Meeresrauschen vor St. Michael · 2019-08-13 · mit Shorts und Muskelshirt nie-dergelassen und...

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26 drehscheibe IDEENBöRSE Leute DREHBUCH Zeitung Kölner Stadt-Anzeiger Auflage 301.592 Kontakt Christian Löer Telefon 0221-224 23 74 E-Mail [email protected] Idee Die Redaktion des Kölner Stadt-Anzeigers wollte eine Serie ins Leben rufen, in der man ganz normalen Menschen nahekommt. Aus der Idee ent- stand die „Momentaufnahme“. „Sie nimmt den Le- ser mit zu einem Ort und seinen Menschen und er- zählt deren Geschichten“, erklärt Christian Löer, Leiter der Stadteilredak- tion. Herausgekommen ist eine ganz neue Textform: Mini-Reportagen, deren roter Faden die Gleich- zeitigkeit ist. Den Anfang machte eine „Momentauf- nahme“ von einem Platz in der Innenstadt. Recherche „Orte auszusuchen ist nicht schwierig“, sagt Löer. Die „Momentaufnahme“ funktioniere am Flughafen genauso wie auf einem kleinen Platz mit Straßenca- fés. „Unsere Fotografin hat die schwierige Aufgabe, sich eine Position zu suchen, von der aus sie das Überblicksfoto machen kann.“ Als eine „Moment- aufnahme“ vom Training des 1. FC Köln gemacht wurde, musste sie zum Beispiel auf einen Flutlicht- mast steigen. Umsetzung Die Serie erscheint an jedem zweiten Dienstag. Grundsätzlich sind ein Autor und eine Fotografin unterwegs, zu besonderen Anläs- sen wie an Karneval auch mehrere. Probleme Die Geschichten hingen vom Zufall ab, meint Löer. „Manchmal stellen wir allerdings im Vorfeld sicher, dass wir Hauptpersonen eines Or- tes tatsächlich auch treffen“, räumt der Redakteur ein. Beim 1. FC Köln etwa haben die Redakteure vorher nachgefragt, ob an dem Tag ein Training stattfindet und sie anschließend mit Spielern spre- chen können. „In der Karnevals-Ausgabe haben wir Interviewpartnern gelbe Luftballons in die Hand gegeben, um sie später unter den Zigtausenden auf dem Foto auch wiederzufinden“, sagt Löer. Reaktionen Die Stadtteilredaktion hat für die „Momentaufnahme“ den European Newspaper Award gewonnen. drehscheibeTIPP Facebook-Umfrage: Leser berichten von ihren schönsten Zufallsmomenten. Christian Löer ist Leiter der Stadt- teilredaktion des Kölner Stadt-Anzei- gers. AUS DEM KÖLNER STADT-ANZEIGER VOM 18. JUNI 2013 Der Zufall entscheidet FOTOSTORY Die Redaktion stellt Menschen vor, die auf einem zufälligen Schnappschuss abgebildet sind.

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zeitung Kölner stadt-Anzeiger auflage 301.592 Kontakt Christian Löer telefon 0221-224 23 74 e-Mail [email protected]

idee Die Redaktion des Kölner Stadt-Anzeigers wollte eine Serie ins Leben rufen, in der man ganz normalen Menschen nahekommt. Aus der Idee ent-stand die „Momentaufnahme“. „Sie nimmt den Le-ser mit zu einem Ort und seinen Menschen und er-

zählt deren Geschichten“, erklärt Christian Löer, Leiter der Stadteilredak-tion. Herausgekommen ist eine ganz neue Textform: Mini-Reportagen, deren roter Faden die Gleich-zeitigkeit ist. Den Anfang machte eine „Momentauf-nahme“ von einem Platz in der Innenstadt.recherche „Orte auszusuchen ist nicht schwierig“, sagt Löer. Die „Momentaufnahme“ funktioniere am Flughafen

genauso wie auf einem kleinen Platz mit Straßenca-fés. „Unsere Fotografin hat die schwierige Aufgabe, sich eine Position zu suchen, von der aus sie das Überblicksfoto machen kann.“ Als eine „Moment-aufnahme“ vom Training des 1. FC Köln gemacht wurde, musste sie zum Beispiel auf einen Flutlicht-mast steigen. umsetzung Die Serie erscheint an jedem zweiten Dienstag. Grundsätzlich sind ein Autor und eine Fotografin unterwegs, zu besonderen Anläs-sen wie an Karneval auch mehrere. Probleme Die Geschichten hingen vom Zufall ab, meint Löer. „Manchmal stellen wir allerdings im Vorfeld sicher, dass wir Hauptpersonen eines Or-tes tatsächlich auch treffen“, räumt der Redakteur ein. Beim 1. FC Köln etwa haben die Redakteure vorher nachgefragt, ob an dem Tag ein Training stattfindet und sie anschließend mit Spielern spre-chen können. „In der Karnevals-Ausgabe haben wir Interview partnern gelbe Luftballons in die Hand gegeben, um sie später unter den Zigtausenden auf dem Foto auch wiederzufinden“, sagt Löer.reaktionen Die Stadtteilredaktion hat für die „Momentaufnahme“ den European Newspaper Award gewonnen.

drehscheibetiPPFacebook-Umfrage: Leser berichten von ihren schönsten Zufallsmomenten.

Christian Löer ist

Leiter der Stadt-

teilredaktion des

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AUs DEM KölNer StAdt-ANZeiger VoM 18. JUni 2013

der zufall entscheidetFotostoRy Die Redaktion stellt Menschen vor, die auf einem zufälligen schnappschuss abgebildet sind.

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32 QUER DURCH KÖLN Dienstag, 18. Juni 2013 Kölner Stadt-Anzeiger

Meeresrauschen vor St. MichaelVON ULI KREIKEBAUM (TEXT)UND MARTINA GOYERT (BILD)

11.05 UHR Vor der Terrasse desCafés Hallmackenreuther mas-siert ein großer Mann mit Son-nenbrille einem kleinen Mannmit Sonnenbrille den Rücken.Der Massierte verzieht das Ge-sicht permanent zu einer Grimas-se. Jetzt schreit er: „Nicht sofest!“ Der Große lacht. Die meis-ten Stimmen der Menschen undVögel werden vom Lärm einerKehrmaschine geschluckt, dievor der Kirche St. Michael dieÜberbleibsel der Nacht beseitigt.

Die Speisekartenhalter der Ti-sche sind nummeriert. AnTisch 15 sitzen zwei ältere Paare,die nicht bemerkt zu haben schei-nen, dass es warm ist. Alle viertragen Wollpullover und Jacken.An den anderen Tischen nur Leu-te in T-Shirts oder Tops. AnTisch 7 beugt sich eine jungeDunkelhäutige über ihr iPhone.Sie isst Früchtemüsli und wischtmit dem manikürten Zeigefingerübers Display. Zwischendurchguckt sie in einen Ordner. Für ei-ne Minute bleibt ein Joghurt-klecks unter ihrem Mundwinkelhaften. Dann wischt sie ihn weg,ohne vom Handy aufzuschauen.

11.24 UHR Eine Taube läuft mitwippendem Köpfchen übersPflaster und zertritt Platanenblät-ter. Sie pickt eine Zigarettenkip-pe auf und spuckt sie wieder aus.Die Taube geht eiernd, sie istdeutlich zu dick. Die Taube istdas einzige Wesen auf dem Platz,das zu dick ist. Die jungen Men-

schen an den Tischen sind alleschlank, ein paar tragen Tätowie-rungen auf den Armen oder imNacken, sie sehen rosig aus undsorgenfrei. Wahrscheinlich sindauch die Amseln hier sorgenfrei-er als in Chorweiler oder Buch-heim, und die Tauben dicker.

11.28 UHR Ein paar Meter hinterder Taube läuft ein Mädchen. Sieheißt Cosima, ist 16 Monate altund zelebriert einen Tag, an densie sich später nicht erinnernwird und der doch ein Meilen-stein ist: Sie läuft den ersten Tagohne Hand! Cosima hebt einenReissdorf-Kronkorken auf undprobiert, wie er schmeckt. Erschmeckt nicht, sie spuckt ihnwieder aus. Ihre Mutter Arianehat das nicht gesehen. Sonst siehtsie alles, was Cosima macht. Ari-ane und ihr Mann haben bisherkeinen Kindergartenplatz für Co-sima gefunden, „deswegen sindwir oft hier“. Cosima bekommtgleich Mittagessen, der Kochbringt es persönlich. „Reishähn-chen mit Gemüse gut durch“.

11.36 UHR Vor dem Essen läuftCosima zu zwei Frauen, die Stiftein der Hand haben und ein Mäd-chen zeichnen. Tamara Flowillund Kane Kampmann machenTuschezeichnungen von KanesTochter Maria, die sich eigentlichhier nur mit ihrer Freundin Lisatreffen wollte, um in die Stadt zugehen. Cosima nimmt sich einenBleistift und kritzelt in KanesBlock, Kane macht das nichtsaus. Kane undTamara wollen denganzen Sommer über malen und

dann eine Ausstellung mit demNamen „Summer“ oder „Sum-mertime“ machen. Die beiden sa-gen, sie hätten mit ihren Bilderngenug Geld verdient, „ich habeauch Fälschungen gemacht, alsAuftrag. Von Picasso, Gauguinund den alten Meistern“, sagt Ka-ne. „Ich habe viel die Impressio-nisten nachgemalt, Monet undso, und viel für Film und Fernse-hen“, sagt Tamara. Beide sagen,sie könnten jetzt viel reisen undmachen, was sie wollen.

Wahnsinn: Künstler, die vielverdient haben und machen kön-nen, was sie wollen. Die vielenanderen Künstler, die hier abendsimmer abhängen, könnten Kaneund Tamara mal fragen, wie siedas gemacht haben. Aber viel-leicht sind hier alle Künstlerreich, weil sie hip sind und wis-sen, wie das geht: kreativ sein,Kohle machen und lässig mitLaptop im Café sitzen.

11.52 UHR Kane undTamara kön-nen gleichzeitig zeichnen und re-den. Im Sommer fahren sie nachItalien und Spanien, um dort wei-ter Sommerbilder zu malen.„Aber am Brüsseler Platz ist esein bisschen wie im Süden, des-wegen bin ich oft hier“, sagt Ka-ne. Tamara will jetzt doch ihrenBleistift von Cosima wiederha-ben. Die Frauen wechseln vonder Mauer an einen Tisch. Dieweißen Eisenstühle haben rot-,grün und blau-weiß gestreiftePlastiküberzüge, wie im Süden.Die Künstlerinnen beobachtenverstohlen die Leute und zeich-nen sie. Dabei unterhalten sie

sich und trinken Kaffee.

11.59 UHR Die große, hübscheKellnerin, die gerade bei derDunkelhäutigen kassiert, trägt ei-nen kurzen Rock, auf dem Ober-schenkel ist eine Schmetterlings-tätowierung zu sehen. Die zweiteKellnerin ist auch groß undhübsch. Sie hat ein weites weißesT-Shirt mit V-Ausschnitt an.Wenn sie die Bestellung auf-nimmt und sich ein bisschenbückt, kann man relativ viel se-hen. Von den zwei Studenten, diegerade zahlen, guckt der eine di-rekt hin und lächelt, der andereguckt direkt weg und lächelt. DieKellnerin lächelt auch.

12.02 UHR AnTisch 5 unterhaltensich Clara und Fabian. Sie studie-ren Philosophie und haben sicherst kürzlich kennengelernt. Ander Uni läuft gerade ein Work-shop zur Verbesserung des Studi-ums. Clara und Fabian wollensich lieber besser kennenlernen.

12.16 UHR Sieben Tische sind be-setzt, die Kehrmaschine dröhntjetzt seit über einer Stunde überden Platz. Es stört niemanden.Vielleicht denken die Tiefenent-spannten, der Maschinenlärm seiMeeresrauschen. An Tisch 13blättert ein Pärchen in Zeitschrif-ten. Stefan (28), Student derFahrzeugtechnik, und Emely(20), die noch nicht weiß, was siemachen soll, sind seit einem Jahrein Paar. Sie waren bis gesternbei einem Musik-Festival in Ber-lin und überlegen, ob sie nachBerlin ziehen sollen. Sie haben

Couchsurfing gemacht – Leutestellen sich dabei gegenseitigkostenlos Wohnungen zur Verfü-gung – und hatten ein Zimmer fürsich. „Berlin ist cool, auch schö-ner, aber Köln ist persönlicherund netter“, findet Emely, die ausKöln kommt. Findet Stefan ausMünchen auch. Stefan liest dieZeitschrift Capital, Emely denDraußenseiter. Die Frage nachdem Befinden hätte man sichsparen können. Berlin war super,Wetter ist super. Sie sind verliebt.

12.19 UHR Auch der Mann anTisch 9, der in dem Buch „Die le-bendige Gemeinde“ liest, siehtentspannt aus. Als ihm der Kaf-feelöffel auf den Boden fällt, fin-det er ihn nicht wieder. Der Löf-fel ist fast bis zu Tisch 8 geflo-gen! Marcel ist 34, hat drei Kin-der und macht eine Ausbildungzum Pastor. Er gehört zur frei-christlichen Gemeinde in Porz,sein Leben hat er Jesus gewid-met. „Seit Jesus mich gerettethat, geht es mir gut“, sagt er. WieJesus das gemacht habe? „Jesushat meine Leiden bezahlt und fürmeine Schuld gebüßt“, sagt Mar-cel. „Durch meinen Glaubenwird das, was Jesus gemacht hat,in mir wahr.“ Vom Verkäufer derObdachlosenzeitung kauft außerEmely keiner was. Der Zeitungs-verkäufer huscht genauso unauf-fällig wieder weg wie der jungeFlaschensammler mit der Ni-ckelbrille, der nichts gefundenhat in den Mülltonnen.

12.26 UHR Neben Marcel hat sichan Tisch 11 ein sportlicher Kerl

mit Shorts und Muskelshirt nie-dergelassen und sein Laptop auf-geklappt. Lars ist 21 und An-waltsgehilfe. Er raucht eine Ziga-rette und schreibt eine Stellung-nahme für seine Kanzlei. „Wenndas Wetter gut ist, arbeite ichmanchmal draußen, das Büro istgleich da vorne“, sagt er. ZweiMeter neben ihm stakst die dickeTaube und hinterlässt einen Flat-schen auf dem Pflaster. Marcelsieht das nicht, er sieht auchnicht, dass Tamara und Kane ihnzeichnen. Den Ausschnitt derhübschen Kellnerin sieht er beimBezahlen schon. Lächelnd gehter zurück ins Büro.

90 Minuten Köln

Wer macht das nicht gern: hin-setzen, Leute beobachten, Ge-schichten spinnen. FotografinMartina Goyert und AutorUli Kreikebaum gucken nichtnur. Sie hören zu, schreibenauf, fragen nach. Das Spieldauert 90 Minuten, irgendwoin Köln. Kein Moment kommtwieder, jeder lässt sich festhal-ten. Das ist die Idee hinter derSerie „Momentaufnahme“, dieregelmäßig auf den Stadtteil-Seiten erscheint.

d-skn/s-stadtt/SKN04V - 10.07.2013 12:07:54 - christian.loeerCyan Magenta Gelb Schwarz

MOMENTAUFNAHME: Brüsseler Platz, 11.05 Uhr – 12.35 Uhr

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Tamara Flowill und Kane Kamp-mann machen Tuschezeich-nungen von Kanes Tochter Ma-ria und deren Freundin Lisa. DieFrauen malen für eine Sommer-bild-Ausstellung. Sie haben mitihren Bildern viel Geld verdient.

Cosima (16 Monate) läuft heuteden ersten Tag ohne Hand. Siehebt gleich einen Kronkorkenauf, steckt ihn in den Mund undspuckt ihn wieder aus. DerKoch bringt ihr gematschtesReishähnchen mit Gemüse.

Marcel (34) liest im Buch „Diefreie Gemeinde“, so bereitet ersich auf ein Seminar vor. Marcelist angehender Pfarrer. Er sagt,Jesus habe ihn gerettet. SeineBeziehung zu Jesus sei dieGrundlage seines Lebens.

Clara (25) und Fabian (23)studieren zusammen Philoso-phie. In der Uni steht heute einWorkshop zur Verbesserungdes Studiums an. Sie trinkenderweil lieber Kaffee, um sichbesser kennenzulernen.

Anwaltsgehilfe Lars (21)schreibt eine Stellungnahmefür seine Kanzlei. Er trinkteinen Latte Macchiato undraucht eine Zigarette. Bei Son-ne arbeitet er oft im Hallma-ckenreuther.