Metalle, die sich erinnern - Leibniz Universität Hannover · Metalle, die sich erinnern...

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30 LEIBNIZ UNIVERSITÄT HANNOVER NEUE MATERIALIEN Metalle, die sich erinnern Formgedächtnislegierungen (FGL) sind Metalle, bei denen eine Verformung durch Erwärmung rückgängig gemacht werden kann, das heißt, sie »erinnern« sich scheinbar an ihre ursprüngliche Formgebung. Eine Wissenschaftlerin vom Institut für Werkstoffkunde erläutert die Funktionalität dieser Metalle, die aufgrund ihrer besonderen mechanischen Eigenschaften besonders für die Raumfahrt, die Automobil- industrie oder die Medizin- technik von Interesse sind. MIT FORMGEDÄCHTNIS IMMER IN DER RICHTIGEN FASSUNG Die Nachfrage nach innovati- ven Werkstoffkonzepten hat in den letzten Jahren stark zuge- nommen, da neue Werkstoffe eine Schlüsselstellung bei der Entwicklung darstellen. Diese Werkstoffe müssen sich vor allem auf das jeweilige An- wendungsgebiet hinsichtlich ihrer physikalischen und me- chanischen Eigenschaften an- passen lassen. Die so genann- ten Formgedächtnislegierun- gen besitzen die einzigartige Eigenschaft, sich wieder an ihre ursprüngliche Gestalt nach einer Verformung zu »er- innern«, das heißt durch Wär- mezufuhr kann die ursprüng- liche Form wiederhergestellt werden. Diese Eigenschaft macht Formgedächtnislegie- rungen für eine ganze Reihe von Anwendungsgebieten besonders interessant – von der Raumfahrt, über die Auto- mobilindustrie bis hin zur Me- dizintechnik. So wird zum Beispiel die Formgedächtnisle- gierung Nitinol zur Herstel- lung von Stents – Gefäßstüt- zen – in der Biomedizintech- nik verwendet. Bei den früher angewandten Verfahren wur- de der Stent aus einer konven- tionellen Legierung gefertigt und durch einen Ballon an die Gefäßwand gepresst. Stents aus Nitinol entfalten sich unter Einfluss der körpereigenen Wärme selbst und ohne weite- re Eingriffe auf die gewünsch- te Größe, und erweitern so das verengte Blutgefäß. Ein weiteres Anwendungs- beispiel für Formgedächtnis- materialien findet sich in der Raumfahrt. So können zum Beispiel durch Widerstand- erwärmung die Sonnensegel von Raumsonden im Welt- raum entfaltet werden, ohne dass hierfür aufwändige und schwere Antriebsmotoren not- wendig sind. Die bisher verwendeten Form- gedächtnislegierungen können sich an ihre Form und Eigen- schaften jedoch nur bei Tem- peraturen unterhalb von 80 °C »erinnern«, so dass diese nicht bei höheren Temperaturen eingesetzt werden können. Die Anwendung von Form- gedächtnislegierungen im in- dustriell interessanten Einsatz- bereich mit erhöhten Tempe- raturen stellt eine besondere Herausforderung für die Werkstofftechnik dar. Hoch- temperatur-Formgedächtnis- legierungen, die auch bei er- höhten Temperaturen zuver- lässig einsetzbar sind, besitzen ein enormes Anwendungs- potenzial für unterschiedliche Anwendungen vom Auto- mobilbau bis zur Luftfahrt. So könnten Hochtemperatur- Formgedächtnislegierungen beispielsweise eingesetzt wer- den, um Turbinen und andere Verbrennungsmaschinen ener- 1a 1c 1b

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L E I B N I Z U N I V E R S I T Ä T H A N N O V E RN E U E M A T E R I A L I E N

Metalle, die sich erinnern

Formgedächtnislegierungen

(FGL) sind Metalle,

bei denen eine Verformung

durch Erwärmung rückgängig

gemacht werden kann,

das heißt, sie »erinnern« sich

scheinbar an ihre

ursprüngliche Formgebung.

Eine Wissenschaftlerin vom

Institut für Werkstoffkunde

erläutert die Funktionalität

dieser Metalle, die aufgrund

ihrer besonderen mechanischen

Eigenschaften besonders für

die Raumfahrt, die Automobil-

industrie oder die Medizin-

technik von Interesse sind.

MIT FORMGEDÄCHTNIS IMMER IN DER RICHTIGEN FASSUNG

Die Nachfrage nach innovati-ven Werkstoffkonzepten hat in den letzten Jahren stark zuge-nommen, da neue Werkstoffe eine Schlüsselstellung bei der Entwicklung darstellen. Diese Werkstoffe müssen sich vor allem auf das jeweilige An-wendungsgebiet hinsichtlich ihrer physikalischen und me-chanischen Eigenschaften an-passen lassen. Die so genann-ten Formgedächtnislegierun-gen besitzen die einzigartige Eigenschaft, sich wieder an ihre ursprüngliche Gestalt nach einer Verformung zu »er-innern«, das heißt durch Wär-mezufuhr kann die ursprüng-liche Form wiederhergestellt werden. Diese Eigenschaft macht Formgedächtnislegie-rungen für eine ganze Reihe von Anwendungsgebieten besonders interessant – von der Raumfahrt, über die Auto-mobilindustrie bis hin zur Me-dizintechnik. So wird zum

Beispiel die Formgedächtnisle-gierung Nitinol zur Herstel-lung von Stents – Gefäßstüt-zen – in der Biomedizintech-nik verwendet. Bei den früher angewandten Verfahren wur-de der Stent aus einer konven-tionellen Legierung gefertigt und durch einen Ballon an die Gefäßwand gepresst. Stents aus Nitinol entfalten sich unter Einfluss der körpereigenen Wärme selbst und ohne weite-re Eingriffe auf die gewünsch-te Größe, und erweitern so das verengte Blutgefäß.

Ein weiteres Anwendungs-beispiel für Formgedächtnis-materialien findet sich in der Raumfahrt. So können zum Beispiel durch Widerstand-erwärmung die Sonnensegel von Raumsonden im Welt-raum entfaltet werden, ohne dass hierfür aufwändige und schwere Antriebsmotoren not-wendig sind.

Die bisher verwendeten Form-gedächtnislegierungen können sich an ihre Form und Eigen-schaften jedoch nur bei Tem-peraturen unterhalb von 80 °C »erinnern«, so dass diese nicht bei höheren Temperaturen eingesetzt werden können. Die Anwendung von Form-gedächtnislegierungen im in-dustriell interessanten Einsatz-bereich mit erhöhten Tempe-raturen stellt eine besondere Herausforderung für die Werkstofftechnik dar. Hoch-temperatur-Formgedächtnis-legierungen, die auch bei er-höhten Temperaturen zuver-lässig einsetzbar sind, besitzen ein enormes Anwendungs-potenzial für unterschiedliche Anwendungen vom Auto-mobilbau bis zur Luftfahrt. So könnten Hochtemperatur-Formgedächtnislegierungen beispielsweise eingesetzt wer-den, um Turbinen und andere Verbrennungsmaschinen ener-

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Abbildung 1Stents aus einer NiTi-Formge-dächtnislegierung, die sich infolge des Einflusses der Körperwärme nach dem Einsetzen selbständig entfaltenQuellen: a) picture-alliance/dpa/dpa-web; b) picture-alliance/dpa; c) eigene Darstellung

Abbildung 2a) Schematische Darstellung des Entfaltungsmechanismus eines Sonnensegels durch die Anwen-dung einer Formgedächtnislegie-rung; b) entfaltetes Sonnensegel im WeltraumQuellen: a) Eigene Darstellung; b) picture-alliance/dpa

getisch noch effizienter zu gestalten, oder um Vibrationen in technischen Anlagen zu re du zieren und damit nicht nur Geräuschemissionen zu unterdrücken, sondern auch die Lebensdauer der Bauteile wesentlich zu verlängern.

Die bisher verfügbaren Legie-rungen weisen einen Edelme-tallanteil von etwa 30 Prozent auf und sind damit für die breite industrielle Anwen-dung nicht nutzbar. In der Forschergruppe »Hochtem-peratur-Formgedächtnis-legierungen – von den Grund-lagen zur Anwendung« wer-den unter der Leitung von Professor Hans Jürgen Maier, der seit Oktober 2012 Leiter des Instituts für Werkstoff-kunde am Produk tionstech-nischen Zentrum (PZH) ist, neue Hoch tempera tur-Form-gedächtniswerkstoffe er-forscht, die keinen Edelmetall-anteil aufweisen. Die Heraus-forderung hierbei ist, die

Mikrostruktur in diesen Legie-rungen so einzustellen, dass die besonderen Eigenschaften bei hohen Temperaturen über lange Zeiten und viele Belas-tungszyklen erhalten bleibt.

Das »Erinnerungsvermögen« der Formgedächtnislegierun-

gen beruht auf einer tempera-turabhängigen Umwandlung des Kristallgitters. Die meisten Metalle besitzen bis zu ihrem Schmelzpunkt dieselbe Kris-tallstruktur. Die Formgedächt-nislegierungen weisen jedoch zwei unterschiedliche Struk-turen (Phasen) auf, die der Werkstoff je nach Temperatur annimmt: die Hochtempera-turphase Austenit und Nieder-temperaturphase Martensit. Die Strukturumwandlung kann durch eine Temperatur-änderung oder auch durch mechanische Spannungen her-beigeführt werden. Es lassen sich daher insgesamt drei Formgedächtniseffekte unter-scheiden: der Einwegeffekt (EWE), der intrinsische Zwei-wegeffekt (ZWE) und die Pseudoelastizität (PE). Abbil-dung 3 zeigt schematisch die drei Formgedächtniseffekte. Der Einwegeffekt, der auch bei den Sonnensegeln zum Ein-satz kommt, ist in Abbildung 3a illustriert. Ein Werkstück

mit thermischem Erinnerungs-vermögen, in der Abbildung als Büroklammer dargestellt, wird in der austenitischen Phase hergestellt und dann abgekühlt. Hierbei wandelt sich der Werkstoff in verzwil-lingten Martensit um, ohne seine Form zu ändern. Die

an schließende mechanische Verformung erfolgt durch Ver-schiebung der Zwillingsgren-zen. Erwärmt man den Werk-stoff, wandelt er sich in Auste-nit um und das Bauteil nimmt die ursprüngliche Form wie-der an. Abbildung 3b stellt die Pseudoelastizität dar. Hierbei wird das Bauteil im austeniti-schen Zustand, dass heißt bei hoher Temperatur, verformt. Der pseudoelastische Effekt bedarf daher keiner Tempera-turänderung und der Werk-stoff kehrt selbst nach starken Verformungen bei Entlastung wieder in den Ausgangszu-stand zurück. Dieser Effekt wird zum Beispiel in Brillen-gestellen ausgenutzt. Ein sol-ches Brillengestell hat unter anderem für Kinder und beim Sport einen hohen Gebrauchs-wert, denn es wird dank der Pseudo elastizität praktisch »unzerstörbar«.

Beim intrinsischen Zweiweg-effekt, der in Abbildung 3c

zu sehen ist, ändert der Werk-stoff seine Form ausschließlich durch die Temperaturverän-derung. Die Formänderung resultiert aus gezielt einge-brachten inneren Spannungen, die beim so genannten »Trainieren« der Legierung ent stehen.

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Für die Anwendung der Bau-teile ist wichtig, dass die Pha-senumwandlungstemperatu-ren der Formgedächtnislegie-rungen maßgeblich durch die Legierungszusammensetzung und die Mikrostruktur be-stimmt werden. Bei hohen Temperaturen können im Werk stoff jedoch Diffusions-vorgänge ablaufen, die die Mikrostruktur und damit auch die Eigenschaften der Legie-rungen im Laufe der Zeit verändern. Dadurch können auch die Hochtemperatur-FGL ihre speziellen Eigenschaften bei zyklisch thermischer und/oder mechanischer Beanspru-chung verlieren. Für Bauteile aus diesen Werkstoffen be-stimmt damit diese so genann-te funktionelle Ermüdung primär die nutzbare Lebens-dauer. Am Institut für Werk-stoffkunde der Leibniz Uni-versität Hannover werden vielversprechende Hochtem-peratur-FGL unter thermome-chanischer Belastung in Hin-blick auf ihr funktionelles Er-müdungsverhalten untersucht (Abbildung 4). Schwerpunkt der Forschungsarbeiten ist die Optimierung der Mikrostruk-tur der Legierungen hinsicht-lich der funktionellen Stabi-lität. Erste Ergebnisse zeigen bereits, dass das Verhalten der Hochtemperatur-FGL unter zyklischer Belastung über die Legierungszusammensetzung, eine Wärmebehandlung sowie durch die Auswahl der Kris-tallorientierung verbessert werden kann.

Der Einsatz von Hochtempe-ratur-FGL ist zukünftig unter anderem auch in sicherheitsre-levanten Baugruppen geplant, weswegen am Institut für Werk stoffkunde zusätzlich auch die strukturellen Ermü-dungseigenschaften dieser Legierungen untersucht wer-den. Hierzu werden hochzyk-lische Ermüdungsexperimente im Bereich der Dauerfestigkeit und Untersuchungen zum Rissausbreitungsverhalten durchgeführt.

Abbildung 3a) Schematische Darstellung zum Einwegeffekt: Die Büroklammer kehrt nach der Verformung mit-tels Erwärmen in ihre Ausgangs-form zurück. b) Zur Pseudoelasti-zität: Die Büroklammer nimmt direkt nach dem Entlasten ihre Ausgangsform wieder an. c) Zum Zweiwegeffekt: Die Büroklammer besitzt je eine bestimmte Form im kalten und warmen Zustand.Quellen: Eigene Darstellungen

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Abbildung 5 zeigt Dehnungs-Temperatur-Schleifen für eine Hochtemperatur-FGL aus einem thermomechanischen Ermüdungsversuch und Ober-flächenaufnahmen des Werk-stoffs in der Martensit- und Austenit-Phase. In diesem Ex-periment wurde die Probe me-chanisch definiert vorgespannt und anschließend 500-mal auf eine Temperatur von etwa 400 °C aufgeheizt und auf Raumtemperatur abgekühlt. Infolge der thermisch indu-zierten Phasenumwandlung tritt hierbei eine Umwand-lungsdehnung von etwa einem Prozent auf. Wie an den Schleifen jedoch auch zu er-kennen ist, nimmt die nutz-bare Umwandlungsdehnung mit wachsender Anzahl an

Dipl.-Ing. Elvira BatyrshinaJahrgang 1986, arbeitet seit November 2013 am Institut für Werkstoffkunde der Leibniz Universität Hannover als Wis-senschaftliche Mitarbeiterin. Sie beschäftigt sich in der Forschergruppe »Hochtem-peratur-Formgedächtnislegie-rungen – von den Grundlagen zur Anwendung« mit der Er mü dung von neuartigen Hoch temperatur-Form-gedächt nis legierungen. Kontakt: [email protected]

Prof. Dr. Ing. Hans Jürgen MaierJahrgang 1960, hat in Erlan-gen Werkstoffwissenschaften studiert und promoviert. Nach einem Forschungsaufenthalt in den USA wurde er 1999 auf den Lehrstuhl für Werkstoff-kunde an die Universität Pa-derborn berufen und ist seit Oktober 2012 Institutsdirektor am IW an der Leibniz Univer-sität Hannover. Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Ar-beit ist die Korrela tion von Mikrostruktur und mechani-schen Werkstoffeigenschaften. Kontakt: [email protected]

Abbildung 4Prüfstand zur Durchführung thermomechanischer Ermüdungs-versuche am Institut für Werk-stoffkunde der Leibniz Universi-tät HannoverQuelle: Eigene Darstellung

Abbildung 5Dehnungs-Temperatur-Schleifen aus einem thermomechanischen Ermüdungsversuch, bei welchem die vorgespannte Probe 500-mal zwischen Raumtemperatur und etwa 400 °C zykliert wurde.Quelle: Eigene Darstellung

thermischen Zyklen ab, und der Effekt ist im 500. Zyklus kaum noch zu beobachten.

Durch die enge Zusammenar-beit im Rahmen der Forscher-gruppe mit Wissenschaftlern aus Bochum, München und Paderborn wurden erste Er-folge bei der Aufklärung der Mechanismen erzielt, die zur funktionellen Ermüdung füh-ren. Die Erkenntnisse aus den funktionellen und strukturel-len Ermüdungsversuchen sol-len hierbei nicht nur zu weiter-gehenden Optimierungen der Legierungszusammen-setzungen führen, sondern letztlich die Voraussetzungen für den erfolgreichen Einsatz der Legierungen in neuen An-wendungsbereichen schaffen.

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