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9.1. Flächeninhalte Wie man durch Annäherung mittels Treppenfunktionen sofort sieht, hat eine durch zwei stückweise stetige Funktionen ( ) c x von unten und ( ) d x von oben begrenzte Fläche in der x-y -Ebene den Flächeninhalt = F d a b - ( ) d x ( ) c x x . Dabei ist darauf zu achten, daß ( ) c x wirklich stets unterhalb von ( ) d x verläuft. Manchmal muß man das Gesamtgebiet in Teile zerlegen, um eine solche Darstellung zu ermöglichen. Formal ist der (stets positiv gerechnete) Flächeninhalt zwischen zwei Kurven, für die nicht durchwegs ( ) c x ( ) d x vorausgesetzt wird, gegeben durch = F d a b - ( ) d x ( ) c x x . Für diese Berechnung hat man die Schnittpunkte der beiden begrenzenden Kurven zu bestimmen. Beispiel 1: Zwischen Sinus und Cosinus Wir betrachten die Fläche zwischen den Kurven = ( ) c x ( ) sin x und = ( ) d x + ( ) cos x 1. Die Kurven schneiden sich offenbar an den Stellen = x ( ) + 2 n 1 π und = x + 2 n 1 2 π , wobei n alle ganzen Zahlen durchläuft. Wir greifen das Intervall von bis π 2 heraus. Für die Fläche zwischen den beiden Kurven in diesem Bereich ergibt sich:

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9.1. FlächeninhalteWie man durch Annäherung mittels Treppenfunktionen sofort sieht, hat eine durch zwei stückweise stetige Funktionen ( )c x von unten und ( )d x von oben begrenzte Fläche in der x-y-Ebene den Flächeninhalt

= F d⌠⌡

a

b

− ( )d x ( )c x x .

Dabei ist darauf zu achten, daß ( )c x wirklich stets unterhalb von ( )d x verläuft. Manchmal muß man das Gesamtgebiet in Teile zerlegen, um eine solche Darstellung zu ermöglichen.

Formal ist der (stets positiv gerechnete) Flächeninhalt zwischen zwei Kurven, für die nicht durchwegs ≤ ( )c x ( )d x vorausgesetzt wird, gegeben durch

= F d⌠⌡

a

b

− ( )d x ( )c x x .

Für diese Berechnung hat man die Schnittpunkte der beiden begrenzenden Kurven zu bestimmen. Beispiel 1: Zwischen Sinus und Cosinus

Wir betrachten die Fläche zwischen den Kurven = ( )c x ( )sin x und = ( )d x + ( )cos x 1.

Die Kurven schneiden sich offenbar an den Stellen

= x ( ) + 2 n 1 π und = x

+ 2 n

1

2π ,

wobei n alle ganzen Zahlen durchläuft. Wir greifen das Intervall von −π bis π2

heraus.

Für die Fläche zwischen den beiden Kurven in diesem Bereich ergibt sich:

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= d⌠⌡ + − ( )cos x 1 ( )sin x x + + ( )sin x x ( )cos x

= d⌠⌡

−π

0.5π

+ − ( )cos x 1 ( )sin x x + 3 π2

2

Feuerzeug mit flächengleicher Flamme Wie man im Falle stückweise definierter Funktionen vorgeht, zeigen wir an

Beispiel 2: Dein ist mein ganzes Herz

aber es ist begrenzt von der oberen Randkurve

− − x x2 für x zwischen -1 und 0 , − x x2 für x zwischen 0 und 1 , und der unteren Randkurve

− − 1

+ x 1

2

2

für x zwischen -1 und 0 , − − 1

− x 1

2

2

für x zwischen 0 und 1 .

Kästchen- und Streifenmethode zur Berechnung des Flächeninhalts sind hier fehl am Platz: sie sind nicht nur sehr aufwendig, sondern liefern auch nach beliebig vielen Schritten nie den exakten Wert.

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Viele eleganter (und exakt) ist die Integration mit Hilfe von Stammfunktionen: Unter Beachtung

der Achsensymmetrie liefert die Substitution = t − 1 2x bzw. = x − 1 t

2 für den oberen Teil:

2 d⌠

0

1

− x x2 x = 1

2d

−1

1

− 1 t2 t = d⌠

0

1

− 1 t2 t = 1

2 [ ] + t − 1 t2 ( )arcsin t

0

1.0

= π4

.

Daß dieser Wert herauskommen muß, ist auch geometrisch klar: Die oberen beiden Halbkreise vom Radius 1/2 ergeben zusammen einen Kreis vom Flächeninhalt π/4 .

Den unteren Teil berechnen wir unter Ausnutzung der Symmetrie mit der Substitution = t + x 1

2 :

2 d

0

1

− 1( ) + x 1 2

4x = 4 d

.5

1

− 1 t2 t = 2[ ] + t − 1 t2 ( )arcsin t.5

1.0

= − 2 π3

3

2 .

Damit beträgt die gesamte Herzfläche

= + 2 d⌠

0

1

− x x2 x 2 d

0

1

− 1( ) + x 1 2

4x −

11 π12

3

2

Kegelschnittflächen

Erinnern wir uns, daß die allgemeine Kegelschnittgleichung die Nullstellenmenge eines Polynoms zweiten Grades in zwei Variablen beschreibt:

= + + + + + A x2 B x C E y2 F y G x y 0 .

Für den Spezialfall , , = E −1 = F 0 = G 0 führt das auf die Gleichung

= y + + A x2 B x C .

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Will man den Inhalt der von Kegelschnitten begrenzten Flächen ermitteln, muß man also u.a. Integrale der Form

d⌠

⌡ + + A x2 B x C x

auswerten, was im allgemeinen Fall auf ziemliche Monsterformeln führt (Formelsammlung konsultieren oder MAPLE fragen!) Wie wir jedoch aus der linearen Algebra wissen, kann man Kegelschnittgleichungen durch Transformation auf Normalformen soweit reduzieren, daß (neben Polynomen ersten Grades) nur noch die folgenden Spezialfälle eine Rolle spielen: Geometrisch ist

d⌠

0

b

− r2 x2 x = + b − r2 b2

2

r2

2

arcsin

b

r (1)

die Fläche von 0 bis b zwischen der x-Achse und einem Kreisbogen,

d⌠

0

b

+ r2 x2 x = + b + r2 b2

2

r2

2

arsinh

b

r (2)

die Fläche von 0 bis b zwischen der x-Achse und einem "waagerechten" Hyperbel-Ast,

d⌠

r

b

− x2 r2 x = − b − b2 r2

2

r2

2

arcosh

b

r (3)

die Fläche von r bis b zwischen der x-Achse und einem "senkrechten" Hyperbel-Ast.

Genauer handelt es sich um den Inhalt der von der waagerechten Geraden = y 0, der senkrechten Geraden = x b und der Kurve begrenzten jeweiligen Fläche. Die obigen Formeln prüft man einfach durch Differenzieren nach.

Im ersten Fall ist die Integrationsformel auch geometrisch leicht einzusehen: Die Fläche unter dem

Kreisbogen summiert sich aus der Fläche des Dreiecks mit Grundlinie b und Höhe − r2 b2 :

= ∆b − r2 b2

2

und der Fläche des Kreissektors mit Radius r und Öffnungswinkel

arcsin

b

r :

= Sr2

2

arcsin

b

r .

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Häufig findet man (z.B. in den Formeln (2) und (3)) die Ausdrücke

( )ln + x + x2 1 statt ( )arsinh x und ( )ln + x − x2 1 statt ( )arcoshx .

Wie kommt das? Für ≤ 1 x ergeben die elementaren Umformungen

= z ( )ln + x − x2 1 <=> = ez + x − x2 1 <=> = ( ) − ez x2

− x2 1

<=> = − + ( )ez2

2 x ez 1 0 <=> = x + ez e

( )−z

2 = ( )cosh z

die Gleichung

( )ln + x − x2 1 = ( )arcoshx ,

während die analoge Gleichung mit arsinh für alle reellen x gültig ist.

Selbstinverse Funktionen

Gerade Funktionen = ( )f x ( )f −x sind symmetrisch zur y-Achse und ungerade Funktionen = ( )f x − ( )f −x symmetrisch zum Ursprung. Hingegen ist jede Funktion f mit

= ( )f x y <==> = x ( )f y

symmetrisch zur Winkelhalbierenden des ersten Quadranten ( = x y). Solche Funktionen sind selbstinvers. Hier einige Beispiele: = ( )f x − r x (Gerade)

= ( )f xr

x (Hyperbel)

= ( )f x − r2 x2 (Kreis). Sektorflächen

die symmetrisch zur Winkelhalbierenden liegen, kann man für selbstinverse Funktionen sehr einfach auf ein gewöhnliches Integral zurückführen (wieder einmal eine Idee von Leibniz):

Aus der Zeichnung liest man durch Addition bzw. Subtraktion von je zwei kongruenten rechtwinkligen Dreiecken ab, daß die folgenden drei Flächen gleich groß sind:

die Sektorfläche mit den Ecken (0,0), ( ,a ( )f a ) und ( ,( )f a a) , die Fläche zwischen der Kurve, der x-Achse und den beiden Geraden = x a und = x ( )f a , die Fläche zwischen der Kurve, der y-Achse und den beiden Geraden = y a und = y ( )f a .

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Alle drei Flächeninhalte werden somit durch das folgende Integral beschrieben:

d⌠⌡

a

( )f a

( )f x x

Beispiel 3: Kreissektoren

Für den Sektor des Einheitskreises zwischen den positiven Winkeln α < π4

und − π2

α ergibt sich

fast ohne jede Rechnung die Fläche

− π4

α ,

da sich diese zur vollen Kreisfläche π wie der zugehörige Kreisbogen der Länge 2

π4

α zum

vollen Kreisumfang 2π verhält.

Dieser Flächeninhalt ist andererseits gleich dem Integral

d⌠

a

− 1 a2

− 1 x2 x mit = a ( )sin α =

cos −

π2

α ,

also

d⌠

a

− 1 a2

− 1 x2 x = − π4

( )arcsin a = − ( )arccosaπ4

.

Dieses Integral direkt auszurechnen, ist erheblich mühsamer.

Turbinensektoren

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Beispiel 4: Das Malteserkreuz und die Windmühlenflügel

oder woher der Area (co)sinus hyperbolicus seinen Namen hat.

Die Hyperbeln

= − x2 y2 r2

haben die Parameterdarstellung

= x r ( )cosh t , = y r ( )sinh t ,

die eine (aber nicht die einzige) Erklärung für den Namen (co)sinus hyberbolicus liefert.

Entsprechend haben die Hyperbeln

= − y2 x2 r2

die Parameterdarstellung

= x r ( )sinh t , = y r ( )cosh t .

Wir setzen zur Vereinfachung = r 1 und betrachten die Fläche, die vom jeweiligen Kurvenbogen und den beiden Vektoren (x,y) und (x,-y) der Hyperbel

= − x2 y2 1

bzw. den Vektoren (x,y) und (-x,y) der Hyperbel

= − y2 x2 1

begrenzt wird.

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Das Areal, d.h. der Flächeninhalt des rechten "Flügels" beträgt (mit = y − x2 1 ):

− x y 2 d⌠

1

x

− x2 1 x = − + x y x − x2 1 ( )ln + x − x2 1 = ( )ln + x y .

Aus Symmetriegründen hat jeder der vier Flügel dieses Areal.

Der Ortsvektor überstreicht auf dem Weg zwischen den Punkten (x,y) und (x,-y) der Hyperbel

= − x2 y2 1 also die Fläche = F ( )ln + x y = ( )arcoshx = ( )arsinh y , wie Leibniz bereits um 1670 herausgefunden hat. Lassen wir die Windmühlenflügel (mit eingebogenem Hyperbelrand) rotieren, so ändert sich dabei ihr Flächeninhalt natürlich nicht.

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Und nun die ganze Windmühle:

Die Gesamtfläche der vier Flügel ist stets ebenso groß wie die Frontfläche der Mühle.

Don QuiMathes Kampf mit den Windmühlenflügeln

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Die allgemeine Leibnizsche Sektorformel

für die Fläche, die von einem variablen Strahl mit Radius ( )r φ (abhängig vom Drehwinkel φ) überstrichen wird, wenn φ von α bis β läuft, erhält man durch Zusammensetzen von immer schmaler werdenden Dreiecken. Sie haben den "infinitesimalen Flächeninhalt"

( )r φ 2 d φ

2 .

Die Gesamtfläche ist dann

= F d

α

β

( )r φ 2

2φ .

Beispiel 5: Die Fläche einer logarithmischen Spirale

= ( )r φ cφ

bei einer Umdrehung:

Unbestimmte Integration ergibt

= d

c( )2 φ

c( )2 φ

4 ( )ln c

und damit die Gesamtfläche

= d

α

+ α 2 π

c( )2 φ

c( )2 α

( ) − c( )4 π

1

4 ( )ln c .

Sie ist also proportional zum Quadrat der Parameterdarstellung.