∣∣∣∣ =7n+1(2n+ 2)!(n+ 1)!

(3n+ 3)!

(3n)!

7n(2n)!n!

=7 · 7n(2n+ 2)(2n+ 1)(2n)!(n+ 1)n!

(3n+ 3)(3n+ 2)(3n+ 1)(3n)!

(3n)!

7n(2n)!n!

=7(2n+ 2)(2n+ 1)(n+ 1)

(3n+ 3)(3n+ 2)(3n+ 1)

=7(2n+ 2)(2n+ 1)(n+ 1)

(3n+ 3)(3n+ 2)(3n+ 1)

=7(2 + 2

n

) (2 + 1

n

) (1 + 1

n

)(3 + 3

n

) (3 + 2

n

) (3 + 1

n

)→ 7 · 2 · 2 · 1

3 · 3 · 3=

28

27.

Wegen 2827> 1 divergiert die Reihe

∑an.

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2.8 Potenzreihen 59

2.8 Potenzreihen

Definition 2.8.1. Eine Reihe der Form∞∑n=0

an(z − z0)n,

mit z, z0 ∈ C und einer Folge (an) komplexer Zahlen, heißt Potenzreihe.

Ist z0 und (an) gegeben, so stellt sich die Frage, fur welche z ∈ C die Reihekonvergiert. Dies wird weitgehend durch den folgenden Satz geklart.

Satz 2.8.1. Sei∞∑n=0

an(z − z0)n

Potenzreihe. Es sei` := lim sup

n→∞

n√|an|

und

r =

1

`falls 0 < ` <∞,

0 falls ` =∞,∞ falls ` = 0.

Dann konvergiert die Potenzreihe absolut falls |z − z0| < r und sie divergiert falls|z − z0| > r.

Beweis. Sei bn := an(z− z0)n. Dann ist n√|bn| = n

√|an||z− z0|. Hieraus ergibt sich

lim supn→∞

n√|bn| = `|z − z0|.

Die Behauptung erhalt man nun aus dem Wurzelkriterium.

Bemerkung 1. Ist 0 < r <∞, so konvergiert die Potenzreihe innerhalb eines Kreisesvom Radius r um z0, und sie divergiert außerhalb dieses Kreises. Daher nennt mandas in Satz 2.8.1 definierte r den Konvergenzradius der Potenzreihe.

Bemerkung 2. Satz 2.8.1 macht keine Aussage fur den Fall, dass |z − z0| = r. Hierist in der Tat

”alles moglich“, wie die folgenden Beispiele belegen:

(i) Wir betrachten die Potenzreihe

∞∑n=1

1

nzn,

also z0 = 0, a0 = 0 und an = 1/n fur n ∈ N in Satz 2.8.1. Es gilt

` = lim supn→∞

n√|an| = lim sup

n→∞

1n√n

= 1

und damit r = 1. Damit liegt (absolute) Konvergenz fur |z| < 1 und Divergenzfur |z| > 1 vor. Fur z = 1 liegt Divergenz vor, fur z = −1 Konvergenz.

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60 2 FOLGEN UND REIHEN

(ii) Jetzt betrachten wir die Potenzreihe

∞∑n=1

1

n2zn.

Wieder gilt r = 1, aber diesmal liegt Konvergenz fur alle z ∈ C mit |z| = 1vor.

(iii) Die geometrische Reihe∞∑n=1

zn.

ist auch eine Potenzreihe. Wieder gilt r = 1, aber jetzt liegt Divergenz furalle z ∈ C mit |z| = 1 vor.

Satz 2.8.2. Sei∞∑n=0

an(z − z0)n

Potenzreihe mit Konvergenzradius r. Existiert der (moglicherweise uneigentliche)Grenzwert limn→∞ |an/an+1|, so gilt

r = limn→∞

∣∣∣∣ anan+1

∣∣∣∣ .Der Beweis ist analog zum Beweis von Satz 2.8.1, wobei man statt des Wurzel-

kriteriums aber jetzt das Quotientenkriterium verwendet.

Beispiel. Sei

an :=1

n!

fur n ∈ N0. Dann gilt

limn→∞

∣∣∣∣ anan+1

∣∣∣∣ = limn→∞

(n+ 1)!

n!= lim

n→∞n+ 1 =∞.

Es folgt, dass die Potenzreihe∞∑n=0

1

n!zn

fur alle z ∈ C konvergiert. Ein Nebenergebnis ist, dass

limn→∞

n√n! =∞.

Definition 2.8.2. Die durch

exp(z) :=∞∑n=0

1

n!zn

definierte Funktion exp: C→ C heißt Exponentialfunktion.

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2.8 Potenzreihen 61

Gemaß obigem Beispiel konvergiert die Reihe fur alle z ∈ C. Statt exp(z)schreibt man auch exp z.

Satz 2.8.3. Fur z, w ∈ C gilt exp(z + w) = exp(z) · exp(w).

Beweis. Wir multiplizieren die Reihen fur exp z und expw mit dem Cauchyproduktund erhalten

exp(z) · exp(w) =

(∞∑n=0

1

n!zn

(∞∑n=0

1

n!wn

)=∞∑n=0

(n∑k=0

1

k!zk

1

(n− k)!wn−k

).

Zusammen mit der Definition der Binomialkoeffizienten liefert das

exp(z) · exp(w) =∞∑n=0

1

n!

(n∑k=0

(n

k

)zkwn−k

)=∞∑n=0

1

n!(z + w)n = exp(z + w).

Folgerung 2.8.1. Sei z ∈ C und n ∈ Z. Dann gilt:

(i) exp(−z) =1

exp z, insbesondere also exp z 6= 0.

(ii) exp(nz) = (exp z)n.

Man erhalt hier (i) wegen exp(−z) exp z = exp(−z+z) = exp(0) = 1, und auch(ii) folgt leicht.

Satz 2.8.4. Fur z ∈ C gilt

exp z = limn→∞

(1 +

z

n

)n.

Beweis. Es reicht zu zeigen, dass

n∑k=0

1

k!zk −

(1 +

z

n

)n→ 0

fur n→∞. Nun gilt fur n ≥ 2, dass∣∣∣∣∣n∑k=0

1

k!zk −

(1 +

z

n

)n∣∣∣∣∣ =

∣∣∣∣∣n∑k=0

1

k!zk −

n∑k=0

(n

k

)( zn

)k∣∣∣∣∣=

∣∣∣∣∣n∑k=2

1

k!

(1− n!

(n− k)!nk

)zk

∣∣∣∣∣≤

n∑k=2

1

k!

(1− n(n− 1) · · · · · (n− k + 1)

nk

)|z|k

≤n∑k=2

1

k!

(1−

(n− k + 1

n

)k)|z|k

=n∑k=2

1

k!

(1−

(1− k − 1

n

)k)|z|k.

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62 2 FOLGEN UND REIHEN

Nach der Bernoulli-Ungleichung ist, da −(k − 1)/n > −1,(1− k − 1

n

)k≥ 1− kk − 1

n

und es folgt∣∣∣∣∣n∑k=0

1

k!zk −

(1 +

z

n

)n∣∣∣∣∣ ≤n∑k=2

1

k!

(1−

(1− kk − 1

n

))|z|k

=n∑k=2

1

k!

k(k − 1)

n|z|k

=1

n

n∑k=2

1

(k − 2)!|z|k

=1

n|z|2

n−2∑j=0

1

j!|z|j

≤ 1

n|z|2 exp |z|.

Hieraus folgt die Behauptung.

Abbildung 9 zeigt den Graphen (der auf ein Intervall eingeschrankten) Exponen-tialfunktion sowie die Graphen von x 7→

∑nk=0

1k!xk (punktiert) und x 7→

(1 + x

n

)n(gestrichelt) fur n = 3. (Statt exp |R schreiben wir nur exp und nennen auch dieeingeschrankte Funktion wieder Exponentialfunktion. Eine entsprechende Konven-tion wird auch fur in spateren Abschnitten eingefuhrte Funktionen wie Sinus undCosinus gelten.)

−5 −1 1−1

1

5

10

Abbildung 9: Die Exponentialfunktion und approximierende Polynome.

Folgerung 2.8.2. exp 1 = e.

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2.8 Potenzreihen 63

Dabei ist

e = limn→∞

(1 +

1

n

)n= 2, 718 . . .

die in §2.3.1 definierte Eulersche Zahl.

Satz 2.8.5. Fur r ∈ Q gilt exp r = er.

Aufgrund dieses Satzes setzt man ez := exp z fur z ∈ C.

Beweis von Satz 2.8.5. Sei r = p/q mit p ∈ Z und q ∈ N. Es gilt(exp

1

q

)q= exp

(q

1

q

)= exp 1 = e,

also

exp1

q= e1/q.

Damit folgt

exp r = expp

q=

(exp

1

q

)p=(e1/q)p

= ep/q = er.

Satz 2.8.6. e ist irrational.

Beweis. Wir nehmen an, dass e rational ist, etwa e = p/q mit p, q ∈ N. Dann ist

(q − 1)!p = q!e = q!∞∑k=0

1

k!=∞∑k=0

q!

k!=

q∑k=0

q!

k!+

∞∑k=q+1

q!

k!,

also

S :=∞∑

k=q+1

q!

k!= (q − 1)!p−

q∑k=0

q!

k!∈ N.

Dies steht im Widerspruch zu

S =1

q + 1+

1

(q + 1)(q + 2)+

1

(q + 1)(q + 2)(q + 3)+ . . .

<1

q + 1+

(1

q + 1

)2

+

(1

q + 1

)3

+ . . .

=1

q + 1

∞∑j=0

(1

q + 1

)j=

1

q + 1· 1

1− 1q+1

=1

q

≤ 1.

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64 3 STETIGKEIT UND GRENZWERTE VON FUNKTIONEN

3 Stetigkeit und Grenzwerte von Funktionen

3.1 Stetigkeit

Definition 3.1.1. Seien M,N ⊂ C und sei f : M → N eine Funktion. Sei ξ ∈M .Dann heißt f stetig (englisch: continuous) in ξ, falls fur jede Folge (xn) in M mitxn → ξ gilt, dass f(xn) → f(ξ). Fur A ⊂ M heißt f stetig in A, falls f stetig injedem Punkt von A ist. Schließlich heißt f stetig, wenn f stetig in M ist.

Es genugt naturlich im Folgenden, den Fall N = C zu betrachten. Im FallM,N ⊂ R bedeutet Stetigkeit in ξ anschaulich, dass der Graph der Funktion inξ keinen

”Sprung“ hat. So ist etwa die Funktion f : R → R, f(x) = [x], stetig in

R\Z und unstetig in allen Punkten von Z; siehe Abbildung 10.

−3 −2 −1 1 2 3

−3

−2

−1

1

2

3

Abbildung 10: Der Graph der Funktion x 7→ [x].

Aus den Satzen aus §2.2 erhalt man unmittelbar die folgenden Regeln:

• Sind f, g : M → C stetig (in ξ ∈M), so sind auch f + g, f · g und mit c ∈ Cauch c ·f stetig (in ξ). Falls g(ξ) 6= 0, so ist auch (die in M\g−1(0) definierte)Funktion f/g stetig in ξ.

• f ist stetig (in ξ) genau dann, wenn Re f und Im f stetig (in ξ) sind.

• Die durch z 7→ |z| und z 7→ z definierten Funktionen sind stetig.

Offensichtlich ist fur M ⊂ C auch die Funktion idM stetig.

Satz 3.1.1. Seien M,N,P,Q ⊂ C mit N ⊂ P und seien g : M → N stetig (inξ ∈ M) und f : P → Q stetig (in g(ξ) ∈ g(M) ⊂ N ⊂ P ). Dann ist f ◦ g stetig(in ξ).

Beweis. Sei (xn) Folge in M mit xn → ξ. Da g stetig, folgt g(xn) → g(ξ). Nunist aber (g(xn)) Folge in P und damit folgt aus der Stetigkeit von f in g(ξ), dassf(g(xn))→ f(g(ξ)), also (f ◦ g)(xn)→ (f ◦ g)(ξ).

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3.1 Stetigkeit 65

Beispiele. 1. Die Funktion f : C→ C, z 7→ |z2 + z| ist stetig. Denn die Funktionenf1 := idC, f2 : C → C, f2(z) = z, und f3 : C → C, f3(z) = |z|, sind alle stetig unddamit auch f1 · f1, f1 · f1 + f2 und f = f3 ◦ (f1 · f1 + f2).

2. Die Funktion f : R+ → R,

f(x) =x3|x4 − 7|

(ex − 9x)2 + 11,

ist stetig, da sie durch Verknupfungen wie +, ·, ◦, . . . aus stetigen Funktionen auf-gebaut ist. (Man beachte, dass der Nenner keine Nullstellen hat.)

3. Sei f : Z → C eine Funktion. Dann ist f stetig. Denn ist ξ ∈ Z und (xn)Folge in Z mit xn → ξ, so existiert N ∈ N mit |xn − ξ| < 1

2fur n ≥ N . Es folgt

xn = ξ und damit f(xn) = f(ξ) fur n ≥ N , also f(xn)→ f(ξ).Analog sieht man, dass Zahlenfolgen (also Funktionen von N nach C) stetig

sind.4. Sei f : R+ → R,

f(x) =

0 falls x irrational,

1

qfalls x rational, mit x =

p

qund p, q ∈ N teilerfremd.

Behauptung. Die Funktion f ist stetig in irrationalen und unstetig in rationalenZahlen.

Beweis. Sei ξ ∈ Q. Dann ist durch

xn = ξ +

√2

n

eine Folge (xn) in R+\Q mit xn → ξ gegeben. Es gilt dann f(xn) = 0 fur allen ∈ N, also f(xn)→ 0, wegen f(ξ) 6= 0 also f(xn) 6→ f(ξ).

Sei nun ξ ∈ R+\Q und sei (xn) Folge in R+ mit xn → ξ. Zu zeigen ist, dassf(xn)→ 0 = f(ξ). Sei dazu ε ∈ R+. Fur q ∈ N sei

δq := minp∈N

∣∣∣∣ξ − p

q

∣∣∣∣ .Dann gilt δq > 0 fur alle q ∈ N und damit folgt

δ := minq≤1/ε

δq > 0.

Sei nun x ∈ R+ ∩ Q mit |x − ξ| < δ, etwa x = p/q mit p, q ∈ N teilerfremd. NachWahl von δ gilt dann q > 1/ε und damit |f(x)| = 1/q < ε. Außerdem gilt naturlich|f(x)| = 0 < ε fur x ∈ R+\Q. Insgesamt folgt |f(x)| < ε fur alle x ∈ R+ mit|x− ξ| < δ. Nun existiert N ∈ N mit |xn − ξ| < δ fur n ≥ N . Es folgt |f(xn)| < εfur n ≥ N , also f(xn)→ 0 = f(ξ).

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66 3 STETIGKEIT UND GRENZWERTE VON FUNKTIONEN

Das Beispiel zeigt, dass die anschauliche Interpretation von Unstetigkeitsstellenals Sprungstellen problematisch sein kann.

Satz 3.1.2. Sei M ⊂ C, f : M → C und ξ ∈ M . Dann ist f stetig in ξ genaudann, wenn zu jedem ε ∈ R+ ein δ ∈ R+ existiert, so dass fur jedes x ∈ M mit|x− ξ| < δ gilt, dass |f(x)− f(ξ)| < ε ist.

In Quantorenschreibweise lautet die hier angegebene, zur Stetigkeit in ξ aqui-valente, Bedingung wie folgt:

∀ε ∈ R+∃δ ∈ R+∀x ∈M : |x− ξ| < δ ⇒ |f(x)− f(ξ)| < ε.

Man nimmt diese Bedingung oft auch zur Definition der Stetigkeit.

Beweis von Satz 3.1.2. Sei zunachst die”ε-δ-Bedingung“ erfullt. Wir mussen zei-

gen, dass f stetig in ξ ist. Dazu sei (xn) Folge in M mit xn → ξ. Zu zeigen ist, dassf(xn)→ f(ξ). Sei dazu ε > 0. Dann existiert δ > 0, so dass fur alle x ∈M gilt:

|x− ξ| < δ ⇒ |f(x)− f(ξ)| < ε.

Wegen xn → ξ existiertN ∈ Nmit |xn−ξ| < δ fur n ≥ N . Es folgt |f(xn)−f(ξ)| < εfur n ≥ N . Also gilt f(xn)→ f(ξ).

Zum Nachweis der umgekehrten Richtung zeigen wir deren Kontraposition. Da-zu nehmen wir an, dass die

”ε-δ-Bedingung“ nicht erfullt ist. Dann existiert ε ∈ R+

mit folgender Eigenschaft:

∀δ ∈ R+∃x ∈M : |x− ξ| < δ ∧ |f(x)− f(ξ)| ≥ ε.

Insbesondere existiert zu n ∈ N ein xn ∈M mit |xn−ξ| < 1/n und |f(xn)−f(ξ)| ≥ε. Es folgt xn → ξ und f(xn) 6→ f(ξ). Damit ist f nicht stetig in ξ.

Beispiel. Die Exponentialfunktion ist stetig.

Beweis. Seien z, ξ ∈ C. Dann folgt mit der Definition sowie der Funktionalgleichungder Exponentialfunktion

| exp z − exp ξ| = | exp ξ · (exp(z − ξ)− 1)|

= | exp ξ| ·

∣∣∣∣∣∞∑k=1

1

k!(z − ξ)k

∣∣∣∣∣≤ | exp ξ| ·

∞∑k=1

1

k!|z − ξ|k .

Falls |z − ξ| ≤ 1, folgt damit

| exp z − exp ξ| ≤ | exp ξ| ·∞∑k=1

1

k!|z − ξ| = (e− 1)| exp ξ| · |z − ξ|.

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3.2 Der Zwischenwertsatz 67

Sei nun ε > 0. Mit

δ := min

{1,

ε

(e− 1)| exp ξ|

}folgt dann fur |z − ξ| < δ, dass

| exp z − exp ξ| < (e− 1)| exp ξ|δ ≤ ε.

Nach Satz 3.1.2 ist die Exponentialfunktion stetig in ξ. Da ξ ∈ C beliebig war,folgt die Stetigkeit im gesamten Definitionsbereich C.

3.2 Der Zwischenwertsatz

Satz 3.2.1. (Zwischenwertsatz) Seien a, b ∈ R mit a < b und sei f : [a, b]→ Rstetig. Sei η ∈ R ein Wert zwischen f(a) und f(b), d.h., es gilt entweder f(a) <η < f(b) oder f(b) < η < f(a). Dann existiert ξ ∈ (a, b) mit f(ξ) = η.

Beweis. Ohne Beschrankung der Allgemeinheit sei f(a) < η < f(b). Es sei

M := {t ∈ [a, b] : f(t) ≤ η}.

Dann ist M 6= ∅ wegen a ∈M . Außerdem ist M durch b nach oben beschrankt unddamit existiert ξ := supM . Nun existiert eine Folge (xn) in M mit xn → ξ. Daf stetig, folgt f(xn) → f(ξ). Wegen f(xn) ≤ η ergibt sich f(ξ) ≤ η, also ξ ∈ M .Wegen b /∈M existiert auch eine Folge (yn) in (ξ, b] ⊃ [a, b]\M mit yn → ξ, etwa

yn := ξ +b− ξn

.

Es folgt f(yn) → f(ξ), wegen f(yn) > η also f(ξ) ≥ η. Insgesamt ergibt sichf(ξ) = η.

Beispiel. Die Funktion f : R → R, x 7→ ex + x, hat eine Nullstelle in (−1, 0),d.h., es existiert ξ ∈ (−1, 0) mit f(ξ) = 0. Denn f ist stetig in R ⊃ [−1, 0] undf(−1) = e−1 − 1 < 0 und f(0) = e0 + 0 = 1 > 0.

Eine andere Formulierung von Satz 3.2.1 ist die folgende: Ist f : [a, b] → Rstetig, so gilt [f(a), f(b)] ⊂ f([a, b]) falls f(a) < f(b) und [f(b), f(a)] ⊂ f([a, b])falls f(b) < f(a).

Satz 3.2.2. Sei I Intervall und sei f : I → R stetig. Dann ist f(I) ein Intervall.

Beweis. Sei α := inf f(I) und β := sup f(I), wobei die Werte ±∞ zugelassen sind.Da die Behauptung fur konstantes f trivial ist, durfen wir annehmen, dass f nichtkonstant ist. Dann gilt α < β. Wir zeigen, dass (α, β) ⊂ f(I). Sei dazu η ∈ (α, β),also α < η < β. Dann existieren a, b ∈ I mit α ≤ f(a) < η < f(b) ≤ β. (Es mussnicht a < b gelten.) Nach Zwischenwertsatz existiert ξ ∈ I mit f(ξ) = η. Es folgtη ∈ f(I), also (α, β) ⊂ f(I).

Da aber fur η > β und η < α sicher η /∈ f(I) gilt, ergibt sich, dass f(I) einesder vier Intervalle (α, β), [α, β), (α, β] und [α, β] ist.

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68 3 STETIGKEIT UND GRENZWERTE VON FUNKTIONEN

Beispiel. Fur f : (−1, 1)→ R, f(x) = x2, gilt f((−1, 1)) = [0, 1).Die Definition der (strengen) Monotonie einer Funktion f : I → R, wobei I ein

Intervall (oder allgemeiner eine Teilmenge von R) ist, ist vollig analog zu der vonFolgen (Definition 2.1.3). So heißt etwa f streng monoton steigend, wenn f(x) <f(y) fur alle x, y ∈ I mit x < y.

Satz 3.2.3. Seien I, J Intervalle und sei f : I → J stetig und surjektiv. Ist fstreng monoton steigend (bzw. fallend), so ist f bijektiv und die Umkehrfunktionf−1 : J → I ist ebenfalls stetig und streng monoton steigend (bzw. fallend).

Beweis. Zunachst folgt aus der strengen Monotonie von f die Injektivitat und da-mit die Bijektivitat von f . Des Weiteren sieht man unmittelbar, dass f−1 ebenfallsstreng monoton ist.

Wir zeigen jetzt, dass f−1 stetig ist. Ohne Beschrankung der Allgemeinheit seif streng monoton steigend. Sei η ∈ J = f(I) und ξ := f−1(η). Wir betrachtenzunachst den Fall, dass ξ kein

”Randpunkt“ von I ist. Dann existiert r > 0 mit

[ξ − r, ξ + r] ⊂ I. Sei nun 0 < ε ≤ r. Wir setzen

δ := min{f(ξ + ε)− η, η − f(ξ − ε)}.

Fur y ∈ J mit |y − η| < δ gilt dann

f(ξ − ε) ≤ η − δ < y < η + δ ≤ f(ξ + ε)

und damit wegen der strengen Monotonie

ξ − ε < f−1(y) < ξ + ε,

also |f−1(y)− f−1(η)| < ε. Damit ist f−1 stetig in η.Den Fall, dass ξ Randpunkt von I ist, kann man ahnlich behandeln. Ist etwa

I = [ξ, b], so wahlt man δ := f(ξ + ε)− η fur 0 < ε ≤ b− ξ. Wir verzichten auf dieDetails.

Beispiel. Die auf R eingeschrankte Exponentialfunktion ist stetig. Aus der Defi-nition der Exponentialfunktion folgt sofort, dass exp x ≥ 1 + x > 0 fur x ≥ 0Da exp(−x) = 1/ expx fur alle x ∈ R nach Folgerung 2.8.1 folgt exp(R) ⊂ R+.Weiterhin folgt, dass sup exp(R) =∞ und inf exp(R) = 0. Nach Zwischenwertsatzgilt also exp(R) = R+. Außerdem ist die auf R eingeschrankte Exponentialfunktionstreng monoton steigend, denn fur x < y gilt

exp y − expx = expx · (exp(y − x)− 1) = exp x ·∞∑k=1

1

k!(y − x)k > 0.

Damit ist die Funktion exp: R→ R+ bijektiv.Nach Satz 3.2.3 hat diese Funktion eine Umkehrfunktion, und diese ist eben-

falls stetig und streng monoton steigend. Diese Umkehrfunktion heißt naturlicherLogarithmus und wird mit log oder ln bezeichnet.

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3.3 Grenzwerte von Funktionen 69

−2 −1 1 2 3 4 5

−2

−1

1

2

3

4

5

Abbildung 11: Die Graphen von exp, ln und idR.

Fur a ∈ R+ gilt also a = exp(ln a). Fur r ∈ Q, etwa r = p/q mit p ∈ Z undq ∈ N, erhalt man aus Folgerung 2.8.1, dass

(ar)q = arq = ap = (exp(ln a))p = exp(p ln a) = exp(qr ln a)) = (exp(r ln a))q

und damit

ar = exp(r ln a).

Dies nutzt man fur reelle und auch komplexe Exponenten zur Definition der Po-tenzen. Fur a ∈ R+ und z ∈ C setzt man also

az := exp(z ln a).

Fur a = e hatten wir dies bereits nach Satz 2.8.5 getan. Die fruher (in Satz 1.7.6)formulierten Potenzgesetze gelten entsprechend.

Fur a > 1 ist die durch x 7→ ax definierte Funktion von R to R+, analog zurExponentialfunktion, stetig, bijektiv und streng monoton steigend. Ihre Umkehr-funktion heißt heißt Logarithmus zur Basis a und wird mit loga bezeichnet. DerFall 0 < a < 1 ist analog. Hier sind x 7→ ax und loga streng monoton fallend. Fura, b ∈ R+ gilt also aloga b = b. Man sieht leicht, dass

loga x =lnx

ln b.

Aus obiger Definition der Potenz folgt auch, dass fur a ∈ R+ die durch x 7→ xa

definierte Funktion von R+ nach R+ stetig ist.

3.3 Grenzwerte von Funktionen

Definition 3.3.1. Sei M ⊂ C und ξ ∈ C. Dann heißt ξ Haufungspunkt von M ,falls eine Folge (xn) in M\{ξ} mit xn → ξ existiert.

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70 3 STETIGKEIT UND GRENZWERTE VON FUNKTIONEN

In obiger Definition ist sowohl ξ ∈M wie auch ξ /∈M zugelassen.Der Begriff des Haufungspunktes (einer Menge) sollte nicht mit dem Begriff des

Haufungswerts (einer Folge) verwechselt werden.

Definition 3.3.2. Sei M ⊂ C und ξ Haufungspunkt von M . Weiter sei f : M → CFunktion. Wir sagen, dass f(x) fur x→ ξ konvergiert, falls η ∈ C existiert, so dassfur jede Folge (xn) in M\{ξ} mit xn → ξ auch f(xn)→ η gilt. Dieses η heißt dannGrenzwert von f fur x→ ξ und wird mit

limx→ξ

f(x)

bezeichnet.

Ist in obiger Definition M ⊂ R oder f : M → R, so konnen wir auch uneigent-liche Grenzwerte zulassen, d.h., es kann ξ = ±∞ oder η = ±∞ sein.

Satz 3.3.1. Sei M ⊂ C und ξ ∈M Haufungspunkt von M . Weiter sei f : M → Ceine Funktion. Dann ist f stetig in ξ genau dann, wenn

limx→ξ

f(x) = f(ξ).

Hierbei bedeutet limx→ξ f(x) = f(ξ) naturlich wieder, dass der Grenzwert exi-stiert und den Wert f(ξ) hat.

Falls ξ ∈ M gilt, aber ξ kein Haufungspunkt von M ist, so ist jede Funktionf : M → C stetig in ξ, denn fur jede Folge (xn) in M mit xn → ξ existiert N ∈ Nmit xn = ξ falls n ≥ N .

Beweis von Satz 3.3.1. Ist f stetig in ξ, so folgt limx→ξ f(x) = f(ξ) unmittelbaraus der Definition des Funktionengrenzwerts und der Stetigkeit.

Zum Nachweis der umgekehrten Implikation sei limx→ξ f(x) = f(ξ) und (xn)eine Folge in M mit xn → ξ. Zu zeigen ist, dass f(xn) → f(ξ). Dies ist trivial,falls ein N ∈ N mit xn = ξ fur n ≥ N existiert. Andernfalls sei (xnk

) die Teilfolgealler xn mit xn 6= ξ. Dann ist (xnk

) Folge in M\{ξ}. Nach Voraussetzung gilt alsof (xnk

) → f(ξ). Sei nun ε > 0. Dann existiert K ∈ N mit |f (xnk)− f(ξ)| < ε fur

k ≥ K. Sei jetzt n ≥ nK . Existiert dann k ∈ N mit n = nk, so gilt k ≥ K unddamit |f (xn)− f(ξ)| < ε. Ist aber n 6= nk fur alle k ∈ N, so gilt xn = ξ, also|f (xn)− f(ξ)| = 0 < ε. Es folgt f (xn)→ f(ξ).

Satz 3.3.2. Sei M ⊂ C und ξ Haufungspunkt von M . Weiter sei f : M → C eineFunktion und η ∈ C. Dann ist die durch

F (x) =

{f(x) falls x ∈M\{ξ},η falls x = ξ,

definierte Funktion F : M ∪{ξ} → C genau dann stetig in ξ, wenn limx→ξ f(x) = ηgilt.

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3.3 Grenzwerte von Funktionen 71

Der Beweis folgt aus Satz 3.3.1, da limx→ξ F (x) = limx→ξ f(x) gilt. (Die letzteGleichung ist dabei in dem Sinne zu verstehen, dass aus der Existenz des einenGrenzwertes die des anderen folgt, und dass die Grenzwerte dann den gleichenWert haben.)

Ist ξ /∈M und limx→ξ f(x) = η, so heißt die in Satz 3.3.2 definierte Funktion Fstetige Erganzung (oder stetige Fortsetzung) von f (in ξ).

Fur Grenzwerte von Summen, Produkten, usw. von Funktionen gelten wiederdie ublichen Rechenregeln. Auch die ε-δ-Definition der Stetigkeit (angewandt aufdie Funktion F von oben) ubertragt sich entsprechend.

Satz 3.3.3. Sei M ⊂ C und ξ Haufungspunkt von M . Weiter sei f : M → C eineFunktion und η ∈ C. Dann gilt limx→ξ f(x) = η genau dann, wenn fur alle ε ∈ R+

ein δ ∈ R+ existiert, so dass fur alle x ∈ M\{ξ} mit |x − ξ| < δ die Ungleichung|f(x)− η| < ε gilt, d.h., wenn

∀ε ∈ R+∃δ ∈ R+∀x ∈M\{ξ} : |x− ξ| < δ ⇒ |f(x)− η| < ε.

Beispiel. Es gilt

limz→0

ez − 1

z= 1.

Beweis. Fur z 6= 0 gilt

ez − 1

z=

1

z

(∞∑k=0

zk

k!− 1

)=∞∑k=1

zk−1

k!=∞∑j=0

zj

(j + 1)!.

Es folgt ∣∣∣∣ez − 1

z− 1

∣∣∣∣ =

∣∣∣∣∣∞∑j=1

zj

(j + 1)!

∣∣∣∣∣ ≤∞∑j=1

|z|j

(j + 1)!.

Fur 0 < |z| < 1 gilt damit∣∣∣∣ez − 1

z− 1

∣∣∣∣ ≤ |z| ∞∑j=1

1

(j + 1)!= |z|(e− 2).

Fur ε > 0 erhalt man∣∣∣∣ez − 1

z− 1

∣∣∣∣ < ε fur |z| < min

e− 2, 1

}.

Satz 3.3.4. (Cauchykriterium fur Funktionengrenzwerte) Sei M ⊂ C undξ Haufungspunkt von M . Sei f : M → C eine Funktion.

Dann existiert der Grenzwert limx→ξ f(x) genau dann, wenn fur alle ε ∈ R+

ein δ ∈ R+ existiert, so dass fur alle x, y ∈M\{ξ} mit |x− ξ| < δ und |y − ξ| < δdie Ungleichung |f(x)− f(y)| < ε gilt, d.h., wenn

∀ε ∈ R+∃δ ∈ R+∀x, y ∈M\{ξ} : |x− ξ| < δ ∧ |y − ξ| < δ ⇒ |f(x)− f(y)| < ε.

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72 3 STETIGKEIT UND GRENZWERTE VON FUNKTIONEN

Beweis. Wir nehmen zunachst an, dass η := limx→ξ f(x) existiert. Sei ε > 0. NachSatz 3.3.3 existiert δ > 0, so dass |f(x)− η| < 1

2ε fur x ∈ M\{ξ} mit |x− ξ| < δ.

Fur x, y ∈M\{ξ} mit |x− ξ| < δ und |y − ξ| < δ folgt dann

|f(x)− f(y)| ≤ |f(x)− η|+ |η − f(y)| < ε

2+ε

2= ε.

Sei umgekehrt nun die ε-δ-Bedingungen erfullt. Weiter sei (xn) Folge in M\{ξ}mit xn → ξ. Sei nun ε > 0 und δ > 0 entsprechend der Bedingung gewahlt.Dann existiert N ∈ N mit |xn − ξ| < δ fur n ≥ N . Fur m,n ≥ N folgt dann|f(xm) − f(xn)| < ε. Damit ist (f(xn)) Cauchyfolge, also konvergent. Sei η :=limn→∞ f(xn).

Ist nun (x′n) eine Folge in M\{ξ} mit x′n → ξ, so existiert ebenfalls η′ :=limn→∞ f(x′n). Da aber auch (x1, x

′1, x2, x

′2, x3, x

′3, . . . ) eine Folge in M\{ξ} mit

Grenzwert ξ ist, folgt η′ = η und damit die Behauptung.

Definition 3.3.3. Sei M ⊂ R und sei ξ Haufungspunkt von Mr := M ∩ [ξ,∞).Weiter sei f : M → C eine Funktion. Existiert dann ηr := limx→ξ f |Mr(x), soheißt ηr rechtsseitiger Grenzwert von f(x) fur x → ξ und wird mit limx→ξ+ f(x)bezeichnet.

Analog heißt limx→ξ− f(x) := limx→ξ f |Ml(x) linksseitiger Grenzwert von f(x)

fur x→ ξ (falls er existiert), wobei Ml := M ∩ (−∞, ξ].Ist ξ Haufungspunkt von Mr, so ist ξ auch Haufungspunkt von M . Existiert

dann limx→ξ f(x), so existiert auch limx→ξ+ f(x) und die Werte sind gleich. Ana-loges gilt falls ξ Haufungspunkt von Ml ist.

Ist ξ Haufungspunkt von Mr und Ml, so existiert limx→ξ f(x) genau dann, wennlimx→ξ+ f(x) und limx→ξ− f(x) beide existieren und gleich sind. In diesem Falle giltlimx→ξ f(x) = limx→ξ+ f(x) = limx→ξ− f(x).

Definition 3.3.4. Sei M ⊂ R, ξ ∈ M und f : M → C eine Funktion. Seien Mr

und Ml wie in Definition 3.3.3. Dann heißt f rechtsseitig stetig in ξ falls f |Mr stetigin ξ ist und linksseitig stetig in ξ falls f |Ml

stetig in ξ ist.

Ist ξ Haufungspunkt von Mr bzw. Ml, so erhalt man aus Satz 3.3.1 unmittelbar,dass f genau dann rechts- bzw. linksseitig stetig in ξ ist, wenn limx→ξ+ f(x) = f(ξ)bzw. limx→ξ− f(x) = f(ξ).

Weiter sieht man leicht ein, dass f genau dann stetig in ξ ist, wenn f rechts-und linksseitig stetig in ξ ist.

Beispiel. Sei f : R→ R,

f(x) =

ex − 1

xfalls x < 0,

e√x falls x ≥ 0.

Es ist leicht zu sehen, dass f stetig in R\{0} ist.Außerdem gilt limx→0− f(x) = 1 wegen des Beispiels nach Satz 3.3.3 und

limx→0+ f(x) = f(0) = e0 = 1, da f |[0,∞) stetig ist. Es folgt, dass f stetig in 0ist.

Insgesamt ist f also stetig (in R).

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3.4 Trigonometrische und hyperbolische Funktionen 73

3.4 Trigonometrische und hyperbolische Funktionen

3.4.1 Sinus und Cosinus

Definition 3.4.1. Die durch

cos z :=1

2

(eiz + e−iz

)und sin z :=

1

2i

(eiz − e−iz

)definierten Funktionen von C nach C heißen Cosinus und Sinus.

Da exp stetig ist, sind nach §3.1 auch cos und sin stetig. Wir stellen einigeeinfache Eigenschaften zusammen (dabei sind im Folgenden immer z, w ∈ C):

cos 0 = 1, sin 0 = 0, cos(−z) = cos z, sin(−z) = − sin z.

Aus ez+w = ezew erhalt man mit kurzer Rechung die Additionstheoreme

cos(z + w) = cos z cosw − sin z sinw,

sin(z + w) = sin z cosw + cos z sinw.

Mit w = −z folgt insbesondere

cos2 z + sin2 z = 1.

(Hierbei steht cos2 z fur (cos z)2.) Weiterhin gilt

cos z + i sin z =1

2

(eiz + e−iz

)+ i

1

2i

(eiz − e−iz

)= eiz.

Die Potenzreihendarstellung des Cosinus erhalt man wie folgt. Zunachst ist

cos z =1

2

(∞∑n=0

1

n!inzn +

∞∑n=0

1

n!(−i)nzn

)=∞∑n=0

1

n!

1

2(in + (−i)n) zn

Fur n ungerade folgt 12

(in + (−i)n) = 0. Fur n gerade, etwa n = 2k mit k ∈ N0,folgt 1

2(in + (−i)n) = 1

2

((−1)k + (−1)k

)= (−1)k. Es ergibt sich

cos z =∞∑k=0

(−1)k

(2k)!z2k = 1− 1

2z2 +

1

24z4 − . . . .

Analog folgt

sin z =∞∑k=0

(−1)k

(2k + 1)!z2k+1 = z − 1

6z3 +

1

120z5 − . . . .

Insbesondere folgt, dass fur x ∈ R auch cosx ∈ R und sinx ∈ R gilt. Weiter ist furx ∈ R auch

Re(eix)

= cosx, Im(eix)

= sinx und∣∣eix∣∣ = 1.

Die Graphen des (auf R eingeschrankten) Cosinus und Sinus sind in Abbildung 12dargestellt.

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74 3 STETIGKEIT UND GRENZWERTE VON FUNKTIONEN

−2π 2ππ−π 12π 3

2π 5

2π−1

2π−3

2π−5

−1

1

Abbildung 12: Die Graphen des Sinus und Cosinus.

Satz 3.4.1. Fur x ∈ [0, 2] gilt

1− 1

2x2 ≤ cosx ≤ 1− 1

2x2 +

1

24x4

und

x− 1

6x3 ≤ sinx ≤ x.

Insbesondere gilt cos 1 > 0, cos 2 < 0 und sinx > 0 fur alle x ∈ (0, 2].

Beweis. Sei x ∈ [0, 2]. Fur k ∈ N sei

ck :=x2k

(2k)!.

Dann gilt

ck+1 =x2k+2

(2k + 2)!=

x2k

(2k)!

x2

(2k + 1)(2k + 2)≤ x2k

(2k)!

4

3 · 4=

1

3ck ≤ ck.

Die Folge (ck) ist also monoton fallend. Außerdem konvergiert sie gegen 0. DasLeibnizkriterium liefert nun einerseits, dass die Reihe

∑∞k=1(−1)kck konvergiert,

und andererseits, dass fur die Summe s der Reihe und die Partialsummen sn dieUngleichung s1 ≤ s ≤ s2 gilt. Die Konvergenzaussage ist nun nicht neu, denn wirkennen ja sogar schon die Summe s = cosx− 1 der Reihe. Wir benutzen aber jetztdie Ungleichung fur die Partialsummen und erhalten

1− 1

2x2 = 1 + s1 ≤ 1 + s = cosx ≤ 1 + s2 = 1− 1

2x2 +

1

24x4.

Die Abschatzung fur sin x erhalt man analog.Die Behauptungen cos 1 > 0, cos 2 < 0 und sin x > 0 fur alle x ∈ (0, 2] folgen

unmittelbar aus den Abschatzungen fur cos x und sin x.

Die Graphen des Cosinus und Sinus sowie der in Satz 3.4.1 auftretenden Teil-summen der Potenzreihen sind in Abbildung 13 dargestellt, wobei die Teilsummengestrichelt gezeichnet sind.

Satz 3.4.2. Der Cosinus ist im Intervall [0, 2] streng monoton fallend, d.h., dieFunktion cos |[0,2] ist streng monoton fallend.

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3.4 Trigonometrische und hyperbolische Funktionen 75

π

π2

−1

1

ππ2

Abbildung 13: Cosinus (links), Sinus (rechts) und Teilsummen der Potenzreihen.

Beweis. Sei 0 ≤ x < y ≤ 2. Mit s := (y + x)/2 und t := (y − x)/2 gilt x = s − tund y = s + t sowie 0 < s < 2 und 0 < t < 2. Wegen cos(−x) = cosx undsin(−x) = − sinx folgt aus dem Additionstheorem

cos y − cosx = cos(s+ t)− cos(s− t)= cos s cos t− sin s sin t− (cos s cos(−t)− sin s sin(−t))= −2 sin s sin t.

Nach Satz 3.4.1 gilt sin s > 0 und sin t > 0 und damit cos y < cosx.

Satz 3.4.3. Der Cosinus hat im Intervall [0, 2] genau eine Nullstelle ξ. Es gilt1 < ξ < 2.

Beweis. Da cos 1 > 0 und cos 2 < 0 folgt die Existenz einer Nullstelle ξ aus demZwischenwertsatz. Die Eindeutigkeit folgt aus der strengen Monotonie.

Wir benutzen jetzt obigen Satz zur Definition der”Kreiszahl“ π.

Definition 3.4.2. Die Zahl π ist definiert durch π := 2ξ, wobei ξ die Nullstelledes Cosinus aus Satz 3.4.3 ist.

Diese Definition erscheint zunachst merkwurdig, denkt man doch bei der Kreis-zahl π zunachst an den Flacheninhalt einer Kreisscheibe mit Radius 1 oder die halbeLange des Umfangs solch eines Kreises. Zu Prazisierung der Begriffe Flacheninhaltund Lange wird jedoch das Integral benotigt, dessen Definition erst spater kommt.Wir werden aber spater (in Analysis II) naturlich sehen, dass die obige Definitionmit der uber Flacheninhalt oder Lange ubereinstimmt.

Satz 3.4.4. Es ist cos π2

= 0, sin π2

= 1 und fur z ∈ C gilt sin(z + π

2

)= cos z,

cos(z + π

2

)= − sin z, sin(z + π) = − sin z, cos(z + 2π) = cos z, sin(z + 2π) = sin z

und ez+2πi = ez.

Beweis. Nach Definition von π gilt cos π2

= 0. Wegen cos2 π2

+ sin2 π2

= 1 undsin π

2> 0 folgt hieraus sin π

2= 1.

Fur z ∈ C ist

sin(z +

π

2

)= sin z cos

π

2+ cos z sin

π

2= cos z.

Analog beweist man cos(z + π

2

)= − sin z. Hieraus folgen die weiteren Gleichungen

leicht. Bei der letzten benutze man ez = cos zi

+ i sin zi.

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76 3 STETIGKEIT UND GRENZWERTE VON FUNKTIONEN

Da der Cosinus im Intervall[0, π

2

]streng monoton fallend ist und

cos2 x+ sin2 x = 1

sowie sinx ≥ 0 fur 0 ≤ x ≤ π2

gilt, folgt, dass der Sinus in diesem Intervall strengmonoton steigend ist. Wegen sin 0 = 0 und sin(−x) = − sinx folgt, dass der Sinussogar im Intervall

[−π

2, π2

]streng monoton steigend ist. Wegen sin

(−π

2

)= −1 und

sin(π2

)= 1 ist damit durch x 7→ sinx eine bijektive Funktion von

[−π

2, π2

]nach

[−1, 1] definiert; vgl. Satz 3.2.3. Ihre Umkehrfunktion heißt Arcus Sinus und wirdmit arcsin bezeichnet, also arcsin : [−1, 1]→

[−π

2, π2

], mit

sin(arcsin(x)) = x fur x ∈ [−1, 1]

undarcsin(sin(x)) = x fur x ∈

[−π

2,π

2

].

Man beachte, dass die letzte Gleichung nicht fur x ∈ R\[−π

2, π2

]gilt. Aus Satz 3.2.3

folgt, dass arcsin stetig ist.Ahnlich sieht man, dass der Cosinus sogar auf dem Intervall [0, π] streng mono-

ton fallend ist. Durch x 7→ cosx wird also eine bijektive Funktion von [0, π] nach[−1, 1] definiert. Ihre Umkehrfunktion heißt Arcus Cosinus und wird mit arccosbezeichnet; siehe Abbildung 14 fur die Graphen der Funktionen.

−12π

12π

π

−1 1

arccos

arcsin

Abbildung 14: Arcus Sinus und Arcus Cosinus.

3.4.2 Tangens und Cotangens

Zur Definition von zwei weiteren Funktionen Tangens und Cotangens benotigenwir noch folgenden Satz.

Satz 3.4.5. Sei z ∈ C. Es gilt cos z = 0 genau dann, wenn k ∈ Z mit z = π2

+ kπexistiert, und es gilt sin z = 0 genau dann, wenn k ∈ Z mit z = kπ existiert.

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3.4 Trigonometrische und hyperbolische Funktionen 77

Beweis. Das die angegebenen Werte tatsachlich Nullstellen sind, ist klar nachSatz 3.4.4.

Sei umgekehrt z ∈ C mit cos z = 0. Nach Definition des Cosinus folgt danneiz = −e−iz = −1/eiz, also (eiz)

2= 1, insbesondere |eiz| = 1. Mit z = x+ iy, wobei

x, y ∈ R, folgt ∣∣eiz∣∣ =∣∣eix−y∣∣ =

∣∣eixe−y∣∣ =∣∣eix∣∣ e−y = e−y,

also e−y = 1 und damit y = 0. Folglich ist z = x ∈ R.Sei nun k := max{j ∈ Z : jπ ≤ x} und t := x − kπ. Dann gilt 0 ≤ t < π und

cos t = − cos(t + π) = cos(t + 2π) = · · · = (−1)k cos(t + kπ) = (−1)k cosx = 0.Nach Definition von π folgt t ≥ π

2. Wegen cos(π − t) = − cos(−t) = − cos t = 0

folgt aber auch π − t ≥ π2, insgesamt also t = π

2und damit x = π

2+ kπ.

Die entsprechende Aussage fur den Sinus folgt wegen sin z = − cos(z + π

2

).

Definition 3.4.3. Die Funktion

tan: C\{π

2+ kπ : k ∈ Z

}→ C, tan z =

sin z

cos z,

heißt Tangens und die Funktion

cot : C\ {kπ : k ∈ Z} → C, cot z =cos z

sin z,

heißt Cotangens.

Die Funktionen tan und cot sind stetig. Fur z aus dem entsprechenden Defini-tionsbereich gilt

tan(z + π) =sin(z + π)

cos(z + π)=− sin z

− cos z= tan z

und analog cot(z+π) = cot z. Viele weitere Eigenschaften von Tangens und Cotan-gens lassen sich leicht aus denen von Cosinus und Sinus ableiten; siehe Abbildung 15fur die Graphen der Funktionen.

Insbesondere sieht man leicht, dass der Tangens streng monoton steigend imIntervall

(−π

2, π2

)ist und dieses Intervall auf R abbildet. Die Umkehrfunktion heißt

Arcus Tangens und wird mit arctan bezeichnet. Es gilt also arctan: R→(−π

2, π2

).

Schließlich ist der Cotangens streng monoton fallend im Intervall (0, π) und erbildet dieses Intervall auf R ab. Die Umkehrfunktion heißt Arcus Cotangens undwird mit arccot bezeichnet; siehe Abbildung 16.

3.4.3 Hyperbolische Funktionen

Definition 3.4.4. Die Funktionen

cosh: C→ C, cosh z :=1

2

(ez + e−z

),

sinh: C→ C, sinh z :=1

2

(ez − e−z

),

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78 3 STETIGKEIT UND GRENZWERTE VON FUNKTIONEN

π−π−1

2π 1

−3

−2

−1

2

3

1

Abbildung 15: Tangens und Cotangens.

−12π

12π

πarccot

arctan

−4 −3 −2 −1 1 2 3 4

Abbildung 16: Arcus Tangens und Arcus Cotangens.

tanh: C\{i(π

2+ kπ

): k ∈ Z

}→ C, tanh z =

sinh z

cosh z

und

coth: C\ {ikπ : k ∈ Z} → C, coth z =cosh z

sinh z

heißen Cosinus hyperbolicus, Sinus hyperbolicus, Tangens hyperbolicus und Cotan-gens hyperbolicus.

Die in Definition 3.4.1 und 3.4.3 definierten Funktionen heißen trigonometri-sche Funktionen. Die in Definition 3.4.4 definierten Funktionen heißen hyperboli-sche Funktionen. Die Graphen der hyperbolischen Funktionen sind in Abbildung 17dargestellt.

Auch die hyperbolischen Funktionen sind wieder stetig. Es gilt cosh z = cos iz,sinh z = −i sin iz, tanh z = −i tan iz und coth z = i cot iz.

Wir verzichten hier auf eine Diskussion der Umkehrfunktionen der (auf geeigne-te Intervalle eingeschrankten) hyperbolischen Funktionen. Diese werden Area sinushyperbolicus, Area cosinus hyperbolicus, usw. genannt und mit arsinh, arcosh,artanh, arcoth bezeichnet.

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3.5 Polarkoordinaten 79

−3 −2 −1 1 2 3

cosh

sinh

−6

−5

−4

−3

−2

−1

1

2

3

4

5

6

Abbildung 17: Die Graphen der hyperbolischen Funktionen.

3.5 Polarkoordinaten

Mit Hilfe der Umkehrfunktionen der trigonometrischen Funktionen kann man fol-genden Satz beweisen.

Satz 3.5.1. Sei z ∈ C\{0}. Dann existiert genau ein ϕ ∈ (−π, π] mit z = |z|eiϕ.

Beweis. Sei z/|z| = u + iv mit u, v ∈ R. Dann gilt u2 + v2 = 1 und daher |u| ≤ 1und |v| ≤ 1. Wir setzen ψ := arccosu und ϕ := ψ falls v ≥ 0 und ϕ := −ψ fallsv < 0. Nun gilt cosϕ = cosψ = u. Außerdem gilt sin2 ψ = 1− cos2 ψ = 1−u2 = v2

und daher sinψ = | sinψ| = |v|. (Man beachte, dass sinψ ≥ 0 wegen 0 ≤ ψ ≤ π.)Dies liefert sinϕ = v. Es folgt

z = |z|(u+ iv) = |z|(cosϕ+ i sinϕ) = |z|eiϕ.

Umgekehrt folgt aus eiϕ = u + iv mit u, v ∈ R sofort dass cosϕ = u, und hierausfolgt leicht, dass ϕ = arccosu falls ϕ ∈ [0, π] und ϕ = − arccosu sonst. Damit istalso ϕ eindeutig bestimmt.

Man nennt dies die Darstellung

z = |z|eiϕ = |z|(cosϕ+ i sinϕ)

aus Satz 3.5.1 die Polarkoordinatendarstellung von z und nennt ϕ das Argumentvon z.

Die Polarkoordinaten liefern eine geometrische Interpretation der Multiplikationkomplexer Zahlen: mit z1 = r1e

iϕ1 und z2 = r2eiϕ2 ist z1z2 = r1r2e

i(ϕ1+ϕ2). InAbbildung 18 etwa ist z1 = 2eiπ/3 =

√3 + i, z2 = 2

√2ei3π/4 = 2 + 2i und z1z2 =

4√

2ei9π/12.

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80 3 STETIGKEIT UND GRENZWERTE VON FUNKTIONEN

−6 −5 −4 −3 −2 −1 1 2

1

2

ϕ1

ϕ2

ϕ1 + ϕ2

z1

z2z1z2

Abbildung 18: Geometrische Interpretation der Multiplikation komplexer Zahlen.

Satz 3.5.2. Fur n ∈ N hat die Gleichung zn = 1 genau n Losungen, namlichz = ωk := exp(2πik/n), wobei k ∈ {0, 1, 2, . . . , n− 1}.

Beweis. Wegen

ωnk =

(exp

(2πi

k

n

))n= exp(2πik) = 1

leisten die ωk das Verlangte. Da ein Polynom vom Grad n nicht mehr als n Null-stellen haben kann, folgt die Behauptung.

Bemerkung. Die ωk heißen n-te Einheitswurzeln.

Wir konnen jetzt Satz 1.8.1 uber die Existenz von Quadratwurzeln wie folgtverallgemeinern.

Satz 3.5.3. Sei w ∈ C\{0} und n ∈ N. Dann hat die Gleichung zn = w ei-ne Losung. Ist ζ eine Losung, so ist {ζω0, ζω1, . . . , ζωn−1} die Losungsmenge derGleichung.

Beweis. Nach Satz 3.5.1 existiert ϕ ∈ [−π, π) mit w = |w|eiϕ. Damit erhalten wireine Losung ζ := n

√|w|eiϕ/n. Dass die Losungsmenge die angegebene Form hat,

folgt leicht aus Satz 3.5.1.

3.6 Kompakte Mengen

Definition 3.6.1. Sei K ⊂ C. Dann heißt K kompakt, falls jede Folge in K einekonvergente Teilfolge besitzt, deren Grenzwert in K liegt.

Weiter heißt K beschrankt, falls {|z| : z ∈ K} beschrankte Teilmenge von R ist.

Beispiel 1. Abgeschlossene Intervalle sind kompakt, d.h., sind a, b ∈ R mit a < b,so ist das Intervall [a, b] kompakt.

Beweis. Sei (xn) Folge in [a, b]. Nach dem Satz von Bolzano-Weierstraß hat (xn) ei-ne konvergente Teilfolge, etwa xnk

→ x. Nach Satz 2.2.4 (man vgl. den im Anschlussan Satz 2.2.4 betrachteten Spezialfall) folgt a ≤ x ≤ b, das heißt, x ∈ [a, b].

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3.6 Kompakte Mengen 81

Beispiel 2. Fur R > 0 ist {z ∈ C : |z| ≤ R} kompakt. Der Beweis ist analog zuBeispiel 1, wenn man noch Satz 2.2.3 beachtet.

Beispiel 3. A := {1/n : n ∈ N} ist nicht kompakt, da (1/n)n∈N Folge in A ist, mit1/n→ 0, aber 0 /∈ A. Es ist aber A ∪ {0} kompakt.

Beispiel 4. Endliche Teilmengen von C sind kompakt.

Satz 3.6.1. Kompakte Mengen sind beschrankt.

Beweis. Sei K ⊂ C kompakt. Wir nehmen an, dass K nicht beschrankt ist. Dannexistiert zu jedem n ∈ N ein xn ∈ K mit |xn| > n. Es ist dann jede Teilfolge von(xn) unbeschrankt und damit divergent. Also hat (xn) keine konvergente Teilfolge,ein Widerspruch.

Satz 3.6.2. Kompakte Teilmengen von R haben ein Minimum und ein Maximum.

Beweis. Sei K ⊂ R kompakt. Nach Satz 3.6.1 ist K beschrankt und damit existiertsupK ∈ R. Des Weiteren existiert eine Folge (xn) in K mit xn → supK. Da Kkompakt ist, folgt supK ∈ K, das heißt, K hat ein Maximum. Analog sieht man,dass K ein Minimum hat.

Satz 3.6.3. Sei K ⊂ C kompakt und sei f : K → C stetig. Dann ist f(K) kompakt.

Beweis. Sei (yn) Folge in f(K). Dann existiert eine Folge (xn) ∈ K mit f(xn) = ynfur alle n ∈ N. Da K kompakt, existiert eine Teilfolge (xnk

) und ξ ∈ K mit xnk→ ξ.

Da f stetig in ξ, folgt ynk= f(xnk

)→ f(ξ) ∈ f(K).

Ist K ⊂ M ⊂ C und f : M → C stetig in K, so ist auch f |K stetig; vgl.Ubung. Fur kompaktes K kann dann Satz 3.6.3 auf f |K angewandt werden, undman erhalt, dass f(K) kompakt ist. Eine analoge Bemerkung gilt fur den folgendenSatz.

Satz 3.6.4. Sei K ⊂ C kompakt und sei f : K → R stetig. Dann nimmt f auf Ksein Minimum und Maximum an, d.h., es existieren α, β ∈ K mit f(α) = min f(K)und f(β) = max f(K).

Beweis. Es ist f(K) kompakt nach Satz 3.6.3 und damit folgt die Behauptung ausSatz 3.6.2.

Mit Hilfe von Satz 3.5.3 und Satz 3.6.4 konnen wir einen Beweis des Funda-mentalsatzes der Algebra (Satz 1.8.2) geben.

Beweis des Fundamentalsatzes der Algebra. Sei n ∈ N und sei p ein Polynom vomGrad n, etwa

p(z) =n∑j=0

ajzj

mit a0, a1, . . . , an ∈ C, an 6= 0. Wir konnen ohne Beschrankung der Allgemeinheitan = 1 annehmen. Wir werden zuerst zeigen, die Funktion |p| ihr Minimum ineinem Punkt z1 annimmt, und wir zeigen dann, dass p(z1) = 0 gilt.

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82 3 STETIGKEIT UND GRENZWERTE VON FUNKTIONEN

Dazu wahlen wir

R > max

{2n−1∑j=0

|aj|, 1

}und betrachten K := {z ∈ C : |z| ≤ R}. Dann ist K kompakt. Nach Satz 3.6.4nimmt |p| sein Minimum in K in einem Punkt z1 ∈ K an. Fur |z| ≥ R gilt nun

|p(z)| ≥ |zn| −n−1∑j=0

|ajzj|

≥ Rn −n−1∑j=0

|aj|Rj

≥ Rn −Rn−1n−1∑j=0

|aj|

= Rn−1

(R−

n−1∑j=0

|aj|

)

> Rn−1n−1∑j=0

|aj|

≥ |a0|= |p(0)|≥ |p(z1)|.

Es folgt |z1| < R und

|p(z1)| = minz∈C|p(z)|.

Wir zeigen nun, dass p(z1) = 0 gilt. Dazu konnen wir ohne Beschrankung derAllgemeinheit annehmen, dass z1 = 0 gilt, da wir andernfalls das durch q(z) :=p(z + z1) definierte Polynom q statt p betrachten konnen. (Man uberzeugt sichleicht, dass q tatsachlich ein Polynom ist.) Sei ` := min{j ∈ {1, 2, . . . , n} : aj 6= 0}.Mit aj := aj/a0 erhalten wir

p(z) = a0

(1 +

n∑j=`

cjzj

).

Nach Satz 3.5.3 existiert nun ζ ∈ C \ {0} mit ζ` = −1/a`. Wir erhalten

p(ζt) = b0(1− t` + h(t)

)mit

h(t) :=n∑

j=`+1

cjζjtj.

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3.6 Kompakte Mengen 83

Sei

δ :=1

2n∑

j=`+1

∣∣∣∣ cjζj∣∣∣∣+ 1

.

Fur t ∈ (0, δ) gilt dann

|h(t)| ≤ t`+1

n∑j=`+1

∣∣∣∣ cjζj∣∣∣∣ ≤ t`δ

n∑j=`+1

∣∣∣∣ cjζj∣∣∣∣ < 1

2t`

und damit ∣∣1− t` + h(t)∣∣ ≤ Re

(1− t` + h(t)

)+ Im

(1− t` + h(t)

)= 1− t` + Re h(t) + Im h(t)

≤ 1− t` + 2|h(t)| < 1.

Wir erhalten|p(ζt)| = |a0

(1− t` + h(t)

)| < |a0| = |p(0)|.

Da |p| sein Minimum in z1 = 0 annimmt, ist dies ein Widerspruch.

Definition 3.6.2. Sei M ⊂ C und f : M → C. Dann heißt f gleichmaßig stetigfalls zu jedem ε ∈ R+ ein δ ∈ R+ existiert, so dass fur alle x, y ∈M mit |x− y| < δgilt, dass |f(x)− f(y)| < ε ist.

Fur K ⊂M heißt f gleichmaßig stetig in K (oder auf K), falls f |K gleichmaßigstetig ist.

In Quantorenschreibweise lautet die in der Definition angegebene Eigenschaftwie folgt:

∀ε ∈ R+∃δ ∈ R+∀x, y ∈M : |x− y| < δ ⇒ |f(x)− f(y)| < ε.

Zum Vergleich betrachten wir noch einmal die ε-δ-Definition der Stetigkeit imPunkte x (Satz 3.1.2):

∀ε ∈ R+∃δ ∈ R+∀y ∈M : |x− y| < δ ⇒ |f(x)− f(y)| < ε.

Im Unterschied zur gleichmaßigen Stetigkeit darf δ hier also nicht nur von ε, sondernauch noch von x abhangen. Insbesondere erkennt man, dass aus der gleichmaßigenStetigkeit die Stetigkeit folgt. (Aus der gleichmaßigen Stetigkeit von f in K folgtaber nicht die Stetigkeit von f in K, sondern nur die von f |K .)

Beispiel. Sei f : R → R, x 7→ x2. Dann ist f stetig, aber nicht gleichmaßig stetigin R. Denn ist ε = 1 und δ > 0, so gilt fur

y :=1

δund x := y +

δ

2,

dass |x− y| = 12δ < δ, aber

|f(x)− f(y)| =

∣∣∣∣∣(

1

δ+δ

2

)2

−(

1

δ

)2∣∣∣∣∣ = 1 +

δ2

4> 1 = ε.

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84 3 STETIGKEIT UND GRENZWERTE VON FUNKTIONEN

Satz 3.6.5. Sei K ⊂ C kompakt und f : K → C stetig. Dann ist f gleichmaßigstetig.

Beweis. Wir nehmen an, dass f nicht gleichmaßig stetig ist. Dann existiert ε ∈ R+

mit folgender Eigenschaft:

∀δ ∈ R+∃x, y ∈ K : |x− y| < δ ∧ |f(x)− f(y)| ≥ ε.

Insbesondere existieren zu jedem n ∈ N damit xn, yn ∈ K mit |xn − yn| < 1/nund |f(xn) − f(yn)| ≥ ε. Da K kompakt, existiert eine Teilfolge (xnk

) von (xn)und ξ ∈ K mit xnk

→ ξ. Wegen |xn − yn| < 1/n folgt auch ynk→ ξ. Wegen der

Stetigkeit von f folgt f(xnk)→ f(ξ) und f(ynk

)→ f(ξ), also f(xnk)− f(ynk

)→ 0,im Widerspruch zu |f(xnk

)− f(ynk)| ≥ ε.

3.7 Folgen und Reihen stetiger Funktionen

Wir betrachten fur n ∈ N die Funktionen fn : [0, 1] → R, x 7→ xn. Dann giltfn(x)→ f(x) fur alle x ∈ [0, 1], wobei f : [0, 1]→ R,

f(x) =

{0 falls 0 ≤ x < 1,

1 falls x = 1.

Es ist hier f unstetig, aber alle fn sind stetig.

Definition 3.7.1. Sei M ⊂ C, f : M → C und sei (fn) eine Folge von Funktionenvon M nach C. Dann heißt (fn) punktweise konvergent gegen f , falls fn(x)→ f(x)fur alle x ∈M gilt, d.h., falls

∀x ∈M∀ε ∈ R+∃N ∈ N∀n ≥ N : |fn(x)− f(x)| < ε.

Die Folge (fn) heißt gleichmaßig konvergent gegen f , falls fur alle ε ∈ R+ ein N ∈ Nexistiert, so dass fur alle x ∈ M und fur alle n ∈ N mit n ≥ N die Abschatzung|fn(x)− f(x)| < ε gilt, d.h. falls

∀ε ∈ R+∃N ∈ N∀x ∈M∀n ≥ N : |fn(x)− f(x)| < ε.

Wir schreiben auch fn → f gleichmaßig (bzw. punktweise). Fur K ⊂M heißt (fn)gleichmaßig (bzw. punktweise) konvergent in K, falls (fn|K) gleichmaßig (bzw.punktweise) konvergiert.

Der Unterschied zwischen den beiden Konvergenzbegriffen ist, dass bei punkt-weiser Konvergenz die Zahl N nicht nur von ε, sondern auch von x abhangen darf,wahrend sie bei gleichmaßiger unabhangig von x gewahlt werden kann.

Aus gleichmaßiger Konvergenz folgt also die punktweise. Die Umkehrung giltnicht.

Beispiel. Sei fn : [0, 1] → R, fn(x) = nxe−nx, und sei f : [0, 1] → R, f(x) = 0. Date−t → 0 fur t → ∞, folgt fn(x) → 0 fur x > 0, also fn → f punktweise. Wegenfn(1/n) = e−1 gilt aber nicht fn → f gleichmaßig; vgl. Abbildung 19.

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3.7 Folgen und Reihen stetiger Funktionen 85

1

0.5

f4

f8f16

Abbildung 19: Die Funktionen f2k fur k = 2, . . . , 6.

Seien fn, f, gn, g : M → C und c ∈ C. Aus den Rechenregeln fur Grenzwertefolgt unmittelbar, dass aus der punktweisen Konvergenz von (fn) gegen f und derder punktweisen Konvergenz von (gn) gegen g auch die punktweise Konvergenz von(fn + gn) gegen f + g, die von (cfn) gegen cf und die von (fn · gn) gegen f · g folgt.Die dortigen Beweise zeigen, dass aus der der gleichmaßigen Konvergenz von (fn)gegen f und (gn) gegen g auch die gleichmaßige Konvergenz von (fn + gn) gegenf + g und die von (cfn) gegen cf folgt. Das entsprechende Resultat fur (fn · gn)gilt nicht, wie das Gegenbeispiel fn, gn : R→ R, fn(x) = x, gn(x) = x+ 1/n, zeigt.Die entsprechende Aussage gilt aber, falls f und g beschrankt sind.

Den folgenden Satz beweist man genauso wie bei Zahlenfolgen (vgl. Satz 2.3.5).

Satz 3.7.1. (Cauchykriterium fur Funktionenfolgen) Sei M ⊂ C und sei(fn) eine Folge von Funktionen von M nach C. Dann konvergiert (fn) genau danngleichmaßig, wenn fur alle ε ∈ R+ ein N ∈ N existiert, so dass fur alle x ∈M undfur alle m,n ∈ N mit n ≥ N und m ≥ N die Abschatzung |fm(x)− fn(x)| < ε gilt,d.h., falls

∀ε ∈ R+∃N ∈ N∀x ∈M∀m,n ∈ N : m ≥ N ∧ n ≥ N ⇒ |fm(x)− fn(x)| < ε.

Satz 3.7.2. Sei M ⊂ C, f : M → C und sei (fn) eine Folge von Funktionen vonM nach C. Es gelte fn → f gleichmaßig. Sind dann alle fn stetig (in ξ ∈ M), soist f stetig (in ξ ∈M).

Beweis. Sei ξ ∈M und seien alle fn stetig in ξ. Zu zeigen ist, dass f stetig in ξ ist.

Sei dazu ε > 0. Da fn → f gleichmaßig, existiert N ∈ N mit |fn(x)−f(x)| < 13ε

fur alle n ≥ N . Da fN stetig in ξ, existiert δ > 0 mit |fN(x)− fN(ξ)| < 13ε fur alle

x ∈M mit |x− ξ| < δ. Es folgt fur x ∈M mit |x− ξ| < δ, dass

|f(x)− f(ξ)| = |f(x)− fN(x) + fN(x)− fN(ξ) + fN(ξ)− f(ξ)|= |f(x)− fN(x)|+ |fN(x)− fN(ξ)|+ |fN(ξ)− f(ξ)|

3+ε

3+ε

3= ε.

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86 3 STETIGKEIT UND GRENZWERTE VON FUNKTIONEN

Definition 3.7.1, Satz 3.7.2 sowie obige Bemerkungen gelten analog fur Reihen(denn diese sind ja nichts anderes als Folgen).

Sind also etwa die Funktionen fk : M → C stetig fur alle k ∈ N und ist die Reihe∑∞k=1 fk gleichmaßig konvergent, so ist auch die durch x 7→

∑∞k=1 fk(x) definierte

Funktion von M nach C stetig. Insbesondere erhalt man auch den folgenden Satz(vgl. Satz 2.5.4).

Satz 3.7.3. (Cauchykriterium fur Funktionenreihen) Sei M ⊂ C und sei(fk) eine Folge von Funktionen von M nach C. Dann konvergiert

∑∞k=1 fk genau

dann gleichmaßig, wenn

∀ε ∈ R+∃N ∈ N∀x ∈M∀m,n ∈ N : m > n ≥ N ⇒

∣∣∣∣∣m∑

k=n+1

fk(x)

∣∣∣∣∣ < ε.

Satz 3.7.4. (Weierstraßsches Majorantenkriterium) Sei M ⊂ C und sei (fk)eine Folge von Funktionen von M nach C. Sei

∑∞k=1 ck eine konvergente Reihe

nichtnegativer reeller Zahlen. Existiert dann L ∈ N mit |fk(x)| ≤ ck fur alle k ≥ Lund alle x ∈M , so konvergiert

∑∞k=1 fk gleichmaßig.

Beweis. Sei ε > 0. Da∑∞

k=1 ck konvergiert, existiert N ∈ N mit∣∣∣∣∣m∑

k=n+1

ck

∣∣∣∣∣ < ε

fur m > n ≥ N . Es folgt∣∣∣∣∣m∑

k=n+1

fk(x)

∣∣∣∣∣ ≤m∑

k=n+1

|fk(x)| ≤m∑

k=n+1

ck < ε

fur m > n ≥ max{N,L} und x ∈M . Die Behauptung folgt aus dem Cauchykrite-rium fur Funktionenreihen.

Wir bezeichnen die ε-Umgebung eines Punktes a mit U(a, ε), d.h.,

U(a, ε) := {z ∈ C : |z − a| < ε}.

Es ist also U(a,∞) := C.

Satz 3.7.5. Sei∞∑k=0

ak(z − z0)k

Potenzreihe mit Konvergenzradius r. Es sei 0 < r ≤ ∞. Dann ist die Funktion

f : U(z0, r)→ C, f(z) =∞∑k=0

ak(z − z0)k,

stetig. Ist 0 < ρ < r, so konvergiert die Potenzreihe gleichmaßig in U(z0, ρ).

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87

Beweis. Es genugt die zweite Aussage zu beweisen, da hieraus die erste leicht mitSatz 3.7.2 folgt.

Sei dazu 0 < ρ < s < r. Dann gilt

lim supk→∞

k√|ak| <

1

s.

Damit existiert K ∈ N mit

k√|ak| ≤

1

sfur k ≥ K.

Fur z ∈ U(z0, ρ) und k ≥ K folgt damit

∣∣∣ak (z − z0)k∣∣∣ = |ak| · |z − z0|k ≤

(1

s

)kρk =

(ρs

)k.

Die Behauptung folgt nun mit

ck :=(ρs

)kaus Satz 3.7.4.

Zum Beispiel folgt aus obigem Satz, dass die Funktion exp: C → C stetig ist.(Dies wurde bereits im Beweis von Satz 2.8.5 benutzt.) Allgemeiner sieht man, dassfur a ∈ R+ die durch z 7→ az := exp(z · ln a) definierte Funktion von C nach Cstetig ist.

4 Differenzierbarkeit

4.1 Grundlegende Eigenschaften

4.1.1 Definition der Differenzierbarkeit

Definition 4.1.1. Sei M ⊂ R, f : M → C und ξ ∈ M Haufungspunkt von M .Dann heißt f differenzierbar in ξ, wenn

limx→ξ

f(x)− f(ξ)

x− ξ

existiert. Dieser Grenzwert heißt dann Ableitung von f in ξ (oder an der Stelle ξ)und wird mit f ′(ξ) bezeichnet.

Ist M ′ die Menge der Haufungspunkte von M , in denen f differenzierbar ist, sowird durch x 7→ f ′(x) eine Funktion f ′ : M ′ → C definiert, die Ableitung von f .

Ist A ⊂ M , so heißt f differenzierbar in A falls A ⊂ M ′. Ist M ′ = M , so heißtf differenzierbar.

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88 4 DIFFERENZIERBARKEIT

Bemerkungen. 1. Fur f ′ bzw. f ′(x) wird auch die Bezeichnung

df

dxbzw.

df

dx(x) oder

df(x)

dx

verwandt.2. Die Idee ist (fur reellwertiges f) naturlich folgende: Durch

f(x)− f(ξ)

x− ξ

ist die Steigung der Sekante durch die Punkte (x, f(x)) und (ξ, f(ξ)) gegeben, undim Grenzwert x→ ξ sollte man die Steigung der Tangente an den Graph von f imPunkte (ξ, f(ξ)) erhalten. Durch x 7→ f(ξ) + f ′(ξ)(x− ξ) ist dann die Tangente anden Graphen von f im Punkte (ξ, f(ξ)) gegeben.

3. Auch bei Funktionen f : M → R sind in Definition 4.1.1 uneigentliche Grenz-werte (also f ′(ξ) = ±∞) nicht zugelassen.

4. Man kann den Grenzwert in Definition 4.1.1 auch in der Form

limh→0

f(ξ + h)− f(ξ)

h

schreiben.

Beispiel 1. Sei n ∈ N0 und f : R→ R, f(x) = xn.

Behauptung. Die Funktion f ist differenzierbar und f ′(x) = nxn−1 fur x ∈ R.

Beweis. Fur x, h ∈ R mit h 6= 0 ist

f(x+ h)− f(x)

h=

(x+ h)n − xn

h=

n∑k=1

(n

k

)xn−khk−1 = nxn−1+

(n

2

)xn−2h+ . . . ,

und daraus folgt fur h→ 0 die Behauptung.

Beispiel 2. Sei a ∈ C und f : R→ C, f(x) = eax (= exp ax).

Behauptung. Die Funktion f ist differenzierbar und f ′(x) = aeax fur x ∈ R.

Beweis. Fur x, h ∈ R mit h 6= 0 ist

f(x+ h)− f(x)

h=eax+ah − eax

h=eaxeah − eax

h= aeax

eah − 1

ah.

Das Beispiel nach Satz 3.3.3 besagt, dass

limz→0

ez − 1

z= 1.

Hieraus folgt die Behauptung.

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4.1 Grundlegende Eigenschaften 89

Satz 4.1.1. Sei M ⊂ R, f : M → C und ξ ∈ M Haufungspunkt von M . Dann istf genau dann differenzierbar in M , wenn eine in ξ stetige Funktion q : M → C mitf(x) = f(ξ)+q(x)(x−ξ) fur x ∈M existiert. Ist dies der Fall, so gilt q(ξ) = f ′(ξ).

Beweis. Sei η ∈ C. Nach Satz 3.3.2 gilt

limx→ξ

f(x)− f(ξ)

x− ξ= η

genau dann, wenn die durch

q(x) =

{f(x)− f(ξ)

x− ξ falls x ∈M\{ξ},η falls x = ξ ,

definierte Funktion q : M → C stetig in ξ ist. Daraus folgt die Behauptung.

Satz 4.1.2. Sei M ⊂ R, f : M → C und ξ ∈ M Haufungspunkt von M . Ist fdifferenzierbar in ξ, so ist f stetig in ξ.

Der Satz besagt also, dass differenzierbare Funktionen stetig sind. Sein Beweisfolgt unmittelbar aus Satz 4.1.1.

4.1.2 Rechenregeln

Satz 4.1.3. Sei M ⊂ R und ξ ∈ M Haufungspunkt von M . Des Weiteren seienf, g : M → C differenzierbar in ξ und c ∈ C. Dann sind f + g, c · f , f · g und imFalle g(ξ) 6= 0 auch die (in M\g−1(0) definierte) Funktion f/g differenzierbar in ξund es gilt

(i) (f + g)′(ξ) = f ′(ξ) + g′(ξ),

(ii) (c · f)′(ξ) = c · f ′(ξ),

(iii) (f · g)′(ξ) = f ′(ξ) · g(ξ) + f(ξ) · g′(ξ),

(iv)

(f

g

)′(ξ) =

f ′(ξ) · g(ξ)− f(ξ) · g′(ξ)g(ξ)2

.

Man nennt (iii) Produktregel und (iv) Quotientenregel.Der Beweis von (i) und (ii) ist sehr einfach und hier ausgelassen. Zum Beweise

von (iii) beachte man, dass fur x 6= ξ

(f · g)(x)− (f · g)(ξ)

x− ξ=

f(x)g(x)− f(ξ)g(ξ)

x− ξ

=f(x)g(x)− f(ξ)g(x) + f(ξ)g(x)− f(ξ)g(ξ)

x− ξ

=f(x)− f(ξ)

x− ξg(x) + f(ξ)

g(x)− g(ξ)

x− ξ

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90 4 DIFFERENZIERBARKEIT

gilt. Da limx→ξ g(x) = g(ξ) wegen Satz 4.1.2 gilt, folgt hieraus die Behauptung.Die Quotientenregel (iv) folgt auf ahnliche Weise. Wir verzichten hier auf die

Details.

Beispiele. 1. Sinus und Cosinus (auf R eingeschrankt) sind differenzierbar mitsin′ = cos und cos′ = − sin. Denn wegen sinx = 1

2i(eix − e−ix), Beispiel 2 zu

Definition 4.1.1 und Satz 4.1.3, (i) und (ii), ist der Sinus differenzierbar und

sin′ x =1

2i

(ieix − (−i)e−ix

)=

1

2

(eix + e−ix

)= cosx

fur x ∈ R. Analog zeigt man cos′ = − sin.2. Tangens und Cotangens sind differenzierbar mit

tan′ x = 1 + tan2 x =1

cos2 xund cot′ x = −1− cot2 x = − 1

sin2 x.

fur x aus dem jeweiligen Definitionsbereich. Dies folgt aus der Quotientenregel.Zum Beispiel ist

tan′ =

(sin

cos

)′=

sin′ cos− sin cos′

cos2=

cos2 + sin2

cos2=

1

cos2= 1 + tan2 .

Satz 4.1.4. (Kettenregel) Seien M,N,L ⊂ R mit N ⊂ L und seien g : M → Nund f : L→ C Funktionen. Sei ξ ∈ M Haufungspunkt von M und g(ξ) Haufungs-punkt von L. Sei g differenzierbar in ξ und sei f differenzierbar in g(ξ).

Dann ist f ◦ g differenzierbar in ξ und es gilt

(f ◦ g)′(ξ) = f ′(g(ξ))g′(ξ).

Beweis. Nach Satz 4.1.1 existieren in ξ bzw. η := g(ξ) stetige Funktionen p : M →C und q : L→ C, so dass

g(x) = g(ξ) + (x− ξ)p(x) fur x ∈M

undf(y) = f(η) + (y − η)q(y) fur y ∈ L,

und es gilt g′(ξ) = p(ξ) und f ′(η) = q(η). Mit y = g(x) folgt

(f ◦ g)(x) = (f ◦ g)(ξ) + (g(x)− g(ξ))q(g(x)) = (f ◦ g)(ξ) + (x− ξ)p(x)q(g(x)).

Da die durch x 7→ p(x)q(g(x)) definierte Funktion stetig in ξ ist und dort den Wertp(ξ)q(g(ξ)) = g′(ξ)f ′(g(ξ)) hat, folgt mit Satz 4.1.1 die Behauptung.

Beispiele. 1. Die Funktion exp ◦ cos ist differenzierbar und

(exp ◦ cos)′(x) = exp′(cosx) cos′ x = −ecosx sinx.

2. Ist f : M → R differenzierbar in ξ ∈ M , so ist fur n ∈ N auch fn : M → Rdifferenzierbar in ξ mit

(fn)′(ξ) = nfn−1(ξ)f ′(ξ).

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4.1 Grundlegende Eigenschaften 91

Dies folgt aus der Kettenregel und Beispiel 1 zu Definition 4.1.1. Ist etwa f : R→ R,f(x) = sin3 x, so gilt f ′(x) = 3 sin2 x cosx.

Wir haben Differenzierbarkeit hier nur fur Funktionen mit Definitionsbereich inR (und Zielbereich in C) betrachtet. Lasst man in Definition 4.1.1 den Definitions-bereich in C zu, so erhalt man den Begriff der komplexen Differenzierbarkeit. Es seiangemerkt, dass die bisherigen Resultate uber Differenzierbarkeit – mit denselbenBeweisen – auch fur komplexe Differenzierbarkeit gelten. (Auch die im folgendenSatz auftauchende Formel fur die Ableitung der Umkehrfunktion gilt noch fur kom-plexe Differenzierbarkeit.) Ansonsten treten bei der Untersuchung der komplexenDifferenzierbarkeit aber ganz andere Phanomene auf wie bei der Differenzierbar-keit von Funktionen mit Definitionsbereich in R. Komplexe Differenzierbarkeit wirdspater (in Analysis IV) ausfuhrlich behandelt. Zuvor wird in Analysis II Differen-zierbarkeit von Funktionen mit Definitionsbereich in Rn (und Zielbereich in Rm)untersucht. (Fur Funktionen von Teilmengen von C = R2 nach C erhalten wir alsozwei Differenzierbarkeitsbegriffe!)

Im Folgenden untersuchen wir Differenzierbarkeit nur fur auf Intervallen defi-nierte Funktionen. Ist I das Intervall [a, b], [a, b), (a, b] oder (a, b), so nennen wirdas Intervall (a, b) das Innere von I und bezeichnen es mit int(I). Die Punkte a, bnennen wir auch Randpunkte von I.

Satz 4.1.5. Seien I, J ⊂ R Intervalle, f : I → J stetig, streng monoton undsurjektiv (und damit bijektiv nach Satz 3.2.3). Sei ξ ∈ I und sei f differenzierbarin ξ mit f ′(ξ) 6= 0. Dann ist f−1 differenzierbar in η := f(ξ) und es gilt

(f−1)′(η) =1

f ′(ξ)=

1

f ′(f−1(η)).

Beweis. Sei (yn) Folge in J\{η} mit yn → η. Sei xn := f−1(yn). Da f−1 nachSatz 3.2.3 stetig ist, folgt xn → f−1(η) = ξ. Wegen der Bijektivitat von f ist auchxn 6= ξ fur alle n ∈ N. Es folgt

f−1(yn)− f−1(η)

yn − η=

xn − ξf(xn)− f(ξ)

→ 1

f ′(ξ),

und daraus die Behauptung.

Beispiele. 1. Der naturliche Logarithmus ln : R+ → R ist die Umkehrfunktion derExponentialfunktion exp: R→ R+, nach Satz 4.1.5 also differenzierbar mit

(ln)′(x) =1

exp′(lnx)=

1

exp(lnx)=

1

x

fur x ∈ R+.Hieraus erhalt man, dass fur a ∈ C die durch x 7→ xa definierte Funktion

f : R+ → C differenzierbar ist und f ′(x) = axa−1 gilt. Denn dies folgt wegenf(x) = exp(a lnx) aus der Kettenregel:

f ′(x) = a exp(a lnx)(ln)′(x) = axa1

x= axa−1.

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92 4 DIFFERENZIERBARKEIT

Fur a ∈ N ist dies das Beispiel 1 zu Definition 4.1.1.2. Sei f : R → R, f(x) = x3. Dann ist f streng monoton steigend, stetig und

bijektiv. Außerdem ist f differenzierbar mit f ′(x) = 3x2. Die Umkehrfunktion f−1

ist gegeben durch f−1(y) = y1/3 (wobei wir dies fur y < 0 durch y1/3 = −(−y)1/3

definiert haben). Fur y 6= 0 erhalt man mit Satz 4.1.5 (oder durch die Wahl a = 13

im vorigen Beispiel) sofort (f−1)′(y) = 1

3y−2/3.

Fur y = 0 ist aber x := f−1(y) = 0, also f ′(x) = 0, und damit Satz 4.1.5 nichtanwendbar. Tatsachlich sieht man leicht, dass

f−1(y)− f−1(0)

y − 0=

1

y2/3→∞

fur y → 0, also f−1 nicht differenzierbar in 0 ist.3. Wegen sin′ x = cosx > 0 fur x aus dem Intervall

(−π

2, π2

)ist arcsin differen-

zierbar im Intervall (−1, 1) und es gilt dort

arcsin′ x =1

sin′(arcsinx)=

1

cos(arcsinx)=

1√1− sin2(arcsinx)

=1√

1− x2.

In den Punkten ±1 ist arcsin nicht differenzierbar.Analog sieht man, dass die Funktion arccos : [−1, 1]→ [0, π] im Intervall (−1, 1)

differenzierbar ist und dort

arccos′ x = − 1√1− x2

gilt. Ebenso zeigt eine kurze Rechnung, dass arctan: R→(−π

2, π2

)und arccot : R→

(0, π) auf ganz R differenzierbar sind und

arctan′ x =1

1 + x2und arccot′x = − 1

1 + x2

fur alle x ∈ R gilt.

4.1.3 Stetige Differenzierbarkeit

Die Ableitung einer differenzierbaren Funktion muss nicht stetig sein. Als Beispielbetrachten wir die Funktion f : R→ R,

f(x) =

x2 sin1

xfalls x 6= 0,

0 falls x = 0.

Wir zeigen: (i) f ist differenzierbar, (ii) f ′ ist nicht stetig.Zu (i): Mit Produkt- und Kettenregel folgt, dass f differenzierbar in R\{0} ist,

mit

f ′(x) = 2x sin1

x+ x2

(cos

1

x

)(− 1

x2

)= 2x sin

1

x− cos

1

x

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4.1 Grundlegende Eigenschaften 93

fur x ∈ R\{0}. Um die Differenzierbarkeit in 0 zu untersuchen, notieren wirzunachst, dass | sin t| ≤ 1 fur t ∈ R wegen sin2 t+ cos2 t = 1. Es folgt∣∣∣∣f(x)− f(0)

x− 0

∣∣∣∣ =

∣∣∣∣x sin1

x

∣∣∣∣ ≤ |x|und damit

f ′(0) = limx→0

f(x)− f(0)

x− 0= 0.

Zu (ii): Sei xk = 1/(2πk) fur k ∈ N. Dann gilt xk → 0 und

f ′(xk) = 2xk sin 2πk − cos 2πk = −1 6→ 0 = f ′(0).

Damit ist f ′ nicht stetig in 0.

Der Graph dieser Funktion ist in Abbildung 20 dargestellt. Dieses Beispiel zeigtauch, dass die Interpretation der Ableitung als Tangentensteigung problematischsein kann.

−0.01

0.01

−0.1 0.1

Abbildung 20: Der Graph der fur x 6= 0 durch f(x) = x2 sin 1x gegebenen Funktion.

Definition 4.1.2. Sei I Intervall und f : I → C differenzierbar. Dann heißt f stetigdifferenzierbar, falls f ′ stetig ist.

Fur n ∈ N heißt f n-mal (stetig) differenzierbar, falls die induktiv durch f (0) :=f und f (n) := (f (n−1))′ definierte n-te Ableitung f (n) existiert (und stetig ist). Manschreibt f ′′ statt f (2) = (f ′)′ und f ′′′ statt f (3).

Zum Beispiel ist der Cosinus beliebig oft differenzierbar mit cos′ = − sin,cos′′ = − cos, cos′′′ = sin, cos(4) = cos und damit cos(4k) = cos, cos(4k+1) = − sin,cos(4k+2) = − cos und cos(4k+3) = sin fur k ∈ N.

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94 4 DIFFERENZIERBARKEIT

4.2 Der Mittelwertsatz

Definition 4.2.1. Sei M ⊂ C, f : M → R und ξ ∈ M . Gilt f(ξ) ≥ f(x) fur allex ∈ M , so sagt man, dass f in ξ ein globales Maximum hat. Existiert ε > 0 mitf(ξ) ≥ f(x) fur alle x ∈ M mit |x − ξ| < ε, so sagt man, dass f in ξ ein lokalesMaximum hat.

Der Wert f(ξ) wird dann als globales bzw. lokales Maximum bezeichnet.Entsprechend spricht man von einem globalen bzw. lokalen Minimum. Ein Ex-

tremum ist ein Maximum oder Minimum.

Offensichtlich sind globale Extrema auch lokale Extrema, aber nicht umgekehrt.Man betrachte etwa f : R→ R, f(x) = x4−2x2 = (x2−1)2−1; vgl. Abbildung 21.Wie man durch einen Blick auf den Graphen erkennt, und durch eine kurze Rech-

−2 −1 1 2

−1

1

Abbildung 21: Der Graph der durch f(x) = x4 − 2x2 gegebenen Funktion f .

nung auch leicht verifiziert, hat diese Funktion in 0 ein lokales Maximum, abersie besitzt kein globales Maximum. In 1 und −1 hat f ein globales (und lokales)Minimum.

Ist M ⊂ C kompakt und f : M → R stetig, so existieren nach Satz 3.6.4 immerPunkte, in denen f sein globales Minimum und Maximum hat.

Satz 4.2.1. Sei I ⊂ R Intervall, f : I → R stetig und ξ innerer Punkt von I. Istf differenzierbar in ξ und hat f in ξ ein lokales Extremum, so ist f ′(ξ) = 0.

Beweis. Ohne Beschrankung der Allgemeinheit habe f ein lokales Minimum in ξ.Dann existiert ε > 0 mit mit f(x)−f(ξ) ≥ 0 fur alle x ∈ I mit |x− ξ| < ε. Es folgt

f ′(ξ) = limx→ξ+

f(x)− f(ξ)

x− ξ≥ 0 und f ′(ξ) = lim

x→ξ−

f(x)− f(ξ)

x− ξ≤ 0,

also f ′(ξ) = 0.

Satz 4.2.2. (Mittelwertsatz) Seien a, b ∈ R, a < b. Sei f : [a, b]→ R stetig undin (a, b) differenzierbar. Dann existiert ξ ∈ (a, b) mit

f ′(ξ) =f(b)− f(a)

b− a.

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4.2 Der Mittelwertsatz 95

Der Mittelwertsatz hat eine einfache anschauliche Interpretation: Es existiertein Punkt ξ, so dass die Steigung der Tangente an den Graphen von f im Punkte(ξ, f(ξ)) gleich der Steigung der Sekante durch (a, f(a)) und (b, f(b)) ist.

Es kann mehrere solche Punkte ξ geben. Etwa im Beispiel

f :

[0,

9

4

]→ R, f(x) = x3 − 3x2 + 2x,

haben ξ1,2 = 1∓ 14

√7 diese Eigenschaft; siehe Abbildung 22.

1 2ξ2ξ1

−1

1

94

Abbildung 22: Illustration des Mittelwertsatzes.

Ein Spezialfall des Mittelwertsatzes ist der folgende Satz.

Satz 4.2.3. (Satz von Rolle) Sind a, b, f wie in Satz 4.2.2 und ist außerdem nochf(a) = f(b), so existiert ξ ∈ (a, b) mit f ′(ξ) = 0.

Wir beweisen zuerst diesen Spezialfall, und fuhren den allgemeinen Fall danndarauf zuruck.

Beweis von Satz 4.2.3. Nach Satz 3.6.4 existieren α, β ∈ [a, b] so dass

f(α) = min f([a, b]) und f(β) = max f([a, b]).

Nach Satz 4.2.1 folgt f ′(α) = 0 falls α ∈ (a, b) und f ′(β) = 0 falls β ∈ (a, b).Damit folgt die Behauptung, außer wenn {α, β} ⊂ {a, b}. In diesem Fall ist aberwegen f(a) = f(b) auch f(α) = f(β), also f konstant und damit f ′(x) = 0 fur allex ∈ (a, b).

Beweis von Satz 4.2.2. Wir betrachten h : [a, b]→ R,

h(x) = f(x)− f(b)− f(a)

b− a(x− a).

Dann gilt

h(b) = f(b)− f(b)− f(a)

b− a(b− a) = h(a).

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96 4 DIFFERENZIERBARKEIT

Nach Satz von Rolle existiert also ξ ∈ (a, b) mit

0 = h′(ξ) = f ′(ξ)− f(b)− f(a)

b− a.

Ersetzt man in obigem Beweis h(x) durch

h(x) = f(x)− f(b)− f(a)

g(b)− g(a)(g(x)− g(a))

mit einer Funktion g, wobei g(a) 6= g(b), so erhalt man folgendes Resultat.

Satz 4.2.4. (Verallgemeinerter Mittelwertsatz) Seien a, b ∈ R mit a < b.Weiter seien f, g : [a, b] → R stetig und in (a, b) differenzierbar. Sei g′(x) 6= 0 furx ∈ (a, b). Dann ist g(a) 6= g(b) und es existiert ξ ∈ (a, b) mit

f ′(ξ)

g′(ξ)=f(b)− f(a)

g(b)− g(a).

Hierbei folgt g(a) 6= g(b) aus dem Satz von Rolle, angewandt auf g.Der Satz von Rolle – und folglich der (verallgemeinerte) Mittelwertsatz – gelten

nicht fur komplexwertige Funktionen. Zum Beispiel gilt fur f : [0, 2π]→ C, x 7→ eix,dass f(0) = f(2π) = 0, aber f ′(x) = ieix 6= 0 fur alle x.

Es gilt aber immerhin noch der folgende Satz.

Satz 4.2.5. Seien a, b ∈ R, a < b. Sei f : [a, b] → C stetig und in (a, b) differen-zierbar. Dann existiert ξ ∈ (a, b) mit

|f ′(ξ)| ≥ |f(b)− f(a)|b− a

.

Beweis. Die Behauptung ist trivial fur f(a) = f(b). Andernfalls setzt man

q :=|f(b)− f(a)|f(b)− f(a)

und g : [a, b]→ R, g(x) = Re(qf(x)). Der Mittelwertsatz liefert ξ ∈ (a, b) mit

g′(ξ) =g(b)− g(a)

b− a=|f(b)− f(a)|

b− a

und die Behauptung folgt wegen |f ′(ξ)| = |qf ′(ξ)| ≥ Re(qf ′(ξ)) = g′(ξ).

4.3 Anwendungen des Mittelwertsatzes

4.3.1 Monotonie, Extremwerte und Konvexitat

Satz 4.3.1. Sei I Intervall und seien f, g : I → C stetig und in int(I) diffe-renzierbar. Gilt dann f ′(x) = g′(x) fur alle x ∈ int(I), so existiert c ∈ C mitf(x) = g(x) + c fur alle x ∈ I.

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4.3 Anwendungen des Mittelwertsatzes 97

Beweis. Die Funktion h := f − g ist stetig in I, differenzierbar in int(I) und erfullth′(x) = 0 fur x ∈ int(I). Aus Satz 4.2.5 folgt h(x) = h(y) fur x, y ∈ I. Damit ist hkonstant.

Satz 4.3.2. Sei I Intervall und f : I → R stetig und in int(I) differenzierbar. Dannist f monoton wachsend falls f ′(x) ≥ 0 fur alle x ∈ int(I) und monoton fallendfalls f ′(x) ≤ 0 fur alle x ∈ int(I). Falls f ′(x) > 0 bzw. f ′(x) < 0 fur alle x ∈ int(I),so liegt strenge Monotonie vor.

Beweis. Sind x1, x2 ∈ I mit x1 < x2, so existiert nach Mittelwertsatz ξ ∈ (x1, x2) ⊂int(I) mit

f(x2)− f(x1) = (x2 − x1)f ′(ξ).

Daraus folgt die Behauptung.

Satz 4.3.3. Sei I Intervall, f : I → R und ξ ∈ int(I). Sei f differenzierbar in ξmit f ′(ξ) = 0. Dann gilt:

(i) Existieren α, β ∈ I mit α < ξ < β, so dass f differenzierbar in (α, β) ist undf ′(x) ≥ 0 fur x ∈ (α, ξ) und f ′(x) ≤ 0 fur x ∈ (ξ, β) gilt, so hat f ein lokalesMaximum in ξ.

(ii) Existieren α, β ∈ I mit α < ξ < β, so dass f differenzierbar in (α, β) ist undf ′(x) ≤ 0 fur x ∈ (α, ξ) und f ′(x) ≥ 0 fur x ∈ (ξ, β) gilt, so hat f ein lokalesMinimum in ξ.

Existiert zusatzlich noch f ′′(ξ), so gilt:

(iii) Ist f ′′(ξ) < 0, so hat f ein lokales Maximum in ξ.

(iv) Ist f ′′(ξ) > 0, so hat f ein lokales Minimum in ξ.

Beweis. Die Behauptungen (i) und (ii) folgen sofort aus Satz 4.3.2.Zu (iii): Wegen

0 > f ′′(ξ) = limx→ξ+

f ′(x)− f ′(ξ)x− ξ

= limx→ξ+

f ′(x)

x− ξ

existiert β ∈ I, β > ξ, mit f ′(x) < 0 fur x ∈ (ξ, β). Analog existiert α ∈ I mit dergeforderten Eigenschaft. Die Behauptung folgt jetzt aus (i).

Analog folgt (iv) aus (ii).

Beispiel. Sei

f : [0, 5]→ R, f(x) =√x+ 2

√5− x.

Dann ist f stetig und differenzierbar in (0, 5) mit

f ′(x) =1

2√x

+ 21

2√

5− x(−1) =

1

2√x

(1− 2

√x√

5− x

).

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98 4 DIFFERENZIERBARKEIT

Es gilt (fur 0 < x < 5)

f ′(x) > 0 ⇔ 2√x ≤√

5− x ⇔ 4x < 5− x ⇔ x ∈ (0, 1)

und analog

f ′(x) < 0 ⇔ x ∈ (1, 5) und f ′(x) = 0 ⇔ x = 1.

Es folgt, dass f streng monoton steigend in [0, 1] ist (d.h., f |[0,1] ist streng monotonsteigend), dass f streng monoton fallend in [1, 5] ist und dass f in 1 ein lokalesMaximum hat. Dieses ist sogar globales Maximum. Es gilt f(1) = 5. Das globaleMinimum wird wegen f(5) =

√5 < 2

√5 = f(0) in 5 angenommen, in 0 hat f ein

lokales Minimum.

Der Graph von f ist in Abbildung 23 dargestellt.

1 2 3 4 5

1

2

3

4

5

Abbildung 23: Der Graph von f : [0, 5]→ R, f(x) =√x+ 2

√5− x.

Bemerkung. In obigem Beispiel hatte man die Frage, ob in x = 1 ein relativesMinimum oder Maximum vorliegt, auch durch Berechnen der zweiten Ableitungf ′(1) = −5/16 entscheiden konnen. In vielen Fallen ist die Berechnung der zweitenAbleitung aber aufwandig und der oben eingeschlagene Weg uber das Vorzeichender ersten Ableitung wesentlich einfacher. Zudem kann es vorkommen, dass diezweite Ableitung an der relevanten Stelle verschwindet und damit Satz 4.3.3, (iii)und (iv), nicht anwendbar sind.

Definition 4.3.1. Sei I Intervall. Eine Funktion f : I → R heißt konvex, wenn furx1, x2, x ∈ I mit x1 < x < x2

f(x) ≤ x2 − xx2 − x1

f(x1) +x− x1x2 − x1

f(x2)

gilt. Gilt hier immer”<“, so heißt f streng konvex. Gilt immer

”≥“ bzw.

”>“, so

heißt f (streng) konkav.

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4.3 Anwendungen des Mittelwertsatzes 99

Die Bedingung in Definition 4.3.1 besagt, dass der Graph von f unterhalb derSekanten liegt. Aquivalent ist, dass die Sekante durch (x1, f(x1)) und (x, f(x))kleinere Steigung hat als die durch (x, f(x)) und (x2, f(x2)), dass also

f(x)− f(x1)

x− x1≤ f(x2)− f(x)

x2 − x

gilt.In Abbildung 24 ist dies fur f(x) = 1 + (x− 4)2 = x2 + 8x+ 17, x1 = 1, x = 3

und x2 = 6 dargestellt.

1 2 3 4 5 6

2

4

6

8

10

Abbildung 24: Konvexitat.

Satz 4.3.4. Sei I Intervall und f : I → R differenzierbar und in int(I) zweimaldifferenzierbar. Gilt f ′′(x) ≥ 0 fur alle x ∈ int(I), so ist f konvex. Gilt f ′′(x) ≤ 0fur alle x ∈ int(I), so ist f konkav. Gilt immer

”>“ bzw.

”<“, so liegt strenge

Konvexitat bzw. Konkavitat vor.

Fur den Beweis sei auf die Ubung verwiesen.

4.3.2 Die Regeln von de l’Hospital

Eine Anwendung des verallgemeinerten Mittelwertsatzes fuhrt auf das folgendeErgebnis.

Satz 4.3.5. (Regeln von de l’Hospital) Sei (a, b) offenes Intervall und seienf, g : (a, b)→ R differenzierbar. Sei g′(x) 6= 0 fur alle x ∈ (a, b). Gilt dann

limx→a

f(x) = limx→a

g(x) = 0

oder

limx→a

f(x) = limx→a

g(x) =∞

und existiert

limx→a

f ′(x)

g′(x),

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100 4 DIFFERENZIERBARKEIT

so existiert auch

limx→a

f(x)

g(x)

und es gilt

limx→a

f(x)

g(x)= lim

x→a

f ′(x)

g′(x).

Entsprechendes gilt fur den Grenzubergang x→ b.Es sind a = −∞ und b = ∞ zugelassen und die auftretenden Grenzwerte von

f/g bzw. f ′/g′ konnen auch uneigentliche Grenzwerte sein.

Beweis. Wir beschranken uns auf den Fall, dass

limx→a

f(x) = limx→a

g(x) = 0

und a ∈ R gilt. Wir betrachten die stetigen Erganzungen F,G : [a, b) → R, diedurch

F (x) =

{f(x) falls x ∈ (a, b),

0 falls x = a,

und

G(x) =

{g(x) falls x ∈ (a, b),

0 falls x = a,

gegeben sind. Nach dem Satz von Rolle und wegen G′(ξ) = g′(ξ) 6= 0 fur ξ ∈ (a, b)gilt dann g(x) = G(x) 6= G(a) = 0 fur x ∈ (a, b). Nach dem verallgemeinertenMittelwertsatz folgt fur x ∈ (a, b) dann

f(x)

g(x)=F (x)− F (a)

G(x)−G(a)=F ′(ξ)

G′(ξ)=f ′(ξ)

g′(ξ)

mit einem ξ ∈ (a, x). Hieraus folgt die Behauptung, da mit x→ a auch ξ → a.

Wir haben Satz 4.3.5 fur einseitige Grenzwerte formuliert, aber daraus folgtnaturliche eine entsprechende Aussage fur allgemeine Grenzwerte unmittelbar.

Beispiele. 1. Es gilt

limx→0

arcsinx

tanx= 1,

denn wegen arcsin′ x = 1/√

1− x2 → 1 und tan′(x) = 1/ cos2 x→ 1 folgt

limx→0

arcsin′ x

tan′ x= 1.

2. Wir untersuchen die Existenz des Grenzwertes

L := limx→0

1

ln(1 + x)− 1

arctanx.

Zunachst gilt,

L = limx→0

arctanx− ln(1 + x)

ln(1 + x) arctanx,

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4.3 Anwendungen des Mittelwertsatzes 101

falls L existiert. Nach Satz 4.3.5 folgt

L = limx→0

1

1 + x2− 1

1 + x1

1 + xarctanx+ ln(1 + x)

1

1 + x2

= limx→0

x− x2

(1 + x2) arctanx+ (1 + x) ln(1 + x),

falls der Grenzwert auf der rechten Seite existiert. Auch dort konvergieren fur x→ 0wieder Zahler und Nenner gegen 0. Satz 4.3.5 liefert

L = limx→0

1− 2x

2x arctanx+ 1 + ln(1 + x) + 1

= limx→0

1− 2x

2x arctanx+ 2 + ln(1 + x),

falls der letzte Grenzwert existiert. Dies ist aber offensichtlich der Fall und derGrenzwert ist 1

2. Wir erhalten L = 1

2.

4.3.3 Das Newton-Verfahren

Wir diskutieren einige numerische Verfahren zur Auflosung von Gleichungen. Wirwollen eine Nullstelle ξ einer differenzierbaren Funktion f : I → R bestimmen,wobei I ein Intervall ist. Wir beginnen mit einem Naherungswert x1 und berechnenden Schnittpunkt x2 der Tangente an f im Punkte (x1, f(x1)) mit der x-Achse.(Dieser Schnittpunkt existiert falls f ′(x1) 6= 0.) Dies fuhrt auf die Gleichung f(x1)+f ′(x1)(x2 − x1) = 0, also

x2 = x1 −f(x1)

f ′(x1).

In vielen Fallen ist x2 ein besserer Naherungswert fur ξ als x1. Man definiert nunrekursiv eine Folge (xn) durch

xn+1 := xn −f(xn)

f ′(xn).

Wir werden sehen, dass unter geeigneten Voraussetzungen and f und x1 tatsachlichlimn→∞ xn = ξ gilt.

Das hier beschriebene Verfahren zur naherungsweisen Bestimmung einer Null-stelle heißt Newton-Verfahren. Man nennt x1 den Startwert. Man sagt, dass dasVerfahren (gegen ξ) konvergiert, falls die Folge (xn) definiert werden kann, alsoxn ∈ I und f ′(xn) 6= 0 fur n ∈ N gilt, und falls limn→∞ xn = ξ.

Im Beispiel nach dem Zwischenwertsatz 3.2.1 hatten wir gesehen, dass die Funk-tion f : R→ R, f(x) = ex + x, eine Nullstelle im Intervall (−1, 0) hat. Als Rekur-sionsformel erhalten wir

xn+1 := xn −exp(xn) + xnexp(xn) + 1

.

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102 4 DIFFERENZIERBARKEIT

Wahlen wir etwa als Startwert x1 := 1, so erhalten wir x2 = 0, x3 = −12,

x4 = − 3√e

2(√e+ 1)

= −0, 56631 . . .

x5 = −0, 5671431650 . . ., x6 = −0, 5671432902 . . ., usw.Der Graph von f sowie der Tangenten an die Punkte (x1, f(x1)) und (x2, f(x2))

ist in Abbildung 25 dargestellt. Man kann (mit Hilfe der folgenden Satze) zeigen,dass tatsachlich

limn→∞

xn = ξ = −0, 56714 . . .

gilt.

x1x2x3

1

2

3

4

Abbildung 25: Das Newton-Verfahren fur f(x) = ex + x.

Zunachst beweisen wir folgenden Satz.

Satz 4.3.6. Sei I Intervall, ξ ∈ int(I) und g : I → R differenzierbar in ξ mit|g′(ξ)| < 1. Dann existiert δ > 0 mit folgender Eigenschaft:

Es ist J := (ξ−δ, ξ+δ) ⊂ I und ist x1 ∈ J und die Folge (xn) rekursiv definiertdurch xn+1 := g(xn), so gilt xn ∈ J fur alle n ∈ N und limn→∞ xn = ξ.

Beweis. Sei ε > 0 mit α := |g′(x)|+ ε < 1. Nach Definition der Differenzierbarkeitexistiert δ > 0 mit J := (ξ − δ, ξ + δ) ⊂ I und∣∣∣∣g(x)− g(ξ)

x− ξ− g′(ξ)

∣∣∣∣ < ε

fur |x− ξ| < δ, d.h., fur x ∈ J . Es folgt∣∣∣∣g(x)− ξx− ξ

∣∣∣∣ =

∣∣∣∣g(x)− g(ξ)

x− ξ

∣∣∣∣ < |g′(ξ)|+ ε = α

und damit |g(x)− ξ| < α|x− ξ| fur x ∈ J . Induktion liefert fur x1 ∈ J , dass xn ∈ Jund

|xn − ξ| ≤ αn−1|x1 − ξ|fur alle n ∈ N. Dies impliziert wegen α < 1, dass limn→∞ xn = ξ.

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4.3 Anwendungen des Mittelwertsatzes 103

Bemerkung. Ist g differenzierbar in I, so kann man jedes δ mit

β := sup|x−ξ|≤δ

|g′(x)| < 1

wahlen. Denn nach Mittelwertsatz existiert dann zu x ∈ J ein ξ∗ zwischen ξ undx mit ∣∣∣∣g(x)− ξ

x− ξ

∣∣∣∣ = |g′(ξ∗)| ≤ β.

Der Rest des Arguments ist dann wie im Beweis von Satz 4.3.6, mit α ersetztdurch β.

Beispiel. Sei g : R→ R, g(x) = cos x. Wegen

cos

(1

2

)> cos

(π3

)=

1

2

und cos 1 < 1 folgt mit Hilfe des Zwischenwertsatzes leicht, dass ξ ∈ (0, 1) mitg(ξ) = ξ existiert. Es gilt |g′(ξ)| = sin ξ < 1. Mit Satz 4.3.6 folgt, dass die rekursivdurch xn+1 := g(xn) definierte Folge (xn) konvergiert, wenn |x1−ξ| klein genug ist.Mit der dem Satz folgenden Bemerkung kann man zeigen, dass dies fur |x1−ξ| ≤ 1

2

gilt.Zum Beispiel fur x1 = 1 erhalt man

x2 = 0.5403023059 . . . , x3 = 0.8575532158 . . .

und weiterx19 = 0.7393038924 . . . , x20 = 0.7389377567 . . . .

Es gilt ξ = 0.7390851332 . . ..

Satz 4.3.7. Sei I Intervall und sei f : I → R zweimal differenzierbar. Sei ξ ∈ int(I)mit f(ξ) = 0 und f ′(ξ) 6= 0. Dann existiert ε > 0 mit J := (ξ − ε, ξ + ε) ⊂ I, sodass das Newton-Verfahren fur alle Startwerte aus J gegen ξ konvergiert.

Beweis. Wir wenden Satz 4.3.6 auf

g(x) := x− f(x)

f ′(x)

an. Die Funktion g kann in einem Intervall definiert werden, welches ξ im Innernenthalt. Es gilt g(ξ) = ξ. Wegen

g′(x) =f(x)f ′′(x)

f ′(x)2

folgt g′(ξ) = 0, und damit die Behauptung aus Satz 4.3.6.

Bemerkungen. 1. Die Behauptung von Satz 4.3.7 gilt auch dann, wenn f nur einmalstetig differenzierbar ist. Der Beweis sei als Ubung uberlassen.

2. Wendet man das Newton-Verfahren auf f(x) = x2 − c an, so erhalt man dasin §2.3.1 besprochene Heron-Verfahren zur Berechnung von

√c.

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104 4 DIFFERENZIERBARKEIT

4.4 Folgen und Reihen differenzierbarer Funktionen

Satz 3.7.2 besagt, dass der Grenzwert einer gleichmaßig konvergenten Folge stetigerFunktionen ebenfalls stetig ist. Wir beweisen ein analoges Resultat fur Differenzier-barkeit.

Satz 4.4.1. Sei I beschranktes Intervall und (fn) eine Folge von differenzierbarenFunktionen von I nach C. Die Folge (f ′n) konvergiere gleichmaßig. Existiert dannα ∈ I, so dass (fn(α)) konvergiert, so konvergiert (fn) gleichmaßig gegen einedifferenzierbare Funktion f : I → C und es gilt

f ′(x) = limn→∞

f ′n(x)

fur alle x ∈ I.

Der Satz besagt also, dass man unter den gemachten Voraussetzungen denGrenzubergang n→∞ mit der Differentiation (die ja auch eine Grenzwertbildungist) vertauschen kann, dass also (limn→∞ fn)′ = limn→∞ f

′n gilt.

Man beachte, dass die letzte Gleichung nicht gelten muss, wenn fn → f gleich-maßig und f und alle fn differenzierbar sind. Dies zeigt das Beispiel

fn : R→ R, fn(x) =1

nsin(nx).

Hier gilt fn → 0 gleichmaßig, aber f ′n(0) = cos(n0) = 1 6→ 0.

Beweis von Satz 4.4.1. Sei a := inf I und b := sup I. Wir zeigen zunachst mitdem Cauchykriterium, dass (fn) gleichmaßig konvergiert. Sei dazu ε > 0. NachCauchykriterium fur (f ′n) existiert N1 ∈ N mit

|f ′m(x)− f ′n(x)| < ε

2(b− a)

fur m,n ≥ N1 und x ∈ I. Nach Cauchykriterium fur (fn(α) existiert N2 ∈ N mit

|fm(α)− fn(α)| < ε

2

fur m,n ≥ N2. Nach Satz 4.2.5 gilt dann fur m,n ≥ N := max{N1, N2} und x ∈ Imit einem ξ ∈ I:

|fm(x)− fn(x)| ≤ |(fm(x)− fn(x))− (fm(α)− fn(α))|+ |fm(α)− fn(α)|≤ |f ′m(ξ)− f ′n(ξ)| · |x− α|+ ε

2

2(b− a)(b− a) +

ε

2= ε.

Damit ist (fn) gleichmaßig konvergent. Sei

f : I → C, f(x) = limn→∞

fn(x).

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4.4 Folgen und Reihen differenzierbarer Funktionen 105

Wir zeigen jetzt, dass f differenzierbar ist und f ′(x) = limn→∞ f′n(x) gilt. Sei

dazu x ∈ I. Fur n ∈ N definieren wir Fn : I → C durch

Fn(y) =

fn(y)− fn(x)

y − x falls y 6= x,

f ′n(x) falls y = x.

Dann ist Fn stetig nach Satz 3.3.2. Nach Satz 4.2.5 existiert zu y ∈ I wieder ξ ∈ Imit

|Fm(y)− Fn(y)| ≤ |f ′m(ξ)− f ′n(ξ)| .Hierbei wahlt man ξ = x falls y = x. Aus der gleichmaßigen Konvergenz von (f ′n)folgt nun die gleichmaßige Konvergenz von (Fn). Damit ist nach Satz 3.7.2 diedurch y 7→ limn→∞ Fn(y) definierte Funktion F : I → C stetig. Offensichtlich gilt

F (y) =

f(y)− f(x)

y − x falls y 6= x,

limn→∞

f ′n(x) falls y = x.

Aus Satz 3.3.2 folgt jetzt die Differenzierbarkeit von f in x sowie die Gleichungf ′(x) = limn→∞ f

′n(x).

Ist in obigem Satz I unbeschrankt, so gelten noch alle gemachten Behauptungen,außer dass (fn) nicht mehr gleichmaßig konvergieren muss. Dies sieht man durchEinschrankung auf beschrankte Teilintervalle ein.

Wie bei Satz 3.7.2 gilt wieder ein Analogon fur Reihen. Daraus erhalt man dasfolgende Resultat fur Potenzreihen.

Satz 4.4.2. Sei∞∑n=0

an(x− x0)n

Potenzreihe mit x0 ∈ R und an ∈ C fur n ∈ N. Fur den Konvergenzradius r gelte0 < r ≤ ∞. Sei I := (x0 − r, x0 + r) falls r <∞ und I = R falls r =∞. Dann istdie Funktion

f : I → C, f(x) =∞∑n=0

an(x− x0)n,

differenzierbar und es gilt

f ′(x) =∞∑n=1

nan(x− x0)n−1

fur x ∈ I.

Beweis. Wegen n√n→ 1 hat die Potenzreihe

∞∑n=1

nan(x− x0)n−1

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106 4 DIFFERENZIERBARKEIT

ebenfalls Konvergenzradius r. Fur n ∈ N0 sei gn : I → C, gn(x) = an(x − x0)n.

Dann gilt g′n(x) = nan(x − x0)n−1. Sei 0 < ρ < r und J := (x0 − ρ, x0 + ρ).

Nach Satz 3.7.5 konvergiert dann∑∞

n=0 g′n gleichmaßig in J . Außerdem konvergiert∑∞

n=0 gn(x0) (zur Summe a0.) Mit Satz 4.4.1 (in der Version fur Reihen) folgt, dassf differenzierbar in J ist mit

f ′(x) =∞∑n=0

g′n(x) =∞∑n=1

nan(x− x0)n−1

fur x ∈ J . Die Behauptung folgt fur ρ→ r; vgl. Satz 3.7.5.

Beispiel. Wir betrachten die Potenzreihe

∞∑n=0

(−1)n

2n+ 1x2n+1.

Der Konvergenzradius ist 1 (wegen k√k → 1). Aus dem Leibnizkriterium erhalt

man, dass die Reihe sogar fur x ∈ [−1, 1] gleichmaßig konvergiert. Durch

x 7→∞∑n=0

(−1)n

2n+ 1x2n+1

wird also eine stetige Funktion f : [−1, 1] → R definiert. Diese ist nach Satz 4.4.2differenzierbar in (−1, 1) mit

f ′(x) =∞∑n=0

(−1)nx2n =∞∑n=0

(−x2)n =1

1 + x2= arctan′ x.

Mit Satz 4.3.1 und wegen f(0) = 0 = arctan 0 folgt f(x) = arctan x, also

arctanx =∞∑n=0

(−1)n

2n+ 1x2n+1

fur x ∈ [−1, 1]. Man beachte, dass die Reihe fur f ′ nur in (−1, 1) konvergiert, undauch dort nicht gleichmaßig.

Einige Teilsummen der Reihe des Arcus Tangens sind in Abbildung 26 darge-stellt.

Wegen tan π4

= 1 folgt insbesondere

π

4= arctan 1 =

∞∑n=0

(−1)n

2n+ 1= 1− 1

3+

1

5− 1

7+ . . . .

Diese Reihe wird auch nach Leibniz benannt.

Aus Satz 4.4.2 folgt, dass mit f und I wie dort die Funktion f unendlich oftdifferenzierbar ist und dass

f (k)(x) =∞∑n=k

n(n− 1) · · · · · (n− k + 1)an(x− x0)n−k

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4.4 Folgen und Reihen differenzierbarer Funktionen 107

−3 −2 −1 1 2 3

−2

−1

1

2

Abbildung 26: Der Arcus Tangens und Teilsummen der Reihe vom Grad 3, 5 und 7.

fur k ∈ N und x ∈ I gilt. Insbesondere gilt

f (k)(x0) = k!ak

fur alle k ∈ N.Umgekehrt kann man nun fur beliebig oft in x0 differenzierbares f die Potenz-

reihe∞∑k=0

ak(x− x0)k mit ak =f (k)(x0)

k!

bilden und sich fragen, ob sie zur Summe f(x) konvergiert. Man nennt diese Reihe,also die Reihe

∞∑k=0

f (k)(x0)

k!(x− x0)k,

die Taylorreihe von f in x0 und fur n ∈ N ihre n-te Teilsumme

Tn(x) := Tn(x, f, x0) :=n∑k=0

f (k)(x0)

k!(x− x0)k

das n-te Taylorpolynom (von f in x0). Weiter heißt

Rn(x) := Rn(x, f, x0) := f(x)− Tn(x)

das n-te Restglied der Taylorentwicklung (von f in x0).Man beachte, dass aus der Konvergenz der Taylorreihe von f noch nicht folgen

muss, dass ihre Summe f(x) ist. Man betrachte etwa das Beispiel f : R→ R,

f(x) =

exp

(− 1

x2

)falls x 6= 0,

0 falls x = 0,

mit x0 = 0. Man kann zeigen, dass f beliebig oft differenzierbar ist und f (k)(0) = 0fur alle k ∈ N gilt. Damit konvergiert die Taylorreihe fur alle x ∈ R zur Summe 0.

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108 4 DIFFERENZIERBARKEIT

Satz 4.4.3. Sei I Intervall, x0, x ∈ I, x0 6= x und n ∈ N0. Die Funktion f : I → Rsei n-mal stetig differenzierbar in I und (n+1)-mal differenzierbar in int(I). Dannexistiert ξ zwischen x0 und x mit

Rn(x) =f (n+1)(ξ)

(n+ 1)!(x− x0)n+1.

Der Spezialfall n = 0 ist der Mittelwertsatz. Die Beweisidee hier ist ahnlich.

Beweis von Satz 4.4.3. Zunachst existiert ρ ∈ R mit

f(x) =n∑k=0

f (k)(x0)

k!(x− x0)k +

ρ

(n+ 1)!(x− x0)n+1.

Zu zeigen ist, dass ρ von der Form ρ = f (n+1)(ξ) ist. Sei dazu F : I → R,

F (t) = f(x)−n∑k=0

f (k)(t)

k!(x− t)k − ρ

(n+ 1)!(x− t)n+1.

Dann ist F stetig in I und differenzierbar in int(I) und eine kurze Rechnung zeigt,dass

F ′(t) =(x− t)n

n!

(f (n+1)(t)− ρ

).

Weiter gilt F (x0) = F (x) = 0 und nach dem Satz von Rolle existiert ξ zwischen x0und x mit F ′(ξ) = 0.

Beispiel 1. Seif : R+ → R, f(x) = lnx,

und x0 = 1. Dann ist f beliebig oft differenzierbar mit f ′(x) = 1/x, f ′′(x) = −1/x2

und f ′′′(x) = 2/x3. Durch vollstandige Induktion zeigt man leicht, dass

f (k)(x) = (−1)k+1 (k − 1)!

xk.

Fur x ∈ (1, 2] existiert dann ξ ∈ (1, x) mit

|Rn(x)| =∣∣∣∣f (n+1)(ξ)

(n+ 1)!(x− x0)n+1

∣∣∣∣ =

∣∣∣∣∣(−1)n

n+ 1

(x− 1

ξ

)n+1∣∣∣∣∣ ≤ 1

n+ 1.

Es folgt Rn(x)→ 0 fur n→∞ und damit

lnx =∞∑k=1

(−1)k+1

k(x− 1)k

fur x ∈ (1, 2]. Einige Taylorpolynome des Logarithmus sind in Abbildung 27 dar-gestellt.

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4.4 Folgen und Reihen differenzierbarer Funktionen 109

1 2 3

−2

−1

1

2

Abbildung 27: Der Logarithmus und die Taylorpolynome vom Grad 2, 3, 4 und 5.

Insbesondere gilt

ln 2 =∞∑k=1

(−1)k+1

k= 1− 1

2+

1

3− 1

4+ . . . .

Diese Reihe wurde bereits als Beispiel zum Leibnizkriterium (Satz 2.5.3) diskutiert.Fur x ∈

[12, 1)

gilt 12≤ x < ξ < 1 und obiges Argument liefert wieder Rn(x)→

0. Tatsachlich gilt dies (und damit obige Potenzreihenentwicklung des Logarithmus)fur x ∈ (0, 2], aber fur x ∈

(0, 1

2

)konnen wir dies mit obiger Darstellung des

Restglieds Rn(x) nicht zeigen.Um zu zeigen, dass

lnx =∞∑k=1

(−1)k+1

k(x− 1)k

fur alle x ∈ (0, 2] gilt, kann man ahnlich wie bei der Reihe des Arcus Tangensvorgehen. Durch die Reihe auf der rechten Seite wird eine differenzierbare Funktiong : (0, 2)→ R mit

g′(x) =∞∑k=0

(−1)k(x− 1)k =1

1− (1− x)=

1

x

definiert, und damit folgt g′(x) = ln′ x und wegen g(1) = 0 = ln 1 auch g(x) = ln xfur x ∈ (0, 2).

Beispiel 2. Sei α ∈ R und

f : R+ → R, f(x) = xα.

Wir betrachten wieder die Taylorentwicklung um x0 = 1. Durch vollstandige In-duktion sieht man leicht, dass

f (k)(x) = α(α− 1)(α− 2) · . . . · (α− k + 1)xα−k

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110 4 DIFFERENZIERBARKEIT

gilt. Mit (α

k

):=

α(α− 1)(α− 2) · . . . · (α− k + 1)

k!

folgtf (k)(x)

k!=

k

)xα−k.

(Man uberzeugt sich leicht, dass obige Definition von(αk

)fur α ∈ Nmit der Definiti-

on der Binomialkoeffizienten aus §1.5 ubereinstimmt.) Wir erhalten die Taylorreihe∞∑k=0

k

)(x− 1)k.

Wegen

limk→∞

∣∣∣∣∣∣∣∣(α

k

)(

α

k + 1

)∣∣∣∣∣∣∣∣ = lim

k→∞

∣∣∣∣ k + 1

α− k

∣∣∣∣ = limk→∞

k + 1

k − α= 1

und Satz 2.8.2 ist der Konvergenzradius dieser Reihe 1.Fur α = 1

2und α = −1

2sind einige Taylorpolynome in Abbildung 28 dargestellt.

1 2 3

1

2

1 2 3

1

2

Abbildung 28: Taylorpolynome vom Grad 2 und 3 fur√x und 1/

√x.

Um zu zeigen, dass die Taylorreihe fur x ∈ (1, 2) gegen f(x) = xα konvergiert,betrachten wir das Restglied Rn. Es existiert wieder ξ ∈ (1, x) mit

|Rn(x)| =∣∣∣∣f (n+1)(ξ)

(n+ 1)!(x− 1)n+1

∣∣∣∣ =

∣∣∣∣( α

n+ 1

)ξα−n−1 (x− 1)n+1

∣∣∣∣ .Da ξ > 1 folgt

|Rn(x)| ≤∣∣∣∣(αk

)(x− 1)k

∣∣∣∣falls n ≥ α−1. Da die Taylorreihe den Konvergenzradius 1 hat, folgt Rn(x)→ 0 furn→∞. Das gleiche Argument funktioniert auch wieder fur x ∈

(12, 2). Tatsachlich

gilt

xα =∞∑k=0

k

)(x− 1)k

aber sogar fur alle x ∈ (0, 2).

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4.4 Folgen und Reihen differenzierbarer Funktionen 111

Literatur

Es gibt sehr viele Bucher zu den in dieser Vorlesung behandelten Themen. Die imfolgenden genannten Titel bilden lediglich eine kleine Auswahl:

• Herbert Amann und Joachim Escher, Analysis I. Birkhauser, Basel, 2010 (3.Auflage, 2. Nachdruck); im CAU-Netz als E-Book verfugbar:http://dx.doi.org/10.1007/978-3-7643-7756-4

• Ehrhard Behrends, Analysis Band 1. Springer Spektrum, Wiesbaden, 2015(6., erweiterte Auflage); im CAU-Netz als E-Book verfugbar:http://dx.doi.org/10.1007/978-3-658-07123-3

• Otto Forster, Analysis 1. Springer Spektrum, Wiesbaden, 2016 (12., verbes-serte Auflage); im CAU-Netz als E-Book verfugbar:http://dx.doi.org/10.1007/978-3-658-11545-6

• Harro Heuser, Lehrbuch der Analysis. Teil 1. Vieweg + Teubner, Wiesbaden,2009 (17. aktualisierte Auflage).

• Stefan Hildebrandt, Analysis I. Springer, Berlin, 2006; im CAU-Netz als E-Book verfugbar:http://dx.doi.org/10.1007/3-540-29285-3

• Konrad Konigsberger, Analysis 1. Springer, Berlin, 2004 (6. Auflage).

• Walter Rudin, Analysis. Oldenbourg, Munchen, 2009 (4., verbesserte Auflage;Ubersetzung von Principles of Mathematical Analysis).

• Wolfgang Walter, Analysis 1. Springer, Berlin, 2004 (7. Auflage).