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Erfurter Vortraumlge

zur Kulturgeschichte des Orthodoxen Christentums

152016

MICHAEL HAGEMEISTER

Der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo ndash bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer

Hesychasmusldquo im postsowjetischen Russland

Religionswissenschaft (Orthodoxes Christentum)

Erfurter Vortraumlge zur Kulturgeschichte des Orthodoxen Christentums 152016 ISSN 1618-7555 ISBN 978-3-9815490-2-7 copy 2016 Universitaumlt Erfurt copy 2016 University of Erfurt Lehrstuhl fuumlr Religionswissenschaft Chair of Religious Studies (Orthodoxes Christentum) (Orthodox Christianity) PSF 900 221 PO Box 900 221 D-99105 Erfurt D-99105 Erfurt Deutschland Germany

Vorwort bdquoVerstehen kann man Russland nicht und auch nicht messen mit Verstand Es hat sein eigenes Gesicht Nur glauben kann man an das Landldquo ndash so lautete eine in-zwischen beruumlhmt gewordene und viel zitierte Aussage des russischen Dichters und Diplomaten Feumldor Ivanovič Tjutčev (1803ndash1873) aus dem Jahr 1866 Unter anderem kann sie auf die Verstaumlndnisprobleme und Schwierigkeiten Russlands mit der westlichen Welt hinweisen die bereits seit vielen Jahrhunderten andauern An dieser Stelle geht es nicht darum eine Schuldzuweisung fuumlr die Entstehung dieser Situation auszusprechen sondern die Ursachen und die Motive die zu dieser komplexen Sachlage zwischen Russland und dem Westen gefuumlhrt haben zu lokalisieren zu analysieren und angemessen zu deuten Es eruumlbrigt sich ge-sondert zu erwaumlhnen dass solche Faumllle nach dem Ende des Kalten Krieges kei-neswegs verschwunden sind Die noch offenen Spannungen und Konfliktmomen-te zwischen Russland und dem Westen (zB in der Ukraine oder in Syrien) zeugen davon Wirft man aber einen naumlheren Blick auf das postsowjetische Russland dann ist es uumlberhaupt nicht schwierig die Existenz von zahlreichen Szenarien Visionen Orientierungen geopolitischen Planungen und ideologischen Entwuumlr-fen festzustellen in denen die Orthodoxie in unterschiedlichen Formen und Aus-praumlgungen entweder explizit oder implizit eine Rolle spielt Es sind gerade sol-che Aspekte der gegenwaumlrtigen russischen Kultur die die bdquorussische Besonder-heitldquo ausmachen und die ohnehin fuumlr Beobachter von auszligen nicht leicht erklaumlrbar ja sogar bisweilen erstaunlich sind In einem solchen Rahmen werden auch ge-schichtliche Ereignisse und Momente neu interpretiert und vergegenwaumlrtigt zum Teil haben sie moumlglicherweise einen Einfluss auf die Innen- und Auszligenpolitik Russlands ndash so wird von vielen zumindest behauptet oder vermutet All dies macht das ganze Thema umso interessanter denn die Kenntnis und insbesondere die ge-buumlhrende Deutung dieser Entwicklungen sind fuumlr das Verstaumlndnis vom heutigen Russland unabdingbar

Das 15 Heft der bdquoErfurter Vortraumlge zur Kulturgeschichte des Orthodoxen Christentumsldquo beinhaltet den Vortrag von Dr Michael Hagemeister einem inter-national angesehenen Experten in der modernen russischen Religions- und Kul-turgeschichte Sehr bekannt sind unter anderem seine Arbeiten zu den beruumlhmt-beruumlchtigten bdquoProtokollen der Weisen von Zionldquo und deren russischen Entste-hungsgeschichte sowie zu esoterischen apokalyptischen antisemitischen und alternativen Ideologien und Szenarien aus dem russischen Religions- und Kulturraum Im vorliegenden Beitrag greift er das houmlchst interessante und aktuelle

Thema der religioumls-kulturellen Entwicklungen im postsowjetischen Russland auf und liefert ein Panorama der wichtigsten Richtungen und Stroumlmungen die ohnehin dem westlichen Publikum wenig wenn uumlberhaupt bekannt sind Unter anderem wird auf Folgendes eingegangen russisch-orthodoxe historiosophische Deutungen der byzantinischen Geschichte und deren imperialen Erbes (das Phauml-nomen des bdquoNeobyzantismusldquo dh eines dem europaumlischen entgegengesetzten Kulturtypus der auf den Prinzipien von Orthodoxie und Selbstherrschaft beruht) Neuinterpretationen der orthodoxen hesychastisch-palamitischen Tradition aus dem spaumlten Byzanz zugunsten eines bdquopolitischen Hesychasmusldquo der mit einer besonderen sozialen Praumlsenz und Wirkung der Orthodoxie verbunden ist und eschatologisch-apokalyptische Visionen und Szenarien uumlber die ausschlaggeben-de Rolle Russlands in Weltgeschichte und Geopolitik Solche Ideen werden zu-dem mit klassischen Aspekten der russischen Religions- und Kulturgeschichte verbunden wie zum Beispiel mit der Eurasischen Ideologie mit der Idee Moskaus als dem bdquoDritten Romldquo oder mit ausgewaumlhlten religionsphilosophischen Theorie-ansaumltzen Obwohl solche Entwuumlrfe von Individuen oder aus bestimmten privaten Initiativen und Kreisen stammen werden sie teilweise von der offiziellen Russi-schen Kirche oder der Politik nicht nur nicht ignoriert sondern in manchen Faumlllen sogar unterstuumltzt Generell geht es um das Thema der vielen und einzigartigen religioumls-kulturellen Identitaumltsmerkmale Russlands die laut Staat und Kirche um jeden Preis im heutigen globalen Kontext aufrechterhalten werden sollen und die von den entsprechenden westlichen grundlegend verschieden sind Insofern bietet dieser Text eine absolut notwendige Informationsgrundlage zum besseren Ver-staumlndnis des gegenwaumlrtigen russisch-orthodoxen Religions- und Kulturraumes dessen Einfluss sich in vielen Faumlllen in der orthodoxen Welt allgemein bemerkbar macht

Der dieser Publikation zugrunde liegende Vortrag wurde am 26 Januar 2013 an der Universitaumlt Erfurt im Rahmen des Graduiertenkolloquiums zur Kulturge-schichte des Orthodoxen Christentums gehalten Mein wissenschaftlicher Mitar-beiter Dr Sebastian Rimestad hat die Bearbeitung und Formatierung des Vor-tragstextes zur Aufnahme in die vorliegende Vortragsreihe uumlbernommen Meine Sekretaumlrin Annett Psurek hat das Zustandekommen des Heftes organisatorisch begleitet Ihnen danke ich dafuumlr vielmals

Erfurt im Dezember 2016

Vasilios N Makrides

Der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo ndash bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo im postsowjetischen Russland

Michael Hagemeister

bdquoDie Geschichte ist das Rohmaterial fuumlr nationalistische ethnische oder fundamentalistische Ideologien ndash

wie Mohn der Rohstoff fuumlr Heroinabhaumlngigkeit istldquo Eric Hobsbawm1

bdquoDie Lehre von Byzanzldquo

Am 30 Januar 2008 zeigte der staatliche russische Fernsehsender bdquoRossijaldquo den Dokumentarfilm bdquoUntergang eines Imperiums Die Lehre von Byzanzldquo (Gibelrsquo imperii Vizantijskij urok) Der Film der noch mehrmals wiederholt wurde und zu dem auch ein reich bebildertes Buch erschien2 loumlste eine heftige kontrovers gefuumlhrte Diskussion aus Waumlhrend russische Patrioten dem Streifen geschichtli-che Aufklaumlrung attestierten und ihn zugleich als Parabel und aktuelle Warnung priesen verrissen Kritiker ihn als historische bdquoMaumlrchenstundeldquo und bdquoSchaustuumlck der Kreml-Propagandaldquo und forderten sogar sein Verbot3 Inzwischen wurde der Film in vier Sprachen synchronisiert und mehrfach preisgekroumlnt4

Gibelrsquo imperii Filmplakat lthttpsstkpyandexnetimagesfilm_big439949jpggt

1 Eric Hobsbawm bdquoDie Erfindung der Vergangenheitldquo in Die Zeit 9 September 1994

lthttpwww zeitde199437die-erfindung-der-vergangenheitgt Alle Webseiten wurden zuletzt am 3 Oktober 2016 aufgerufen

2 Archimandrit Tichon (Ševkunov) Gibelrsquo imperii Vizantijskij urok Scenarij filrsquoma Moskva 2008

3 Kerstin Holm bdquoLasst uns ein neues Byzanz errichtenldquo in Frankfurter Allgemeine Zeitung 44 21 Februar 2008 42

4 Siehe die offizielle Website des Films lthttpvizantiainfogt

6 Michael Hagemeister

Das Drehbuch stammt von Archimandrit Tichon (Georgij Ševkunov) dem Vorsteher des Sretenskij Klosters auf der Lubjanka in Moskau das als Hort des religioumlsen Fundamentalismus und einer bdquoorthodoxen Machtstaatsideologieldquo (pra-voslavnaja deržavnostrsquo) gilt5 Tichon der vor seiner Priesterweihe ein Studium am Moskauer Gerasimov-Filminstitut absolviert hatte ist einer der bekanntesten Geistlichen im heutigen Russland Medienstar Filmemacher und Bestsellerautor Sein Buch bdquosbquoUnheilige Heiligelsquo und andere Erzaumlhlungenldquo eine autobiographisch grundierte Sammlung moderner Hagiographien und Wunderberichte erreichte in Russland eine Millionenauflage und wurde in mehr als zehn Sprachen uumlbersetzt Tichon preist darin bedingungslosen Gehorsam und Schicksalsergebenheit und bietet damit bdquoeine ideale Grundlage fuumlr eine autoritaumlre Gesellschaftsordnung wie sie sich im letzten Jahrzehnt in Russland herausgebildet hatldquo6 Tichon ist Mitglied des Obersten Kirchenrates der Russischen Orthodoxen Kirche des Praumlsidialrates fuumlr Kultur und Kunst und des nationalpatriotischen Izborsker Klubs7 sowie geistli-cher Begleiter und Beichtvater (duchovnik) von Vladimir Putin8 Bereits lange vor seiner Weihe zum Bischof im Jahr 2015 galt Tichon als ultrakonservativ Er ge-houmlrte zu den Initiatoren der Kampagne gegen die Einfuumlhrung der persoumlnlichen Steuernummer die er als Zahl des apokalyptischen Tieres deutete9 er warnte vor der Macht der Daumlmonen und dem Antichrist als dem falschen Messias der Juden und beschwor die drohende Gefahr eines bdquomystischen okkulten Genozidsldquo an

5 Nikolaj Mitrochin Russkaja pravoslavnaja cerkovrsquo sovremennoe sostojanie i aktualrsquonye

problemy Moskva 2006 210f Irina Papkova The Orthodox Church and Russian Politics New York 2011 47ndash53 219f

6 Ulrich Schmid Technologien der Seele Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur Frankfurt aM 2015 197

7 Zu den Mitgliedern des 2012 von dem Schriftsteller und Initiator eines mystisch-religioumlsen Stalin-Kultes Aleksandr Prochanov (siehe auch Fn 45) gegruumlndeten Klubs gehoumlren neben Tichon auch der Antisemit Holocaust-Leugner und Verschwoumlrungstheoretiker Oleg Plato-nov sowie der Neofaschist und bdquoEurasierldquo Aleksandr Dugin (zu ihm ausfuumlhrlicher unten) Siehe Roland Goumltz bdquoDie andere Welt Im Izborsker Klub Russlands antiwestliche Intel-ligencijaldquo in Osteuropa 65 (2015) 3 109ndash138 Marlene Laruelle bdquoThe Izborsky Club or the New Conservative Avant-Garde in Russialdquo in The Russian Review 75 (2016) 626ndash644 Siehe auch die Website lthttpwwwizborsk-clubrugt

8 lthttpsruwikipediaorgwikiТихон_(Шевкунов)gt 9 Papkova The Orthodox Church 124 Alexander Verkhovsky bdquoThe Orthodox in the Rus-

sian Ultranationalist Movementsldquo in Occasional Papers on Religion in Eastern Europe 22 (2002) 3 18ndash36

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 7

Russlands rechtglaumlubigen Christen10 Auch forderte er die Behandlung der bibli-schen Schoumlpfungslehre im Unterricht um das bdquoMonopol des Darwinismusldquo zu brechen11

Der Film bdquoUntergang eines Imperiumsldquo schildert die Geschichte des Ostroumlmischen Reiches von einer vage datierten Bluumltezeit bis zur Eroberung Kon-stantinopels durch die Osmanen im Jahr 1453 Der Drehbuchautor selbst tritt als Kommentator auf der durch die Szenen fuumlhrt und das Gezeigte deutet Dem Film zufolge bluumlhte Byzanz als geistiges kulturelles und politisches Zentrum der Welt waumlhrend sich der Westen sein bdquoHinterhofldquo bdquoim Zustand tiefster Barbareildquo12 be-fand und seine Bewohner bdquogrobe und ungehobelte Skandinavier Germanen Franken und Angelsachsenldquo13 als primitive Raumluberbanden umherzogen Kaiser Justinian schuf hier den ersten Rechtsstaat hier wurde die erste Universitaumlt ge-gruumlndet und hier entstand das bdquostabilste Finanzsystem in der Geschichte der Menschheitldquo14 Byzantinische Ingenieurkunst und Architektur waren beispiellos doziert Tichon waumlhrend er das antike Konstantinopel computeranimiert auferste-hen laumlsst

Das prosperierende Imperium erregte freilich den Neid und die Habgier des Westens 1204 zogen die Kreuzritter bdquotreubruumlchigldquo gegen Konstantinopel erober-ten und pluumlnderten die Stadt und eroumlffneten dem Westen Zugang zu deren bdquounermesslichen Reichtuumlmernldquo Die geraubten und nach Italien verschleppten Kunstwerke und Goldschaumltze ermoumlglichten dann das Kulturwunder der Renais-sance erschufen aber auch das bdquoMonster des wucherischen Bankensystems der heutigen Weltldquo und damit den modernen Kapitalismus bdquomit seiner unbaumlndigen Profitgierldquo die so Tichon bdquoim Grunde genommen nur den Furor bei den Kriegs-zuumlgen genetisch fortsetztldquo15 bdquoWie Pilze nach dem Regen schossen damals die ersten europaumlischen Banken emporldquo und die kleine Stadt Venedig wurde bdquodas New York des 13 Jahrhundertsldquo16 bdquoDurch Spekulation mit den heiligen Reliqui-en aus Konstantinopelldquo entstanden auch bdquodie ersten groszligen juumldischen Kapital-vermoumlgenldquo17 ndash an dieser Stelle erscheint im Film das beruumlhmte flaumlmische Gemaumll-de bdquoDie Steuereintreiberldquo deren Fratzen die Goldgier der juumldischen Bankiers und

10 Ieromonach Tichon (Ševkunov) bdquoNevidimaja branrsquoldquo in Literaturnaja Rossija 20 (21

Mai 1993) 6f Auch lthttpwwwlibrarypravpiterrubook_327htmgt Tichon wusste wovon er sprach hatte er doch als Student selbst an spiritistischen Seacuteancen teilgenommen Archimandrit Tichon (Ševkunov) bdquoNesvjatye svjatyeldquo i drugie rasskazy Moskva 122015 12ndash17

11 Michael Zimmerman bdquoRussian Creationism Sounds Frighteningly Familiarldquo in The Huffington Post 14 Juni 2010 lthttpwwwhuffingtonpostcommichael-zimmerman russian-creationism-sound_b_610266htmlgt

12 Tichon (Ševkunov) Gibelrsquo imperii 10 13 Ebd 14 Ebd 8 15 Ebd 11f 16 Ebd 12 17 Ebd Vgl auch 79

8 Michael Hagemeister

Wucherer illustrieren sollen bdquoDer barbarische Westen wurde erst dann zum zivi-lisierten Westen als er das byzantinische Imperium erobert gepluumlndert zerstoumlrt und absorbiert hatteldquo18

Waumlhrend der materialistische Westen sich an den Reichtuumlmern Konstanti-nopels guumltlich tat erkannten die Russen worin der groumlszligte Schatz von Byzanz bestand bdquoDas waren weder Gold noch Edelsteine nicht einmal Wissenschaft und Kunst Der groumlszligte Schatz von Byzanz war Gott [hellip] Und auf diesen Schatz gruumlndeten unsere groszligen Vorfahren nicht Banken oder Kapital nicht einmal Mu-seen oder Lombardsaumltze Sie gruumlndeten die Rusʼ Russland die geistige Erbin von Byzanzldquo19

Das multinationale Ostroumlmische Reich das sich zwischen Europa und Asi-en erstreckte bildete so die Lehre des Films eine hierarchisch gegliederte organi-sche Einheit gegruumlndet auf die Orthodoxie und die Loyalitaumlt gegenuumlber dem Kaiser als dem Verteidiger des wahren Glaubens Ein bdquosolch demonstrativer Kon-servatismusldquo aber war dem Westen bdquowo schon damals Individualismus und pri-vate Willkuumlr zum geheiligten Prinzip erhoben wurdenldquo ganz fremd und uner-traumlglich weshalb er bdquomit erbittertem Fanatismusldquo forderte bdquoByzanz solle sein ge-samtes Leben nach westlichem Muster modernisieren ndash in erster Linie die reli-gioumlse und geistige Sphaumlre dann aber auch die intellektuelle und materielle Kultur Was die Einzigartigkeit und Besonderheit von Byzanz angeht so lautete der Ur-teilsspruch des Westens [hellip] muss all dies vernichtet werden falls noumltig gemein-sam mit Byzanz und dessen geistigen Erbenldquo20 In Byzanz selbst entstand eine prowestliche Partei Dieser bdquoinnere Feindldquo wurde von den europaumlischen Regie-rungen zunaumlchst heimlich dann aber immer offener unterstuumltzt und gewann all-maumlhlich die Oberhand uumlber die bdquoimperialen Traditionalistenldquo Weitreichende Re-formen der byzantinischen bdquoWestlerldquo schwaumlchten den Staat untergruben den Glauben und zerstoumlrten schlieszliglich das Imperium Der Hauptgrund fuumlr den Unter-gang von Byzanz sei so Tichon die bdquogeistige Zersetzungldquo seiner Elite gewesen die vom Westen verfuumlhrt die Orthodoxie in der Florentiner Union an den roumlmi-schen Papst verraten habe21

Immer wieder zieht der Film kaum verhuumlllte oder direkte Analogien zum postsowjetischen Russland und dessen Verhaumlltnis zum Westen So haumltten die Ve-nezianer die Eroberung der ostroumlmischen Hauptstadt mit der Verteidigung der bdquoRechte auf den freien internationalen Marktldquo begruumlndet und behauptet einen ge-rechten Kampf gegen ein Regime zu fuumlhren das sich bdquogesamteuropaumlischen Wer-tenldquo verweigere und somit ein bdquoReich des Boumlsenldquo sei22 Als weitere Ursache fuumlr den Niedergang wurden korrupte Beamte eigenmaumlchtige Provinzgouverneure und staatsschaumldigende Oligarchen ausgemacht Ihnen habe sich Kaiser Basileios

18 Ebd 19 Ebd 13f 20 Ebd 44ndash46 21 Ebd 54f 22 Ebd 20f

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 9

II widersetzt indem er bdquomit harter Hand die Vertikale der Macht wieder herstell-teldquo Basileios II bdquozerschlug die separatistische Bewegung in den Randgebieten unterdruumlckte die aufruumlhrerischen Gouverneure und Oligarchen die sich anschick-ten das Imperium aufzuteilen Dann fuumlhrte er eine sbquoSaumluberunglsquo in der Regierung durch und konfiszierte fuumlr die Staatskasse groszlige Summen geraubten Geldesldquo23 Seinem Nachfolger hinterlieszlig er einen riesigen bdquoStabilisierungsfondsldquo24

Es liegt auf der Hand ndash und Tichon deutete es in einem Interview selbst an ndash25 dass mit der bdquoVertikale der Machtldquo die Putinsche Politik der Staumlrkung der Zentralgewalt gemeint ist Die bdquoseparatistische Bewegungldquo laumlsst sich auf Tsche-tschenien und die Ukraine beziehen und jene bdquoOligarchenldquo die nicht nur Reich-tum sondern auch politische Macht erstrebten oder vom feindlichen Ausland aus ihre Wuumlhlarbeit betrieben26 heiszligen heute Berezovskij Abramovič und Chodor-kovskij Und sogar der aktuelle Brain-Drain wird thematisiert wenn es heiszligt bdquoDie reiche Jugend von Byzanz lernte nicht mehr im eigenen Land sondern ging zur Ausbildung ins Ausland Die besten Koumlpfe der einheimischen Wissenschaft emi-grierten in den Westenldquo27

Die bis heute guumlltige bdquoLehre von Byzanzldquo und damit die Botschaft des Films bestehen jedoch in der Erkenntnis des ewigen Hasses den der wesens-fremde Westen gegen die orthodoxe Welt hege Mit den Worten Tichons bdquoDer racheluumlsterne Hass des Westens auf Byzanz und dessen Nachfolger den nicht einmal sie selbst ganz und gar verstehen setzt sich auf einer tieferen genetischen Ebene so paradox es auch klingen mag bis heute fort Falls wir diesen verbluumlffen-den doch unbestreitbaren Tatbestand nicht verstehen laufen wir Gefahr nicht nur in der weit zuruumlckliegenden Vergangenheit sondern auch in der Geschichte des 20 und sogar des 21 Jahrhunderts vieles nicht zu begreifenldquo28

Sowohl die Kritiker als auch die Bewunderer des Films haben denn auch erkannt dass es Tichon nicht um das historische Byzanz sondern um das heutige Russland geht ndash vom hegemonialen Westen bedroht von inneren Schwaumlchen wie Egoismus Zynismus und Korruption Genusssucht und Geburtenruumlckgang ge-zeichnet29 Der Film so Roman Lunkin sei eine bdquohistoriosophische Skizzeldquo und

23 Ebd 25 24 Ebd 27 25 Ebd 121 26 Ebd 31 27 Ebd 50 28 Ebd 64f ndash Dies so Tichon habe auch Stalin erkannt als er 1943 die bis dahin verfemte

Byzantinistik per Dekret wieder eingefuumlhrt habe Der bdquoehemalige Seminarist Džugašvilildquo habe bdquodamals endlich begriffen bei wem man die Geschichte studierenldquo muumlsse Ebd 65

29 Der Film so der renommierte Byzantinist Sergej Ivanov sei bdquoreine Fiktion voller kruder faktischer Fehler und krasser Verzerrungenldquo und bdquoerfuumlllt von giftigem Hass auf den Wes-tenldquo Sergey A Ivanov bdquoThe Second Rome as Seen by the Third Russian Debates on sbquoThe Byzantine Legacylsquoldquo in Przemysław MarciniakDion C Smythe (Hgg) The Reception of Byzantium in European Culture Since 1500 Farnham Burlington 2016 55ndash79 hier 72 [dt bdquoDas Zweite Rom aus der Sicht des Dritten Russische Debatten uumlber das sbquobyzan-tinische Erbelsquoldquo in Transit 46 (20142015) 157ndash173 hier 171] Siehe auch ders bdquoVtoroj

10 Michael Hagemeister

sein Autor eine Art bdquomoderner Moumlnch Filofejldquo der die Idee vom Dritten Rom propagiere30 Lunkin gab damit zwei Stichworte die im Folgenden naumlher betrach-tet werden sollen Historiosophie dh die geschichtsmetaphysische Deutung bzw Instrumentalisierung historischer Ereignisse und die Formel von MoskauRuss-land als dem Dritten Rom

Historiosophie Die heilsgeschichtliche Mission Russlands

Unter den Schlagwoumlrtern bdquoHistoriosophieldquo (istoriosofija) und bdquoMetahistorieldquo (metaistorija) erfreuen sich im postsowjetischen Russland Versuche groszliger Be-liebtheit Ziel und Sinn des weltgeschichtlichen Prozesses und die ihn gestalten-den Kraumlfte spekulativ zu bestimmen und ndash als aufbauende oder zerstoumlrende heil-volle oder unheilvolle Faktoren ndash zu bewerten31 Dabei werden Traditionen der russischen Geschichtsmetaphysik und Geschichtstheologie des 19 und 20 Jahr-hunderts aufgegriffen die die irdische Geschichte als Vollzug eines goumlttlichen Heilsplans deuten der den Glaumlubigen in seinem Anfang und Ende sowie den we-sentlichen Etappen geoffenbart worden sei Das providentielle teacutelos der Geschich-te das Ende und zugleich sinngebende Ziel enthuumlllen apokalyptische Texte So beschreibt die Offenbarung des Johannes die Geschehnisse am Ende der Zeit den Kampf zwischen den Maumlchten des Lichts und der Finsternis die Taumluschung und Verfuumlhrung durch den oder die Repraumlsentanten des Boumlsen die Entscheidungs-schlacht und das Juumlngste Gericht den Untergang der alten durch Konflikte zerrissenen Welt und den Beginn einer neuen vollkommenen und zeitlosen Welt Unverkennbar ist auch der Einfluss der dualistisch-deterministischen Geschichts-konzeption der Sowjetideologie (Geschichte als Einsicht in die bdquoobjektiven Ent-wicklungsgesetze der Gesellschaftldquo) kennt doch auch die Eschatologie und Daumlmonologie des historischen Materialismus den auf ein Endziel (bdquoReich der

Rim glazami Tretrsquoego Ėvoljucija obraza Vizantii v rossijskom obščestvennom soznaniildquo lthttppolitruarticle20090414vizantgt

30 lthttpwwwportal-credorusiteact=freshampid=719gt 31 Vgl Michael Hagemeister bdquoDas Dritte Rom gegen den Dritten Tempel ndash Der Antichrist

im postsowjetischen Russlandldquo in Mariano DelgadoVolker Leppin (Hgg) Der Anti-christ Historische und systematische Zugaumlnge FribourgStuttgart 2011 461ndash485 ndash Der Begriff bdquoHistoriosophieldquo geht auf August Cieszkowski (1814ndash1894) zuruumlck einen der Be-gruumlnder des polnischen Messianismus der in seinen Prolegomena zur Historiosophie (Ber-lin 1838) eine aktive Geschichtsteleologie entwarf Mit dem Begriff bdquoMetahistorieldquo be-zeichnete Sergej Bulgakov (1871ndash1944) bdquoden Gegenstand der Apokalypseldquo naumlmlich bdquodie noumenale Seite jenes universellen Prozesses dessen andere Seite sich uns als Geschichte zeigtldquo Sergej Bulgakov bdquoApokaliptika i socializmldquo in ders Dva grada Bd 2 Moskva 1911 51ndash127 hier 103 Zur Neuentdeckung und Aufwertung des in der Sowjetunion tabuisierten Begriffs bdquoHistoriosophieldquo im postsowjetischen Russland siehe Jutta Scherrer Kulturologie Ruszligland auf der Suche nach einer zivilisatorischen Identitaumlt Goumlttingen 2003 bes 91ndash126

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 11

Freiheitldquo) ausgerichteten Verlauf der Geschichte deren bdquoinnre verborgne Ge-setzeldquo und bdquotreibende Maumlchteldquo (Friedrich Engels) sich nur einem fortschrittlichen Bewusstsein zu erkennen geben

Zu den klassischen Werken bdquohistoriosophischerldquo Geschichtsdeutung die immer wieder aufgelegt werden gehoumlren Vladimir Solovrsquoevs (1853ndash1900) bdquoKur-ze Erzaumlhlung vom Antichristldquo (Kratkaja povestrsquo ob antichriste 1900) eine bdquophi-losophische Dichtungldquo die vielfach nicht als literarische Fiktion sondern als kon-krete Prophetie rezipiert und auf die Gegenwart und nahe Zukunft bezogen wird32 sowie insbesondere die manichaumlischen Geschichtskonzeptionen der religioumlsen Philosophen Pavel Florenskij (1882ndash1937) und Aleksej Losev (1893ndash1988) die gepraumlgt sind von der Vorstellung eines permanenten und allumfassenden in sei-nem Ausgang freilich entschiedenen Kampfes zwischen Logos und Chaos Chris-tus und dem Antichrist und dessen irdischem Agenten dem Judentum

In dieser bdquohistoriosophischenldquo oder bdquometahistorischenldquo Sicht erscheint die Geschichte Russlands als Feld auf dem eine bdquounsichtbare Schlachtldquo (nezrimaja bitva) lichtvoller und finsterer Maumlchte tobt Dabei wird das historische Geschehen in Analogie zur Passion Christi als Leidens- oder Kreuzweg (krestnyj putrsquo) aufge-fasst33 als Kreuzigung (raspjatie) durch die Maumlchte des Antichristentums und als Opfertod (požertvovanie) ein Ereignis das in der Regel mit der Epoche der bdquojuuml-disch-bolschewistischenldquo Sowjetherrschaft identifiziert wird34 Noch befinde sich Russland so die Adepten jener bdquosakralen Metahistorieldquo in einer Phase der Pruuml-fung auf dem Weg zum Ziel der Heilsgeschichte noch liege Russland ohnmaumlchtig im Grab doch werde schon bald seine wunderbare Auferstehung (voskresenie) erfolgen35 In der dann anbrechenden Bluumltephase dem letzten Zeitalter der Welt-geschichte vor dem Juumlngsten Gericht werde das wiedergeborene Russland unter der Herrschaft eines Endzeitkaisers die Menschheit von der Macht des Boumlsen be-freien Russland bringt sich also selbst zum Opfer um am Ende zu triumphieren

32 Siehe Michael Hagemeister bdquoTrilogie der Apokalypse ndash Vladimir Solovrsquoev Serafim von

Sarov und Sergej Nilus uumlber das Kommen des Antichrist und das Ende der Weltgeschich-teldquo in Wolfram BrandesFelicitas Schmieder (Hgg) Antichrist Konstruktionen von Feindbildern Berlin 2010 255ndash275 hier 261

33 Als Stationen an bdquoRusslands Kreuzwegldquo werden zumeist genannt das bdquoTatarenjochldquo als Russland die Feinde der Christenheit auf sich lenkte und durch sein Opfer die Zivilisation des Abendlandes vor dem Untergang rettete (worauf schon Aleksandr Puškin in seinem beruumlhmten Brief vom 19 Oktober 1836 an Petr Čaadaev einen Kritiker des russischen Byzantinismus hinwies) sodann der Einfall der bdquoLateinerldquo zu Beginn des 17 Jahrhun-derts die bdquolaumlsterlichenldquo Reformen des bdquoWestlersldquo Peter I (fuumlr viele der Antichrist) und schlieszliglich die bdquoKatastrophe des Jahres 1917ldquo

34 Siehe Vadim Rossman Russian Intellectual Antisemitism in the Post-Communist Era LincolnLondon 2002 223ndash225

35 Siehe Vardan Bagdasarian bdquoApokalipsis ndash segodnja ėschatologičeskie poiski v sovremen-noj Rossiildquo in Dmitrij Andreev [ua] (Hgg) Ėschatologičeskij sbornik Sankt-Peterburg 2006 435ndash453 hier 436f

12 Michael Hagemeister

Moskau ndash Drittes Rom und Katechon

Die Auffassung von Russlands entscheidender Rolle im Drama der Heilsge-schichte wird begruumlndet mit der Doktrin von Moskau als dem Dritten Rom wie sie aus der beruumlhmten eschatologischen Formel des Pskover Moumlnchs Filofej aus der ersten Haumllfte des 16 Jahrhunderts abgeleitet worden ist bdquoAlle christlichen Zartuumlmer haben sich ihrem Ende zugeneigt und sind gemaumlszlig den prophetischen Buumlchern eingegangen in das eine Zartum unseres Herrschers das heiszligt ins russi-sche Zartum Denn zwei Rome sind gefallen und das dritte steht Ein viertes aber wird es nicht gebenldquo36

Nach der Apostasie der Lateiner (dem Schisma von 1054) und dem bdquoVer-ratldquo Konstantinopels (durch die Florentiner Union 1439) dem als Strafe Gottes der Untergang des Byzantinischen Reichs (1453) folgte wird Russland zum drit-ten und ndash der goumlttlichen Trinitaumlt entsprechend ndash letzten Hort der Rechtglaumlubig-keit37 Dessen Ende wird auch das Ende der Geschichte sein mit dem Auftreten des Antichrist des falschen Messias der Juden der durch Taumluschung und Verfuumlh-rung die Parusie des wahren Messias gleichzeitig verbergen und ankuumlndigen soll Bis dahin aber sind das Heilige Russland und seine Herrscher von Gott erwaumlhlt und berufen den Widersacher Christi abzuwehren und das Ende aufzuhalten Nach der sogenannten Substitutionslehre sind die Erwaumlhlung und der messiani-sche Sendungsauftrag Israels nach dessen bdquoVerratldquo auf die Heilige Rusrsquo und das

36 bdquoMoskau ndash das Dritte Romldquo Das Sendschreiben des Filofej von Pskov in Peter Haupt-

mannGerd Stricker (Hgg) Die Orthodoxe Kirche in Ruszligland Dokumente ihrer Geschich-te 960ndash1980 Goumlttingen 1980 253 Bis zur ersten Publikation von Filofejs Sendschreiben in den 1860er Jahren war dieses Konzept freilich kaum bekannt Zu seinen vielfaumlltigen und bisweilen kontraumlren Deutungen siehe Nina Sinicyna Tretij Rim Istoki i ėvoljucija russkoj srednevekovoj koncepcii (XVndashXVI vv) Moskva 1998 zur Wirkungsgeschichte bis in die postsowjetische Gegenwart siehe Peter J S Duncan Russian Messianism Third Rome Revolution Communism and After LondonNew York 2000 Vgl auch Marshall Poe bdquoMoscow the Third Rome The Origins and Transformations of a sbquoPitoval Momentlsquoldquo in Jahrbuumlcher fuumlr Geschichte Osteuropas 49 (2001) 3 412ndash429 Frank Kaumlmpfer bdquoDie Lehre vom Dritten Rom ndash pitoval moment historiographische Folkloreldquo ebd 430ndash441 Fran-ziska Thun-Hohenstein bdquosbquoMoskau ndash Drittes Romlsquo Nachklaumlnge einer alten Denkfigur in der russischen Kultur des 20 Jahrhundertsldquo in Daniel Weidner (Hg) Figuren des Euro-paumlischen Kulturgeschichtliche Perspektiven Muumlnchen 2006 78ndash97 Sergej Magaril Mi-fologija bdquosbquoTretrsquoego Rimalsquo v rossijskom obrazovannom soobščestveldquo in Ėmilrsquo A Pain (Hg) Ideologija bdquoosobogo putildquo v Rossii i Germanii istoki soderžanie posledstvija Moskva 2010 127ndash156 Anna Briskina-Muumlller bdquoDas neue sbquoneue Romlsquo eine byzantinische Idee auf russischem Bodenldquo in Reinhard FlogausJennifer Wasmuth (Hgg) Orthodoxie im Dialog Historische und aktuelle Perspektiven Berlin [ua] 2015 311ndash336

37 Filofej sprach was oft uumlbersehen wird nicht von Moskau als dem Dritten Rom diese For-mel taucht erst im 17 Jahrhundert auf Auch wird aus dem bdquorhomaumlischen (Romejskoe) Zartumldquo bei Filofej erst spaumlter das bdquorussische (Rosejskoe) Zartumldquo Siehe Sinicyna Tretij Rim 244 324ndash328 ndash Die Vorstellung der Stadt Moskau als dem Dritten Rom treibt inzwi-schen seltsame Bluumlten So glaubt der vielfach ausgezeichnete Kulturologe Rustam Rach-matullin in seinem Bestseller Dve Moskvy ili metafizika stolicy (2008) eine bdquosakrale Identitaumltldquo zwischen Moskau Rom und Jerusalem nachweisen zu koumlnnen

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 13

russische bdquoGottestraumlgervolkldquo (narod-Bogonosec) uumlbergegangen die Orthodoxe Kirche wurde zum bdquoNeuen Israelldquo ihre heiligen Staumltten zum bdquoNeuen Jerusa-lemldquo38 Wenn Paulus davon spricht dass am Ende bdquoganz Israel errettetldquo werde (Roumlm 11 26) so sei damit die Kirche Jesu Christi gemeint zu der die Juden sich bekehren muumlssten39

bdquoMoskau ndash Drittes Romldquo Ikone (2011) Maler unbekannt lthttpwwwruniversrugalgallery-allphpSECTION_ID=7641ampELEMENT_ID=462777gt

Russlands Herrscher fungiert mithin als Katechon als jene hemmende aufhalten-de Macht von der im zweiten Brief des (Pseudo-)Paulus an die Thessalonicher die Rede ist

38 Siehe zB Michail Nazarov Voždju Tretrsquoego Rima K poznaniju russkoj idei v apokalipsi-

českoe vremja Moskva 2005 933f 945 ndash Fuumlr die Anhaumlnger der angloamerikanischen bdquoChristian Identityldquo sind hingegen die bdquoArierldquo bdquoGottes auserwaumlhltes Volkldquo und die Verei-nigten Staaten das bdquoNEW JerUSAlemldquo Martin Durham White Rage The Extreme-Right and American Politics London 2007 67

39 Eine fruumlhe heute wieder viel zitierte wertende Entgegensetzung von Judentum und (russi-schem) Christentum findet sich bereits in der um die Mitte des 11 Jahrhunderts verfassten bdquoRede uumlber das Gesetz und die Gnadeldquo (Slovo o zakone i blagodati) des Metropoliten Ila-rion

14 Michael Hagemeister

Zuerst muss der Abfall von Gott kommen und der Mensch der Gesetzlosigkeit offenbart werden der Sohn des Verderbens der Widersacher der sich erhebt uumlber alles was Gott heiszligt oder Heiligtum so dass er sich sogar in den Tempel Gottes setzt und sich fuumlr Gott ausgibt [] Denn das Geheimnis der Gesetzlosigkeit [τὸ μυστήριον τῆς ἀνομίας]40 ist schon wirksam nur muss erst der beseitigt werden der es bis jetzt noch aufhaumllt [ὁ κατέχων] und dann wird der Gesetzlose offenbart werden [hellip] (2 Thess 23-4 und 7-8)

Die durch bdquofeigen Verratldquo erzwungene Abdankung des Zaren im Maumlrz 1917 und seine Ermordung im Juli 1918 wurden denn auch als Erfuumlllung jener Prophetie verstanden dh als Beseitigung des Katechon damit der Weg frei werde fuumlr die Herrschaft des Antichrist41 Der Regizid wurde in dieser Sicht zu einem bdquoapoka-lyptischen Verbrechenldquo langfristig geplant und auf blutig-rituelle Weise ausge-fuumlhrt von den Agenten des Antichrist den Juden Fuumlr diese so der Historiker Mi-chail Nazarov war der von Gott erwaumlhlte und gesalbte apostelgleiche Herrscher des Dritten Rom der bdquokatechontischen orthodoxen Machtldquo objektiv der groumlszligte metaphysische Feind und seine Beseitigung mithin eine Tat bdquovon houmlchster mys-tisch-religioumlser Bedeutungldquo42

Viele Glaumlubige sind indes uumlberzeugt dass die Stelle des Katechon nicht vakant sei sondern von der Gottesmutter uumlbernommen wurde Als Beweis dafuumlr dient die wundersame Auffindung einer Ikone im Dorf Kolomenskoe bei Moskau an jenem Tag an dem Nikolaus II dem Thron entsagte43 Die Ikone zeigt die

40 Luther uumlbersetzt bdquoGeheimnis der Bosheitldquo in der mittelalterlichen Theologie als der Anti-

christ gedeutet der nach der Offenbarung des Johannes am Ende der Zeiten erscheint 41 Im Russischen wird die Rolle des bdquoSelbstherrschersldquo (samoderžec) als bdquoAufhalter Kate-

chonldquo (uderživajuščij) auch etymologisch deutlich russ deržatrsquo entspricht griech κατέ-χειν ndash Die mysterioumlse Figur des Katechon (im griechischen Text einmal Neutrum einmal Maskulinum) die das Endgericht und den Anbruch des Reiches Gottes verzoumlgert bietet sich ebenso wie der Antichrist und seine Trabanten seit jeher zu immer neuen Identifikatio-nen mit einzelnen Gestalten Gruppen oder politischen Maumlchten an So identifizierte Carl Schmitt (1888ndash1985) der bdquoApokalyptiker der Gegenrevolutionldquo (Jacob Taubes) Liberalis-mus Bolschewismus und Judentum mit dem Antichrist (oder seinen Agenten) und glaubte dendas Katechon unter anderem in der Diktatur Hitlers zu erkennen 1947 notierte er bdquoIch glaube an den Katechon er ist fuumlr mich die einzige Moumlglichkeit als Christ Geschichte zu verstehen und sinnvoll zu findenldquo Carl Schmitt Glossarium Aufzeichnungen aus den Jah-ren 1947 bis 1958 hg von Gerd Giesler und Martin Tielke Berlin 2015 47 Schmitt und seine politische Theologie werden in russischen Intellektuellenkreisen intensiv rezipiert

42 Nazarov Voždju 213ndash223 ders Tajna Rossii Istoriosofija XX veka 1999 695ndash699 ndash Die Ermordung der Zarenfamilie durch die Bolschewiki im Juli 1918 in Ekaterinburg wur-de und wird von russischen Nationalisten als juumldischer antichristlicher Ritualmord darge-stellt Extremistische Kirchenkreise forderten denn auch Nikolaus II und seine Familie als bdquovon Jidden Gemarterteldquo (ot židov umučennye) heiligzusprechen Dem wurde freilich von fuumlhrenden Vertretern des Moskauer Patriarchats widersprochen

43 Im Februar 1917 war der Baumluerin Evdokija Andrianova im Traum der Fundort der Ikone erschienen Nach langem Suchen wurde diese schlieszliglich am 215 Maumlrz im Keller der Himmelfahrtskirche von Kolomenskoe entdeckt Siehe Aleksandr N Kazakevič bdquosbquoV podvale chrama pojavilasrsquo ikona Bogomaterilsquo Dokumenty Centralrsquonogo istoričeskogo

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 15

Himmelskoumlnigin mit den Zeichen ihrer Regentschaft im kaiserlichen Purpur mit Krone Szepter und Reichsapfel Das Bild der bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo (Bogo-materrsquo Deržavnaja) erwies sich sogleich als wundertaumltig und zog zahlreiche Pil-ger an Kopien verbreiteten seine Verehrung im ganzen Land Bis heute gilt es vielen als ein Zeichen dass Russlands Schutz vor dem Ansturm des Antichrist vom Zaren auf die Gottesmutter uumlbergegangen ist und sie die autokratische Macht bis zur Wiederherstellung der Monarchie bewahren wird44 Zum 70 Jahrestag des Sieges lieszlig der Izborsker Klub eine Variante der beruumlhmten Ikone anfertigen Sie zeigt die bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo zusammen mit Stalin und seinen Marschaumll-len Fuumlr Aleksandr Prochanov ist Stalin der Katechon der von Gott gesandte Fuumlhrer des Sowjetvolks das durch den Opfertod seiner Soumlhne im bdquogeheiligtenldquo Groszligen Vaterlaumlndischen Krieg ebenso wie einst Christus die Macht der Houmllle be-siegt und die Menschheit erloumlst habe45

lthttpwwwizborsk-clubruarh2015_04_Blokpdfgt

In bdquohistoriosophischerldquo Sicht bildet die Ermordung des Zaren und seiner Familie das zentrale sinnstiftende Ereignis der Geschichte Russlands im 20 Jahrhundert Alles darauf folgende Ungluumlck und Leiden die Verfolgung der Christen Hunger und Terror der Tod von Millionen Menschen werden aufgefasst als Strafe Gottes fuumlr den Abfall des russischen Volkes vom Glauben und fuumlr den judasgleichen

archiva Moskvy o Deržavnoj ikone Božiej Materildquo in Otečestvennye archivy 1 (2004) lthttpricolororghistorykasvyatyniik_derggt

44 Vgl Grigorij Nikolaev bdquoĖschatologičeskij triptichldquo in Ėschatologičeskij sbornik 358ndash396 hier 376f Bagdasarjan bdquoApokalipsis ndash segodnja 441f

45 Aleksandr Prochanov bdquoMističeskij stalinizmldquo in Izborskij klub Russkie strategii 4 (28) 2015 78ndash81 auch lthttpwwwizborsk-clubruarh2015_04_Blokpdfgt

16 Michael Hagemeister

bdquoVerratldquo an seinem Herrscher Wie Jesus sich dem Willen des goumlttlichen Vaters unterworfen hat und auf Golgatha fuumlr die Suumlnden der Welt gestorben ist so habe der Zar in Ekaterinburg (dem bdquorussischen Golgathaldquo) sein Leben als bdquoSuumlhneopferldquo dargebracht fuumlr die Suumlnden ganz Russlands46 Erst wenn das russische Volk sein Land von den Idolen und Symbolen der Gottlosigkeit reinige den Ideen der De-mokratie und politischen Gleichheit abschwoumlre seine kollektive Schuld bereue und Buszlige tue fuumlr das bdquoschrecklichste und unheilvollste Verbrechen des 20 Jahr-hundertsldquo werde der Zar zuruumlckkehren und Russland seine einstige Groumlszlige wie-dererlangen47

Einer der vehementesten und einflussreichsten Propagandisten der Selbst-charismatisierung Russlands war in den Jahren nach dem Ende der Sowjetunion Metropolit Ioann (Ivan Snyčev 1927ndash1995) von St Petersburg und Ladoga Mit-glied des Heiligen Synods und dritthoumlchster Kirchenhierarch des Landes In einer Vielzahl von Buumlchern Aufsaumltzen und Interviews beschwor Ioann die universale Mission des Dritten Rom als des bdquoletzten Hortes des wahren Glaubensldquo im Kampf gegen den Antichrist und seine Verbuumlndeten das bdquoVolk der Gesetzlosigkeitldquo48 Zu den apokalyptischen Feinden Christi zaumlhlte er die bdquoglobalen Maumlchte hinter den Kulissenldquo (mirovaja zakulisa) das internationale Freimaurertum die bdquotransnatio-nale Finanzoligarchieldquo die Anhaumlnger des Zionismus und Marxismus sowie Israel die USA und deren westeuropaumlische Satelliten49 Wiedergeboren im Geist der Or-thodoxie sei das Dritte Rom der irdische Sockel auf dem der Thron Gottes ruhen werde ndash ihm entgegen stehe der Dritte Tempel der Thron des Antichrist50

Hesychasmus als Kulturscheide ndash Kritik der Renaissance

Als entscheidende Waffe in dieser heilsgeschichtlichen Auseinandersetzung wird in juumlngster Zeit von antiwestlichen Intellektuellen und Kirchenkreisen der soge-nannte Hesychasmus in Stellung gebracht Urspruumlnglich handelt es sich dabei um

46 Das Schicksal des letzten Zaren wurde in der antibolschewistisch-antisemitischen Polemik

schon fruumlh mit der Passion Christi verglichen oder gleichgesetzt Eindrucksvolle Beispiele aus juumlngerer Zeit bieten die patriotischen Lieder der prominenten Saumlngerin Žanna Bičev-skaja oder die Filme Iskupitelrsquonaja žertva (1992) und Russkaja Golgofa (2000) Siehe auch Papkova The Orthodox Church 63f 222

47 Marija Achmetova Konec sveta v odnoj otdelrsquono vzjatoj strane Religioznye soobščestva postsovetskoj Rossii i ich ėschatologičeskij mif Moskva 2010 245ndash260

48 Vgl Rossman Russian Intellectual Antisemitism 221ndash225 Hagemeister bdquoDas Dritte Romldquo 476

49 Metropolit Ioann (Snyčev) bdquoToržestvo pravoslavijaldquo in ders Bitva za Rossiju Sankt-Peterburg 1993 28ndash35 In seinem Bestreben Russland als Opfer jahrhundertealter Ver-schwoumlrungen finsterer antichristlicher Maumlchte darzustellen griff Ioann immer wieder auch auf die Protokolle der Weisen von Zion zuruumlck

50 Metropolit Ioann (Snyčev) Samoderžavie ducha Očerki russkogo samosoznanija Sankt-Peterburg 1994 7

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 17

eine individuelle psychosomatische Gebets- und Meditationstechnik des byzanti-nischen und slavischen Moumlnchtums deren Anfaumlnge bis auf die Wuumlstenvaumlter zu-ruumlckreichen Durch die unablaumlssige konzentrierte Wiederholung des sogenannten bdquoJesusgebetsldquo ndash der Anrufung des rettenden Namens Jesu Christi ndash im Rhythmus des Herzschlags (deshalb auch bdquoHerzensgebetldquo) eine Uumlbung die als bdquogeistiges Tunldquo (πρᾶξις νοερά russ umnoe delanie) bezeichnet wird kann der Asket der die innere Ruhe (ἡσυχία) und Leidenschaftslosigkeit (ἀπάθεια) erreicht hat zur ekstatischen Schau (θεωρία) der Herrlichkeit Gottes in Lichtvisionen gelangen51

Die mit dem bdquoJesusgebetldquo verbundenen mystischen Erfahrungen fuumlhrten im 14 Jahrhundert zu einer hochspekulativen theologischen Deutung und Systemati-sierung durch den Athosmoumlnch (spaumlter Erzbischof von Thessalonike) Gregorios Palamas (129697minus1359) und seine Anhaumlnger im sogenannten bdquoHesychasmus-streitldquo Dabei ging es ndash stark vereinfacht ndash um die Frage inwiefern bestimmte sinnliche Erfahrungen beim Gebet wie das Schauen von Licht aber auch die Empfindung von Waumlrme und Wohlgeruch als Begegnung mit der Realitaumlt Gottes aufzufassen seien (und nicht als Pseudovisionen also als Einbildungen oder gar Inspirationen daumlmonischer Maumlchte) Dahinter steht das alte theologische Problem der Erkennbarkeit oder sinnlichen Erfahrbarkeit Gottes der Kommunikation zwi-schen Immanenz und Transzendenz aber auch der Gefahr der Verfuumlgung uumlber das Goumlttliche (extrem im Gotteszwang durch Beschwoumlrung)

Palamas loumlst die Frage indem er in Anlehnung an neuplatonische Vorstel-lungen das unzugaumlngliche ewige bdquoWesenldquo (οὐσία) Gottes von seiner in der ge-schaffenen Welt d h in Raum und Zeit mitteilbaren ungeschaffenen bdquoWirkkraftldquo oder bdquoEnergieldquo (ἐνέργεια) unterscheidet nicht aber trennt52 Diese Energien bdquodie der dreieinige Gott ausstrahlt und die zu seinem Wesen gehoumlren wie die Strahlen zur Sonne oder das Kraftfeld zum Magnetenldquo53 kann der Asket der den Stufen-prozess von bdquoReinigungldquo (κάθαρσις) bdquoErleuchtungldquo (φωτισμός) und bdquoVergoumlttli-chungldquo (θέωσις) durchlaumluft durch die Gnade Gottes sinnlich erfahren Als houmlch-stes mystisches Erlebnis im Zusammenwirken (συνεργία) aller menschlichen En-ergien mit der goumlttlichen Energie gilt die Schau des ungeschaffenen Lichtes wie sie den Juumlngern Jesu bei dessen Verklaumlrung auf dem Berg Tabor (μεταμόρφωσις

51 Ich folge hier zum Teil meinen Ausfuumlhrungen in Michael Hagemeister bdquoImjaslavie ndash imja-

dejstvie Namensmystik und Namensmagie in Russland (1900ndash1930)ldquo in Tatjana Petzer [ua] (Hgg) Namen Benennung ndash Verehrung ndash Wirkung Positionen der europaumlischen Moderne Berlin 2009 77ndash98 hier 79ndash81 88ndash90 Zum Hesychasmus liegt eine umfangrei-che Literatur vor Das Nachschlagewerk von Sergej Choružij (Hg) Isichazm annotiro-vannaja bibliografija Moskva 2004 umfasst mehr als 10000 Titel in 20 Sprachen

52 Die Unterscheidung von Gottes unerkennbarem Wesen und seinen wahrnehmbaren Wirk-kraumlften reicht bis auf Philon von Alexandria (gest ca 40 n Chr) zuruumlck Siehe Fairy v Lilienfeld bdquoHesychasmusldquo in Theologische Realenzyklopaumldie Bd 15 BerlinNew York 1986 282ndash289 ndash bdquoEnergieldquo ist Synonym fuumlr jeden bdquoAustrittldquo Gottes aus seinem Wesen Die bdquoSaumlttigungldquo mit goumlttlicher Energie erklaumlrt beispielsweise auch die gnadenreiche Heil-wirkung die von den Gebeinen der Heiligen selbst nach deren Tod ausgeht

53 Ebd 284

18 Michael Hagemeister

τοῦ Χριστοῦ Mt 171minus13) zuteil geworden war54 Fuumlr den endzeitlich gestimm-ten Palamas war diese Schau eine Vorwegnahme der Parusie der Vereinigung des Geschaffenen und des Ungeschaffenen und des kuumlnftigen Reiches Gottes somit bdquorealisierte Eschatologieldquo55

Der Glaube an die Wahrnehmbarkeit des ungeschaffenen ewigen Lichtes als Ausfluss der Energien Gottes stieszlig jedoch auf Widerspruch Palamasrsquo promi-nentester Gegner war der aus Kalabrien stammende Moumlnch Barlaam (ca 1290ndash1348) der in der Tradition der abendlaumlndischen rationalistischen Scholastik die Unterscheidung des transzendenten unzugaumlnglichen Wesens Gottes und der da-von untrennbaren Energien die aber ad extra wirken und sich dem Menschen mitteilen als haumlretisch verwarf und auf der absoluten Unerkennbarkeit Gottes be-stand Rom lehnte denn auch die Energienlehre des Palamas aufs schaumlrfste ab Dagegen erkannte die byzantinische Kirche sie 1341 und 1351 als Dogma an Seitdem gilt der palamitische Hesychasmus als ein Spezifikum der Orthodoxie und dient gerade heute wieder der polemischen Abgrenzung gegenuumlber dem Wes-ten56

Fuumlr die bereits genannten Philosophen Pavel Florenskij und Aleksej Losev charakterisiert das Bekenntnis zum Hesychasmus den Kulturtypus des christli-chen Mittelalters der sich in idealer Weise in Byzanz und in der Moskauer Rusrsquo ausgepraumlgt habe und in diametralem Gegensatz zur sogenannten bdquoRenaissance-Kulturldquo des Westens stehe Merkmale jener integralen Kultur des christlichen Ostens seien Gemeinschaftlichkeit (sobornostrsquo) Geistigkeit (duchovnostrsquo) Ob-jektivitaumlt Konkretheit Ganzheit (celrsquonostrsquo) und Ganzheitlichkeit (celostnostrsquo) synthetische Schau und Realismus57 waumlhrend die westliche Moderne seit der Re-naissance gepraumlgt sei durch Subjektivismus Relativismus szientifische Ratio-nalitaumlt (bdquoEntzauberung der Weltldquo) Materialismus Liberalismus Individualismus

54 Siehe Sergej Choružij bdquoSvet Plotinov i svet Favora mistika sveta v neoplatonizme i isi-

chazmeldquo in Aleksej Lidov (Hg) Ierotopija Ognja i Sveta v kulrsquoture vizantijskogo mira Moskva 2013 37ndash44 Zur Terminologie des Hesychasmus ders bdquoAnalitičeskij slovarʼ isi-chastskoj antropologiildquo in ders K fenomenologii askezy Moskva 1998 22ndash186

55 Peter Kawerau Das Christentum des Ostens Stuttgart [ua] 1972 131 56 Siehe zB die Arbeiten des Moskauer Theologen Igorʼ Ėkonomcev (Archimandrit Ioann)

bes bdquoIsichazm i vostočnoevropejskoe Vozroždenieldquo in Bogoslovskie trudy 29 (1989) 167ndash196 erweiterte Fassung bdquoDer Hesychasmus und die Renaissance in Osteuropaldquo in Karl Christian Felmy (Hg) Tausend Jahre Christentum in Russland Zum Millennium der Taufe der Kiever Rusrsquo Goumlttingen 1988 731ndash771 ndash Im 19 Jahrhundert erlebte der Hesy-chasmus im Zuge der Wiederbelebung mystischer Froumlmmigkeit durch Paisij Veličkovskij (1722ndash1794) eine Bluumlte im russischen Starzentum Dabei handelt es sich auch ndash aumlhnlich wie beim Pietismus ndash um eine Reaktion auf die Einfluumlsse der westlichen Aufklaumlrung Siehe die Beitraumlge in Adalberto Mainardi (Hg) Paisij lo starec Atti del III Convegno ecumenico internazionale di spiritualitagrave russa Bose 20ndash23 settembre 1995 Magnano 1997

57 Die Uumlberwindung der Trennung des erkennenden Subjekts vom Objekt der Erkenntnis (Descartes Locke Kant) durch das spekulative intuitive Erfassen des Wesens (der Ideen des Absoluten) als des eigentlich Realen hat die russische Philosophie des 20 Jahrhunderts bdquolebendiges Wissenldquo (živoe znanie) bdquoIdeal-Realismusldquo (ideal-realizm) oder bdquointuitiven Realismusldquo (intuitivnyj realizm) genannt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 19

Abstraktheit Zersplitterung und Atomisierung58 Der Sieg des Nominalismus im mittelalterlichen Universalienstreit und die Feier des autonomen Individuums in Renaissance Humanismus und Aufklaumlrung markieren in dieser katastrophischen Perspektive den Zerfall der goumlttlichen Ordnung des Universums und der Sakralitaumlt von Hierarchie und Herrschaft und damit den bdquoSuumlndenfallldquo der abendlaumlndischen Kultur die im Anthropozentrismus der satanischen Hybris einer bdquoSelbstvergot-tungldquo des Menschen (čelovekobožie)59 zugleich gipfele und scheitere60

Am Anfang dieser verhaumlngnisvollen Spaltung standen die Annahme der pa-lamitischen Lehre durch die Ostkirche und die Ablehnung dieser Lehre im Westen durch den bdquoRenaissance-Menschenldquo (vozroždenec) Barlaam den Lehrer Boccac-cios und Petrarcas61 Mit aller Schaumlrfe formulierte Losev diesen Gegensatz bdquo[hellip] entweder ist das Taborlicht untrennbar vom Wesen Gottes und ist deshalb Gott selbst (obwohl Gott selbst nicht [das] Licht ist) ndash dann ist die Orthodoxie gerettet oder das Licht ist vom Wesen Gottes trennbar und darum geschaffen ndash dann be-ginnen die apokalyptischen Kraumlmpfe des Renaissance-Westensldquo62 Indem sie Bar-laam einen bdquozugereisten Kalabrierldquo und seine Anhaumlnger mit dem Bann belegte habe die Orthodoxe Kirche so Losev die damals heraufziehende Renaissance

58 Siehe zB Pavel Florenskij bdquoAvtoreferat (192526)ldquo in Voprosy filosofii 1988 12 113ndash

116 dt Pavel Florenski bdquoAutorreferatldquo in ders Leben und Denken hg von Fritz und Sieglinde Mierau Bd 1 Ostfildern 1995 32ndash38 Aleksej Losev Dialektika mifa (1930) Moskva 2001 137ndash138 dt Die Dialektik des Mythos Hamburg 1994 109 ndash Die wertende Entgegensetzung von mittelalterlicher und Renaissance-Kultur (bzw der Typen bdquoobjekti-verldquo und bdquosubjektiverldquo Kulturen) findet sich durchgaumlngig im Werk Florenskijs und Losevs Siehe zuletzt Oksana SedychJulija Grišatova bdquoRusskij Renessans o Renessanseldquo in Vo-prosy filosofii 2015 6 111ndash121

59 bdquoSatan war der erste Revolutionaumlrldquo zitiert Losev einen (apokryphen) Ausspruch des Hl Serafim von Sarov Aleksej Losev bdquoDopolnenie k sbquoDialektike mifalsquo (novyj fragment)ldquo in AF Losev tvorčestvo tradicii interpretacii Moskva 2014 397ndash411 hier 401

60 So degradiere ndash um nur ein Beispiel fuumlr das Scheitern der Renaissance zu geben ndash das heliozentrische Weltbild eines Kopernikus und Giordano Bruno den Menschen zum Be-wohner eines bdquonichtigen Sandkornsldquo im unendlichen Weltraum SedychGrišatova bdquoRuss-kij Renessansldquo 114 Florenskij suchte denn auch in seiner Schrift Mnimosti v geometrii (1922) das geozentrische Weltbild des Mittelalters zu rehabilitieren Zum griechisch-or-thodoxen Antikopernikanismus Vasilios Makrides Die religioumlse Kritik am kopernikani-schen Weltbild in Griechenland zwischen 1794 und 1821 Aspekte griechisch-orthodoxer Apologetik angesichts naturwissenschaftlicher Fortschritte Frankfurt aM [ua] 1995

61 Mitunter wurde Barlaam sogar als Agent einer groszligangelegten antiorthodoxen Verschwouml-rung des bdquoPapismusldquo denunziert Siehe Ėkonomcev bdquoIsichazmldquo 59 vgl ders bdquoDer Hesy-chasmusldquo 736 ndash Eine Kontrastierung des weltlichen Humanisten Petrarca und des Hesy-chasten Palamas unternahm Losevs Schuumller und Sekretaumlr Vladimir Bibichin lthttpwww philologyruliterature3bibikhin-90htmgt

62 Aleksej Losev Očerki antičnogo simvolizma i mifologii Moskva 1930 856 Auch Ėko-nomcev spricht von den bdquoschreienden Widerspruumlchen und Grimassen der westlichen Re-naissance deren geistiger Vater Barlaam wurdeldquo Ėkonomcev bdquoIsichazmldquo 63 (in der deut-schen Version ist von bdquohimmelschreienden Gegensaumltzenldquo und bdquoscheuszliglichen Grimassenldquo die Rede Ėkonomcev bdquoDer Hesychasmusldquo 746)

20 Michael Hagemeister

insgesamt verdammt (anafematstvovala) der alle westlichen Voumllker verfallen sei-en und wahrscheinlich bis ans Ende ihrer Tage verfallen blieben63

Bis zuletzt verteidigte Losev ein mit Orden des Sowjetstaates ausgezeich-neter Philosoph der 1929 von Archimandrit David (Muchranov 1847ndash1930) ei-nem Fuumlhrer der hesychastischen bdquoNamensverehrerldquo (imjaslavcy)64 heimlich zum Moumlnch geweiht worden war die Lehre des Palamas als einen Grundpfeiler der Orthodoxie65 Gleichzeitig hielt er an seiner schroffen Ablehnung des bdquoRenaissan-ce-Westensldquo fest dessen Geschichte insgesamt nichts anderes sei als bdquoeine libera-le Kritik des Mittelaltersldquo 1978 stellte Losev in seiner umfangreichen Studie zur Aumlsthetik der Renaissance der bdquoganzheitlichen Kulturldquo (celostnaja kulrsquotura) des Mittelalters die zerrissene Kultur der Renaissance gegenuumlber die auf der Verabso-lutierung und bdquotitanischen Verherrlichungldquo des isolierten Subjekts und der bdquoAbge-trenntheit vom lebendigen Seinldquo (otryv ot živogo bytija) beruhe66 In einem Ge-spraumlch mit dem Schriftsteller Viktor Erofeev das 1985 veroumlffentlicht wurde de-nunzierte Losev den Typus des bdquoRenaissance-Menschenldquo der sich selbst vergoumltt-liche und deshalb dem Nihilismus und Satanismus verfalle bdquoIndem die Renais-sance das Subjekt zum Absolutum erhob oumlffnete sie den Weg fuumlr den Triumph des Subjektivismus in den folgenden Jahrhunderten In diesem Sinne stellt der gesamte Westen fuumlr mich eine Sackgasse des Denkens darldquo67 Damit geriet der Philosoph einerseits in scharfen Gegensatz zum sowjetischen Selbstverstaumlndnis das sich als Erbe und Vollender gerade jener bdquoprogressivenldquo Prozesse und huma-nistischen Traditionen sah die von der europaumlischen Renaissance ausgegangen

63 Losev Očerki 849 856 64 Zur Bewegung des imjaslavie die zu Beginn des 20 Jahrhunderts auf dem Athos entstand

und in Florenskij und Losev prominente Unterstuumltzer fand liegt inzwischen eine reiche Literatur vor Siehe die juumlngste Veroumlffentlichung Antoine Niviegravere Les glorificateurs du nom Une querelle theacuteologique parmi les moines russes du mont Athos (1907ndash1914) Genegraveve 2016

65 Siehe Valentina Postovalova bdquoAfonskij spor ob Imeni Božiem v filosofsko-bogoslovskom osmyslenii AF Losevaldquo in AF Losev 95ndash106 bes 105f

66 Aleksej Losev Ėstetika Vozroždenija Moskva 21982 (11978) 45 61 137 und passim Losevs Modernekritik erinnert an Heidegger und dessen Begriff der bdquoSeinsvergessenheitldquo Wie fuumlr Heidegger so war auch fuumlr Losev (und Florenskij) der Agent der verhassten Moder-ne ein bdquorechnendesldquo und bdquowurzellosesldquo mythisches Judentum Zu Losevs metaphysischem Antisemitismus (bdquodas satanische Wesen des Judentumsldquo) siehe zuletzt mit zahlreichen Belegen Natalrsquoja Boneckaja Duch Serebrjanogo veka (fenomenologija ėpochi) Moskva Sankt-Peterburg 2016 688ndash693

67 Aleksej Losev bdquoV poiskach smyslaldquo in Voprosy literatury 1985 10 205ndash231 hier 229 Zu Losevs Kritik der bdquoRenaissance-Kulturldquo des Westens ausfuumlhrlich Annett Jubara Die Philosophie des Mythos von Aleksej Losev im Kontext bdquoRussischer Philosophieldquo Wiesba-den 2000 bes 131ndash154 Siehe auch Naftalij Prat bdquoAleksej Losev und der Totalitarismusldquo in Leonid Luks (Hg) Das Christentum und die totalitaumlren Herausforderungen des 20 Jahrhunderts Koumlln [ua] 2002 103ndash114 bes 108f

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 21

waren (augenfaumlllig etwa in der Architektur der 1930er bis 50er Jahre)68 Anderer-seits erwies sich der orthodoxe Moumlnch damit auch als Apologet des Sowjetregi-mes bedroht die Autonomie des Individuums doch den Wesenskern einer jeden Herrschaft die das Wahrheitsmonopol fuumlr sich beansprucht

Die Ablehnung der modernen bdquokopernikanischen Weltldquo (Hans Blumen-berg) durchzieht das gesamte philosophische Werk Losevs und Florenskijs dazu gehoumlren die Ablehnung des heliozentrischen Weltbildes die Polemik gegen Kants kritischen Idealismus (die bdquokopernikanische Wendeldquo in der Philosophie) die Ab-lehnung der Zentralperspektive in der Kunst die Ablehnung des nominalistischen Rationalismus und schlieszliglich die Ablehnung der saumlkularen und demokratischen Gesellschaftsordnung zugunsten einer bdquoVerkirchlichungldquo (ocerkovlenie) aller Be-reiche der Gesellschaft und des Staates in Gestalt einer theokratischen Synarchie Florenskij der sich als einen mittelalterlichen Menschen charakterisierte69 ndash Ni-kolaj Berdjaev selbst Verkuumlnder eines religioumls-integralen bdquoNeuen Mittelaltersldquo nannte ihn einen bdquoraffinierten Reaktionaumlrldquo ndash70 war uumlberzeugt dass die bdquoentseelte Renaissance-Zivilisationldquo sich erschoumlpft habe und eine neue ganzheitlich-objekti-ve Kultur anbrechen werde71 Vorbild dieser bdquoKultur des anderen Typusldquo werde Russland sein bdquoerste Keimeldquo seien bereits zu erkennen Seine Zeit begriff Floren-skij bdquoan den Wasserscheiden des Denkensldquo und er sah seine Lebensaufgabe darin bdquoWege zu bahnen zu einer kuumlnftigen ganzheitlichen Weltanschauungldquo72

68 Losevs Renaissance-Kritik (va in Ėstetika Vozroždenija) wurde deshalb auch als ver-

schleierte Kritik am Sowjetsystem verstanden Siehe Annett Jubara bdquoAleksej Losevs Philosophie des Mythos als Kritik an der Sowjetischen Moderneldquo in Studies in East Euro-pean Thought 56 (2004) 211ndash224 Aus dem Kreis der Schuumller Losevs gingen seit den 1960er Jahren zahlreiche dissidentische russische Nationalisten hervor Nikolaj Mitrochin Russkaja partija Dviženie russkich nacionalistov v SSSR 1953ndash1985 Moskva 2003 288f Zur Kritik der Renaissance-Zivilisation siehe auch Vladimir Bibichin Novyj renessans Moskva 1998 bes 131ndash155

69 Siehe Florenskij bdquoAvtoreferatldquo Noch im Maumlrz 1933 nach seiner Verhaftung erklaumlrte Flo-renskij gegenuumlber den Ermittlungsbeamten bdquoIch Pavel Aleksandrovič Florenskij [hellip] bin dem Charakter meiner politischen Anschauungen nach ein Romantiker des Mittelalters un-gefaumlhr des 14 Jahrhundertsldquo Vitalij Šentalinskij bdquoUdel veličijaldquo in Ogonek 1990 45 23ndash27 hier 26

70 Nikolaj Berdjaev Samopoznanie (Opyt filosofskoj avtobiografii) Moskva 1991 161 Sie-he Nikolaj Berdjaev Novoe srednevekovrsquoe Berlin 1924 dt Nikolaus Berdjajew Das Neue Mittelalter Darmstadt 1927

71 Siehe Michael Hagemeister bdquoWiederverzauberung der Welt ndash Pavel Florenskijs Neues Mittelalterldquo in Norbert Franz [ua] (Hgg) Pavel Florenskij ndash Tradition und Moderne Beitraumlge zum Internationalen Symposium an der Universitaumlt Potsdam 5 bis 9 April 2000 Frankfurt aM [ua] 2001 21ndash41 Zu Florenskijs Kritik an Renaissance und Humanismus (bdquoder Humanismus entsprang der Kabbalaldquo) siehe auch Ilona Svetlikova bdquoOb ideologii sbquoobratnoj perspektivylsquo Pavla Florenskogoldquo in Russkaja intellektualʼnaja revoljucija 1910ndash1930-ch godov Moskva 2016 123ndash139 zu den Uumlbereinstimmungen mit Heidegger siehe Viktor Arslanov Postmodernizm i russkij bdquotretij putrsquoldquo tertium datur rossijskoj kulrsquotury XX veka Moskva 2007 472ndash499

72 Florenskij bdquoAvtoreferatldquo 114

22 Michael Hagemeister

In juumlngster Zeit hat das wiedererwachte Interesse an der eigenen spirituellen Tradition und ihren byzantinischen Wurzeln ndash oftmals verbunden mit dem Bestre-ben sich vom bdquosaumlkularen Westenldquo und der bdquowestlichen Moderneldquo abzugrenzen ndash zu einer Wiederbelebung des palamitischen Hesychasmus (neopalamizm) und der ndash davon zu unterscheidenden ndash bdquoNamensverehrungldquo (imjaslavie) gefuumlhrt73 Be-reits in den 1970er Jahren war John Meyendorffs klassische Studie St Greacutegoire Palamas et la mystique orthodoxe (Paris 1959) ins Russische uumlbersetzt worden und kursierte in der Sowjetunion in Samizdat-Ausgaben im Milieu religioumls-philo-sophischer Dissidenten Heute wird die Wiederbelebung des Hesychasmus auch durch den patriotischen Kult um Serafim von Sarov (Prochor Mošnin 1759ndash1833) befoumlrdert einen Wundertaumlter und Apokalyptiker der im postsowjetischen Russland zu einem der meistverehrten Heiligen avanciert ist74 In einer in viele Sprachen uumlbersetzten und millionenfach verbreiteten Schrift schildert sein Schuuml-ler Nikolaj Motovilov (1809ndash1879) die Verklaumlrung Serafims im ungeschaffenen Licht des Heiligen Geistes die sich angeblich im November 1831 auf einer einsa-men verschneiten Waldlichtung ereignet hat75

73 Dies gilt nicht nur fuumlr Russland auch auf Vertreter der angelsaumlchsischen bdquoRadical Ortho-

doxyldquo die das Projekt einer von modern-saumlkularem Denken nicht korrumpierten Theologie verfolgen uumlben Hesychasmus und russische Sophiologie starke Faszination aus Siehe die Beitraumlge in Adrian PabstChristoph Schneider (Hgg) Encounter Between Eastern Ortho-doxy and Radical Orthodoxy Transfiguring the World Through the Word Farnham 2009 Zur Wiederbelebung des imjaslavie im post-sowjetischen Russland siehe Scott M Ken-worthy bdquoDebating the Theology of the Name in Post-Soviet Russia Metropolitan Ilarion Alfeev and Sergei Khoruzhiildquo in Katya Tolstaya (Hg) Orthodox Paradoxes Hetero-geneities and Complexities in Contemporary Russian Orthodoxy LeidenBoston 2014 250ndash264 Siehe auch Loren Grahams Bericht uumlber diskrete Zusammenkuumlnfte der imjaslav-cy im Kellergeschoss der Moskauer Tatrsquojana-Kirche in den fruumlhen 2000er Jahren Loren GrahamJean-Michel Kantor Naming Infinity A True Story of Religious Mysticism and Mathematical Creativity Cambridge MassLondon 2009 1ndash5

74 Fuumlr die Anhaumlnger der Doktrin einer bdquoAtomaren Orthodoxieldquo (atomnoe pravoslavie) ist Se-rafim auch der Schutzheilige der russischen Atombombe wurde doch Sarov der Ort seines Wirkens 1946 unter dem Namen Arzamas-16 zur streng geheimen Nuklearstadt in der Wissenschaftler unter ihnen Andrej Sacharov am Bau der sowjetischen Atom- und Was-serstoffbomben arbeiteten Patriotische Russen deuten dies als Zeichen dass bdquoim Hause unseres Vaters Serafimldquo mit dessen Segen der nukleare bdquoSchild zum Schutz der Heimatldquo geschmiedet worden sei Pavel V Florenskij bdquoNeobchodimostrsquo našej atomnoj bombyldquo in Naš sovremennik 1997 4 219ndash221 Bei dem Verfasser handelt es sich um einen Enkel des beruumlhmten Philosophen Siehe auch lthttpsruwikipediaorgwiki Атомное_правосла виеgt

75 Die Schrift deren Authentizitaumlt umstritten ist wurde bekannt unter dem Titel bdquoGespraumlch uumlber das Ziel des christlichen Lebensldquo (Beseda o celi christianskoj žizni) Erstmals veroumlf-fentlicht wurde das bdquoGespraumlchldquo 1903 von Sergej Nilus (1862ndash1929) dem Herausgeber und Kommentator der Protokolle der Weisen von Zion Siehe Michael Hagemeister bdquoIl proble-ma della genesi del sbquoColloquio con Motovilovlsquoldquo in Adalberto Mainardi (Hg) San Sera-fim Da Sarov a Diveevo Atti del IV Convegno ecumenico internazionale di spiritualitagrave russa Bose 18ndash20 settembre 1996 Magnano 1998 157ndash174 Bis heute gibt es keine kriti-sche Ausgabe dieses zentralen Textes russischer Geistigkeit

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 23

Von der Wiederbelebung des Hesychasmus zeugt auch das groszligangelegte Projekt einer bdquosynergetischen Anthropologieldquo (sinergijnaja antropologija) des Mathematikers Physikers und religioumlsen Philosophen Sergej Choružij Prakti-sches Ziel das seit 2005 durch ein eigenes Institut in Moskau verfolgt wird ist die psychosomatisch-holistische Selbsttransformation des Menschen die auf unmittelbarer (mystisch-energetischer) Erfahrung bzw Einwirkung des ontolo-gisch Anderen (Goumlttlichen) beruht sowie die Uumlberwindung der Subjekt-Objekt-Trennung der modernen westlichen Philosophie die Choružij fuumlr den von ihm als krisenhaft und katastrophisch beschriebenen Zustand der westlichen Moderne verantwortlich macht Im Unterschied zu orthodoxen Fundamentalisten und Anti-Westlern sucht Choružij indes die asketischen Praktiken des Hesychasmus mit modernen und postmodernen westlichen Anthropologien (Kierkegaard Scheler Heidegger und insbesondere Foucaults technique oder practique de soi) in Bezie-hung zu setzen76

bdquoPolitischer Hesychasmusldquo

Es duumlrfte deutlich geworden sein dass Hesychasmus nicht nur eine weltabge-wandte mystisch-asketische bdquogeistige Praxisldquo bezeichnet sondern auch als Kampfbegriff gegen die saumlkulare Kultur des bdquoWestensldquo und der bdquowestlichen Mo-derneldquo dient Dies gilt vor allem fuumlr das Konzept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo (političeskij isichazm)

In den russischen Diskurs wurde dieses Konzept um die Mitte der 1960er Jahre von dem Leningrader Mediaumlvisten und Byzantinisten Gelian Prochorov ein-gefuumlhrt77 Seiner Hauptthese zufolge wurde der Hesychasmus nachdem er aus den Klosterzellen herausgetreten war und eine philosophisch-theologische

76 Siehe Sergej Choružij Očerki sinergijnoj antropologii Moskva Inst Sinergijnoj antropo-

logii Inst filosofii teologii i istorii Sv Fomy 2005 ders (Hg) Fonarrsquo Diogena Proekt sinergijnoj antropologii v sovremennom gumanitarnom kontekste Moskva 2010 ders bdquoDie mystische Verwandlung des Menschen Uumlber den Hesychasmus als Raum der Philo-sophieldquo in Fuge Journal fuumlr Religion amp Moderne 7 (2010) 72ndash99 Siehe auch die Web-site lthttpsynergia-isarugt Kristina Stoeckl bdquoA New Anthropology Sergej S Khoru-žijrsquos Search for an alternative to the Cartesian Subject in sbquoOčerki sinergijnoj antropologiilsquoldquo in Studies in East European Thought 59 (2007) 237ndash245

77 Gelian Prochorov bdquoĖtničeskaja integracija v Vostočnoj Evrope v XIV-m veke Ot isichastskich sporov do Kulikovskoj bitvyldquo in Doklady otdelenija ėtnografii 2 (196265) Leningrad 1966 81ndash110 ders bdquoIsichazm i obščestvennaja myslʼ v Vostočnoj Evrope v XIV vldquo in Literaturnye svjazi drevnich slavjan (Trudy otdela drevnerusskoj literatury 23) Leningrad 1968 86ndash108 ders bdquoKulʼturnoe svoeobrazie ėpochi kulikovskoj bitvyldquo in Kulikovskaja bitva i podldquoem nacionalrsquonogo samopoznanija (Trudy otdela drevne-russkoj literatury 34) Leningrad 1979 3ndash17 ndash Prochorov gehoumlrte bereits zu Sowjetzeiten ins Lager der (neo-)slavophilen Anti-Westler er war eng befreundet mit dem bdquoEurasierldquo und Antisemiten Lev Gumilev (1912ndash1992) und uumlbernahm von diesem das Konzept der bdquoEthnogeneseldquo

24 Michael Hagemeister

Grundlegung erfahren hatte am Ende des 14 Jahrhunderts zu einem entscheiden-den politischen und kulturellen Faktor nicht nur in Byzanz sondern in ganz Ost-europa und lieferte unter anderem das ideologische Fundament zur Konsolidie-rung der nachmongolischen Rusʼ Im Streit zwischen dem bdquorationalistischen Hu-manismus und dem kontemplativen Hesychasmus [hellip] entschied Byzanz uumlber sein geistiges Schicksal Das Land blieb bis zuletzt mittelalterlich Den Hesy-chasten gelang es zu Wortfuumlhrern der oumlffentlichen Meinung in Byzanz zu werden die letzte schoumlpferische Synthese seiner traditionellen Kultur zu entwickeln und eine breite kulturelle und gesellschaftliche Bewegung in Gang zu setzen die zu einer Erneuerung des Mittelalters und zu einer Wiederbelebung der Orthodoxie im ganzen oumlstlichen Europa fuumlhrteldquo78

Im Anschluss an das von seinem Lehrer Dmitrij Lichačev entwickelte Kon-zept einer bdquoVorrenaissanceldquo (Predvozroždenie)79 spricht Prochorov von einer bdquovorrenaissancelichen Gegenreformationldquo (predvozroždenčeskaja kontrreforma-cija) und einer bdquoOrthodoxen Renaissanceldquo (Pravoslavnoe Vozroždenie)80 Ge-meint war damit dass die Palamiten (Hesychasten) den Sieg der Barlaamiten ver-hindern konnten und auf die Schriften der antiken Kirchenvaumlter zuruumlckgreifend ein mystisch-kontemplatives Aumlquivalent zum rationalistischen und saumlkularen Hu-manismus geschaffen haumltten Auf diese Weise habe der drohende Uumlbergang der byzantinischen und osteuropaumlischen christlich gepraumlgten Kultur von der bdquoVorre-naissanceldquo zu einer auf heidnisch-antiken Wurzeln beruhenden Renaissance ab-gewendet werden koumlnnen81 Auf die bdquoVorrenaissanceldquo sei ein bdquoNeues Mittelalterldquo gefolgt das in der bdquoHeiligen Rusʼldquo um die Wende zum 15 Jahrhundert seinen Houmlhepunkt erreicht habe Ihm verdanke Russland seine Groumlszlige und die russische Kultur ihre bdquoUniversalitaumltldquo und bdquoGeistigkeitldquo82

Bemerkenswert ist dass der sowjetische Wissenschaftler die beiden ideolo-gischen Lager mit traditionellen (neo-)slavophilen Wertungsoppositionen wie sie bereits bei Florenskij und Losev begegnet sind verbindet und dabei deutlich seine 78 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 4 79 Vor allem in seinem Buch Kulʼtura Rusi vremeni Andreja Rubleva i Epifanija Premudrogo

MoskvaLeningrad 1962 80 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 8 Siehe auch ders Nekogda ne narod a nyne narod

Božijhellip Drevnjaja Rusʼ kak istoriko-kulʼturnyj fenomen Sankt-Peterburg 2010 133ndash157 81 So auch Igorʼ Ėkonomcev bdquoDie osteuropaumlische sbquoVorrenaissancelsquo ist nicht die erste Stufe

zur saumlkularisierten Renaissance vom abendlaumlndischen Typ sondern ihre Antithese Der geistige und kulturelle Aufschwung in Osteuropa war die wahre volle und eindeutige Re-naissance die sich grundlegend von der westlichen Renaissance unterschied Sie haumltte sich niemals in eine Renaissance westlicher Praumlgung verwandeln koumlnnenldquo Ėkonomcev bdquoDer Hesychasmusldquo 764 vgl ders bdquoIsichazmldquo 69 Diese (osteuropaumlische) Renaissance so Ėkonomcev an anderer Stelle sei ungleich bdquoerhabener geistiger und reinerldquo gewesen als bdquodie westeuropaumlische Renaissance mit ihrer krankhaften Disharmonie zwischen Glauben und Vernunft Geist und Leib die trotz allem gespieltem Optimismus ein Gefuumlhl der Aus-weglosigkeit und Verzweiflung hinterlaumlsstldquo Igumen Ioann Ėkonomcev bdquoVizantinizm Kirillo-Mefodievo nasledie i kreščenie Rusildquo in ders Pravoslavie Vizantija Rossija Sbornik statej Moskva 1992 7ndash22 hier 18

82 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 9 15

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 25

Sympathie zeigt Die byzantinischen Humanisten werden von ihm als kalte Ratio-nalisten dargestellt die in der Hoffnung auf militaumlrische Unterstuumltzung durch den katholischen Westen im Kampf gegen die Osmanen bereit gewesen seien den eigenen Glauben zu opfern83 Die Hesychasten hingegen haumltten so Prochorov den Westen realistischer eingeschaumltzt und auf Hilfe von Seiten der orthodoxen Staaten gehofft Im entscheidenden Moment haumltten nicht die bdquoWestler-Huma-nistenldquo (zapadniki-gumanisty) mit ihren bdquokalten Uumlberlegungenldquo (cholodnymi rassuždenijami) beim Volk Gehoumlr gefunden sondern die Hesychasten mit ihren bdquoheiszligen Gebetenldquo (gorjačimi molitvami)84

Mit seiner Apologie eines bdquowiederbelebtenldquo Mittelalters und einer bdquoOrtho-doxen Renaissanceldquo die alle Bereiche des politischen gesellschaftlichen und kul-turellen Lebens gepraumlgt habe und deren Kern der Hesychasmus gewesen sei stieszlig Prochorov bei seinen sowjetischen Kollegen auf Kritik So sah Apollon Kuzmin im Palamismus eine desintegrative Erscheinung weshalb er Prochorovs positive Bewertung der Hesychasten bei der bdquoWiedergeburtldquo der Rusʼ zuruumlckwies85 Aumlhn-lich argumentierte Gennadij Litavrin Die Palamiten seien diejenigen gewesen die eine unrealistische Einschaumltzung der politischen Lage gehabt haumltten Sie haumltten die Bedrohung durch die Tuumlrken nicht erkannt und stattdessen die Illusion verbreitet die Feinde zum Christentum bekehren und zu neuen Untertanen ma-chen zu koumlnnen Der Palamismus sei eine bdquoIdeologie der Demutldquo und habe eine bdquounheilvolle Rolle in der Geschichte des Kampfes gegen die tuumlrkische Aggres-sionldquo gespielt86 Michail Sjuzjumov sprach sogar vom bdquoasozialen Charakter des Palamismusldquo der den aufkommenden humanistischen Tendenzen gegenuumlber feindlich gewesen und zur bdquoIdeologie der Reaktionldquo in Byzanz geworden sei87 Auf Ablehnung stieszlig Prochorov auch im Ausland Valerij Lepachin kritisierte den Begriff bdquopolitischer Hesychasmusldquo als unzulaumlssige Verbindung weltlicher und geistlicher Sphaumlren damit verliere der Hesychasmus seinen wesentlichen Sinn-gehalt88 Fuumlr den in Berkeley lehrenden Philologen Viktor Živov schlieszliglich war

83 Ebd 12 84 Ebd 13 ndash An anderer Stelle betont Prochorov den Gegensatz zwischen den abstrakten

bdquoausgedachtenldquo philosophischen Konstruktionen des europaumlischen Idealismus und der ganzheitlichen kontemplativ-spekulativen Welterfahrung der griechisch-byzantinischen Philosophie Prochorov bdquoĖtničeskaja integracijaldquo 90f An Florenskijs Renaissance-Kritik (etwa in Ikonostas 1922) erinnert auch Prochorovs Verweis auf den euklidischen Raum und den Perspektivismus der humanistischen Weltwahrnehmung mit seiner Illusion der Unendlichkeit Prochorov bdquoIsichazmldquo 94

85 Apollon Kuzmin bdquoCerkovʼ i svetskaja vlastʼ v ėpochu Kulikovskoj bitvyldquo in Voprosy naučnogo ateizma 37 (1988) 90ndash99

86 Gennadij Litavrin bdquoVizantija v period graždanskoj vojny i dviženija Zilotov (1341ndash1355 gg)ldquo in Sergej Skazkin (Hg) Istorija Vizantii Bd 3 Moskva 1967 135ndash160 hier 158

87 Michail Sjuzjumov bdquoFilosofija i bogoslovieldquo in ebd 234ndash256 hier 248f 88 Valerij Lepachin bdquoUmnoe delanie (o soderžanie i granicach ponjatija sbquoisichazmlsquo)ldquo in

Vestnik Russkogo Christianskogo Dviženija 164 1992 5ndash32 hier 23

26 Michael Hagemeister

bdquopolitischer Hesychasmusldquo bdquokonzeptuelles Unkraut [sornjak] das man so schnell wie moumlglich ausrottenldquo solle89

Fast ein halbes Jahrhundert nach ihrer ersten Veroumlffentlichung wurde Pro-chorovs Konzept eines bdquopolitischen Hesychasmusldquo von seinem Schuumller Vladimir Petrunin wieder aufgegriffen und aktualisiert In der 2009 erschienenen Monogra-phie bdquoDer politische Hesychasmus und seine Traditionen in der Sozialkonzeption des Moskauer Patriarchatsldquo90 stellt Petrunin das sogenannte bdquoNichtgehorsamkeits-prinzipldquo (princip nepovinovenija) wie es in den von der Moskauer Bischofssyno-de im August 2000 verabschiedeten bdquoGrundlagen der Sozialkonzeption der Rus-sischen Orthodoxen Kircheldquo formuliert worden ist91 in eine Tradition die er bis auf die bdquopolitischen Hesychastenldquo im Byzanz des 14 und 15 Jahrhunderts zu-ruumlckzufuumlhren sucht Immer wieder zieht Petrunin Parallelen zwischen dem spaumlten Byzanz und dem postsowjetischen Russland Hatten die Byzantiner den Hesy-chasmus als Reaktion auf den Humanismus des Westens hervorgebracht so diene heute die Sozialkonzeption der Abwehr des westlichen Saumlkularismus Liberalis-mus und Kapitalismus Damals wie heute stuumlnden der kirchliche Heilsauftrag und die Verteidigung des Glaubens uumlber den Interessen des Staates selbst ndash wie das Beispiel von Byzanz zeige ndash um den Preis seines Untergangs Ebenso wie die byzantinischen Hesychasten den mit dem Westen kollaborierenden Herrschern die Gefolgschaft im Kampf gegen die Osmanen verweigert haumltten da sie die bdquoReinheit ihres Glaubensldquo eher bdquounter einem tuumlrkischen Turban als unter der lateinischen Tiaraldquo gewahrt sahen92 rufe die Sozialkonzeption die Kirche heute dazu auf der Staatsmacht den Gehorsam zu verweigern sollte diese bdquodie ortho-doxen Glaumlubigen zum Abfall von Christus und Seiner Kirche sowie zu suumlndhaften

89 Viktor Živov bdquoVidenija sveta i problemy russkogo srednevekovogo isichazmaldquo in Lidov

(Hg) Ierotopija 350ndash367 hier 363 359 90 Vladimir Petrunin Političeskij isichazm i ego tradicii v socialʼnoj koncepcii Moskovskogo

Patriarchata Sankt-Peterburg 2009 91 Osnovy socialrsquonoj koncepcii Russkoj Pravoslavnoj Cerkvi III5 lthttpwwwpatriarchia

rudbtext141422htmlgt Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo wird von den meisten Inter-preten als ein bemerkenswertes Umdenken in der Kirchenpolitik angesehen hatte doch die Russische Orthodoxe Kirche unter Patriarch Sergij in einer prekaumlren Lage 1927 Loyalitaumlt gegenuumlber dem Sowjetstaat gefordert Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo war auch eine wichtige Voraussetzung fuumlr die Vereinigung der Auslandskirche mit dem Moskauer Pa-triarchat Zur Sozialkonzeption insgesamt Vasilios N Makrides bdquoDie politische Aufgabe der Kirche Bemerkungen anhand der Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kir-cheldquo in Irene DingelChristiane Tietz (Hgg) Die politische Aufgabe von Religion Per-spektiven der drei monotheistischen Religionen Goumlttingen 2011 219ndash243

92 Petrunin Političeskij isichazm 66f 120 Es handelt sich um eine zeitgenoumlssische Losung Siehe Halina Evert-Kappesowa bdquoLa tiare ou le turbanldquo in Byzantinoslavica 14 (1953) 245ndash257 ndash Auch Aleksandr Nevskij (1220ndash1263) zog eine Verstaumlndigung mit den Mongo-len einer Union mit Rom vor die ihm Papst Innozenz IV im Jahr 1248 angeboten hatte und wandte sich stattdessen gegen die bdquoLateinerldquo Heutige Anti-Westler feiern den Heili-gen der Russischen Orthodoxen Kirche deshalb auch als bdquoersten Eurasierldquo

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 27

und der Seele abtraumlglichen Taten noumltigenldquo93 Die Sozialkonzeption hat fuumlr Petru-nin nur einen moumlglichen Sinn Falls Russlands politische Elite sich weiterhin dem liberalen Wertekanon des Westens verschreibe und Russlands bdquoEigenartldquo (samo-bytnostʼ) als bdquoorthodoxe Zivilisationldquo bestreite94 muumlsse die Kirche ndash wie einst in Byzanz ndash dem Staat die Loyalitaumlt aufkuumlndigen und das Volk zum Widerstand auf-rufen

Es ist ganz offensichtlich dass die Prozesse der Globalisierung und Saumlkularisierung eng miteinander verbunden sind So wie einst die byzantinischen Hesychasten ist heute die Russische Kirche mit der westlichen Zivilisation konfrontiert die nach der Weltherrschaft trachtet war fruumlher der Katholizismus deren Grundlage so ist es jetzt der saumlkulare Humanismus [hellip] Waumlhrend sie [die westliche Welt MH] damals fuumlr die Hesychasten mit Rom gleichgesetzt wurde so verkoumlrpert heute das kosmopolitische New York den Westen Indem sie Liberalismus und Saumlkularisie-rung abwehrt tritt die Kirche auch gegen die politischen und wirtschaftlichen Hegemoniebestrebungen des Westens auf und stellt so ihr Bestreben unter Beweis die zivilisatorische Eigenstaumlndigkeit Russlands wieder herzustellen Wie schon vor 600 Jahren im Byzantinischen Imperium so ist auch heute in Russland allein die Kirche ein ernstzunehmender und gut organisierter Gegner des Westens und seiner saumlkularen Werte [hellip] Sollte Russland weiter den Weg der Saumlkularisierung be-schreiten so koumlnnte damit fuumlr die Kirche der gefaumlhrliche Praumlzedenzfall geschaffen werden in dem sie von ihrem Recht Gebrauch machen muumlsste das Volk zu zivilem Ungehorsam aufzurufen95

In seinem Vorwort nannte Prochorov das Buch seines Schuumllers eine bdquoWarnung an unseren Staat unsere saumlkulare Gesellschaft an uns alleldquo96 Wie das spaumlte Byzanz unter dem bdquoDruck aus dem Westenldquo gestanden habe ndash dem die Herrscher und die bdquoHumanistenldquo schlieszliglich nachgegeben haumltten ndash so laufe auch das postkommu-nistische Russland Gefahr dem bdquoDruck des Liberalismus und der Globalisierungldquo nachzugeben Allein die Orthodoxe Kirche habe sich damals wie heute als bdquoFes-tungldquo erwiesen faumlhig diesem bdquozersetzenden Einflussldquo Widerstand zu leisten97

Petrunins Buch das mit dem Segen von Metropolit Ilarion (Grigorij Al-feev)98 erschienen war stieszlig bei westlichen Forschern auf Skepsis und Ableh-nung So kritisierte Kristina Stoumlckl die unhistorische Interpretation und forcierte Aktualisierung der philosophischen theologischen und politischen Kontroversen des 14 Jahrhunderts sowie die einseitige konservative Interpretation der Sozial-konzeption Hesychasmus werde in dem Kirchendokument ebenso wenig erwaumlhnt

93 Osnovy socialrsquonoj koncepcii 94 Petrunin Političeskij isichazm 81 95 Ebd 122f 96 Ebd 5 97 Ebd 98 Zu jener Zeit Bischof von Wien und Oumlsterreich heute Leiter des Auszligenamtes des Moskau-

er Patriarchats und scharfer Kritiker des bdquomilitanten Saumlkularismusldquo des Westens Siehe auch lthttpazbykaruxristianstvo-pered-vyzovom-voinstvuyushhego-sekulyariz ma-2gt

28 Michael Hagemeister

wie der Untergang von Byzanz99 Klaus Buchenau warf Petrunin vor er bdquoverfor-m[e] und ideologisier[e] die urspruumlnglichen Motive des hesychastischen Moumlnch-tums bis zur Unkenntlichkeitldquo100 Und Viktor Živov der bereits Prochorovs Kon-zept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo als bdquoUnkrautldquo bezeichnet hatte sah in Petru-nins Buch ein Beispiel dafuumlr wie dieses sich bdquospontan und schaumldlichldquo ausbreite Die von Petrunin konstruierte bdquophantastische Genealogie des politischen Hesy-chasmusldquo beruhe so Živov auf einer bdquoMischung aus Einseitigkeit und Unwissen-heitldquo Weder sei der bdquotuumlrkische Turbanldquo fuumlr den Patriarchen attraktiv gewesen noch sei am Widerstand gegen die Union irgendetwas spezifisch bdquoHesychasti-schesldquo Petrunin habe ein bdquoPhantomldquo geschaffen dessen angebliche Verbindung mit der Sozialkonzeption man nicht weiter zu verfolgen brauche101

bdquoNeobyzantismusldquo Das Dritte Rom ndash der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo

Eine eigenwillige Interpretation des Hesychasmus und seine Wendung gegen den Westen stammen von Aleksandr Dugin dem Fuumlhrer der bdquoeurasischenldquo Bewegung und einflussreichsten Vordenker der Neuen Rechten in Russland Der polyglotte und belesene Autodidakt der nie eine akademische Ausbildung genossen hat war Gruumlnder der Partei der Nationalbolschewisten Berater des Vorsitzenden der Du-ma und des Generalstabs sowie von 2008 bis 2014 Professor fuumlr Soziologie an der renommierten Moskauer Lomonosov-Universitaumlt und Direktor des dortigen bdquoZentrums fuumlr Konservatismusstudienldquo Seit Anfang der 1990er Jahre verbreitet er mit graphomanem Eifer seine politischen und bdquometaphysischenldquo Botschaften in einer inzwischen kaum noch uumlberschaubaren Zahl von Publikationen102 und Web-Artikeln in mehreren Sprachen sowie durch spektakulaumlre Auftritte in staats-nahen Medien103 99 Kristina Stoumlckl bdquoPolitical Hesychasm Vladimir Petruninrsquos Neo-Byzantine Interpretation

of the Social Doctrine of the Russian Orthodox Churchldquo in Studies in East European Thought 62 (2010) 125ndash133

100 Klaus Buchenau Auf russischen Spuren Orthodoxe Antiwestler in Serbien 1850ndash1945 Wiesbaden 2011 480 Anm 2

101 Živov bdquoVidenija svetaldquo 364f ndash Von der Kritik offenbar unbeeindruckt verschaumlrfte Petru-nin noch seine Position So sprach er 2012 in einem Vortrag uumlber die gesellschaftliche und politische Wirkung der hesychastischen Gebetspraxis Nach dem Fall von Byzanz sei das bdquoJesusgebet faktisch zu einem sbquopolitischen Gebetlsquoldquo geworden das auf die bdquoVerwandlung [preobraženie] der orthodoxen Oumlkumeneldquo ausgerichtet gewesen sei und das bdquoPhaumlnomen der Heiligen Rusrsquoldquo hervorgebracht habe lthttpsynergia-isarup=8604gt

102 Zuletzt in der bislang fuumlnf Baumlnde umfassenden Reihe bdquoNoomachijaldquo (2014ndash2015) einer hochambitioumlsen letztlich aber manichaumlisch-schematischen Beschreibung der bdquoSuche nach dem Logosldquo in den ndash von Dugin essenzialistisch aufgefassten ndash bdquoWeltkulturenldquo

103 Auch die Literatur zu Dugin ist kaum noch uumlberschaubar Siehe zB Alexander Houmlllwerth Das sakrale eurasische Imperium des Aleksandr Dugin Eine Diskursanalyse zum post-sowjetischen russischen Rechtsextremismus Stuttgart 2007 Stefan Wiederkehr Die eurasische Bewegung Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwi-schenkriegszeit und im postsowjetischen Russland Koumlln [ua] 2007 227ndash261 Anton

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 29

Dugin deutet den Hesychasmus im Rahmen des sogenannten bdquointegralen Traditionalismusldquo einer antimodernen Denkrichtung die im ersten Drittel des 20 Jahrhunderts in Frankreich und Italien entstand und in Reneacute Gueacutenon (1886ndash1951) und Julius Evola (1898ndash1974) ihre bekanntesten (und auch fuumlr Dugin wichtigsten) Vertreter hat104 Ihre Lehre besagt dass alle Religionen ungeachtet ihrer histori-schen und regionalen Auspraumlgungen in ihrem esoterischen nur dem Eingeweih-ten zugaumlnglichen Kern eine gemeinsame urspruumlngliche Wahrheit teilen und als philosophia perennis tradieren das Wissen um die Goumlttlichkeit und den Zugang zu ihr Dieses sakrale und initiatorische Wissen sei im Verlauf der westlichen Mo-derne insbesondere durch die Aufklaumlrung verlorengegangen in traditionellen Gesellschaften (China Indien islamische Welt) jedoch bewahrt geblieben105

Auch die Orthodoxie so Dugin habe im Gegensatz zu Katholizismus und Protestantismus bdquodie Treue zum esoterischen Kernldquo bewahrt naumlmlich in ihrer mystischen Unterstroumlmung dem Hesychasmus106 In der Kanonisierung des Gre-gorios Palamas durch die Ostkirche bei gleichzeitiger Verdammung des Humanis-ten Barlaam sieht Dugin das Bekenntnis zum bdquognostisch-realistischen Geist der orthodoxen Esoterikldquo Ganz im Sinn des Traditionalismus deutet er die psycho-physische Uumlbung der Hesychasten das bdquogeistige Tunldquo als Verfahren der bdquoInitia-tionldquo und das Endziel der bdquoVerklaumlrungldquo und bdquoVergoumlttlichungldquo als bdquoalchemistische Verwandlung des Leibesldquo (alchimičeskoe preobraženie tela) Dadurch wuumlrden der bdquoDualismus von Geist und Materie Leib und Seeleldquo sowie die bdquoGrenzen der Individualitaumltldquo ndash charakteristisch fuumlr den bdquorein exoterischen Mystizismusldquo des Westens ndash aufgehoben107 Die bdquoTradition der hesychastischen Esoterikldquo sei die

Shekhovtsov bdquoThe Palingenetic Thrust of Russian Neo-Eurasianism Ideas of Rebirth in Aleksandr Duginrsquos Worldviewldquo in Totalitarian Movements and Political Religions 9 (2008) 491ndash506 Mark Sedgwick bdquoOccult Dissident Culture The Case of Aleksandr Du-ginldquo in Birgit Menzel [ua] (Hgg) The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimen-sions MuumlnchenBerlin 2012 273ndash292 Schmid Technologien der Seele 210ndash220

104 Aleksandr Dugin Filosofija tradicionalizma Moskva 2002 Zum Traditionalismus siehe das Standardwerk von Mark Sedgwick Against the Modern World Traditionalism and the Secret Intellectual History of the Twentieth Century OxfordNew York 2004 zu Dugin 221ndash237 Vgl auch Christopher DL Johnson The Globalization of the Jesus Prayer Con-testing Contemplation London New York 2010 70ndash73

105 Aumlhnliche Gedanken entwickelte Pavel Florenskij bereits 19081909 in seinem Vortrag bdquoObščečelovečeskie korni idealizmaldquo in dem er die bdquoEsoterikldquo der Philosophie Platons und seiner Nachfolger in der bdquoallgemeinmenschlichenldquo mystisch-magischen Weltauffas-sung der bdquoVolksseeleldquo wurzeln laumlsst

106 Das Folgende nach Aleksandr Dugin bdquoOboženie preestestvennejšeeldquo in Milyj angel 1 1991 56ndash59

107 Das Konzept der bdquoInitiationldquo und die Unterscheidung von bdquoesoterischldquo und bdquoexoterischldquo sind zentral fuumlr die Anhaumlnger des Traditionalismus siehe Sedgwick Against the Modern World 265 ndash Als Mitglied des okkultistischen und faschistischen Južinskij-Kreises machte Dugin in Moskaus bdquomystischem Untergrundldquo in den 1980er Jahren selbst Entgrenzugser-fahrungen mit Hilfe sexualmagischer Praktiken und bewusstseinserweiternder Drogen Bei einem Teil der orthodoxen Glaumlubigen stoumlszligt seine Esoterik denn auch auf Misstrauen und

30 Michael Hagemeister

bdquoSeele der russischen Orthodoxieldquo und habe in Serafim von Sarov ihren bdquoletzten leuchtendsten Vertreterldquo gefunden

Der Hesychasmus gehoumlre zum traditionellen Erbe von Byzanz das Russ-land angetreten habe als es zum Dritten Rom und zum Zentrum der orthodoxen Welt geworden sei bdquoWir sindldquo so Dugin bdquobyzantinisch in unserer Seele unseren Wurzeln und in unserer Identitaumltldquo108

Unser stabilstes Fundament ist Byzanz [hellip] Russland ist Byzanz [hellip] Unsere For-mel lautet Der Westen ist das Boumlse Byzanz das Gute Alles Schlechte das uumlber Byzanz geschrieben wurde ist eine Luumlge Das sind lediglich Winkelzuumlge im ideolo-gischen Kampf von Seiten des Westens [hellip] Jeder Russe muss wissen Byzanz ist das reine Gute Jeder der etwas anderes behauptet ist ein Feind [hellip] Wer Byzanz kritisiert ist ein Feind des russischen Volkes Das muss unser ehernes Prinzip sein [hellip] Byzanz ist der absolute Orientierungspunkt des russischen Projekts109

Damit sind Russlands Ort und Mission in der bdquohistoriosophischenldquo Deutung des Weltgeschehens bestimmt Nach Dugin wird die Geschichte der Menschheit be-herrscht vom bdquookkulten planetarischen Ringenldquo zweier antagonistischer Maumlchte dem bdquogroszligen Krieg der Kontinenteldquo Land gegen Meer Behemoth gegen Levia-than die organischen bodenstaumlndigen und traditionalistischen bdquoTellurokratienldquo des eurasischen Ostens gegen die wurzel- und seelenlosen materialistischen bdquoTha-lassokratienldquo des angloamerikanischen Westens das apokalyptische Tier aus dem Meer (Offb 13 1-10)110 Die USA als bdquoQuintessenz des Westensldquo und New York als moderne Hure Babylon (Offb 17 und 18) sind das Reich des Antichrist eine chimaumlrisch-antiorganische transplantierte Zivilisation die keine sakrale Tradi-tion besitze ihre Selbsterhebung zu bdquoGottes neuem Israelldquo und bdquoNeuem Zionldquo ndash gemaumlszlig der anglo-amerikanischen Interpretation der Substitutionslehre ndash deutet Dugin als besonders perfiden Taumluschungsversuch des bdquowestlichen Antichristldquo Das Jahr der Entdeckung Amerikas (1492 ist nach der altrussisch-byzantinischen

offene Ablehnung Fuumlr den Sektenexperten des Moskauer Patriarchats ist Dugin ein bdquoge-faumlhrlicher Feindldquo der die bdquoOrthodoxie in Kabbalistik umzuschmelzenldquo versuche Andrej Kuraev Cerkovrsquo v mire ljudej Moskva 2006 142

108 Aleksandr Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Tradition Duginrsquos Guidelineldquo lthttpswwwyoutubecomwatchv=m0RIa61eZDggt

109 Aleksandr Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo in ders Russkaja Veščrsquo Očerki nacionalrsquonoj filosofii Bd 1 Moskva 2001 69ndash76 hier 70ndash72 (Hervorhebungen im Original) Der Be-griff bdquoByzantismusldquo (vizantizm) ndash im Unterschied zum negativ konnotierten bdquoByzantinis-musldquo ndash als Bezeichnung eines dem europaumlischen entgegengesetzten Kulturtypus der auf den Prinzipien von Orthodoxie und Selbstherrschaft beruht geht auf den konservativen Philosophen Konstantin Leontrsquoev (1831ndash1891) und sein Buch Vizantizm i slavjanstvo (1875) zuruumlck

110 Auch fuumlr den von Dugin verehrten Heidegger waren die Seemaumlchte Groszligbritannien und Amerika nicht Teil der abendlaumlndischen Tradition sondern im Gegensatz zum restlichen Europa wurzellos und sinnleer Der Antagonismus von Land und Meer die kategorische Unterscheidung von Freund und Feind sowie das Konzept des Katechon gehen auf Carl Schmitt zuruumlck als dessen Schuumller Dugin sich bezeichnet Siehe auch Fn 41

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 31

Weltaumlra das Jahr 7000 nach dem chiliadischen Weltwochenschema also der sieb-te Tag der Schoumlpfung) verweise ebenso auf den Endzeitcharakter der bdquoNeuen Weltldquo wie die bdquosakrale Geographieldquo nach der das Paradies im Osten die Houmllle aber das bdquoLand des Todesldquo im Westen zu suchen seien111

Dem Antichrist entgegen stehe seit jeher der Katechon dessen bdquoletzter Hortldquo bis ans Ende der Zeit die Heilige Rusrsquo das Dritte Rom sei112 In der petrini-schen Epoche als die Hauptstadt in die bdquonoumlrdlichen Suumlmpfeldquo in die bdquoGespenster-stadtldquo Petersburg verlegt und das Patriarchat abgeschafft wurde haumltten allein die Altglaumlubigen den Geist von Byzanz den Katechon bewahrt zweihundert Jahre lang sei der Weg frei gewesen fuumlr das zerstoumlrerische Wirken des Antichrist Erst die sowjetische Periode habe eine bdquomystische Ruumlckkehr zum Byzantismusldquo be-deutet indem die Bolschewiki das heilige Moskau wieder zur Hauptstadt erklaumlr-ten das Patriarchat wiederherstellten die Ausbeuter als Klasse vernichteten und dem Westen auf allen Gebieten Widerstand boten Im bdquoroten Byzantismusldquo der Dritten Internationale sei der Katechon zuruumlckgekehrt113

Um seine Mission zur Erloumlsung der Menschheit auch kuumlnftig zu erfuumlllen muumlsse das Dritte Rom nach dem Zerfall der Sowjetunion114 nunmehr ein groszligkon-tinentales sakral fundiertes bdquoEurasisches Imperiumldquo errichten gegen den Erz-feind die materialistische universalistische alles nivellierende Zivilisation des Westens als der Verkoumlrperung des bdquoweltweiten Boumlsenldquo (mirovoe zlo) gegen Libe-ralismus Individualismus Globalismus Egalitarismus sowie die bdquomondialisti-scheldquo Konzeption der Menschenrechte115 Verbuumlndete im bevorstehenden apoka-lyptischen bdquoEndkampfldquo (von Dugin stets deutsch geschrieben) werden all jene sein die den Bezug zum bdquoSakralenldquo noch nicht verloren haben russische Altglaumlu-bige ultraorthodoxe antizionistische Juden europaumlische Traditionalisten sowie jene bdquoanti-atlantischenldquo islamistischen Fundamentalisten die in den USA den Dajjacircl den falschen Messias und Antichrist erkennen gegen den die Retter-gestalt des Mahdicirc zu Felde ziehen wird116 111 Aleksandr Dugin Absoljutnaja Rodina Puti Absoljuta Metafizika Blagoj Vesti Misterii

Evrazii Moskva 1999 645ndash670 112 Ebd 378ndash395 493ndash521 113 Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo 74ndash76 Siehe auch ders bdquoKatechon i revoljucijaldquo in ders

Tampliery proletariata Nacional-bolrsquoševizm i iniciacija Moskva 1997 52ndash59 ndash Die mes-sianische Identifizierung des Dritten Rom mit der Dritten Internationale reicht bis ins Gruumlndungsjahr der Komintern (1919) zuruumlck Beide so der slawophile Philosoph und An-haumlnger des imjaslavie Valerian Muravrsquoev (1885ndash1930) in einem Brief vom 6 Januar 1920 an Lev Trockij seien Ausdruck der Suche des russischen Volkes und der Intelligencija nach einem Reich der Wahrheit und Gerechtigkeit Valerian Muravrsquoev Sočinenija Bd 2 Moskva 2011 352f Weitere Belege bei Emanuel Sarkisyanz Russland und der Messianis-mus des Orients Tuumlbingen 1955 196 Mikhail Agursky Third Rome National Bolshevism in the USSR Boulder Co 1987

114 Damals sah ein Journalist bdquoauf den Ruinen des Imperiumsldquo das Dritte Rom in Gefahr zu einem Land der Dritten Welt zu werden Andrej Fadin bdquoTretij Rim v tretrsquoem mire Razmy-šlenija na ruinach imperiildquo in Nezavisimaja gazeta 1291991

115 [Aleksandr Dugin] bdquoLibo-my libo-ničtoldquo in Ėlementy 8 19961997 1ndash4 hier 2 116 [Aleksandr Dugin] bdquoIdeologija Mirovogo Pravitelrsquostvaldquo in Ėlementy 2 1992 1f

32 Michael Hagemeister

Das Dritte Rom als Zentrum des eurasischen bdquoEuro-Sowjetischen Imperiumsldquo Titelbild der von Aleksandr Dugin herausgegebenen Zeitschrift bdquoElemente Eurasische Rundschauldquo (1992) Dugins Werk mit seiner provokanten Mischung esoterischer antimoderner und antiwestlicher Motive findet besonders unter jungen Intellektuellen Anklang und Nachahmer so etwa bei dem promovierten Philosophen und selbstproklamierten bdquoorthodoxen Metaphysikerldquo Arkadij Maler einem vehementen Propagandisten einer bdquopolitischen Orthodoxieldquo (političeskoe Pravoslavie) und fuumlhrenden Ideolo-gen der bdquoneobyzantinischenldquo Doktrin Obwohl sich Maler von Dugin distan-ziert117 beschwoumlrt auch er die eschatologische bdquogeistige Mission des Dritten Romldquo die es von Byzanz geerbt habe und die in seiner bdquozentralen katechontischen Rolleldquo bestehe dem Kampf gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo des bdquogottlosen Wes-tensldquo118 Russische Politik koumlnne deshalb nicht anders als imperial sein und muumlsse ihren Einfluss auf den gesamten Planeten ausdehnen Wie Dugin sieht auch Maler die Bolschewiki in dieser Tradition als sie Moskau zur Hauptstadt des bdquoRoten

117 In den spaumlten 1990er Jahren gehoumlrte Maler der vaumlterlicherseits juumldischer Abstammung ist

zusammen mit Dugin und Ėduard Limonov zur Fuumlhrungsriege der Nationalbolschewisti-schen Partei und schrieb fuumlr die Parteizeitung Limonka sich selbst charakterisierte er als bdquorotbraunen Zionistenldquo Nach seiner Konversion zur Orthodoxie trennte er sich 1999 von Dugin und kritisierte dessen esoterischen Traditionalismus aus einer ultraorthodoxen Posi-tion Dugin wiederum warf Maler vor ihn zu plagiieren

118 Arkadij Maler Duchovnaja missija Tretrsquoego Rima Moskva 2005 bes 134ndash136 170ndash206 Siehe auch ders bdquoIdeologija Vizantizmaldquo in Severnij Katechon 1 (2005) 7ndash49 bdquoNeovi-zantizm kak novyj bolrsquošoj stilrsquoldquo in Aleksej Nilogov (Hg) Kto segodnja delaet filosofiju v Rossii Moskva 2007 110ndash124

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 33

Imperiumsldquo machten und dieses zur bdquoabsoluten Antithese des Westensldquo erklaumlrten zum bdquoTraumlger der planetarischen Mission der Befreiung der Welt aus den sbquoFesseln des Kapitalslsquoldquo119 Das Dritte Rom sei zeitweise in die Dritte Internationale trans-formiert worden ohne jedoch seine Mission als Katechon als aufhaltende Macht gegen das Reich des Boumlsen und Ausgangspunkt zur Errettung der Welt aufzuge-ben Die bdquoletzte Etappeldquo im Kampf gegen den Antichrist werde so Maler der bdquoeschatologische Krieg des Dritten Rom gegen das Dritte Karthagoldquo den bdquoAnti-katechonldquo sein die bdquoanglo-amerikanische [] atlantische Zivilisationldquo120 Zur Propagierung der katechontischen Mission Russlands gruumlndete Maler 1999 am Institut fuumlr Philosophie der Akademie der Wissenschaften in Moskau einen bdquoBy-zantistischen Klub Katechonldquo (Vizantistskij Klub Katechon) und 2005 das bdquoPhi-losophisch-politische Zentrum sbquoNoumlrdlicher Katechonlsquoldquo das einen gleichnamigen Almanach (Severnyj Katechon) herausgibt121

Apokalyptischer Ausblick

Die Formel vom Dritten Rom und die Figur des Katechon des Aufhalters des bdquoweltweiten Boumlsenldquo sind zu Markenzeichen russischer Anti-Westler und Ver-schwoumlrungstheoretiker und ihres schrillen Szenariums eines globalen apokalyp-tischen bdquoEndkampfesldquo gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo geworden122 Unter dem Titel bdquoDie russische Doktrin Die Staatsideologie der Epoche Putinsldquo verfasste in den Jahren 2005 und 2006 ein Kollektiv nationalpatriotischer Autoren ndash unter ih-nen der bdquoByzantistldquo Arkadij Maler ndash ein uumlber 1000 Seiten langes ultrakonservati-ves und antiwestliches Manifest das auch die Unterstuumltzung hoher kirchlicher Wuumlrdentraumlger fand123 In ihrem Entwurf einer bdquoorganischen weltanschaulichen Plattformldquo fuumlr das kuumlnftige Russland behandeln die Autoren ausfuumlhrlich die bdquohis-toriosophischeldquo Konzeption vom Dritten Rom und seine Mission als Katechon gegen das bdquoHeidentumldquo des Westens124 Gefordert wird die positive Identifikation

119 Maler Duchovnaja missija 182f 185 120 Ebd 177 ndash Als Mittel im ideologischen Kampf gegen den saumlkularen Westen fordert Maler

in Analogie zur katholischen Gegenreformation eine orthodoxe konservative bdquoGegenauf-klaumlrungldquo (Kontrprosveščenie) lthttpwwwkatehonruhtmltoppolitologiaideaotkritije _polit_pravoslavijahtmgt

121 Siehe die Website lthttpwwwkatehonrugt 122 Siehe zB Galina A Morozova Tretij Rim protiv novogo mirovogo porjadka Moskva

2009 Die Formel von Dritten Rom hat laumlngst auch Schriftsteller und Maler inspiriert und scheint auch werbewirksam zu sein bdquoDrittes Romldquo nennt sich ein Verlag ein Videospiel eine Bank ein Reisebuumlro und sogar ein Kasino in Jalta Ein Schoumlnheitswettbewerb in Mos-kau vergibt alljaumlhrlich den Titel einer bdquoMiss Drittes Romldquo Judith E Kalb Russiarsquos Rome Imperial Visions Messianic Dreams 1890ndash1940 Madison Wisconsin 2008 198f Zum Katechon siehe Maria Engstroumlm bdquoContemporary Russian Messianism and New Russian Foreign Policyldquo in Contemporary Security Policy 35 (2014) 3 356ndash379

123 Russkaja doktrina Gosudarstvennaja ideologija ėpochi Putina Moskva 2016 124 Ebd 68ndash72 116ndash120 und passim

34 Michael Hagemeister

mit der Geschichte Russlands und seinen Lichtgestalten dem Heiligen Serafim von Sarov dem bdquoeschatologischen Fuumlhrer des russischen Volkes am Ende der Zeitenldquo der bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo und Stalin der dem paulinischen Kate-chon gleich die bdquoGesetzlosigkeitldquo (bezzakonie) bekaumlmpft und das bdquoFundament fuumlr eine groszlige Zukunftldquo gelegt habe125

bdquoKatechonldquo nennt sich auch ein prominent besetzter Think tank den der Oligarch und Berater Putins Konstantin Malofeev im Jahr 2015 gegruumlndet hat126 Der Milliardaumlr der sein Vermoumlgen mit einer Investmentfirma auf den Cayman Inseln gemacht hat bezeichnet sich selbst als bdquoorthodoxen Monarchistenldquo127 Er unterstuumltzt die Separatisten in der Ostukraine und unterhaumllt vielfaumlltige Verbindun-gen zu europaumlischen Rechtspopulisten wie dem Front National der FPOuml Syriza und der Lega Nord Neben dem Forum bdquoKatechonldquo betreibt Malofeev auch einen Fernsehsender mit dem programmatischen Namen bdquoZargradldquo128 (Motto bdquoDas Licht Christi erleuchtet alleldquo) dessen Chefkommentator niemand anderes ist als Aleksandr Dugin129

bdquoKatechonldquo und bdquoZargradldquo propagieren den Kampf gegen die westliche Moderne mit Bezug auf das byzantinische Erbe Russlands Im November 2014 fand in der Moskauer Manege eine Konferenz bdquoMoskau ndash das Dritte Romldquo statt130 An ihr nahmen auszliger Dugin und Malofeev auch Archimandrit Tichon und Nata-lrsquoja Naročnickaja teil eine hochrangige Diplomatin Mitglied des Izborsker Klubs und Leiterin des Pariser bdquoInstituts fuumlr Demokratie und Kooperationldquo das die oumlf-fentliche Meinung im Westen im Sinne des Kremls beeinflussen soll Tichons Film bdquoDie Lehre von Byzanzldquo sei so Naročnickaja auch eine Warnung an den Westen der seine christlichen Werte verraten habe weshalb er den glaubens-festen Migranten und ihrer Verachtung hilflos ausgeliefert sei131

Im Oktober 2009 wurde Tichons Film in Athen vor ausverkauftem Saal aufgefuumlhrt Unter denen die dem Drehbuchautor Beifall spendeten war der Philo-soph und Theologe Christos Yannaras einer der Hauptvertreter der Neoorthodo-xie und scharfer Kritiker des Westens Wie ihre russischen Gesinnungsgenossen

125 Ebd 130f 153 142ndash145 126 Mit einem Auftritt im Internet in 9 Sprachen Siehe die deutsche Version unter lthttp

katehoncomdewer-sind-wirgt 127 lthttpsdewikipediaorgwikiKonstantin_Walerjewitsch_Malofejewgt 128 Carrsquograd ist der altrussische Name fuumlr Konstantinopel 129 Auch Dugin unterhaumllt seit mehr als 25 Jahren Kontakte zu ultrakonservativen traditiona-

listischen und faschistischen Gesinnungsgenossen in Westeuropa Siehe Vladimir Ivanov Alexander Dugin und die rechtsextremen Netzwerke Fakten und Hypothesen zu den inter-nationalen Verflechtungen der russischen Neuen Rechten Stuttgart 2007

130 lthttpwwwpravoslavieru75070htmlgt 131 lthttpwwwpravoslavieru7414htmlgt ndash Fuumlr Metropolit Ilarion (Alfeev) der sich dabei

auf Dugin beruft verwandeln sich die Laumlnder Westeuropas bereits in die bdquoSphaumlre des Anti-christldquo lthttpwwwpatriarchiarudbtext3065216htmlgt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 35

verherrlichen auch die griechischen Neoorthodoxen die byzantinische Vergan-genheit und sehen in der modernen saumlkularen Gesellschaft eine Bedrohung ihrer kulturellen Identitaumlt132 Gemeinsam suchen sie der Globalisierung mit einer bdquoby-zantinischen Internationaleldquo als bdquoorthodoxer Oumlkumeneldquo entgegenzuwirken einer letztlich sakral verstandenen Gemeinschaft deren Einfluss indes weit uumlber die kirchliche Sphaumlre hinausreichen und eine transnationale Vereinigung der ortho-doxen Welt von Serbien uumlber Syrien bis Georgien und Armenien unter Fuumlhrung Moskaus schaffen soll133 Als wichtiger symbolischer Schritt auf diesem Weg wurde der Besuch von Praumlsident Putin und Patriarch Kirill des Heiligen Berges Athos einer traditionellen Hochburg antiwestlicher Opposition im Mai 2016 ge-feiert Das weltliche und das geistliche Oberhaupt Russlands ndash die bdquoSymphonia der Maumlchteldquo ndash zeigten damit so Aleksandr Dugin ihr Bekenntnis zu Byzanz und seiner Rolle als Katechon Damit anerkenne bdquounsere Rusrsquo ihre historische Bestim-mung Wir sind bereit fuumlr die Endzeitldquo134

132 Ausfuumlhrlich dazu Daniel P Payne The Revival of Political Hesychasm in Contemporary

Orthodox Thought The Political Hesychasm of John Romanides and Christos Yannaras Lanham [ua] 2011 Siehe auch Vasilios N Makrides bdquoByzantium in Contemporary Greece The Neo-Orthodox Current of Ideasldquo in David RicksPaul Magdalino (Hgg) Byzantium and the Modern Greek Identity Aldershot 1998 141ndash153 Zum griechischen Neobyzantismus unter russischem Einfluss Aleksey Kamenskikh bdquoThe Image of the Second Rome through the Prism of the Thirdrdquo in Teresa Obolevich [ua] (Hgg) Russian Thought in Europe Reception Polemics Development Krakoacutew 2013 13ndash22 ndash Antimo-derne und antiwestliche Stroumlmungen in den vom orthodoxen Christentum gepraumlgten Kultu-ren haben der Religionswissenschaftler Makrides und der Slavist Uffelmann vor einigen Jahren als Desiderat der Forschung benannt Vasilios N MakridesDirk Uffelmann bdquoStudying Eastern Orthodox Anti-Westernism The Need for a Comparative Research Agendaldquo in Jonathan SuttonWil van den Bercken (Hgg) Orthodox Christianity and Contemporary Europe Leuven [ua] 2003 87ndash120 Seitdem haben Makrides und die Politikwissenschaftlerin Stoumlckl eine Reihe einschlaumlgiger Arbeiten vorgelegt in denen or-thodoxe Alternativen zu westlichen philosophischen und politischen Konzepten untersucht werden Vasilios N Makrides bdquoOrthodoxes Cristentum und Moderne ndash Inkompatibilitaumlt oder langfristige Anpassungldquo in Una Sancta 2011 1 15ndash30 ders bdquoOumlstliches orthodo-xes Christentum und Saumlkularitaumlt Ein Vergleich mit dem lateinischen Christentumldquo in Transit 47 (2015) 59ndash75 Kristina Stoumlckl bdquoModernity and its Critique in Twentieth Cen-tury Russian Orthodox Thoughtldquo in Studies in East European Thought 58 (2006) 243ndash269 dies Community after Totalitarianism The Russian Orthodox Intellectual Tradition and the Philosophical Discourse of Political Modernity Frankfurt aM [ua] 2008

133 Dazu gehoumlrt auch die Verwirklichung des jahrhundertealten Traums der Wiedererrichtung des Kreuzes auf der Hagia Sophia Siehe Egor Cholmogorov Russkij proekt restavracija buduščego Moskva 2005 283 Der Verfasser Mitglied des Expertenteams des Izborsker Klubs ist Begruumlnder der Doktrin der bdquoAtomaren Orthodoxieldquo siehe Fn 74

134 Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Traditionldquo

ZUM AUTOR

Michael Hagemeister geb 1951 in EllwangenJagst Studium der Slavistik Ge-schichte Germanistik und Philosophie in Basel und MarburgLahn Promotion mit einer Arbeit uumlber den russischen Philosophen Nikolaj Fedorov Wissenschaft-licher Mitarbeiter am Slawischen Seminar in Marburg Gastprofessor am Seminar fuumlr Komparatistik der Universitaumlt Innsbruck Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lotman-Institut fuumlr russische und sowjetische Kultur der Ruhr-Universitaumlt Bo-chum am Lehrstuhl fuumlr Geschichte Osteuropas der Europa-Universitaumlt Viadrina Frankfurt (Oder) an den Historischen Seminaren der Universitaumlten Basel Duumlssel-dorf und Bochum Vertretung der Professuren fuumlr Geschichte Osteuropas an der Ludwig-Maximilians Universitaumlt Muumlnchen und an der Europa-Universitaumlt Frank-furt (Oder)

Forschungen zur russischen Philosophie und Geistesgeschichte zum utopischen und apokalyptischen Denken in Russland zum russischen Rechtsextremismus und Antisemitismus sowie insbesondere zu den Protokollen der Weisen von Zion und ihrem Herausgeber Sergej Nilus Publikationen ua Die Neue Menschheit Biopolitische Utopien in Russland (hg mit Boris Groys) Frankfurt aM 2005 The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimensions (hg mit Birgit Menzel und Bernice Rosenthal) Muumlnchen 2012 Die Fiktion von der juumldischen Weltver-schwoumlrung Zu Text und Kontext der bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo (hg mit Eva Horn) Goumlttingen 2012 Die bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo vor Gericht Der Berner Prozess und die bdquoantisemitische Internationaleldquo in der Zwischen-kriegszeit Chronik Dokumente und Kommentare Zuumlrich (im Druck)

ERFURTER VORTRAumlGE ZUR KULTURGESCHICHTE DES ORTHODOXEN CHRISTENTUMS Reihenherausgeber Vasilios N Makrides

Heft 1 Thomas Bremer Konfrontation statt Oumlkumene Zur kirchlichen Situation in der Ukraine Erfurt 2001

Heft 2 Gerhard Podskalsky Zur Hermeneutik des theologischen Ost-West-

Gespraumlchs in historischer Perspektive Erfurt 2002 Heft 3 Karl Christian Felmy Warum und zu welchem Behufe treiben wir

Ostkirchenkunde Erfurt 2003 Heft 4 Wassilios Klein bdquoTatarenjoch ndash татарское игоldquo Beobachtungen zur

Wahrnehmung des Islam im eurasischen Raum Erfurt 2005 Heft 5 Stamatios D Gerogiorgakis Zeitphilosophie im Mittelalter Byzantinische

und lateinische Vorstellungen Erfurt 2006 Heft 6 Heinz Ohme Das Oumlkumenische Patriarchat von Konstantinopel und die

tuumlrkische Religionspolitik Erfurt 2007 Heft 7 Alexander Agadjanian Russian Orthodox Vision of Human Rights Recent

Documents and Their Significance Erfurt 2008 Heft 8 Christos Yannaras Wem gehoumlrt die griechische Antike Erfurt 2009 Heft 9 Joachim Willems Religions- und Ethikunterricht in Russland ndash Was

wollen Staat und Kirche Zur Einfuumlhrung des neuen Schulfaches bdquoGrundlagen der religioumlsen Kulturen und der weltlichen Ethikldquo Erfurt 2010

Heft 10 Chris Hann Eastern Christianity and Western Social Theory Erfurt 2011 Heft 11 Jennifer Wasmuth Akademische Theologie im zaristischen Russland in

ihrer Bedeutung fuumlr die neuere orthodoxe Theologie Erfurt 2012 Heft 12 Anna Briskina-Muumlller Auf der Suche nach der bdquoHesychialdquo Paisij

Veličkovskij (1722ndash1794) und sein Leben fuumlr die bdquoPhilokalieldquo Erfurt 2014

Heft 13 Vladimir Cvetković From ldquoMerciful Angelrdquo to ldquoFortress Europerdquo The

Perception of Europe and the West in Contemporary Serbian Orthodoxy Erfurt 2015

Heft 14 Stefan G Reichelt Lebenslinien Nikolaj A Berdjaev (1874ndash1948) und Sergij N Bulgakov (1871ndash1944) im Westen ndash Eine Wuumlrdigung Erfurt 2015

Heft 15 Michael Hagemeister Der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo ndash bdquoNeobyzantismusldquo

und bdquopolitischer Hesychasmusldquo im postsowjetischen Russland Erfurt 2016

Alle Hefte der vorliegenden Schriftenreihe koumlnnen unter folgendem Link kostenlos heruntergeladen werden URL httpswwwuni-erfurtdereligionswissenschaftprofessur-orthodoxes-christentumveroeffentlichungenerfurter-vortraege-zur-kulturgeschichte-des-orthodoxen-christentums

Page 2: Michael Hagemeister FINAL - uni-erfurt.de · doziert Tichon, während er das antike Kons tantinopel computeranimiert auferste- hen lässt. Das prosperierende Impe rium erregte freilich

Erfurter Vortraumlge zur Kulturgeschichte des Orthodoxen Christentums 152016 ISSN 1618-7555 ISBN 978-3-9815490-2-7 copy 2016 Universitaumlt Erfurt copy 2016 University of Erfurt Lehrstuhl fuumlr Religionswissenschaft Chair of Religious Studies (Orthodoxes Christentum) (Orthodox Christianity) PSF 900 221 PO Box 900 221 D-99105 Erfurt D-99105 Erfurt Deutschland Germany

Vorwort bdquoVerstehen kann man Russland nicht und auch nicht messen mit Verstand Es hat sein eigenes Gesicht Nur glauben kann man an das Landldquo ndash so lautete eine in-zwischen beruumlhmt gewordene und viel zitierte Aussage des russischen Dichters und Diplomaten Feumldor Ivanovič Tjutčev (1803ndash1873) aus dem Jahr 1866 Unter anderem kann sie auf die Verstaumlndnisprobleme und Schwierigkeiten Russlands mit der westlichen Welt hinweisen die bereits seit vielen Jahrhunderten andauern An dieser Stelle geht es nicht darum eine Schuldzuweisung fuumlr die Entstehung dieser Situation auszusprechen sondern die Ursachen und die Motive die zu dieser komplexen Sachlage zwischen Russland und dem Westen gefuumlhrt haben zu lokalisieren zu analysieren und angemessen zu deuten Es eruumlbrigt sich ge-sondert zu erwaumlhnen dass solche Faumllle nach dem Ende des Kalten Krieges kei-neswegs verschwunden sind Die noch offenen Spannungen und Konfliktmomen-te zwischen Russland und dem Westen (zB in der Ukraine oder in Syrien) zeugen davon Wirft man aber einen naumlheren Blick auf das postsowjetische Russland dann ist es uumlberhaupt nicht schwierig die Existenz von zahlreichen Szenarien Visionen Orientierungen geopolitischen Planungen und ideologischen Entwuumlr-fen festzustellen in denen die Orthodoxie in unterschiedlichen Formen und Aus-praumlgungen entweder explizit oder implizit eine Rolle spielt Es sind gerade sol-che Aspekte der gegenwaumlrtigen russischen Kultur die die bdquorussische Besonder-heitldquo ausmachen und die ohnehin fuumlr Beobachter von auszligen nicht leicht erklaumlrbar ja sogar bisweilen erstaunlich sind In einem solchen Rahmen werden auch ge-schichtliche Ereignisse und Momente neu interpretiert und vergegenwaumlrtigt zum Teil haben sie moumlglicherweise einen Einfluss auf die Innen- und Auszligenpolitik Russlands ndash so wird von vielen zumindest behauptet oder vermutet All dies macht das ganze Thema umso interessanter denn die Kenntnis und insbesondere die ge-buumlhrende Deutung dieser Entwicklungen sind fuumlr das Verstaumlndnis vom heutigen Russland unabdingbar

Das 15 Heft der bdquoErfurter Vortraumlge zur Kulturgeschichte des Orthodoxen Christentumsldquo beinhaltet den Vortrag von Dr Michael Hagemeister einem inter-national angesehenen Experten in der modernen russischen Religions- und Kul-turgeschichte Sehr bekannt sind unter anderem seine Arbeiten zu den beruumlhmt-beruumlchtigten bdquoProtokollen der Weisen von Zionldquo und deren russischen Entste-hungsgeschichte sowie zu esoterischen apokalyptischen antisemitischen und alternativen Ideologien und Szenarien aus dem russischen Religions- und Kulturraum Im vorliegenden Beitrag greift er das houmlchst interessante und aktuelle

Thema der religioumls-kulturellen Entwicklungen im postsowjetischen Russland auf und liefert ein Panorama der wichtigsten Richtungen und Stroumlmungen die ohnehin dem westlichen Publikum wenig wenn uumlberhaupt bekannt sind Unter anderem wird auf Folgendes eingegangen russisch-orthodoxe historiosophische Deutungen der byzantinischen Geschichte und deren imperialen Erbes (das Phauml-nomen des bdquoNeobyzantismusldquo dh eines dem europaumlischen entgegengesetzten Kulturtypus der auf den Prinzipien von Orthodoxie und Selbstherrschaft beruht) Neuinterpretationen der orthodoxen hesychastisch-palamitischen Tradition aus dem spaumlten Byzanz zugunsten eines bdquopolitischen Hesychasmusldquo der mit einer besonderen sozialen Praumlsenz und Wirkung der Orthodoxie verbunden ist und eschatologisch-apokalyptische Visionen und Szenarien uumlber die ausschlaggeben-de Rolle Russlands in Weltgeschichte und Geopolitik Solche Ideen werden zu-dem mit klassischen Aspekten der russischen Religions- und Kulturgeschichte verbunden wie zum Beispiel mit der Eurasischen Ideologie mit der Idee Moskaus als dem bdquoDritten Romldquo oder mit ausgewaumlhlten religionsphilosophischen Theorie-ansaumltzen Obwohl solche Entwuumlrfe von Individuen oder aus bestimmten privaten Initiativen und Kreisen stammen werden sie teilweise von der offiziellen Russi-schen Kirche oder der Politik nicht nur nicht ignoriert sondern in manchen Faumlllen sogar unterstuumltzt Generell geht es um das Thema der vielen und einzigartigen religioumls-kulturellen Identitaumltsmerkmale Russlands die laut Staat und Kirche um jeden Preis im heutigen globalen Kontext aufrechterhalten werden sollen und die von den entsprechenden westlichen grundlegend verschieden sind Insofern bietet dieser Text eine absolut notwendige Informationsgrundlage zum besseren Ver-staumlndnis des gegenwaumlrtigen russisch-orthodoxen Religions- und Kulturraumes dessen Einfluss sich in vielen Faumlllen in der orthodoxen Welt allgemein bemerkbar macht

Der dieser Publikation zugrunde liegende Vortrag wurde am 26 Januar 2013 an der Universitaumlt Erfurt im Rahmen des Graduiertenkolloquiums zur Kulturge-schichte des Orthodoxen Christentums gehalten Mein wissenschaftlicher Mitar-beiter Dr Sebastian Rimestad hat die Bearbeitung und Formatierung des Vor-tragstextes zur Aufnahme in die vorliegende Vortragsreihe uumlbernommen Meine Sekretaumlrin Annett Psurek hat das Zustandekommen des Heftes organisatorisch begleitet Ihnen danke ich dafuumlr vielmals

Erfurt im Dezember 2016

Vasilios N Makrides

Der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo ndash bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo im postsowjetischen Russland

Michael Hagemeister

bdquoDie Geschichte ist das Rohmaterial fuumlr nationalistische ethnische oder fundamentalistische Ideologien ndash

wie Mohn der Rohstoff fuumlr Heroinabhaumlngigkeit istldquo Eric Hobsbawm1

bdquoDie Lehre von Byzanzldquo

Am 30 Januar 2008 zeigte der staatliche russische Fernsehsender bdquoRossijaldquo den Dokumentarfilm bdquoUntergang eines Imperiums Die Lehre von Byzanzldquo (Gibelrsquo imperii Vizantijskij urok) Der Film der noch mehrmals wiederholt wurde und zu dem auch ein reich bebildertes Buch erschien2 loumlste eine heftige kontrovers gefuumlhrte Diskussion aus Waumlhrend russische Patrioten dem Streifen geschichtli-che Aufklaumlrung attestierten und ihn zugleich als Parabel und aktuelle Warnung priesen verrissen Kritiker ihn als historische bdquoMaumlrchenstundeldquo und bdquoSchaustuumlck der Kreml-Propagandaldquo und forderten sogar sein Verbot3 Inzwischen wurde der Film in vier Sprachen synchronisiert und mehrfach preisgekroumlnt4

Gibelrsquo imperii Filmplakat lthttpsstkpyandexnetimagesfilm_big439949jpggt

1 Eric Hobsbawm bdquoDie Erfindung der Vergangenheitldquo in Die Zeit 9 September 1994

lthttpwww zeitde199437die-erfindung-der-vergangenheitgt Alle Webseiten wurden zuletzt am 3 Oktober 2016 aufgerufen

2 Archimandrit Tichon (Ševkunov) Gibelrsquo imperii Vizantijskij urok Scenarij filrsquoma Moskva 2008

3 Kerstin Holm bdquoLasst uns ein neues Byzanz errichtenldquo in Frankfurter Allgemeine Zeitung 44 21 Februar 2008 42

4 Siehe die offizielle Website des Films lthttpvizantiainfogt

6 Michael Hagemeister

Das Drehbuch stammt von Archimandrit Tichon (Georgij Ševkunov) dem Vorsteher des Sretenskij Klosters auf der Lubjanka in Moskau das als Hort des religioumlsen Fundamentalismus und einer bdquoorthodoxen Machtstaatsideologieldquo (pra-voslavnaja deržavnostrsquo) gilt5 Tichon der vor seiner Priesterweihe ein Studium am Moskauer Gerasimov-Filminstitut absolviert hatte ist einer der bekanntesten Geistlichen im heutigen Russland Medienstar Filmemacher und Bestsellerautor Sein Buch bdquosbquoUnheilige Heiligelsquo und andere Erzaumlhlungenldquo eine autobiographisch grundierte Sammlung moderner Hagiographien und Wunderberichte erreichte in Russland eine Millionenauflage und wurde in mehr als zehn Sprachen uumlbersetzt Tichon preist darin bedingungslosen Gehorsam und Schicksalsergebenheit und bietet damit bdquoeine ideale Grundlage fuumlr eine autoritaumlre Gesellschaftsordnung wie sie sich im letzten Jahrzehnt in Russland herausgebildet hatldquo6 Tichon ist Mitglied des Obersten Kirchenrates der Russischen Orthodoxen Kirche des Praumlsidialrates fuumlr Kultur und Kunst und des nationalpatriotischen Izborsker Klubs7 sowie geistli-cher Begleiter und Beichtvater (duchovnik) von Vladimir Putin8 Bereits lange vor seiner Weihe zum Bischof im Jahr 2015 galt Tichon als ultrakonservativ Er ge-houmlrte zu den Initiatoren der Kampagne gegen die Einfuumlhrung der persoumlnlichen Steuernummer die er als Zahl des apokalyptischen Tieres deutete9 er warnte vor der Macht der Daumlmonen und dem Antichrist als dem falschen Messias der Juden und beschwor die drohende Gefahr eines bdquomystischen okkulten Genozidsldquo an

5 Nikolaj Mitrochin Russkaja pravoslavnaja cerkovrsquo sovremennoe sostojanie i aktualrsquonye

problemy Moskva 2006 210f Irina Papkova The Orthodox Church and Russian Politics New York 2011 47ndash53 219f

6 Ulrich Schmid Technologien der Seele Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur Frankfurt aM 2015 197

7 Zu den Mitgliedern des 2012 von dem Schriftsteller und Initiator eines mystisch-religioumlsen Stalin-Kultes Aleksandr Prochanov (siehe auch Fn 45) gegruumlndeten Klubs gehoumlren neben Tichon auch der Antisemit Holocaust-Leugner und Verschwoumlrungstheoretiker Oleg Plato-nov sowie der Neofaschist und bdquoEurasierldquo Aleksandr Dugin (zu ihm ausfuumlhrlicher unten) Siehe Roland Goumltz bdquoDie andere Welt Im Izborsker Klub Russlands antiwestliche Intel-ligencijaldquo in Osteuropa 65 (2015) 3 109ndash138 Marlene Laruelle bdquoThe Izborsky Club or the New Conservative Avant-Garde in Russialdquo in The Russian Review 75 (2016) 626ndash644 Siehe auch die Website lthttpwwwizborsk-clubrugt

8 lthttpsruwikipediaorgwikiТихон_(Шевкунов)gt 9 Papkova The Orthodox Church 124 Alexander Verkhovsky bdquoThe Orthodox in the Rus-

sian Ultranationalist Movementsldquo in Occasional Papers on Religion in Eastern Europe 22 (2002) 3 18ndash36

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 7

Russlands rechtglaumlubigen Christen10 Auch forderte er die Behandlung der bibli-schen Schoumlpfungslehre im Unterricht um das bdquoMonopol des Darwinismusldquo zu brechen11

Der Film bdquoUntergang eines Imperiumsldquo schildert die Geschichte des Ostroumlmischen Reiches von einer vage datierten Bluumltezeit bis zur Eroberung Kon-stantinopels durch die Osmanen im Jahr 1453 Der Drehbuchautor selbst tritt als Kommentator auf der durch die Szenen fuumlhrt und das Gezeigte deutet Dem Film zufolge bluumlhte Byzanz als geistiges kulturelles und politisches Zentrum der Welt waumlhrend sich der Westen sein bdquoHinterhofldquo bdquoim Zustand tiefster Barbareildquo12 be-fand und seine Bewohner bdquogrobe und ungehobelte Skandinavier Germanen Franken und Angelsachsenldquo13 als primitive Raumluberbanden umherzogen Kaiser Justinian schuf hier den ersten Rechtsstaat hier wurde die erste Universitaumlt ge-gruumlndet und hier entstand das bdquostabilste Finanzsystem in der Geschichte der Menschheitldquo14 Byzantinische Ingenieurkunst und Architektur waren beispiellos doziert Tichon waumlhrend er das antike Konstantinopel computeranimiert auferste-hen laumlsst

Das prosperierende Imperium erregte freilich den Neid und die Habgier des Westens 1204 zogen die Kreuzritter bdquotreubruumlchigldquo gegen Konstantinopel erober-ten und pluumlnderten die Stadt und eroumlffneten dem Westen Zugang zu deren bdquounermesslichen Reichtuumlmernldquo Die geraubten und nach Italien verschleppten Kunstwerke und Goldschaumltze ermoumlglichten dann das Kulturwunder der Renais-sance erschufen aber auch das bdquoMonster des wucherischen Bankensystems der heutigen Weltldquo und damit den modernen Kapitalismus bdquomit seiner unbaumlndigen Profitgierldquo die so Tichon bdquoim Grunde genommen nur den Furor bei den Kriegs-zuumlgen genetisch fortsetztldquo15 bdquoWie Pilze nach dem Regen schossen damals die ersten europaumlischen Banken emporldquo und die kleine Stadt Venedig wurde bdquodas New York des 13 Jahrhundertsldquo16 bdquoDurch Spekulation mit den heiligen Reliqui-en aus Konstantinopelldquo entstanden auch bdquodie ersten groszligen juumldischen Kapital-vermoumlgenldquo17 ndash an dieser Stelle erscheint im Film das beruumlhmte flaumlmische Gemaumll-de bdquoDie Steuereintreiberldquo deren Fratzen die Goldgier der juumldischen Bankiers und

10 Ieromonach Tichon (Ševkunov) bdquoNevidimaja branrsquoldquo in Literaturnaja Rossija 20 (21

Mai 1993) 6f Auch lthttpwwwlibrarypravpiterrubook_327htmgt Tichon wusste wovon er sprach hatte er doch als Student selbst an spiritistischen Seacuteancen teilgenommen Archimandrit Tichon (Ševkunov) bdquoNesvjatye svjatyeldquo i drugie rasskazy Moskva 122015 12ndash17

11 Michael Zimmerman bdquoRussian Creationism Sounds Frighteningly Familiarldquo in The Huffington Post 14 Juni 2010 lthttpwwwhuffingtonpostcommichael-zimmerman russian-creationism-sound_b_610266htmlgt

12 Tichon (Ševkunov) Gibelrsquo imperii 10 13 Ebd 14 Ebd 8 15 Ebd 11f 16 Ebd 12 17 Ebd Vgl auch 79

8 Michael Hagemeister

Wucherer illustrieren sollen bdquoDer barbarische Westen wurde erst dann zum zivi-lisierten Westen als er das byzantinische Imperium erobert gepluumlndert zerstoumlrt und absorbiert hatteldquo18

Waumlhrend der materialistische Westen sich an den Reichtuumlmern Konstanti-nopels guumltlich tat erkannten die Russen worin der groumlszligte Schatz von Byzanz bestand bdquoDas waren weder Gold noch Edelsteine nicht einmal Wissenschaft und Kunst Der groumlszligte Schatz von Byzanz war Gott [hellip] Und auf diesen Schatz gruumlndeten unsere groszligen Vorfahren nicht Banken oder Kapital nicht einmal Mu-seen oder Lombardsaumltze Sie gruumlndeten die Rusʼ Russland die geistige Erbin von Byzanzldquo19

Das multinationale Ostroumlmische Reich das sich zwischen Europa und Asi-en erstreckte bildete so die Lehre des Films eine hierarchisch gegliederte organi-sche Einheit gegruumlndet auf die Orthodoxie und die Loyalitaumlt gegenuumlber dem Kaiser als dem Verteidiger des wahren Glaubens Ein bdquosolch demonstrativer Kon-servatismusldquo aber war dem Westen bdquowo schon damals Individualismus und pri-vate Willkuumlr zum geheiligten Prinzip erhoben wurdenldquo ganz fremd und uner-traumlglich weshalb er bdquomit erbittertem Fanatismusldquo forderte bdquoByzanz solle sein ge-samtes Leben nach westlichem Muster modernisieren ndash in erster Linie die reli-gioumlse und geistige Sphaumlre dann aber auch die intellektuelle und materielle Kultur Was die Einzigartigkeit und Besonderheit von Byzanz angeht so lautete der Ur-teilsspruch des Westens [hellip] muss all dies vernichtet werden falls noumltig gemein-sam mit Byzanz und dessen geistigen Erbenldquo20 In Byzanz selbst entstand eine prowestliche Partei Dieser bdquoinnere Feindldquo wurde von den europaumlischen Regie-rungen zunaumlchst heimlich dann aber immer offener unterstuumltzt und gewann all-maumlhlich die Oberhand uumlber die bdquoimperialen Traditionalistenldquo Weitreichende Re-formen der byzantinischen bdquoWestlerldquo schwaumlchten den Staat untergruben den Glauben und zerstoumlrten schlieszliglich das Imperium Der Hauptgrund fuumlr den Unter-gang von Byzanz sei so Tichon die bdquogeistige Zersetzungldquo seiner Elite gewesen die vom Westen verfuumlhrt die Orthodoxie in der Florentiner Union an den roumlmi-schen Papst verraten habe21

Immer wieder zieht der Film kaum verhuumlllte oder direkte Analogien zum postsowjetischen Russland und dessen Verhaumlltnis zum Westen So haumltten die Ve-nezianer die Eroberung der ostroumlmischen Hauptstadt mit der Verteidigung der bdquoRechte auf den freien internationalen Marktldquo begruumlndet und behauptet einen ge-rechten Kampf gegen ein Regime zu fuumlhren das sich bdquogesamteuropaumlischen Wer-tenldquo verweigere und somit ein bdquoReich des Boumlsenldquo sei22 Als weitere Ursache fuumlr den Niedergang wurden korrupte Beamte eigenmaumlchtige Provinzgouverneure und staatsschaumldigende Oligarchen ausgemacht Ihnen habe sich Kaiser Basileios

18 Ebd 19 Ebd 13f 20 Ebd 44ndash46 21 Ebd 54f 22 Ebd 20f

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 9

II widersetzt indem er bdquomit harter Hand die Vertikale der Macht wieder herstell-teldquo Basileios II bdquozerschlug die separatistische Bewegung in den Randgebieten unterdruumlckte die aufruumlhrerischen Gouverneure und Oligarchen die sich anschick-ten das Imperium aufzuteilen Dann fuumlhrte er eine sbquoSaumluberunglsquo in der Regierung durch und konfiszierte fuumlr die Staatskasse groszlige Summen geraubten Geldesldquo23 Seinem Nachfolger hinterlieszlig er einen riesigen bdquoStabilisierungsfondsldquo24

Es liegt auf der Hand ndash und Tichon deutete es in einem Interview selbst an ndash25 dass mit der bdquoVertikale der Machtldquo die Putinsche Politik der Staumlrkung der Zentralgewalt gemeint ist Die bdquoseparatistische Bewegungldquo laumlsst sich auf Tsche-tschenien und die Ukraine beziehen und jene bdquoOligarchenldquo die nicht nur Reich-tum sondern auch politische Macht erstrebten oder vom feindlichen Ausland aus ihre Wuumlhlarbeit betrieben26 heiszligen heute Berezovskij Abramovič und Chodor-kovskij Und sogar der aktuelle Brain-Drain wird thematisiert wenn es heiszligt bdquoDie reiche Jugend von Byzanz lernte nicht mehr im eigenen Land sondern ging zur Ausbildung ins Ausland Die besten Koumlpfe der einheimischen Wissenschaft emi-grierten in den Westenldquo27

Die bis heute guumlltige bdquoLehre von Byzanzldquo und damit die Botschaft des Films bestehen jedoch in der Erkenntnis des ewigen Hasses den der wesens-fremde Westen gegen die orthodoxe Welt hege Mit den Worten Tichons bdquoDer racheluumlsterne Hass des Westens auf Byzanz und dessen Nachfolger den nicht einmal sie selbst ganz und gar verstehen setzt sich auf einer tieferen genetischen Ebene so paradox es auch klingen mag bis heute fort Falls wir diesen verbluumlffen-den doch unbestreitbaren Tatbestand nicht verstehen laufen wir Gefahr nicht nur in der weit zuruumlckliegenden Vergangenheit sondern auch in der Geschichte des 20 und sogar des 21 Jahrhunderts vieles nicht zu begreifenldquo28

Sowohl die Kritiker als auch die Bewunderer des Films haben denn auch erkannt dass es Tichon nicht um das historische Byzanz sondern um das heutige Russland geht ndash vom hegemonialen Westen bedroht von inneren Schwaumlchen wie Egoismus Zynismus und Korruption Genusssucht und Geburtenruumlckgang ge-zeichnet29 Der Film so Roman Lunkin sei eine bdquohistoriosophische Skizzeldquo und

23 Ebd 25 24 Ebd 27 25 Ebd 121 26 Ebd 31 27 Ebd 50 28 Ebd 64f ndash Dies so Tichon habe auch Stalin erkannt als er 1943 die bis dahin verfemte

Byzantinistik per Dekret wieder eingefuumlhrt habe Der bdquoehemalige Seminarist Džugašvilildquo habe bdquodamals endlich begriffen bei wem man die Geschichte studierenldquo muumlsse Ebd 65

29 Der Film so der renommierte Byzantinist Sergej Ivanov sei bdquoreine Fiktion voller kruder faktischer Fehler und krasser Verzerrungenldquo und bdquoerfuumlllt von giftigem Hass auf den Wes-tenldquo Sergey A Ivanov bdquoThe Second Rome as Seen by the Third Russian Debates on sbquoThe Byzantine Legacylsquoldquo in Przemysław MarciniakDion C Smythe (Hgg) The Reception of Byzantium in European Culture Since 1500 Farnham Burlington 2016 55ndash79 hier 72 [dt bdquoDas Zweite Rom aus der Sicht des Dritten Russische Debatten uumlber das sbquobyzan-tinische Erbelsquoldquo in Transit 46 (20142015) 157ndash173 hier 171] Siehe auch ders bdquoVtoroj

10 Michael Hagemeister

sein Autor eine Art bdquomoderner Moumlnch Filofejldquo der die Idee vom Dritten Rom propagiere30 Lunkin gab damit zwei Stichworte die im Folgenden naumlher betrach-tet werden sollen Historiosophie dh die geschichtsmetaphysische Deutung bzw Instrumentalisierung historischer Ereignisse und die Formel von MoskauRuss-land als dem Dritten Rom

Historiosophie Die heilsgeschichtliche Mission Russlands

Unter den Schlagwoumlrtern bdquoHistoriosophieldquo (istoriosofija) und bdquoMetahistorieldquo (metaistorija) erfreuen sich im postsowjetischen Russland Versuche groszliger Be-liebtheit Ziel und Sinn des weltgeschichtlichen Prozesses und die ihn gestalten-den Kraumlfte spekulativ zu bestimmen und ndash als aufbauende oder zerstoumlrende heil-volle oder unheilvolle Faktoren ndash zu bewerten31 Dabei werden Traditionen der russischen Geschichtsmetaphysik und Geschichtstheologie des 19 und 20 Jahr-hunderts aufgegriffen die die irdische Geschichte als Vollzug eines goumlttlichen Heilsplans deuten der den Glaumlubigen in seinem Anfang und Ende sowie den we-sentlichen Etappen geoffenbart worden sei Das providentielle teacutelos der Geschich-te das Ende und zugleich sinngebende Ziel enthuumlllen apokalyptische Texte So beschreibt die Offenbarung des Johannes die Geschehnisse am Ende der Zeit den Kampf zwischen den Maumlchten des Lichts und der Finsternis die Taumluschung und Verfuumlhrung durch den oder die Repraumlsentanten des Boumlsen die Entscheidungs-schlacht und das Juumlngste Gericht den Untergang der alten durch Konflikte zerrissenen Welt und den Beginn einer neuen vollkommenen und zeitlosen Welt Unverkennbar ist auch der Einfluss der dualistisch-deterministischen Geschichts-konzeption der Sowjetideologie (Geschichte als Einsicht in die bdquoobjektiven Ent-wicklungsgesetze der Gesellschaftldquo) kennt doch auch die Eschatologie und Daumlmonologie des historischen Materialismus den auf ein Endziel (bdquoReich der

Rim glazami Tretrsquoego Ėvoljucija obraza Vizantii v rossijskom obščestvennom soznaniildquo lthttppolitruarticle20090414vizantgt

30 lthttpwwwportal-credorusiteact=freshampid=719gt 31 Vgl Michael Hagemeister bdquoDas Dritte Rom gegen den Dritten Tempel ndash Der Antichrist

im postsowjetischen Russlandldquo in Mariano DelgadoVolker Leppin (Hgg) Der Anti-christ Historische und systematische Zugaumlnge FribourgStuttgart 2011 461ndash485 ndash Der Begriff bdquoHistoriosophieldquo geht auf August Cieszkowski (1814ndash1894) zuruumlck einen der Be-gruumlnder des polnischen Messianismus der in seinen Prolegomena zur Historiosophie (Ber-lin 1838) eine aktive Geschichtsteleologie entwarf Mit dem Begriff bdquoMetahistorieldquo be-zeichnete Sergej Bulgakov (1871ndash1944) bdquoden Gegenstand der Apokalypseldquo naumlmlich bdquodie noumenale Seite jenes universellen Prozesses dessen andere Seite sich uns als Geschichte zeigtldquo Sergej Bulgakov bdquoApokaliptika i socializmldquo in ders Dva grada Bd 2 Moskva 1911 51ndash127 hier 103 Zur Neuentdeckung und Aufwertung des in der Sowjetunion tabuisierten Begriffs bdquoHistoriosophieldquo im postsowjetischen Russland siehe Jutta Scherrer Kulturologie Ruszligland auf der Suche nach einer zivilisatorischen Identitaumlt Goumlttingen 2003 bes 91ndash126

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 11

Freiheitldquo) ausgerichteten Verlauf der Geschichte deren bdquoinnre verborgne Ge-setzeldquo und bdquotreibende Maumlchteldquo (Friedrich Engels) sich nur einem fortschrittlichen Bewusstsein zu erkennen geben

Zu den klassischen Werken bdquohistoriosophischerldquo Geschichtsdeutung die immer wieder aufgelegt werden gehoumlren Vladimir Solovrsquoevs (1853ndash1900) bdquoKur-ze Erzaumlhlung vom Antichristldquo (Kratkaja povestrsquo ob antichriste 1900) eine bdquophi-losophische Dichtungldquo die vielfach nicht als literarische Fiktion sondern als kon-krete Prophetie rezipiert und auf die Gegenwart und nahe Zukunft bezogen wird32 sowie insbesondere die manichaumlischen Geschichtskonzeptionen der religioumlsen Philosophen Pavel Florenskij (1882ndash1937) und Aleksej Losev (1893ndash1988) die gepraumlgt sind von der Vorstellung eines permanenten und allumfassenden in sei-nem Ausgang freilich entschiedenen Kampfes zwischen Logos und Chaos Chris-tus und dem Antichrist und dessen irdischem Agenten dem Judentum

In dieser bdquohistoriosophischenldquo oder bdquometahistorischenldquo Sicht erscheint die Geschichte Russlands als Feld auf dem eine bdquounsichtbare Schlachtldquo (nezrimaja bitva) lichtvoller und finsterer Maumlchte tobt Dabei wird das historische Geschehen in Analogie zur Passion Christi als Leidens- oder Kreuzweg (krestnyj putrsquo) aufge-fasst33 als Kreuzigung (raspjatie) durch die Maumlchte des Antichristentums und als Opfertod (požertvovanie) ein Ereignis das in der Regel mit der Epoche der bdquojuuml-disch-bolschewistischenldquo Sowjetherrschaft identifiziert wird34 Noch befinde sich Russland so die Adepten jener bdquosakralen Metahistorieldquo in einer Phase der Pruuml-fung auf dem Weg zum Ziel der Heilsgeschichte noch liege Russland ohnmaumlchtig im Grab doch werde schon bald seine wunderbare Auferstehung (voskresenie) erfolgen35 In der dann anbrechenden Bluumltephase dem letzten Zeitalter der Welt-geschichte vor dem Juumlngsten Gericht werde das wiedergeborene Russland unter der Herrschaft eines Endzeitkaisers die Menschheit von der Macht des Boumlsen be-freien Russland bringt sich also selbst zum Opfer um am Ende zu triumphieren

32 Siehe Michael Hagemeister bdquoTrilogie der Apokalypse ndash Vladimir Solovrsquoev Serafim von

Sarov und Sergej Nilus uumlber das Kommen des Antichrist und das Ende der Weltgeschich-teldquo in Wolfram BrandesFelicitas Schmieder (Hgg) Antichrist Konstruktionen von Feindbildern Berlin 2010 255ndash275 hier 261

33 Als Stationen an bdquoRusslands Kreuzwegldquo werden zumeist genannt das bdquoTatarenjochldquo als Russland die Feinde der Christenheit auf sich lenkte und durch sein Opfer die Zivilisation des Abendlandes vor dem Untergang rettete (worauf schon Aleksandr Puškin in seinem beruumlhmten Brief vom 19 Oktober 1836 an Petr Čaadaev einen Kritiker des russischen Byzantinismus hinwies) sodann der Einfall der bdquoLateinerldquo zu Beginn des 17 Jahrhun-derts die bdquolaumlsterlichenldquo Reformen des bdquoWestlersldquo Peter I (fuumlr viele der Antichrist) und schlieszliglich die bdquoKatastrophe des Jahres 1917ldquo

34 Siehe Vadim Rossman Russian Intellectual Antisemitism in the Post-Communist Era LincolnLondon 2002 223ndash225

35 Siehe Vardan Bagdasarian bdquoApokalipsis ndash segodnja ėschatologičeskie poiski v sovremen-noj Rossiildquo in Dmitrij Andreev [ua] (Hgg) Ėschatologičeskij sbornik Sankt-Peterburg 2006 435ndash453 hier 436f

12 Michael Hagemeister

Moskau ndash Drittes Rom und Katechon

Die Auffassung von Russlands entscheidender Rolle im Drama der Heilsge-schichte wird begruumlndet mit der Doktrin von Moskau als dem Dritten Rom wie sie aus der beruumlhmten eschatologischen Formel des Pskover Moumlnchs Filofej aus der ersten Haumllfte des 16 Jahrhunderts abgeleitet worden ist bdquoAlle christlichen Zartuumlmer haben sich ihrem Ende zugeneigt und sind gemaumlszlig den prophetischen Buumlchern eingegangen in das eine Zartum unseres Herrschers das heiszligt ins russi-sche Zartum Denn zwei Rome sind gefallen und das dritte steht Ein viertes aber wird es nicht gebenldquo36

Nach der Apostasie der Lateiner (dem Schisma von 1054) und dem bdquoVer-ratldquo Konstantinopels (durch die Florentiner Union 1439) dem als Strafe Gottes der Untergang des Byzantinischen Reichs (1453) folgte wird Russland zum drit-ten und ndash der goumlttlichen Trinitaumlt entsprechend ndash letzten Hort der Rechtglaumlubig-keit37 Dessen Ende wird auch das Ende der Geschichte sein mit dem Auftreten des Antichrist des falschen Messias der Juden der durch Taumluschung und Verfuumlh-rung die Parusie des wahren Messias gleichzeitig verbergen und ankuumlndigen soll Bis dahin aber sind das Heilige Russland und seine Herrscher von Gott erwaumlhlt und berufen den Widersacher Christi abzuwehren und das Ende aufzuhalten Nach der sogenannten Substitutionslehre sind die Erwaumlhlung und der messiani-sche Sendungsauftrag Israels nach dessen bdquoVerratldquo auf die Heilige Rusrsquo und das

36 bdquoMoskau ndash das Dritte Romldquo Das Sendschreiben des Filofej von Pskov in Peter Haupt-

mannGerd Stricker (Hgg) Die Orthodoxe Kirche in Ruszligland Dokumente ihrer Geschich-te 960ndash1980 Goumlttingen 1980 253 Bis zur ersten Publikation von Filofejs Sendschreiben in den 1860er Jahren war dieses Konzept freilich kaum bekannt Zu seinen vielfaumlltigen und bisweilen kontraumlren Deutungen siehe Nina Sinicyna Tretij Rim Istoki i ėvoljucija russkoj srednevekovoj koncepcii (XVndashXVI vv) Moskva 1998 zur Wirkungsgeschichte bis in die postsowjetische Gegenwart siehe Peter J S Duncan Russian Messianism Third Rome Revolution Communism and After LondonNew York 2000 Vgl auch Marshall Poe bdquoMoscow the Third Rome The Origins and Transformations of a sbquoPitoval Momentlsquoldquo in Jahrbuumlcher fuumlr Geschichte Osteuropas 49 (2001) 3 412ndash429 Frank Kaumlmpfer bdquoDie Lehre vom Dritten Rom ndash pitoval moment historiographische Folkloreldquo ebd 430ndash441 Fran-ziska Thun-Hohenstein bdquosbquoMoskau ndash Drittes Romlsquo Nachklaumlnge einer alten Denkfigur in der russischen Kultur des 20 Jahrhundertsldquo in Daniel Weidner (Hg) Figuren des Euro-paumlischen Kulturgeschichtliche Perspektiven Muumlnchen 2006 78ndash97 Sergej Magaril Mi-fologija bdquosbquoTretrsquoego Rimalsquo v rossijskom obrazovannom soobščestveldquo in Ėmilrsquo A Pain (Hg) Ideologija bdquoosobogo putildquo v Rossii i Germanii istoki soderžanie posledstvija Moskva 2010 127ndash156 Anna Briskina-Muumlller bdquoDas neue sbquoneue Romlsquo eine byzantinische Idee auf russischem Bodenldquo in Reinhard FlogausJennifer Wasmuth (Hgg) Orthodoxie im Dialog Historische und aktuelle Perspektiven Berlin [ua] 2015 311ndash336

37 Filofej sprach was oft uumlbersehen wird nicht von Moskau als dem Dritten Rom diese For-mel taucht erst im 17 Jahrhundert auf Auch wird aus dem bdquorhomaumlischen (Romejskoe) Zartumldquo bei Filofej erst spaumlter das bdquorussische (Rosejskoe) Zartumldquo Siehe Sinicyna Tretij Rim 244 324ndash328 ndash Die Vorstellung der Stadt Moskau als dem Dritten Rom treibt inzwi-schen seltsame Bluumlten So glaubt der vielfach ausgezeichnete Kulturologe Rustam Rach-matullin in seinem Bestseller Dve Moskvy ili metafizika stolicy (2008) eine bdquosakrale Identitaumltldquo zwischen Moskau Rom und Jerusalem nachweisen zu koumlnnen

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 13

russische bdquoGottestraumlgervolkldquo (narod-Bogonosec) uumlbergegangen die Orthodoxe Kirche wurde zum bdquoNeuen Israelldquo ihre heiligen Staumltten zum bdquoNeuen Jerusa-lemldquo38 Wenn Paulus davon spricht dass am Ende bdquoganz Israel errettetldquo werde (Roumlm 11 26) so sei damit die Kirche Jesu Christi gemeint zu der die Juden sich bekehren muumlssten39

bdquoMoskau ndash Drittes Romldquo Ikone (2011) Maler unbekannt lthttpwwwruniversrugalgallery-allphpSECTION_ID=7641ampELEMENT_ID=462777gt

Russlands Herrscher fungiert mithin als Katechon als jene hemmende aufhalten-de Macht von der im zweiten Brief des (Pseudo-)Paulus an die Thessalonicher die Rede ist

38 Siehe zB Michail Nazarov Voždju Tretrsquoego Rima K poznaniju russkoj idei v apokalipsi-

českoe vremja Moskva 2005 933f 945 ndash Fuumlr die Anhaumlnger der angloamerikanischen bdquoChristian Identityldquo sind hingegen die bdquoArierldquo bdquoGottes auserwaumlhltes Volkldquo und die Verei-nigten Staaten das bdquoNEW JerUSAlemldquo Martin Durham White Rage The Extreme-Right and American Politics London 2007 67

39 Eine fruumlhe heute wieder viel zitierte wertende Entgegensetzung von Judentum und (russi-schem) Christentum findet sich bereits in der um die Mitte des 11 Jahrhunderts verfassten bdquoRede uumlber das Gesetz und die Gnadeldquo (Slovo o zakone i blagodati) des Metropoliten Ila-rion

14 Michael Hagemeister

Zuerst muss der Abfall von Gott kommen und der Mensch der Gesetzlosigkeit offenbart werden der Sohn des Verderbens der Widersacher der sich erhebt uumlber alles was Gott heiszligt oder Heiligtum so dass er sich sogar in den Tempel Gottes setzt und sich fuumlr Gott ausgibt [] Denn das Geheimnis der Gesetzlosigkeit [τὸ μυστήριον τῆς ἀνομίας]40 ist schon wirksam nur muss erst der beseitigt werden der es bis jetzt noch aufhaumllt [ὁ κατέχων] und dann wird der Gesetzlose offenbart werden [hellip] (2 Thess 23-4 und 7-8)

Die durch bdquofeigen Verratldquo erzwungene Abdankung des Zaren im Maumlrz 1917 und seine Ermordung im Juli 1918 wurden denn auch als Erfuumlllung jener Prophetie verstanden dh als Beseitigung des Katechon damit der Weg frei werde fuumlr die Herrschaft des Antichrist41 Der Regizid wurde in dieser Sicht zu einem bdquoapoka-lyptischen Verbrechenldquo langfristig geplant und auf blutig-rituelle Weise ausge-fuumlhrt von den Agenten des Antichrist den Juden Fuumlr diese so der Historiker Mi-chail Nazarov war der von Gott erwaumlhlte und gesalbte apostelgleiche Herrscher des Dritten Rom der bdquokatechontischen orthodoxen Machtldquo objektiv der groumlszligte metaphysische Feind und seine Beseitigung mithin eine Tat bdquovon houmlchster mys-tisch-religioumlser Bedeutungldquo42

Viele Glaumlubige sind indes uumlberzeugt dass die Stelle des Katechon nicht vakant sei sondern von der Gottesmutter uumlbernommen wurde Als Beweis dafuumlr dient die wundersame Auffindung einer Ikone im Dorf Kolomenskoe bei Moskau an jenem Tag an dem Nikolaus II dem Thron entsagte43 Die Ikone zeigt die

40 Luther uumlbersetzt bdquoGeheimnis der Bosheitldquo in der mittelalterlichen Theologie als der Anti-

christ gedeutet der nach der Offenbarung des Johannes am Ende der Zeiten erscheint 41 Im Russischen wird die Rolle des bdquoSelbstherrschersldquo (samoderžec) als bdquoAufhalter Kate-

chonldquo (uderživajuščij) auch etymologisch deutlich russ deržatrsquo entspricht griech κατέ-χειν ndash Die mysterioumlse Figur des Katechon (im griechischen Text einmal Neutrum einmal Maskulinum) die das Endgericht und den Anbruch des Reiches Gottes verzoumlgert bietet sich ebenso wie der Antichrist und seine Trabanten seit jeher zu immer neuen Identifikatio-nen mit einzelnen Gestalten Gruppen oder politischen Maumlchten an So identifizierte Carl Schmitt (1888ndash1985) der bdquoApokalyptiker der Gegenrevolutionldquo (Jacob Taubes) Liberalis-mus Bolschewismus und Judentum mit dem Antichrist (oder seinen Agenten) und glaubte dendas Katechon unter anderem in der Diktatur Hitlers zu erkennen 1947 notierte er bdquoIch glaube an den Katechon er ist fuumlr mich die einzige Moumlglichkeit als Christ Geschichte zu verstehen und sinnvoll zu findenldquo Carl Schmitt Glossarium Aufzeichnungen aus den Jah-ren 1947 bis 1958 hg von Gerd Giesler und Martin Tielke Berlin 2015 47 Schmitt und seine politische Theologie werden in russischen Intellektuellenkreisen intensiv rezipiert

42 Nazarov Voždju 213ndash223 ders Tajna Rossii Istoriosofija XX veka 1999 695ndash699 ndash Die Ermordung der Zarenfamilie durch die Bolschewiki im Juli 1918 in Ekaterinburg wur-de und wird von russischen Nationalisten als juumldischer antichristlicher Ritualmord darge-stellt Extremistische Kirchenkreise forderten denn auch Nikolaus II und seine Familie als bdquovon Jidden Gemarterteldquo (ot židov umučennye) heiligzusprechen Dem wurde freilich von fuumlhrenden Vertretern des Moskauer Patriarchats widersprochen

43 Im Februar 1917 war der Baumluerin Evdokija Andrianova im Traum der Fundort der Ikone erschienen Nach langem Suchen wurde diese schlieszliglich am 215 Maumlrz im Keller der Himmelfahrtskirche von Kolomenskoe entdeckt Siehe Aleksandr N Kazakevič bdquosbquoV podvale chrama pojavilasrsquo ikona Bogomaterilsquo Dokumenty Centralrsquonogo istoričeskogo

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 15

Himmelskoumlnigin mit den Zeichen ihrer Regentschaft im kaiserlichen Purpur mit Krone Szepter und Reichsapfel Das Bild der bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo (Bogo-materrsquo Deržavnaja) erwies sich sogleich als wundertaumltig und zog zahlreiche Pil-ger an Kopien verbreiteten seine Verehrung im ganzen Land Bis heute gilt es vielen als ein Zeichen dass Russlands Schutz vor dem Ansturm des Antichrist vom Zaren auf die Gottesmutter uumlbergegangen ist und sie die autokratische Macht bis zur Wiederherstellung der Monarchie bewahren wird44 Zum 70 Jahrestag des Sieges lieszlig der Izborsker Klub eine Variante der beruumlhmten Ikone anfertigen Sie zeigt die bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo zusammen mit Stalin und seinen Marschaumll-len Fuumlr Aleksandr Prochanov ist Stalin der Katechon der von Gott gesandte Fuumlhrer des Sowjetvolks das durch den Opfertod seiner Soumlhne im bdquogeheiligtenldquo Groszligen Vaterlaumlndischen Krieg ebenso wie einst Christus die Macht der Houmllle be-siegt und die Menschheit erloumlst habe45

lthttpwwwizborsk-clubruarh2015_04_Blokpdfgt

In bdquohistoriosophischerldquo Sicht bildet die Ermordung des Zaren und seiner Familie das zentrale sinnstiftende Ereignis der Geschichte Russlands im 20 Jahrhundert Alles darauf folgende Ungluumlck und Leiden die Verfolgung der Christen Hunger und Terror der Tod von Millionen Menschen werden aufgefasst als Strafe Gottes fuumlr den Abfall des russischen Volkes vom Glauben und fuumlr den judasgleichen

archiva Moskvy o Deržavnoj ikone Božiej Materildquo in Otečestvennye archivy 1 (2004) lthttpricolororghistorykasvyatyniik_derggt

44 Vgl Grigorij Nikolaev bdquoĖschatologičeskij triptichldquo in Ėschatologičeskij sbornik 358ndash396 hier 376f Bagdasarjan bdquoApokalipsis ndash segodnja 441f

45 Aleksandr Prochanov bdquoMističeskij stalinizmldquo in Izborskij klub Russkie strategii 4 (28) 2015 78ndash81 auch lthttpwwwizborsk-clubruarh2015_04_Blokpdfgt

16 Michael Hagemeister

bdquoVerratldquo an seinem Herrscher Wie Jesus sich dem Willen des goumlttlichen Vaters unterworfen hat und auf Golgatha fuumlr die Suumlnden der Welt gestorben ist so habe der Zar in Ekaterinburg (dem bdquorussischen Golgathaldquo) sein Leben als bdquoSuumlhneopferldquo dargebracht fuumlr die Suumlnden ganz Russlands46 Erst wenn das russische Volk sein Land von den Idolen und Symbolen der Gottlosigkeit reinige den Ideen der De-mokratie und politischen Gleichheit abschwoumlre seine kollektive Schuld bereue und Buszlige tue fuumlr das bdquoschrecklichste und unheilvollste Verbrechen des 20 Jahr-hundertsldquo werde der Zar zuruumlckkehren und Russland seine einstige Groumlszlige wie-dererlangen47

Einer der vehementesten und einflussreichsten Propagandisten der Selbst-charismatisierung Russlands war in den Jahren nach dem Ende der Sowjetunion Metropolit Ioann (Ivan Snyčev 1927ndash1995) von St Petersburg und Ladoga Mit-glied des Heiligen Synods und dritthoumlchster Kirchenhierarch des Landes In einer Vielzahl von Buumlchern Aufsaumltzen und Interviews beschwor Ioann die universale Mission des Dritten Rom als des bdquoletzten Hortes des wahren Glaubensldquo im Kampf gegen den Antichrist und seine Verbuumlndeten das bdquoVolk der Gesetzlosigkeitldquo48 Zu den apokalyptischen Feinden Christi zaumlhlte er die bdquoglobalen Maumlchte hinter den Kulissenldquo (mirovaja zakulisa) das internationale Freimaurertum die bdquotransnatio-nale Finanzoligarchieldquo die Anhaumlnger des Zionismus und Marxismus sowie Israel die USA und deren westeuropaumlische Satelliten49 Wiedergeboren im Geist der Or-thodoxie sei das Dritte Rom der irdische Sockel auf dem der Thron Gottes ruhen werde ndash ihm entgegen stehe der Dritte Tempel der Thron des Antichrist50

Hesychasmus als Kulturscheide ndash Kritik der Renaissance

Als entscheidende Waffe in dieser heilsgeschichtlichen Auseinandersetzung wird in juumlngster Zeit von antiwestlichen Intellektuellen und Kirchenkreisen der soge-nannte Hesychasmus in Stellung gebracht Urspruumlnglich handelt es sich dabei um

46 Das Schicksal des letzten Zaren wurde in der antibolschewistisch-antisemitischen Polemik

schon fruumlh mit der Passion Christi verglichen oder gleichgesetzt Eindrucksvolle Beispiele aus juumlngerer Zeit bieten die patriotischen Lieder der prominenten Saumlngerin Žanna Bičev-skaja oder die Filme Iskupitelrsquonaja žertva (1992) und Russkaja Golgofa (2000) Siehe auch Papkova The Orthodox Church 63f 222

47 Marija Achmetova Konec sveta v odnoj otdelrsquono vzjatoj strane Religioznye soobščestva postsovetskoj Rossii i ich ėschatologičeskij mif Moskva 2010 245ndash260

48 Vgl Rossman Russian Intellectual Antisemitism 221ndash225 Hagemeister bdquoDas Dritte Romldquo 476

49 Metropolit Ioann (Snyčev) bdquoToržestvo pravoslavijaldquo in ders Bitva za Rossiju Sankt-Peterburg 1993 28ndash35 In seinem Bestreben Russland als Opfer jahrhundertealter Ver-schwoumlrungen finsterer antichristlicher Maumlchte darzustellen griff Ioann immer wieder auch auf die Protokolle der Weisen von Zion zuruumlck

50 Metropolit Ioann (Snyčev) Samoderžavie ducha Očerki russkogo samosoznanija Sankt-Peterburg 1994 7

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 17

eine individuelle psychosomatische Gebets- und Meditationstechnik des byzanti-nischen und slavischen Moumlnchtums deren Anfaumlnge bis auf die Wuumlstenvaumlter zu-ruumlckreichen Durch die unablaumlssige konzentrierte Wiederholung des sogenannten bdquoJesusgebetsldquo ndash der Anrufung des rettenden Namens Jesu Christi ndash im Rhythmus des Herzschlags (deshalb auch bdquoHerzensgebetldquo) eine Uumlbung die als bdquogeistiges Tunldquo (πρᾶξις νοερά russ umnoe delanie) bezeichnet wird kann der Asket der die innere Ruhe (ἡσυχία) und Leidenschaftslosigkeit (ἀπάθεια) erreicht hat zur ekstatischen Schau (θεωρία) der Herrlichkeit Gottes in Lichtvisionen gelangen51

Die mit dem bdquoJesusgebetldquo verbundenen mystischen Erfahrungen fuumlhrten im 14 Jahrhundert zu einer hochspekulativen theologischen Deutung und Systemati-sierung durch den Athosmoumlnch (spaumlter Erzbischof von Thessalonike) Gregorios Palamas (129697minus1359) und seine Anhaumlnger im sogenannten bdquoHesychasmus-streitldquo Dabei ging es ndash stark vereinfacht ndash um die Frage inwiefern bestimmte sinnliche Erfahrungen beim Gebet wie das Schauen von Licht aber auch die Empfindung von Waumlrme und Wohlgeruch als Begegnung mit der Realitaumlt Gottes aufzufassen seien (und nicht als Pseudovisionen also als Einbildungen oder gar Inspirationen daumlmonischer Maumlchte) Dahinter steht das alte theologische Problem der Erkennbarkeit oder sinnlichen Erfahrbarkeit Gottes der Kommunikation zwi-schen Immanenz und Transzendenz aber auch der Gefahr der Verfuumlgung uumlber das Goumlttliche (extrem im Gotteszwang durch Beschwoumlrung)

Palamas loumlst die Frage indem er in Anlehnung an neuplatonische Vorstel-lungen das unzugaumlngliche ewige bdquoWesenldquo (οὐσία) Gottes von seiner in der ge-schaffenen Welt d h in Raum und Zeit mitteilbaren ungeschaffenen bdquoWirkkraftldquo oder bdquoEnergieldquo (ἐνέργεια) unterscheidet nicht aber trennt52 Diese Energien bdquodie der dreieinige Gott ausstrahlt und die zu seinem Wesen gehoumlren wie die Strahlen zur Sonne oder das Kraftfeld zum Magnetenldquo53 kann der Asket der den Stufen-prozess von bdquoReinigungldquo (κάθαρσις) bdquoErleuchtungldquo (φωτισμός) und bdquoVergoumlttli-chungldquo (θέωσις) durchlaumluft durch die Gnade Gottes sinnlich erfahren Als houmlch-stes mystisches Erlebnis im Zusammenwirken (συνεργία) aller menschlichen En-ergien mit der goumlttlichen Energie gilt die Schau des ungeschaffenen Lichtes wie sie den Juumlngern Jesu bei dessen Verklaumlrung auf dem Berg Tabor (μεταμόρφωσις

51 Ich folge hier zum Teil meinen Ausfuumlhrungen in Michael Hagemeister bdquoImjaslavie ndash imja-

dejstvie Namensmystik und Namensmagie in Russland (1900ndash1930)ldquo in Tatjana Petzer [ua] (Hgg) Namen Benennung ndash Verehrung ndash Wirkung Positionen der europaumlischen Moderne Berlin 2009 77ndash98 hier 79ndash81 88ndash90 Zum Hesychasmus liegt eine umfangrei-che Literatur vor Das Nachschlagewerk von Sergej Choružij (Hg) Isichazm annotiro-vannaja bibliografija Moskva 2004 umfasst mehr als 10000 Titel in 20 Sprachen

52 Die Unterscheidung von Gottes unerkennbarem Wesen und seinen wahrnehmbaren Wirk-kraumlften reicht bis auf Philon von Alexandria (gest ca 40 n Chr) zuruumlck Siehe Fairy v Lilienfeld bdquoHesychasmusldquo in Theologische Realenzyklopaumldie Bd 15 BerlinNew York 1986 282ndash289 ndash bdquoEnergieldquo ist Synonym fuumlr jeden bdquoAustrittldquo Gottes aus seinem Wesen Die bdquoSaumlttigungldquo mit goumlttlicher Energie erklaumlrt beispielsweise auch die gnadenreiche Heil-wirkung die von den Gebeinen der Heiligen selbst nach deren Tod ausgeht

53 Ebd 284

18 Michael Hagemeister

τοῦ Χριστοῦ Mt 171minus13) zuteil geworden war54 Fuumlr den endzeitlich gestimm-ten Palamas war diese Schau eine Vorwegnahme der Parusie der Vereinigung des Geschaffenen und des Ungeschaffenen und des kuumlnftigen Reiches Gottes somit bdquorealisierte Eschatologieldquo55

Der Glaube an die Wahrnehmbarkeit des ungeschaffenen ewigen Lichtes als Ausfluss der Energien Gottes stieszlig jedoch auf Widerspruch Palamasrsquo promi-nentester Gegner war der aus Kalabrien stammende Moumlnch Barlaam (ca 1290ndash1348) der in der Tradition der abendlaumlndischen rationalistischen Scholastik die Unterscheidung des transzendenten unzugaumlnglichen Wesens Gottes und der da-von untrennbaren Energien die aber ad extra wirken und sich dem Menschen mitteilen als haumlretisch verwarf und auf der absoluten Unerkennbarkeit Gottes be-stand Rom lehnte denn auch die Energienlehre des Palamas aufs schaumlrfste ab Dagegen erkannte die byzantinische Kirche sie 1341 und 1351 als Dogma an Seitdem gilt der palamitische Hesychasmus als ein Spezifikum der Orthodoxie und dient gerade heute wieder der polemischen Abgrenzung gegenuumlber dem Wes-ten56

Fuumlr die bereits genannten Philosophen Pavel Florenskij und Aleksej Losev charakterisiert das Bekenntnis zum Hesychasmus den Kulturtypus des christli-chen Mittelalters der sich in idealer Weise in Byzanz und in der Moskauer Rusrsquo ausgepraumlgt habe und in diametralem Gegensatz zur sogenannten bdquoRenaissance-Kulturldquo des Westens stehe Merkmale jener integralen Kultur des christlichen Ostens seien Gemeinschaftlichkeit (sobornostrsquo) Geistigkeit (duchovnostrsquo) Ob-jektivitaumlt Konkretheit Ganzheit (celrsquonostrsquo) und Ganzheitlichkeit (celostnostrsquo) synthetische Schau und Realismus57 waumlhrend die westliche Moderne seit der Re-naissance gepraumlgt sei durch Subjektivismus Relativismus szientifische Ratio-nalitaumlt (bdquoEntzauberung der Weltldquo) Materialismus Liberalismus Individualismus

54 Siehe Sergej Choružij bdquoSvet Plotinov i svet Favora mistika sveta v neoplatonizme i isi-

chazmeldquo in Aleksej Lidov (Hg) Ierotopija Ognja i Sveta v kulrsquoture vizantijskogo mira Moskva 2013 37ndash44 Zur Terminologie des Hesychasmus ders bdquoAnalitičeskij slovarʼ isi-chastskoj antropologiildquo in ders K fenomenologii askezy Moskva 1998 22ndash186

55 Peter Kawerau Das Christentum des Ostens Stuttgart [ua] 1972 131 56 Siehe zB die Arbeiten des Moskauer Theologen Igorʼ Ėkonomcev (Archimandrit Ioann)

bes bdquoIsichazm i vostočnoevropejskoe Vozroždenieldquo in Bogoslovskie trudy 29 (1989) 167ndash196 erweiterte Fassung bdquoDer Hesychasmus und die Renaissance in Osteuropaldquo in Karl Christian Felmy (Hg) Tausend Jahre Christentum in Russland Zum Millennium der Taufe der Kiever Rusrsquo Goumlttingen 1988 731ndash771 ndash Im 19 Jahrhundert erlebte der Hesy-chasmus im Zuge der Wiederbelebung mystischer Froumlmmigkeit durch Paisij Veličkovskij (1722ndash1794) eine Bluumlte im russischen Starzentum Dabei handelt es sich auch ndash aumlhnlich wie beim Pietismus ndash um eine Reaktion auf die Einfluumlsse der westlichen Aufklaumlrung Siehe die Beitraumlge in Adalberto Mainardi (Hg) Paisij lo starec Atti del III Convegno ecumenico internazionale di spiritualitagrave russa Bose 20ndash23 settembre 1995 Magnano 1997

57 Die Uumlberwindung der Trennung des erkennenden Subjekts vom Objekt der Erkenntnis (Descartes Locke Kant) durch das spekulative intuitive Erfassen des Wesens (der Ideen des Absoluten) als des eigentlich Realen hat die russische Philosophie des 20 Jahrhunderts bdquolebendiges Wissenldquo (živoe znanie) bdquoIdeal-Realismusldquo (ideal-realizm) oder bdquointuitiven Realismusldquo (intuitivnyj realizm) genannt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 19

Abstraktheit Zersplitterung und Atomisierung58 Der Sieg des Nominalismus im mittelalterlichen Universalienstreit und die Feier des autonomen Individuums in Renaissance Humanismus und Aufklaumlrung markieren in dieser katastrophischen Perspektive den Zerfall der goumlttlichen Ordnung des Universums und der Sakralitaumlt von Hierarchie und Herrschaft und damit den bdquoSuumlndenfallldquo der abendlaumlndischen Kultur die im Anthropozentrismus der satanischen Hybris einer bdquoSelbstvergot-tungldquo des Menschen (čelovekobožie)59 zugleich gipfele und scheitere60

Am Anfang dieser verhaumlngnisvollen Spaltung standen die Annahme der pa-lamitischen Lehre durch die Ostkirche und die Ablehnung dieser Lehre im Westen durch den bdquoRenaissance-Menschenldquo (vozroždenec) Barlaam den Lehrer Boccac-cios und Petrarcas61 Mit aller Schaumlrfe formulierte Losev diesen Gegensatz bdquo[hellip] entweder ist das Taborlicht untrennbar vom Wesen Gottes und ist deshalb Gott selbst (obwohl Gott selbst nicht [das] Licht ist) ndash dann ist die Orthodoxie gerettet oder das Licht ist vom Wesen Gottes trennbar und darum geschaffen ndash dann be-ginnen die apokalyptischen Kraumlmpfe des Renaissance-Westensldquo62 Indem sie Bar-laam einen bdquozugereisten Kalabrierldquo und seine Anhaumlnger mit dem Bann belegte habe die Orthodoxe Kirche so Losev die damals heraufziehende Renaissance

58 Siehe zB Pavel Florenskij bdquoAvtoreferat (192526)ldquo in Voprosy filosofii 1988 12 113ndash

116 dt Pavel Florenski bdquoAutorreferatldquo in ders Leben und Denken hg von Fritz und Sieglinde Mierau Bd 1 Ostfildern 1995 32ndash38 Aleksej Losev Dialektika mifa (1930) Moskva 2001 137ndash138 dt Die Dialektik des Mythos Hamburg 1994 109 ndash Die wertende Entgegensetzung von mittelalterlicher und Renaissance-Kultur (bzw der Typen bdquoobjekti-verldquo und bdquosubjektiverldquo Kulturen) findet sich durchgaumlngig im Werk Florenskijs und Losevs Siehe zuletzt Oksana SedychJulija Grišatova bdquoRusskij Renessans o Renessanseldquo in Vo-prosy filosofii 2015 6 111ndash121

59 bdquoSatan war der erste Revolutionaumlrldquo zitiert Losev einen (apokryphen) Ausspruch des Hl Serafim von Sarov Aleksej Losev bdquoDopolnenie k sbquoDialektike mifalsquo (novyj fragment)ldquo in AF Losev tvorčestvo tradicii interpretacii Moskva 2014 397ndash411 hier 401

60 So degradiere ndash um nur ein Beispiel fuumlr das Scheitern der Renaissance zu geben ndash das heliozentrische Weltbild eines Kopernikus und Giordano Bruno den Menschen zum Be-wohner eines bdquonichtigen Sandkornsldquo im unendlichen Weltraum SedychGrišatova bdquoRuss-kij Renessansldquo 114 Florenskij suchte denn auch in seiner Schrift Mnimosti v geometrii (1922) das geozentrische Weltbild des Mittelalters zu rehabilitieren Zum griechisch-or-thodoxen Antikopernikanismus Vasilios Makrides Die religioumlse Kritik am kopernikani-schen Weltbild in Griechenland zwischen 1794 und 1821 Aspekte griechisch-orthodoxer Apologetik angesichts naturwissenschaftlicher Fortschritte Frankfurt aM [ua] 1995

61 Mitunter wurde Barlaam sogar als Agent einer groszligangelegten antiorthodoxen Verschwouml-rung des bdquoPapismusldquo denunziert Siehe Ėkonomcev bdquoIsichazmldquo 59 vgl ders bdquoDer Hesy-chasmusldquo 736 ndash Eine Kontrastierung des weltlichen Humanisten Petrarca und des Hesy-chasten Palamas unternahm Losevs Schuumller und Sekretaumlr Vladimir Bibichin lthttpwww philologyruliterature3bibikhin-90htmgt

62 Aleksej Losev Očerki antičnogo simvolizma i mifologii Moskva 1930 856 Auch Ėko-nomcev spricht von den bdquoschreienden Widerspruumlchen und Grimassen der westlichen Re-naissance deren geistiger Vater Barlaam wurdeldquo Ėkonomcev bdquoIsichazmldquo 63 (in der deut-schen Version ist von bdquohimmelschreienden Gegensaumltzenldquo und bdquoscheuszliglichen Grimassenldquo die Rede Ėkonomcev bdquoDer Hesychasmusldquo 746)

20 Michael Hagemeister

insgesamt verdammt (anafematstvovala) der alle westlichen Voumllker verfallen sei-en und wahrscheinlich bis ans Ende ihrer Tage verfallen blieben63

Bis zuletzt verteidigte Losev ein mit Orden des Sowjetstaates ausgezeich-neter Philosoph der 1929 von Archimandrit David (Muchranov 1847ndash1930) ei-nem Fuumlhrer der hesychastischen bdquoNamensverehrerldquo (imjaslavcy)64 heimlich zum Moumlnch geweiht worden war die Lehre des Palamas als einen Grundpfeiler der Orthodoxie65 Gleichzeitig hielt er an seiner schroffen Ablehnung des bdquoRenaissan-ce-Westensldquo fest dessen Geschichte insgesamt nichts anderes sei als bdquoeine libera-le Kritik des Mittelaltersldquo 1978 stellte Losev in seiner umfangreichen Studie zur Aumlsthetik der Renaissance der bdquoganzheitlichen Kulturldquo (celostnaja kulrsquotura) des Mittelalters die zerrissene Kultur der Renaissance gegenuumlber die auf der Verabso-lutierung und bdquotitanischen Verherrlichungldquo des isolierten Subjekts und der bdquoAbge-trenntheit vom lebendigen Seinldquo (otryv ot živogo bytija) beruhe66 In einem Ge-spraumlch mit dem Schriftsteller Viktor Erofeev das 1985 veroumlffentlicht wurde de-nunzierte Losev den Typus des bdquoRenaissance-Menschenldquo der sich selbst vergoumltt-liche und deshalb dem Nihilismus und Satanismus verfalle bdquoIndem die Renais-sance das Subjekt zum Absolutum erhob oumlffnete sie den Weg fuumlr den Triumph des Subjektivismus in den folgenden Jahrhunderten In diesem Sinne stellt der gesamte Westen fuumlr mich eine Sackgasse des Denkens darldquo67 Damit geriet der Philosoph einerseits in scharfen Gegensatz zum sowjetischen Selbstverstaumlndnis das sich als Erbe und Vollender gerade jener bdquoprogressivenldquo Prozesse und huma-nistischen Traditionen sah die von der europaumlischen Renaissance ausgegangen

63 Losev Očerki 849 856 64 Zur Bewegung des imjaslavie die zu Beginn des 20 Jahrhunderts auf dem Athos entstand

und in Florenskij und Losev prominente Unterstuumltzer fand liegt inzwischen eine reiche Literatur vor Siehe die juumlngste Veroumlffentlichung Antoine Niviegravere Les glorificateurs du nom Une querelle theacuteologique parmi les moines russes du mont Athos (1907ndash1914) Genegraveve 2016

65 Siehe Valentina Postovalova bdquoAfonskij spor ob Imeni Božiem v filosofsko-bogoslovskom osmyslenii AF Losevaldquo in AF Losev 95ndash106 bes 105f

66 Aleksej Losev Ėstetika Vozroždenija Moskva 21982 (11978) 45 61 137 und passim Losevs Modernekritik erinnert an Heidegger und dessen Begriff der bdquoSeinsvergessenheitldquo Wie fuumlr Heidegger so war auch fuumlr Losev (und Florenskij) der Agent der verhassten Moder-ne ein bdquorechnendesldquo und bdquowurzellosesldquo mythisches Judentum Zu Losevs metaphysischem Antisemitismus (bdquodas satanische Wesen des Judentumsldquo) siehe zuletzt mit zahlreichen Belegen Natalrsquoja Boneckaja Duch Serebrjanogo veka (fenomenologija ėpochi) Moskva Sankt-Peterburg 2016 688ndash693

67 Aleksej Losev bdquoV poiskach smyslaldquo in Voprosy literatury 1985 10 205ndash231 hier 229 Zu Losevs Kritik der bdquoRenaissance-Kulturldquo des Westens ausfuumlhrlich Annett Jubara Die Philosophie des Mythos von Aleksej Losev im Kontext bdquoRussischer Philosophieldquo Wiesba-den 2000 bes 131ndash154 Siehe auch Naftalij Prat bdquoAleksej Losev und der Totalitarismusldquo in Leonid Luks (Hg) Das Christentum und die totalitaumlren Herausforderungen des 20 Jahrhunderts Koumlln [ua] 2002 103ndash114 bes 108f

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 21

waren (augenfaumlllig etwa in der Architektur der 1930er bis 50er Jahre)68 Anderer-seits erwies sich der orthodoxe Moumlnch damit auch als Apologet des Sowjetregi-mes bedroht die Autonomie des Individuums doch den Wesenskern einer jeden Herrschaft die das Wahrheitsmonopol fuumlr sich beansprucht

Die Ablehnung der modernen bdquokopernikanischen Weltldquo (Hans Blumen-berg) durchzieht das gesamte philosophische Werk Losevs und Florenskijs dazu gehoumlren die Ablehnung des heliozentrischen Weltbildes die Polemik gegen Kants kritischen Idealismus (die bdquokopernikanische Wendeldquo in der Philosophie) die Ab-lehnung der Zentralperspektive in der Kunst die Ablehnung des nominalistischen Rationalismus und schlieszliglich die Ablehnung der saumlkularen und demokratischen Gesellschaftsordnung zugunsten einer bdquoVerkirchlichungldquo (ocerkovlenie) aller Be-reiche der Gesellschaft und des Staates in Gestalt einer theokratischen Synarchie Florenskij der sich als einen mittelalterlichen Menschen charakterisierte69 ndash Ni-kolaj Berdjaev selbst Verkuumlnder eines religioumls-integralen bdquoNeuen Mittelaltersldquo nannte ihn einen bdquoraffinierten Reaktionaumlrldquo ndash70 war uumlberzeugt dass die bdquoentseelte Renaissance-Zivilisationldquo sich erschoumlpft habe und eine neue ganzheitlich-objekti-ve Kultur anbrechen werde71 Vorbild dieser bdquoKultur des anderen Typusldquo werde Russland sein bdquoerste Keimeldquo seien bereits zu erkennen Seine Zeit begriff Floren-skij bdquoan den Wasserscheiden des Denkensldquo und er sah seine Lebensaufgabe darin bdquoWege zu bahnen zu einer kuumlnftigen ganzheitlichen Weltanschauungldquo72

68 Losevs Renaissance-Kritik (va in Ėstetika Vozroždenija) wurde deshalb auch als ver-

schleierte Kritik am Sowjetsystem verstanden Siehe Annett Jubara bdquoAleksej Losevs Philosophie des Mythos als Kritik an der Sowjetischen Moderneldquo in Studies in East Euro-pean Thought 56 (2004) 211ndash224 Aus dem Kreis der Schuumller Losevs gingen seit den 1960er Jahren zahlreiche dissidentische russische Nationalisten hervor Nikolaj Mitrochin Russkaja partija Dviženie russkich nacionalistov v SSSR 1953ndash1985 Moskva 2003 288f Zur Kritik der Renaissance-Zivilisation siehe auch Vladimir Bibichin Novyj renessans Moskva 1998 bes 131ndash155

69 Siehe Florenskij bdquoAvtoreferatldquo Noch im Maumlrz 1933 nach seiner Verhaftung erklaumlrte Flo-renskij gegenuumlber den Ermittlungsbeamten bdquoIch Pavel Aleksandrovič Florenskij [hellip] bin dem Charakter meiner politischen Anschauungen nach ein Romantiker des Mittelalters un-gefaumlhr des 14 Jahrhundertsldquo Vitalij Šentalinskij bdquoUdel veličijaldquo in Ogonek 1990 45 23ndash27 hier 26

70 Nikolaj Berdjaev Samopoznanie (Opyt filosofskoj avtobiografii) Moskva 1991 161 Sie-he Nikolaj Berdjaev Novoe srednevekovrsquoe Berlin 1924 dt Nikolaus Berdjajew Das Neue Mittelalter Darmstadt 1927

71 Siehe Michael Hagemeister bdquoWiederverzauberung der Welt ndash Pavel Florenskijs Neues Mittelalterldquo in Norbert Franz [ua] (Hgg) Pavel Florenskij ndash Tradition und Moderne Beitraumlge zum Internationalen Symposium an der Universitaumlt Potsdam 5 bis 9 April 2000 Frankfurt aM [ua] 2001 21ndash41 Zu Florenskijs Kritik an Renaissance und Humanismus (bdquoder Humanismus entsprang der Kabbalaldquo) siehe auch Ilona Svetlikova bdquoOb ideologii sbquoobratnoj perspektivylsquo Pavla Florenskogoldquo in Russkaja intellektualʼnaja revoljucija 1910ndash1930-ch godov Moskva 2016 123ndash139 zu den Uumlbereinstimmungen mit Heidegger siehe Viktor Arslanov Postmodernizm i russkij bdquotretij putrsquoldquo tertium datur rossijskoj kulrsquotury XX veka Moskva 2007 472ndash499

72 Florenskij bdquoAvtoreferatldquo 114

22 Michael Hagemeister

In juumlngster Zeit hat das wiedererwachte Interesse an der eigenen spirituellen Tradition und ihren byzantinischen Wurzeln ndash oftmals verbunden mit dem Bestre-ben sich vom bdquosaumlkularen Westenldquo und der bdquowestlichen Moderneldquo abzugrenzen ndash zu einer Wiederbelebung des palamitischen Hesychasmus (neopalamizm) und der ndash davon zu unterscheidenden ndash bdquoNamensverehrungldquo (imjaslavie) gefuumlhrt73 Be-reits in den 1970er Jahren war John Meyendorffs klassische Studie St Greacutegoire Palamas et la mystique orthodoxe (Paris 1959) ins Russische uumlbersetzt worden und kursierte in der Sowjetunion in Samizdat-Ausgaben im Milieu religioumls-philo-sophischer Dissidenten Heute wird die Wiederbelebung des Hesychasmus auch durch den patriotischen Kult um Serafim von Sarov (Prochor Mošnin 1759ndash1833) befoumlrdert einen Wundertaumlter und Apokalyptiker der im postsowjetischen Russland zu einem der meistverehrten Heiligen avanciert ist74 In einer in viele Sprachen uumlbersetzten und millionenfach verbreiteten Schrift schildert sein Schuuml-ler Nikolaj Motovilov (1809ndash1879) die Verklaumlrung Serafims im ungeschaffenen Licht des Heiligen Geistes die sich angeblich im November 1831 auf einer einsa-men verschneiten Waldlichtung ereignet hat75

73 Dies gilt nicht nur fuumlr Russland auch auf Vertreter der angelsaumlchsischen bdquoRadical Ortho-

doxyldquo die das Projekt einer von modern-saumlkularem Denken nicht korrumpierten Theologie verfolgen uumlben Hesychasmus und russische Sophiologie starke Faszination aus Siehe die Beitraumlge in Adrian PabstChristoph Schneider (Hgg) Encounter Between Eastern Ortho-doxy and Radical Orthodoxy Transfiguring the World Through the Word Farnham 2009 Zur Wiederbelebung des imjaslavie im post-sowjetischen Russland siehe Scott M Ken-worthy bdquoDebating the Theology of the Name in Post-Soviet Russia Metropolitan Ilarion Alfeev and Sergei Khoruzhiildquo in Katya Tolstaya (Hg) Orthodox Paradoxes Hetero-geneities and Complexities in Contemporary Russian Orthodoxy LeidenBoston 2014 250ndash264 Siehe auch Loren Grahams Bericht uumlber diskrete Zusammenkuumlnfte der imjaslav-cy im Kellergeschoss der Moskauer Tatrsquojana-Kirche in den fruumlhen 2000er Jahren Loren GrahamJean-Michel Kantor Naming Infinity A True Story of Religious Mysticism and Mathematical Creativity Cambridge MassLondon 2009 1ndash5

74 Fuumlr die Anhaumlnger der Doktrin einer bdquoAtomaren Orthodoxieldquo (atomnoe pravoslavie) ist Se-rafim auch der Schutzheilige der russischen Atombombe wurde doch Sarov der Ort seines Wirkens 1946 unter dem Namen Arzamas-16 zur streng geheimen Nuklearstadt in der Wissenschaftler unter ihnen Andrej Sacharov am Bau der sowjetischen Atom- und Was-serstoffbomben arbeiteten Patriotische Russen deuten dies als Zeichen dass bdquoim Hause unseres Vaters Serafimldquo mit dessen Segen der nukleare bdquoSchild zum Schutz der Heimatldquo geschmiedet worden sei Pavel V Florenskij bdquoNeobchodimostrsquo našej atomnoj bombyldquo in Naš sovremennik 1997 4 219ndash221 Bei dem Verfasser handelt es sich um einen Enkel des beruumlhmten Philosophen Siehe auch lthttpsruwikipediaorgwiki Атомное_правосла виеgt

75 Die Schrift deren Authentizitaumlt umstritten ist wurde bekannt unter dem Titel bdquoGespraumlch uumlber das Ziel des christlichen Lebensldquo (Beseda o celi christianskoj žizni) Erstmals veroumlf-fentlicht wurde das bdquoGespraumlchldquo 1903 von Sergej Nilus (1862ndash1929) dem Herausgeber und Kommentator der Protokolle der Weisen von Zion Siehe Michael Hagemeister bdquoIl proble-ma della genesi del sbquoColloquio con Motovilovlsquoldquo in Adalberto Mainardi (Hg) San Sera-fim Da Sarov a Diveevo Atti del IV Convegno ecumenico internazionale di spiritualitagrave russa Bose 18ndash20 settembre 1996 Magnano 1998 157ndash174 Bis heute gibt es keine kriti-sche Ausgabe dieses zentralen Textes russischer Geistigkeit

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 23

Von der Wiederbelebung des Hesychasmus zeugt auch das groszligangelegte Projekt einer bdquosynergetischen Anthropologieldquo (sinergijnaja antropologija) des Mathematikers Physikers und religioumlsen Philosophen Sergej Choružij Prakti-sches Ziel das seit 2005 durch ein eigenes Institut in Moskau verfolgt wird ist die psychosomatisch-holistische Selbsttransformation des Menschen die auf unmittelbarer (mystisch-energetischer) Erfahrung bzw Einwirkung des ontolo-gisch Anderen (Goumlttlichen) beruht sowie die Uumlberwindung der Subjekt-Objekt-Trennung der modernen westlichen Philosophie die Choružij fuumlr den von ihm als krisenhaft und katastrophisch beschriebenen Zustand der westlichen Moderne verantwortlich macht Im Unterschied zu orthodoxen Fundamentalisten und Anti-Westlern sucht Choružij indes die asketischen Praktiken des Hesychasmus mit modernen und postmodernen westlichen Anthropologien (Kierkegaard Scheler Heidegger und insbesondere Foucaults technique oder practique de soi) in Bezie-hung zu setzen76

bdquoPolitischer Hesychasmusldquo

Es duumlrfte deutlich geworden sein dass Hesychasmus nicht nur eine weltabge-wandte mystisch-asketische bdquogeistige Praxisldquo bezeichnet sondern auch als Kampfbegriff gegen die saumlkulare Kultur des bdquoWestensldquo und der bdquowestlichen Mo-derneldquo dient Dies gilt vor allem fuumlr das Konzept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo (političeskij isichazm)

In den russischen Diskurs wurde dieses Konzept um die Mitte der 1960er Jahre von dem Leningrader Mediaumlvisten und Byzantinisten Gelian Prochorov ein-gefuumlhrt77 Seiner Hauptthese zufolge wurde der Hesychasmus nachdem er aus den Klosterzellen herausgetreten war und eine philosophisch-theologische

76 Siehe Sergej Choružij Očerki sinergijnoj antropologii Moskva Inst Sinergijnoj antropo-

logii Inst filosofii teologii i istorii Sv Fomy 2005 ders (Hg) Fonarrsquo Diogena Proekt sinergijnoj antropologii v sovremennom gumanitarnom kontekste Moskva 2010 ders bdquoDie mystische Verwandlung des Menschen Uumlber den Hesychasmus als Raum der Philo-sophieldquo in Fuge Journal fuumlr Religion amp Moderne 7 (2010) 72ndash99 Siehe auch die Web-site lthttpsynergia-isarugt Kristina Stoeckl bdquoA New Anthropology Sergej S Khoru-žijrsquos Search for an alternative to the Cartesian Subject in sbquoOčerki sinergijnoj antropologiilsquoldquo in Studies in East European Thought 59 (2007) 237ndash245

77 Gelian Prochorov bdquoĖtničeskaja integracija v Vostočnoj Evrope v XIV-m veke Ot isichastskich sporov do Kulikovskoj bitvyldquo in Doklady otdelenija ėtnografii 2 (196265) Leningrad 1966 81ndash110 ders bdquoIsichazm i obščestvennaja myslʼ v Vostočnoj Evrope v XIV vldquo in Literaturnye svjazi drevnich slavjan (Trudy otdela drevnerusskoj literatury 23) Leningrad 1968 86ndash108 ders bdquoKulʼturnoe svoeobrazie ėpochi kulikovskoj bitvyldquo in Kulikovskaja bitva i podldquoem nacionalrsquonogo samopoznanija (Trudy otdela drevne-russkoj literatury 34) Leningrad 1979 3ndash17 ndash Prochorov gehoumlrte bereits zu Sowjetzeiten ins Lager der (neo-)slavophilen Anti-Westler er war eng befreundet mit dem bdquoEurasierldquo und Antisemiten Lev Gumilev (1912ndash1992) und uumlbernahm von diesem das Konzept der bdquoEthnogeneseldquo

24 Michael Hagemeister

Grundlegung erfahren hatte am Ende des 14 Jahrhunderts zu einem entscheiden-den politischen und kulturellen Faktor nicht nur in Byzanz sondern in ganz Ost-europa und lieferte unter anderem das ideologische Fundament zur Konsolidie-rung der nachmongolischen Rusʼ Im Streit zwischen dem bdquorationalistischen Hu-manismus und dem kontemplativen Hesychasmus [hellip] entschied Byzanz uumlber sein geistiges Schicksal Das Land blieb bis zuletzt mittelalterlich Den Hesy-chasten gelang es zu Wortfuumlhrern der oumlffentlichen Meinung in Byzanz zu werden die letzte schoumlpferische Synthese seiner traditionellen Kultur zu entwickeln und eine breite kulturelle und gesellschaftliche Bewegung in Gang zu setzen die zu einer Erneuerung des Mittelalters und zu einer Wiederbelebung der Orthodoxie im ganzen oumlstlichen Europa fuumlhrteldquo78

Im Anschluss an das von seinem Lehrer Dmitrij Lichačev entwickelte Kon-zept einer bdquoVorrenaissanceldquo (Predvozroždenie)79 spricht Prochorov von einer bdquovorrenaissancelichen Gegenreformationldquo (predvozroždenčeskaja kontrreforma-cija) und einer bdquoOrthodoxen Renaissanceldquo (Pravoslavnoe Vozroždenie)80 Ge-meint war damit dass die Palamiten (Hesychasten) den Sieg der Barlaamiten ver-hindern konnten und auf die Schriften der antiken Kirchenvaumlter zuruumlckgreifend ein mystisch-kontemplatives Aumlquivalent zum rationalistischen und saumlkularen Hu-manismus geschaffen haumltten Auf diese Weise habe der drohende Uumlbergang der byzantinischen und osteuropaumlischen christlich gepraumlgten Kultur von der bdquoVorre-naissanceldquo zu einer auf heidnisch-antiken Wurzeln beruhenden Renaissance ab-gewendet werden koumlnnen81 Auf die bdquoVorrenaissanceldquo sei ein bdquoNeues Mittelalterldquo gefolgt das in der bdquoHeiligen Rusʼldquo um die Wende zum 15 Jahrhundert seinen Houmlhepunkt erreicht habe Ihm verdanke Russland seine Groumlszlige und die russische Kultur ihre bdquoUniversalitaumltldquo und bdquoGeistigkeitldquo82

Bemerkenswert ist dass der sowjetische Wissenschaftler die beiden ideolo-gischen Lager mit traditionellen (neo-)slavophilen Wertungsoppositionen wie sie bereits bei Florenskij und Losev begegnet sind verbindet und dabei deutlich seine 78 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 4 79 Vor allem in seinem Buch Kulʼtura Rusi vremeni Andreja Rubleva i Epifanija Premudrogo

MoskvaLeningrad 1962 80 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 8 Siehe auch ders Nekogda ne narod a nyne narod

Božijhellip Drevnjaja Rusʼ kak istoriko-kulʼturnyj fenomen Sankt-Peterburg 2010 133ndash157 81 So auch Igorʼ Ėkonomcev bdquoDie osteuropaumlische sbquoVorrenaissancelsquo ist nicht die erste Stufe

zur saumlkularisierten Renaissance vom abendlaumlndischen Typ sondern ihre Antithese Der geistige und kulturelle Aufschwung in Osteuropa war die wahre volle und eindeutige Re-naissance die sich grundlegend von der westlichen Renaissance unterschied Sie haumltte sich niemals in eine Renaissance westlicher Praumlgung verwandeln koumlnnenldquo Ėkonomcev bdquoDer Hesychasmusldquo 764 vgl ders bdquoIsichazmldquo 69 Diese (osteuropaumlische) Renaissance so Ėkonomcev an anderer Stelle sei ungleich bdquoerhabener geistiger und reinerldquo gewesen als bdquodie westeuropaumlische Renaissance mit ihrer krankhaften Disharmonie zwischen Glauben und Vernunft Geist und Leib die trotz allem gespieltem Optimismus ein Gefuumlhl der Aus-weglosigkeit und Verzweiflung hinterlaumlsstldquo Igumen Ioann Ėkonomcev bdquoVizantinizm Kirillo-Mefodievo nasledie i kreščenie Rusildquo in ders Pravoslavie Vizantija Rossija Sbornik statej Moskva 1992 7ndash22 hier 18

82 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 9 15

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 25

Sympathie zeigt Die byzantinischen Humanisten werden von ihm als kalte Ratio-nalisten dargestellt die in der Hoffnung auf militaumlrische Unterstuumltzung durch den katholischen Westen im Kampf gegen die Osmanen bereit gewesen seien den eigenen Glauben zu opfern83 Die Hesychasten hingegen haumltten so Prochorov den Westen realistischer eingeschaumltzt und auf Hilfe von Seiten der orthodoxen Staaten gehofft Im entscheidenden Moment haumltten nicht die bdquoWestler-Huma-nistenldquo (zapadniki-gumanisty) mit ihren bdquokalten Uumlberlegungenldquo (cholodnymi rassuždenijami) beim Volk Gehoumlr gefunden sondern die Hesychasten mit ihren bdquoheiszligen Gebetenldquo (gorjačimi molitvami)84

Mit seiner Apologie eines bdquowiederbelebtenldquo Mittelalters und einer bdquoOrtho-doxen Renaissanceldquo die alle Bereiche des politischen gesellschaftlichen und kul-turellen Lebens gepraumlgt habe und deren Kern der Hesychasmus gewesen sei stieszlig Prochorov bei seinen sowjetischen Kollegen auf Kritik So sah Apollon Kuzmin im Palamismus eine desintegrative Erscheinung weshalb er Prochorovs positive Bewertung der Hesychasten bei der bdquoWiedergeburtldquo der Rusʼ zuruumlckwies85 Aumlhn-lich argumentierte Gennadij Litavrin Die Palamiten seien diejenigen gewesen die eine unrealistische Einschaumltzung der politischen Lage gehabt haumltten Sie haumltten die Bedrohung durch die Tuumlrken nicht erkannt und stattdessen die Illusion verbreitet die Feinde zum Christentum bekehren und zu neuen Untertanen ma-chen zu koumlnnen Der Palamismus sei eine bdquoIdeologie der Demutldquo und habe eine bdquounheilvolle Rolle in der Geschichte des Kampfes gegen die tuumlrkische Aggres-sionldquo gespielt86 Michail Sjuzjumov sprach sogar vom bdquoasozialen Charakter des Palamismusldquo der den aufkommenden humanistischen Tendenzen gegenuumlber feindlich gewesen und zur bdquoIdeologie der Reaktionldquo in Byzanz geworden sei87 Auf Ablehnung stieszlig Prochorov auch im Ausland Valerij Lepachin kritisierte den Begriff bdquopolitischer Hesychasmusldquo als unzulaumlssige Verbindung weltlicher und geistlicher Sphaumlren damit verliere der Hesychasmus seinen wesentlichen Sinn-gehalt88 Fuumlr den in Berkeley lehrenden Philologen Viktor Živov schlieszliglich war

83 Ebd 12 84 Ebd 13 ndash An anderer Stelle betont Prochorov den Gegensatz zwischen den abstrakten

bdquoausgedachtenldquo philosophischen Konstruktionen des europaumlischen Idealismus und der ganzheitlichen kontemplativ-spekulativen Welterfahrung der griechisch-byzantinischen Philosophie Prochorov bdquoĖtničeskaja integracijaldquo 90f An Florenskijs Renaissance-Kritik (etwa in Ikonostas 1922) erinnert auch Prochorovs Verweis auf den euklidischen Raum und den Perspektivismus der humanistischen Weltwahrnehmung mit seiner Illusion der Unendlichkeit Prochorov bdquoIsichazmldquo 94

85 Apollon Kuzmin bdquoCerkovʼ i svetskaja vlastʼ v ėpochu Kulikovskoj bitvyldquo in Voprosy naučnogo ateizma 37 (1988) 90ndash99

86 Gennadij Litavrin bdquoVizantija v period graždanskoj vojny i dviženija Zilotov (1341ndash1355 gg)ldquo in Sergej Skazkin (Hg) Istorija Vizantii Bd 3 Moskva 1967 135ndash160 hier 158

87 Michail Sjuzjumov bdquoFilosofija i bogoslovieldquo in ebd 234ndash256 hier 248f 88 Valerij Lepachin bdquoUmnoe delanie (o soderžanie i granicach ponjatija sbquoisichazmlsquo)ldquo in

Vestnik Russkogo Christianskogo Dviženija 164 1992 5ndash32 hier 23

26 Michael Hagemeister

bdquopolitischer Hesychasmusldquo bdquokonzeptuelles Unkraut [sornjak] das man so schnell wie moumlglich ausrottenldquo solle89

Fast ein halbes Jahrhundert nach ihrer ersten Veroumlffentlichung wurde Pro-chorovs Konzept eines bdquopolitischen Hesychasmusldquo von seinem Schuumller Vladimir Petrunin wieder aufgegriffen und aktualisiert In der 2009 erschienenen Monogra-phie bdquoDer politische Hesychasmus und seine Traditionen in der Sozialkonzeption des Moskauer Patriarchatsldquo90 stellt Petrunin das sogenannte bdquoNichtgehorsamkeits-prinzipldquo (princip nepovinovenija) wie es in den von der Moskauer Bischofssyno-de im August 2000 verabschiedeten bdquoGrundlagen der Sozialkonzeption der Rus-sischen Orthodoxen Kircheldquo formuliert worden ist91 in eine Tradition die er bis auf die bdquopolitischen Hesychastenldquo im Byzanz des 14 und 15 Jahrhunderts zu-ruumlckzufuumlhren sucht Immer wieder zieht Petrunin Parallelen zwischen dem spaumlten Byzanz und dem postsowjetischen Russland Hatten die Byzantiner den Hesy-chasmus als Reaktion auf den Humanismus des Westens hervorgebracht so diene heute die Sozialkonzeption der Abwehr des westlichen Saumlkularismus Liberalis-mus und Kapitalismus Damals wie heute stuumlnden der kirchliche Heilsauftrag und die Verteidigung des Glaubens uumlber den Interessen des Staates selbst ndash wie das Beispiel von Byzanz zeige ndash um den Preis seines Untergangs Ebenso wie die byzantinischen Hesychasten den mit dem Westen kollaborierenden Herrschern die Gefolgschaft im Kampf gegen die Osmanen verweigert haumltten da sie die bdquoReinheit ihres Glaubensldquo eher bdquounter einem tuumlrkischen Turban als unter der lateinischen Tiaraldquo gewahrt sahen92 rufe die Sozialkonzeption die Kirche heute dazu auf der Staatsmacht den Gehorsam zu verweigern sollte diese bdquodie ortho-doxen Glaumlubigen zum Abfall von Christus und Seiner Kirche sowie zu suumlndhaften

89 Viktor Živov bdquoVidenija sveta i problemy russkogo srednevekovogo isichazmaldquo in Lidov

(Hg) Ierotopija 350ndash367 hier 363 359 90 Vladimir Petrunin Političeskij isichazm i ego tradicii v socialʼnoj koncepcii Moskovskogo

Patriarchata Sankt-Peterburg 2009 91 Osnovy socialrsquonoj koncepcii Russkoj Pravoslavnoj Cerkvi III5 lthttpwwwpatriarchia

rudbtext141422htmlgt Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo wird von den meisten Inter-preten als ein bemerkenswertes Umdenken in der Kirchenpolitik angesehen hatte doch die Russische Orthodoxe Kirche unter Patriarch Sergij in einer prekaumlren Lage 1927 Loyalitaumlt gegenuumlber dem Sowjetstaat gefordert Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo war auch eine wichtige Voraussetzung fuumlr die Vereinigung der Auslandskirche mit dem Moskauer Pa-triarchat Zur Sozialkonzeption insgesamt Vasilios N Makrides bdquoDie politische Aufgabe der Kirche Bemerkungen anhand der Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kir-cheldquo in Irene DingelChristiane Tietz (Hgg) Die politische Aufgabe von Religion Per-spektiven der drei monotheistischen Religionen Goumlttingen 2011 219ndash243

92 Petrunin Političeskij isichazm 66f 120 Es handelt sich um eine zeitgenoumlssische Losung Siehe Halina Evert-Kappesowa bdquoLa tiare ou le turbanldquo in Byzantinoslavica 14 (1953) 245ndash257 ndash Auch Aleksandr Nevskij (1220ndash1263) zog eine Verstaumlndigung mit den Mongo-len einer Union mit Rom vor die ihm Papst Innozenz IV im Jahr 1248 angeboten hatte und wandte sich stattdessen gegen die bdquoLateinerldquo Heutige Anti-Westler feiern den Heili-gen der Russischen Orthodoxen Kirche deshalb auch als bdquoersten Eurasierldquo

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 27

und der Seele abtraumlglichen Taten noumltigenldquo93 Die Sozialkonzeption hat fuumlr Petru-nin nur einen moumlglichen Sinn Falls Russlands politische Elite sich weiterhin dem liberalen Wertekanon des Westens verschreibe und Russlands bdquoEigenartldquo (samo-bytnostʼ) als bdquoorthodoxe Zivilisationldquo bestreite94 muumlsse die Kirche ndash wie einst in Byzanz ndash dem Staat die Loyalitaumlt aufkuumlndigen und das Volk zum Widerstand auf-rufen

Es ist ganz offensichtlich dass die Prozesse der Globalisierung und Saumlkularisierung eng miteinander verbunden sind So wie einst die byzantinischen Hesychasten ist heute die Russische Kirche mit der westlichen Zivilisation konfrontiert die nach der Weltherrschaft trachtet war fruumlher der Katholizismus deren Grundlage so ist es jetzt der saumlkulare Humanismus [hellip] Waumlhrend sie [die westliche Welt MH] damals fuumlr die Hesychasten mit Rom gleichgesetzt wurde so verkoumlrpert heute das kosmopolitische New York den Westen Indem sie Liberalismus und Saumlkularisie-rung abwehrt tritt die Kirche auch gegen die politischen und wirtschaftlichen Hegemoniebestrebungen des Westens auf und stellt so ihr Bestreben unter Beweis die zivilisatorische Eigenstaumlndigkeit Russlands wieder herzustellen Wie schon vor 600 Jahren im Byzantinischen Imperium so ist auch heute in Russland allein die Kirche ein ernstzunehmender und gut organisierter Gegner des Westens und seiner saumlkularen Werte [hellip] Sollte Russland weiter den Weg der Saumlkularisierung be-schreiten so koumlnnte damit fuumlr die Kirche der gefaumlhrliche Praumlzedenzfall geschaffen werden in dem sie von ihrem Recht Gebrauch machen muumlsste das Volk zu zivilem Ungehorsam aufzurufen95

In seinem Vorwort nannte Prochorov das Buch seines Schuumllers eine bdquoWarnung an unseren Staat unsere saumlkulare Gesellschaft an uns alleldquo96 Wie das spaumlte Byzanz unter dem bdquoDruck aus dem Westenldquo gestanden habe ndash dem die Herrscher und die bdquoHumanistenldquo schlieszliglich nachgegeben haumltten ndash so laufe auch das postkommu-nistische Russland Gefahr dem bdquoDruck des Liberalismus und der Globalisierungldquo nachzugeben Allein die Orthodoxe Kirche habe sich damals wie heute als bdquoFes-tungldquo erwiesen faumlhig diesem bdquozersetzenden Einflussldquo Widerstand zu leisten97

Petrunins Buch das mit dem Segen von Metropolit Ilarion (Grigorij Al-feev)98 erschienen war stieszlig bei westlichen Forschern auf Skepsis und Ableh-nung So kritisierte Kristina Stoumlckl die unhistorische Interpretation und forcierte Aktualisierung der philosophischen theologischen und politischen Kontroversen des 14 Jahrhunderts sowie die einseitige konservative Interpretation der Sozial-konzeption Hesychasmus werde in dem Kirchendokument ebenso wenig erwaumlhnt

93 Osnovy socialrsquonoj koncepcii 94 Petrunin Političeskij isichazm 81 95 Ebd 122f 96 Ebd 5 97 Ebd 98 Zu jener Zeit Bischof von Wien und Oumlsterreich heute Leiter des Auszligenamtes des Moskau-

er Patriarchats und scharfer Kritiker des bdquomilitanten Saumlkularismusldquo des Westens Siehe auch lthttpazbykaruxristianstvo-pered-vyzovom-voinstvuyushhego-sekulyariz ma-2gt

28 Michael Hagemeister

wie der Untergang von Byzanz99 Klaus Buchenau warf Petrunin vor er bdquoverfor-m[e] und ideologisier[e] die urspruumlnglichen Motive des hesychastischen Moumlnch-tums bis zur Unkenntlichkeitldquo100 Und Viktor Živov der bereits Prochorovs Kon-zept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo als bdquoUnkrautldquo bezeichnet hatte sah in Petru-nins Buch ein Beispiel dafuumlr wie dieses sich bdquospontan und schaumldlichldquo ausbreite Die von Petrunin konstruierte bdquophantastische Genealogie des politischen Hesy-chasmusldquo beruhe so Živov auf einer bdquoMischung aus Einseitigkeit und Unwissen-heitldquo Weder sei der bdquotuumlrkische Turbanldquo fuumlr den Patriarchen attraktiv gewesen noch sei am Widerstand gegen die Union irgendetwas spezifisch bdquoHesychasti-schesldquo Petrunin habe ein bdquoPhantomldquo geschaffen dessen angebliche Verbindung mit der Sozialkonzeption man nicht weiter zu verfolgen brauche101

bdquoNeobyzantismusldquo Das Dritte Rom ndash der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo

Eine eigenwillige Interpretation des Hesychasmus und seine Wendung gegen den Westen stammen von Aleksandr Dugin dem Fuumlhrer der bdquoeurasischenldquo Bewegung und einflussreichsten Vordenker der Neuen Rechten in Russland Der polyglotte und belesene Autodidakt der nie eine akademische Ausbildung genossen hat war Gruumlnder der Partei der Nationalbolschewisten Berater des Vorsitzenden der Du-ma und des Generalstabs sowie von 2008 bis 2014 Professor fuumlr Soziologie an der renommierten Moskauer Lomonosov-Universitaumlt und Direktor des dortigen bdquoZentrums fuumlr Konservatismusstudienldquo Seit Anfang der 1990er Jahre verbreitet er mit graphomanem Eifer seine politischen und bdquometaphysischenldquo Botschaften in einer inzwischen kaum noch uumlberschaubaren Zahl von Publikationen102 und Web-Artikeln in mehreren Sprachen sowie durch spektakulaumlre Auftritte in staats-nahen Medien103 99 Kristina Stoumlckl bdquoPolitical Hesychasm Vladimir Petruninrsquos Neo-Byzantine Interpretation

of the Social Doctrine of the Russian Orthodox Churchldquo in Studies in East European Thought 62 (2010) 125ndash133

100 Klaus Buchenau Auf russischen Spuren Orthodoxe Antiwestler in Serbien 1850ndash1945 Wiesbaden 2011 480 Anm 2

101 Živov bdquoVidenija svetaldquo 364f ndash Von der Kritik offenbar unbeeindruckt verschaumlrfte Petru-nin noch seine Position So sprach er 2012 in einem Vortrag uumlber die gesellschaftliche und politische Wirkung der hesychastischen Gebetspraxis Nach dem Fall von Byzanz sei das bdquoJesusgebet faktisch zu einem sbquopolitischen Gebetlsquoldquo geworden das auf die bdquoVerwandlung [preobraženie] der orthodoxen Oumlkumeneldquo ausgerichtet gewesen sei und das bdquoPhaumlnomen der Heiligen Rusrsquoldquo hervorgebracht habe lthttpsynergia-isarup=8604gt

102 Zuletzt in der bislang fuumlnf Baumlnde umfassenden Reihe bdquoNoomachijaldquo (2014ndash2015) einer hochambitioumlsen letztlich aber manichaumlisch-schematischen Beschreibung der bdquoSuche nach dem Logosldquo in den ndash von Dugin essenzialistisch aufgefassten ndash bdquoWeltkulturenldquo

103 Auch die Literatur zu Dugin ist kaum noch uumlberschaubar Siehe zB Alexander Houmlllwerth Das sakrale eurasische Imperium des Aleksandr Dugin Eine Diskursanalyse zum post-sowjetischen russischen Rechtsextremismus Stuttgart 2007 Stefan Wiederkehr Die eurasische Bewegung Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwi-schenkriegszeit und im postsowjetischen Russland Koumlln [ua] 2007 227ndash261 Anton

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 29

Dugin deutet den Hesychasmus im Rahmen des sogenannten bdquointegralen Traditionalismusldquo einer antimodernen Denkrichtung die im ersten Drittel des 20 Jahrhunderts in Frankreich und Italien entstand und in Reneacute Gueacutenon (1886ndash1951) und Julius Evola (1898ndash1974) ihre bekanntesten (und auch fuumlr Dugin wichtigsten) Vertreter hat104 Ihre Lehre besagt dass alle Religionen ungeachtet ihrer histori-schen und regionalen Auspraumlgungen in ihrem esoterischen nur dem Eingeweih-ten zugaumlnglichen Kern eine gemeinsame urspruumlngliche Wahrheit teilen und als philosophia perennis tradieren das Wissen um die Goumlttlichkeit und den Zugang zu ihr Dieses sakrale und initiatorische Wissen sei im Verlauf der westlichen Mo-derne insbesondere durch die Aufklaumlrung verlorengegangen in traditionellen Gesellschaften (China Indien islamische Welt) jedoch bewahrt geblieben105

Auch die Orthodoxie so Dugin habe im Gegensatz zu Katholizismus und Protestantismus bdquodie Treue zum esoterischen Kernldquo bewahrt naumlmlich in ihrer mystischen Unterstroumlmung dem Hesychasmus106 In der Kanonisierung des Gre-gorios Palamas durch die Ostkirche bei gleichzeitiger Verdammung des Humanis-ten Barlaam sieht Dugin das Bekenntnis zum bdquognostisch-realistischen Geist der orthodoxen Esoterikldquo Ganz im Sinn des Traditionalismus deutet er die psycho-physische Uumlbung der Hesychasten das bdquogeistige Tunldquo als Verfahren der bdquoInitia-tionldquo und das Endziel der bdquoVerklaumlrungldquo und bdquoVergoumlttlichungldquo als bdquoalchemistische Verwandlung des Leibesldquo (alchimičeskoe preobraženie tela) Dadurch wuumlrden der bdquoDualismus von Geist und Materie Leib und Seeleldquo sowie die bdquoGrenzen der Individualitaumltldquo ndash charakteristisch fuumlr den bdquorein exoterischen Mystizismusldquo des Westens ndash aufgehoben107 Die bdquoTradition der hesychastischen Esoterikldquo sei die

Shekhovtsov bdquoThe Palingenetic Thrust of Russian Neo-Eurasianism Ideas of Rebirth in Aleksandr Duginrsquos Worldviewldquo in Totalitarian Movements and Political Religions 9 (2008) 491ndash506 Mark Sedgwick bdquoOccult Dissident Culture The Case of Aleksandr Du-ginldquo in Birgit Menzel [ua] (Hgg) The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimen-sions MuumlnchenBerlin 2012 273ndash292 Schmid Technologien der Seele 210ndash220

104 Aleksandr Dugin Filosofija tradicionalizma Moskva 2002 Zum Traditionalismus siehe das Standardwerk von Mark Sedgwick Against the Modern World Traditionalism and the Secret Intellectual History of the Twentieth Century OxfordNew York 2004 zu Dugin 221ndash237 Vgl auch Christopher DL Johnson The Globalization of the Jesus Prayer Con-testing Contemplation London New York 2010 70ndash73

105 Aumlhnliche Gedanken entwickelte Pavel Florenskij bereits 19081909 in seinem Vortrag bdquoObščečelovečeskie korni idealizmaldquo in dem er die bdquoEsoterikldquo der Philosophie Platons und seiner Nachfolger in der bdquoallgemeinmenschlichenldquo mystisch-magischen Weltauffas-sung der bdquoVolksseeleldquo wurzeln laumlsst

106 Das Folgende nach Aleksandr Dugin bdquoOboženie preestestvennejšeeldquo in Milyj angel 1 1991 56ndash59

107 Das Konzept der bdquoInitiationldquo und die Unterscheidung von bdquoesoterischldquo und bdquoexoterischldquo sind zentral fuumlr die Anhaumlnger des Traditionalismus siehe Sedgwick Against the Modern World 265 ndash Als Mitglied des okkultistischen und faschistischen Južinskij-Kreises machte Dugin in Moskaus bdquomystischem Untergrundldquo in den 1980er Jahren selbst Entgrenzugser-fahrungen mit Hilfe sexualmagischer Praktiken und bewusstseinserweiternder Drogen Bei einem Teil der orthodoxen Glaumlubigen stoumlszligt seine Esoterik denn auch auf Misstrauen und

30 Michael Hagemeister

bdquoSeele der russischen Orthodoxieldquo und habe in Serafim von Sarov ihren bdquoletzten leuchtendsten Vertreterldquo gefunden

Der Hesychasmus gehoumlre zum traditionellen Erbe von Byzanz das Russ-land angetreten habe als es zum Dritten Rom und zum Zentrum der orthodoxen Welt geworden sei bdquoWir sindldquo so Dugin bdquobyzantinisch in unserer Seele unseren Wurzeln und in unserer Identitaumltldquo108

Unser stabilstes Fundament ist Byzanz [hellip] Russland ist Byzanz [hellip] Unsere For-mel lautet Der Westen ist das Boumlse Byzanz das Gute Alles Schlechte das uumlber Byzanz geschrieben wurde ist eine Luumlge Das sind lediglich Winkelzuumlge im ideolo-gischen Kampf von Seiten des Westens [hellip] Jeder Russe muss wissen Byzanz ist das reine Gute Jeder der etwas anderes behauptet ist ein Feind [hellip] Wer Byzanz kritisiert ist ein Feind des russischen Volkes Das muss unser ehernes Prinzip sein [hellip] Byzanz ist der absolute Orientierungspunkt des russischen Projekts109

Damit sind Russlands Ort und Mission in der bdquohistoriosophischenldquo Deutung des Weltgeschehens bestimmt Nach Dugin wird die Geschichte der Menschheit be-herrscht vom bdquookkulten planetarischen Ringenldquo zweier antagonistischer Maumlchte dem bdquogroszligen Krieg der Kontinenteldquo Land gegen Meer Behemoth gegen Levia-than die organischen bodenstaumlndigen und traditionalistischen bdquoTellurokratienldquo des eurasischen Ostens gegen die wurzel- und seelenlosen materialistischen bdquoTha-lassokratienldquo des angloamerikanischen Westens das apokalyptische Tier aus dem Meer (Offb 13 1-10)110 Die USA als bdquoQuintessenz des Westensldquo und New York als moderne Hure Babylon (Offb 17 und 18) sind das Reich des Antichrist eine chimaumlrisch-antiorganische transplantierte Zivilisation die keine sakrale Tradi-tion besitze ihre Selbsterhebung zu bdquoGottes neuem Israelldquo und bdquoNeuem Zionldquo ndash gemaumlszlig der anglo-amerikanischen Interpretation der Substitutionslehre ndash deutet Dugin als besonders perfiden Taumluschungsversuch des bdquowestlichen Antichristldquo Das Jahr der Entdeckung Amerikas (1492 ist nach der altrussisch-byzantinischen

offene Ablehnung Fuumlr den Sektenexperten des Moskauer Patriarchats ist Dugin ein bdquoge-faumlhrlicher Feindldquo der die bdquoOrthodoxie in Kabbalistik umzuschmelzenldquo versuche Andrej Kuraev Cerkovrsquo v mire ljudej Moskva 2006 142

108 Aleksandr Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Tradition Duginrsquos Guidelineldquo lthttpswwwyoutubecomwatchv=m0RIa61eZDggt

109 Aleksandr Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo in ders Russkaja Veščrsquo Očerki nacionalrsquonoj filosofii Bd 1 Moskva 2001 69ndash76 hier 70ndash72 (Hervorhebungen im Original) Der Be-griff bdquoByzantismusldquo (vizantizm) ndash im Unterschied zum negativ konnotierten bdquoByzantinis-musldquo ndash als Bezeichnung eines dem europaumlischen entgegengesetzten Kulturtypus der auf den Prinzipien von Orthodoxie und Selbstherrschaft beruht geht auf den konservativen Philosophen Konstantin Leontrsquoev (1831ndash1891) und sein Buch Vizantizm i slavjanstvo (1875) zuruumlck

110 Auch fuumlr den von Dugin verehrten Heidegger waren die Seemaumlchte Groszligbritannien und Amerika nicht Teil der abendlaumlndischen Tradition sondern im Gegensatz zum restlichen Europa wurzellos und sinnleer Der Antagonismus von Land und Meer die kategorische Unterscheidung von Freund und Feind sowie das Konzept des Katechon gehen auf Carl Schmitt zuruumlck als dessen Schuumller Dugin sich bezeichnet Siehe auch Fn 41

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 31

Weltaumlra das Jahr 7000 nach dem chiliadischen Weltwochenschema also der sieb-te Tag der Schoumlpfung) verweise ebenso auf den Endzeitcharakter der bdquoNeuen Weltldquo wie die bdquosakrale Geographieldquo nach der das Paradies im Osten die Houmllle aber das bdquoLand des Todesldquo im Westen zu suchen seien111

Dem Antichrist entgegen stehe seit jeher der Katechon dessen bdquoletzter Hortldquo bis ans Ende der Zeit die Heilige Rusrsquo das Dritte Rom sei112 In der petrini-schen Epoche als die Hauptstadt in die bdquonoumlrdlichen Suumlmpfeldquo in die bdquoGespenster-stadtldquo Petersburg verlegt und das Patriarchat abgeschafft wurde haumltten allein die Altglaumlubigen den Geist von Byzanz den Katechon bewahrt zweihundert Jahre lang sei der Weg frei gewesen fuumlr das zerstoumlrerische Wirken des Antichrist Erst die sowjetische Periode habe eine bdquomystische Ruumlckkehr zum Byzantismusldquo be-deutet indem die Bolschewiki das heilige Moskau wieder zur Hauptstadt erklaumlr-ten das Patriarchat wiederherstellten die Ausbeuter als Klasse vernichteten und dem Westen auf allen Gebieten Widerstand boten Im bdquoroten Byzantismusldquo der Dritten Internationale sei der Katechon zuruumlckgekehrt113

Um seine Mission zur Erloumlsung der Menschheit auch kuumlnftig zu erfuumlllen muumlsse das Dritte Rom nach dem Zerfall der Sowjetunion114 nunmehr ein groszligkon-tinentales sakral fundiertes bdquoEurasisches Imperiumldquo errichten gegen den Erz-feind die materialistische universalistische alles nivellierende Zivilisation des Westens als der Verkoumlrperung des bdquoweltweiten Boumlsenldquo (mirovoe zlo) gegen Libe-ralismus Individualismus Globalismus Egalitarismus sowie die bdquomondialisti-scheldquo Konzeption der Menschenrechte115 Verbuumlndete im bevorstehenden apoka-lyptischen bdquoEndkampfldquo (von Dugin stets deutsch geschrieben) werden all jene sein die den Bezug zum bdquoSakralenldquo noch nicht verloren haben russische Altglaumlu-bige ultraorthodoxe antizionistische Juden europaumlische Traditionalisten sowie jene bdquoanti-atlantischenldquo islamistischen Fundamentalisten die in den USA den Dajjacircl den falschen Messias und Antichrist erkennen gegen den die Retter-gestalt des Mahdicirc zu Felde ziehen wird116 111 Aleksandr Dugin Absoljutnaja Rodina Puti Absoljuta Metafizika Blagoj Vesti Misterii

Evrazii Moskva 1999 645ndash670 112 Ebd 378ndash395 493ndash521 113 Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo 74ndash76 Siehe auch ders bdquoKatechon i revoljucijaldquo in ders

Tampliery proletariata Nacional-bolrsquoševizm i iniciacija Moskva 1997 52ndash59 ndash Die mes-sianische Identifizierung des Dritten Rom mit der Dritten Internationale reicht bis ins Gruumlndungsjahr der Komintern (1919) zuruumlck Beide so der slawophile Philosoph und An-haumlnger des imjaslavie Valerian Muravrsquoev (1885ndash1930) in einem Brief vom 6 Januar 1920 an Lev Trockij seien Ausdruck der Suche des russischen Volkes und der Intelligencija nach einem Reich der Wahrheit und Gerechtigkeit Valerian Muravrsquoev Sočinenija Bd 2 Moskva 2011 352f Weitere Belege bei Emanuel Sarkisyanz Russland und der Messianis-mus des Orients Tuumlbingen 1955 196 Mikhail Agursky Third Rome National Bolshevism in the USSR Boulder Co 1987

114 Damals sah ein Journalist bdquoauf den Ruinen des Imperiumsldquo das Dritte Rom in Gefahr zu einem Land der Dritten Welt zu werden Andrej Fadin bdquoTretij Rim v tretrsquoem mire Razmy-šlenija na ruinach imperiildquo in Nezavisimaja gazeta 1291991

115 [Aleksandr Dugin] bdquoLibo-my libo-ničtoldquo in Ėlementy 8 19961997 1ndash4 hier 2 116 [Aleksandr Dugin] bdquoIdeologija Mirovogo Pravitelrsquostvaldquo in Ėlementy 2 1992 1f

32 Michael Hagemeister

Das Dritte Rom als Zentrum des eurasischen bdquoEuro-Sowjetischen Imperiumsldquo Titelbild der von Aleksandr Dugin herausgegebenen Zeitschrift bdquoElemente Eurasische Rundschauldquo (1992) Dugins Werk mit seiner provokanten Mischung esoterischer antimoderner und antiwestlicher Motive findet besonders unter jungen Intellektuellen Anklang und Nachahmer so etwa bei dem promovierten Philosophen und selbstproklamierten bdquoorthodoxen Metaphysikerldquo Arkadij Maler einem vehementen Propagandisten einer bdquopolitischen Orthodoxieldquo (političeskoe Pravoslavie) und fuumlhrenden Ideolo-gen der bdquoneobyzantinischenldquo Doktrin Obwohl sich Maler von Dugin distan-ziert117 beschwoumlrt auch er die eschatologische bdquogeistige Mission des Dritten Romldquo die es von Byzanz geerbt habe und die in seiner bdquozentralen katechontischen Rolleldquo bestehe dem Kampf gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo des bdquogottlosen Wes-tensldquo118 Russische Politik koumlnne deshalb nicht anders als imperial sein und muumlsse ihren Einfluss auf den gesamten Planeten ausdehnen Wie Dugin sieht auch Maler die Bolschewiki in dieser Tradition als sie Moskau zur Hauptstadt des bdquoRoten

117 In den spaumlten 1990er Jahren gehoumlrte Maler der vaumlterlicherseits juumldischer Abstammung ist

zusammen mit Dugin und Ėduard Limonov zur Fuumlhrungsriege der Nationalbolschewisti-schen Partei und schrieb fuumlr die Parteizeitung Limonka sich selbst charakterisierte er als bdquorotbraunen Zionistenldquo Nach seiner Konversion zur Orthodoxie trennte er sich 1999 von Dugin und kritisierte dessen esoterischen Traditionalismus aus einer ultraorthodoxen Posi-tion Dugin wiederum warf Maler vor ihn zu plagiieren

118 Arkadij Maler Duchovnaja missija Tretrsquoego Rima Moskva 2005 bes 134ndash136 170ndash206 Siehe auch ders bdquoIdeologija Vizantizmaldquo in Severnij Katechon 1 (2005) 7ndash49 bdquoNeovi-zantizm kak novyj bolrsquošoj stilrsquoldquo in Aleksej Nilogov (Hg) Kto segodnja delaet filosofiju v Rossii Moskva 2007 110ndash124

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 33

Imperiumsldquo machten und dieses zur bdquoabsoluten Antithese des Westensldquo erklaumlrten zum bdquoTraumlger der planetarischen Mission der Befreiung der Welt aus den sbquoFesseln des Kapitalslsquoldquo119 Das Dritte Rom sei zeitweise in die Dritte Internationale trans-formiert worden ohne jedoch seine Mission als Katechon als aufhaltende Macht gegen das Reich des Boumlsen und Ausgangspunkt zur Errettung der Welt aufzuge-ben Die bdquoletzte Etappeldquo im Kampf gegen den Antichrist werde so Maler der bdquoeschatologische Krieg des Dritten Rom gegen das Dritte Karthagoldquo den bdquoAnti-katechonldquo sein die bdquoanglo-amerikanische [] atlantische Zivilisationldquo120 Zur Propagierung der katechontischen Mission Russlands gruumlndete Maler 1999 am Institut fuumlr Philosophie der Akademie der Wissenschaften in Moskau einen bdquoBy-zantistischen Klub Katechonldquo (Vizantistskij Klub Katechon) und 2005 das bdquoPhi-losophisch-politische Zentrum sbquoNoumlrdlicher Katechonlsquoldquo das einen gleichnamigen Almanach (Severnyj Katechon) herausgibt121

Apokalyptischer Ausblick

Die Formel vom Dritten Rom und die Figur des Katechon des Aufhalters des bdquoweltweiten Boumlsenldquo sind zu Markenzeichen russischer Anti-Westler und Ver-schwoumlrungstheoretiker und ihres schrillen Szenariums eines globalen apokalyp-tischen bdquoEndkampfesldquo gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo geworden122 Unter dem Titel bdquoDie russische Doktrin Die Staatsideologie der Epoche Putinsldquo verfasste in den Jahren 2005 und 2006 ein Kollektiv nationalpatriotischer Autoren ndash unter ih-nen der bdquoByzantistldquo Arkadij Maler ndash ein uumlber 1000 Seiten langes ultrakonservati-ves und antiwestliches Manifest das auch die Unterstuumltzung hoher kirchlicher Wuumlrdentraumlger fand123 In ihrem Entwurf einer bdquoorganischen weltanschaulichen Plattformldquo fuumlr das kuumlnftige Russland behandeln die Autoren ausfuumlhrlich die bdquohis-toriosophischeldquo Konzeption vom Dritten Rom und seine Mission als Katechon gegen das bdquoHeidentumldquo des Westens124 Gefordert wird die positive Identifikation

119 Maler Duchovnaja missija 182f 185 120 Ebd 177 ndash Als Mittel im ideologischen Kampf gegen den saumlkularen Westen fordert Maler

in Analogie zur katholischen Gegenreformation eine orthodoxe konservative bdquoGegenauf-klaumlrungldquo (Kontrprosveščenie) lthttpwwwkatehonruhtmltoppolitologiaideaotkritije _polit_pravoslavijahtmgt

121 Siehe die Website lthttpwwwkatehonrugt 122 Siehe zB Galina A Morozova Tretij Rim protiv novogo mirovogo porjadka Moskva

2009 Die Formel von Dritten Rom hat laumlngst auch Schriftsteller und Maler inspiriert und scheint auch werbewirksam zu sein bdquoDrittes Romldquo nennt sich ein Verlag ein Videospiel eine Bank ein Reisebuumlro und sogar ein Kasino in Jalta Ein Schoumlnheitswettbewerb in Mos-kau vergibt alljaumlhrlich den Titel einer bdquoMiss Drittes Romldquo Judith E Kalb Russiarsquos Rome Imperial Visions Messianic Dreams 1890ndash1940 Madison Wisconsin 2008 198f Zum Katechon siehe Maria Engstroumlm bdquoContemporary Russian Messianism and New Russian Foreign Policyldquo in Contemporary Security Policy 35 (2014) 3 356ndash379

123 Russkaja doktrina Gosudarstvennaja ideologija ėpochi Putina Moskva 2016 124 Ebd 68ndash72 116ndash120 und passim

34 Michael Hagemeister

mit der Geschichte Russlands und seinen Lichtgestalten dem Heiligen Serafim von Sarov dem bdquoeschatologischen Fuumlhrer des russischen Volkes am Ende der Zeitenldquo der bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo und Stalin der dem paulinischen Kate-chon gleich die bdquoGesetzlosigkeitldquo (bezzakonie) bekaumlmpft und das bdquoFundament fuumlr eine groszlige Zukunftldquo gelegt habe125

bdquoKatechonldquo nennt sich auch ein prominent besetzter Think tank den der Oligarch und Berater Putins Konstantin Malofeev im Jahr 2015 gegruumlndet hat126 Der Milliardaumlr der sein Vermoumlgen mit einer Investmentfirma auf den Cayman Inseln gemacht hat bezeichnet sich selbst als bdquoorthodoxen Monarchistenldquo127 Er unterstuumltzt die Separatisten in der Ostukraine und unterhaumllt vielfaumlltige Verbindun-gen zu europaumlischen Rechtspopulisten wie dem Front National der FPOuml Syriza und der Lega Nord Neben dem Forum bdquoKatechonldquo betreibt Malofeev auch einen Fernsehsender mit dem programmatischen Namen bdquoZargradldquo128 (Motto bdquoDas Licht Christi erleuchtet alleldquo) dessen Chefkommentator niemand anderes ist als Aleksandr Dugin129

bdquoKatechonldquo und bdquoZargradldquo propagieren den Kampf gegen die westliche Moderne mit Bezug auf das byzantinische Erbe Russlands Im November 2014 fand in der Moskauer Manege eine Konferenz bdquoMoskau ndash das Dritte Romldquo statt130 An ihr nahmen auszliger Dugin und Malofeev auch Archimandrit Tichon und Nata-lrsquoja Naročnickaja teil eine hochrangige Diplomatin Mitglied des Izborsker Klubs und Leiterin des Pariser bdquoInstituts fuumlr Demokratie und Kooperationldquo das die oumlf-fentliche Meinung im Westen im Sinne des Kremls beeinflussen soll Tichons Film bdquoDie Lehre von Byzanzldquo sei so Naročnickaja auch eine Warnung an den Westen der seine christlichen Werte verraten habe weshalb er den glaubens-festen Migranten und ihrer Verachtung hilflos ausgeliefert sei131

Im Oktober 2009 wurde Tichons Film in Athen vor ausverkauftem Saal aufgefuumlhrt Unter denen die dem Drehbuchautor Beifall spendeten war der Philo-soph und Theologe Christos Yannaras einer der Hauptvertreter der Neoorthodo-xie und scharfer Kritiker des Westens Wie ihre russischen Gesinnungsgenossen

125 Ebd 130f 153 142ndash145 126 Mit einem Auftritt im Internet in 9 Sprachen Siehe die deutsche Version unter lthttp

katehoncomdewer-sind-wirgt 127 lthttpsdewikipediaorgwikiKonstantin_Walerjewitsch_Malofejewgt 128 Carrsquograd ist der altrussische Name fuumlr Konstantinopel 129 Auch Dugin unterhaumllt seit mehr als 25 Jahren Kontakte zu ultrakonservativen traditiona-

listischen und faschistischen Gesinnungsgenossen in Westeuropa Siehe Vladimir Ivanov Alexander Dugin und die rechtsextremen Netzwerke Fakten und Hypothesen zu den inter-nationalen Verflechtungen der russischen Neuen Rechten Stuttgart 2007

130 lthttpwwwpravoslavieru75070htmlgt 131 lthttpwwwpravoslavieru7414htmlgt ndash Fuumlr Metropolit Ilarion (Alfeev) der sich dabei

auf Dugin beruft verwandeln sich die Laumlnder Westeuropas bereits in die bdquoSphaumlre des Anti-christldquo lthttpwwwpatriarchiarudbtext3065216htmlgt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 35

verherrlichen auch die griechischen Neoorthodoxen die byzantinische Vergan-genheit und sehen in der modernen saumlkularen Gesellschaft eine Bedrohung ihrer kulturellen Identitaumlt132 Gemeinsam suchen sie der Globalisierung mit einer bdquoby-zantinischen Internationaleldquo als bdquoorthodoxer Oumlkumeneldquo entgegenzuwirken einer letztlich sakral verstandenen Gemeinschaft deren Einfluss indes weit uumlber die kirchliche Sphaumlre hinausreichen und eine transnationale Vereinigung der ortho-doxen Welt von Serbien uumlber Syrien bis Georgien und Armenien unter Fuumlhrung Moskaus schaffen soll133 Als wichtiger symbolischer Schritt auf diesem Weg wurde der Besuch von Praumlsident Putin und Patriarch Kirill des Heiligen Berges Athos einer traditionellen Hochburg antiwestlicher Opposition im Mai 2016 ge-feiert Das weltliche und das geistliche Oberhaupt Russlands ndash die bdquoSymphonia der Maumlchteldquo ndash zeigten damit so Aleksandr Dugin ihr Bekenntnis zu Byzanz und seiner Rolle als Katechon Damit anerkenne bdquounsere Rusrsquo ihre historische Bestim-mung Wir sind bereit fuumlr die Endzeitldquo134

132 Ausfuumlhrlich dazu Daniel P Payne The Revival of Political Hesychasm in Contemporary

Orthodox Thought The Political Hesychasm of John Romanides and Christos Yannaras Lanham [ua] 2011 Siehe auch Vasilios N Makrides bdquoByzantium in Contemporary Greece The Neo-Orthodox Current of Ideasldquo in David RicksPaul Magdalino (Hgg) Byzantium and the Modern Greek Identity Aldershot 1998 141ndash153 Zum griechischen Neobyzantismus unter russischem Einfluss Aleksey Kamenskikh bdquoThe Image of the Second Rome through the Prism of the Thirdrdquo in Teresa Obolevich [ua] (Hgg) Russian Thought in Europe Reception Polemics Development Krakoacutew 2013 13ndash22 ndash Antimo-derne und antiwestliche Stroumlmungen in den vom orthodoxen Christentum gepraumlgten Kultu-ren haben der Religionswissenschaftler Makrides und der Slavist Uffelmann vor einigen Jahren als Desiderat der Forschung benannt Vasilios N MakridesDirk Uffelmann bdquoStudying Eastern Orthodox Anti-Westernism The Need for a Comparative Research Agendaldquo in Jonathan SuttonWil van den Bercken (Hgg) Orthodox Christianity and Contemporary Europe Leuven [ua] 2003 87ndash120 Seitdem haben Makrides und die Politikwissenschaftlerin Stoumlckl eine Reihe einschlaumlgiger Arbeiten vorgelegt in denen or-thodoxe Alternativen zu westlichen philosophischen und politischen Konzepten untersucht werden Vasilios N Makrides bdquoOrthodoxes Cristentum und Moderne ndash Inkompatibilitaumlt oder langfristige Anpassungldquo in Una Sancta 2011 1 15ndash30 ders bdquoOumlstliches orthodo-xes Christentum und Saumlkularitaumlt Ein Vergleich mit dem lateinischen Christentumldquo in Transit 47 (2015) 59ndash75 Kristina Stoumlckl bdquoModernity and its Critique in Twentieth Cen-tury Russian Orthodox Thoughtldquo in Studies in East European Thought 58 (2006) 243ndash269 dies Community after Totalitarianism The Russian Orthodox Intellectual Tradition and the Philosophical Discourse of Political Modernity Frankfurt aM [ua] 2008

133 Dazu gehoumlrt auch die Verwirklichung des jahrhundertealten Traums der Wiedererrichtung des Kreuzes auf der Hagia Sophia Siehe Egor Cholmogorov Russkij proekt restavracija buduščego Moskva 2005 283 Der Verfasser Mitglied des Expertenteams des Izborsker Klubs ist Begruumlnder der Doktrin der bdquoAtomaren Orthodoxieldquo siehe Fn 74

134 Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Traditionldquo

ZUM AUTOR

Michael Hagemeister geb 1951 in EllwangenJagst Studium der Slavistik Ge-schichte Germanistik und Philosophie in Basel und MarburgLahn Promotion mit einer Arbeit uumlber den russischen Philosophen Nikolaj Fedorov Wissenschaft-licher Mitarbeiter am Slawischen Seminar in Marburg Gastprofessor am Seminar fuumlr Komparatistik der Universitaumlt Innsbruck Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lotman-Institut fuumlr russische und sowjetische Kultur der Ruhr-Universitaumlt Bo-chum am Lehrstuhl fuumlr Geschichte Osteuropas der Europa-Universitaumlt Viadrina Frankfurt (Oder) an den Historischen Seminaren der Universitaumlten Basel Duumlssel-dorf und Bochum Vertretung der Professuren fuumlr Geschichte Osteuropas an der Ludwig-Maximilians Universitaumlt Muumlnchen und an der Europa-Universitaumlt Frank-furt (Oder)

Forschungen zur russischen Philosophie und Geistesgeschichte zum utopischen und apokalyptischen Denken in Russland zum russischen Rechtsextremismus und Antisemitismus sowie insbesondere zu den Protokollen der Weisen von Zion und ihrem Herausgeber Sergej Nilus Publikationen ua Die Neue Menschheit Biopolitische Utopien in Russland (hg mit Boris Groys) Frankfurt aM 2005 The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimensions (hg mit Birgit Menzel und Bernice Rosenthal) Muumlnchen 2012 Die Fiktion von der juumldischen Weltver-schwoumlrung Zu Text und Kontext der bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo (hg mit Eva Horn) Goumlttingen 2012 Die bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo vor Gericht Der Berner Prozess und die bdquoantisemitische Internationaleldquo in der Zwischen-kriegszeit Chronik Dokumente und Kommentare Zuumlrich (im Druck)

ERFURTER VORTRAumlGE ZUR KULTURGESCHICHTE DES ORTHODOXEN CHRISTENTUMS Reihenherausgeber Vasilios N Makrides

Heft 1 Thomas Bremer Konfrontation statt Oumlkumene Zur kirchlichen Situation in der Ukraine Erfurt 2001

Heft 2 Gerhard Podskalsky Zur Hermeneutik des theologischen Ost-West-

Gespraumlchs in historischer Perspektive Erfurt 2002 Heft 3 Karl Christian Felmy Warum und zu welchem Behufe treiben wir

Ostkirchenkunde Erfurt 2003 Heft 4 Wassilios Klein bdquoTatarenjoch ndash татарское игоldquo Beobachtungen zur

Wahrnehmung des Islam im eurasischen Raum Erfurt 2005 Heft 5 Stamatios D Gerogiorgakis Zeitphilosophie im Mittelalter Byzantinische

und lateinische Vorstellungen Erfurt 2006 Heft 6 Heinz Ohme Das Oumlkumenische Patriarchat von Konstantinopel und die

tuumlrkische Religionspolitik Erfurt 2007 Heft 7 Alexander Agadjanian Russian Orthodox Vision of Human Rights Recent

Documents and Their Significance Erfurt 2008 Heft 8 Christos Yannaras Wem gehoumlrt die griechische Antike Erfurt 2009 Heft 9 Joachim Willems Religions- und Ethikunterricht in Russland ndash Was

wollen Staat und Kirche Zur Einfuumlhrung des neuen Schulfaches bdquoGrundlagen der religioumlsen Kulturen und der weltlichen Ethikldquo Erfurt 2010

Heft 10 Chris Hann Eastern Christianity and Western Social Theory Erfurt 2011 Heft 11 Jennifer Wasmuth Akademische Theologie im zaristischen Russland in

ihrer Bedeutung fuumlr die neuere orthodoxe Theologie Erfurt 2012 Heft 12 Anna Briskina-Muumlller Auf der Suche nach der bdquoHesychialdquo Paisij

Veličkovskij (1722ndash1794) und sein Leben fuumlr die bdquoPhilokalieldquo Erfurt 2014

Heft 13 Vladimir Cvetković From ldquoMerciful Angelrdquo to ldquoFortress Europerdquo The

Perception of Europe and the West in Contemporary Serbian Orthodoxy Erfurt 2015

Heft 14 Stefan G Reichelt Lebenslinien Nikolaj A Berdjaev (1874ndash1948) und Sergij N Bulgakov (1871ndash1944) im Westen ndash Eine Wuumlrdigung Erfurt 2015

Heft 15 Michael Hagemeister Der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo ndash bdquoNeobyzantismusldquo

und bdquopolitischer Hesychasmusldquo im postsowjetischen Russland Erfurt 2016

Alle Hefte der vorliegenden Schriftenreihe koumlnnen unter folgendem Link kostenlos heruntergeladen werden URL httpswwwuni-erfurtdereligionswissenschaftprofessur-orthodoxes-christentumveroeffentlichungenerfurter-vortraege-zur-kulturgeschichte-des-orthodoxen-christentums

Page 3: Michael Hagemeister FINAL - uni-erfurt.de · doziert Tichon, während er das antike Kons tantinopel computeranimiert auferste- hen lässt. Das prosperierende Impe rium erregte freilich

Vorwort bdquoVerstehen kann man Russland nicht und auch nicht messen mit Verstand Es hat sein eigenes Gesicht Nur glauben kann man an das Landldquo ndash so lautete eine in-zwischen beruumlhmt gewordene und viel zitierte Aussage des russischen Dichters und Diplomaten Feumldor Ivanovič Tjutčev (1803ndash1873) aus dem Jahr 1866 Unter anderem kann sie auf die Verstaumlndnisprobleme und Schwierigkeiten Russlands mit der westlichen Welt hinweisen die bereits seit vielen Jahrhunderten andauern An dieser Stelle geht es nicht darum eine Schuldzuweisung fuumlr die Entstehung dieser Situation auszusprechen sondern die Ursachen und die Motive die zu dieser komplexen Sachlage zwischen Russland und dem Westen gefuumlhrt haben zu lokalisieren zu analysieren und angemessen zu deuten Es eruumlbrigt sich ge-sondert zu erwaumlhnen dass solche Faumllle nach dem Ende des Kalten Krieges kei-neswegs verschwunden sind Die noch offenen Spannungen und Konfliktmomen-te zwischen Russland und dem Westen (zB in der Ukraine oder in Syrien) zeugen davon Wirft man aber einen naumlheren Blick auf das postsowjetische Russland dann ist es uumlberhaupt nicht schwierig die Existenz von zahlreichen Szenarien Visionen Orientierungen geopolitischen Planungen und ideologischen Entwuumlr-fen festzustellen in denen die Orthodoxie in unterschiedlichen Formen und Aus-praumlgungen entweder explizit oder implizit eine Rolle spielt Es sind gerade sol-che Aspekte der gegenwaumlrtigen russischen Kultur die die bdquorussische Besonder-heitldquo ausmachen und die ohnehin fuumlr Beobachter von auszligen nicht leicht erklaumlrbar ja sogar bisweilen erstaunlich sind In einem solchen Rahmen werden auch ge-schichtliche Ereignisse und Momente neu interpretiert und vergegenwaumlrtigt zum Teil haben sie moumlglicherweise einen Einfluss auf die Innen- und Auszligenpolitik Russlands ndash so wird von vielen zumindest behauptet oder vermutet All dies macht das ganze Thema umso interessanter denn die Kenntnis und insbesondere die ge-buumlhrende Deutung dieser Entwicklungen sind fuumlr das Verstaumlndnis vom heutigen Russland unabdingbar

Das 15 Heft der bdquoErfurter Vortraumlge zur Kulturgeschichte des Orthodoxen Christentumsldquo beinhaltet den Vortrag von Dr Michael Hagemeister einem inter-national angesehenen Experten in der modernen russischen Religions- und Kul-turgeschichte Sehr bekannt sind unter anderem seine Arbeiten zu den beruumlhmt-beruumlchtigten bdquoProtokollen der Weisen von Zionldquo und deren russischen Entste-hungsgeschichte sowie zu esoterischen apokalyptischen antisemitischen und alternativen Ideologien und Szenarien aus dem russischen Religions- und Kulturraum Im vorliegenden Beitrag greift er das houmlchst interessante und aktuelle

Thema der religioumls-kulturellen Entwicklungen im postsowjetischen Russland auf und liefert ein Panorama der wichtigsten Richtungen und Stroumlmungen die ohnehin dem westlichen Publikum wenig wenn uumlberhaupt bekannt sind Unter anderem wird auf Folgendes eingegangen russisch-orthodoxe historiosophische Deutungen der byzantinischen Geschichte und deren imperialen Erbes (das Phauml-nomen des bdquoNeobyzantismusldquo dh eines dem europaumlischen entgegengesetzten Kulturtypus der auf den Prinzipien von Orthodoxie und Selbstherrschaft beruht) Neuinterpretationen der orthodoxen hesychastisch-palamitischen Tradition aus dem spaumlten Byzanz zugunsten eines bdquopolitischen Hesychasmusldquo der mit einer besonderen sozialen Praumlsenz und Wirkung der Orthodoxie verbunden ist und eschatologisch-apokalyptische Visionen und Szenarien uumlber die ausschlaggeben-de Rolle Russlands in Weltgeschichte und Geopolitik Solche Ideen werden zu-dem mit klassischen Aspekten der russischen Religions- und Kulturgeschichte verbunden wie zum Beispiel mit der Eurasischen Ideologie mit der Idee Moskaus als dem bdquoDritten Romldquo oder mit ausgewaumlhlten religionsphilosophischen Theorie-ansaumltzen Obwohl solche Entwuumlrfe von Individuen oder aus bestimmten privaten Initiativen und Kreisen stammen werden sie teilweise von der offiziellen Russi-schen Kirche oder der Politik nicht nur nicht ignoriert sondern in manchen Faumlllen sogar unterstuumltzt Generell geht es um das Thema der vielen und einzigartigen religioumls-kulturellen Identitaumltsmerkmale Russlands die laut Staat und Kirche um jeden Preis im heutigen globalen Kontext aufrechterhalten werden sollen und die von den entsprechenden westlichen grundlegend verschieden sind Insofern bietet dieser Text eine absolut notwendige Informationsgrundlage zum besseren Ver-staumlndnis des gegenwaumlrtigen russisch-orthodoxen Religions- und Kulturraumes dessen Einfluss sich in vielen Faumlllen in der orthodoxen Welt allgemein bemerkbar macht

Der dieser Publikation zugrunde liegende Vortrag wurde am 26 Januar 2013 an der Universitaumlt Erfurt im Rahmen des Graduiertenkolloquiums zur Kulturge-schichte des Orthodoxen Christentums gehalten Mein wissenschaftlicher Mitar-beiter Dr Sebastian Rimestad hat die Bearbeitung und Formatierung des Vor-tragstextes zur Aufnahme in die vorliegende Vortragsreihe uumlbernommen Meine Sekretaumlrin Annett Psurek hat das Zustandekommen des Heftes organisatorisch begleitet Ihnen danke ich dafuumlr vielmals

Erfurt im Dezember 2016

Vasilios N Makrides

Der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo ndash bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo im postsowjetischen Russland

Michael Hagemeister

bdquoDie Geschichte ist das Rohmaterial fuumlr nationalistische ethnische oder fundamentalistische Ideologien ndash

wie Mohn der Rohstoff fuumlr Heroinabhaumlngigkeit istldquo Eric Hobsbawm1

bdquoDie Lehre von Byzanzldquo

Am 30 Januar 2008 zeigte der staatliche russische Fernsehsender bdquoRossijaldquo den Dokumentarfilm bdquoUntergang eines Imperiums Die Lehre von Byzanzldquo (Gibelrsquo imperii Vizantijskij urok) Der Film der noch mehrmals wiederholt wurde und zu dem auch ein reich bebildertes Buch erschien2 loumlste eine heftige kontrovers gefuumlhrte Diskussion aus Waumlhrend russische Patrioten dem Streifen geschichtli-che Aufklaumlrung attestierten und ihn zugleich als Parabel und aktuelle Warnung priesen verrissen Kritiker ihn als historische bdquoMaumlrchenstundeldquo und bdquoSchaustuumlck der Kreml-Propagandaldquo und forderten sogar sein Verbot3 Inzwischen wurde der Film in vier Sprachen synchronisiert und mehrfach preisgekroumlnt4

Gibelrsquo imperii Filmplakat lthttpsstkpyandexnetimagesfilm_big439949jpggt

1 Eric Hobsbawm bdquoDie Erfindung der Vergangenheitldquo in Die Zeit 9 September 1994

lthttpwww zeitde199437die-erfindung-der-vergangenheitgt Alle Webseiten wurden zuletzt am 3 Oktober 2016 aufgerufen

2 Archimandrit Tichon (Ševkunov) Gibelrsquo imperii Vizantijskij urok Scenarij filrsquoma Moskva 2008

3 Kerstin Holm bdquoLasst uns ein neues Byzanz errichtenldquo in Frankfurter Allgemeine Zeitung 44 21 Februar 2008 42

4 Siehe die offizielle Website des Films lthttpvizantiainfogt

6 Michael Hagemeister

Das Drehbuch stammt von Archimandrit Tichon (Georgij Ševkunov) dem Vorsteher des Sretenskij Klosters auf der Lubjanka in Moskau das als Hort des religioumlsen Fundamentalismus und einer bdquoorthodoxen Machtstaatsideologieldquo (pra-voslavnaja deržavnostrsquo) gilt5 Tichon der vor seiner Priesterweihe ein Studium am Moskauer Gerasimov-Filminstitut absolviert hatte ist einer der bekanntesten Geistlichen im heutigen Russland Medienstar Filmemacher und Bestsellerautor Sein Buch bdquosbquoUnheilige Heiligelsquo und andere Erzaumlhlungenldquo eine autobiographisch grundierte Sammlung moderner Hagiographien und Wunderberichte erreichte in Russland eine Millionenauflage und wurde in mehr als zehn Sprachen uumlbersetzt Tichon preist darin bedingungslosen Gehorsam und Schicksalsergebenheit und bietet damit bdquoeine ideale Grundlage fuumlr eine autoritaumlre Gesellschaftsordnung wie sie sich im letzten Jahrzehnt in Russland herausgebildet hatldquo6 Tichon ist Mitglied des Obersten Kirchenrates der Russischen Orthodoxen Kirche des Praumlsidialrates fuumlr Kultur und Kunst und des nationalpatriotischen Izborsker Klubs7 sowie geistli-cher Begleiter und Beichtvater (duchovnik) von Vladimir Putin8 Bereits lange vor seiner Weihe zum Bischof im Jahr 2015 galt Tichon als ultrakonservativ Er ge-houmlrte zu den Initiatoren der Kampagne gegen die Einfuumlhrung der persoumlnlichen Steuernummer die er als Zahl des apokalyptischen Tieres deutete9 er warnte vor der Macht der Daumlmonen und dem Antichrist als dem falschen Messias der Juden und beschwor die drohende Gefahr eines bdquomystischen okkulten Genozidsldquo an

5 Nikolaj Mitrochin Russkaja pravoslavnaja cerkovrsquo sovremennoe sostojanie i aktualrsquonye

problemy Moskva 2006 210f Irina Papkova The Orthodox Church and Russian Politics New York 2011 47ndash53 219f

6 Ulrich Schmid Technologien der Seele Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur Frankfurt aM 2015 197

7 Zu den Mitgliedern des 2012 von dem Schriftsteller und Initiator eines mystisch-religioumlsen Stalin-Kultes Aleksandr Prochanov (siehe auch Fn 45) gegruumlndeten Klubs gehoumlren neben Tichon auch der Antisemit Holocaust-Leugner und Verschwoumlrungstheoretiker Oleg Plato-nov sowie der Neofaschist und bdquoEurasierldquo Aleksandr Dugin (zu ihm ausfuumlhrlicher unten) Siehe Roland Goumltz bdquoDie andere Welt Im Izborsker Klub Russlands antiwestliche Intel-ligencijaldquo in Osteuropa 65 (2015) 3 109ndash138 Marlene Laruelle bdquoThe Izborsky Club or the New Conservative Avant-Garde in Russialdquo in The Russian Review 75 (2016) 626ndash644 Siehe auch die Website lthttpwwwizborsk-clubrugt

8 lthttpsruwikipediaorgwikiТихон_(Шевкунов)gt 9 Papkova The Orthodox Church 124 Alexander Verkhovsky bdquoThe Orthodox in the Rus-

sian Ultranationalist Movementsldquo in Occasional Papers on Religion in Eastern Europe 22 (2002) 3 18ndash36

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 7

Russlands rechtglaumlubigen Christen10 Auch forderte er die Behandlung der bibli-schen Schoumlpfungslehre im Unterricht um das bdquoMonopol des Darwinismusldquo zu brechen11

Der Film bdquoUntergang eines Imperiumsldquo schildert die Geschichte des Ostroumlmischen Reiches von einer vage datierten Bluumltezeit bis zur Eroberung Kon-stantinopels durch die Osmanen im Jahr 1453 Der Drehbuchautor selbst tritt als Kommentator auf der durch die Szenen fuumlhrt und das Gezeigte deutet Dem Film zufolge bluumlhte Byzanz als geistiges kulturelles und politisches Zentrum der Welt waumlhrend sich der Westen sein bdquoHinterhofldquo bdquoim Zustand tiefster Barbareildquo12 be-fand und seine Bewohner bdquogrobe und ungehobelte Skandinavier Germanen Franken und Angelsachsenldquo13 als primitive Raumluberbanden umherzogen Kaiser Justinian schuf hier den ersten Rechtsstaat hier wurde die erste Universitaumlt ge-gruumlndet und hier entstand das bdquostabilste Finanzsystem in der Geschichte der Menschheitldquo14 Byzantinische Ingenieurkunst und Architektur waren beispiellos doziert Tichon waumlhrend er das antike Konstantinopel computeranimiert auferste-hen laumlsst

Das prosperierende Imperium erregte freilich den Neid und die Habgier des Westens 1204 zogen die Kreuzritter bdquotreubruumlchigldquo gegen Konstantinopel erober-ten und pluumlnderten die Stadt und eroumlffneten dem Westen Zugang zu deren bdquounermesslichen Reichtuumlmernldquo Die geraubten und nach Italien verschleppten Kunstwerke und Goldschaumltze ermoumlglichten dann das Kulturwunder der Renais-sance erschufen aber auch das bdquoMonster des wucherischen Bankensystems der heutigen Weltldquo und damit den modernen Kapitalismus bdquomit seiner unbaumlndigen Profitgierldquo die so Tichon bdquoim Grunde genommen nur den Furor bei den Kriegs-zuumlgen genetisch fortsetztldquo15 bdquoWie Pilze nach dem Regen schossen damals die ersten europaumlischen Banken emporldquo und die kleine Stadt Venedig wurde bdquodas New York des 13 Jahrhundertsldquo16 bdquoDurch Spekulation mit den heiligen Reliqui-en aus Konstantinopelldquo entstanden auch bdquodie ersten groszligen juumldischen Kapital-vermoumlgenldquo17 ndash an dieser Stelle erscheint im Film das beruumlhmte flaumlmische Gemaumll-de bdquoDie Steuereintreiberldquo deren Fratzen die Goldgier der juumldischen Bankiers und

10 Ieromonach Tichon (Ševkunov) bdquoNevidimaja branrsquoldquo in Literaturnaja Rossija 20 (21

Mai 1993) 6f Auch lthttpwwwlibrarypravpiterrubook_327htmgt Tichon wusste wovon er sprach hatte er doch als Student selbst an spiritistischen Seacuteancen teilgenommen Archimandrit Tichon (Ševkunov) bdquoNesvjatye svjatyeldquo i drugie rasskazy Moskva 122015 12ndash17

11 Michael Zimmerman bdquoRussian Creationism Sounds Frighteningly Familiarldquo in The Huffington Post 14 Juni 2010 lthttpwwwhuffingtonpostcommichael-zimmerman russian-creationism-sound_b_610266htmlgt

12 Tichon (Ševkunov) Gibelrsquo imperii 10 13 Ebd 14 Ebd 8 15 Ebd 11f 16 Ebd 12 17 Ebd Vgl auch 79

8 Michael Hagemeister

Wucherer illustrieren sollen bdquoDer barbarische Westen wurde erst dann zum zivi-lisierten Westen als er das byzantinische Imperium erobert gepluumlndert zerstoumlrt und absorbiert hatteldquo18

Waumlhrend der materialistische Westen sich an den Reichtuumlmern Konstanti-nopels guumltlich tat erkannten die Russen worin der groumlszligte Schatz von Byzanz bestand bdquoDas waren weder Gold noch Edelsteine nicht einmal Wissenschaft und Kunst Der groumlszligte Schatz von Byzanz war Gott [hellip] Und auf diesen Schatz gruumlndeten unsere groszligen Vorfahren nicht Banken oder Kapital nicht einmal Mu-seen oder Lombardsaumltze Sie gruumlndeten die Rusʼ Russland die geistige Erbin von Byzanzldquo19

Das multinationale Ostroumlmische Reich das sich zwischen Europa und Asi-en erstreckte bildete so die Lehre des Films eine hierarchisch gegliederte organi-sche Einheit gegruumlndet auf die Orthodoxie und die Loyalitaumlt gegenuumlber dem Kaiser als dem Verteidiger des wahren Glaubens Ein bdquosolch demonstrativer Kon-servatismusldquo aber war dem Westen bdquowo schon damals Individualismus und pri-vate Willkuumlr zum geheiligten Prinzip erhoben wurdenldquo ganz fremd und uner-traumlglich weshalb er bdquomit erbittertem Fanatismusldquo forderte bdquoByzanz solle sein ge-samtes Leben nach westlichem Muster modernisieren ndash in erster Linie die reli-gioumlse und geistige Sphaumlre dann aber auch die intellektuelle und materielle Kultur Was die Einzigartigkeit und Besonderheit von Byzanz angeht so lautete der Ur-teilsspruch des Westens [hellip] muss all dies vernichtet werden falls noumltig gemein-sam mit Byzanz und dessen geistigen Erbenldquo20 In Byzanz selbst entstand eine prowestliche Partei Dieser bdquoinnere Feindldquo wurde von den europaumlischen Regie-rungen zunaumlchst heimlich dann aber immer offener unterstuumltzt und gewann all-maumlhlich die Oberhand uumlber die bdquoimperialen Traditionalistenldquo Weitreichende Re-formen der byzantinischen bdquoWestlerldquo schwaumlchten den Staat untergruben den Glauben und zerstoumlrten schlieszliglich das Imperium Der Hauptgrund fuumlr den Unter-gang von Byzanz sei so Tichon die bdquogeistige Zersetzungldquo seiner Elite gewesen die vom Westen verfuumlhrt die Orthodoxie in der Florentiner Union an den roumlmi-schen Papst verraten habe21

Immer wieder zieht der Film kaum verhuumlllte oder direkte Analogien zum postsowjetischen Russland und dessen Verhaumlltnis zum Westen So haumltten die Ve-nezianer die Eroberung der ostroumlmischen Hauptstadt mit der Verteidigung der bdquoRechte auf den freien internationalen Marktldquo begruumlndet und behauptet einen ge-rechten Kampf gegen ein Regime zu fuumlhren das sich bdquogesamteuropaumlischen Wer-tenldquo verweigere und somit ein bdquoReich des Boumlsenldquo sei22 Als weitere Ursache fuumlr den Niedergang wurden korrupte Beamte eigenmaumlchtige Provinzgouverneure und staatsschaumldigende Oligarchen ausgemacht Ihnen habe sich Kaiser Basileios

18 Ebd 19 Ebd 13f 20 Ebd 44ndash46 21 Ebd 54f 22 Ebd 20f

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 9

II widersetzt indem er bdquomit harter Hand die Vertikale der Macht wieder herstell-teldquo Basileios II bdquozerschlug die separatistische Bewegung in den Randgebieten unterdruumlckte die aufruumlhrerischen Gouverneure und Oligarchen die sich anschick-ten das Imperium aufzuteilen Dann fuumlhrte er eine sbquoSaumluberunglsquo in der Regierung durch und konfiszierte fuumlr die Staatskasse groszlige Summen geraubten Geldesldquo23 Seinem Nachfolger hinterlieszlig er einen riesigen bdquoStabilisierungsfondsldquo24

Es liegt auf der Hand ndash und Tichon deutete es in einem Interview selbst an ndash25 dass mit der bdquoVertikale der Machtldquo die Putinsche Politik der Staumlrkung der Zentralgewalt gemeint ist Die bdquoseparatistische Bewegungldquo laumlsst sich auf Tsche-tschenien und die Ukraine beziehen und jene bdquoOligarchenldquo die nicht nur Reich-tum sondern auch politische Macht erstrebten oder vom feindlichen Ausland aus ihre Wuumlhlarbeit betrieben26 heiszligen heute Berezovskij Abramovič und Chodor-kovskij Und sogar der aktuelle Brain-Drain wird thematisiert wenn es heiszligt bdquoDie reiche Jugend von Byzanz lernte nicht mehr im eigenen Land sondern ging zur Ausbildung ins Ausland Die besten Koumlpfe der einheimischen Wissenschaft emi-grierten in den Westenldquo27

Die bis heute guumlltige bdquoLehre von Byzanzldquo und damit die Botschaft des Films bestehen jedoch in der Erkenntnis des ewigen Hasses den der wesens-fremde Westen gegen die orthodoxe Welt hege Mit den Worten Tichons bdquoDer racheluumlsterne Hass des Westens auf Byzanz und dessen Nachfolger den nicht einmal sie selbst ganz und gar verstehen setzt sich auf einer tieferen genetischen Ebene so paradox es auch klingen mag bis heute fort Falls wir diesen verbluumlffen-den doch unbestreitbaren Tatbestand nicht verstehen laufen wir Gefahr nicht nur in der weit zuruumlckliegenden Vergangenheit sondern auch in der Geschichte des 20 und sogar des 21 Jahrhunderts vieles nicht zu begreifenldquo28

Sowohl die Kritiker als auch die Bewunderer des Films haben denn auch erkannt dass es Tichon nicht um das historische Byzanz sondern um das heutige Russland geht ndash vom hegemonialen Westen bedroht von inneren Schwaumlchen wie Egoismus Zynismus und Korruption Genusssucht und Geburtenruumlckgang ge-zeichnet29 Der Film so Roman Lunkin sei eine bdquohistoriosophische Skizzeldquo und

23 Ebd 25 24 Ebd 27 25 Ebd 121 26 Ebd 31 27 Ebd 50 28 Ebd 64f ndash Dies so Tichon habe auch Stalin erkannt als er 1943 die bis dahin verfemte

Byzantinistik per Dekret wieder eingefuumlhrt habe Der bdquoehemalige Seminarist Džugašvilildquo habe bdquodamals endlich begriffen bei wem man die Geschichte studierenldquo muumlsse Ebd 65

29 Der Film so der renommierte Byzantinist Sergej Ivanov sei bdquoreine Fiktion voller kruder faktischer Fehler und krasser Verzerrungenldquo und bdquoerfuumlllt von giftigem Hass auf den Wes-tenldquo Sergey A Ivanov bdquoThe Second Rome as Seen by the Third Russian Debates on sbquoThe Byzantine Legacylsquoldquo in Przemysław MarciniakDion C Smythe (Hgg) The Reception of Byzantium in European Culture Since 1500 Farnham Burlington 2016 55ndash79 hier 72 [dt bdquoDas Zweite Rom aus der Sicht des Dritten Russische Debatten uumlber das sbquobyzan-tinische Erbelsquoldquo in Transit 46 (20142015) 157ndash173 hier 171] Siehe auch ders bdquoVtoroj

10 Michael Hagemeister

sein Autor eine Art bdquomoderner Moumlnch Filofejldquo der die Idee vom Dritten Rom propagiere30 Lunkin gab damit zwei Stichworte die im Folgenden naumlher betrach-tet werden sollen Historiosophie dh die geschichtsmetaphysische Deutung bzw Instrumentalisierung historischer Ereignisse und die Formel von MoskauRuss-land als dem Dritten Rom

Historiosophie Die heilsgeschichtliche Mission Russlands

Unter den Schlagwoumlrtern bdquoHistoriosophieldquo (istoriosofija) und bdquoMetahistorieldquo (metaistorija) erfreuen sich im postsowjetischen Russland Versuche groszliger Be-liebtheit Ziel und Sinn des weltgeschichtlichen Prozesses und die ihn gestalten-den Kraumlfte spekulativ zu bestimmen und ndash als aufbauende oder zerstoumlrende heil-volle oder unheilvolle Faktoren ndash zu bewerten31 Dabei werden Traditionen der russischen Geschichtsmetaphysik und Geschichtstheologie des 19 und 20 Jahr-hunderts aufgegriffen die die irdische Geschichte als Vollzug eines goumlttlichen Heilsplans deuten der den Glaumlubigen in seinem Anfang und Ende sowie den we-sentlichen Etappen geoffenbart worden sei Das providentielle teacutelos der Geschich-te das Ende und zugleich sinngebende Ziel enthuumlllen apokalyptische Texte So beschreibt die Offenbarung des Johannes die Geschehnisse am Ende der Zeit den Kampf zwischen den Maumlchten des Lichts und der Finsternis die Taumluschung und Verfuumlhrung durch den oder die Repraumlsentanten des Boumlsen die Entscheidungs-schlacht und das Juumlngste Gericht den Untergang der alten durch Konflikte zerrissenen Welt und den Beginn einer neuen vollkommenen und zeitlosen Welt Unverkennbar ist auch der Einfluss der dualistisch-deterministischen Geschichts-konzeption der Sowjetideologie (Geschichte als Einsicht in die bdquoobjektiven Ent-wicklungsgesetze der Gesellschaftldquo) kennt doch auch die Eschatologie und Daumlmonologie des historischen Materialismus den auf ein Endziel (bdquoReich der

Rim glazami Tretrsquoego Ėvoljucija obraza Vizantii v rossijskom obščestvennom soznaniildquo lthttppolitruarticle20090414vizantgt

30 lthttpwwwportal-credorusiteact=freshampid=719gt 31 Vgl Michael Hagemeister bdquoDas Dritte Rom gegen den Dritten Tempel ndash Der Antichrist

im postsowjetischen Russlandldquo in Mariano DelgadoVolker Leppin (Hgg) Der Anti-christ Historische und systematische Zugaumlnge FribourgStuttgart 2011 461ndash485 ndash Der Begriff bdquoHistoriosophieldquo geht auf August Cieszkowski (1814ndash1894) zuruumlck einen der Be-gruumlnder des polnischen Messianismus der in seinen Prolegomena zur Historiosophie (Ber-lin 1838) eine aktive Geschichtsteleologie entwarf Mit dem Begriff bdquoMetahistorieldquo be-zeichnete Sergej Bulgakov (1871ndash1944) bdquoden Gegenstand der Apokalypseldquo naumlmlich bdquodie noumenale Seite jenes universellen Prozesses dessen andere Seite sich uns als Geschichte zeigtldquo Sergej Bulgakov bdquoApokaliptika i socializmldquo in ders Dva grada Bd 2 Moskva 1911 51ndash127 hier 103 Zur Neuentdeckung und Aufwertung des in der Sowjetunion tabuisierten Begriffs bdquoHistoriosophieldquo im postsowjetischen Russland siehe Jutta Scherrer Kulturologie Ruszligland auf der Suche nach einer zivilisatorischen Identitaumlt Goumlttingen 2003 bes 91ndash126

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 11

Freiheitldquo) ausgerichteten Verlauf der Geschichte deren bdquoinnre verborgne Ge-setzeldquo und bdquotreibende Maumlchteldquo (Friedrich Engels) sich nur einem fortschrittlichen Bewusstsein zu erkennen geben

Zu den klassischen Werken bdquohistoriosophischerldquo Geschichtsdeutung die immer wieder aufgelegt werden gehoumlren Vladimir Solovrsquoevs (1853ndash1900) bdquoKur-ze Erzaumlhlung vom Antichristldquo (Kratkaja povestrsquo ob antichriste 1900) eine bdquophi-losophische Dichtungldquo die vielfach nicht als literarische Fiktion sondern als kon-krete Prophetie rezipiert und auf die Gegenwart und nahe Zukunft bezogen wird32 sowie insbesondere die manichaumlischen Geschichtskonzeptionen der religioumlsen Philosophen Pavel Florenskij (1882ndash1937) und Aleksej Losev (1893ndash1988) die gepraumlgt sind von der Vorstellung eines permanenten und allumfassenden in sei-nem Ausgang freilich entschiedenen Kampfes zwischen Logos und Chaos Chris-tus und dem Antichrist und dessen irdischem Agenten dem Judentum

In dieser bdquohistoriosophischenldquo oder bdquometahistorischenldquo Sicht erscheint die Geschichte Russlands als Feld auf dem eine bdquounsichtbare Schlachtldquo (nezrimaja bitva) lichtvoller und finsterer Maumlchte tobt Dabei wird das historische Geschehen in Analogie zur Passion Christi als Leidens- oder Kreuzweg (krestnyj putrsquo) aufge-fasst33 als Kreuzigung (raspjatie) durch die Maumlchte des Antichristentums und als Opfertod (požertvovanie) ein Ereignis das in der Regel mit der Epoche der bdquojuuml-disch-bolschewistischenldquo Sowjetherrschaft identifiziert wird34 Noch befinde sich Russland so die Adepten jener bdquosakralen Metahistorieldquo in einer Phase der Pruuml-fung auf dem Weg zum Ziel der Heilsgeschichte noch liege Russland ohnmaumlchtig im Grab doch werde schon bald seine wunderbare Auferstehung (voskresenie) erfolgen35 In der dann anbrechenden Bluumltephase dem letzten Zeitalter der Welt-geschichte vor dem Juumlngsten Gericht werde das wiedergeborene Russland unter der Herrschaft eines Endzeitkaisers die Menschheit von der Macht des Boumlsen be-freien Russland bringt sich also selbst zum Opfer um am Ende zu triumphieren

32 Siehe Michael Hagemeister bdquoTrilogie der Apokalypse ndash Vladimir Solovrsquoev Serafim von

Sarov und Sergej Nilus uumlber das Kommen des Antichrist und das Ende der Weltgeschich-teldquo in Wolfram BrandesFelicitas Schmieder (Hgg) Antichrist Konstruktionen von Feindbildern Berlin 2010 255ndash275 hier 261

33 Als Stationen an bdquoRusslands Kreuzwegldquo werden zumeist genannt das bdquoTatarenjochldquo als Russland die Feinde der Christenheit auf sich lenkte und durch sein Opfer die Zivilisation des Abendlandes vor dem Untergang rettete (worauf schon Aleksandr Puškin in seinem beruumlhmten Brief vom 19 Oktober 1836 an Petr Čaadaev einen Kritiker des russischen Byzantinismus hinwies) sodann der Einfall der bdquoLateinerldquo zu Beginn des 17 Jahrhun-derts die bdquolaumlsterlichenldquo Reformen des bdquoWestlersldquo Peter I (fuumlr viele der Antichrist) und schlieszliglich die bdquoKatastrophe des Jahres 1917ldquo

34 Siehe Vadim Rossman Russian Intellectual Antisemitism in the Post-Communist Era LincolnLondon 2002 223ndash225

35 Siehe Vardan Bagdasarian bdquoApokalipsis ndash segodnja ėschatologičeskie poiski v sovremen-noj Rossiildquo in Dmitrij Andreev [ua] (Hgg) Ėschatologičeskij sbornik Sankt-Peterburg 2006 435ndash453 hier 436f

12 Michael Hagemeister

Moskau ndash Drittes Rom und Katechon

Die Auffassung von Russlands entscheidender Rolle im Drama der Heilsge-schichte wird begruumlndet mit der Doktrin von Moskau als dem Dritten Rom wie sie aus der beruumlhmten eschatologischen Formel des Pskover Moumlnchs Filofej aus der ersten Haumllfte des 16 Jahrhunderts abgeleitet worden ist bdquoAlle christlichen Zartuumlmer haben sich ihrem Ende zugeneigt und sind gemaumlszlig den prophetischen Buumlchern eingegangen in das eine Zartum unseres Herrschers das heiszligt ins russi-sche Zartum Denn zwei Rome sind gefallen und das dritte steht Ein viertes aber wird es nicht gebenldquo36

Nach der Apostasie der Lateiner (dem Schisma von 1054) und dem bdquoVer-ratldquo Konstantinopels (durch die Florentiner Union 1439) dem als Strafe Gottes der Untergang des Byzantinischen Reichs (1453) folgte wird Russland zum drit-ten und ndash der goumlttlichen Trinitaumlt entsprechend ndash letzten Hort der Rechtglaumlubig-keit37 Dessen Ende wird auch das Ende der Geschichte sein mit dem Auftreten des Antichrist des falschen Messias der Juden der durch Taumluschung und Verfuumlh-rung die Parusie des wahren Messias gleichzeitig verbergen und ankuumlndigen soll Bis dahin aber sind das Heilige Russland und seine Herrscher von Gott erwaumlhlt und berufen den Widersacher Christi abzuwehren und das Ende aufzuhalten Nach der sogenannten Substitutionslehre sind die Erwaumlhlung und der messiani-sche Sendungsauftrag Israels nach dessen bdquoVerratldquo auf die Heilige Rusrsquo und das

36 bdquoMoskau ndash das Dritte Romldquo Das Sendschreiben des Filofej von Pskov in Peter Haupt-

mannGerd Stricker (Hgg) Die Orthodoxe Kirche in Ruszligland Dokumente ihrer Geschich-te 960ndash1980 Goumlttingen 1980 253 Bis zur ersten Publikation von Filofejs Sendschreiben in den 1860er Jahren war dieses Konzept freilich kaum bekannt Zu seinen vielfaumlltigen und bisweilen kontraumlren Deutungen siehe Nina Sinicyna Tretij Rim Istoki i ėvoljucija russkoj srednevekovoj koncepcii (XVndashXVI vv) Moskva 1998 zur Wirkungsgeschichte bis in die postsowjetische Gegenwart siehe Peter J S Duncan Russian Messianism Third Rome Revolution Communism and After LondonNew York 2000 Vgl auch Marshall Poe bdquoMoscow the Third Rome The Origins and Transformations of a sbquoPitoval Momentlsquoldquo in Jahrbuumlcher fuumlr Geschichte Osteuropas 49 (2001) 3 412ndash429 Frank Kaumlmpfer bdquoDie Lehre vom Dritten Rom ndash pitoval moment historiographische Folkloreldquo ebd 430ndash441 Fran-ziska Thun-Hohenstein bdquosbquoMoskau ndash Drittes Romlsquo Nachklaumlnge einer alten Denkfigur in der russischen Kultur des 20 Jahrhundertsldquo in Daniel Weidner (Hg) Figuren des Euro-paumlischen Kulturgeschichtliche Perspektiven Muumlnchen 2006 78ndash97 Sergej Magaril Mi-fologija bdquosbquoTretrsquoego Rimalsquo v rossijskom obrazovannom soobščestveldquo in Ėmilrsquo A Pain (Hg) Ideologija bdquoosobogo putildquo v Rossii i Germanii istoki soderžanie posledstvija Moskva 2010 127ndash156 Anna Briskina-Muumlller bdquoDas neue sbquoneue Romlsquo eine byzantinische Idee auf russischem Bodenldquo in Reinhard FlogausJennifer Wasmuth (Hgg) Orthodoxie im Dialog Historische und aktuelle Perspektiven Berlin [ua] 2015 311ndash336

37 Filofej sprach was oft uumlbersehen wird nicht von Moskau als dem Dritten Rom diese For-mel taucht erst im 17 Jahrhundert auf Auch wird aus dem bdquorhomaumlischen (Romejskoe) Zartumldquo bei Filofej erst spaumlter das bdquorussische (Rosejskoe) Zartumldquo Siehe Sinicyna Tretij Rim 244 324ndash328 ndash Die Vorstellung der Stadt Moskau als dem Dritten Rom treibt inzwi-schen seltsame Bluumlten So glaubt der vielfach ausgezeichnete Kulturologe Rustam Rach-matullin in seinem Bestseller Dve Moskvy ili metafizika stolicy (2008) eine bdquosakrale Identitaumltldquo zwischen Moskau Rom und Jerusalem nachweisen zu koumlnnen

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 13

russische bdquoGottestraumlgervolkldquo (narod-Bogonosec) uumlbergegangen die Orthodoxe Kirche wurde zum bdquoNeuen Israelldquo ihre heiligen Staumltten zum bdquoNeuen Jerusa-lemldquo38 Wenn Paulus davon spricht dass am Ende bdquoganz Israel errettetldquo werde (Roumlm 11 26) so sei damit die Kirche Jesu Christi gemeint zu der die Juden sich bekehren muumlssten39

bdquoMoskau ndash Drittes Romldquo Ikone (2011) Maler unbekannt lthttpwwwruniversrugalgallery-allphpSECTION_ID=7641ampELEMENT_ID=462777gt

Russlands Herrscher fungiert mithin als Katechon als jene hemmende aufhalten-de Macht von der im zweiten Brief des (Pseudo-)Paulus an die Thessalonicher die Rede ist

38 Siehe zB Michail Nazarov Voždju Tretrsquoego Rima K poznaniju russkoj idei v apokalipsi-

českoe vremja Moskva 2005 933f 945 ndash Fuumlr die Anhaumlnger der angloamerikanischen bdquoChristian Identityldquo sind hingegen die bdquoArierldquo bdquoGottes auserwaumlhltes Volkldquo und die Verei-nigten Staaten das bdquoNEW JerUSAlemldquo Martin Durham White Rage The Extreme-Right and American Politics London 2007 67

39 Eine fruumlhe heute wieder viel zitierte wertende Entgegensetzung von Judentum und (russi-schem) Christentum findet sich bereits in der um die Mitte des 11 Jahrhunderts verfassten bdquoRede uumlber das Gesetz und die Gnadeldquo (Slovo o zakone i blagodati) des Metropoliten Ila-rion

14 Michael Hagemeister

Zuerst muss der Abfall von Gott kommen und der Mensch der Gesetzlosigkeit offenbart werden der Sohn des Verderbens der Widersacher der sich erhebt uumlber alles was Gott heiszligt oder Heiligtum so dass er sich sogar in den Tempel Gottes setzt und sich fuumlr Gott ausgibt [] Denn das Geheimnis der Gesetzlosigkeit [τὸ μυστήριον τῆς ἀνομίας]40 ist schon wirksam nur muss erst der beseitigt werden der es bis jetzt noch aufhaumllt [ὁ κατέχων] und dann wird der Gesetzlose offenbart werden [hellip] (2 Thess 23-4 und 7-8)

Die durch bdquofeigen Verratldquo erzwungene Abdankung des Zaren im Maumlrz 1917 und seine Ermordung im Juli 1918 wurden denn auch als Erfuumlllung jener Prophetie verstanden dh als Beseitigung des Katechon damit der Weg frei werde fuumlr die Herrschaft des Antichrist41 Der Regizid wurde in dieser Sicht zu einem bdquoapoka-lyptischen Verbrechenldquo langfristig geplant und auf blutig-rituelle Weise ausge-fuumlhrt von den Agenten des Antichrist den Juden Fuumlr diese so der Historiker Mi-chail Nazarov war der von Gott erwaumlhlte und gesalbte apostelgleiche Herrscher des Dritten Rom der bdquokatechontischen orthodoxen Machtldquo objektiv der groumlszligte metaphysische Feind und seine Beseitigung mithin eine Tat bdquovon houmlchster mys-tisch-religioumlser Bedeutungldquo42

Viele Glaumlubige sind indes uumlberzeugt dass die Stelle des Katechon nicht vakant sei sondern von der Gottesmutter uumlbernommen wurde Als Beweis dafuumlr dient die wundersame Auffindung einer Ikone im Dorf Kolomenskoe bei Moskau an jenem Tag an dem Nikolaus II dem Thron entsagte43 Die Ikone zeigt die

40 Luther uumlbersetzt bdquoGeheimnis der Bosheitldquo in der mittelalterlichen Theologie als der Anti-

christ gedeutet der nach der Offenbarung des Johannes am Ende der Zeiten erscheint 41 Im Russischen wird die Rolle des bdquoSelbstherrschersldquo (samoderžec) als bdquoAufhalter Kate-

chonldquo (uderživajuščij) auch etymologisch deutlich russ deržatrsquo entspricht griech κατέ-χειν ndash Die mysterioumlse Figur des Katechon (im griechischen Text einmal Neutrum einmal Maskulinum) die das Endgericht und den Anbruch des Reiches Gottes verzoumlgert bietet sich ebenso wie der Antichrist und seine Trabanten seit jeher zu immer neuen Identifikatio-nen mit einzelnen Gestalten Gruppen oder politischen Maumlchten an So identifizierte Carl Schmitt (1888ndash1985) der bdquoApokalyptiker der Gegenrevolutionldquo (Jacob Taubes) Liberalis-mus Bolschewismus und Judentum mit dem Antichrist (oder seinen Agenten) und glaubte dendas Katechon unter anderem in der Diktatur Hitlers zu erkennen 1947 notierte er bdquoIch glaube an den Katechon er ist fuumlr mich die einzige Moumlglichkeit als Christ Geschichte zu verstehen und sinnvoll zu findenldquo Carl Schmitt Glossarium Aufzeichnungen aus den Jah-ren 1947 bis 1958 hg von Gerd Giesler und Martin Tielke Berlin 2015 47 Schmitt und seine politische Theologie werden in russischen Intellektuellenkreisen intensiv rezipiert

42 Nazarov Voždju 213ndash223 ders Tajna Rossii Istoriosofija XX veka 1999 695ndash699 ndash Die Ermordung der Zarenfamilie durch die Bolschewiki im Juli 1918 in Ekaterinburg wur-de und wird von russischen Nationalisten als juumldischer antichristlicher Ritualmord darge-stellt Extremistische Kirchenkreise forderten denn auch Nikolaus II und seine Familie als bdquovon Jidden Gemarterteldquo (ot židov umučennye) heiligzusprechen Dem wurde freilich von fuumlhrenden Vertretern des Moskauer Patriarchats widersprochen

43 Im Februar 1917 war der Baumluerin Evdokija Andrianova im Traum der Fundort der Ikone erschienen Nach langem Suchen wurde diese schlieszliglich am 215 Maumlrz im Keller der Himmelfahrtskirche von Kolomenskoe entdeckt Siehe Aleksandr N Kazakevič bdquosbquoV podvale chrama pojavilasrsquo ikona Bogomaterilsquo Dokumenty Centralrsquonogo istoričeskogo

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 15

Himmelskoumlnigin mit den Zeichen ihrer Regentschaft im kaiserlichen Purpur mit Krone Szepter und Reichsapfel Das Bild der bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo (Bogo-materrsquo Deržavnaja) erwies sich sogleich als wundertaumltig und zog zahlreiche Pil-ger an Kopien verbreiteten seine Verehrung im ganzen Land Bis heute gilt es vielen als ein Zeichen dass Russlands Schutz vor dem Ansturm des Antichrist vom Zaren auf die Gottesmutter uumlbergegangen ist und sie die autokratische Macht bis zur Wiederherstellung der Monarchie bewahren wird44 Zum 70 Jahrestag des Sieges lieszlig der Izborsker Klub eine Variante der beruumlhmten Ikone anfertigen Sie zeigt die bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo zusammen mit Stalin und seinen Marschaumll-len Fuumlr Aleksandr Prochanov ist Stalin der Katechon der von Gott gesandte Fuumlhrer des Sowjetvolks das durch den Opfertod seiner Soumlhne im bdquogeheiligtenldquo Groszligen Vaterlaumlndischen Krieg ebenso wie einst Christus die Macht der Houmllle be-siegt und die Menschheit erloumlst habe45

lthttpwwwizborsk-clubruarh2015_04_Blokpdfgt

In bdquohistoriosophischerldquo Sicht bildet die Ermordung des Zaren und seiner Familie das zentrale sinnstiftende Ereignis der Geschichte Russlands im 20 Jahrhundert Alles darauf folgende Ungluumlck und Leiden die Verfolgung der Christen Hunger und Terror der Tod von Millionen Menschen werden aufgefasst als Strafe Gottes fuumlr den Abfall des russischen Volkes vom Glauben und fuumlr den judasgleichen

archiva Moskvy o Deržavnoj ikone Božiej Materildquo in Otečestvennye archivy 1 (2004) lthttpricolororghistorykasvyatyniik_derggt

44 Vgl Grigorij Nikolaev bdquoĖschatologičeskij triptichldquo in Ėschatologičeskij sbornik 358ndash396 hier 376f Bagdasarjan bdquoApokalipsis ndash segodnja 441f

45 Aleksandr Prochanov bdquoMističeskij stalinizmldquo in Izborskij klub Russkie strategii 4 (28) 2015 78ndash81 auch lthttpwwwizborsk-clubruarh2015_04_Blokpdfgt

16 Michael Hagemeister

bdquoVerratldquo an seinem Herrscher Wie Jesus sich dem Willen des goumlttlichen Vaters unterworfen hat und auf Golgatha fuumlr die Suumlnden der Welt gestorben ist so habe der Zar in Ekaterinburg (dem bdquorussischen Golgathaldquo) sein Leben als bdquoSuumlhneopferldquo dargebracht fuumlr die Suumlnden ganz Russlands46 Erst wenn das russische Volk sein Land von den Idolen und Symbolen der Gottlosigkeit reinige den Ideen der De-mokratie und politischen Gleichheit abschwoumlre seine kollektive Schuld bereue und Buszlige tue fuumlr das bdquoschrecklichste und unheilvollste Verbrechen des 20 Jahr-hundertsldquo werde der Zar zuruumlckkehren und Russland seine einstige Groumlszlige wie-dererlangen47

Einer der vehementesten und einflussreichsten Propagandisten der Selbst-charismatisierung Russlands war in den Jahren nach dem Ende der Sowjetunion Metropolit Ioann (Ivan Snyčev 1927ndash1995) von St Petersburg und Ladoga Mit-glied des Heiligen Synods und dritthoumlchster Kirchenhierarch des Landes In einer Vielzahl von Buumlchern Aufsaumltzen und Interviews beschwor Ioann die universale Mission des Dritten Rom als des bdquoletzten Hortes des wahren Glaubensldquo im Kampf gegen den Antichrist und seine Verbuumlndeten das bdquoVolk der Gesetzlosigkeitldquo48 Zu den apokalyptischen Feinden Christi zaumlhlte er die bdquoglobalen Maumlchte hinter den Kulissenldquo (mirovaja zakulisa) das internationale Freimaurertum die bdquotransnatio-nale Finanzoligarchieldquo die Anhaumlnger des Zionismus und Marxismus sowie Israel die USA und deren westeuropaumlische Satelliten49 Wiedergeboren im Geist der Or-thodoxie sei das Dritte Rom der irdische Sockel auf dem der Thron Gottes ruhen werde ndash ihm entgegen stehe der Dritte Tempel der Thron des Antichrist50

Hesychasmus als Kulturscheide ndash Kritik der Renaissance

Als entscheidende Waffe in dieser heilsgeschichtlichen Auseinandersetzung wird in juumlngster Zeit von antiwestlichen Intellektuellen und Kirchenkreisen der soge-nannte Hesychasmus in Stellung gebracht Urspruumlnglich handelt es sich dabei um

46 Das Schicksal des letzten Zaren wurde in der antibolschewistisch-antisemitischen Polemik

schon fruumlh mit der Passion Christi verglichen oder gleichgesetzt Eindrucksvolle Beispiele aus juumlngerer Zeit bieten die patriotischen Lieder der prominenten Saumlngerin Žanna Bičev-skaja oder die Filme Iskupitelrsquonaja žertva (1992) und Russkaja Golgofa (2000) Siehe auch Papkova The Orthodox Church 63f 222

47 Marija Achmetova Konec sveta v odnoj otdelrsquono vzjatoj strane Religioznye soobščestva postsovetskoj Rossii i ich ėschatologičeskij mif Moskva 2010 245ndash260

48 Vgl Rossman Russian Intellectual Antisemitism 221ndash225 Hagemeister bdquoDas Dritte Romldquo 476

49 Metropolit Ioann (Snyčev) bdquoToržestvo pravoslavijaldquo in ders Bitva za Rossiju Sankt-Peterburg 1993 28ndash35 In seinem Bestreben Russland als Opfer jahrhundertealter Ver-schwoumlrungen finsterer antichristlicher Maumlchte darzustellen griff Ioann immer wieder auch auf die Protokolle der Weisen von Zion zuruumlck

50 Metropolit Ioann (Snyčev) Samoderžavie ducha Očerki russkogo samosoznanija Sankt-Peterburg 1994 7

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 17

eine individuelle psychosomatische Gebets- und Meditationstechnik des byzanti-nischen und slavischen Moumlnchtums deren Anfaumlnge bis auf die Wuumlstenvaumlter zu-ruumlckreichen Durch die unablaumlssige konzentrierte Wiederholung des sogenannten bdquoJesusgebetsldquo ndash der Anrufung des rettenden Namens Jesu Christi ndash im Rhythmus des Herzschlags (deshalb auch bdquoHerzensgebetldquo) eine Uumlbung die als bdquogeistiges Tunldquo (πρᾶξις νοερά russ umnoe delanie) bezeichnet wird kann der Asket der die innere Ruhe (ἡσυχία) und Leidenschaftslosigkeit (ἀπάθεια) erreicht hat zur ekstatischen Schau (θεωρία) der Herrlichkeit Gottes in Lichtvisionen gelangen51

Die mit dem bdquoJesusgebetldquo verbundenen mystischen Erfahrungen fuumlhrten im 14 Jahrhundert zu einer hochspekulativen theologischen Deutung und Systemati-sierung durch den Athosmoumlnch (spaumlter Erzbischof von Thessalonike) Gregorios Palamas (129697minus1359) und seine Anhaumlnger im sogenannten bdquoHesychasmus-streitldquo Dabei ging es ndash stark vereinfacht ndash um die Frage inwiefern bestimmte sinnliche Erfahrungen beim Gebet wie das Schauen von Licht aber auch die Empfindung von Waumlrme und Wohlgeruch als Begegnung mit der Realitaumlt Gottes aufzufassen seien (und nicht als Pseudovisionen also als Einbildungen oder gar Inspirationen daumlmonischer Maumlchte) Dahinter steht das alte theologische Problem der Erkennbarkeit oder sinnlichen Erfahrbarkeit Gottes der Kommunikation zwi-schen Immanenz und Transzendenz aber auch der Gefahr der Verfuumlgung uumlber das Goumlttliche (extrem im Gotteszwang durch Beschwoumlrung)

Palamas loumlst die Frage indem er in Anlehnung an neuplatonische Vorstel-lungen das unzugaumlngliche ewige bdquoWesenldquo (οὐσία) Gottes von seiner in der ge-schaffenen Welt d h in Raum und Zeit mitteilbaren ungeschaffenen bdquoWirkkraftldquo oder bdquoEnergieldquo (ἐνέργεια) unterscheidet nicht aber trennt52 Diese Energien bdquodie der dreieinige Gott ausstrahlt und die zu seinem Wesen gehoumlren wie die Strahlen zur Sonne oder das Kraftfeld zum Magnetenldquo53 kann der Asket der den Stufen-prozess von bdquoReinigungldquo (κάθαρσις) bdquoErleuchtungldquo (φωτισμός) und bdquoVergoumlttli-chungldquo (θέωσις) durchlaumluft durch die Gnade Gottes sinnlich erfahren Als houmlch-stes mystisches Erlebnis im Zusammenwirken (συνεργία) aller menschlichen En-ergien mit der goumlttlichen Energie gilt die Schau des ungeschaffenen Lichtes wie sie den Juumlngern Jesu bei dessen Verklaumlrung auf dem Berg Tabor (μεταμόρφωσις

51 Ich folge hier zum Teil meinen Ausfuumlhrungen in Michael Hagemeister bdquoImjaslavie ndash imja-

dejstvie Namensmystik und Namensmagie in Russland (1900ndash1930)ldquo in Tatjana Petzer [ua] (Hgg) Namen Benennung ndash Verehrung ndash Wirkung Positionen der europaumlischen Moderne Berlin 2009 77ndash98 hier 79ndash81 88ndash90 Zum Hesychasmus liegt eine umfangrei-che Literatur vor Das Nachschlagewerk von Sergej Choružij (Hg) Isichazm annotiro-vannaja bibliografija Moskva 2004 umfasst mehr als 10000 Titel in 20 Sprachen

52 Die Unterscheidung von Gottes unerkennbarem Wesen und seinen wahrnehmbaren Wirk-kraumlften reicht bis auf Philon von Alexandria (gest ca 40 n Chr) zuruumlck Siehe Fairy v Lilienfeld bdquoHesychasmusldquo in Theologische Realenzyklopaumldie Bd 15 BerlinNew York 1986 282ndash289 ndash bdquoEnergieldquo ist Synonym fuumlr jeden bdquoAustrittldquo Gottes aus seinem Wesen Die bdquoSaumlttigungldquo mit goumlttlicher Energie erklaumlrt beispielsweise auch die gnadenreiche Heil-wirkung die von den Gebeinen der Heiligen selbst nach deren Tod ausgeht

53 Ebd 284

18 Michael Hagemeister

τοῦ Χριστοῦ Mt 171minus13) zuteil geworden war54 Fuumlr den endzeitlich gestimm-ten Palamas war diese Schau eine Vorwegnahme der Parusie der Vereinigung des Geschaffenen und des Ungeschaffenen und des kuumlnftigen Reiches Gottes somit bdquorealisierte Eschatologieldquo55

Der Glaube an die Wahrnehmbarkeit des ungeschaffenen ewigen Lichtes als Ausfluss der Energien Gottes stieszlig jedoch auf Widerspruch Palamasrsquo promi-nentester Gegner war der aus Kalabrien stammende Moumlnch Barlaam (ca 1290ndash1348) der in der Tradition der abendlaumlndischen rationalistischen Scholastik die Unterscheidung des transzendenten unzugaumlnglichen Wesens Gottes und der da-von untrennbaren Energien die aber ad extra wirken und sich dem Menschen mitteilen als haumlretisch verwarf und auf der absoluten Unerkennbarkeit Gottes be-stand Rom lehnte denn auch die Energienlehre des Palamas aufs schaumlrfste ab Dagegen erkannte die byzantinische Kirche sie 1341 und 1351 als Dogma an Seitdem gilt der palamitische Hesychasmus als ein Spezifikum der Orthodoxie und dient gerade heute wieder der polemischen Abgrenzung gegenuumlber dem Wes-ten56

Fuumlr die bereits genannten Philosophen Pavel Florenskij und Aleksej Losev charakterisiert das Bekenntnis zum Hesychasmus den Kulturtypus des christli-chen Mittelalters der sich in idealer Weise in Byzanz und in der Moskauer Rusrsquo ausgepraumlgt habe und in diametralem Gegensatz zur sogenannten bdquoRenaissance-Kulturldquo des Westens stehe Merkmale jener integralen Kultur des christlichen Ostens seien Gemeinschaftlichkeit (sobornostrsquo) Geistigkeit (duchovnostrsquo) Ob-jektivitaumlt Konkretheit Ganzheit (celrsquonostrsquo) und Ganzheitlichkeit (celostnostrsquo) synthetische Schau und Realismus57 waumlhrend die westliche Moderne seit der Re-naissance gepraumlgt sei durch Subjektivismus Relativismus szientifische Ratio-nalitaumlt (bdquoEntzauberung der Weltldquo) Materialismus Liberalismus Individualismus

54 Siehe Sergej Choružij bdquoSvet Plotinov i svet Favora mistika sveta v neoplatonizme i isi-

chazmeldquo in Aleksej Lidov (Hg) Ierotopija Ognja i Sveta v kulrsquoture vizantijskogo mira Moskva 2013 37ndash44 Zur Terminologie des Hesychasmus ders bdquoAnalitičeskij slovarʼ isi-chastskoj antropologiildquo in ders K fenomenologii askezy Moskva 1998 22ndash186

55 Peter Kawerau Das Christentum des Ostens Stuttgart [ua] 1972 131 56 Siehe zB die Arbeiten des Moskauer Theologen Igorʼ Ėkonomcev (Archimandrit Ioann)

bes bdquoIsichazm i vostočnoevropejskoe Vozroždenieldquo in Bogoslovskie trudy 29 (1989) 167ndash196 erweiterte Fassung bdquoDer Hesychasmus und die Renaissance in Osteuropaldquo in Karl Christian Felmy (Hg) Tausend Jahre Christentum in Russland Zum Millennium der Taufe der Kiever Rusrsquo Goumlttingen 1988 731ndash771 ndash Im 19 Jahrhundert erlebte der Hesy-chasmus im Zuge der Wiederbelebung mystischer Froumlmmigkeit durch Paisij Veličkovskij (1722ndash1794) eine Bluumlte im russischen Starzentum Dabei handelt es sich auch ndash aumlhnlich wie beim Pietismus ndash um eine Reaktion auf die Einfluumlsse der westlichen Aufklaumlrung Siehe die Beitraumlge in Adalberto Mainardi (Hg) Paisij lo starec Atti del III Convegno ecumenico internazionale di spiritualitagrave russa Bose 20ndash23 settembre 1995 Magnano 1997

57 Die Uumlberwindung der Trennung des erkennenden Subjekts vom Objekt der Erkenntnis (Descartes Locke Kant) durch das spekulative intuitive Erfassen des Wesens (der Ideen des Absoluten) als des eigentlich Realen hat die russische Philosophie des 20 Jahrhunderts bdquolebendiges Wissenldquo (živoe znanie) bdquoIdeal-Realismusldquo (ideal-realizm) oder bdquointuitiven Realismusldquo (intuitivnyj realizm) genannt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 19

Abstraktheit Zersplitterung und Atomisierung58 Der Sieg des Nominalismus im mittelalterlichen Universalienstreit und die Feier des autonomen Individuums in Renaissance Humanismus und Aufklaumlrung markieren in dieser katastrophischen Perspektive den Zerfall der goumlttlichen Ordnung des Universums und der Sakralitaumlt von Hierarchie und Herrschaft und damit den bdquoSuumlndenfallldquo der abendlaumlndischen Kultur die im Anthropozentrismus der satanischen Hybris einer bdquoSelbstvergot-tungldquo des Menschen (čelovekobožie)59 zugleich gipfele und scheitere60

Am Anfang dieser verhaumlngnisvollen Spaltung standen die Annahme der pa-lamitischen Lehre durch die Ostkirche und die Ablehnung dieser Lehre im Westen durch den bdquoRenaissance-Menschenldquo (vozroždenec) Barlaam den Lehrer Boccac-cios und Petrarcas61 Mit aller Schaumlrfe formulierte Losev diesen Gegensatz bdquo[hellip] entweder ist das Taborlicht untrennbar vom Wesen Gottes und ist deshalb Gott selbst (obwohl Gott selbst nicht [das] Licht ist) ndash dann ist die Orthodoxie gerettet oder das Licht ist vom Wesen Gottes trennbar und darum geschaffen ndash dann be-ginnen die apokalyptischen Kraumlmpfe des Renaissance-Westensldquo62 Indem sie Bar-laam einen bdquozugereisten Kalabrierldquo und seine Anhaumlnger mit dem Bann belegte habe die Orthodoxe Kirche so Losev die damals heraufziehende Renaissance

58 Siehe zB Pavel Florenskij bdquoAvtoreferat (192526)ldquo in Voprosy filosofii 1988 12 113ndash

116 dt Pavel Florenski bdquoAutorreferatldquo in ders Leben und Denken hg von Fritz und Sieglinde Mierau Bd 1 Ostfildern 1995 32ndash38 Aleksej Losev Dialektika mifa (1930) Moskva 2001 137ndash138 dt Die Dialektik des Mythos Hamburg 1994 109 ndash Die wertende Entgegensetzung von mittelalterlicher und Renaissance-Kultur (bzw der Typen bdquoobjekti-verldquo und bdquosubjektiverldquo Kulturen) findet sich durchgaumlngig im Werk Florenskijs und Losevs Siehe zuletzt Oksana SedychJulija Grišatova bdquoRusskij Renessans o Renessanseldquo in Vo-prosy filosofii 2015 6 111ndash121

59 bdquoSatan war der erste Revolutionaumlrldquo zitiert Losev einen (apokryphen) Ausspruch des Hl Serafim von Sarov Aleksej Losev bdquoDopolnenie k sbquoDialektike mifalsquo (novyj fragment)ldquo in AF Losev tvorčestvo tradicii interpretacii Moskva 2014 397ndash411 hier 401

60 So degradiere ndash um nur ein Beispiel fuumlr das Scheitern der Renaissance zu geben ndash das heliozentrische Weltbild eines Kopernikus und Giordano Bruno den Menschen zum Be-wohner eines bdquonichtigen Sandkornsldquo im unendlichen Weltraum SedychGrišatova bdquoRuss-kij Renessansldquo 114 Florenskij suchte denn auch in seiner Schrift Mnimosti v geometrii (1922) das geozentrische Weltbild des Mittelalters zu rehabilitieren Zum griechisch-or-thodoxen Antikopernikanismus Vasilios Makrides Die religioumlse Kritik am kopernikani-schen Weltbild in Griechenland zwischen 1794 und 1821 Aspekte griechisch-orthodoxer Apologetik angesichts naturwissenschaftlicher Fortschritte Frankfurt aM [ua] 1995

61 Mitunter wurde Barlaam sogar als Agent einer groszligangelegten antiorthodoxen Verschwouml-rung des bdquoPapismusldquo denunziert Siehe Ėkonomcev bdquoIsichazmldquo 59 vgl ders bdquoDer Hesy-chasmusldquo 736 ndash Eine Kontrastierung des weltlichen Humanisten Petrarca und des Hesy-chasten Palamas unternahm Losevs Schuumller und Sekretaumlr Vladimir Bibichin lthttpwww philologyruliterature3bibikhin-90htmgt

62 Aleksej Losev Očerki antičnogo simvolizma i mifologii Moskva 1930 856 Auch Ėko-nomcev spricht von den bdquoschreienden Widerspruumlchen und Grimassen der westlichen Re-naissance deren geistiger Vater Barlaam wurdeldquo Ėkonomcev bdquoIsichazmldquo 63 (in der deut-schen Version ist von bdquohimmelschreienden Gegensaumltzenldquo und bdquoscheuszliglichen Grimassenldquo die Rede Ėkonomcev bdquoDer Hesychasmusldquo 746)

20 Michael Hagemeister

insgesamt verdammt (anafematstvovala) der alle westlichen Voumllker verfallen sei-en und wahrscheinlich bis ans Ende ihrer Tage verfallen blieben63

Bis zuletzt verteidigte Losev ein mit Orden des Sowjetstaates ausgezeich-neter Philosoph der 1929 von Archimandrit David (Muchranov 1847ndash1930) ei-nem Fuumlhrer der hesychastischen bdquoNamensverehrerldquo (imjaslavcy)64 heimlich zum Moumlnch geweiht worden war die Lehre des Palamas als einen Grundpfeiler der Orthodoxie65 Gleichzeitig hielt er an seiner schroffen Ablehnung des bdquoRenaissan-ce-Westensldquo fest dessen Geschichte insgesamt nichts anderes sei als bdquoeine libera-le Kritik des Mittelaltersldquo 1978 stellte Losev in seiner umfangreichen Studie zur Aumlsthetik der Renaissance der bdquoganzheitlichen Kulturldquo (celostnaja kulrsquotura) des Mittelalters die zerrissene Kultur der Renaissance gegenuumlber die auf der Verabso-lutierung und bdquotitanischen Verherrlichungldquo des isolierten Subjekts und der bdquoAbge-trenntheit vom lebendigen Seinldquo (otryv ot živogo bytija) beruhe66 In einem Ge-spraumlch mit dem Schriftsteller Viktor Erofeev das 1985 veroumlffentlicht wurde de-nunzierte Losev den Typus des bdquoRenaissance-Menschenldquo der sich selbst vergoumltt-liche und deshalb dem Nihilismus und Satanismus verfalle bdquoIndem die Renais-sance das Subjekt zum Absolutum erhob oumlffnete sie den Weg fuumlr den Triumph des Subjektivismus in den folgenden Jahrhunderten In diesem Sinne stellt der gesamte Westen fuumlr mich eine Sackgasse des Denkens darldquo67 Damit geriet der Philosoph einerseits in scharfen Gegensatz zum sowjetischen Selbstverstaumlndnis das sich als Erbe und Vollender gerade jener bdquoprogressivenldquo Prozesse und huma-nistischen Traditionen sah die von der europaumlischen Renaissance ausgegangen

63 Losev Očerki 849 856 64 Zur Bewegung des imjaslavie die zu Beginn des 20 Jahrhunderts auf dem Athos entstand

und in Florenskij und Losev prominente Unterstuumltzer fand liegt inzwischen eine reiche Literatur vor Siehe die juumlngste Veroumlffentlichung Antoine Niviegravere Les glorificateurs du nom Une querelle theacuteologique parmi les moines russes du mont Athos (1907ndash1914) Genegraveve 2016

65 Siehe Valentina Postovalova bdquoAfonskij spor ob Imeni Božiem v filosofsko-bogoslovskom osmyslenii AF Losevaldquo in AF Losev 95ndash106 bes 105f

66 Aleksej Losev Ėstetika Vozroždenija Moskva 21982 (11978) 45 61 137 und passim Losevs Modernekritik erinnert an Heidegger und dessen Begriff der bdquoSeinsvergessenheitldquo Wie fuumlr Heidegger so war auch fuumlr Losev (und Florenskij) der Agent der verhassten Moder-ne ein bdquorechnendesldquo und bdquowurzellosesldquo mythisches Judentum Zu Losevs metaphysischem Antisemitismus (bdquodas satanische Wesen des Judentumsldquo) siehe zuletzt mit zahlreichen Belegen Natalrsquoja Boneckaja Duch Serebrjanogo veka (fenomenologija ėpochi) Moskva Sankt-Peterburg 2016 688ndash693

67 Aleksej Losev bdquoV poiskach smyslaldquo in Voprosy literatury 1985 10 205ndash231 hier 229 Zu Losevs Kritik der bdquoRenaissance-Kulturldquo des Westens ausfuumlhrlich Annett Jubara Die Philosophie des Mythos von Aleksej Losev im Kontext bdquoRussischer Philosophieldquo Wiesba-den 2000 bes 131ndash154 Siehe auch Naftalij Prat bdquoAleksej Losev und der Totalitarismusldquo in Leonid Luks (Hg) Das Christentum und die totalitaumlren Herausforderungen des 20 Jahrhunderts Koumlln [ua] 2002 103ndash114 bes 108f

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 21

waren (augenfaumlllig etwa in der Architektur der 1930er bis 50er Jahre)68 Anderer-seits erwies sich der orthodoxe Moumlnch damit auch als Apologet des Sowjetregi-mes bedroht die Autonomie des Individuums doch den Wesenskern einer jeden Herrschaft die das Wahrheitsmonopol fuumlr sich beansprucht

Die Ablehnung der modernen bdquokopernikanischen Weltldquo (Hans Blumen-berg) durchzieht das gesamte philosophische Werk Losevs und Florenskijs dazu gehoumlren die Ablehnung des heliozentrischen Weltbildes die Polemik gegen Kants kritischen Idealismus (die bdquokopernikanische Wendeldquo in der Philosophie) die Ab-lehnung der Zentralperspektive in der Kunst die Ablehnung des nominalistischen Rationalismus und schlieszliglich die Ablehnung der saumlkularen und demokratischen Gesellschaftsordnung zugunsten einer bdquoVerkirchlichungldquo (ocerkovlenie) aller Be-reiche der Gesellschaft und des Staates in Gestalt einer theokratischen Synarchie Florenskij der sich als einen mittelalterlichen Menschen charakterisierte69 ndash Ni-kolaj Berdjaev selbst Verkuumlnder eines religioumls-integralen bdquoNeuen Mittelaltersldquo nannte ihn einen bdquoraffinierten Reaktionaumlrldquo ndash70 war uumlberzeugt dass die bdquoentseelte Renaissance-Zivilisationldquo sich erschoumlpft habe und eine neue ganzheitlich-objekti-ve Kultur anbrechen werde71 Vorbild dieser bdquoKultur des anderen Typusldquo werde Russland sein bdquoerste Keimeldquo seien bereits zu erkennen Seine Zeit begriff Floren-skij bdquoan den Wasserscheiden des Denkensldquo und er sah seine Lebensaufgabe darin bdquoWege zu bahnen zu einer kuumlnftigen ganzheitlichen Weltanschauungldquo72

68 Losevs Renaissance-Kritik (va in Ėstetika Vozroždenija) wurde deshalb auch als ver-

schleierte Kritik am Sowjetsystem verstanden Siehe Annett Jubara bdquoAleksej Losevs Philosophie des Mythos als Kritik an der Sowjetischen Moderneldquo in Studies in East Euro-pean Thought 56 (2004) 211ndash224 Aus dem Kreis der Schuumller Losevs gingen seit den 1960er Jahren zahlreiche dissidentische russische Nationalisten hervor Nikolaj Mitrochin Russkaja partija Dviženie russkich nacionalistov v SSSR 1953ndash1985 Moskva 2003 288f Zur Kritik der Renaissance-Zivilisation siehe auch Vladimir Bibichin Novyj renessans Moskva 1998 bes 131ndash155

69 Siehe Florenskij bdquoAvtoreferatldquo Noch im Maumlrz 1933 nach seiner Verhaftung erklaumlrte Flo-renskij gegenuumlber den Ermittlungsbeamten bdquoIch Pavel Aleksandrovič Florenskij [hellip] bin dem Charakter meiner politischen Anschauungen nach ein Romantiker des Mittelalters un-gefaumlhr des 14 Jahrhundertsldquo Vitalij Šentalinskij bdquoUdel veličijaldquo in Ogonek 1990 45 23ndash27 hier 26

70 Nikolaj Berdjaev Samopoznanie (Opyt filosofskoj avtobiografii) Moskva 1991 161 Sie-he Nikolaj Berdjaev Novoe srednevekovrsquoe Berlin 1924 dt Nikolaus Berdjajew Das Neue Mittelalter Darmstadt 1927

71 Siehe Michael Hagemeister bdquoWiederverzauberung der Welt ndash Pavel Florenskijs Neues Mittelalterldquo in Norbert Franz [ua] (Hgg) Pavel Florenskij ndash Tradition und Moderne Beitraumlge zum Internationalen Symposium an der Universitaumlt Potsdam 5 bis 9 April 2000 Frankfurt aM [ua] 2001 21ndash41 Zu Florenskijs Kritik an Renaissance und Humanismus (bdquoder Humanismus entsprang der Kabbalaldquo) siehe auch Ilona Svetlikova bdquoOb ideologii sbquoobratnoj perspektivylsquo Pavla Florenskogoldquo in Russkaja intellektualʼnaja revoljucija 1910ndash1930-ch godov Moskva 2016 123ndash139 zu den Uumlbereinstimmungen mit Heidegger siehe Viktor Arslanov Postmodernizm i russkij bdquotretij putrsquoldquo tertium datur rossijskoj kulrsquotury XX veka Moskva 2007 472ndash499

72 Florenskij bdquoAvtoreferatldquo 114

22 Michael Hagemeister

In juumlngster Zeit hat das wiedererwachte Interesse an der eigenen spirituellen Tradition und ihren byzantinischen Wurzeln ndash oftmals verbunden mit dem Bestre-ben sich vom bdquosaumlkularen Westenldquo und der bdquowestlichen Moderneldquo abzugrenzen ndash zu einer Wiederbelebung des palamitischen Hesychasmus (neopalamizm) und der ndash davon zu unterscheidenden ndash bdquoNamensverehrungldquo (imjaslavie) gefuumlhrt73 Be-reits in den 1970er Jahren war John Meyendorffs klassische Studie St Greacutegoire Palamas et la mystique orthodoxe (Paris 1959) ins Russische uumlbersetzt worden und kursierte in der Sowjetunion in Samizdat-Ausgaben im Milieu religioumls-philo-sophischer Dissidenten Heute wird die Wiederbelebung des Hesychasmus auch durch den patriotischen Kult um Serafim von Sarov (Prochor Mošnin 1759ndash1833) befoumlrdert einen Wundertaumlter und Apokalyptiker der im postsowjetischen Russland zu einem der meistverehrten Heiligen avanciert ist74 In einer in viele Sprachen uumlbersetzten und millionenfach verbreiteten Schrift schildert sein Schuuml-ler Nikolaj Motovilov (1809ndash1879) die Verklaumlrung Serafims im ungeschaffenen Licht des Heiligen Geistes die sich angeblich im November 1831 auf einer einsa-men verschneiten Waldlichtung ereignet hat75

73 Dies gilt nicht nur fuumlr Russland auch auf Vertreter der angelsaumlchsischen bdquoRadical Ortho-

doxyldquo die das Projekt einer von modern-saumlkularem Denken nicht korrumpierten Theologie verfolgen uumlben Hesychasmus und russische Sophiologie starke Faszination aus Siehe die Beitraumlge in Adrian PabstChristoph Schneider (Hgg) Encounter Between Eastern Ortho-doxy and Radical Orthodoxy Transfiguring the World Through the Word Farnham 2009 Zur Wiederbelebung des imjaslavie im post-sowjetischen Russland siehe Scott M Ken-worthy bdquoDebating the Theology of the Name in Post-Soviet Russia Metropolitan Ilarion Alfeev and Sergei Khoruzhiildquo in Katya Tolstaya (Hg) Orthodox Paradoxes Hetero-geneities and Complexities in Contemporary Russian Orthodoxy LeidenBoston 2014 250ndash264 Siehe auch Loren Grahams Bericht uumlber diskrete Zusammenkuumlnfte der imjaslav-cy im Kellergeschoss der Moskauer Tatrsquojana-Kirche in den fruumlhen 2000er Jahren Loren GrahamJean-Michel Kantor Naming Infinity A True Story of Religious Mysticism and Mathematical Creativity Cambridge MassLondon 2009 1ndash5

74 Fuumlr die Anhaumlnger der Doktrin einer bdquoAtomaren Orthodoxieldquo (atomnoe pravoslavie) ist Se-rafim auch der Schutzheilige der russischen Atombombe wurde doch Sarov der Ort seines Wirkens 1946 unter dem Namen Arzamas-16 zur streng geheimen Nuklearstadt in der Wissenschaftler unter ihnen Andrej Sacharov am Bau der sowjetischen Atom- und Was-serstoffbomben arbeiteten Patriotische Russen deuten dies als Zeichen dass bdquoim Hause unseres Vaters Serafimldquo mit dessen Segen der nukleare bdquoSchild zum Schutz der Heimatldquo geschmiedet worden sei Pavel V Florenskij bdquoNeobchodimostrsquo našej atomnoj bombyldquo in Naš sovremennik 1997 4 219ndash221 Bei dem Verfasser handelt es sich um einen Enkel des beruumlhmten Philosophen Siehe auch lthttpsruwikipediaorgwiki Атомное_правосла виеgt

75 Die Schrift deren Authentizitaumlt umstritten ist wurde bekannt unter dem Titel bdquoGespraumlch uumlber das Ziel des christlichen Lebensldquo (Beseda o celi christianskoj žizni) Erstmals veroumlf-fentlicht wurde das bdquoGespraumlchldquo 1903 von Sergej Nilus (1862ndash1929) dem Herausgeber und Kommentator der Protokolle der Weisen von Zion Siehe Michael Hagemeister bdquoIl proble-ma della genesi del sbquoColloquio con Motovilovlsquoldquo in Adalberto Mainardi (Hg) San Sera-fim Da Sarov a Diveevo Atti del IV Convegno ecumenico internazionale di spiritualitagrave russa Bose 18ndash20 settembre 1996 Magnano 1998 157ndash174 Bis heute gibt es keine kriti-sche Ausgabe dieses zentralen Textes russischer Geistigkeit

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 23

Von der Wiederbelebung des Hesychasmus zeugt auch das groszligangelegte Projekt einer bdquosynergetischen Anthropologieldquo (sinergijnaja antropologija) des Mathematikers Physikers und religioumlsen Philosophen Sergej Choružij Prakti-sches Ziel das seit 2005 durch ein eigenes Institut in Moskau verfolgt wird ist die psychosomatisch-holistische Selbsttransformation des Menschen die auf unmittelbarer (mystisch-energetischer) Erfahrung bzw Einwirkung des ontolo-gisch Anderen (Goumlttlichen) beruht sowie die Uumlberwindung der Subjekt-Objekt-Trennung der modernen westlichen Philosophie die Choružij fuumlr den von ihm als krisenhaft und katastrophisch beschriebenen Zustand der westlichen Moderne verantwortlich macht Im Unterschied zu orthodoxen Fundamentalisten und Anti-Westlern sucht Choružij indes die asketischen Praktiken des Hesychasmus mit modernen und postmodernen westlichen Anthropologien (Kierkegaard Scheler Heidegger und insbesondere Foucaults technique oder practique de soi) in Bezie-hung zu setzen76

bdquoPolitischer Hesychasmusldquo

Es duumlrfte deutlich geworden sein dass Hesychasmus nicht nur eine weltabge-wandte mystisch-asketische bdquogeistige Praxisldquo bezeichnet sondern auch als Kampfbegriff gegen die saumlkulare Kultur des bdquoWestensldquo und der bdquowestlichen Mo-derneldquo dient Dies gilt vor allem fuumlr das Konzept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo (političeskij isichazm)

In den russischen Diskurs wurde dieses Konzept um die Mitte der 1960er Jahre von dem Leningrader Mediaumlvisten und Byzantinisten Gelian Prochorov ein-gefuumlhrt77 Seiner Hauptthese zufolge wurde der Hesychasmus nachdem er aus den Klosterzellen herausgetreten war und eine philosophisch-theologische

76 Siehe Sergej Choružij Očerki sinergijnoj antropologii Moskva Inst Sinergijnoj antropo-

logii Inst filosofii teologii i istorii Sv Fomy 2005 ders (Hg) Fonarrsquo Diogena Proekt sinergijnoj antropologii v sovremennom gumanitarnom kontekste Moskva 2010 ders bdquoDie mystische Verwandlung des Menschen Uumlber den Hesychasmus als Raum der Philo-sophieldquo in Fuge Journal fuumlr Religion amp Moderne 7 (2010) 72ndash99 Siehe auch die Web-site lthttpsynergia-isarugt Kristina Stoeckl bdquoA New Anthropology Sergej S Khoru-žijrsquos Search for an alternative to the Cartesian Subject in sbquoOčerki sinergijnoj antropologiilsquoldquo in Studies in East European Thought 59 (2007) 237ndash245

77 Gelian Prochorov bdquoĖtničeskaja integracija v Vostočnoj Evrope v XIV-m veke Ot isichastskich sporov do Kulikovskoj bitvyldquo in Doklady otdelenija ėtnografii 2 (196265) Leningrad 1966 81ndash110 ders bdquoIsichazm i obščestvennaja myslʼ v Vostočnoj Evrope v XIV vldquo in Literaturnye svjazi drevnich slavjan (Trudy otdela drevnerusskoj literatury 23) Leningrad 1968 86ndash108 ders bdquoKulʼturnoe svoeobrazie ėpochi kulikovskoj bitvyldquo in Kulikovskaja bitva i podldquoem nacionalrsquonogo samopoznanija (Trudy otdela drevne-russkoj literatury 34) Leningrad 1979 3ndash17 ndash Prochorov gehoumlrte bereits zu Sowjetzeiten ins Lager der (neo-)slavophilen Anti-Westler er war eng befreundet mit dem bdquoEurasierldquo und Antisemiten Lev Gumilev (1912ndash1992) und uumlbernahm von diesem das Konzept der bdquoEthnogeneseldquo

24 Michael Hagemeister

Grundlegung erfahren hatte am Ende des 14 Jahrhunderts zu einem entscheiden-den politischen und kulturellen Faktor nicht nur in Byzanz sondern in ganz Ost-europa und lieferte unter anderem das ideologische Fundament zur Konsolidie-rung der nachmongolischen Rusʼ Im Streit zwischen dem bdquorationalistischen Hu-manismus und dem kontemplativen Hesychasmus [hellip] entschied Byzanz uumlber sein geistiges Schicksal Das Land blieb bis zuletzt mittelalterlich Den Hesy-chasten gelang es zu Wortfuumlhrern der oumlffentlichen Meinung in Byzanz zu werden die letzte schoumlpferische Synthese seiner traditionellen Kultur zu entwickeln und eine breite kulturelle und gesellschaftliche Bewegung in Gang zu setzen die zu einer Erneuerung des Mittelalters und zu einer Wiederbelebung der Orthodoxie im ganzen oumlstlichen Europa fuumlhrteldquo78

Im Anschluss an das von seinem Lehrer Dmitrij Lichačev entwickelte Kon-zept einer bdquoVorrenaissanceldquo (Predvozroždenie)79 spricht Prochorov von einer bdquovorrenaissancelichen Gegenreformationldquo (predvozroždenčeskaja kontrreforma-cija) und einer bdquoOrthodoxen Renaissanceldquo (Pravoslavnoe Vozroždenie)80 Ge-meint war damit dass die Palamiten (Hesychasten) den Sieg der Barlaamiten ver-hindern konnten und auf die Schriften der antiken Kirchenvaumlter zuruumlckgreifend ein mystisch-kontemplatives Aumlquivalent zum rationalistischen und saumlkularen Hu-manismus geschaffen haumltten Auf diese Weise habe der drohende Uumlbergang der byzantinischen und osteuropaumlischen christlich gepraumlgten Kultur von der bdquoVorre-naissanceldquo zu einer auf heidnisch-antiken Wurzeln beruhenden Renaissance ab-gewendet werden koumlnnen81 Auf die bdquoVorrenaissanceldquo sei ein bdquoNeues Mittelalterldquo gefolgt das in der bdquoHeiligen Rusʼldquo um die Wende zum 15 Jahrhundert seinen Houmlhepunkt erreicht habe Ihm verdanke Russland seine Groumlszlige und die russische Kultur ihre bdquoUniversalitaumltldquo und bdquoGeistigkeitldquo82

Bemerkenswert ist dass der sowjetische Wissenschaftler die beiden ideolo-gischen Lager mit traditionellen (neo-)slavophilen Wertungsoppositionen wie sie bereits bei Florenskij und Losev begegnet sind verbindet und dabei deutlich seine 78 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 4 79 Vor allem in seinem Buch Kulʼtura Rusi vremeni Andreja Rubleva i Epifanija Premudrogo

MoskvaLeningrad 1962 80 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 8 Siehe auch ders Nekogda ne narod a nyne narod

Božijhellip Drevnjaja Rusʼ kak istoriko-kulʼturnyj fenomen Sankt-Peterburg 2010 133ndash157 81 So auch Igorʼ Ėkonomcev bdquoDie osteuropaumlische sbquoVorrenaissancelsquo ist nicht die erste Stufe

zur saumlkularisierten Renaissance vom abendlaumlndischen Typ sondern ihre Antithese Der geistige und kulturelle Aufschwung in Osteuropa war die wahre volle und eindeutige Re-naissance die sich grundlegend von der westlichen Renaissance unterschied Sie haumltte sich niemals in eine Renaissance westlicher Praumlgung verwandeln koumlnnenldquo Ėkonomcev bdquoDer Hesychasmusldquo 764 vgl ders bdquoIsichazmldquo 69 Diese (osteuropaumlische) Renaissance so Ėkonomcev an anderer Stelle sei ungleich bdquoerhabener geistiger und reinerldquo gewesen als bdquodie westeuropaumlische Renaissance mit ihrer krankhaften Disharmonie zwischen Glauben und Vernunft Geist und Leib die trotz allem gespieltem Optimismus ein Gefuumlhl der Aus-weglosigkeit und Verzweiflung hinterlaumlsstldquo Igumen Ioann Ėkonomcev bdquoVizantinizm Kirillo-Mefodievo nasledie i kreščenie Rusildquo in ders Pravoslavie Vizantija Rossija Sbornik statej Moskva 1992 7ndash22 hier 18

82 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 9 15

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 25

Sympathie zeigt Die byzantinischen Humanisten werden von ihm als kalte Ratio-nalisten dargestellt die in der Hoffnung auf militaumlrische Unterstuumltzung durch den katholischen Westen im Kampf gegen die Osmanen bereit gewesen seien den eigenen Glauben zu opfern83 Die Hesychasten hingegen haumltten so Prochorov den Westen realistischer eingeschaumltzt und auf Hilfe von Seiten der orthodoxen Staaten gehofft Im entscheidenden Moment haumltten nicht die bdquoWestler-Huma-nistenldquo (zapadniki-gumanisty) mit ihren bdquokalten Uumlberlegungenldquo (cholodnymi rassuždenijami) beim Volk Gehoumlr gefunden sondern die Hesychasten mit ihren bdquoheiszligen Gebetenldquo (gorjačimi molitvami)84

Mit seiner Apologie eines bdquowiederbelebtenldquo Mittelalters und einer bdquoOrtho-doxen Renaissanceldquo die alle Bereiche des politischen gesellschaftlichen und kul-turellen Lebens gepraumlgt habe und deren Kern der Hesychasmus gewesen sei stieszlig Prochorov bei seinen sowjetischen Kollegen auf Kritik So sah Apollon Kuzmin im Palamismus eine desintegrative Erscheinung weshalb er Prochorovs positive Bewertung der Hesychasten bei der bdquoWiedergeburtldquo der Rusʼ zuruumlckwies85 Aumlhn-lich argumentierte Gennadij Litavrin Die Palamiten seien diejenigen gewesen die eine unrealistische Einschaumltzung der politischen Lage gehabt haumltten Sie haumltten die Bedrohung durch die Tuumlrken nicht erkannt und stattdessen die Illusion verbreitet die Feinde zum Christentum bekehren und zu neuen Untertanen ma-chen zu koumlnnen Der Palamismus sei eine bdquoIdeologie der Demutldquo und habe eine bdquounheilvolle Rolle in der Geschichte des Kampfes gegen die tuumlrkische Aggres-sionldquo gespielt86 Michail Sjuzjumov sprach sogar vom bdquoasozialen Charakter des Palamismusldquo der den aufkommenden humanistischen Tendenzen gegenuumlber feindlich gewesen und zur bdquoIdeologie der Reaktionldquo in Byzanz geworden sei87 Auf Ablehnung stieszlig Prochorov auch im Ausland Valerij Lepachin kritisierte den Begriff bdquopolitischer Hesychasmusldquo als unzulaumlssige Verbindung weltlicher und geistlicher Sphaumlren damit verliere der Hesychasmus seinen wesentlichen Sinn-gehalt88 Fuumlr den in Berkeley lehrenden Philologen Viktor Živov schlieszliglich war

83 Ebd 12 84 Ebd 13 ndash An anderer Stelle betont Prochorov den Gegensatz zwischen den abstrakten

bdquoausgedachtenldquo philosophischen Konstruktionen des europaumlischen Idealismus und der ganzheitlichen kontemplativ-spekulativen Welterfahrung der griechisch-byzantinischen Philosophie Prochorov bdquoĖtničeskaja integracijaldquo 90f An Florenskijs Renaissance-Kritik (etwa in Ikonostas 1922) erinnert auch Prochorovs Verweis auf den euklidischen Raum und den Perspektivismus der humanistischen Weltwahrnehmung mit seiner Illusion der Unendlichkeit Prochorov bdquoIsichazmldquo 94

85 Apollon Kuzmin bdquoCerkovʼ i svetskaja vlastʼ v ėpochu Kulikovskoj bitvyldquo in Voprosy naučnogo ateizma 37 (1988) 90ndash99

86 Gennadij Litavrin bdquoVizantija v period graždanskoj vojny i dviženija Zilotov (1341ndash1355 gg)ldquo in Sergej Skazkin (Hg) Istorija Vizantii Bd 3 Moskva 1967 135ndash160 hier 158

87 Michail Sjuzjumov bdquoFilosofija i bogoslovieldquo in ebd 234ndash256 hier 248f 88 Valerij Lepachin bdquoUmnoe delanie (o soderžanie i granicach ponjatija sbquoisichazmlsquo)ldquo in

Vestnik Russkogo Christianskogo Dviženija 164 1992 5ndash32 hier 23

26 Michael Hagemeister

bdquopolitischer Hesychasmusldquo bdquokonzeptuelles Unkraut [sornjak] das man so schnell wie moumlglich ausrottenldquo solle89

Fast ein halbes Jahrhundert nach ihrer ersten Veroumlffentlichung wurde Pro-chorovs Konzept eines bdquopolitischen Hesychasmusldquo von seinem Schuumller Vladimir Petrunin wieder aufgegriffen und aktualisiert In der 2009 erschienenen Monogra-phie bdquoDer politische Hesychasmus und seine Traditionen in der Sozialkonzeption des Moskauer Patriarchatsldquo90 stellt Petrunin das sogenannte bdquoNichtgehorsamkeits-prinzipldquo (princip nepovinovenija) wie es in den von der Moskauer Bischofssyno-de im August 2000 verabschiedeten bdquoGrundlagen der Sozialkonzeption der Rus-sischen Orthodoxen Kircheldquo formuliert worden ist91 in eine Tradition die er bis auf die bdquopolitischen Hesychastenldquo im Byzanz des 14 und 15 Jahrhunderts zu-ruumlckzufuumlhren sucht Immer wieder zieht Petrunin Parallelen zwischen dem spaumlten Byzanz und dem postsowjetischen Russland Hatten die Byzantiner den Hesy-chasmus als Reaktion auf den Humanismus des Westens hervorgebracht so diene heute die Sozialkonzeption der Abwehr des westlichen Saumlkularismus Liberalis-mus und Kapitalismus Damals wie heute stuumlnden der kirchliche Heilsauftrag und die Verteidigung des Glaubens uumlber den Interessen des Staates selbst ndash wie das Beispiel von Byzanz zeige ndash um den Preis seines Untergangs Ebenso wie die byzantinischen Hesychasten den mit dem Westen kollaborierenden Herrschern die Gefolgschaft im Kampf gegen die Osmanen verweigert haumltten da sie die bdquoReinheit ihres Glaubensldquo eher bdquounter einem tuumlrkischen Turban als unter der lateinischen Tiaraldquo gewahrt sahen92 rufe die Sozialkonzeption die Kirche heute dazu auf der Staatsmacht den Gehorsam zu verweigern sollte diese bdquodie ortho-doxen Glaumlubigen zum Abfall von Christus und Seiner Kirche sowie zu suumlndhaften

89 Viktor Živov bdquoVidenija sveta i problemy russkogo srednevekovogo isichazmaldquo in Lidov

(Hg) Ierotopija 350ndash367 hier 363 359 90 Vladimir Petrunin Političeskij isichazm i ego tradicii v socialʼnoj koncepcii Moskovskogo

Patriarchata Sankt-Peterburg 2009 91 Osnovy socialrsquonoj koncepcii Russkoj Pravoslavnoj Cerkvi III5 lthttpwwwpatriarchia

rudbtext141422htmlgt Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo wird von den meisten Inter-preten als ein bemerkenswertes Umdenken in der Kirchenpolitik angesehen hatte doch die Russische Orthodoxe Kirche unter Patriarch Sergij in einer prekaumlren Lage 1927 Loyalitaumlt gegenuumlber dem Sowjetstaat gefordert Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo war auch eine wichtige Voraussetzung fuumlr die Vereinigung der Auslandskirche mit dem Moskauer Pa-triarchat Zur Sozialkonzeption insgesamt Vasilios N Makrides bdquoDie politische Aufgabe der Kirche Bemerkungen anhand der Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kir-cheldquo in Irene DingelChristiane Tietz (Hgg) Die politische Aufgabe von Religion Per-spektiven der drei monotheistischen Religionen Goumlttingen 2011 219ndash243

92 Petrunin Političeskij isichazm 66f 120 Es handelt sich um eine zeitgenoumlssische Losung Siehe Halina Evert-Kappesowa bdquoLa tiare ou le turbanldquo in Byzantinoslavica 14 (1953) 245ndash257 ndash Auch Aleksandr Nevskij (1220ndash1263) zog eine Verstaumlndigung mit den Mongo-len einer Union mit Rom vor die ihm Papst Innozenz IV im Jahr 1248 angeboten hatte und wandte sich stattdessen gegen die bdquoLateinerldquo Heutige Anti-Westler feiern den Heili-gen der Russischen Orthodoxen Kirche deshalb auch als bdquoersten Eurasierldquo

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 27

und der Seele abtraumlglichen Taten noumltigenldquo93 Die Sozialkonzeption hat fuumlr Petru-nin nur einen moumlglichen Sinn Falls Russlands politische Elite sich weiterhin dem liberalen Wertekanon des Westens verschreibe und Russlands bdquoEigenartldquo (samo-bytnostʼ) als bdquoorthodoxe Zivilisationldquo bestreite94 muumlsse die Kirche ndash wie einst in Byzanz ndash dem Staat die Loyalitaumlt aufkuumlndigen und das Volk zum Widerstand auf-rufen

Es ist ganz offensichtlich dass die Prozesse der Globalisierung und Saumlkularisierung eng miteinander verbunden sind So wie einst die byzantinischen Hesychasten ist heute die Russische Kirche mit der westlichen Zivilisation konfrontiert die nach der Weltherrschaft trachtet war fruumlher der Katholizismus deren Grundlage so ist es jetzt der saumlkulare Humanismus [hellip] Waumlhrend sie [die westliche Welt MH] damals fuumlr die Hesychasten mit Rom gleichgesetzt wurde so verkoumlrpert heute das kosmopolitische New York den Westen Indem sie Liberalismus und Saumlkularisie-rung abwehrt tritt die Kirche auch gegen die politischen und wirtschaftlichen Hegemoniebestrebungen des Westens auf und stellt so ihr Bestreben unter Beweis die zivilisatorische Eigenstaumlndigkeit Russlands wieder herzustellen Wie schon vor 600 Jahren im Byzantinischen Imperium so ist auch heute in Russland allein die Kirche ein ernstzunehmender und gut organisierter Gegner des Westens und seiner saumlkularen Werte [hellip] Sollte Russland weiter den Weg der Saumlkularisierung be-schreiten so koumlnnte damit fuumlr die Kirche der gefaumlhrliche Praumlzedenzfall geschaffen werden in dem sie von ihrem Recht Gebrauch machen muumlsste das Volk zu zivilem Ungehorsam aufzurufen95

In seinem Vorwort nannte Prochorov das Buch seines Schuumllers eine bdquoWarnung an unseren Staat unsere saumlkulare Gesellschaft an uns alleldquo96 Wie das spaumlte Byzanz unter dem bdquoDruck aus dem Westenldquo gestanden habe ndash dem die Herrscher und die bdquoHumanistenldquo schlieszliglich nachgegeben haumltten ndash so laufe auch das postkommu-nistische Russland Gefahr dem bdquoDruck des Liberalismus und der Globalisierungldquo nachzugeben Allein die Orthodoxe Kirche habe sich damals wie heute als bdquoFes-tungldquo erwiesen faumlhig diesem bdquozersetzenden Einflussldquo Widerstand zu leisten97

Petrunins Buch das mit dem Segen von Metropolit Ilarion (Grigorij Al-feev)98 erschienen war stieszlig bei westlichen Forschern auf Skepsis und Ableh-nung So kritisierte Kristina Stoumlckl die unhistorische Interpretation und forcierte Aktualisierung der philosophischen theologischen und politischen Kontroversen des 14 Jahrhunderts sowie die einseitige konservative Interpretation der Sozial-konzeption Hesychasmus werde in dem Kirchendokument ebenso wenig erwaumlhnt

93 Osnovy socialrsquonoj koncepcii 94 Petrunin Političeskij isichazm 81 95 Ebd 122f 96 Ebd 5 97 Ebd 98 Zu jener Zeit Bischof von Wien und Oumlsterreich heute Leiter des Auszligenamtes des Moskau-

er Patriarchats und scharfer Kritiker des bdquomilitanten Saumlkularismusldquo des Westens Siehe auch lthttpazbykaruxristianstvo-pered-vyzovom-voinstvuyushhego-sekulyariz ma-2gt

28 Michael Hagemeister

wie der Untergang von Byzanz99 Klaus Buchenau warf Petrunin vor er bdquoverfor-m[e] und ideologisier[e] die urspruumlnglichen Motive des hesychastischen Moumlnch-tums bis zur Unkenntlichkeitldquo100 Und Viktor Živov der bereits Prochorovs Kon-zept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo als bdquoUnkrautldquo bezeichnet hatte sah in Petru-nins Buch ein Beispiel dafuumlr wie dieses sich bdquospontan und schaumldlichldquo ausbreite Die von Petrunin konstruierte bdquophantastische Genealogie des politischen Hesy-chasmusldquo beruhe so Živov auf einer bdquoMischung aus Einseitigkeit und Unwissen-heitldquo Weder sei der bdquotuumlrkische Turbanldquo fuumlr den Patriarchen attraktiv gewesen noch sei am Widerstand gegen die Union irgendetwas spezifisch bdquoHesychasti-schesldquo Petrunin habe ein bdquoPhantomldquo geschaffen dessen angebliche Verbindung mit der Sozialkonzeption man nicht weiter zu verfolgen brauche101

bdquoNeobyzantismusldquo Das Dritte Rom ndash der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo

Eine eigenwillige Interpretation des Hesychasmus und seine Wendung gegen den Westen stammen von Aleksandr Dugin dem Fuumlhrer der bdquoeurasischenldquo Bewegung und einflussreichsten Vordenker der Neuen Rechten in Russland Der polyglotte und belesene Autodidakt der nie eine akademische Ausbildung genossen hat war Gruumlnder der Partei der Nationalbolschewisten Berater des Vorsitzenden der Du-ma und des Generalstabs sowie von 2008 bis 2014 Professor fuumlr Soziologie an der renommierten Moskauer Lomonosov-Universitaumlt und Direktor des dortigen bdquoZentrums fuumlr Konservatismusstudienldquo Seit Anfang der 1990er Jahre verbreitet er mit graphomanem Eifer seine politischen und bdquometaphysischenldquo Botschaften in einer inzwischen kaum noch uumlberschaubaren Zahl von Publikationen102 und Web-Artikeln in mehreren Sprachen sowie durch spektakulaumlre Auftritte in staats-nahen Medien103 99 Kristina Stoumlckl bdquoPolitical Hesychasm Vladimir Petruninrsquos Neo-Byzantine Interpretation

of the Social Doctrine of the Russian Orthodox Churchldquo in Studies in East European Thought 62 (2010) 125ndash133

100 Klaus Buchenau Auf russischen Spuren Orthodoxe Antiwestler in Serbien 1850ndash1945 Wiesbaden 2011 480 Anm 2

101 Živov bdquoVidenija svetaldquo 364f ndash Von der Kritik offenbar unbeeindruckt verschaumlrfte Petru-nin noch seine Position So sprach er 2012 in einem Vortrag uumlber die gesellschaftliche und politische Wirkung der hesychastischen Gebetspraxis Nach dem Fall von Byzanz sei das bdquoJesusgebet faktisch zu einem sbquopolitischen Gebetlsquoldquo geworden das auf die bdquoVerwandlung [preobraženie] der orthodoxen Oumlkumeneldquo ausgerichtet gewesen sei und das bdquoPhaumlnomen der Heiligen Rusrsquoldquo hervorgebracht habe lthttpsynergia-isarup=8604gt

102 Zuletzt in der bislang fuumlnf Baumlnde umfassenden Reihe bdquoNoomachijaldquo (2014ndash2015) einer hochambitioumlsen letztlich aber manichaumlisch-schematischen Beschreibung der bdquoSuche nach dem Logosldquo in den ndash von Dugin essenzialistisch aufgefassten ndash bdquoWeltkulturenldquo

103 Auch die Literatur zu Dugin ist kaum noch uumlberschaubar Siehe zB Alexander Houmlllwerth Das sakrale eurasische Imperium des Aleksandr Dugin Eine Diskursanalyse zum post-sowjetischen russischen Rechtsextremismus Stuttgart 2007 Stefan Wiederkehr Die eurasische Bewegung Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwi-schenkriegszeit und im postsowjetischen Russland Koumlln [ua] 2007 227ndash261 Anton

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 29

Dugin deutet den Hesychasmus im Rahmen des sogenannten bdquointegralen Traditionalismusldquo einer antimodernen Denkrichtung die im ersten Drittel des 20 Jahrhunderts in Frankreich und Italien entstand und in Reneacute Gueacutenon (1886ndash1951) und Julius Evola (1898ndash1974) ihre bekanntesten (und auch fuumlr Dugin wichtigsten) Vertreter hat104 Ihre Lehre besagt dass alle Religionen ungeachtet ihrer histori-schen und regionalen Auspraumlgungen in ihrem esoterischen nur dem Eingeweih-ten zugaumlnglichen Kern eine gemeinsame urspruumlngliche Wahrheit teilen und als philosophia perennis tradieren das Wissen um die Goumlttlichkeit und den Zugang zu ihr Dieses sakrale und initiatorische Wissen sei im Verlauf der westlichen Mo-derne insbesondere durch die Aufklaumlrung verlorengegangen in traditionellen Gesellschaften (China Indien islamische Welt) jedoch bewahrt geblieben105

Auch die Orthodoxie so Dugin habe im Gegensatz zu Katholizismus und Protestantismus bdquodie Treue zum esoterischen Kernldquo bewahrt naumlmlich in ihrer mystischen Unterstroumlmung dem Hesychasmus106 In der Kanonisierung des Gre-gorios Palamas durch die Ostkirche bei gleichzeitiger Verdammung des Humanis-ten Barlaam sieht Dugin das Bekenntnis zum bdquognostisch-realistischen Geist der orthodoxen Esoterikldquo Ganz im Sinn des Traditionalismus deutet er die psycho-physische Uumlbung der Hesychasten das bdquogeistige Tunldquo als Verfahren der bdquoInitia-tionldquo und das Endziel der bdquoVerklaumlrungldquo und bdquoVergoumlttlichungldquo als bdquoalchemistische Verwandlung des Leibesldquo (alchimičeskoe preobraženie tela) Dadurch wuumlrden der bdquoDualismus von Geist und Materie Leib und Seeleldquo sowie die bdquoGrenzen der Individualitaumltldquo ndash charakteristisch fuumlr den bdquorein exoterischen Mystizismusldquo des Westens ndash aufgehoben107 Die bdquoTradition der hesychastischen Esoterikldquo sei die

Shekhovtsov bdquoThe Palingenetic Thrust of Russian Neo-Eurasianism Ideas of Rebirth in Aleksandr Duginrsquos Worldviewldquo in Totalitarian Movements and Political Religions 9 (2008) 491ndash506 Mark Sedgwick bdquoOccult Dissident Culture The Case of Aleksandr Du-ginldquo in Birgit Menzel [ua] (Hgg) The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimen-sions MuumlnchenBerlin 2012 273ndash292 Schmid Technologien der Seele 210ndash220

104 Aleksandr Dugin Filosofija tradicionalizma Moskva 2002 Zum Traditionalismus siehe das Standardwerk von Mark Sedgwick Against the Modern World Traditionalism and the Secret Intellectual History of the Twentieth Century OxfordNew York 2004 zu Dugin 221ndash237 Vgl auch Christopher DL Johnson The Globalization of the Jesus Prayer Con-testing Contemplation London New York 2010 70ndash73

105 Aumlhnliche Gedanken entwickelte Pavel Florenskij bereits 19081909 in seinem Vortrag bdquoObščečelovečeskie korni idealizmaldquo in dem er die bdquoEsoterikldquo der Philosophie Platons und seiner Nachfolger in der bdquoallgemeinmenschlichenldquo mystisch-magischen Weltauffas-sung der bdquoVolksseeleldquo wurzeln laumlsst

106 Das Folgende nach Aleksandr Dugin bdquoOboženie preestestvennejšeeldquo in Milyj angel 1 1991 56ndash59

107 Das Konzept der bdquoInitiationldquo und die Unterscheidung von bdquoesoterischldquo und bdquoexoterischldquo sind zentral fuumlr die Anhaumlnger des Traditionalismus siehe Sedgwick Against the Modern World 265 ndash Als Mitglied des okkultistischen und faschistischen Južinskij-Kreises machte Dugin in Moskaus bdquomystischem Untergrundldquo in den 1980er Jahren selbst Entgrenzugser-fahrungen mit Hilfe sexualmagischer Praktiken und bewusstseinserweiternder Drogen Bei einem Teil der orthodoxen Glaumlubigen stoumlszligt seine Esoterik denn auch auf Misstrauen und

30 Michael Hagemeister

bdquoSeele der russischen Orthodoxieldquo und habe in Serafim von Sarov ihren bdquoletzten leuchtendsten Vertreterldquo gefunden

Der Hesychasmus gehoumlre zum traditionellen Erbe von Byzanz das Russ-land angetreten habe als es zum Dritten Rom und zum Zentrum der orthodoxen Welt geworden sei bdquoWir sindldquo so Dugin bdquobyzantinisch in unserer Seele unseren Wurzeln und in unserer Identitaumltldquo108

Unser stabilstes Fundament ist Byzanz [hellip] Russland ist Byzanz [hellip] Unsere For-mel lautet Der Westen ist das Boumlse Byzanz das Gute Alles Schlechte das uumlber Byzanz geschrieben wurde ist eine Luumlge Das sind lediglich Winkelzuumlge im ideolo-gischen Kampf von Seiten des Westens [hellip] Jeder Russe muss wissen Byzanz ist das reine Gute Jeder der etwas anderes behauptet ist ein Feind [hellip] Wer Byzanz kritisiert ist ein Feind des russischen Volkes Das muss unser ehernes Prinzip sein [hellip] Byzanz ist der absolute Orientierungspunkt des russischen Projekts109

Damit sind Russlands Ort und Mission in der bdquohistoriosophischenldquo Deutung des Weltgeschehens bestimmt Nach Dugin wird die Geschichte der Menschheit be-herrscht vom bdquookkulten planetarischen Ringenldquo zweier antagonistischer Maumlchte dem bdquogroszligen Krieg der Kontinenteldquo Land gegen Meer Behemoth gegen Levia-than die organischen bodenstaumlndigen und traditionalistischen bdquoTellurokratienldquo des eurasischen Ostens gegen die wurzel- und seelenlosen materialistischen bdquoTha-lassokratienldquo des angloamerikanischen Westens das apokalyptische Tier aus dem Meer (Offb 13 1-10)110 Die USA als bdquoQuintessenz des Westensldquo und New York als moderne Hure Babylon (Offb 17 und 18) sind das Reich des Antichrist eine chimaumlrisch-antiorganische transplantierte Zivilisation die keine sakrale Tradi-tion besitze ihre Selbsterhebung zu bdquoGottes neuem Israelldquo und bdquoNeuem Zionldquo ndash gemaumlszlig der anglo-amerikanischen Interpretation der Substitutionslehre ndash deutet Dugin als besonders perfiden Taumluschungsversuch des bdquowestlichen Antichristldquo Das Jahr der Entdeckung Amerikas (1492 ist nach der altrussisch-byzantinischen

offene Ablehnung Fuumlr den Sektenexperten des Moskauer Patriarchats ist Dugin ein bdquoge-faumlhrlicher Feindldquo der die bdquoOrthodoxie in Kabbalistik umzuschmelzenldquo versuche Andrej Kuraev Cerkovrsquo v mire ljudej Moskva 2006 142

108 Aleksandr Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Tradition Duginrsquos Guidelineldquo lthttpswwwyoutubecomwatchv=m0RIa61eZDggt

109 Aleksandr Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo in ders Russkaja Veščrsquo Očerki nacionalrsquonoj filosofii Bd 1 Moskva 2001 69ndash76 hier 70ndash72 (Hervorhebungen im Original) Der Be-griff bdquoByzantismusldquo (vizantizm) ndash im Unterschied zum negativ konnotierten bdquoByzantinis-musldquo ndash als Bezeichnung eines dem europaumlischen entgegengesetzten Kulturtypus der auf den Prinzipien von Orthodoxie und Selbstherrschaft beruht geht auf den konservativen Philosophen Konstantin Leontrsquoev (1831ndash1891) und sein Buch Vizantizm i slavjanstvo (1875) zuruumlck

110 Auch fuumlr den von Dugin verehrten Heidegger waren die Seemaumlchte Groszligbritannien und Amerika nicht Teil der abendlaumlndischen Tradition sondern im Gegensatz zum restlichen Europa wurzellos und sinnleer Der Antagonismus von Land und Meer die kategorische Unterscheidung von Freund und Feind sowie das Konzept des Katechon gehen auf Carl Schmitt zuruumlck als dessen Schuumller Dugin sich bezeichnet Siehe auch Fn 41

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 31

Weltaumlra das Jahr 7000 nach dem chiliadischen Weltwochenschema also der sieb-te Tag der Schoumlpfung) verweise ebenso auf den Endzeitcharakter der bdquoNeuen Weltldquo wie die bdquosakrale Geographieldquo nach der das Paradies im Osten die Houmllle aber das bdquoLand des Todesldquo im Westen zu suchen seien111

Dem Antichrist entgegen stehe seit jeher der Katechon dessen bdquoletzter Hortldquo bis ans Ende der Zeit die Heilige Rusrsquo das Dritte Rom sei112 In der petrini-schen Epoche als die Hauptstadt in die bdquonoumlrdlichen Suumlmpfeldquo in die bdquoGespenster-stadtldquo Petersburg verlegt und das Patriarchat abgeschafft wurde haumltten allein die Altglaumlubigen den Geist von Byzanz den Katechon bewahrt zweihundert Jahre lang sei der Weg frei gewesen fuumlr das zerstoumlrerische Wirken des Antichrist Erst die sowjetische Periode habe eine bdquomystische Ruumlckkehr zum Byzantismusldquo be-deutet indem die Bolschewiki das heilige Moskau wieder zur Hauptstadt erklaumlr-ten das Patriarchat wiederherstellten die Ausbeuter als Klasse vernichteten und dem Westen auf allen Gebieten Widerstand boten Im bdquoroten Byzantismusldquo der Dritten Internationale sei der Katechon zuruumlckgekehrt113

Um seine Mission zur Erloumlsung der Menschheit auch kuumlnftig zu erfuumlllen muumlsse das Dritte Rom nach dem Zerfall der Sowjetunion114 nunmehr ein groszligkon-tinentales sakral fundiertes bdquoEurasisches Imperiumldquo errichten gegen den Erz-feind die materialistische universalistische alles nivellierende Zivilisation des Westens als der Verkoumlrperung des bdquoweltweiten Boumlsenldquo (mirovoe zlo) gegen Libe-ralismus Individualismus Globalismus Egalitarismus sowie die bdquomondialisti-scheldquo Konzeption der Menschenrechte115 Verbuumlndete im bevorstehenden apoka-lyptischen bdquoEndkampfldquo (von Dugin stets deutsch geschrieben) werden all jene sein die den Bezug zum bdquoSakralenldquo noch nicht verloren haben russische Altglaumlu-bige ultraorthodoxe antizionistische Juden europaumlische Traditionalisten sowie jene bdquoanti-atlantischenldquo islamistischen Fundamentalisten die in den USA den Dajjacircl den falschen Messias und Antichrist erkennen gegen den die Retter-gestalt des Mahdicirc zu Felde ziehen wird116 111 Aleksandr Dugin Absoljutnaja Rodina Puti Absoljuta Metafizika Blagoj Vesti Misterii

Evrazii Moskva 1999 645ndash670 112 Ebd 378ndash395 493ndash521 113 Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo 74ndash76 Siehe auch ders bdquoKatechon i revoljucijaldquo in ders

Tampliery proletariata Nacional-bolrsquoševizm i iniciacija Moskva 1997 52ndash59 ndash Die mes-sianische Identifizierung des Dritten Rom mit der Dritten Internationale reicht bis ins Gruumlndungsjahr der Komintern (1919) zuruumlck Beide so der slawophile Philosoph und An-haumlnger des imjaslavie Valerian Muravrsquoev (1885ndash1930) in einem Brief vom 6 Januar 1920 an Lev Trockij seien Ausdruck der Suche des russischen Volkes und der Intelligencija nach einem Reich der Wahrheit und Gerechtigkeit Valerian Muravrsquoev Sočinenija Bd 2 Moskva 2011 352f Weitere Belege bei Emanuel Sarkisyanz Russland und der Messianis-mus des Orients Tuumlbingen 1955 196 Mikhail Agursky Third Rome National Bolshevism in the USSR Boulder Co 1987

114 Damals sah ein Journalist bdquoauf den Ruinen des Imperiumsldquo das Dritte Rom in Gefahr zu einem Land der Dritten Welt zu werden Andrej Fadin bdquoTretij Rim v tretrsquoem mire Razmy-šlenija na ruinach imperiildquo in Nezavisimaja gazeta 1291991

115 [Aleksandr Dugin] bdquoLibo-my libo-ničtoldquo in Ėlementy 8 19961997 1ndash4 hier 2 116 [Aleksandr Dugin] bdquoIdeologija Mirovogo Pravitelrsquostvaldquo in Ėlementy 2 1992 1f

32 Michael Hagemeister

Das Dritte Rom als Zentrum des eurasischen bdquoEuro-Sowjetischen Imperiumsldquo Titelbild der von Aleksandr Dugin herausgegebenen Zeitschrift bdquoElemente Eurasische Rundschauldquo (1992) Dugins Werk mit seiner provokanten Mischung esoterischer antimoderner und antiwestlicher Motive findet besonders unter jungen Intellektuellen Anklang und Nachahmer so etwa bei dem promovierten Philosophen und selbstproklamierten bdquoorthodoxen Metaphysikerldquo Arkadij Maler einem vehementen Propagandisten einer bdquopolitischen Orthodoxieldquo (političeskoe Pravoslavie) und fuumlhrenden Ideolo-gen der bdquoneobyzantinischenldquo Doktrin Obwohl sich Maler von Dugin distan-ziert117 beschwoumlrt auch er die eschatologische bdquogeistige Mission des Dritten Romldquo die es von Byzanz geerbt habe und die in seiner bdquozentralen katechontischen Rolleldquo bestehe dem Kampf gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo des bdquogottlosen Wes-tensldquo118 Russische Politik koumlnne deshalb nicht anders als imperial sein und muumlsse ihren Einfluss auf den gesamten Planeten ausdehnen Wie Dugin sieht auch Maler die Bolschewiki in dieser Tradition als sie Moskau zur Hauptstadt des bdquoRoten

117 In den spaumlten 1990er Jahren gehoumlrte Maler der vaumlterlicherseits juumldischer Abstammung ist

zusammen mit Dugin und Ėduard Limonov zur Fuumlhrungsriege der Nationalbolschewisti-schen Partei und schrieb fuumlr die Parteizeitung Limonka sich selbst charakterisierte er als bdquorotbraunen Zionistenldquo Nach seiner Konversion zur Orthodoxie trennte er sich 1999 von Dugin und kritisierte dessen esoterischen Traditionalismus aus einer ultraorthodoxen Posi-tion Dugin wiederum warf Maler vor ihn zu plagiieren

118 Arkadij Maler Duchovnaja missija Tretrsquoego Rima Moskva 2005 bes 134ndash136 170ndash206 Siehe auch ders bdquoIdeologija Vizantizmaldquo in Severnij Katechon 1 (2005) 7ndash49 bdquoNeovi-zantizm kak novyj bolrsquošoj stilrsquoldquo in Aleksej Nilogov (Hg) Kto segodnja delaet filosofiju v Rossii Moskva 2007 110ndash124

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 33

Imperiumsldquo machten und dieses zur bdquoabsoluten Antithese des Westensldquo erklaumlrten zum bdquoTraumlger der planetarischen Mission der Befreiung der Welt aus den sbquoFesseln des Kapitalslsquoldquo119 Das Dritte Rom sei zeitweise in die Dritte Internationale trans-formiert worden ohne jedoch seine Mission als Katechon als aufhaltende Macht gegen das Reich des Boumlsen und Ausgangspunkt zur Errettung der Welt aufzuge-ben Die bdquoletzte Etappeldquo im Kampf gegen den Antichrist werde so Maler der bdquoeschatologische Krieg des Dritten Rom gegen das Dritte Karthagoldquo den bdquoAnti-katechonldquo sein die bdquoanglo-amerikanische [] atlantische Zivilisationldquo120 Zur Propagierung der katechontischen Mission Russlands gruumlndete Maler 1999 am Institut fuumlr Philosophie der Akademie der Wissenschaften in Moskau einen bdquoBy-zantistischen Klub Katechonldquo (Vizantistskij Klub Katechon) und 2005 das bdquoPhi-losophisch-politische Zentrum sbquoNoumlrdlicher Katechonlsquoldquo das einen gleichnamigen Almanach (Severnyj Katechon) herausgibt121

Apokalyptischer Ausblick

Die Formel vom Dritten Rom und die Figur des Katechon des Aufhalters des bdquoweltweiten Boumlsenldquo sind zu Markenzeichen russischer Anti-Westler und Ver-schwoumlrungstheoretiker und ihres schrillen Szenariums eines globalen apokalyp-tischen bdquoEndkampfesldquo gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo geworden122 Unter dem Titel bdquoDie russische Doktrin Die Staatsideologie der Epoche Putinsldquo verfasste in den Jahren 2005 und 2006 ein Kollektiv nationalpatriotischer Autoren ndash unter ih-nen der bdquoByzantistldquo Arkadij Maler ndash ein uumlber 1000 Seiten langes ultrakonservati-ves und antiwestliches Manifest das auch die Unterstuumltzung hoher kirchlicher Wuumlrdentraumlger fand123 In ihrem Entwurf einer bdquoorganischen weltanschaulichen Plattformldquo fuumlr das kuumlnftige Russland behandeln die Autoren ausfuumlhrlich die bdquohis-toriosophischeldquo Konzeption vom Dritten Rom und seine Mission als Katechon gegen das bdquoHeidentumldquo des Westens124 Gefordert wird die positive Identifikation

119 Maler Duchovnaja missija 182f 185 120 Ebd 177 ndash Als Mittel im ideologischen Kampf gegen den saumlkularen Westen fordert Maler

in Analogie zur katholischen Gegenreformation eine orthodoxe konservative bdquoGegenauf-klaumlrungldquo (Kontrprosveščenie) lthttpwwwkatehonruhtmltoppolitologiaideaotkritije _polit_pravoslavijahtmgt

121 Siehe die Website lthttpwwwkatehonrugt 122 Siehe zB Galina A Morozova Tretij Rim protiv novogo mirovogo porjadka Moskva

2009 Die Formel von Dritten Rom hat laumlngst auch Schriftsteller und Maler inspiriert und scheint auch werbewirksam zu sein bdquoDrittes Romldquo nennt sich ein Verlag ein Videospiel eine Bank ein Reisebuumlro und sogar ein Kasino in Jalta Ein Schoumlnheitswettbewerb in Mos-kau vergibt alljaumlhrlich den Titel einer bdquoMiss Drittes Romldquo Judith E Kalb Russiarsquos Rome Imperial Visions Messianic Dreams 1890ndash1940 Madison Wisconsin 2008 198f Zum Katechon siehe Maria Engstroumlm bdquoContemporary Russian Messianism and New Russian Foreign Policyldquo in Contemporary Security Policy 35 (2014) 3 356ndash379

123 Russkaja doktrina Gosudarstvennaja ideologija ėpochi Putina Moskva 2016 124 Ebd 68ndash72 116ndash120 und passim

34 Michael Hagemeister

mit der Geschichte Russlands und seinen Lichtgestalten dem Heiligen Serafim von Sarov dem bdquoeschatologischen Fuumlhrer des russischen Volkes am Ende der Zeitenldquo der bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo und Stalin der dem paulinischen Kate-chon gleich die bdquoGesetzlosigkeitldquo (bezzakonie) bekaumlmpft und das bdquoFundament fuumlr eine groszlige Zukunftldquo gelegt habe125

bdquoKatechonldquo nennt sich auch ein prominent besetzter Think tank den der Oligarch und Berater Putins Konstantin Malofeev im Jahr 2015 gegruumlndet hat126 Der Milliardaumlr der sein Vermoumlgen mit einer Investmentfirma auf den Cayman Inseln gemacht hat bezeichnet sich selbst als bdquoorthodoxen Monarchistenldquo127 Er unterstuumltzt die Separatisten in der Ostukraine und unterhaumllt vielfaumlltige Verbindun-gen zu europaumlischen Rechtspopulisten wie dem Front National der FPOuml Syriza und der Lega Nord Neben dem Forum bdquoKatechonldquo betreibt Malofeev auch einen Fernsehsender mit dem programmatischen Namen bdquoZargradldquo128 (Motto bdquoDas Licht Christi erleuchtet alleldquo) dessen Chefkommentator niemand anderes ist als Aleksandr Dugin129

bdquoKatechonldquo und bdquoZargradldquo propagieren den Kampf gegen die westliche Moderne mit Bezug auf das byzantinische Erbe Russlands Im November 2014 fand in der Moskauer Manege eine Konferenz bdquoMoskau ndash das Dritte Romldquo statt130 An ihr nahmen auszliger Dugin und Malofeev auch Archimandrit Tichon und Nata-lrsquoja Naročnickaja teil eine hochrangige Diplomatin Mitglied des Izborsker Klubs und Leiterin des Pariser bdquoInstituts fuumlr Demokratie und Kooperationldquo das die oumlf-fentliche Meinung im Westen im Sinne des Kremls beeinflussen soll Tichons Film bdquoDie Lehre von Byzanzldquo sei so Naročnickaja auch eine Warnung an den Westen der seine christlichen Werte verraten habe weshalb er den glaubens-festen Migranten und ihrer Verachtung hilflos ausgeliefert sei131

Im Oktober 2009 wurde Tichons Film in Athen vor ausverkauftem Saal aufgefuumlhrt Unter denen die dem Drehbuchautor Beifall spendeten war der Philo-soph und Theologe Christos Yannaras einer der Hauptvertreter der Neoorthodo-xie und scharfer Kritiker des Westens Wie ihre russischen Gesinnungsgenossen

125 Ebd 130f 153 142ndash145 126 Mit einem Auftritt im Internet in 9 Sprachen Siehe die deutsche Version unter lthttp

katehoncomdewer-sind-wirgt 127 lthttpsdewikipediaorgwikiKonstantin_Walerjewitsch_Malofejewgt 128 Carrsquograd ist der altrussische Name fuumlr Konstantinopel 129 Auch Dugin unterhaumllt seit mehr als 25 Jahren Kontakte zu ultrakonservativen traditiona-

listischen und faschistischen Gesinnungsgenossen in Westeuropa Siehe Vladimir Ivanov Alexander Dugin und die rechtsextremen Netzwerke Fakten und Hypothesen zu den inter-nationalen Verflechtungen der russischen Neuen Rechten Stuttgart 2007

130 lthttpwwwpravoslavieru75070htmlgt 131 lthttpwwwpravoslavieru7414htmlgt ndash Fuumlr Metropolit Ilarion (Alfeev) der sich dabei

auf Dugin beruft verwandeln sich die Laumlnder Westeuropas bereits in die bdquoSphaumlre des Anti-christldquo lthttpwwwpatriarchiarudbtext3065216htmlgt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 35

verherrlichen auch die griechischen Neoorthodoxen die byzantinische Vergan-genheit und sehen in der modernen saumlkularen Gesellschaft eine Bedrohung ihrer kulturellen Identitaumlt132 Gemeinsam suchen sie der Globalisierung mit einer bdquoby-zantinischen Internationaleldquo als bdquoorthodoxer Oumlkumeneldquo entgegenzuwirken einer letztlich sakral verstandenen Gemeinschaft deren Einfluss indes weit uumlber die kirchliche Sphaumlre hinausreichen und eine transnationale Vereinigung der ortho-doxen Welt von Serbien uumlber Syrien bis Georgien und Armenien unter Fuumlhrung Moskaus schaffen soll133 Als wichtiger symbolischer Schritt auf diesem Weg wurde der Besuch von Praumlsident Putin und Patriarch Kirill des Heiligen Berges Athos einer traditionellen Hochburg antiwestlicher Opposition im Mai 2016 ge-feiert Das weltliche und das geistliche Oberhaupt Russlands ndash die bdquoSymphonia der Maumlchteldquo ndash zeigten damit so Aleksandr Dugin ihr Bekenntnis zu Byzanz und seiner Rolle als Katechon Damit anerkenne bdquounsere Rusrsquo ihre historische Bestim-mung Wir sind bereit fuumlr die Endzeitldquo134

132 Ausfuumlhrlich dazu Daniel P Payne The Revival of Political Hesychasm in Contemporary

Orthodox Thought The Political Hesychasm of John Romanides and Christos Yannaras Lanham [ua] 2011 Siehe auch Vasilios N Makrides bdquoByzantium in Contemporary Greece The Neo-Orthodox Current of Ideasldquo in David RicksPaul Magdalino (Hgg) Byzantium and the Modern Greek Identity Aldershot 1998 141ndash153 Zum griechischen Neobyzantismus unter russischem Einfluss Aleksey Kamenskikh bdquoThe Image of the Second Rome through the Prism of the Thirdrdquo in Teresa Obolevich [ua] (Hgg) Russian Thought in Europe Reception Polemics Development Krakoacutew 2013 13ndash22 ndash Antimo-derne und antiwestliche Stroumlmungen in den vom orthodoxen Christentum gepraumlgten Kultu-ren haben der Religionswissenschaftler Makrides und der Slavist Uffelmann vor einigen Jahren als Desiderat der Forschung benannt Vasilios N MakridesDirk Uffelmann bdquoStudying Eastern Orthodox Anti-Westernism The Need for a Comparative Research Agendaldquo in Jonathan SuttonWil van den Bercken (Hgg) Orthodox Christianity and Contemporary Europe Leuven [ua] 2003 87ndash120 Seitdem haben Makrides und die Politikwissenschaftlerin Stoumlckl eine Reihe einschlaumlgiger Arbeiten vorgelegt in denen or-thodoxe Alternativen zu westlichen philosophischen und politischen Konzepten untersucht werden Vasilios N Makrides bdquoOrthodoxes Cristentum und Moderne ndash Inkompatibilitaumlt oder langfristige Anpassungldquo in Una Sancta 2011 1 15ndash30 ders bdquoOumlstliches orthodo-xes Christentum und Saumlkularitaumlt Ein Vergleich mit dem lateinischen Christentumldquo in Transit 47 (2015) 59ndash75 Kristina Stoumlckl bdquoModernity and its Critique in Twentieth Cen-tury Russian Orthodox Thoughtldquo in Studies in East European Thought 58 (2006) 243ndash269 dies Community after Totalitarianism The Russian Orthodox Intellectual Tradition and the Philosophical Discourse of Political Modernity Frankfurt aM [ua] 2008

133 Dazu gehoumlrt auch die Verwirklichung des jahrhundertealten Traums der Wiedererrichtung des Kreuzes auf der Hagia Sophia Siehe Egor Cholmogorov Russkij proekt restavracija buduščego Moskva 2005 283 Der Verfasser Mitglied des Expertenteams des Izborsker Klubs ist Begruumlnder der Doktrin der bdquoAtomaren Orthodoxieldquo siehe Fn 74

134 Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Traditionldquo

ZUM AUTOR

Michael Hagemeister geb 1951 in EllwangenJagst Studium der Slavistik Ge-schichte Germanistik und Philosophie in Basel und MarburgLahn Promotion mit einer Arbeit uumlber den russischen Philosophen Nikolaj Fedorov Wissenschaft-licher Mitarbeiter am Slawischen Seminar in Marburg Gastprofessor am Seminar fuumlr Komparatistik der Universitaumlt Innsbruck Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lotman-Institut fuumlr russische und sowjetische Kultur der Ruhr-Universitaumlt Bo-chum am Lehrstuhl fuumlr Geschichte Osteuropas der Europa-Universitaumlt Viadrina Frankfurt (Oder) an den Historischen Seminaren der Universitaumlten Basel Duumlssel-dorf und Bochum Vertretung der Professuren fuumlr Geschichte Osteuropas an der Ludwig-Maximilians Universitaumlt Muumlnchen und an der Europa-Universitaumlt Frank-furt (Oder)

Forschungen zur russischen Philosophie und Geistesgeschichte zum utopischen und apokalyptischen Denken in Russland zum russischen Rechtsextremismus und Antisemitismus sowie insbesondere zu den Protokollen der Weisen von Zion und ihrem Herausgeber Sergej Nilus Publikationen ua Die Neue Menschheit Biopolitische Utopien in Russland (hg mit Boris Groys) Frankfurt aM 2005 The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimensions (hg mit Birgit Menzel und Bernice Rosenthal) Muumlnchen 2012 Die Fiktion von der juumldischen Weltver-schwoumlrung Zu Text und Kontext der bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo (hg mit Eva Horn) Goumlttingen 2012 Die bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo vor Gericht Der Berner Prozess und die bdquoantisemitische Internationaleldquo in der Zwischen-kriegszeit Chronik Dokumente und Kommentare Zuumlrich (im Druck)

ERFURTER VORTRAumlGE ZUR KULTURGESCHICHTE DES ORTHODOXEN CHRISTENTUMS Reihenherausgeber Vasilios N Makrides

Heft 1 Thomas Bremer Konfrontation statt Oumlkumene Zur kirchlichen Situation in der Ukraine Erfurt 2001

Heft 2 Gerhard Podskalsky Zur Hermeneutik des theologischen Ost-West-

Gespraumlchs in historischer Perspektive Erfurt 2002 Heft 3 Karl Christian Felmy Warum und zu welchem Behufe treiben wir

Ostkirchenkunde Erfurt 2003 Heft 4 Wassilios Klein bdquoTatarenjoch ndash татарское игоldquo Beobachtungen zur

Wahrnehmung des Islam im eurasischen Raum Erfurt 2005 Heft 5 Stamatios D Gerogiorgakis Zeitphilosophie im Mittelalter Byzantinische

und lateinische Vorstellungen Erfurt 2006 Heft 6 Heinz Ohme Das Oumlkumenische Patriarchat von Konstantinopel und die

tuumlrkische Religionspolitik Erfurt 2007 Heft 7 Alexander Agadjanian Russian Orthodox Vision of Human Rights Recent

Documents and Their Significance Erfurt 2008 Heft 8 Christos Yannaras Wem gehoumlrt die griechische Antike Erfurt 2009 Heft 9 Joachim Willems Religions- und Ethikunterricht in Russland ndash Was

wollen Staat und Kirche Zur Einfuumlhrung des neuen Schulfaches bdquoGrundlagen der religioumlsen Kulturen und der weltlichen Ethikldquo Erfurt 2010

Heft 10 Chris Hann Eastern Christianity and Western Social Theory Erfurt 2011 Heft 11 Jennifer Wasmuth Akademische Theologie im zaristischen Russland in

ihrer Bedeutung fuumlr die neuere orthodoxe Theologie Erfurt 2012 Heft 12 Anna Briskina-Muumlller Auf der Suche nach der bdquoHesychialdquo Paisij

Veličkovskij (1722ndash1794) und sein Leben fuumlr die bdquoPhilokalieldquo Erfurt 2014

Heft 13 Vladimir Cvetković From ldquoMerciful Angelrdquo to ldquoFortress Europerdquo The

Perception of Europe and the West in Contemporary Serbian Orthodoxy Erfurt 2015

Heft 14 Stefan G Reichelt Lebenslinien Nikolaj A Berdjaev (1874ndash1948) und Sergij N Bulgakov (1871ndash1944) im Westen ndash Eine Wuumlrdigung Erfurt 2015

Heft 15 Michael Hagemeister Der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo ndash bdquoNeobyzantismusldquo

und bdquopolitischer Hesychasmusldquo im postsowjetischen Russland Erfurt 2016

Alle Hefte der vorliegenden Schriftenreihe koumlnnen unter folgendem Link kostenlos heruntergeladen werden URL httpswwwuni-erfurtdereligionswissenschaftprofessur-orthodoxes-christentumveroeffentlichungenerfurter-vortraege-zur-kulturgeschichte-des-orthodoxen-christentums

Page 4: Michael Hagemeister FINAL - uni-erfurt.de · doziert Tichon, während er das antike Kons tantinopel computeranimiert auferste- hen lässt. Das prosperierende Impe rium erregte freilich

Thema der religioumls-kulturellen Entwicklungen im postsowjetischen Russland auf und liefert ein Panorama der wichtigsten Richtungen und Stroumlmungen die ohnehin dem westlichen Publikum wenig wenn uumlberhaupt bekannt sind Unter anderem wird auf Folgendes eingegangen russisch-orthodoxe historiosophische Deutungen der byzantinischen Geschichte und deren imperialen Erbes (das Phauml-nomen des bdquoNeobyzantismusldquo dh eines dem europaumlischen entgegengesetzten Kulturtypus der auf den Prinzipien von Orthodoxie und Selbstherrschaft beruht) Neuinterpretationen der orthodoxen hesychastisch-palamitischen Tradition aus dem spaumlten Byzanz zugunsten eines bdquopolitischen Hesychasmusldquo der mit einer besonderen sozialen Praumlsenz und Wirkung der Orthodoxie verbunden ist und eschatologisch-apokalyptische Visionen und Szenarien uumlber die ausschlaggeben-de Rolle Russlands in Weltgeschichte und Geopolitik Solche Ideen werden zu-dem mit klassischen Aspekten der russischen Religions- und Kulturgeschichte verbunden wie zum Beispiel mit der Eurasischen Ideologie mit der Idee Moskaus als dem bdquoDritten Romldquo oder mit ausgewaumlhlten religionsphilosophischen Theorie-ansaumltzen Obwohl solche Entwuumlrfe von Individuen oder aus bestimmten privaten Initiativen und Kreisen stammen werden sie teilweise von der offiziellen Russi-schen Kirche oder der Politik nicht nur nicht ignoriert sondern in manchen Faumlllen sogar unterstuumltzt Generell geht es um das Thema der vielen und einzigartigen religioumls-kulturellen Identitaumltsmerkmale Russlands die laut Staat und Kirche um jeden Preis im heutigen globalen Kontext aufrechterhalten werden sollen und die von den entsprechenden westlichen grundlegend verschieden sind Insofern bietet dieser Text eine absolut notwendige Informationsgrundlage zum besseren Ver-staumlndnis des gegenwaumlrtigen russisch-orthodoxen Religions- und Kulturraumes dessen Einfluss sich in vielen Faumlllen in der orthodoxen Welt allgemein bemerkbar macht

Der dieser Publikation zugrunde liegende Vortrag wurde am 26 Januar 2013 an der Universitaumlt Erfurt im Rahmen des Graduiertenkolloquiums zur Kulturge-schichte des Orthodoxen Christentums gehalten Mein wissenschaftlicher Mitar-beiter Dr Sebastian Rimestad hat die Bearbeitung und Formatierung des Vor-tragstextes zur Aufnahme in die vorliegende Vortragsreihe uumlbernommen Meine Sekretaumlrin Annett Psurek hat das Zustandekommen des Heftes organisatorisch begleitet Ihnen danke ich dafuumlr vielmals

Erfurt im Dezember 2016

Vasilios N Makrides

Der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo ndash bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo im postsowjetischen Russland

Michael Hagemeister

bdquoDie Geschichte ist das Rohmaterial fuumlr nationalistische ethnische oder fundamentalistische Ideologien ndash

wie Mohn der Rohstoff fuumlr Heroinabhaumlngigkeit istldquo Eric Hobsbawm1

bdquoDie Lehre von Byzanzldquo

Am 30 Januar 2008 zeigte der staatliche russische Fernsehsender bdquoRossijaldquo den Dokumentarfilm bdquoUntergang eines Imperiums Die Lehre von Byzanzldquo (Gibelrsquo imperii Vizantijskij urok) Der Film der noch mehrmals wiederholt wurde und zu dem auch ein reich bebildertes Buch erschien2 loumlste eine heftige kontrovers gefuumlhrte Diskussion aus Waumlhrend russische Patrioten dem Streifen geschichtli-che Aufklaumlrung attestierten und ihn zugleich als Parabel und aktuelle Warnung priesen verrissen Kritiker ihn als historische bdquoMaumlrchenstundeldquo und bdquoSchaustuumlck der Kreml-Propagandaldquo und forderten sogar sein Verbot3 Inzwischen wurde der Film in vier Sprachen synchronisiert und mehrfach preisgekroumlnt4

Gibelrsquo imperii Filmplakat lthttpsstkpyandexnetimagesfilm_big439949jpggt

1 Eric Hobsbawm bdquoDie Erfindung der Vergangenheitldquo in Die Zeit 9 September 1994

lthttpwww zeitde199437die-erfindung-der-vergangenheitgt Alle Webseiten wurden zuletzt am 3 Oktober 2016 aufgerufen

2 Archimandrit Tichon (Ševkunov) Gibelrsquo imperii Vizantijskij urok Scenarij filrsquoma Moskva 2008

3 Kerstin Holm bdquoLasst uns ein neues Byzanz errichtenldquo in Frankfurter Allgemeine Zeitung 44 21 Februar 2008 42

4 Siehe die offizielle Website des Films lthttpvizantiainfogt

6 Michael Hagemeister

Das Drehbuch stammt von Archimandrit Tichon (Georgij Ševkunov) dem Vorsteher des Sretenskij Klosters auf der Lubjanka in Moskau das als Hort des religioumlsen Fundamentalismus und einer bdquoorthodoxen Machtstaatsideologieldquo (pra-voslavnaja deržavnostrsquo) gilt5 Tichon der vor seiner Priesterweihe ein Studium am Moskauer Gerasimov-Filminstitut absolviert hatte ist einer der bekanntesten Geistlichen im heutigen Russland Medienstar Filmemacher und Bestsellerautor Sein Buch bdquosbquoUnheilige Heiligelsquo und andere Erzaumlhlungenldquo eine autobiographisch grundierte Sammlung moderner Hagiographien und Wunderberichte erreichte in Russland eine Millionenauflage und wurde in mehr als zehn Sprachen uumlbersetzt Tichon preist darin bedingungslosen Gehorsam und Schicksalsergebenheit und bietet damit bdquoeine ideale Grundlage fuumlr eine autoritaumlre Gesellschaftsordnung wie sie sich im letzten Jahrzehnt in Russland herausgebildet hatldquo6 Tichon ist Mitglied des Obersten Kirchenrates der Russischen Orthodoxen Kirche des Praumlsidialrates fuumlr Kultur und Kunst und des nationalpatriotischen Izborsker Klubs7 sowie geistli-cher Begleiter und Beichtvater (duchovnik) von Vladimir Putin8 Bereits lange vor seiner Weihe zum Bischof im Jahr 2015 galt Tichon als ultrakonservativ Er ge-houmlrte zu den Initiatoren der Kampagne gegen die Einfuumlhrung der persoumlnlichen Steuernummer die er als Zahl des apokalyptischen Tieres deutete9 er warnte vor der Macht der Daumlmonen und dem Antichrist als dem falschen Messias der Juden und beschwor die drohende Gefahr eines bdquomystischen okkulten Genozidsldquo an

5 Nikolaj Mitrochin Russkaja pravoslavnaja cerkovrsquo sovremennoe sostojanie i aktualrsquonye

problemy Moskva 2006 210f Irina Papkova The Orthodox Church and Russian Politics New York 2011 47ndash53 219f

6 Ulrich Schmid Technologien der Seele Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur Frankfurt aM 2015 197

7 Zu den Mitgliedern des 2012 von dem Schriftsteller und Initiator eines mystisch-religioumlsen Stalin-Kultes Aleksandr Prochanov (siehe auch Fn 45) gegruumlndeten Klubs gehoumlren neben Tichon auch der Antisemit Holocaust-Leugner und Verschwoumlrungstheoretiker Oleg Plato-nov sowie der Neofaschist und bdquoEurasierldquo Aleksandr Dugin (zu ihm ausfuumlhrlicher unten) Siehe Roland Goumltz bdquoDie andere Welt Im Izborsker Klub Russlands antiwestliche Intel-ligencijaldquo in Osteuropa 65 (2015) 3 109ndash138 Marlene Laruelle bdquoThe Izborsky Club or the New Conservative Avant-Garde in Russialdquo in The Russian Review 75 (2016) 626ndash644 Siehe auch die Website lthttpwwwizborsk-clubrugt

8 lthttpsruwikipediaorgwikiТихон_(Шевкунов)gt 9 Papkova The Orthodox Church 124 Alexander Verkhovsky bdquoThe Orthodox in the Rus-

sian Ultranationalist Movementsldquo in Occasional Papers on Religion in Eastern Europe 22 (2002) 3 18ndash36

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 7

Russlands rechtglaumlubigen Christen10 Auch forderte er die Behandlung der bibli-schen Schoumlpfungslehre im Unterricht um das bdquoMonopol des Darwinismusldquo zu brechen11

Der Film bdquoUntergang eines Imperiumsldquo schildert die Geschichte des Ostroumlmischen Reiches von einer vage datierten Bluumltezeit bis zur Eroberung Kon-stantinopels durch die Osmanen im Jahr 1453 Der Drehbuchautor selbst tritt als Kommentator auf der durch die Szenen fuumlhrt und das Gezeigte deutet Dem Film zufolge bluumlhte Byzanz als geistiges kulturelles und politisches Zentrum der Welt waumlhrend sich der Westen sein bdquoHinterhofldquo bdquoim Zustand tiefster Barbareildquo12 be-fand und seine Bewohner bdquogrobe und ungehobelte Skandinavier Germanen Franken und Angelsachsenldquo13 als primitive Raumluberbanden umherzogen Kaiser Justinian schuf hier den ersten Rechtsstaat hier wurde die erste Universitaumlt ge-gruumlndet und hier entstand das bdquostabilste Finanzsystem in der Geschichte der Menschheitldquo14 Byzantinische Ingenieurkunst und Architektur waren beispiellos doziert Tichon waumlhrend er das antike Konstantinopel computeranimiert auferste-hen laumlsst

Das prosperierende Imperium erregte freilich den Neid und die Habgier des Westens 1204 zogen die Kreuzritter bdquotreubruumlchigldquo gegen Konstantinopel erober-ten und pluumlnderten die Stadt und eroumlffneten dem Westen Zugang zu deren bdquounermesslichen Reichtuumlmernldquo Die geraubten und nach Italien verschleppten Kunstwerke und Goldschaumltze ermoumlglichten dann das Kulturwunder der Renais-sance erschufen aber auch das bdquoMonster des wucherischen Bankensystems der heutigen Weltldquo und damit den modernen Kapitalismus bdquomit seiner unbaumlndigen Profitgierldquo die so Tichon bdquoim Grunde genommen nur den Furor bei den Kriegs-zuumlgen genetisch fortsetztldquo15 bdquoWie Pilze nach dem Regen schossen damals die ersten europaumlischen Banken emporldquo und die kleine Stadt Venedig wurde bdquodas New York des 13 Jahrhundertsldquo16 bdquoDurch Spekulation mit den heiligen Reliqui-en aus Konstantinopelldquo entstanden auch bdquodie ersten groszligen juumldischen Kapital-vermoumlgenldquo17 ndash an dieser Stelle erscheint im Film das beruumlhmte flaumlmische Gemaumll-de bdquoDie Steuereintreiberldquo deren Fratzen die Goldgier der juumldischen Bankiers und

10 Ieromonach Tichon (Ševkunov) bdquoNevidimaja branrsquoldquo in Literaturnaja Rossija 20 (21

Mai 1993) 6f Auch lthttpwwwlibrarypravpiterrubook_327htmgt Tichon wusste wovon er sprach hatte er doch als Student selbst an spiritistischen Seacuteancen teilgenommen Archimandrit Tichon (Ševkunov) bdquoNesvjatye svjatyeldquo i drugie rasskazy Moskva 122015 12ndash17

11 Michael Zimmerman bdquoRussian Creationism Sounds Frighteningly Familiarldquo in The Huffington Post 14 Juni 2010 lthttpwwwhuffingtonpostcommichael-zimmerman russian-creationism-sound_b_610266htmlgt

12 Tichon (Ševkunov) Gibelrsquo imperii 10 13 Ebd 14 Ebd 8 15 Ebd 11f 16 Ebd 12 17 Ebd Vgl auch 79

8 Michael Hagemeister

Wucherer illustrieren sollen bdquoDer barbarische Westen wurde erst dann zum zivi-lisierten Westen als er das byzantinische Imperium erobert gepluumlndert zerstoumlrt und absorbiert hatteldquo18

Waumlhrend der materialistische Westen sich an den Reichtuumlmern Konstanti-nopels guumltlich tat erkannten die Russen worin der groumlszligte Schatz von Byzanz bestand bdquoDas waren weder Gold noch Edelsteine nicht einmal Wissenschaft und Kunst Der groumlszligte Schatz von Byzanz war Gott [hellip] Und auf diesen Schatz gruumlndeten unsere groszligen Vorfahren nicht Banken oder Kapital nicht einmal Mu-seen oder Lombardsaumltze Sie gruumlndeten die Rusʼ Russland die geistige Erbin von Byzanzldquo19

Das multinationale Ostroumlmische Reich das sich zwischen Europa und Asi-en erstreckte bildete so die Lehre des Films eine hierarchisch gegliederte organi-sche Einheit gegruumlndet auf die Orthodoxie und die Loyalitaumlt gegenuumlber dem Kaiser als dem Verteidiger des wahren Glaubens Ein bdquosolch demonstrativer Kon-servatismusldquo aber war dem Westen bdquowo schon damals Individualismus und pri-vate Willkuumlr zum geheiligten Prinzip erhoben wurdenldquo ganz fremd und uner-traumlglich weshalb er bdquomit erbittertem Fanatismusldquo forderte bdquoByzanz solle sein ge-samtes Leben nach westlichem Muster modernisieren ndash in erster Linie die reli-gioumlse und geistige Sphaumlre dann aber auch die intellektuelle und materielle Kultur Was die Einzigartigkeit und Besonderheit von Byzanz angeht so lautete der Ur-teilsspruch des Westens [hellip] muss all dies vernichtet werden falls noumltig gemein-sam mit Byzanz und dessen geistigen Erbenldquo20 In Byzanz selbst entstand eine prowestliche Partei Dieser bdquoinnere Feindldquo wurde von den europaumlischen Regie-rungen zunaumlchst heimlich dann aber immer offener unterstuumltzt und gewann all-maumlhlich die Oberhand uumlber die bdquoimperialen Traditionalistenldquo Weitreichende Re-formen der byzantinischen bdquoWestlerldquo schwaumlchten den Staat untergruben den Glauben und zerstoumlrten schlieszliglich das Imperium Der Hauptgrund fuumlr den Unter-gang von Byzanz sei so Tichon die bdquogeistige Zersetzungldquo seiner Elite gewesen die vom Westen verfuumlhrt die Orthodoxie in der Florentiner Union an den roumlmi-schen Papst verraten habe21

Immer wieder zieht der Film kaum verhuumlllte oder direkte Analogien zum postsowjetischen Russland und dessen Verhaumlltnis zum Westen So haumltten die Ve-nezianer die Eroberung der ostroumlmischen Hauptstadt mit der Verteidigung der bdquoRechte auf den freien internationalen Marktldquo begruumlndet und behauptet einen ge-rechten Kampf gegen ein Regime zu fuumlhren das sich bdquogesamteuropaumlischen Wer-tenldquo verweigere und somit ein bdquoReich des Boumlsenldquo sei22 Als weitere Ursache fuumlr den Niedergang wurden korrupte Beamte eigenmaumlchtige Provinzgouverneure und staatsschaumldigende Oligarchen ausgemacht Ihnen habe sich Kaiser Basileios

18 Ebd 19 Ebd 13f 20 Ebd 44ndash46 21 Ebd 54f 22 Ebd 20f

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 9

II widersetzt indem er bdquomit harter Hand die Vertikale der Macht wieder herstell-teldquo Basileios II bdquozerschlug die separatistische Bewegung in den Randgebieten unterdruumlckte die aufruumlhrerischen Gouverneure und Oligarchen die sich anschick-ten das Imperium aufzuteilen Dann fuumlhrte er eine sbquoSaumluberunglsquo in der Regierung durch und konfiszierte fuumlr die Staatskasse groszlige Summen geraubten Geldesldquo23 Seinem Nachfolger hinterlieszlig er einen riesigen bdquoStabilisierungsfondsldquo24

Es liegt auf der Hand ndash und Tichon deutete es in einem Interview selbst an ndash25 dass mit der bdquoVertikale der Machtldquo die Putinsche Politik der Staumlrkung der Zentralgewalt gemeint ist Die bdquoseparatistische Bewegungldquo laumlsst sich auf Tsche-tschenien und die Ukraine beziehen und jene bdquoOligarchenldquo die nicht nur Reich-tum sondern auch politische Macht erstrebten oder vom feindlichen Ausland aus ihre Wuumlhlarbeit betrieben26 heiszligen heute Berezovskij Abramovič und Chodor-kovskij Und sogar der aktuelle Brain-Drain wird thematisiert wenn es heiszligt bdquoDie reiche Jugend von Byzanz lernte nicht mehr im eigenen Land sondern ging zur Ausbildung ins Ausland Die besten Koumlpfe der einheimischen Wissenschaft emi-grierten in den Westenldquo27

Die bis heute guumlltige bdquoLehre von Byzanzldquo und damit die Botschaft des Films bestehen jedoch in der Erkenntnis des ewigen Hasses den der wesens-fremde Westen gegen die orthodoxe Welt hege Mit den Worten Tichons bdquoDer racheluumlsterne Hass des Westens auf Byzanz und dessen Nachfolger den nicht einmal sie selbst ganz und gar verstehen setzt sich auf einer tieferen genetischen Ebene so paradox es auch klingen mag bis heute fort Falls wir diesen verbluumlffen-den doch unbestreitbaren Tatbestand nicht verstehen laufen wir Gefahr nicht nur in der weit zuruumlckliegenden Vergangenheit sondern auch in der Geschichte des 20 und sogar des 21 Jahrhunderts vieles nicht zu begreifenldquo28

Sowohl die Kritiker als auch die Bewunderer des Films haben denn auch erkannt dass es Tichon nicht um das historische Byzanz sondern um das heutige Russland geht ndash vom hegemonialen Westen bedroht von inneren Schwaumlchen wie Egoismus Zynismus und Korruption Genusssucht und Geburtenruumlckgang ge-zeichnet29 Der Film so Roman Lunkin sei eine bdquohistoriosophische Skizzeldquo und

23 Ebd 25 24 Ebd 27 25 Ebd 121 26 Ebd 31 27 Ebd 50 28 Ebd 64f ndash Dies so Tichon habe auch Stalin erkannt als er 1943 die bis dahin verfemte

Byzantinistik per Dekret wieder eingefuumlhrt habe Der bdquoehemalige Seminarist Džugašvilildquo habe bdquodamals endlich begriffen bei wem man die Geschichte studierenldquo muumlsse Ebd 65

29 Der Film so der renommierte Byzantinist Sergej Ivanov sei bdquoreine Fiktion voller kruder faktischer Fehler und krasser Verzerrungenldquo und bdquoerfuumlllt von giftigem Hass auf den Wes-tenldquo Sergey A Ivanov bdquoThe Second Rome as Seen by the Third Russian Debates on sbquoThe Byzantine Legacylsquoldquo in Przemysław MarciniakDion C Smythe (Hgg) The Reception of Byzantium in European Culture Since 1500 Farnham Burlington 2016 55ndash79 hier 72 [dt bdquoDas Zweite Rom aus der Sicht des Dritten Russische Debatten uumlber das sbquobyzan-tinische Erbelsquoldquo in Transit 46 (20142015) 157ndash173 hier 171] Siehe auch ders bdquoVtoroj

10 Michael Hagemeister

sein Autor eine Art bdquomoderner Moumlnch Filofejldquo der die Idee vom Dritten Rom propagiere30 Lunkin gab damit zwei Stichworte die im Folgenden naumlher betrach-tet werden sollen Historiosophie dh die geschichtsmetaphysische Deutung bzw Instrumentalisierung historischer Ereignisse und die Formel von MoskauRuss-land als dem Dritten Rom

Historiosophie Die heilsgeschichtliche Mission Russlands

Unter den Schlagwoumlrtern bdquoHistoriosophieldquo (istoriosofija) und bdquoMetahistorieldquo (metaistorija) erfreuen sich im postsowjetischen Russland Versuche groszliger Be-liebtheit Ziel und Sinn des weltgeschichtlichen Prozesses und die ihn gestalten-den Kraumlfte spekulativ zu bestimmen und ndash als aufbauende oder zerstoumlrende heil-volle oder unheilvolle Faktoren ndash zu bewerten31 Dabei werden Traditionen der russischen Geschichtsmetaphysik und Geschichtstheologie des 19 und 20 Jahr-hunderts aufgegriffen die die irdische Geschichte als Vollzug eines goumlttlichen Heilsplans deuten der den Glaumlubigen in seinem Anfang und Ende sowie den we-sentlichen Etappen geoffenbart worden sei Das providentielle teacutelos der Geschich-te das Ende und zugleich sinngebende Ziel enthuumlllen apokalyptische Texte So beschreibt die Offenbarung des Johannes die Geschehnisse am Ende der Zeit den Kampf zwischen den Maumlchten des Lichts und der Finsternis die Taumluschung und Verfuumlhrung durch den oder die Repraumlsentanten des Boumlsen die Entscheidungs-schlacht und das Juumlngste Gericht den Untergang der alten durch Konflikte zerrissenen Welt und den Beginn einer neuen vollkommenen und zeitlosen Welt Unverkennbar ist auch der Einfluss der dualistisch-deterministischen Geschichts-konzeption der Sowjetideologie (Geschichte als Einsicht in die bdquoobjektiven Ent-wicklungsgesetze der Gesellschaftldquo) kennt doch auch die Eschatologie und Daumlmonologie des historischen Materialismus den auf ein Endziel (bdquoReich der

Rim glazami Tretrsquoego Ėvoljucija obraza Vizantii v rossijskom obščestvennom soznaniildquo lthttppolitruarticle20090414vizantgt

30 lthttpwwwportal-credorusiteact=freshampid=719gt 31 Vgl Michael Hagemeister bdquoDas Dritte Rom gegen den Dritten Tempel ndash Der Antichrist

im postsowjetischen Russlandldquo in Mariano DelgadoVolker Leppin (Hgg) Der Anti-christ Historische und systematische Zugaumlnge FribourgStuttgart 2011 461ndash485 ndash Der Begriff bdquoHistoriosophieldquo geht auf August Cieszkowski (1814ndash1894) zuruumlck einen der Be-gruumlnder des polnischen Messianismus der in seinen Prolegomena zur Historiosophie (Ber-lin 1838) eine aktive Geschichtsteleologie entwarf Mit dem Begriff bdquoMetahistorieldquo be-zeichnete Sergej Bulgakov (1871ndash1944) bdquoden Gegenstand der Apokalypseldquo naumlmlich bdquodie noumenale Seite jenes universellen Prozesses dessen andere Seite sich uns als Geschichte zeigtldquo Sergej Bulgakov bdquoApokaliptika i socializmldquo in ders Dva grada Bd 2 Moskva 1911 51ndash127 hier 103 Zur Neuentdeckung und Aufwertung des in der Sowjetunion tabuisierten Begriffs bdquoHistoriosophieldquo im postsowjetischen Russland siehe Jutta Scherrer Kulturologie Ruszligland auf der Suche nach einer zivilisatorischen Identitaumlt Goumlttingen 2003 bes 91ndash126

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 11

Freiheitldquo) ausgerichteten Verlauf der Geschichte deren bdquoinnre verborgne Ge-setzeldquo und bdquotreibende Maumlchteldquo (Friedrich Engels) sich nur einem fortschrittlichen Bewusstsein zu erkennen geben

Zu den klassischen Werken bdquohistoriosophischerldquo Geschichtsdeutung die immer wieder aufgelegt werden gehoumlren Vladimir Solovrsquoevs (1853ndash1900) bdquoKur-ze Erzaumlhlung vom Antichristldquo (Kratkaja povestrsquo ob antichriste 1900) eine bdquophi-losophische Dichtungldquo die vielfach nicht als literarische Fiktion sondern als kon-krete Prophetie rezipiert und auf die Gegenwart und nahe Zukunft bezogen wird32 sowie insbesondere die manichaumlischen Geschichtskonzeptionen der religioumlsen Philosophen Pavel Florenskij (1882ndash1937) und Aleksej Losev (1893ndash1988) die gepraumlgt sind von der Vorstellung eines permanenten und allumfassenden in sei-nem Ausgang freilich entschiedenen Kampfes zwischen Logos und Chaos Chris-tus und dem Antichrist und dessen irdischem Agenten dem Judentum

In dieser bdquohistoriosophischenldquo oder bdquometahistorischenldquo Sicht erscheint die Geschichte Russlands als Feld auf dem eine bdquounsichtbare Schlachtldquo (nezrimaja bitva) lichtvoller und finsterer Maumlchte tobt Dabei wird das historische Geschehen in Analogie zur Passion Christi als Leidens- oder Kreuzweg (krestnyj putrsquo) aufge-fasst33 als Kreuzigung (raspjatie) durch die Maumlchte des Antichristentums und als Opfertod (požertvovanie) ein Ereignis das in der Regel mit der Epoche der bdquojuuml-disch-bolschewistischenldquo Sowjetherrschaft identifiziert wird34 Noch befinde sich Russland so die Adepten jener bdquosakralen Metahistorieldquo in einer Phase der Pruuml-fung auf dem Weg zum Ziel der Heilsgeschichte noch liege Russland ohnmaumlchtig im Grab doch werde schon bald seine wunderbare Auferstehung (voskresenie) erfolgen35 In der dann anbrechenden Bluumltephase dem letzten Zeitalter der Welt-geschichte vor dem Juumlngsten Gericht werde das wiedergeborene Russland unter der Herrschaft eines Endzeitkaisers die Menschheit von der Macht des Boumlsen be-freien Russland bringt sich also selbst zum Opfer um am Ende zu triumphieren

32 Siehe Michael Hagemeister bdquoTrilogie der Apokalypse ndash Vladimir Solovrsquoev Serafim von

Sarov und Sergej Nilus uumlber das Kommen des Antichrist und das Ende der Weltgeschich-teldquo in Wolfram BrandesFelicitas Schmieder (Hgg) Antichrist Konstruktionen von Feindbildern Berlin 2010 255ndash275 hier 261

33 Als Stationen an bdquoRusslands Kreuzwegldquo werden zumeist genannt das bdquoTatarenjochldquo als Russland die Feinde der Christenheit auf sich lenkte und durch sein Opfer die Zivilisation des Abendlandes vor dem Untergang rettete (worauf schon Aleksandr Puškin in seinem beruumlhmten Brief vom 19 Oktober 1836 an Petr Čaadaev einen Kritiker des russischen Byzantinismus hinwies) sodann der Einfall der bdquoLateinerldquo zu Beginn des 17 Jahrhun-derts die bdquolaumlsterlichenldquo Reformen des bdquoWestlersldquo Peter I (fuumlr viele der Antichrist) und schlieszliglich die bdquoKatastrophe des Jahres 1917ldquo

34 Siehe Vadim Rossman Russian Intellectual Antisemitism in the Post-Communist Era LincolnLondon 2002 223ndash225

35 Siehe Vardan Bagdasarian bdquoApokalipsis ndash segodnja ėschatologičeskie poiski v sovremen-noj Rossiildquo in Dmitrij Andreev [ua] (Hgg) Ėschatologičeskij sbornik Sankt-Peterburg 2006 435ndash453 hier 436f

12 Michael Hagemeister

Moskau ndash Drittes Rom und Katechon

Die Auffassung von Russlands entscheidender Rolle im Drama der Heilsge-schichte wird begruumlndet mit der Doktrin von Moskau als dem Dritten Rom wie sie aus der beruumlhmten eschatologischen Formel des Pskover Moumlnchs Filofej aus der ersten Haumllfte des 16 Jahrhunderts abgeleitet worden ist bdquoAlle christlichen Zartuumlmer haben sich ihrem Ende zugeneigt und sind gemaumlszlig den prophetischen Buumlchern eingegangen in das eine Zartum unseres Herrschers das heiszligt ins russi-sche Zartum Denn zwei Rome sind gefallen und das dritte steht Ein viertes aber wird es nicht gebenldquo36

Nach der Apostasie der Lateiner (dem Schisma von 1054) und dem bdquoVer-ratldquo Konstantinopels (durch die Florentiner Union 1439) dem als Strafe Gottes der Untergang des Byzantinischen Reichs (1453) folgte wird Russland zum drit-ten und ndash der goumlttlichen Trinitaumlt entsprechend ndash letzten Hort der Rechtglaumlubig-keit37 Dessen Ende wird auch das Ende der Geschichte sein mit dem Auftreten des Antichrist des falschen Messias der Juden der durch Taumluschung und Verfuumlh-rung die Parusie des wahren Messias gleichzeitig verbergen und ankuumlndigen soll Bis dahin aber sind das Heilige Russland und seine Herrscher von Gott erwaumlhlt und berufen den Widersacher Christi abzuwehren und das Ende aufzuhalten Nach der sogenannten Substitutionslehre sind die Erwaumlhlung und der messiani-sche Sendungsauftrag Israels nach dessen bdquoVerratldquo auf die Heilige Rusrsquo und das

36 bdquoMoskau ndash das Dritte Romldquo Das Sendschreiben des Filofej von Pskov in Peter Haupt-

mannGerd Stricker (Hgg) Die Orthodoxe Kirche in Ruszligland Dokumente ihrer Geschich-te 960ndash1980 Goumlttingen 1980 253 Bis zur ersten Publikation von Filofejs Sendschreiben in den 1860er Jahren war dieses Konzept freilich kaum bekannt Zu seinen vielfaumlltigen und bisweilen kontraumlren Deutungen siehe Nina Sinicyna Tretij Rim Istoki i ėvoljucija russkoj srednevekovoj koncepcii (XVndashXVI vv) Moskva 1998 zur Wirkungsgeschichte bis in die postsowjetische Gegenwart siehe Peter J S Duncan Russian Messianism Third Rome Revolution Communism and After LondonNew York 2000 Vgl auch Marshall Poe bdquoMoscow the Third Rome The Origins and Transformations of a sbquoPitoval Momentlsquoldquo in Jahrbuumlcher fuumlr Geschichte Osteuropas 49 (2001) 3 412ndash429 Frank Kaumlmpfer bdquoDie Lehre vom Dritten Rom ndash pitoval moment historiographische Folkloreldquo ebd 430ndash441 Fran-ziska Thun-Hohenstein bdquosbquoMoskau ndash Drittes Romlsquo Nachklaumlnge einer alten Denkfigur in der russischen Kultur des 20 Jahrhundertsldquo in Daniel Weidner (Hg) Figuren des Euro-paumlischen Kulturgeschichtliche Perspektiven Muumlnchen 2006 78ndash97 Sergej Magaril Mi-fologija bdquosbquoTretrsquoego Rimalsquo v rossijskom obrazovannom soobščestveldquo in Ėmilrsquo A Pain (Hg) Ideologija bdquoosobogo putildquo v Rossii i Germanii istoki soderžanie posledstvija Moskva 2010 127ndash156 Anna Briskina-Muumlller bdquoDas neue sbquoneue Romlsquo eine byzantinische Idee auf russischem Bodenldquo in Reinhard FlogausJennifer Wasmuth (Hgg) Orthodoxie im Dialog Historische und aktuelle Perspektiven Berlin [ua] 2015 311ndash336

37 Filofej sprach was oft uumlbersehen wird nicht von Moskau als dem Dritten Rom diese For-mel taucht erst im 17 Jahrhundert auf Auch wird aus dem bdquorhomaumlischen (Romejskoe) Zartumldquo bei Filofej erst spaumlter das bdquorussische (Rosejskoe) Zartumldquo Siehe Sinicyna Tretij Rim 244 324ndash328 ndash Die Vorstellung der Stadt Moskau als dem Dritten Rom treibt inzwi-schen seltsame Bluumlten So glaubt der vielfach ausgezeichnete Kulturologe Rustam Rach-matullin in seinem Bestseller Dve Moskvy ili metafizika stolicy (2008) eine bdquosakrale Identitaumltldquo zwischen Moskau Rom und Jerusalem nachweisen zu koumlnnen

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 13

russische bdquoGottestraumlgervolkldquo (narod-Bogonosec) uumlbergegangen die Orthodoxe Kirche wurde zum bdquoNeuen Israelldquo ihre heiligen Staumltten zum bdquoNeuen Jerusa-lemldquo38 Wenn Paulus davon spricht dass am Ende bdquoganz Israel errettetldquo werde (Roumlm 11 26) so sei damit die Kirche Jesu Christi gemeint zu der die Juden sich bekehren muumlssten39

bdquoMoskau ndash Drittes Romldquo Ikone (2011) Maler unbekannt lthttpwwwruniversrugalgallery-allphpSECTION_ID=7641ampELEMENT_ID=462777gt

Russlands Herrscher fungiert mithin als Katechon als jene hemmende aufhalten-de Macht von der im zweiten Brief des (Pseudo-)Paulus an die Thessalonicher die Rede ist

38 Siehe zB Michail Nazarov Voždju Tretrsquoego Rima K poznaniju russkoj idei v apokalipsi-

českoe vremja Moskva 2005 933f 945 ndash Fuumlr die Anhaumlnger der angloamerikanischen bdquoChristian Identityldquo sind hingegen die bdquoArierldquo bdquoGottes auserwaumlhltes Volkldquo und die Verei-nigten Staaten das bdquoNEW JerUSAlemldquo Martin Durham White Rage The Extreme-Right and American Politics London 2007 67

39 Eine fruumlhe heute wieder viel zitierte wertende Entgegensetzung von Judentum und (russi-schem) Christentum findet sich bereits in der um die Mitte des 11 Jahrhunderts verfassten bdquoRede uumlber das Gesetz und die Gnadeldquo (Slovo o zakone i blagodati) des Metropoliten Ila-rion

14 Michael Hagemeister

Zuerst muss der Abfall von Gott kommen und der Mensch der Gesetzlosigkeit offenbart werden der Sohn des Verderbens der Widersacher der sich erhebt uumlber alles was Gott heiszligt oder Heiligtum so dass er sich sogar in den Tempel Gottes setzt und sich fuumlr Gott ausgibt [] Denn das Geheimnis der Gesetzlosigkeit [τὸ μυστήριον τῆς ἀνομίας]40 ist schon wirksam nur muss erst der beseitigt werden der es bis jetzt noch aufhaumllt [ὁ κατέχων] und dann wird der Gesetzlose offenbart werden [hellip] (2 Thess 23-4 und 7-8)

Die durch bdquofeigen Verratldquo erzwungene Abdankung des Zaren im Maumlrz 1917 und seine Ermordung im Juli 1918 wurden denn auch als Erfuumlllung jener Prophetie verstanden dh als Beseitigung des Katechon damit der Weg frei werde fuumlr die Herrschaft des Antichrist41 Der Regizid wurde in dieser Sicht zu einem bdquoapoka-lyptischen Verbrechenldquo langfristig geplant und auf blutig-rituelle Weise ausge-fuumlhrt von den Agenten des Antichrist den Juden Fuumlr diese so der Historiker Mi-chail Nazarov war der von Gott erwaumlhlte und gesalbte apostelgleiche Herrscher des Dritten Rom der bdquokatechontischen orthodoxen Machtldquo objektiv der groumlszligte metaphysische Feind und seine Beseitigung mithin eine Tat bdquovon houmlchster mys-tisch-religioumlser Bedeutungldquo42

Viele Glaumlubige sind indes uumlberzeugt dass die Stelle des Katechon nicht vakant sei sondern von der Gottesmutter uumlbernommen wurde Als Beweis dafuumlr dient die wundersame Auffindung einer Ikone im Dorf Kolomenskoe bei Moskau an jenem Tag an dem Nikolaus II dem Thron entsagte43 Die Ikone zeigt die

40 Luther uumlbersetzt bdquoGeheimnis der Bosheitldquo in der mittelalterlichen Theologie als der Anti-

christ gedeutet der nach der Offenbarung des Johannes am Ende der Zeiten erscheint 41 Im Russischen wird die Rolle des bdquoSelbstherrschersldquo (samoderžec) als bdquoAufhalter Kate-

chonldquo (uderživajuščij) auch etymologisch deutlich russ deržatrsquo entspricht griech κατέ-χειν ndash Die mysterioumlse Figur des Katechon (im griechischen Text einmal Neutrum einmal Maskulinum) die das Endgericht und den Anbruch des Reiches Gottes verzoumlgert bietet sich ebenso wie der Antichrist und seine Trabanten seit jeher zu immer neuen Identifikatio-nen mit einzelnen Gestalten Gruppen oder politischen Maumlchten an So identifizierte Carl Schmitt (1888ndash1985) der bdquoApokalyptiker der Gegenrevolutionldquo (Jacob Taubes) Liberalis-mus Bolschewismus und Judentum mit dem Antichrist (oder seinen Agenten) und glaubte dendas Katechon unter anderem in der Diktatur Hitlers zu erkennen 1947 notierte er bdquoIch glaube an den Katechon er ist fuumlr mich die einzige Moumlglichkeit als Christ Geschichte zu verstehen und sinnvoll zu findenldquo Carl Schmitt Glossarium Aufzeichnungen aus den Jah-ren 1947 bis 1958 hg von Gerd Giesler und Martin Tielke Berlin 2015 47 Schmitt und seine politische Theologie werden in russischen Intellektuellenkreisen intensiv rezipiert

42 Nazarov Voždju 213ndash223 ders Tajna Rossii Istoriosofija XX veka 1999 695ndash699 ndash Die Ermordung der Zarenfamilie durch die Bolschewiki im Juli 1918 in Ekaterinburg wur-de und wird von russischen Nationalisten als juumldischer antichristlicher Ritualmord darge-stellt Extremistische Kirchenkreise forderten denn auch Nikolaus II und seine Familie als bdquovon Jidden Gemarterteldquo (ot židov umučennye) heiligzusprechen Dem wurde freilich von fuumlhrenden Vertretern des Moskauer Patriarchats widersprochen

43 Im Februar 1917 war der Baumluerin Evdokija Andrianova im Traum der Fundort der Ikone erschienen Nach langem Suchen wurde diese schlieszliglich am 215 Maumlrz im Keller der Himmelfahrtskirche von Kolomenskoe entdeckt Siehe Aleksandr N Kazakevič bdquosbquoV podvale chrama pojavilasrsquo ikona Bogomaterilsquo Dokumenty Centralrsquonogo istoričeskogo

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 15

Himmelskoumlnigin mit den Zeichen ihrer Regentschaft im kaiserlichen Purpur mit Krone Szepter und Reichsapfel Das Bild der bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo (Bogo-materrsquo Deržavnaja) erwies sich sogleich als wundertaumltig und zog zahlreiche Pil-ger an Kopien verbreiteten seine Verehrung im ganzen Land Bis heute gilt es vielen als ein Zeichen dass Russlands Schutz vor dem Ansturm des Antichrist vom Zaren auf die Gottesmutter uumlbergegangen ist und sie die autokratische Macht bis zur Wiederherstellung der Monarchie bewahren wird44 Zum 70 Jahrestag des Sieges lieszlig der Izborsker Klub eine Variante der beruumlhmten Ikone anfertigen Sie zeigt die bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo zusammen mit Stalin und seinen Marschaumll-len Fuumlr Aleksandr Prochanov ist Stalin der Katechon der von Gott gesandte Fuumlhrer des Sowjetvolks das durch den Opfertod seiner Soumlhne im bdquogeheiligtenldquo Groszligen Vaterlaumlndischen Krieg ebenso wie einst Christus die Macht der Houmllle be-siegt und die Menschheit erloumlst habe45

lthttpwwwizborsk-clubruarh2015_04_Blokpdfgt

In bdquohistoriosophischerldquo Sicht bildet die Ermordung des Zaren und seiner Familie das zentrale sinnstiftende Ereignis der Geschichte Russlands im 20 Jahrhundert Alles darauf folgende Ungluumlck und Leiden die Verfolgung der Christen Hunger und Terror der Tod von Millionen Menschen werden aufgefasst als Strafe Gottes fuumlr den Abfall des russischen Volkes vom Glauben und fuumlr den judasgleichen

archiva Moskvy o Deržavnoj ikone Božiej Materildquo in Otečestvennye archivy 1 (2004) lthttpricolororghistorykasvyatyniik_derggt

44 Vgl Grigorij Nikolaev bdquoĖschatologičeskij triptichldquo in Ėschatologičeskij sbornik 358ndash396 hier 376f Bagdasarjan bdquoApokalipsis ndash segodnja 441f

45 Aleksandr Prochanov bdquoMističeskij stalinizmldquo in Izborskij klub Russkie strategii 4 (28) 2015 78ndash81 auch lthttpwwwizborsk-clubruarh2015_04_Blokpdfgt

16 Michael Hagemeister

bdquoVerratldquo an seinem Herrscher Wie Jesus sich dem Willen des goumlttlichen Vaters unterworfen hat und auf Golgatha fuumlr die Suumlnden der Welt gestorben ist so habe der Zar in Ekaterinburg (dem bdquorussischen Golgathaldquo) sein Leben als bdquoSuumlhneopferldquo dargebracht fuumlr die Suumlnden ganz Russlands46 Erst wenn das russische Volk sein Land von den Idolen und Symbolen der Gottlosigkeit reinige den Ideen der De-mokratie und politischen Gleichheit abschwoumlre seine kollektive Schuld bereue und Buszlige tue fuumlr das bdquoschrecklichste und unheilvollste Verbrechen des 20 Jahr-hundertsldquo werde der Zar zuruumlckkehren und Russland seine einstige Groumlszlige wie-dererlangen47

Einer der vehementesten und einflussreichsten Propagandisten der Selbst-charismatisierung Russlands war in den Jahren nach dem Ende der Sowjetunion Metropolit Ioann (Ivan Snyčev 1927ndash1995) von St Petersburg und Ladoga Mit-glied des Heiligen Synods und dritthoumlchster Kirchenhierarch des Landes In einer Vielzahl von Buumlchern Aufsaumltzen und Interviews beschwor Ioann die universale Mission des Dritten Rom als des bdquoletzten Hortes des wahren Glaubensldquo im Kampf gegen den Antichrist und seine Verbuumlndeten das bdquoVolk der Gesetzlosigkeitldquo48 Zu den apokalyptischen Feinden Christi zaumlhlte er die bdquoglobalen Maumlchte hinter den Kulissenldquo (mirovaja zakulisa) das internationale Freimaurertum die bdquotransnatio-nale Finanzoligarchieldquo die Anhaumlnger des Zionismus und Marxismus sowie Israel die USA und deren westeuropaumlische Satelliten49 Wiedergeboren im Geist der Or-thodoxie sei das Dritte Rom der irdische Sockel auf dem der Thron Gottes ruhen werde ndash ihm entgegen stehe der Dritte Tempel der Thron des Antichrist50

Hesychasmus als Kulturscheide ndash Kritik der Renaissance

Als entscheidende Waffe in dieser heilsgeschichtlichen Auseinandersetzung wird in juumlngster Zeit von antiwestlichen Intellektuellen und Kirchenkreisen der soge-nannte Hesychasmus in Stellung gebracht Urspruumlnglich handelt es sich dabei um

46 Das Schicksal des letzten Zaren wurde in der antibolschewistisch-antisemitischen Polemik

schon fruumlh mit der Passion Christi verglichen oder gleichgesetzt Eindrucksvolle Beispiele aus juumlngerer Zeit bieten die patriotischen Lieder der prominenten Saumlngerin Žanna Bičev-skaja oder die Filme Iskupitelrsquonaja žertva (1992) und Russkaja Golgofa (2000) Siehe auch Papkova The Orthodox Church 63f 222

47 Marija Achmetova Konec sveta v odnoj otdelrsquono vzjatoj strane Religioznye soobščestva postsovetskoj Rossii i ich ėschatologičeskij mif Moskva 2010 245ndash260

48 Vgl Rossman Russian Intellectual Antisemitism 221ndash225 Hagemeister bdquoDas Dritte Romldquo 476

49 Metropolit Ioann (Snyčev) bdquoToržestvo pravoslavijaldquo in ders Bitva za Rossiju Sankt-Peterburg 1993 28ndash35 In seinem Bestreben Russland als Opfer jahrhundertealter Ver-schwoumlrungen finsterer antichristlicher Maumlchte darzustellen griff Ioann immer wieder auch auf die Protokolle der Weisen von Zion zuruumlck

50 Metropolit Ioann (Snyčev) Samoderžavie ducha Očerki russkogo samosoznanija Sankt-Peterburg 1994 7

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 17

eine individuelle psychosomatische Gebets- und Meditationstechnik des byzanti-nischen und slavischen Moumlnchtums deren Anfaumlnge bis auf die Wuumlstenvaumlter zu-ruumlckreichen Durch die unablaumlssige konzentrierte Wiederholung des sogenannten bdquoJesusgebetsldquo ndash der Anrufung des rettenden Namens Jesu Christi ndash im Rhythmus des Herzschlags (deshalb auch bdquoHerzensgebetldquo) eine Uumlbung die als bdquogeistiges Tunldquo (πρᾶξις νοερά russ umnoe delanie) bezeichnet wird kann der Asket der die innere Ruhe (ἡσυχία) und Leidenschaftslosigkeit (ἀπάθεια) erreicht hat zur ekstatischen Schau (θεωρία) der Herrlichkeit Gottes in Lichtvisionen gelangen51

Die mit dem bdquoJesusgebetldquo verbundenen mystischen Erfahrungen fuumlhrten im 14 Jahrhundert zu einer hochspekulativen theologischen Deutung und Systemati-sierung durch den Athosmoumlnch (spaumlter Erzbischof von Thessalonike) Gregorios Palamas (129697minus1359) und seine Anhaumlnger im sogenannten bdquoHesychasmus-streitldquo Dabei ging es ndash stark vereinfacht ndash um die Frage inwiefern bestimmte sinnliche Erfahrungen beim Gebet wie das Schauen von Licht aber auch die Empfindung von Waumlrme und Wohlgeruch als Begegnung mit der Realitaumlt Gottes aufzufassen seien (und nicht als Pseudovisionen also als Einbildungen oder gar Inspirationen daumlmonischer Maumlchte) Dahinter steht das alte theologische Problem der Erkennbarkeit oder sinnlichen Erfahrbarkeit Gottes der Kommunikation zwi-schen Immanenz und Transzendenz aber auch der Gefahr der Verfuumlgung uumlber das Goumlttliche (extrem im Gotteszwang durch Beschwoumlrung)

Palamas loumlst die Frage indem er in Anlehnung an neuplatonische Vorstel-lungen das unzugaumlngliche ewige bdquoWesenldquo (οὐσία) Gottes von seiner in der ge-schaffenen Welt d h in Raum und Zeit mitteilbaren ungeschaffenen bdquoWirkkraftldquo oder bdquoEnergieldquo (ἐνέργεια) unterscheidet nicht aber trennt52 Diese Energien bdquodie der dreieinige Gott ausstrahlt und die zu seinem Wesen gehoumlren wie die Strahlen zur Sonne oder das Kraftfeld zum Magnetenldquo53 kann der Asket der den Stufen-prozess von bdquoReinigungldquo (κάθαρσις) bdquoErleuchtungldquo (φωτισμός) und bdquoVergoumlttli-chungldquo (θέωσις) durchlaumluft durch die Gnade Gottes sinnlich erfahren Als houmlch-stes mystisches Erlebnis im Zusammenwirken (συνεργία) aller menschlichen En-ergien mit der goumlttlichen Energie gilt die Schau des ungeschaffenen Lichtes wie sie den Juumlngern Jesu bei dessen Verklaumlrung auf dem Berg Tabor (μεταμόρφωσις

51 Ich folge hier zum Teil meinen Ausfuumlhrungen in Michael Hagemeister bdquoImjaslavie ndash imja-

dejstvie Namensmystik und Namensmagie in Russland (1900ndash1930)ldquo in Tatjana Petzer [ua] (Hgg) Namen Benennung ndash Verehrung ndash Wirkung Positionen der europaumlischen Moderne Berlin 2009 77ndash98 hier 79ndash81 88ndash90 Zum Hesychasmus liegt eine umfangrei-che Literatur vor Das Nachschlagewerk von Sergej Choružij (Hg) Isichazm annotiro-vannaja bibliografija Moskva 2004 umfasst mehr als 10000 Titel in 20 Sprachen

52 Die Unterscheidung von Gottes unerkennbarem Wesen und seinen wahrnehmbaren Wirk-kraumlften reicht bis auf Philon von Alexandria (gest ca 40 n Chr) zuruumlck Siehe Fairy v Lilienfeld bdquoHesychasmusldquo in Theologische Realenzyklopaumldie Bd 15 BerlinNew York 1986 282ndash289 ndash bdquoEnergieldquo ist Synonym fuumlr jeden bdquoAustrittldquo Gottes aus seinem Wesen Die bdquoSaumlttigungldquo mit goumlttlicher Energie erklaumlrt beispielsweise auch die gnadenreiche Heil-wirkung die von den Gebeinen der Heiligen selbst nach deren Tod ausgeht

53 Ebd 284

18 Michael Hagemeister

τοῦ Χριστοῦ Mt 171minus13) zuteil geworden war54 Fuumlr den endzeitlich gestimm-ten Palamas war diese Schau eine Vorwegnahme der Parusie der Vereinigung des Geschaffenen und des Ungeschaffenen und des kuumlnftigen Reiches Gottes somit bdquorealisierte Eschatologieldquo55

Der Glaube an die Wahrnehmbarkeit des ungeschaffenen ewigen Lichtes als Ausfluss der Energien Gottes stieszlig jedoch auf Widerspruch Palamasrsquo promi-nentester Gegner war der aus Kalabrien stammende Moumlnch Barlaam (ca 1290ndash1348) der in der Tradition der abendlaumlndischen rationalistischen Scholastik die Unterscheidung des transzendenten unzugaumlnglichen Wesens Gottes und der da-von untrennbaren Energien die aber ad extra wirken und sich dem Menschen mitteilen als haumlretisch verwarf und auf der absoluten Unerkennbarkeit Gottes be-stand Rom lehnte denn auch die Energienlehre des Palamas aufs schaumlrfste ab Dagegen erkannte die byzantinische Kirche sie 1341 und 1351 als Dogma an Seitdem gilt der palamitische Hesychasmus als ein Spezifikum der Orthodoxie und dient gerade heute wieder der polemischen Abgrenzung gegenuumlber dem Wes-ten56

Fuumlr die bereits genannten Philosophen Pavel Florenskij und Aleksej Losev charakterisiert das Bekenntnis zum Hesychasmus den Kulturtypus des christli-chen Mittelalters der sich in idealer Weise in Byzanz und in der Moskauer Rusrsquo ausgepraumlgt habe und in diametralem Gegensatz zur sogenannten bdquoRenaissance-Kulturldquo des Westens stehe Merkmale jener integralen Kultur des christlichen Ostens seien Gemeinschaftlichkeit (sobornostrsquo) Geistigkeit (duchovnostrsquo) Ob-jektivitaumlt Konkretheit Ganzheit (celrsquonostrsquo) und Ganzheitlichkeit (celostnostrsquo) synthetische Schau und Realismus57 waumlhrend die westliche Moderne seit der Re-naissance gepraumlgt sei durch Subjektivismus Relativismus szientifische Ratio-nalitaumlt (bdquoEntzauberung der Weltldquo) Materialismus Liberalismus Individualismus

54 Siehe Sergej Choružij bdquoSvet Plotinov i svet Favora mistika sveta v neoplatonizme i isi-

chazmeldquo in Aleksej Lidov (Hg) Ierotopija Ognja i Sveta v kulrsquoture vizantijskogo mira Moskva 2013 37ndash44 Zur Terminologie des Hesychasmus ders bdquoAnalitičeskij slovarʼ isi-chastskoj antropologiildquo in ders K fenomenologii askezy Moskva 1998 22ndash186

55 Peter Kawerau Das Christentum des Ostens Stuttgart [ua] 1972 131 56 Siehe zB die Arbeiten des Moskauer Theologen Igorʼ Ėkonomcev (Archimandrit Ioann)

bes bdquoIsichazm i vostočnoevropejskoe Vozroždenieldquo in Bogoslovskie trudy 29 (1989) 167ndash196 erweiterte Fassung bdquoDer Hesychasmus und die Renaissance in Osteuropaldquo in Karl Christian Felmy (Hg) Tausend Jahre Christentum in Russland Zum Millennium der Taufe der Kiever Rusrsquo Goumlttingen 1988 731ndash771 ndash Im 19 Jahrhundert erlebte der Hesy-chasmus im Zuge der Wiederbelebung mystischer Froumlmmigkeit durch Paisij Veličkovskij (1722ndash1794) eine Bluumlte im russischen Starzentum Dabei handelt es sich auch ndash aumlhnlich wie beim Pietismus ndash um eine Reaktion auf die Einfluumlsse der westlichen Aufklaumlrung Siehe die Beitraumlge in Adalberto Mainardi (Hg) Paisij lo starec Atti del III Convegno ecumenico internazionale di spiritualitagrave russa Bose 20ndash23 settembre 1995 Magnano 1997

57 Die Uumlberwindung der Trennung des erkennenden Subjekts vom Objekt der Erkenntnis (Descartes Locke Kant) durch das spekulative intuitive Erfassen des Wesens (der Ideen des Absoluten) als des eigentlich Realen hat die russische Philosophie des 20 Jahrhunderts bdquolebendiges Wissenldquo (živoe znanie) bdquoIdeal-Realismusldquo (ideal-realizm) oder bdquointuitiven Realismusldquo (intuitivnyj realizm) genannt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 19

Abstraktheit Zersplitterung und Atomisierung58 Der Sieg des Nominalismus im mittelalterlichen Universalienstreit und die Feier des autonomen Individuums in Renaissance Humanismus und Aufklaumlrung markieren in dieser katastrophischen Perspektive den Zerfall der goumlttlichen Ordnung des Universums und der Sakralitaumlt von Hierarchie und Herrschaft und damit den bdquoSuumlndenfallldquo der abendlaumlndischen Kultur die im Anthropozentrismus der satanischen Hybris einer bdquoSelbstvergot-tungldquo des Menschen (čelovekobožie)59 zugleich gipfele und scheitere60

Am Anfang dieser verhaumlngnisvollen Spaltung standen die Annahme der pa-lamitischen Lehre durch die Ostkirche und die Ablehnung dieser Lehre im Westen durch den bdquoRenaissance-Menschenldquo (vozroždenec) Barlaam den Lehrer Boccac-cios und Petrarcas61 Mit aller Schaumlrfe formulierte Losev diesen Gegensatz bdquo[hellip] entweder ist das Taborlicht untrennbar vom Wesen Gottes und ist deshalb Gott selbst (obwohl Gott selbst nicht [das] Licht ist) ndash dann ist die Orthodoxie gerettet oder das Licht ist vom Wesen Gottes trennbar und darum geschaffen ndash dann be-ginnen die apokalyptischen Kraumlmpfe des Renaissance-Westensldquo62 Indem sie Bar-laam einen bdquozugereisten Kalabrierldquo und seine Anhaumlnger mit dem Bann belegte habe die Orthodoxe Kirche so Losev die damals heraufziehende Renaissance

58 Siehe zB Pavel Florenskij bdquoAvtoreferat (192526)ldquo in Voprosy filosofii 1988 12 113ndash

116 dt Pavel Florenski bdquoAutorreferatldquo in ders Leben und Denken hg von Fritz und Sieglinde Mierau Bd 1 Ostfildern 1995 32ndash38 Aleksej Losev Dialektika mifa (1930) Moskva 2001 137ndash138 dt Die Dialektik des Mythos Hamburg 1994 109 ndash Die wertende Entgegensetzung von mittelalterlicher und Renaissance-Kultur (bzw der Typen bdquoobjekti-verldquo und bdquosubjektiverldquo Kulturen) findet sich durchgaumlngig im Werk Florenskijs und Losevs Siehe zuletzt Oksana SedychJulija Grišatova bdquoRusskij Renessans o Renessanseldquo in Vo-prosy filosofii 2015 6 111ndash121

59 bdquoSatan war der erste Revolutionaumlrldquo zitiert Losev einen (apokryphen) Ausspruch des Hl Serafim von Sarov Aleksej Losev bdquoDopolnenie k sbquoDialektike mifalsquo (novyj fragment)ldquo in AF Losev tvorčestvo tradicii interpretacii Moskva 2014 397ndash411 hier 401

60 So degradiere ndash um nur ein Beispiel fuumlr das Scheitern der Renaissance zu geben ndash das heliozentrische Weltbild eines Kopernikus und Giordano Bruno den Menschen zum Be-wohner eines bdquonichtigen Sandkornsldquo im unendlichen Weltraum SedychGrišatova bdquoRuss-kij Renessansldquo 114 Florenskij suchte denn auch in seiner Schrift Mnimosti v geometrii (1922) das geozentrische Weltbild des Mittelalters zu rehabilitieren Zum griechisch-or-thodoxen Antikopernikanismus Vasilios Makrides Die religioumlse Kritik am kopernikani-schen Weltbild in Griechenland zwischen 1794 und 1821 Aspekte griechisch-orthodoxer Apologetik angesichts naturwissenschaftlicher Fortschritte Frankfurt aM [ua] 1995

61 Mitunter wurde Barlaam sogar als Agent einer groszligangelegten antiorthodoxen Verschwouml-rung des bdquoPapismusldquo denunziert Siehe Ėkonomcev bdquoIsichazmldquo 59 vgl ders bdquoDer Hesy-chasmusldquo 736 ndash Eine Kontrastierung des weltlichen Humanisten Petrarca und des Hesy-chasten Palamas unternahm Losevs Schuumller und Sekretaumlr Vladimir Bibichin lthttpwww philologyruliterature3bibikhin-90htmgt

62 Aleksej Losev Očerki antičnogo simvolizma i mifologii Moskva 1930 856 Auch Ėko-nomcev spricht von den bdquoschreienden Widerspruumlchen und Grimassen der westlichen Re-naissance deren geistiger Vater Barlaam wurdeldquo Ėkonomcev bdquoIsichazmldquo 63 (in der deut-schen Version ist von bdquohimmelschreienden Gegensaumltzenldquo und bdquoscheuszliglichen Grimassenldquo die Rede Ėkonomcev bdquoDer Hesychasmusldquo 746)

20 Michael Hagemeister

insgesamt verdammt (anafematstvovala) der alle westlichen Voumllker verfallen sei-en und wahrscheinlich bis ans Ende ihrer Tage verfallen blieben63

Bis zuletzt verteidigte Losev ein mit Orden des Sowjetstaates ausgezeich-neter Philosoph der 1929 von Archimandrit David (Muchranov 1847ndash1930) ei-nem Fuumlhrer der hesychastischen bdquoNamensverehrerldquo (imjaslavcy)64 heimlich zum Moumlnch geweiht worden war die Lehre des Palamas als einen Grundpfeiler der Orthodoxie65 Gleichzeitig hielt er an seiner schroffen Ablehnung des bdquoRenaissan-ce-Westensldquo fest dessen Geschichte insgesamt nichts anderes sei als bdquoeine libera-le Kritik des Mittelaltersldquo 1978 stellte Losev in seiner umfangreichen Studie zur Aumlsthetik der Renaissance der bdquoganzheitlichen Kulturldquo (celostnaja kulrsquotura) des Mittelalters die zerrissene Kultur der Renaissance gegenuumlber die auf der Verabso-lutierung und bdquotitanischen Verherrlichungldquo des isolierten Subjekts und der bdquoAbge-trenntheit vom lebendigen Seinldquo (otryv ot živogo bytija) beruhe66 In einem Ge-spraumlch mit dem Schriftsteller Viktor Erofeev das 1985 veroumlffentlicht wurde de-nunzierte Losev den Typus des bdquoRenaissance-Menschenldquo der sich selbst vergoumltt-liche und deshalb dem Nihilismus und Satanismus verfalle bdquoIndem die Renais-sance das Subjekt zum Absolutum erhob oumlffnete sie den Weg fuumlr den Triumph des Subjektivismus in den folgenden Jahrhunderten In diesem Sinne stellt der gesamte Westen fuumlr mich eine Sackgasse des Denkens darldquo67 Damit geriet der Philosoph einerseits in scharfen Gegensatz zum sowjetischen Selbstverstaumlndnis das sich als Erbe und Vollender gerade jener bdquoprogressivenldquo Prozesse und huma-nistischen Traditionen sah die von der europaumlischen Renaissance ausgegangen

63 Losev Očerki 849 856 64 Zur Bewegung des imjaslavie die zu Beginn des 20 Jahrhunderts auf dem Athos entstand

und in Florenskij und Losev prominente Unterstuumltzer fand liegt inzwischen eine reiche Literatur vor Siehe die juumlngste Veroumlffentlichung Antoine Niviegravere Les glorificateurs du nom Une querelle theacuteologique parmi les moines russes du mont Athos (1907ndash1914) Genegraveve 2016

65 Siehe Valentina Postovalova bdquoAfonskij spor ob Imeni Božiem v filosofsko-bogoslovskom osmyslenii AF Losevaldquo in AF Losev 95ndash106 bes 105f

66 Aleksej Losev Ėstetika Vozroždenija Moskva 21982 (11978) 45 61 137 und passim Losevs Modernekritik erinnert an Heidegger und dessen Begriff der bdquoSeinsvergessenheitldquo Wie fuumlr Heidegger so war auch fuumlr Losev (und Florenskij) der Agent der verhassten Moder-ne ein bdquorechnendesldquo und bdquowurzellosesldquo mythisches Judentum Zu Losevs metaphysischem Antisemitismus (bdquodas satanische Wesen des Judentumsldquo) siehe zuletzt mit zahlreichen Belegen Natalrsquoja Boneckaja Duch Serebrjanogo veka (fenomenologija ėpochi) Moskva Sankt-Peterburg 2016 688ndash693

67 Aleksej Losev bdquoV poiskach smyslaldquo in Voprosy literatury 1985 10 205ndash231 hier 229 Zu Losevs Kritik der bdquoRenaissance-Kulturldquo des Westens ausfuumlhrlich Annett Jubara Die Philosophie des Mythos von Aleksej Losev im Kontext bdquoRussischer Philosophieldquo Wiesba-den 2000 bes 131ndash154 Siehe auch Naftalij Prat bdquoAleksej Losev und der Totalitarismusldquo in Leonid Luks (Hg) Das Christentum und die totalitaumlren Herausforderungen des 20 Jahrhunderts Koumlln [ua] 2002 103ndash114 bes 108f

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 21

waren (augenfaumlllig etwa in der Architektur der 1930er bis 50er Jahre)68 Anderer-seits erwies sich der orthodoxe Moumlnch damit auch als Apologet des Sowjetregi-mes bedroht die Autonomie des Individuums doch den Wesenskern einer jeden Herrschaft die das Wahrheitsmonopol fuumlr sich beansprucht

Die Ablehnung der modernen bdquokopernikanischen Weltldquo (Hans Blumen-berg) durchzieht das gesamte philosophische Werk Losevs und Florenskijs dazu gehoumlren die Ablehnung des heliozentrischen Weltbildes die Polemik gegen Kants kritischen Idealismus (die bdquokopernikanische Wendeldquo in der Philosophie) die Ab-lehnung der Zentralperspektive in der Kunst die Ablehnung des nominalistischen Rationalismus und schlieszliglich die Ablehnung der saumlkularen und demokratischen Gesellschaftsordnung zugunsten einer bdquoVerkirchlichungldquo (ocerkovlenie) aller Be-reiche der Gesellschaft und des Staates in Gestalt einer theokratischen Synarchie Florenskij der sich als einen mittelalterlichen Menschen charakterisierte69 ndash Ni-kolaj Berdjaev selbst Verkuumlnder eines religioumls-integralen bdquoNeuen Mittelaltersldquo nannte ihn einen bdquoraffinierten Reaktionaumlrldquo ndash70 war uumlberzeugt dass die bdquoentseelte Renaissance-Zivilisationldquo sich erschoumlpft habe und eine neue ganzheitlich-objekti-ve Kultur anbrechen werde71 Vorbild dieser bdquoKultur des anderen Typusldquo werde Russland sein bdquoerste Keimeldquo seien bereits zu erkennen Seine Zeit begriff Floren-skij bdquoan den Wasserscheiden des Denkensldquo und er sah seine Lebensaufgabe darin bdquoWege zu bahnen zu einer kuumlnftigen ganzheitlichen Weltanschauungldquo72

68 Losevs Renaissance-Kritik (va in Ėstetika Vozroždenija) wurde deshalb auch als ver-

schleierte Kritik am Sowjetsystem verstanden Siehe Annett Jubara bdquoAleksej Losevs Philosophie des Mythos als Kritik an der Sowjetischen Moderneldquo in Studies in East Euro-pean Thought 56 (2004) 211ndash224 Aus dem Kreis der Schuumller Losevs gingen seit den 1960er Jahren zahlreiche dissidentische russische Nationalisten hervor Nikolaj Mitrochin Russkaja partija Dviženie russkich nacionalistov v SSSR 1953ndash1985 Moskva 2003 288f Zur Kritik der Renaissance-Zivilisation siehe auch Vladimir Bibichin Novyj renessans Moskva 1998 bes 131ndash155

69 Siehe Florenskij bdquoAvtoreferatldquo Noch im Maumlrz 1933 nach seiner Verhaftung erklaumlrte Flo-renskij gegenuumlber den Ermittlungsbeamten bdquoIch Pavel Aleksandrovič Florenskij [hellip] bin dem Charakter meiner politischen Anschauungen nach ein Romantiker des Mittelalters un-gefaumlhr des 14 Jahrhundertsldquo Vitalij Šentalinskij bdquoUdel veličijaldquo in Ogonek 1990 45 23ndash27 hier 26

70 Nikolaj Berdjaev Samopoznanie (Opyt filosofskoj avtobiografii) Moskva 1991 161 Sie-he Nikolaj Berdjaev Novoe srednevekovrsquoe Berlin 1924 dt Nikolaus Berdjajew Das Neue Mittelalter Darmstadt 1927

71 Siehe Michael Hagemeister bdquoWiederverzauberung der Welt ndash Pavel Florenskijs Neues Mittelalterldquo in Norbert Franz [ua] (Hgg) Pavel Florenskij ndash Tradition und Moderne Beitraumlge zum Internationalen Symposium an der Universitaumlt Potsdam 5 bis 9 April 2000 Frankfurt aM [ua] 2001 21ndash41 Zu Florenskijs Kritik an Renaissance und Humanismus (bdquoder Humanismus entsprang der Kabbalaldquo) siehe auch Ilona Svetlikova bdquoOb ideologii sbquoobratnoj perspektivylsquo Pavla Florenskogoldquo in Russkaja intellektualʼnaja revoljucija 1910ndash1930-ch godov Moskva 2016 123ndash139 zu den Uumlbereinstimmungen mit Heidegger siehe Viktor Arslanov Postmodernizm i russkij bdquotretij putrsquoldquo tertium datur rossijskoj kulrsquotury XX veka Moskva 2007 472ndash499

72 Florenskij bdquoAvtoreferatldquo 114

22 Michael Hagemeister

In juumlngster Zeit hat das wiedererwachte Interesse an der eigenen spirituellen Tradition und ihren byzantinischen Wurzeln ndash oftmals verbunden mit dem Bestre-ben sich vom bdquosaumlkularen Westenldquo und der bdquowestlichen Moderneldquo abzugrenzen ndash zu einer Wiederbelebung des palamitischen Hesychasmus (neopalamizm) und der ndash davon zu unterscheidenden ndash bdquoNamensverehrungldquo (imjaslavie) gefuumlhrt73 Be-reits in den 1970er Jahren war John Meyendorffs klassische Studie St Greacutegoire Palamas et la mystique orthodoxe (Paris 1959) ins Russische uumlbersetzt worden und kursierte in der Sowjetunion in Samizdat-Ausgaben im Milieu religioumls-philo-sophischer Dissidenten Heute wird die Wiederbelebung des Hesychasmus auch durch den patriotischen Kult um Serafim von Sarov (Prochor Mošnin 1759ndash1833) befoumlrdert einen Wundertaumlter und Apokalyptiker der im postsowjetischen Russland zu einem der meistverehrten Heiligen avanciert ist74 In einer in viele Sprachen uumlbersetzten und millionenfach verbreiteten Schrift schildert sein Schuuml-ler Nikolaj Motovilov (1809ndash1879) die Verklaumlrung Serafims im ungeschaffenen Licht des Heiligen Geistes die sich angeblich im November 1831 auf einer einsa-men verschneiten Waldlichtung ereignet hat75

73 Dies gilt nicht nur fuumlr Russland auch auf Vertreter der angelsaumlchsischen bdquoRadical Ortho-

doxyldquo die das Projekt einer von modern-saumlkularem Denken nicht korrumpierten Theologie verfolgen uumlben Hesychasmus und russische Sophiologie starke Faszination aus Siehe die Beitraumlge in Adrian PabstChristoph Schneider (Hgg) Encounter Between Eastern Ortho-doxy and Radical Orthodoxy Transfiguring the World Through the Word Farnham 2009 Zur Wiederbelebung des imjaslavie im post-sowjetischen Russland siehe Scott M Ken-worthy bdquoDebating the Theology of the Name in Post-Soviet Russia Metropolitan Ilarion Alfeev and Sergei Khoruzhiildquo in Katya Tolstaya (Hg) Orthodox Paradoxes Hetero-geneities and Complexities in Contemporary Russian Orthodoxy LeidenBoston 2014 250ndash264 Siehe auch Loren Grahams Bericht uumlber diskrete Zusammenkuumlnfte der imjaslav-cy im Kellergeschoss der Moskauer Tatrsquojana-Kirche in den fruumlhen 2000er Jahren Loren GrahamJean-Michel Kantor Naming Infinity A True Story of Religious Mysticism and Mathematical Creativity Cambridge MassLondon 2009 1ndash5

74 Fuumlr die Anhaumlnger der Doktrin einer bdquoAtomaren Orthodoxieldquo (atomnoe pravoslavie) ist Se-rafim auch der Schutzheilige der russischen Atombombe wurde doch Sarov der Ort seines Wirkens 1946 unter dem Namen Arzamas-16 zur streng geheimen Nuklearstadt in der Wissenschaftler unter ihnen Andrej Sacharov am Bau der sowjetischen Atom- und Was-serstoffbomben arbeiteten Patriotische Russen deuten dies als Zeichen dass bdquoim Hause unseres Vaters Serafimldquo mit dessen Segen der nukleare bdquoSchild zum Schutz der Heimatldquo geschmiedet worden sei Pavel V Florenskij bdquoNeobchodimostrsquo našej atomnoj bombyldquo in Naš sovremennik 1997 4 219ndash221 Bei dem Verfasser handelt es sich um einen Enkel des beruumlhmten Philosophen Siehe auch lthttpsruwikipediaorgwiki Атомное_правосла виеgt

75 Die Schrift deren Authentizitaumlt umstritten ist wurde bekannt unter dem Titel bdquoGespraumlch uumlber das Ziel des christlichen Lebensldquo (Beseda o celi christianskoj žizni) Erstmals veroumlf-fentlicht wurde das bdquoGespraumlchldquo 1903 von Sergej Nilus (1862ndash1929) dem Herausgeber und Kommentator der Protokolle der Weisen von Zion Siehe Michael Hagemeister bdquoIl proble-ma della genesi del sbquoColloquio con Motovilovlsquoldquo in Adalberto Mainardi (Hg) San Sera-fim Da Sarov a Diveevo Atti del IV Convegno ecumenico internazionale di spiritualitagrave russa Bose 18ndash20 settembre 1996 Magnano 1998 157ndash174 Bis heute gibt es keine kriti-sche Ausgabe dieses zentralen Textes russischer Geistigkeit

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 23

Von der Wiederbelebung des Hesychasmus zeugt auch das groszligangelegte Projekt einer bdquosynergetischen Anthropologieldquo (sinergijnaja antropologija) des Mathematikers Physikers und religioumlsen Philosophen Sergej Choružij Prakti-sches Ziel das seit 2005 durch ein eigenes Institut in Moskau verfolgt wird ist die psychosomatisch-holistische Selbsttransformation des Menschen die auf unmittelbarer (mystisch-energetischer) Erfahrung bzw Einwirkung des ontolo-gisch Anderen (Goumlttlichen) beruht sowie die Uumlberwindung der Subjekt-Objekt-Trennung der modernen westlichen Philosophie die Choružij fuumlr den von ihm als krisenhaft und katastrophisch beschriebenen Zustand der westlichen Moderne verantwortlich macht Im Unterschied zu orthodoxen Fundamentalisten und Anti-Westlern sucht Choružij indes die asketischen Praktiken des Hesychasmus mit modernen und postmodernen westlichen Anthropologien (Kierkegaard Scheler Heidegger und insbesondere Foucaults technique oder practique de soi) in Bezie-hung zu setzen76

bdquoPolitischer Hesychasmusldquo

Es duumlrfte deutlich geworden sein dass Hesychasmus nicht nur eine weltabge-wandte mystisch-asketische bdquogeistige Praxisldquo bezeichnet sondern auch als Kampfbegriff gegen die saumlkulare Kultur des bdquoWestensldquo und der bdquowestlichen Mo-derneldquo dient Dies gilt vor allem fuumlr das Konzept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo (političeskij isichazm)

In den russischen Diskurs wurde dieses Konzept um die Mitte der 1960er Jahre von dem Leningrader Mediaumlvisten und Byzantinisten Gelian Prochorov ein-gefuumlhrt77 Seiner Hauptthese zufolge wurde der Hesychasmus nachdem er aus den Klosterzellen herausgetreten war und eine philosophisch-theologische

76 Siehe Sergej Choružij Očerki sinergijnoj antropologii Moskva Inst Sinergijnoj antropo-

logii Inst filosofii teologii i istorii Sv Fomy 2005 ders (Hg) Fonarrsquo Diogena Proekt sinergijnoj antropologii v sovremennom gumanitarnom kontekste Moskva 2010 ders bdquoDie mystische Verwandlung des Menschen Uumlber den Hesychasmus als Raum der Philo-sophieldquo in Fuge Journal fuumlr Religion amp Moderne 7 (2010) 72ndash99 Siehe auch die Web-site lthttpsynergia-isarugt Kristina Stoeckl bdquoA New Anthropology Sergej S Khoru-žijrsquos Search for an alternative to the Cartesian Subject in sbquoOčerki sinergijnoj antropologiilsquoldquo in Studies in East European Thought 59 (2007) 237ndash245

77 Gelian Prochorov bdquoĖtničeskaja integracija v Vostočnoj Evrope v XIV-m veke Ot isichastskich sporov do Kulikovskoj bitvyldquo in Doklady otdelenija ėtnografii 2 (196265) Leningrad 1966 81ndash110 ders bdquoIsichazm i obščestvennaja myslʼ v Vostočnoj Evrope v XIV vldquo in Literaturnye svjazi drevnich slavjan (Trudy otdela drevnerusskoj literatury 23) Leningrad 1968 86ndash108 ders bdquoKulʼturnoe svoeobrazie ėpochi kulikovskoj bitvyldquo in Kulikovskaja bitva i podldquoem nacionalrsquonogo samopoznanija (Trudy otdela drevne-russkoj literatury 34) Leningrad 1979 3ndash17 ndash Prochorov gehoumlrte bereits zu Sowjetzeiten ins Lager der (neo-)slavophilen Anti-Westler er war eng befreundet mit dem bdquoEurasierldquo und Antisemiten Lev Gumilev (1912ndash1992) und uumlbernahm von diesem das Konzept der bdquoEthnogeneseldquo

24 Michael Hagemeister

Grundlegung erfahren hatte am Ende des 14 Jahrhunderts zu einem entscheiden-den politischen und kulturellen Faktor nicht nur in Byzanz sondern in ganz Ost-europa und lieferte unter anderem das ideologische Fundament zur Konsolidie-rung der nachmongolischen Rusʼ Im Streit zwischen dem bdquorationalistischen Hu-manismus und dem kontemplativen Hesychasmus [hellip] entschied Byzanz uumlber sein geistiges Schicksal Das Land blieb bis zuletzt mittelalterlich Den Hesy-chasten gelang es zu Wortfuumlhrern der oumlffentlichen Meinung in Byzanz zu werden die letzte schoumlpferische Synthese seiner traditionellen Kultur zu entwickeln und eine breite kulturelle und gesellschaftliche Bewegung in Gang zu setzen die zu einer Erneuerung des Mittelalters und zu einer Wiederbelebung der Orthodoxie im ganzen oumlstlichen Europa fuumlhrteldquo78

Im Anschluss an das von seinem Lehrer Dmitrij Lichačev entwickelte Kon-zept einer bdquoVorrenaissanceldquo (Predvozroždenie)79 spricht Prochorov von einer bdquovorrenaissancelichen Gegenreformationldquo (predvozroždenčeskaja kontrreforma-cija) und einer bdquoOrthodoxen Renaissanceldquo (Pravoslavnoe Vozroždenie)80 Ge-meint war damit dass die Palamiten (Hesychasten) den Sieg der Barlaamiten ver-hindern konnten und auf die Schriften der antiken Kirchenvaumlter zuruumlckgreifend ein mystisch-kontemplatives Aumlquivalent zum rationalistischen und saumlkularen Hu-manismus geschaffen haumltten Auf diese Weise habe der drohende Uumlbergang der byzantinischen und osteuropaumlischen christlich gepraumlgten Kultur von der bdquoVorre-naissanceldquo zu einer auf heidnisch-antiken Wurzeln beruhenden Renaissance ab-gewendet werden koumlnnen81 Auf die bdquoVorrenaissanceldquo sei ein bdquoNeues Mittelalterldquo gefolgt das in der bdquoHeiligen Rusʼldquo um die Wende zum 15 Jahrhundert seinen Houmlhepunkt erreicht habe Ihm verdanke Russland seine Groumlszlige und die russische Kultur ihre bdquoUniversalitaumltldquo und bdquoGeistigkeitldquo82

Bemerkenswert ist dass der sowjetische Wissenschaftler die beiden ideolo-gischen Lager mit traditionellen (neo-)slavophilen Wertungsoppositionen wie sie bereits bei Florenskij und Losev begegnet sind verbindet und dabei deutlich seine 78 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 4 79 Vor allem in seinem Buch Kulʼtura Rusi vremeni Andreja Rubleva i Epifanija Premudrogo

MoskvaLeningrad 1962 80 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 8 Siehe auch ders Nekogda ne narod a nyne narod

Božijhellip Drevnjaja Rusʼ kak istoriko-kulʼturnyj fenomen Sankt-Peterburg 2010 133ndash157 81 So auch Igorʼ Ėkonomcev bdquoDie osteuropaumlische sbquoVorrenaissancelsquo ist nicht die erste Stufe

zur saumlkularisierten Renaissance vom abendlaumlndischen Typ sondern ihre Antithese Der geistige und kulturelle Aufschwung in Osteuropa war die wahre volle und eindeutige Re-naissance die sich grundlegend von der westlichen Renaissance unterschied Sie haumltte sich niemals in eine Renaissance westlicher Praumlgung verwandeln koumlnnenldquo Ėkonomcev bdquoDer Hesychasmusldquo 764 vgl ders bdquoIsichazmldquo 69 Diese (osteuropaumlische) Renaissance so Ėkonomcev an anderer Stelle sei ungleich bdquoerhabener geistiger und reinerldquo gewesen als bdquodie westeuropaumlische Renaissance mit ihrer krankhaften Disharmonie zwischen Glauben und Vernunft Geist und Leib die trotz allem gespieltem Optimismus ein Gefuumlhl der Aus-weglosigkeit und Verzweiflung hinterlaumlsstldquo Igumen Ioann Ėkonomcev bdquoVizantinizm Kirillo-Mefodievo nasledie i kreščenie Rusildquo in ders Pravoslavie Vizantija Rossija Sbornik statej Moskva 1992 7ndash22 hier 18

82 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 9 15

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 25

Sympathie zeigt Die byzantinischen Humanisten werden von ihm als kalte Ratio-nalisten dargestellt die in der Hoffnung auf militaumlrische Unterstuumltzung durch den katholischen Westen im Kampf gegen die Osmanen bereit gewesen seien den eigenen Glauben zu opfern83 Die Hesychasten hingegen haumltten so Prochorov den Westen realistischer eingeschaumltzt und auf Hilfe von Seiten der orthodoxen Staaten gehofft Im entscheidenden Moment haumltten nicht die bdquoWestler-Huma-nistenldquo (zapadniki-gumanisty) mit ihren bdquokalten Uumlberlegungenldquo (cholodnymi rassuždenijami) beim Volk Gehoumlr gefunden sondern die Hesychasten mit ihren bdquoheiszligen Gebetenldquo (gorjačimi molitvami)84

Mit seiner Apologie eines bdquowiederbelebtenldquo Mittelalters und einer bdquoOrtho-doxen Renaissanceldquo die alle Bereiche des politischen gesellschaftlichen und kul-turellen Lebens gepraumlgt habe und deren Kern der Hesychasmus gewesen sei stieszlig Prochorov bei seinen sowjetischen Kollegen auf Kritik So sah Apollon Kuzmin im Palamismus eine desintegrative Erscheinung weshalb er Prochorovs positive Bewertung der Hesychasten bei der bdquoWiedergeburtldquo der Rusʼ zuruumlckwies85 Aumlhn-lich argumentierte Gennadij Litavrin Die Palamiten seien diejenigen gewesen die eine unrealistische Einschaumltzung der politischen Lage gehabt haumltten Sie haumltten die Bedrohung durch die Tuumlrken nicht erkannt und stattdessen die Illusion verbreitet die Feinde zum Christentum bekehren und zu neuen Untertanen ma-chen zu koumlnnen Der Palamismus sei eine bdquoIdeologie der Demutldquo und habe eine bdquounheilvolle Rolle in der Geschichte des Kampfes gegen die tuumlrkische Aggres-sionldquo gespielt86 Michail Sjuzjumov sprach sogar vom bdquoasozialen Charakter des Palamismusldquo der den aufkommenden humanistischen Tendenzen gegenuumlber feindlich gewesen und zur bdquoIdeologie der Reaktionldquo in Byzanz geworden sei87 Auf Ablehnung stieszlig Prochorov auch im Ausland Valerij Lepachin kritisierte den Begriff bdquopolitischer Hesychasmusldquo als unzulaumlssige Verbindung weltlicher und geistlicher Sphaumlren damit verliere der Hesychasmus seinen wesentlichen Sinn-gehalt88 Fuumlr den in Berkeley lehrenden Philologen Viktor Živov schlieszliglich war

83 Ebd 12 84 Ebd 13 ndash An anderer Stelle betont Prochorov den Gegensatz zwischen den abstrakten

bdquoausgedachtenldquo philosophischen Konstruktionen des europaumlischen Idealismus und der ganzheitlichen kontemplativ-spekulativen Welterfahrung der griechisch-byzantinischen Philosophie Prochorov bdquoĖtničeskaja integracijaldquo 90f An Florenskijs Renaissance-Kritik (etwa in Ikonostas 1922) erinnert auch Prochorovs Verweis auf den euklidischen Raum und den Perspektivismus der humanistischen Weltwahrnehmung mit seiner Illusion der Unendlichkeit Prochorov bdquoIsichazmldquo 94

85 Apollon Kuzmin bdquoCerkovʼ i svetskaja vlastʼ v ėpochu Kulikovskoj bitvyldquo in Voprosy naučnogo ateizma 37 (1988) 90ndash99

86 Gennadij Litavrin bdquoVizantija v period graždanskoj vojny i dviženija Zilotov (1341ndash1355 gg)ldquo in Sergej Skazkin (Hg) Istorija Vizantii Bd 3 Moskva 1967 135ndash160 hier 158

87 Michail Sjuzjumov bdquoFilosofija i bogoslovieldquo in ebd 234ndash256 hier 248f 88 Valerij Lepachin bdquoUmnoe delanie (o soderžanie i granicach ponjatija sbquoisichazmlsquo)ldquo in

Vestnik Russkogo Christianskogo Dviženija 164 1992 5ndash32 hier 23

26 Michael Hagemeister

bdquopolitischer Hesychasmusldquo bdquokonzeptuelles Unkraut [sornjak] das man so schnell wie moumlglich ausrottenldquo solle89

Fast ein halbes Jahrhundert nach ihrer ersten Veroumlffentlichung wurde Pro-chorovs Konzept eines bdquopolitischen Hesychasmusldquo von seinem Schuumller Vladimir Petrunin wieder aufgegriffen und aktualisiert In der 2009 erschienenen Monogra-phie bdquoDer politische Hesychasmus und seine Traditionen in der Sozialkonzeption des Moskauer Patriarchatsldquo90 stellt Petrunin das sogenannte bdquoNichtgehorsamkeits-prinzipldquo (princip nepovinovenija) wie es in den von der Moskauer Bischofssyno-de im August 2000 verabschiedeten bdquoGrundlagen der Sozialkonzeption der Rus-sischen Orthodoxen Kircheldquo formuliert worden ist91 in eine Tradition die er bis auf die bdquopolitischen Hesychastenldquo im Byzanz des 14 und 15 Jahrhunderts zu-ruumlckzufuumlhren sucht Immer wieder zieht Petrunin Parallelen zwischen dem spaumlten Byzanz und dem postsowjetischen Russland Hatten die Byzantiner den Hesy-chasmus als Reaktion auf den Humanismus des Westens hervorgebracht so diene heute die Sozialkonzeption der Abwehr des westlichen Saumlkularismus Liberalis-mus und Kapitalismus Damals wie heute stuumlnden der kirchliche Heilsauftrag und die Verteidigung des Glaubens uumlber den Interessen des Staates selbst ndash wie das Beispiel von Byzanz zeige ndash um den Preis seines Untergangs Ebenso wie die byzantinischen Hesychasten den mit dem Westen kollaborierenden Herrschern die Gefolgschaft im Kampf gegen die Osmanen verweigert haumltten da sie die bdquoReinheit ihres Glaubensldquo eher bdquounter einem tuumlrkischen Turban als unter der lateinischen Tiaraldquo gewahrt sahen92 rufe die Sozialkonzeption die Kirche heute dazu auf der Staatsmacht den Gehorsam zu verweigern sollte diese bdquodie ortho-doxen Glaumlubigen zum Abfall von Christus und Seiner Kirche sowie zu suumlndhaften

89 Viktor Živov bdquoVidenija sveta i problemy russkogo srednevekovogo isichazmaldquo in Lidov

(Hg) Ierotopija 350ndash367 hier 363 359 90 Vladimir Petrunin Političeskij isichazm i ego tradicii v socialʼnoj koncepcii Moskovskogo

Patriarchata Sankt-Peterburg 2009 91 Osnovy socialrsquonoj koncepcii Russkoj Pravoslavnoj Cerkvi III5 lthttpwwwpatriarchia

rudbtext141422htmlgt Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo wird von den meisten Inter-preten als ein bemerkenswertes Umdenken in der Kirchenpolitik angesehen hatte doch die Russische Orthodoxe Kirche unter Patriarch Sergij in einer prekaumlren Lage 1927 Loyalitaumlt gegenuumlber dem Sowjetstaat gefordert Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo war auch eine wichtige Voraussetzung fuumlr die Vereinigung der Auslandskirche mit dem Moskauer Pa-triarchat Zur Sozialkonzeption insgesamt Vasilios N Makrides bdquoDie politische Aufgabe der Kirche Bemerkungen anhand der Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kir-cheldquo in Irene DingelChristiane Tietz (Hgg) Die politische Aufgabe von Religion Per-spektiven der drei monotheistischen Religionen Goumlttingen 2011 219ndash243

92 Petrunin Političeskij isichazm 66f 120 Es handelt sich um eine zeitgenoumlssische Losung Siehe Halina Evert-Kappesowa bdquoLa tiare ou le turbanldquo in Byzantinoslavica 14 (1953) 245ndash257 ndash Auch Aleksandr Nevskij (1220ndash1263) zog eine Verstaumlndigung mit den Mongo-len einer Union mit Rom vor die ihm Papst Innozenz IV im Jahr 1248 angeboten hatte und wandte sich stattdessen gegen die bdquoLateinerldquo Heutige Anti-Westler feiern den Heili-gen der Russischen Orthodoxen Kirche deshalb auch als bdquoersten Eurasierldquo

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 27

und der Seele abtraumlglichen Taten noumltigenldquo93 Die Sozialkonzeption hat fuumlr Petru-nin nur einen moumlglichen Sinn Falls Russlands politische Elite sich weiterhin dem liberalen Wertekanon des Westens verschreibe und Russlands bdquoEigenartldquo (samo-bytnostʼ) als bdquoorthodoxe Zivilisationldquo bestreite94 muumlsse die Kirche ndash wie einst in Byzanz ndash dem Staat die Loyalitaumlt aufkuumlndigen und das Volk zum Widerstand auf-rufen

Es ist ganz offensichtlich dass die Prozesse der Globalisierung und Saumlkularisierung eng miteinander verbunden sind So wie einst die byzantinischen Hesychasten ist heute die Russische Kirche mit der westlichen Zivilisation konfrontiert die nach der Weltherrschaft trachtet war fruumlher der Katholizismus deren Grundlage so ist es jetzt der saumlkulare Humanismus [hellip] Waumlhrend sie [die westliche Welt MH] damals fuumlr die Hesychasten mit Rom gleichgesetzt wurde so verkoumlrpert heute das kosmopolitische New York den Westen Indem sie Liberalismus und Saumlkularisie-rung abwehrt tritt die Kirche auch gegen die politischen und wirtschaftlichen Hegemoniebestrebungen des Westens auf und stellt so ihr Bestreben unter Beweis die zivilisatorische Eigenstaumlndigkeit Russlands wieder herzustellen Wie schon vor 600 Jahren im Byzantinischen Imperium so ist auch heute in Russland allein die Kirche ein ernstzunehmender und gut organisierter Gegner des Westens und seiner saumlkularen Werte [hellip] Sollte Russland weiter den Weg der Saumlkularisierung be-schreiten so koumlnnte damit fuumlr die Kirche der gefaumlhrliche Praumlzedenzfall geschaffen werden in dem sie von ihrem Recht Gebrauch machen muumlsste das Volk zu zivilem Ungehorsam aufzurufen95

In seinem Vorwort nannte Prochorov das Buch seines Schuumllers eine bdquoWarnung an unseren Staat unsere saumlkulare Gesellschaft an uns alleldquo96 Wie das spaumlte Byzanz unter dem bdquoDruck aus dem Westenldquo gestanden habe ndash dem die Herrscher und die bdquoHumanistenldquo schlieszliglich nachgegeben haumltten ndash so laufe auch das postkommu-nistische Russland Gefahr dem bdquoDruck des Liberalismus und der Globalisierungldquo nachzugeben Allein die Orthodoxe Kirche habe sich damals wie heute als bdquoFes-tungldquo erwiesen faumlhig diesem bdquozersetzenden Einflussldquo Widerstand zu leisten97

Petrunins Buch das mit dem Segen von Metropolit Ilarion (Grigorij Al-feev)98 erschienen war stieszlig bei westlichen Forschern auf Skepsis und Ableh-nung So kritisierte Kristina Stoumlckl die unhistorische Interpretation und forcierte Aktualisierung der philosophischen theologischen und politischen Kontroversen des 14 Jahrhunderts sowie die einseitige konservative Interpretation der Sozial-konzeption Hesychasmus werde in dem Kirchendokument ebenso wenig erwaumlhnt

93 Osnovy socialrsquonoj koncepcii 94 Petrunin Političeskij isichazm 81 95 Ebd 122f 96 Ebd 5 97 Ebd 98 Zu jener Zeit Bischof von Wien und Oumlsterreich heute Leiter des Auszligenamtes des Moskau-

er Patriarchats und scharfer Kritiker des bdquomilitanten Saumlkularismusldquo des Westens Siehe auch lthttpazbykaruxristianstvo-pered-vyzovom-voinstvuyushhego-sekulyariz ma-2gt

28 Michael Hagemeister

wie der Untergang von Byzanz99 Klaus Buchenau warf Petrunin vor er bdquoverfor-m[e] und ideologisier[e] die urspruumlnglichen Motive des hesychastischen Moumlnch-tums bis zur Unkenntlichkeitldquo100 Und Viktor Živov der bereits Prochorovs Kon-zept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo als bdquoUnkrautldquo bezeichnet hatte sah in Petru-nins Buch ein Beispiel dafuumlr wie dieses sich bdquospontan und schaumldlichldquo ausbreite Die von Petrunin konstruierte bdquophantastische Genealogie des politischen Hesy-chasmusldquo beruhe so Živov auf einer bdquoMischung aus Einseitigkeit und Unwissen-heitldquo Weder sei der bdquotuumlrkische Turbanldquo fuumlr den Patriarchen attraktiv gewesen noch sei am Widerstand gegen die Union irgendetwas spezifisch bdquoHesychasti-schesldquo Petrunin habe ein bdquoPhantomldquo geschaffen dessen angebliche Verbindung mit der Sozialkonzeption man nicht weiter zu verfolgen brauche101

bdquoNeobyzantismusldquo Das Dritte Rom ndash der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo

Eine eigenwillige Interpretation des Hesychasmus und seine Wendung gegen den Westen stammen von Aleksandr Dugin dem Fuumlhrer der bdquoeurasischenldquo Bewegung und einflussreichsten Vordenker der Neuen Rechten in Russland Der polyglotte und belesene Autodidakt der nie eine akademische Ausbildung genossen hat war Gruumlnder der Partei der Nationalbolschewisten Berater des Vorsitzenden der Du-ma und des Generalstabs sowie von 2008 bis 2014 Professor fuumlr Soziologie an der renommierten Moskauer Lomonosov-Universitaumlt und Direktor des dortigen bdquoZentrums fuumlr Konservatismusstudienldquo Seit Anfang der 1990er Jahre verbreitet er mit graphomanem Eifer seine politischen und bdquometaphysischenldquo Botschaften in einer inzwischen kaum noch uumlberschaubaren Zahl von Publikationen102 und Web-Artikeln in mehreren Sprachen sowie durch spektakulaumlre Auftritte in staats-nahen Medien103 99 Kristina Stoumlckl bdquoPolitical Hesychasm Vladimir Petruninrsquos Neo-Byzantine Interpretation

of the Social Doctrine of the Russian Orthodox Churchldquo in Studies in East European Thought 62 (2010) 125ndash133

100 Klaus Buchenau Auf russischen Spuren Orthodoxe Antiwestler in Serbien 1850ndash1945 Wiesbaden 2011 480 Anm 2

101 Živov bdquoVidenija svetaldquo 364f ndash Von der Kritik offenbar unbeeindruckt verschaumlrfte Petru-nin noch seine Position So sprach er 2012 in einem Vortrag uumlber die gesellschaftliche und politische Wirkung der hesychastischen Gebetspraxis Nach dem Fall von Byzanz sei das bdquoJesusgebet faktisch zu einem sbquopolitischen Gebetlsquoldquo geworden das auf die bdquoVerwandlung [preobraženie] der orthodoxen Oumlkumeneldquo ausgerichtet gewesen sei und das bdquoPhaumlnomen der Heiligen Rusrsquoldquo hervorgebracht habe lthttpsynergia-isarup=8604gt

102 Zuletzt in der bislang fuumlnf Baumlnde umfassenden Reihe bdquoNoomachijaldquo (2014ndash2015) einer hochambitioumlsen letztlich aber manichaumlisch-schematischen Beschreibung der bdquoSuche nach dem Logosldquo in den ndash von Dugin essenzialistisch aufgefassten ndash bdquoWeltkulturenldquo

103 Auch die Literatur zu Dugin ist kaum noch uumlberschaubar Siehe zB Alexander Houmlllwerth Das sakrale eurasische Imperium des Aleksandr Dugin Eine Diskursanalyse zum post-sowjetischen russischen Rechtsextremismus Stuttgart 2007 Stefan Wiederkehr Die eurasische Bewegung Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwi-schenkriegszeit und im postsowjetischen Russland Koumlln [ua] 2007 227ndash261 Anton

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 29

Dugin deutet den Hesychasmus im Rahmen des sogenannten bdquointegralen Traditionalismusldquo einer antimodernen Denkrichtung die im ersten Drittel des 20 Jahrhunderts in Frankreich und Italien entstand und in Reneacute Gueacutenon (1886ndash1951) und Julius Evola (1898ndash1974) ihre bekanntesten (und auch fuumlr Dugin wichtigsten) Vertreter hat104 Ihre Lehre besagt dass alle Religionen ungeachtet ihrer histori-schen und regionalen Auspraumlgungen in ihrem esoterischen nur dem Eingeweih-ten zugaumlnglichen Kern eine gemeinsame urspruumlngliche Wahrheit teilen und als philosophia perennis tradieren das Wissen um die Goumlttlichkeit und den Zugang zu ihr Dieses sakrale und initiatorische Wissen sei im Verlauf der westlichen Mo-derne insbesondere durch die Aufklaumlrung verlorengegangen in traditionellen Gesellschaften (China Indien islamische Welt) jedoch bewahrt geblieben105

Auch die Orthodoxie so Dugin habe im Gegensatz zu Katholizismus und Protestantismus bdquodie Treue zum esoterischen Kernldquo bewahrt naumlmlich in ihrer mystischen Unterstroumlmung dem Hesychasmus106 In der Kanonisierung des Gre-gorios Palamas durch die Ostkirche bei gleichzeitiger Verdammung des Humanis-ten Barlaam sieht Dugin das Bekenntnis zum bdquognostisch-realistischen Geist der orthodoxen Esoterikldquo Ganz im Sinn des Traditionalismus deutet er die psycho-physische Uumlbung der Hesychasten das bdquogeistige Tunldquo als Verfahren der bdquoInitia-tionldquo und das Endziel der bdquoVerklaumlrungldquo und bdquoVergoumlttlichungldquo als bdquoalchemistische Verwandlung des Leibesldquo (alchimičeskoe preobraženie tela) Dadurch wuumlrden der bdquoDualismus von Geist und Materie Leib und Seeleldquo sowie die bdquoGrenzen der Individualitaumltldquo ndash charakteristisch fuumlr den bdquorein exoterischen Mystizismusldquo des Westens ndash aufgehoben107 Die bdquoTradition der hesychastischen Esoterikldquo sei die

Shekhovtsov bdquoThe Palingenetic Thrust of Russian Neo-Eurasianism Ideas of Rebirth in Aleksandr Duginrsquos Worldviewldquo in Totalitarian Movements and Political Religions 9 (2008) 491ndash506 Mark Sedgwick bdquoOccult Dissident Culture The Case of Aleksandr Du-ginldquo in Birgit Menzel [ua] (Hgg) The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimen-sions MuumlnchenBerlin 2012 273ndash292 Schmid Technologien der Seele 210ndash220

104 Aleksandr Dugin Filosofija tradicionalizma Moskva 2002 Zum Traditionalismus siehe das Standardwerk von Mark Sedgwick Against the Modern World Traditionalism and the Secret Intellectual History of the Twentieth Century OxfordNew York 2004 zu Dugin 221ndash237 Vgl auch Christopher DL Johnson The Globalization of the Jesus Prayer Con-testing Contemplation London New York 2010 70ndash73

105 Aumlhnliche Gedanken entwickelte Pavel Florenskij bereits 19081909 in seinem Vortrag bdquoObščečelovečeskie korni idealizmaldquo in dem er die bdquoEsoterikldquo der Philosophie Platons und seiner Nachfolger in der bdquoallgemeinmenschlichenldquo mystisch-magischen Weltauffas-sung der bdquoVolksseeleldquo wurzeln laumlsst

106 Das Folgende nach Aleksandr Dugin bdquoOboženie preestestvennejšeeldquo in Milyj angel 1 1991 56ndash59

107 Das Konzept der bdquoInitiationldquo und die Unterscheidung von bdquoesoterischldquo und bdquoexoterischldquo sind zentral fuumlr die Anhaumlnger des Traditionalismus siehe Sedgwick Against the Modern World 265 ndash Als Mitglied des okkultistischen und faschistischen Južinskij-Kreises machte Dugin in Moskaus bdquomystischem Untergrundldquo in den 1980er Jahren selbst Entgrenzugser-fahrungen mit Hilfe sexualmagischer Praktiken und bewusstseinserweiternder Drogen Bei einem Teil der orthodoxen Glaumlubigen stoumlszligt seine Esoterik denn auch auf Misstrauen und

30 Michael Hagemeister

bdquoSeele der russischen Orthodoxieldquo und habe in Serafim von Sarov ihren bdquoletzten leuchtendsten Vertreterldquo gefunden

Der Hesychasmus gehoumlre zum traditionellen Erbe von Byzanz das Russ-land angetreten habe als es zum Dritten Rom und zum Zentrum der orthodoxen Welt geworden sei bdquoWir sindldquo so Dugin bdquobyzantinisch in unserer Seele unseren Wurzeln und in unserer Identitaumltldquo108

Unser stabilstes Fundament ist Byzanz [hellip] Russland ist Byzanz [hellip] Unsere For-mel lautet Der Westen ist das Boumlse Byzanz das Gute Alles Schlechte das uumlber Byzanz geschrieben wurde ist eine Luumlge Das sind lediglich Winkelzuumlge im ideolo-gischen Kampf von Seiten des Westens [hellip] Jeder Russe muss wissen Byzanz ist das reine Gute Jeder der etwas anderes behauptet ist ein Feind [hellip] Wer Byzanz kritisiert ist ein Feind des russischen Volkes Das muss unser ehernes Prinzip sein [hellip] Byzanz ist der absolute Orientierungspunkt des russischen Projekts109

Damit sind Russlands Ort und Mission in der bdquohistoriosophischenldquo Deutung des Weltgeschehens bestimmt Nach Dugin wird die Geschichte der Menschheit be-herrscht vom bdquookkulten planetarischen Ringenldquo zweier antagonistischer Maumlchte dem bdquogroszligen Krieg der Kontinenteldquo Land gegen Meer Behemoth gegen Levia-than die organischen bodenstaumlndigen und traditionalistischen bdquoTellurokratienldquo des eurasischen Ostens gegen die wurzel- und seelenlosen materialistischen bdquoTha-lassokratienldquo des angloamerikanischen Westens das apokalyptische Tier aus dem Meer (Offb 13 1-10)110 Die USA als bdquoQuintessenz des Westensldquo und New York als moderne Hure Babylon (Offb 17 und 18) sind das Reich des Antichrist eine chimaumlrisch-antiorganische transplantierte Zivilisation die keine sakrale Tradi-tion besitze ihre Selbsterhebung zu bdquoGottes neuem Israelldquo und bdquoNeuem Zionldquo ndash gemaumlszlig der anglo-amerikanischen Interpretation der Substitutionslehre ndash deutet Dugin als besonders perfiden Taumluschungsversuch des bdquowestlichen Antichristldquo Das Jahr der Entdeckung Amerikas (1492 ist nach der altrussisch-byzantinischen

offene Ablehnung Fuumlr den Sektenexperten des Moskauer Patriarchats ist Dugin ein bdquoge-faumlhrlicher Feindldquo der die bdquoOrthodoxie in Kabbalistik umzuschmelzenldquo versuche Andrej Kuraev Cerkovrsquo v mire ljudej Moskva 2006 142

108 Aleksandr Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Tradition Duginrsquos Guidelineldquo lthttpswwwyoutubecomwatchv=m0RIa61eZDggt

109 Aleksandr Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo in ders Russkaja Veščrsquo Očerki nacionalrsquonoj filosofii Bd 1 Moskva 2001 69ndash76 hier 70ndash72 (Hervorhebungen im Original) Der Be-griff bdquoByzantismusldquo (vizantizm) ndash im Unterschied zum negativ konnotierten bdquoByzantinis-musldquo ndash als Bezeichnung eines dem europaumlischen entgegengesetzten Kulturtypus der auf den Prinzipien von Orthodoxie und Selbstherrschaft beruht geht auf den konservativen Philosophen Konstantin Leontrsquoev (1831ndash1891) und sein Buch Vizantizm i slavjanstvo (1875) zuruumlck

110 Auch fuumlr den von Dugin verehrten Heidegger waren die Seemaumlchte Groszligbritannien und Amerika nicht Teil der abendlaumlndischen Tradition sondern im Gegensatz zum restlichen Europa wurzellos und sinnleer Der Antagonismus von Land und Meer die kategorische Unterscheidung von Freund und Feind sowie das Konzept des Katechon gehen auf Carl Schmitt zuruumlck als dessen Schuumller Dugin sich bezeichnet Siehe auch Fn 41

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 31

Weltaumlra das Jahr 7000 nach dem chiliadischen Weltwochenschema also der sieb-te Tag der Schoumlpfung) verweise ebenso auf den Endzeitcharakter der bdquoNeuen Weltldquo wie die bdquosakrale Geographieldquo nach der das Paradies im Osten die Houmllle aber das bdquoLand des Todesldquo im Westen zu suchen seien111

Dem Antichrist entgegen stehe seit jeher der Katechon dessen bdquoletzter Hortldquo bis ans Ende der Zeit die Heilige Rusrsquo das Dritte Rom sei112 In der petrini-schen Epoche als die Hauptstadt in die bdquonoumlrdlichen Suumlmpfeldquo in die bdquoGespenster-stadtldquo Petersburg verlegt und das Patriarchat abgeschafft wurde haumltten allein die Altglaumlubigen den Geist von Byzanz den Katechon bewahrt zweihundert Jahre lang sei der Weg frei gewesen fuumlr das zerstoumlrerische Wirken des Antichrist Erst die sowjetische Periode habe eine bdquomystische Ruumlckkehr zum Byzantismusldquo be-deutet indem die Bolschewiki das heilige Moskau wieder zur Hauptstadt erklaumlr-ten das Patriarchat wiederherstellten die Ausbeuter als Klasse vernichteten und dem Westen auf allen Gebieten Widerstand boten Im bdquoroten Byzantismusldquo der Dritten Internationale sei der Katechon zuruumlckgekehrt113

Um seine Mission zur Erloumlsung der Menschheit auch kuumlnftig zu erfuumlllen muumlsse das Dritte Rom nach dem Zerfall der Sowjetunion114 nunmehr ein groszligkon-tinentales sakral fundiertes bdquoEurasisches Imperiumldquo errichten gegen den Erz-feind die materialistische universalistische alles nivellierende Zivilisation des Westens als der Verkoumlrperung des bdquoweltweiten Boumlsenldquo (mirovoe zlo) gegen Libe-ralismus Individualismus Globalismus Egalitarismus sowie die bdquomondialisti-scheldquo Konzeption der Menschenrechte115 Verbuumlndete im bevorstehenden apoka-lyptischen bdquoEndkampfldquo (von Dugin stets deutsch geschrieben) werden all jene sein die den Bezug zum bdquoSakralenldquo noch nicht verloren haben russische Altglaumlu-bige ultraorthodoxe antizionistische Juden europaumlische Traditionalisten sowie jene bdquoanti-atlantischenldquo islamistischen Fundamentalisten die in den USA den Dajjacircl den falschen Messias und Antichrist erkennen gegen den die Retter-gestalt des Mahdicirc zu Felde ziehen wird116 111 Aleksandr Dugin Absoljutnaja Rodina Puti Absoljuta Metafizika Blagoj Vesti Misterii

Evrazii Moskva 1999 645ndash670 112 Ebd 378ndash395 493ndash521 113 Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo 74ndash76 Siehe auch ders bdquoKatechon i revoljucijaldquo in ders

Tampliery proletariata Nacional-bolrsquoševizm i iniciacija Moskva 1997 52ndash59 ndash Die mes-sianische Identifizierung des Dritten Rom mit der Dritten Internationale reicht bis ins Gruumlndungsjahr der Komintern (1919) zuruumlck Beide so der slawophile Philosoph und An-haumlnger des imjaslavie Valerian Muravrsquoev (1885ndash1930) in einem Brief vom 6 Januar 1920 an Lev Trockij seien Ausdruck der Suche des russischen Volkes und der Intelligencija nach einem Reich der Wahrheit und Gerechtigkeit Valerian Muravrsquoev Sočinenija Bd 2 Moskva 2011 352f Weitere Belege bei Emanuel Sarkisyanz Russland und der Messianis-mus des Orients Tuumlbingen 1955 196 Mikhail Agursky Third Rome National Bolshevism in the USSR Boulder Co 1987

114 Damals sah ein Journalist bdquoauf den Ruinen des Imperiumsldquo das Dritte Rom in Gefahr zu einem Land der Dritten Welt zu werden Andrej Fadin bdquoTretij Rim v tretrsquoem mire Razmy-šlenija na ruinach imperiildquo in Nezavisimaja gazeta 1291991

115 [Aleksandr Dugin] bdquoLibo-my libo-ničtoldquo in Ėlementy 8 19961997 1ndash4 hier 2 116 [Aleksandr Dugin] bdquoIdeologija Mirovogo Pravitelrsquostvaldquo in Ėlementy 2 1992 1f

32 Michael Hagemeister

Das Dritte Rom als Zentrum des eurasischen bdquoEuro-Sowjetischen Imperiumsldquo Titelbild der von Aleksandr Dugin herausgegebenen Zeitschrift bdquoElemente Eurasische Rundschauldquo (1992) Dugins Werk mit seiner provokanten Mischung esoterischer antimoderner und antiwestlicher Motive findet besonders unter jungen Intellektuellen Anklang und Nachahmer so etwa bei dem promovierten Philosophen und selbstproklamierten bdquoorthodoxen Metaphysikerldquo Arkadij Maler einem vehementen Propagandisten einer bdquopolitischen Orthodoxieldquo (političeskoe Pravoslavie) und fuumlhrenden Ideolo-gen der bdquoneobyzantinischenldquo Doktrin Obwohl sich Maler von Dugin distan-ziert117 beschwoumlrt auch er die eschatologische bdquogeistige Mission des Dritten Romldquo die es von Byzanz geerbt habe und die in seiner bdquozentralen katechontischen Rolleldquo bestehe dem Kampf gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo des bdquogottlosen Wes-tensldquo118 Russische Politik koumlnne deshalb nicht anders als imperial sein und muumlsse ihren Einfluss auf den gesamten Planeten ausdehnen Wie Dugin sieht auch Maler die Bolschewiki in dieser Tradition als sie Moskau zur Hauptstadt des bdquoRoten

117 In den spaumlten 1990er Jahren gehoumlrte Maler der vaumlterlicherseits juumldischer Abstammung ist

zusammen mit Dugin und Ėduard Limonov zur Fuumlhrungsriege der Nationalbolschewisti-schen Partei und schrieb fuumlr die Parteizeitung Limonka sich selbst charakterisierte er als bdquorotbraunen Zionistenldquo Nach seiner Konversion zur Orthodoxie trennte er sich 1999 von Dugin und kritisierte dessen esoterischen Traditionalismus aus einer ultraorthodoxen Posi-tion Dugin wiederum warf Maler vor ihn zu plagiieren

118 Arkadij Maler Duchovnaja missija Tretrsquoego Rima Moskva 2005 bes 134ndash136 170ndash206 Siehe auch ders bdquoIdeologija Vizantizmaldquo in Severnij Katechon 1 (2005) 7ndash49 bdquoNeovi-zantizm kak novyj bolrsquošoj stilrsquoldquo in Aleksej Nilogov (Hg) Kto segodnja delaet filosofiju v Rossii Moskva 2007 110ndash124

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 33

Imperiumsldquo machten und dieses zur bdquoabsoluten Antithese des Westensldquo erklaumlrten zum bdquoTraumlger der planetarischen Mission der Befreiung der Welt aus den sbquoFesseln des Kapitalslsquoldquo119 Das Dritte Rom sei zeitweise in die Dritte Internationale trans-formiert worden ohne jedoch seine Mission als Katechon als aufhaltende Macht gegen das Reich des Boumlsen und Ausgangspunkt zur Errettung der Welt aufzuge-ben Die bdquoletzte Etappeldquo im Kampf gegen den Antichrist werde so Maler der bdquoeschatologische Krieg des Dritten Rom gegen das Dritte Karthagoldquo den bdquoAnti-katechonldquo sein die bdquoanglo-amerikanische [] atlantische Zivilisationldquo120 Zur Propagierung der katechontischen Mission Russlands gruumlndete Maler 1999 am Institut fuumlr Philosophie der Akademie der Wissenschaften in Moskau einen bdquoBy-zantistischen Klub Katechonldquo (Vizantistskij Klub Katechon) und 2005 das bdquoPhi-losophisch-politische Zentrum sbquoNoumlrdlicher Katechonlsquoldquo das einen gleichnamigen Almanach (Severnyj Katechon) herausgibt121

Apokalyptischer Ausblick

Die Formel vom Dritten Rom und die Figur des Katechon des Aufhalters des bdquoweltweiten Boumlsenldquo sind zu Markenzeichen russischer Anti-Westler und Ver-schwoumlrungstheoretiker und ihres schrillen Szenariums eines globalen apokalyp-tischen bdquoEndkampfesldquo gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo geworden122 Unter dem Titel bdquoDie russische Doktrin Die Staatsideologie der Epoche Putinsldquo verfasste in den Jahren 2005 und 2006 ein Kollektiv nationalpatriotischer Autoren ndash unter ih-nen der bdquoByzantistldquo Arkadij Maler ndash ein uumlber 1000 Seiten langes ultrakonservati-ves und antiwestliches Manifest das auch die Unterstuumltzung hoher kirchlicher Wuumlrdentraumlger fand123 In ihrem Entwurf einer bdquoorganischen weltanschaulichen Plattformldquo fuumlr das kuumlnftige Russland behandeln die Autoren ausfuumlhrlich die bdquohis-toriosophischeldquo Konzeption vom Dritten Rom und seine Mission als Katechon gegen das bdquoHeidentumldquo des Westens124 Gefordert wird die positive Identifikation

119 Maler Duchovnaja missija 182f 185 120 Ebd 177 ndash Als Mittel im ideologischen Kampf gegen den saumlkularen Westen fordert Maler

in Analogie zur katholischen Gegenreformation eine orthodoxe konservative bdquoGegenauf-klaumlrungldquo (Kontrprosveščenie) lthttpwwwkatehonruhtmltoppolitologiaideaotkritije _polit_pravoslavijahtmgt

121 Siehe die Website lthttpwwwkatehonrugt 122 Siehe zB Galina A Morozova Tretij Rim protiv novogo mirovogo porjadka Moskva

2009 Die Formel von Dritten Rom hat laumlngst auch Schriftsteller und Maler inspiriert und scheint auch werbewirksam zu sein bdquoDrittes Romldquo nennt sich ein Verlag ein Videospiel eine Bank ein Reisebuumlro und sogar ein Kasino in Jalta Ein Schoumlnheitswettbewerb in Mos-kau vergibt alljaumlhrlich den Titel einer bdquoMiss Drittes Romldquo Judith E Kalb Russiarsquos Rome Imperial Visions Messianic Dreams 1890ndash1940 Madison Wisconsin 2008 198f Zum Katechon siehe Maria Engstroumlm bdquoContemporary Russian Messianism and New Russian Foreign Policyldquo in Contemporary Security Policy 35 (2014) 3 356ndash379

123 Russkaja doktrina Gosudarstvennaja ideologija ėpochi Putina Moskva 2016 124 Ebd 68ndash72 116ndash120 und passim

34 Michael Hagemeister

mit der Geschichte Russlands und seinen Lichtgestalten dem Heiligen Serafim von Sarov dem bdquoeschatologischen Fuumlhrer des russischen Volkes am Ende der Zeitenldquo der bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo und Stalin der dem paulinischen Kate-chon gleich die bdquoGesetzlosigkeitldquo (bezzakonie) bekaumlmpft und das bdquoFundament fuumlr eine groszlige Zukunftldquo gelegt habe125

bdquoKatechonldquo nennt sich auch ein prominent besetzter Think tank den der Oligarch und Berater Putins Konstantin Malofeev im Jahr 2015 gegruumlndet hat126 Der Milliardaumlr der sein Vermoumlgen mit einer Investmentfirma auf den Cayman Inseln gemacht hat bezeichnet sich selbst als bdquoorthodoxen Monarchistenldquo127 Er unterstuumltzt die Separatisten in der Ostukraine und unterhaumllt vielfaumlltige Verbindun-gen zu europaumlischen Rechtspopulisten wie dem Front National der FPOuml Syriza und der Lega Nord Neben dem Forum bdquoKatechonldquo betreibt Malofeev auch einen Fernsehsender mit dem programmatischen Namen bdquoZargradldquo128 (Motto bdquoDas Licht Christi erleuchtet alleldquo) dessen Chefkommentator niemand anderes ist als Aleksandr Dugin129

bdquoKatechonldquo und bdquoZargradldquo propagieren den Kampf gegen die westliche Moderne mit Bezug auf das byzantinische Erbe Russlands Im November 2014 fand in der Moskauer Manege eine Konferenz bdquoMoskau ndash das Dritte Romldquo statt130 An ihr nahmen auszliger Dugin und Malofeev auch Archimandrit Tichon und Nata-lrsquoja Naročnickaja teil eine hochrangige Diplomatin Mitglied des Izborsker Klubs und Leiterin des Pariser bdquoInstituts fuumlr Demokratie und Kooperationldquo das die oumlf-fentliche Meinung im Westen im Sinne des Kremls beeinflussen soll Tichons Film bdquoDie Lehre von Byzanzldquo sei so Naročnickaja auch eine Warnung an den Westen der seine christlichen Werte verraten habe weshalb er den glaubens-festen Migranten und ihrer Verachtung hilflos ausgeliefert sei131

Im Oktober 2009 wurde Tichons Film in Athen vor ausverkauftem Saal aufgefuumlhrt Unter denen die dem Drehbuchautor Beifall spendeten war der Philo-soph und Theologe Christos Yannaras einer der Hauptvertreter der Neoorthodo-xie und scharfer Kritiker des Westens Wie ihre russischen Gesinnungsgenossen

125 Ebd 130f 153 142ndash145 126 Mit einem Auftritt im Internet in 9 Sprachen Siehe die deutsche Version unter lthttp

katehoncomdewer-sind-wirgt 127 lthttpsdewikipediaorgwikiKonstantin_Walerjewitsch_Malofejewgt 128 Carrsquograd ist der altrussische Name fuumlr Konstantinopel 129 Auch Dugin unterhaumllt seit mehr als 25 Jahren Kontakte zu ultrakonservativen traditiona-

listischen und faschistischen Gesinnungsgenossen in Westeuropa Siehe Vladimir Ivanov Alexander Dugin und die rechtsextremen Netzwerke Fakten und Hypothesen zu den inter-nationalen Verflechtungen der russischen Neuen Rechten Stuttgart 2007

130 lthttpwwwpravoslavieru75070htmlgt 131 lthttpwwwpravoslavieru7414htmlgt ndash Fuumlr Metropolit Ilarion (Alfeev) der sich dabei

auf Dugin beruft verwandeln sich die Laumlnder Westeuropas bereits in die bdquoSphaumlre des Anti-christldquo lthttpwwwpatriarchiarudbtext3065216htmlgt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 35

verherrlichen auch die griechischen Neoorthodoxen die byzantinische Vergan-genheit und sehen in der modernen saumlkularen Gesellschaft eine Bedrohung ihrer kulturellen Identitaumlt132 Gemeinsam suchen sie der Globalisierung mit einer bdquoby-zantinischen Internationaleldquo als bdquoorthodoxer Oumlkumeneldquo entgegenzuwirken einer letztlich sakral verstandenen Gemeinschaft deren Einfluss indes weit uumlber die kirchliche Sphaumlre hinausreichen und eine transnationale Vereinigung der ortho-doxen Welt von Serbien uumlber Syrien bis Georgien und Armenien unter Fuumlhrung Moskaus schaffen soll133 Als wichtiger symbolischer Schritt auf diesem Weg wurde der Besuch von Praumlsident Putin und Patriarch Kirill des Heiligen Berges Athos einer traditionellen Hochburg antiwestlicher Opposition im Mai 2016 ge-feiert Das weltliche und das geistliche Oberhaupt Russlands ndash die bdquoSymphonia der Maumlchteldquo ndash zeigten damit so Aleksandr Dugin ihr Bekenntnis zu Byzanz und seiner Rolle als Katechon Damit anerkenne bdquounsere Rusrsquo ihre historische Bestim-mung Wir sind bereit fuumlr die Endzeitldquo134

132 Ausfuumlhrlich dazu Daniel P Payne The Revival of Political Hesychasm in Contemporary

Orthodox Thought The Political Hesychasm of John Romanides and Christos Yannaras Lanham [ua] 2011 Siehe auch Vasilios N Makrides bdquoByzantium in Contemporary Greece The Neo-Orthodox Current of Ideasldquo in David RicksPaul Magdalino (Hgg) Byzantium and the Modern Greek Identity Aldershot 1998 141ndash153 Zum griechischen Neobyzantismus unter russischem Einfluss Aleksey Kamenskikh bdquoThe Image of the Second Rome through the Prism of the Thirdrdquo in Teresa Obolevich [ua] (Hgg) Russian Thought in Europe Reception Polemics Development Krakoacutew 2013 13ndash22 ndash Antimo-derne und antiwestliche Stroumlmungen in den vom orthodoxen Christentum gepraumlgten Kultu-ren haben der Religionswissenschaftler Makrides und der Slavist Uffelmann vor einigen Jahren als Desiderat der Forschung benannt Vasilios N MakridesDirk Uffelmann bdquoStudying Eastern Orthodox Anti-Westernism The Need for a Comparative Research Agendaldquo in Jonathan SuttonWil van den Bercken (Hgg) Orthodox Christianity and Contemporary Europe Leuven [ua] 2003 87ndash120 Seitdem haben Makrides und die Politikwissenschaftlerin Stoumlckl eine Reihe einschlaumlgiger Arbeiten vorgelegt in denen or-thodoxe Alternativen zu westlichen philosophischen und politischen Konzepten untersucht werden Vasilios N Makrides bdquoOrthodoxes Cristentum und Moderne ndash Inkompatibilitaumlt oder langfristige Anpassungldquo in Una Sancta 2011 1 15ndash30 ders bdquoOumlstliches orthodo-xes Christentum und Saumlkularitaumlt Ein Vergleich mit dem lateinischen Christentumldquo in Transit 47 (2015) 59ndash75 Kristina Stoumlckl bdquoModernity and its Critique in Twentieth Cen-tury Russian Orthodox Thoughtldquo in Studies in East European Thought 58 (2006) 243ndash269 dies Community after Totalitarianism The Russian Orthodox Intellectual Tradition and the Philosophical Discourse of Political Modernity Frankfurt aM [ua] 2008

133 Dazu gehoumlrt auch die Verwirklichung des jahrhundertealten Traums der Wiedererrichtung des Kreuzes auf der Hagia Sophia Siehe Egor Cholmogorov Russkij proekt restavracija buduščego Moskva 2005 283 Der Verfasser Mitglied des Expertenteams des Izborsker Klubs ist Begruumlnder der Doktrin der bdquoAtomaren Orthodoxieldquo siehe Fn 74

134 Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Traditionldquo

ZUM AUTOR

Michael Hagemeister geb 1951 in EllwangenJagst Studium der Slavistik Ge-schichte Germanistik und Philosophie in Basel und MarburgLahn Promotion mit einer Arbeit uumlber den russischen Philosophen Nikolaj Fedorov Wissenschaft-licher Mitarbeiter am Slawischen Seminar in Marburg Gastprofessor am Seminar fuumlr Komparatistik der Universitaumlt Innsbruck Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lotman-Institut fuumlr russische und sowjetische Kultur der Ruhr-Universitaumlt Bo-chum am Lehrstuhl fuumlr Geschichte Osteuropas der Europa-Universitaumlt Viadrina Frankfurt (Oder) an den Historischen Seminaren der Universitaumlten Basel Duumlssel-dorf und Bochum Vertretung der Professuren fuumlr Geschichte Osteuropas an der Ludwig-Maximilians Universitaumlt Muumlnchen und an der Europa-Universitaumlt Frank-furt (Oder)

Forschungen zur russischen Philosophie und Geistesgeschichte zum utopischen und apokalyptischen Denken in Russland zum russischen Rechtsextremismus und Antisemitismus sowie insbesondere zu den Protokollen der Weisen von Zion und ihrem Herausgeber Sergej Nilus Publikationen ua Die Neue Menschheit Biopolitische Utopien in Russland (hg mit Boris Groys) Frankfurt aM 2005 The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimensions (hg mit Birgit Menzel und Bernice Rosenthal) Muumlnchen 2012 Die Fiktion von der juumldischen Weltver-schwoumlrung Zu Text und Kontext der bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo (hg mit Eva Horn) Goumlttingen 2012 Die bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo vor Gericht Der Berner Prozess und die bdquoantisemitische Internationaleldquo in der Zwischen-kriegszeit Chronik Dokumente und Kommentare Zuumlrich (im Druck)

ERFURTER VORTRAumlGE ZUR KULTURGESCHICHTE DES ORTHODOXEN CHRISTENTUMS Reihenherausgeber Vasilios N Makrides

Heft 1 Thomas Bremer Konfrontation statt Oumlkumene Zur kirchlichen Situation in der Ukraine Erfurt 2001

Heft 2 Gerhard Podskalsky Zur Hermeneutik des theologischen Ost-West-

Gespraumlchs in historischer Perspektive Erfurt 2002 Heft 3 Karl Christian Felmy Warum und zu welchem Behufe treiben wir

Ostkirchenkunde Erfurt 2003 Heft 4 Wassilios Klein bdquoTatarenjoch ndash татарское игоldquo Beobachtungen zur

Wahrnehmung des Islam im eurasischen Raum Erfurt 2005 Heft 5 Stamatios D Gerogiorgakis Zeitphilosophie im Mittelalter Byzantinische

und lateinische Vorstellungen Erfurt 2006 Heft 6 Heinz Ohme Das Oumlkumenische Patriarchat von Konstantinopel und die

tuumlrkische Religionspolitik Erfurt 2007 Heft 7 Alexander Agadjanian Russian Orthodox Vision of Human Rights Recent

Documents and Their Significance Erfurt 2008 Heft 8 Christos Yannaras Wem gehoumlrt die griechische Antike Erfurt 2009 Heft 9 Joachim Willems Religions- und Ethikunterricht in Russland ndash Was

wollen Staat und Kirche Zur Einfuumlhrung des neuen Schulfaches bdquoGrundlagen der religioumlsen Kulturen und der weltlichen Ethikldquo Erfurt 2010

Heft 10 Chris Hann Eastern Christianity and Western Social Theory Erfurt 2011 Heft 11 Jennifer Wasmuth Akademische Theologie im zaristischen Russland in

ihrer Bedeutung fuumlr die neuere orthodoxe Theologie Erfurt 2012 Heft 12 Anna Briskina-Muumlller Auf der Suche nach der bdquoHesychialdquo Paisij

Veličkovskij (1722ndash1794) und sein Leben fuumlr die bdquoPhilokalieldquo Erfurt 2014

Heft 13 Vladimir Cvetković From ldquoMerciful Angelrdquo to ldquoFortress Europerdquo The

Perception of Europe and the West in Contemporary Serbian Orthodoxy Erfurt 2015

Heft 14 Stefan G Reichelt Lebenslinien Nikolaj A Berdjaev (1874ndash1948) und Sergij N Bulgakov (1871ndash1944) im Westen ndash Eine Wuumlrdigung Erfurt 2015

Heft 15 Michael Hagemeister Der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo ndash bdquoNeobyzantismusldquo

und bdquopolitischer Hesychasmusldquo im postsowjetischen Russland Erfurt 2016

Alle Hefte der vorliegenden Schriftenreihe koumlnnen unter folgendem Link kostenlos heruntergeladen werden URL httpswwwuni-erfurtdereligionswissenschaftprofessur-orthodoxes-christentumveroeffentlichungenerfurter-vortraege-zur-kulturgeschichte-des-orthodoxen-christentums

Page 5: Michael Hagemeister FINAL - uni-erfurt.de · doziert Tichon, während er das antike Kons tantinopel computeranimiert auferste- hen lässt. Das prosperierende Impe rium erregte freilich

Der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo ndash bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo im postsowjetischen Russland

Michael Hagemeister

bdquoDie Geschichte ist das Rohmaterial fuumlr nationalistische ethnische oder fundamentalistische Ideologien ndash

wie Mohn der Rohstoff fuumlr Heroinabhaumlngigkeit istldquo Eric Hobsbawm1

bdquoDie Lehre von Byzanzldquo

Am 30 Januar 2008 zeigte der staatliche russische Fernsehsender bdquoRossijaldquo den Dokumentarfilm bdquoUntergang eines Imperiums Die Lehre von Byzanzldquo (Gibelrsquo imperii Vizantijskij urok) Der Film der noch mehrmals wiederholt wurde und zu dem auch ein reich bebildertes Buch erschien2 loumlste eine heftige kontrovers gefuumlhrte Diskussion aus Waumlhrend russische Patrioten dem Streifen geschichtli-che Aufklaumlrung attestierten und ihn zugleich als Parabel und aktuelle Warnung priesen verrissen Kritiker ihn als historische bdquoMaumlrchenstundeldquo und bdquoSchaustuumlck der Kreml-Propagandaldquo und forderten sogar sein Verbot3 Inzwischen wurde der Film in vier Sprachen synchronisiert und mehrfach preisgekroumlnt4

Gibelrsquo imperii Filmplakat lthttpsstkpyandexnetimagesfilm_big439949jpggt

1 Eric Hobsbawm bdquoDie Erfindung der Vergangenheitldquo in Die Zeit 9 September 1994

lthttpwww zeitde199437die-erfindung-der-vergangenheitgt Alle Webseiten wurden zuletzt am 3 Oktober 2016 aufgerufen

2 Archimandrit Tichon (Ševkunov) Gibelrsquo imperii Vizantijskij urok Scenarij filrsquoma Moskva 2008

3 Kerstin Holm bdquoLasst uns ein neues Byzanz errichtenldquo in Frankfurter Allgemeine Zeitung 44 21 Februar 2008 42

4 Siehe die offizielle Website des Films lthttpvizantiainfogt

6 Michael Hagemeister

Das Drehbuch stammt von Archimandrit Tichon (Georgij Ševkunov) dem Vorsteher des Sretenskij Klosters auf der Lubjanka in Moskau das als Hort des religioumlsen Fundamentalismus und einer bdquoorthodoxen Machtstaatsideologieldquo (pra-voslavnaja deržavnostrsquo) gilt5 Tichon der vor seiner Priesterweihe ein Studium am Moskauer Gerasimov-Filminstitut absolviert hatte ist einer der bekanntesten Geistlichen im heutigen Russland Medienstar Filmemacher und Bestsellerautor Sein Buch bdquosbquoUnheilige Heiligelsquo und andere Erzaumlhlungenldquo eine autobiographisch grundierte Sammlung moderner Hagiographien und Wunderberichte erreichte in Russland eine Millionenauflage und wurde in mehr als zehn Sprachen uumlbersetzt Tichon preist darin bedingungslosen Gehorsam und Schicksalsergebenheit und bietet damit bdquoeine ideale Grundlage fuumlr eine autoritaumlre Gesellschaftsordnung wie sie sich im letzten Jahrzehnt in Russland herausgebildet hatldquo6 Tichon ist Mitglied des Obersten Kirchenrates der Russischen Orthodoxen Kirche des Praumlsidialrates fuumlr Kultur und Kunst und des nationalpatriotischen Izborsker Klubs7 sowie geistli-cher Begleiter und Beichtvater (duchovnik) von Vladimir Putin8 Bereits lange vor seiner Weihe zum Bischof im Jahr 2015 galt Tichon als ultrakonservativ Er ge-houmlrte zu den Initiatoren der Kampagne gegen die Einfuumlhrung der persoumlnlichen Steuernummer die er als Zahl des apokalyptischen Tieres deutete9 er warnte vor der Macht der Daumlmonen und dem Antichrist als dem falschen Messias der Juden und beschwor die drohende Gefahr eines bdquomystischen okkulten Genozidsldquo an

5 Nikolaj Mitrochin Russkaja pravoslavnaja cerkovrsquo sovremennoe sostojanie i aktualrsquonye

problemy Moskva 2006 210f Irina Papkova The Orthodox Church and Russian Politics New York 2011 47ndash53 219f

6 Ulrich Schmid Technologien der Seele Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur Frankfurt aM 2015 197

7 Zu den Mitgliedern des 2012 von dem Schriftsteller und Initiator eines mystisch-religioumlsen Stalin-Kultes Aleksandr Prochanov (siehe auch Fn 45) gegruumlndeten Klubs gehoumlren neben Tichon auch der Antisemit Holocaust-Leugner und Verschwoumlrungstheoretiker Oleg Plato-nov sowie der Neofaschist und bdquoEurasierldquo Aleksandr Dugin (zu ihm ausfuumlhrlicher unten) Siehe Roland Goumltz bdquoDie andere Welt Im Izborsker Klub Russlands antiwestliche Intel-ligencijaldquo in Osteuropa 65 (2015) 3 109ndash138 Marlene Laruelle bdquoThe Izborsky Club or the New Conservative Avant-Garde in Russialdquo in The Russian Review 75 (2016) 626ndash644 Siehe auch die Website lthttpwwwizborsk-clubrugt

8 lthttpsruwikipediaorgwikiТихон_(Шевкунов)gt 9 Papkova The Orthodox Church 124 Alexander Verkhovsky bdquoThe Orthodox in the Rus-

sian Ultranationalist Movementsldquo in Occasional Papers on Religion in Eastern Europe 22 (2002) 3 18ndash36

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 7

Russlands rechtglaumlubigen Christen10 Auch forderte er die Behandlung der bibli-schen Schoumlpfungslehre im Unterricht um das bdquoMonopol des Darwinismusldquo zu brechen11

Der Film bdquoUntergang eines Imperiumsldquo schildert die Geschichte des Ostroumlmischen Reiches von einer vage datierten Bluumltezeit bis zur Eroberung Kon-stantinopels durch die Osmanen im Jahr 1453 Der Drehbuchautor selbst tritt als Kommentator auf der durch die Szenen fuumlhrt und das Gezeigte deutet Dem Film zufolge bluumlhte Byzanz als geistiges kulturelles und politisches Zentrum der Welt waumlhrend sich der Westen sein bdquoHinterhofldquo bdquoim Zustand tiefster Barbareildquo12 be-fand und seine Bewohner bdquogrobe und ungehobelte Skandinavier Germanen Franken und Angelsachsenldquo13 als primitive Raumluberbanden umherzogen Kaiser Justinian schuf hier den ersten Rechtsstaat hier wurde die erste Universitaumlt ge-gruumlndet und hier entstand das bdquostabilste Finanzsystem in der Geschichte der Menschheitldquo14 Byzantinische Ingenieurkunst und Architektur waren beispiellos doziert Tichon waumlhrend er das antike Konstantinopel computeranimiert auferste-hen laumlsst

Das prosperierende Imperium erregte freilich den Neid und die Habgier des Westens 1204 zogen die Kreuzritter bdquotreubruumlchigldquo gegen Konstantinopel erober-ten und pluumlnderten die Stadt und eroumlffneten dem Westen Zugang zu deren bdquounermesslichen Reichtuumlmernldquo Die geraubten und nach Italien verschleppten Kunstwerke und Goldschaumltze ermoumlglichten dann das Kulturwunder der Renais-sance erschufen aber auch das bdquoMonster des wucherischen Bankensystems der heutigen Weltldquo und damit den modernen Kapitalismus bdquomit seiner unbaumlndigen Profitgierldquo die so Tichon bdquoim Grunde genommen nur den Furor bei den Kriegs-zuumlgen genetisch fortsetztldquo15 bdquoWie Pilze nach dem Regen schossen damals die ersten europaumlischen Banken emporldquo und die kleine Stadt Venedig wurde bdquodas New York des 13 Jahrhundertsldquo16 bdquoDurch Spekulation mit den heiligen Reliqui-en aus Konstantinopelldquo entstanden auch bdquodie ersten groszligen juumldischen Kapital-vermoumlgenldquo17 ndash an dieser Stelle erscheint im Film das beruumlhmte flaumlmische Gemaumll-de bdquoDie Steuereintreiberldquo deren Fratzen die Goldgier der juumldischen Bankiers und

10 Ieromonach Tichon (Ševkunov) bdquoNevidimaja branrsquoldquo in Literaturnaja Rossija 20 (21

Mai 1993) 6f Auch lthttpwwwlibrarypravpiterrubook_327htmgt Tichon wusste wovon er sprach hatte er doch als Student selbst an spiritistischen Seacuteancen teilgenommen Archimandrit Tichon (Ševkunov) bdquoNesvjatye svjatyeldquo i drugie rasskazy Moskva 122015 12ndash17

11 Michael Zimmerman bdquoRussian Creationism Sounds Frighteningly Familiarldquo in The Huffington Post 14 Juni 2010 lthttpwwwhuffingtonpostcommichael-zimmerman russian-creationism-sound_b_610266htmlgt

12 Tichon (Ševkunov) Gibelrsquo imperii 10 13 Ebd 14 Ebd 8 15 Ebd 11f 16 Ebd 12 17 Ebd Vgl auch 79

8 Michael Hagemeister

Wucherer illustrieren sollen bdquoDer barbarische Westen wurde erst dann zum zivi-lisierten Westen als er das byzantinische Imperium erobert gepluumlndert zerstoumlrt und absorbiert hatteldquo18

Waumlhrend der materialistische Westen sich an den Reichtuumlmern Konstanti-nopels guumltlich tat erkannten die Russen worin der groumlszligte Schatz von Byzanz bestand bdquoDas waren weder Gold noch Edelsteine nicht einmal Wissenschaft und Kunst Der groumlszligte Schatz von Byzanz war Gott [hellip] Und auf diesen Schatz gruumlndeten unsere groszligen Vorfahren nicht Banken oder Kapital nicht einmal Mu-seen oder Lombardsaumltze Sie gruumlndeten die Rusʼ Russland die geistige Erbin von Byzanzldquo19

Das multinationale Ostroumlmische Reich das sich zwischen Europa und Asi-en erstreckte bildete so die Lehre des Films eine hierarchisch gegliederte organi-sche Einheit gegruumlndet auf die Orthodoxie und die Loyalitaumlt gegenuumlber dem Kaiser als dem Verteidiger des wahren Glaubens Ein bdquosolch demonstrativer Kon-servatismusldquo aber war dem Westen bdquowo schon damals Individualismus und pri-vate Willkuumlr zum geheiligten Prinzip erhoben wurdenldquo ganz fremd und uner-traumlglich weshalb er bdquomit erbittertem Fanatismusldquo forderte bdquoByzanz solle sein ge-samtes Leben nach westlichem Muster modernisieren ndash in erster Linie die reli-gioumlse und geistige Sphaumlre dann aber auch die intellektuelle und materielle Kultur Was die Einzigartigkeit und Besonderheit von Byzanz angeht so lautete der Ur-teilsspruch des Westens [hellip] muss all dies vernichtet werden falls noumltig gemein-sam mit Byzanz und dessen geistigen Erbenldquo20 In Byzanz selbst entstand eine prowestliche Partei Dieser bdquoinnere Feindldquo wurde von den europaumlischen Regie-rungen zunaumlchst heimlich dann aber immer offener unterstuumltzt und gewann all-maumlhlich die Oberhand uumlber die bdquoimperialen Traditionalistenldquo Weitreichende Re-formen der byzantinischen bdquoWestlerldquo schwaumlchten den Staat untergruben den Glauben und zerstoumlrten schlieszliglich das Imperium Der Hauptgrund fuumlr den Unter-gang von Byzanz sei so Tichon die bdquogeistige Zersetzungldquo seiner Elite gewesen die vom Westen verfuumlhrt die Orthodoxie in der Florentiner Union an den roumlmi-schen Papst verraten habe21

Immer wieder zieht der Film kaum verhuumlllte oder direkte Analogien zum postsowjetischen Russland und dessen Verhaumlltnis zum Westen So haumltten die Ve-nezianer die Eroberung der ostroumlmischen Hauptstadt mit der Verteidigung der bdquoRechte auf den freien internationalen Marktldquo begruumlndet und behauptet einen ge-rechten Kampf gegen ein Regime zu fuumlhren das sich bdquogesamteuropaumlischen Wer-tenldquo verweigere und somit ein bdquoReich des Boumlsenldquo sei22 Als weitere Ursache fuumlr den Niedergang wurden korrupte Beamte eigenmaumlchtige Provinzgouverneure und staatsschaumldigende Oligarchen ausgemacht Ihnen habe sich Kaiser Basileios

18 Ebd 19 Ebd 13f 20 Ebd 44ndash46 21 Ebd 54f 22 Ebd 20f

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 9

II widersetzt indem er bdquomit harter Hand die Vertikale der Macht wieder herstell-teldquo Basileios II bdquozerschlug die separatistische Bewegung in den Randgebieten unterdruumlckte die aufruumlhrerischen Gouverneure und Oligarchen die sich anschick-ten das Imperium aufzuteilen Dann fuumlhrte er eine sbquoSaumluberunglsquo in der Regierung durch und konfiszierte fuumlr die Staatskasse groszlige Summen geraubten Geldesldquo23 Seinem Nachfolger hinterlieszlig er einen riesigen bdquoStabilisierungsfondsldquo24

Es liegt auf der Hand ndash und Tichon deutete es in einem Interview selbst an ndash25 dass mit der bdquoVertikale der Machtldquo die Putinsche Politik der Staumlrkung der Zentralgewalt gemeint ist Die bdquoseparatistische Bewegungldquo laumlsst sich auf Tsche-tschenien und die Ukraine beziehen und jene bdquoOligarchenldquo die nicht nur Reich-tum sondern auch politische Macht erstrebten oder vom feindlichen Ausland aus ihre Wuumlhlarbeit betrieben26 heiszligen heute Berezovskij Abramovič und Chodor-kovskij Und sogar der aktuelle Brain-Drain wird thematisiert wenn es heiszligt bdquoDie reiche Jugend von Byzanz lernte nicht mehr im eigenen Land sondern ging zur Ausbildung ins Ausland Die besten Koumlpfe der einheimischen Wissenschaft emi-grierten in den Westenldquo27

Die bis heute guumlltige bdquoLehre von Byzanzldquo und damit die Botschaft des Films bestehen jedoch in der Erkenntnis des ewigen Hasses den der wesens-fremde Westen gegen die orthodoxe Welt hege Mit den Worten Tichons bdquoDer racheluumlsterne Hass des Westens auf Byzanz und dessen Nachfolger den nicht einmal sie selbst ganz und gar verstehen setzt sich auf einer tieferen genetischen Ebene so paradox es auch klingen mag bis heute fort Falls wir diesen verbluumlffen-den doch unbestreitbaren Tatbestand nicht verstehen laufen wir Gefahr nicht nur in der weit zuruumlckliegenden Vergangenheit sondern auch in der Geschichte des 20 und sogar des 21 Jahrhunderts vieles nicht zu begreifenldquo28

Sowohl die Kritiker als auch die Bewunderer des Films haben denn auch erkannt dass es Tichon nicht um das historische Byzanz sondern um das heutige Russland geht ndash vom hegemonialen Westen bedroht von inneren Schwaumlchen wie Egoismus Zynismus und Korruption Genusssucht und Geburtenruumlckgang ge-zeichnet29 Der Film so Roman Lunkin sei eine bdquohistoriosophische Skizzeldquo und

23 Ebd 25 24 Ebd 27 25 Ebd 121 26 Ebd 31 27 Ebd 50 28 Ebd 64f ndash Dies so Tichon habe auch Stalin erkannt als er 1943 die bis dahin verfemte

Byzantinistik per Dekret wieder eingefuumlhrt habe Der bdquoehemalige Seminarist Džugašvilildquo habe bdquodamals endlich begriffen bei wem man die Geschichte studierenldquo muumlsse Ebd 65

29 Der Film so der renommierte Byzantinist Sergej Ivanov sei bdquoreine Fiktion voller kruder faktischer Fehler und krasser Verzerrungenldquo und bdquoerfuumlllt von giftigem Hass auf den Wes-tenldquo Sergey A Ivanov bdquoThe Second Rome as Seen by the Third Russian Debates on sbquoThe Byzantine Legacylsquoldquo in Przemysław MarciniakDion C Smythe (Hgg) The Reception of Byzantium in European Culture Since 1500 Farnham Burlington 2016 55ndash79 hier 72 [dt bdquoDas Zweite Rom aus der Sicht des Dritten Russische Debatten uumlber das sbquobyzan-tinische Erbelsquoldquo in Transit 46 (20142015) 157ndash173 hier 171] Siehe auch ders bdquoVtoroj

10 Michael Hagemeister

sein Autor eine Art bdquomoderner Moumlnch Filofejldquo der die Idee vom Dritten Rom propagiere30 Lunkin gab damit zwei Stichworte die im Folgenden naumlher betrach-tet werden sollen Historiosophie dh die geschichtsmetaphysische Deutung bzw Instrumentalisierung historischer Ereignisse und die Formel von MoskauRuss-land als dem Dritten Rom

Historiosophie Die heilsgeschichtliche Mission Russlands

Unter den Schlagwoumlrtern bdquoHistoriosophieldquo (istoriosofija) und bdquoMetahistorieldquo (metaistorija) erfreuen sich im postsowjetischen Russland Versuche groszliger Be-liebtheit Ziel und Sinn des weltgeschichtlichen Prozesses und die ihn gestalten-den Kraumlfte spekulativ zu bestimmen und ndash als aufbauende oder zerstoumlrende heil-volle oder unheilvolle Faktoren ndash zu bewerten31 Dabei werden Traditionen der russischen Geschichtsmetaphysik und Geschichtstheologie des 19 und 20 Jahr-hunderts aufgegriffen die die irdische Geschichte als Vollzug eines goumlttlichen Heilsplans deuten der den Glaumlubigen in seinem Anfang und Ende sowie den we-sentlichen Etappen geoffenbart worden sei Das providentielle teacutelos der Geschich-te das Ende und zugleich sinngebende Ziel enthuumlllen apokalyptische Texte So beschreibt die Offenbarung des Johannes die Geschehnisse am Ende der Zeit den Kampf zwischen den Maumlchten des Lichts und der Finsternis die Taumluschung und Verfuumlhrung durch den oder die Repraumlsentanten des Boumlsen die Entscheidungs-schlacht und das Juumlngste Gericht den Untergang der alten durch Konflikte zerrissenen Welt und den Beginn einer neuen vollkommenen und zeitlosen Welt Unverkennbar ist auch der Einfluss der dualistisch-deterministischen Geschichts-konzeption der Sowjetideologie (Geschichte als Einsicht in die bdquoobjektiven Ent-wicklungsgesetze der Gesellschaftldquo) kennt doch auch die Eschatologie und Daumlmonologie des historischen Materialismus den auf ein Endziel (bdquoReich der

Rim glazami Tretrsquoego Ėvoljucija obraza Vizantii v rossijskom obščestvennom soznaniildquo lthttppolitruarticle20090414vizantgt

30 lthttpwwwportal-credorusiteact=freshampid=719gt 31 Vgl Michael Hagemeister bdquoDas Dritte Rom gegen den Dritten Tempel ndash Der Antichrist

im postsowjetischen Russlandldquo in Mariano DelgadoVolker Leppin (Hgg) Der Anti-christ Historische und systematische Zugaumlnge FribourgStuttgart 2011 461ndash485 ndash Der Begriff bdquoHistoriosophieldquo geht auf August Cieszkowski (1814ndash1894) zuruumlck einen der Be-gruumlnder des polnischen Messianismus der in seinen Prolegomena zur Historiosophie (Ber-lin 1838) eine aktive Geschichtsteleologie entwarf Mit dem Begriff bdquoMetahistorieldquo be-zeichnete Sergej Bulgakov (1871ndash1944) bdquoden Gegenstand der Apokalypseldquo naumlmlich bdquodie noumenale Seite jenes universellen Prozesses dessen andere Seite sich uns als Geschichte zeigtldquo Sergej Bulgakov bdquoApokaliptika i socializmldquo in ders Dva grada Bd 2 Moskva 1911 51ndash127 hier 103 Zur Neuentdeckung und Aufwertung des in der Sowjetunion tabuisierten Begriffs bdquoHistoriosophieldquo im postsowjetischen Russland siehe Jutta Scherrer Kulturologie Ruszligland auf der Suche nach einer zivilisatorischen Identitaumlt Goumlttingen 2003 bes 91ndash126

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 11

Freiheitldquo) ausgerichteten Verlauf der Geschichte deren bdquoinnre verborgne Ge-setzeldquo und bdquotreibende Maumlchteldquo (Friedrich Engels) sich nur einem fortschrittlichen Bewusstsein zu erkennen geben

Zu den klassischen Werken bdquohistoriosophischerldquo Geschichtsdeutung die immer wieder aufgelegt werden gehoumlren Vladimir Solovrsquoevs (1853ndash1900) bdquoKur-ze Erzaumlhlung vom Antichristldquo (Kratkaja povestrsquo ob antichriste 1900) eine bdquophi-losophische Dichtungldquo die vielfach nicht als literarische Fiktion sondern als kon-krete Prophetie rezipiert und auf die Gegenwart und nahe Zukunft bezogen wird32 sowie insbesondere die manichaumlischen Geschichtskonzeptionen der religioumlsen Philosophen Pavel Florenskij (1882ndash1937) und Aleksej Losev (1893ndash1988) die gepraumlgt sind von der Vorstellung eines permanenten und allumfassenden in sei-nem Ausgang freilich entschiedenen Kampfes zwischen Logos und Chaos Chris-tus und dem Antichrist und dessen irdischem Agenten dem Judentum

In dieser bdquohistoriosophischenldquo oder bdquometahistorischenldquo Sicht erscheint die Geschichte Russlands als Feld auf dem eine bdquounsichtbare Schlachtldquo (nezrimaja bitva) lichtvoller und finsterer Maumlchte tobt Dabei wird das historische Geschehen in Analogie zur Passion Christi als Leidens- oder Kreuzweg (krestnyj putrsquo) aufge-fasst33 als Kreuzigung (raspjatie) durch die Maumlchte des Antichristentums und als Opfertod (požertvovanie) ein Ereignis das in der Regel mit der Epoche der bdquojuuml-disch-bolschewistischenldquo Sowjetherrschaft identifiziert wird34 Noch befinde sich Russland so die Adepten jener bdquosakralen Metahistorieldquo in einer Phase der Pruuml-fung auf dem Weg zum Ziel der Heilsgeschichte noch liege Russland ohnmaumlchtig im Grab doch werde schon bald seine wunderbare Auferstehung (voskresenie) erfolgen35 In der dann anbrechenden Bluumltephase dem letzten Zeitalter der Welt-geschichte vor dem Juumlngsten Gericht werde das wiedergeborene Russland unter der Herrschaft eines Endzeitkaisers die Menschheit von der Macht des Boumlsen be-freien Russland bringt sich also selbst zum Opfer um am Ende zu triumphieren

32 Siehe Michael Hagemeister bdquoTrilogie der Apokalypse ndash Vladimir Solovrsquoev Serafim von

Sarov und Sergej Nilus uumlber das Kommen des Antichrist und das Ende der Weltgeschich-teldquo in Wolfram BrandesFelicitas Schmieder (Hgg) Antichrist Konstruktionen von Feindbildern Berlin 2010 255ndash275 hier 261

33 Als Stationen an bdquoRusslands Kreuzwegldquo werden zumeist genannt das bdquoTatarenjochldquo als Russland die Feinde der Christenheit auf sich lenkte und durch sein Opfer die Zivilisation des Abendlandes vor dem Untergang rettete (worauf schon Aleksandr Puškin in seinem beruumlhmten Brief vom 19 Oktober 1836 an Petr Čaadaev einen Kritiker des russischen Byzantinismus hinwies) sodann der Einfall der bdquoLateinerldquo zu Beginn des 17 Jahrhun-derts die bdquolaumlsterlichenldquo Reformen des bdquoWestlersldquo Peter I (fuumlr viele der Antichrist) und schlieszliglich die bdquoKatastrophe des Jahres 1917ldquo

34 Siehe Vadim Rossman Russian Intellectual Antisemitism in the Post-Communist Era LincolnLondon 2002 223ndash225

35 Siehe Vardan Bagdasarian bdquoApokalipsis ndash segodnja ėschatologičeskie poiski v sovremen-noj Rossiildquo in Dmitrij Andreev [ua] (Hgg) Ėschatologičeskij sbornik Sankt-Peterburg 2006 435ndash453 hier 436f

12 Michael Hagemeister

Moskau ndash Drittes Rom und Katechon

Die Auffassung von Russlands entscheidender Rolle im Drama der Heilsge-schichte wird begruumlndet mit der Doktrin von Moskau als dem Dritten Rom wie sie aus der beruumlhmten eschatologischen Formel des Pskover Moumlnchs Filofej aus der ersten Haumllfte des 16 Jahrhunderts abgeleitet worden ist bdquoAlle christlichen Zartuumlmer haben sich ihrem Ende zugeneigt und sind gemaumlszlig den prophetischen Buumlchern eingegangen in das eine Zartum unseres Herrschers das heiszligt ins russi-sche Zartum Denn zwei Rome sind gefallen und das dritte steht Ein viertes aber wird es nicht gebenldquo36

Nach der Apostasie der Lateiner (dem Schisma von 1054) und dem bdquoVer-ratldquo Konstantinopels (durch die Florentiner Union 1439) dem als Strafe Gottes der Untergang des Byzantinischen Reichs (1453) folgte wird Russland zum drit-ten und ndash der goumlttlichen Trinitaumlt entsprechend ndash letzten Hort der Rechtglaumlubig-keit37 Dessen Ende wird auch das Ende der Geschichte sein mit dem Auftreten des Antichrist des falschen Messias der Juden der durch Taumluschung und Verfuumlh-rung die Parusie des wahren Messias gleichzeitig verbergen und ankuumlndigen soll Bis dahin aber sind das Heilige Russland und seine Herrscher von Gott erwaumlhlt und berufen den Widersacher Christi abzuwehren und das Ende aufzuhalten Nach der sogenannten Substitutionslehre sind die Erwaumlhlung und der messiani-sche Sendungsauftrag Israels nach dessen bdquoVerratldquo auf die Heilige Rusrsquo und das

36 bdquoMoskau ndash das Dritte Romldquo Das Sendschreiben des Filofej von Pskov in Peter Haupt-

mannGerd Stricker (Hgg) Die Orthodoxe Kirche in Ruszligland Dokumente ihrer Geschich-te 960ndash1980 Goumlttingen 1980 253 Bis zur ersten Publikation von Filofejs Sendschreiben in den 1860er Jahren war dieses Konzept freilich kaum bekannt Zu seinen vielfaumlltigen und bisweilen kontraumlren Deutungen siehe Nina Sinicyna Tretij Rim Istoki i ėvoljucija russkoj srednevekovoj koncepcii (XVndashXVI vv) Moskva 1998 zur Wirkungsgeschichte bis in die postsowjetische Gegenwart siehe Peter J S Duncan Russian Messianism Third Rome Revolution Communism and After LondonNew York 2000 Vgl auch Marshall Poe bdquoMoscow the Third Rome The Origins and Transformations of a sbquoPitoval Momentlsquoldquo in Jahrbuumlcher fuumlr Geschichte Osteuropas 49 (2001) 3 412ndash429 Frank Kaumlmpfer bdquoDie Lehre vom Dritten Rom ndash pitoval moment historiographische Folkloreldquo ebd 430ndash441 Fran-ziska Thun-Hohenstein bdquosbquoMoskau ndash Drittes Romlsquo Nachklaumlnge einer alten Denkfigur in der russischen Kultur des 20 Jahrhundertsldquo in Daniel Weidner (Hg) Figuren des Euro-paumlischen Kulturgeschichtliche Perspektiven Muumlnchen 2006 78ndash97 Sergej Magaril Mi-fologija bdquosbquoTretrsquoego Rimalsquo v rossijskom obrazovannom soobščestveldquo in Ėmilrsquo A Pain (Hg) Ideologija bdquoosobogo putildquo v Rossii i Germanii istoki soderžanie posledstvija Moskva 2010 127ndash156 Anna Briskina-Muumlller bdquoDas neue sbquoneue Romlsquo eine byzantinische Idee auf russischem Bodenldquo in Reinhard FlogausJennifer Wasmuth (Hgg) Orthodoxie im Dialog Historische und aktuelle Perspektiven Berlin [ua] 2015 311ndash336

37 Filofej sprach was oft uumlbersehen wird nicht von Moskau als dem Dritten Rom diese For-mel taucht erst im 17 Jahrhundert auf Auch wird aus dem bdquorhomaumlischen (Romejskoe) Zartumldquo bei Filofej erst spaumlter das bdquorussische (Rosejskoe) Zartumldquo Siehe Sinicyna Tretij Rim 244 324ndash328 ndash Die Vorstellung der Stadt Moskau als dem Dritten Rom treibt inzwi-schen seltsame Bluumlten So glaubt der vielfach ausgezeichnete Kulturologe Rustam Rach-matullin in seinem Bestseller Dve Moskvy ili metafizika stolicy (2008) eine bdquosakrale Identitaumltldquo zwischen Moskau Rom und Jerusalem nachweisen zu koumlnnen

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 13

russische bdquoGottestraumlgervolkldquo (narod-Bogonosec) uumlbergegangen die Orthodoxe Kirche wurde zum bdquoNeuen Israelldquo ihre heiligen Staumltten zum bdquoNeuen Jerusa-lemldquo38 Wenn Paulus davon spricht dass am Ende bdquoganz Israel errettetldquo werde (Roumlm 11 26) so sei damit die Kirche Jesu Christi gemeint zu der die Juden sich bekehren muumlssten39

bdquoMoskau ndash Drittes Romldquo Ikone (2011) Maler unbekannt lthttpwwwruniversrugalgallery-allphpSECTION_ID=7641ampELEMENT_ID=462777gt

Russlands Herrscher fungiert mithin als Katechon als jene hemmende aufhalten-de Macht von der im zweiten Brief des (Pseudo-)Paulus an die Thessalonicher die Rede ist

38 Siehe zB Michail Nazarov Voždju Tretrsquoego Rima K poznaniju russkoj idei v apokalipsi-

českoe vremja Moskva 2005 933f 945 ndash Fuumlr die Anhaumlnger der angloamerikanischen bdquoChristian Identityldquo sind hingegen die bdquoArierldquo bdquoGottes auserwaumlhltes Volkldquo und die Verei-nigten Staaten das bdquoNEW JerUSAlemldquo Martin Durham White Rage The Extreme-Right and American Politics London 2007 67

39 Eine fruumlhe heute wieder viel zitierte wertende Entgegensetzung von Judentum und (russi-schem) Christentum findet sich bereits in der um die Mitte des 11 Jahrhunderts verfassten bdquoRede uumlber das Gesetz und die Gnadeldquo (Slovo o zakone i blagodati) des Metropoliten Ila-rion

14 Michael Hagemeister

Zuerst muss der Abfall von Gott kommen und der Mensch der Gesetzlosigkeit offenbart werden der Sohn des Verderbens der Widersacher der sich erhebt uumlber alles was Gott heiszligt oder Heiligtum so dass er sich sogar in den Tempel Gottes setzt und sich fuumlr Gott ausgibt [] Denn das Geheimnis der Gesetzlosigkeit [τὸ μυστήριον τῆς ἀνομίας]40 ist schon wirksam nur muss erst der beseitigt werden der es bis jetzt noch aufhaumllt [ὁ κατέχων] und dann wird der Gesetzlose offenbart werden [hellip] (2 Thess 23-4 und 7-8)

Die durch bdquofeigen Verratldquo erzwungene Abdankung des Zaren im Maumlrz 1917 und seine Ermordung im Juli 1918 wurden denn auch als Erfuumlllung jener Prophetie verstanden dh als Beseitigung des Katechon damit der Weg frei werde fuumlr die Herrschaft des Antichrist41 Der Regizid wurde in dieser Sicht zu einem bdquoapoka-lyptischen Verbrechenldquo langfristig geplant und auf blutig-rituelle Weise ausge-fuumlhrt von den Agenten des Antichrist den Juden Fuumlr diese so der Historiker Mi-chail Nazarov war der von Gott erwaumlhlte und gesalbte apostelgleiche Herrscher des Dritten Rom der bdquokatechontischen orthodoxen Machtldquo objektiv der groumlszligte metaphysische Feind und seine Beseitigung mithin eine Tat bdquovon houmlchster mys-tisch-religioumlser Bedeutungldquo42

Viele Glaumlubige sind indes uumlberzeugt dass die Stelle des Katechon nicht vakant sei sondern von der Gottesmutter uumlbernommen wurde Als Beweis dafuumlr dient die wundersame Auffindung einer Ikone im Dorf Kolomenskoe bei Moskau an jenem Tag an dem Nikolaus II dem Thron entsagte43 Die Ikone zeigt die

40 Luther uumlbersetzt bdquoGeheimnis der Bosheitldquo in der mittelalterlichen Theologie als der Anti-

christ gedeutet der nach der Offenbarung des Johannes am Ende der Zeiten erscheint 41 Im Russischen wird die Rolle des bdquoSelbstherrschersldquo (samoderžec) als bdquoAufhalter Kate-

chonldquo (uderživajuščij) auch etymologisch deutlich russ deržatrsquo entspricht griech κατέ-χειν ndash Die mysterioumlse Figur des Katechon (im griechischen Text einmal Neutrum einmal Maskulinum) die das Endgericht und den Anbruch des Reiches Gottes verzoumlgert bietet sich ebenso wie der Antichrist und seine Trabanten seit jeher zu immer neuen Identifikatio-nen mit einzelnen Gestalten Gruppen oder politischen Maumlchten an So identifizierte Carl Schmitt (1888ndash1985) der bdquoApokalyptiker der Gegenrevolutionldquo (Jacob Taubes) Liberalis-mus Bolschewismus und Judentum mit dem Antichrist (oder seinen Agenten) und glaubte dendas Katechon unter anderem in der Diktatur Hitlers zu erkennen 1947 notierte er bdquoIch glaube an den Katechon er ist fuumlr mich die einzige Moumlglichkeit als Christ Geschichte zu verstehen und sinnvoll zu findenldquo Carl Schmitt Glossarium Aufzeichnungen aus den Jah-ren 1947 bis 1958 hg von Gerd Giesler und Martin Tielke Berlin 2015 47 Schmitt und seine politische Theologie werden in russischen Intellektuellenkreisen intensiv rezipiert

42 Nazarov Voždju 213ndash223 ders Tajna Rossii Istoriosofija XX veka 1999 695ndash699 ndash Die Ermordung der Zarenfamilie durch die Bolschewiki im Juli 1918 in Ekaterinburg wur-de und wird von russischen Nationalisten als juumldischer antichristlicher Ritualmord darge-stellt Extremistische Kirchenkreise forderten denn auch Nikolaus II und seine Familie als bdquovon Jidden Gemarterteldquo (ot židov umučennye) heiligzusprechen Dem wurde freilich von fuumlhrenden Vertretern des Moskauer Patriarchats widersprochen

43 Im Februar 1917 war der Baumluerin Evdokija Andrianova im Traum der Fundort der Ikone erschienen Nach langem Suchen wurde diese schlieszliglich am 215 Maumlrz im Keller der Himmelfahrtskirche von Kolomenskoe entdeckt Siehe Aleksandr N Kazakevič bdquosbquoV podvale chrama pojavilasrsquo ikona Bogomaterilsquo Dokumenty Centralrsquonogo istoričeskogo

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 15

Himmelskoumlnigin mit den Zeichen ihrer Regentschaft im kaiserlichen Purpur mit Krone Szepter und Reichsapfel Das Bild der bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo (Bogo-materrsquo Deržavnaja) erwies sich sogleich als wundertaumltig und zog zahlreiche Pil-ger an Kopien verbreiteten seine Verehrung im ganzen Land Bis heute gilt es vielen als ein Zeichen dass Russlands Schutz vor dem Ansturm des Antichrist vom Zaren auf die Gottesmutter uumlbergegangen ist und sie die autokratische Macht bis zur Wiederherstellung der Monarchie bewahren wird44 Zum 70 Jahrestag des Sieges lieszlig der Izborsker Klub eine Variante der beruumlhmten Ikone anfertigen Sie zeigt die bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo zusammen mit Stalin und seinen Marschaumll-len Fuumlr Aleksandr Prochanov ist Stalin der Katechon der von Gott gesandte Fuumlhrer des Sowjetvolks das durch den Opfertod seiner Soumlhne im bdquogeheiligtenldquo Groszligen Vaterlaumlndischen Krieg ebenso wie einst Christus die Macht der Houmllle be-siegt und die Menschheit erloumlst habe45

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In bdquohistoriosophischerldquo Sicht bildet die Ermordung des Zaren und seiner Familie das zentrale sinnstiftende Ereignis der Geschichte Russlands im 20 Jahrhundert Alles darauf folgende Ungluumlck und Leiden die Verfolgung der Christen Hunger und Terror der Tod von Millionen Menschen werden aufgefasst als Strafe Gottes fuumlr den Abfall des russischen Volkes vom Glauben und fuumlr den judasgleichen

archiva Moskvy o Deržavnoj ikone Božiej Materildquo in Otečestvennye archivy 1 (2004) lthttpricolororghistorykasvyatyniik_derggt

44 Vgl Grigorij Nikolaev bdquoĖschatologičeskij triptichldquo in Ėschatologičeskij sbornik 358ndash396 hier 376f Bagdasarjan bdquoApokalipsis ndash segodnja 441f

45 Aleksandr Prochanov bdquoMističeskij stalinizmldquo in Izborskij klub Russkie strategii 4 (28) 2015 78ndash81 auch lthttpwwwizborsk-clubruarh2015_04_Blokpdfgt

16 Michael Hagemeister

bdquoVerratldquo an seinem Herrscher Wie Jesus sich dem Willen des goumlttlichen Vaters unterworfen hat und auf Golgatha fuumlr die Suumlnden der Welt gestorben ist so habe der Zar in Ekaterinburg (dem bdquorussischen Golgathaldquo) sein Leben als bdquoSuumlhneopferldquo dargebracht fuumlr die Suumlnden ganz Russlands46 Erst wenn das russische Volk sein Land von den Idolen und Symbolen der Gottlosigkeit reinige den Ideen der De-mokratie und politischen Gleichheit abschwoumlre seine kollektive Schuld bereue und Buszlige tue fuumlr das bdquoschrecklichste und unheilvollste Verbrechen des 20 Jahr-hundertsldquo werde der Zar zuruumlckkehren und Russland seine einstige Groumlszlige wie-dererlangen47

Einer der vehementesten und einflussreichsten Propagandisten der Selbst-charismatisierung Russlands war in den Jahren nach dem Ende der Sowjetunion Metropolit Ioann (Ivan Snyčev 1927ndash1995) von St Petersburg und Ladoga Mit-glied des Heiligen Synods und dritthoumlchster Kirchenhierarch des Landes In einer Vielzahl von Buumlchern Aufsaumltzen und Interviews beschwor Ioann die universale Mission des Dritten Rom als des bdquoletzten Hortes des wahren Glaubensldquo im Kampf gegen den Antichrist und seine Verbuumlndeten das bdquoVolk der Gesetzlosigkeitldquo48 Zu den apokalyptischen Feinden Christi zaumlhlte er die bdquoglobalen Maumlchte hinter den Kulissenldquo (mirovaja zakulisa) das internationale Freimaurertum die bdquotransnatio-nale Finanzoligarchieldquo die Anhaumlnger des Zionismus und Marxismus sowie Israel die USA und deren westeuropaumlische Satelliten49 Wiedergeboren im Geist der Or-thodoxie sei das Dritte Rom der irdische Sockel auf dem der Thron Gottes ruhen werde ndash ihm entgegen stehe der Dritte Tempel der Thron des Antichrist50

Hesychasmus als Kulturscheide ndash Kritik der Renaissance

Als entscheidende Waffe in dieser heilsgeschichtlichen Auseinandersetzung wird in juumlngster Zeit von antiwestlichen Intellektuellen und Kirchenkreisen der soge-nannte Hesychasmus in Stellung gebracht Urspruumlnglich handelt es sich dabei um

46 Das Schicksal des letzten Zaren wurde in der antibolschewistisch-antisemitischen Polemik

schon fruumlh mit der Passion Christi verglichen oder gleichgesetzt Eindrucksvolle Beispiele aus juumlngerer Zeit bieten die patriotischen Lieder der prominenten Saumlngerin Žanna Bičev-skaja oder die Filme Iskupitelrsquonaja žertva (1992) und Russkaja Golgofa (2000) Siehe auch Papkova The Orthodox Church 63f 222

47 Marija Achmetova Konec sveta v odnoj otdelrsquono vzjatoj strane Religioznye soobščestva postsovetskoj Rossii i ich ėschatologičeskij mif Moskva 2010 245ndash260

48 Vgl Rossman Russian Intellectual Antisemitism 221ndash225 Hagemeister bdquoDas Dritte Romldquo 476

49 Metropolit Ioann (Snyčev) bdquoToržestvo pravoslavijaldquo in ders Bitva za Rossiju Sankt-Peterburg 1993 28ndash35 In seinem Bestreben Russland als Opfer jahrhundertealter Ver-schwoumlrungen finsterer antichristlicher Maumlchte darzustellen griff Ioann immer wieder auch auf die Protokolle der Weisen von Zion zuruumlck

50 Metropolit Ioann (Snyčev) Samoderžavie ducha Očerki russkogo samosoznanija Sankt-Peterburg 1994 7

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 17

eine individuelle psychosomatische Gebets- und Meditationstechnik des byzanti-nischen und slavischen Moumlnchtums deren Anfaumlnge bis auf die Wuumlstenvaumlter zu-ruumlckreichen Durch die unablaumlssige konzentrierte Wiederholung des sogenannten bdquoJesusgebetsldquo ndash der Anrufung des rettenden Namens Jesu Christi ndash im Rhythmus des Herzschlags (deshalb auch bdquoHerzensgebetldquo) eine Uumlbung die als bdquogeistiges Tunldquo (πρᾶξις νοερά russ umnoe delanie) bezeichnet wird kann der Asket der die innere Ruhe (ἡσυχία) und Leidenschaftslosigkeit (ἀπάθεια) erreicht hat zur ekstatischen Schau (θεωρία) der Herrlichkeit Gottes in Lichtvisionen gelangen51

Die mit dem bdquoJesusgebetldquo verbundenen mystischen Erfahrungen fuumlhrten im 14 Jahrhundert zu einer hochspekulativen theologischen Deutung und Systemati-sierung durch den Athosmoumlnch (spaumlter Erzbischof von Thessalonike) Gregorios Palamas (129697minus1359) und seine Anhaumlnger im sogenannten bdquoHesychasmus-streitldquo Dabei ging es ndash stark vereinfacht ndash um die Frage inwiefern bestimmte sinnliche Erfahrungen beim Gebet wie das Schauen von Licht aber auch die Empfindung von Waumlrme und Wohlgeruch als Begegnung mit der Realitaumlt Gottes aufzufassen seien (und nicht als Pseudovisionen also als Einbildungen oder gar Inspirationen daumlmonischer Maumlchte) Dahinter steht das alte theologische Problem der Erkennbarkeit oder sinnlichen Erfahrbarkeit Gottes der Kommunikation zwi-schen Immanenz und Transzendenz aber auch der Gefahr der Verfuumlgung uumlber das Goumlttliche (extrem im Gotteszwang durch Beschwoumlrung)

Palamas loumlst die Frage indem er in Anlehnung an neuplatonische Vorstel-lungen das unzugaumlngliche ewige bdquoWesenldquo (οὐσία) Gottes von seiner in der ge-schaffenen Welt d h in Raum und Zeit mitteilbaren ungeschaffenen bdquoWirkkraftldquo oder bdquoEnergieldquo (ἐνέργεια) unterscheidet nicht aber trennt52 Diese Energien bdquodie der dreieinige Gott ausstrahlt und die zu seinem Wesen gehoumlren wie die Strahlen zur Sonne oder das Kraftfeld zum Magnetenldquo53 kann der Asket der den Stufen-prozess von bdquoReinigungldquo (κάθαρσις) bdquoErleuchtungldquo (φωτισμός) und bdquoVergoumlttli-chungldquo (θέωσις) durchlaumluft durch die Gnade Gottes sinnlich erfahren Als houmlch-stes mystisches Erlebnis im Zusammenwirken (συνεργία) aller menschlichen En-ergien mit der goumlttlichen Energie gilt die Schau des ungeschaffenen Lichtes wie sie den Juumlngern Jesu bei dessen Verklaumlrung auf dem Berg Tabor (μεταμόρφωσις

51 Ich folge hier zum Teil meinen Ausfuumlhrungen in Michael Hagemeister bdquoImjaslavie ndash imja-

dejstvie Namensmystik und Namensmagie in Russland (1900ndash1930)ldquo in Tatjana Petzer [ua] (Hgg) Namen Benennung ndash Verehrung ndash Wirkung Positionen der europaumlischen Moderne Berlin 2009 77ndash98 hier 79ndash81 88ndash90 Zum Hesychasmus liegt eine umfangrei-che Literatur vor Das Nachschlagewerk von Sergej Choružij (Hg) Isichazm annotiro-vannaja bibliografija Moskva 2004 umfasst mehr als 10000 Titel in 20 Sprachen

52 Die Unterscheidung von Gottes unerkennbarem Wesen und seinen wahrnehmbaren Wirk-kraumlften reicht bis auf Philon von Alexandria (gest ca 40 n Chr) zuruumlck Siehe Fairy v Lilienfeld bdquoHesychasmusldquo in Theologische Realenzyklopaumldie Bd 15 BerlinNew York 1986 282ndash289 ndash bdquoEnergieldquo ist Synonym fuumlr jeden bdquoAustrittldquo Gottes aus seinem Wesen Die bdquoSaumlttigungldquo mit goumlttlicher Energie erklaumlrt beispielsweise auch die gnadenreiche Heil-wirkung die von den Gebeinen der Heiligen selbst nach deren Tod ausgeht

53 Ebd 284

18 Michael Hagemeister

τοῦ Χριστοῦ Mt 171minus13) zuteil geworden war54 Fuumlr den endzeitlich gestimm-ten Palamas war diese Schau eine Vorwegnahme der Parusie der Vereinigung des Geschaffenen und des Ungeschaffenen und des kuumlnftigen Reiches Gottes somit bdquorealisierte Eschatologieldquo55

Der Glaube an die Wahrnehmbarkeit des ungeschaffenen ewigen Lichtes als Ausfluss der Energien Gottes stieszlig jedoch auf Widerspruch Palamasrsquo promi-nentester Gegner war der aus Kalabrien stammende Moumlnch Barlaam (ca 1290ndash1348) der in der Tradition der abendlaumlndischen rationalistischen Scholastik die Unterscheidung des transzendenten unzugaumlnglichen Wesens Gottes und der da-von untrennbaren Energien die aber ad extra wirken und sich dem Menschen mitteilen als haumlretisch verwarf und auf der absoluten Unerkennbarkeit Gottes be-stand Rom lehnte denn auch die Energienlehre des Palamas aufs schaumlrfste ab Dagegen erkannte die byzantinische Kirche sie 1341 und 1351 als Dogma an Seitdem gilt der palamitische Hesychasmus als ein Spezifikum der Orthodoxie und dient gerade heute wieder der polemischen Abgrenzung gegenuumlber dem Wes-ten56

Fuumlr die bereits genannten Philosophen Pavel Florenskij und Aleksej Losev charakterisiert das Bekenntnis zum Hesychasmus den Kulturtypus des christli-chen Mittelalters der sich in idealer Weise in Byzanz und in der Moskauer Rusrsquo ausgepraumlgt habe und in diametralem Gegensatz zur sogenannten bdquoRenaissance-Kulturldquo des Westens stehe Merkmale jener integralen Kultur des christlichen Ostens seien Gemeinschaftlichkeit (sobornostrsquo) Geistigkeit (duchovnostrsquo) Ob-jektivitaumlt Konkretheit Ganzheit (celrsquonostrsquo) und Ganzheitlichkeit (celostnostrsquo) synthetische Schau und Realismus57 waumlhrend die westliche Moderne seit der Re-naissance gepraumlgt sei durch Subjektivismus Relativismus szientifische Ratio-nalitaumlt (bdquoEntzauberung der Weltldquo) Materialismus Liberalismus Individualismus

54 Siehe Sergej Choružij bdquoSvet Plotinov i svet Favora mistika sveta v neoplatonizme i isi-

chazmeldquo in Aleksej Lidov (Hg) Ierotopija Ognja i Sveta v kulrsquoture vizantijskogo mira Moskva 2013 37ndash44 Zur Terminologie des Hesychasmus ders bdquoAnalitičeskij slovarʼ isi-chastskoj antropologiildquo in ders K fenomenologii askezy Moskva 1998 22ndash186

55 Peter Kawerau Das Christentum des Ostens Stuttgart [ua] 1972 131 56 Siehe zB die Arbeiten des Moskauer Theologen Igorʼ Ėkonomcev (Archimandrit Ioann)

bes bdquoIsichazm i vostočnoevropejskoe Vozroždenieldquo in Bogoslovskie trudy 29 (1989) 167ndash196 erweiterte Fassung bdquoDer Hesychasmus und die Renaissance in Osteuropaldquo in Karl Christian Felmy (Hg) Tausend Jahre Christentum in Russland Zum Millennium der Taufe der Kiever Rusrsquo Goumlttingen 1988 731ndash771 ndash Im 19 Jahrhundert erlebte der Hesy-chasmus im Zuge der Wiederbelebung mystischer Froumlmmigkeit durch Paisij Veličkovskij (1722ndash1794) eine Bluumlte im russischen Starzentum Dabei handelt es sich auch ndash aumlhnlich wie beim Pietismus ndash um eine Reaktion auf die Einfluumlsse der westlichen Aufklaumlrung Siehe die Beitraumlge in Adalberto Mainardi (Hg) Paisij lo starec Atti del III Convegno ecumenico internazionale di spiritualitagrave russa Bose 20ndash23 settembre 1995 Magnano 1997

57 Die Uumlberwindung der Trennung des erkennenden Subjekts vom Objekt der Erkenntnis (Descartes Locke Kant) durch das spekulative intuitive Erfassen des Wesens (der Ideen des Absoluten) als des eigentlich Realen hat die russische Philosophie des 20 Jahrhunderts bdquolebendiges Wissenldquo (živoe znanie) bdquoIdeal-Realismusldquo (ideal-realizm) oder bdquointuitiven Realismusldquo (intuitivnyj realizm) genannt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 19

Abstraktheit Zersplitterung und Atomisierung58 Der Sieg des Nominalismus im mittelalterlichen Universalienstreit und die Feier des autonomen Individuums in Renaissance Humanismus und Aufklaumlrung markieren in dieser katastrophischen Perspektive den Zerfall der goumlttlichen Ordnung des Universums und der Sakralitaumlt von Hierarchie und Herrschaft und damit den bdquoSuumlndenfallldquo der abendlaumlndischen Kultur die im Anthropozentrismus der satanischen Hybris einer bdquoSelbstvergot-tungldquo des Menschen (čelovekobožie)59 zugleich gipfele und scheitere60

Am Anfang dieser verhaumlngnisvollen Spaltung standen die Annahme der pa-lamitischen Lehre durch die Ostkirche und die Ablehnung dieser Lehre im Westen durch den bdquoRenaissance-Menschenldquo (vozroždenec) Barlaam den Lehrer Boccac-cios und Petrarcas61 Mit aller Schaumlrfe formulierte Losev diesen Gegensatz bdquo[hellip] entweder ist das Taborlicht untrennbar vom Wesen Gottes und ist deshalb Gott selbst (obwohl Gott selbst nicht [das] Licht ist) ndash dann ist die Orthodoxie gerettet oder das Licht ist vom Wesen Gottes trennbar und darum geschaffen ndash dann be-ginnen die apokalyptischen Kraumlmpfe des Renaissance-Westensldquo62 Indem sie Bar-laam einen bdquozugereisten Kalabrierldquo und seine Anhaumlnger mit dem Bann belegte habe die Orthodoxe Kirche so Losev die damals heraufziehende Renaissance

58 Siehe zB Pavel Florenskij bdquoAvtoreferat (192526)ldquo in Voprosy filosofii 1988 12 113ndash

116 dt Pavel Florenski bdquoAutorreferatldquo in ders Leben und Denken hg von Fritz und Sieglinde Mierau Bd 1 Ostfildern 1995 32ndash38 Aleksej Losev Dialektika mifa (1930) Moskva 2001 137ndash138 dt Die Dialektik des Mythos Hamburg 1994 109 ndash Die wertende Entgegensetzung von mittelalterlicher und Renaissance-Kultur (bzw der Typen bdquoobjekti-verldquo und bdquosubjektiverldquo Kulturen) findet sich durchgaumlngig im Werk Florenskijs und Losevs Siehe zuletzt Oksana SedychJulija Grišatova bdquoRusskij Renessans o Renessanseldquo in Vo-prosy filosofii 2015 6 111ndash121

59 bdquoSatan war der erste Revolutionaumlrldquo zitiert Losev einen (apokryphen) Ausspruch des Hl Serafim von Sarov Aleksej Losev bdquoDopolnenie k sbquoDialektike mifalsquo (novyj fragment)ldquo in AF Losev tvorčestvo tradicii interpretacii Moskva 2014 397ndash411 hier 401

60 So degradiere ndash um nur ein Beispiel fuumlr das Scheitern der Renaissance zu geben ndash das heliozentrische Weltbild eines Kopernikus und Giordano Bruno den Menschen zum Be-wohner eines bdquonichtigen Sandkornsldquo im unendlichen Weltraum SedychGrišatova bdquoRuss-kij Renessansldquo 114 Florenskij suchte denn auch in seiner Schrift Mnimosti v geometrii (1922) das geozentrische Weltbild des Mittelalters zu rehabilitieren Zum griechisch-or-thodoxen Antikopernikanismus Vasilios Makrides Die religioumlse Kritik am kopernikani-schen Weltbild in Griechenland zwischen 1794 und 1821 Aspekte griechisch-orthodoxer Apologetik angesichts naturwissenschaftlicher Fortschritte Frankfurt aM [ua] 1995

61 Mitunter wurde Barlaam sogar als Agent einer groszligangelegten antiorthodoxen Verschwouml-rung des bdquoPapismusldquo denunziert Siehe Ėkonomcev bdquoIsichazmldquo 59 vgl ders bdquoDer Hesy-chasmusldquo 736 ndash Eine Kontrastierung des weltlichen Humanisten Petrarca und des Hesy-chasten Palamas unternahm Losevs Schuumller und Sekretaumlr Vladimir Bibichin lthttpwww philologyruliterature3bibikhin-90htmgt

62 Aleksej Losev Očerki antičnogo simvolizma i mifologii Moskva 1930 856 Auch Ėko-nomcev spricht von den bdquoschreienden Widerspruumlchen und Grimassen der westlichen Re-naissance deren geistiger Vater Barlaam wurdeldquo Ėkonomcev bdquoIsichazmldquo 63 (in der deut-schen Version ist von bdquohimmelschreienden Gegensaumltzenldquo und bdquoscheuszliglichen Grimassenldquo die Rede Ėkonomcev bdquoDer Hesychasmusldquo 746)

20 Michael Hagemeister

insgesamt verdammt (anafematstvovala) der alle westlichen Voumllker verfallen sei-en und wahrscheinlich bis ans Ende ihrer Tage verfallen blieben63

Bis zuletzt verteidigte Losev ein mit Orden des Sowjetstaates ausgezeich-neter Philosoph der 1929 von Archimandrit David (Muchranov 1847ndash1930) ei-nem Fuumlhrer der hesychastischen bdquoNamensverehrerldquo (imjaslavcy)64 heimlich zum Moumlnch geweiht worden war die Lehre des Palamas als einen Grundpfeiler der Orthodoxie65 Gleichzeitig hielt er an seiner schroffen Ablehnung des bdquoRenaissan-ce-Westensldquo fest dessen Geschichte insgesamt nichts anderes sei als bdquoeine libera-le Kritik des Mittelaltersldquo 1978 stellte Losev in seiner umfangreichen Studie zur Aumlsthetik der Renaissance der bdquoganzheitlichen Kulturldquo (celostnaja kulrsquotura) des Mittelalters die zerrissene Kultur der Renaissance gegenuumlber die auf der Verabso-lutierung und bdquotitanischen Verherrlichungldquo des isolierten Subjekts und der bdquoAbge-trenntheit vom lebendigen Seinldquo (otryv ot živogo bytija) beruhe66 In einem Ge-spraumlch mit dem Schriftsteller Viktor Erofeev das 1985 veroumlffentlicht wurde de-nunzierte Losev den Typus des bdquoRenaissance-Menschenldquo der sich selbst vergoumltt-liche und deshalb dem Nihilismus und Satanismus verfalle bdquoIndem die Renais-sance das Subjekt zum Absolutum erhob oumlffnete sie den Weg fuumlr den Triumph des Subjektivismus in den folgenden Jahrhunderten In diesem Sinne stellt der gesamte Westen fuumlr mich eine Sackgasse des Denkens darldquo67 Damit geriet der Philosoph einerseits in scharfen Gegensatz zum sowjetischen Selbstverstaumlndnis das sich als Erbe und Vollender gerade jener bdquoprogressivenldquo Prozesse und huma-nistischen Traditionen sah die von der europaumlischen Renaissance ausgegangen

63 Losev Očerki 849 856 64 Zur Bewegung des imjaslavie die zu Beginn des 20 Jahrhunderts auf dem Athos entstand

und in Florenskij und Losev prominente Unterstuumltzer fand liegt inzwischen eine reiche Literatur vor Siehe die juumlngste Veroumlffentlichung Antoine Niviegravere Les glorificateurs du nom Une querelle theacuteologique parmi les moines russes du mont Athos (1907ndash1914) Genegraveve 2016

65 Siehe Valentina Postovalova bdquoAfonskij spor ob Imeni Božiem v filosofsko-bogoslovskom osmyslenii AF Losevaldquo in AF Losev 95ndash106 bes 105f

66 Aleksej Losev Ėstetika Vozroždenija Moskva 21982 (11978) 45 61 137 und passim Losevs Modernekritik erinnert an Heidegger und dessen Begriff der bdquoSeinsvergessenheitldquo Wie fuumlr Heidegger so war auch fuumlr Losev (und Florenskij) der Agent der verhassten Moder-ne ein bdquorechnendesldquo und bdquowurzellosesldquo mythisches Judentum Zu Losevs metaphysischem Antisemitismus (bdquodas satanische Wesen des Judentumsldquo) siehe zuletzt mit zahlreichen Belegen Natalrsquoja Boneckaja Duch Serebrjanogo veka (fenomenologija ėpochi) Moskva Sankt-Peterburg 2016 688ndash693

67 Aleksej Losev bdquoV poiskach smyslaldquo in Voprosy literatury 1985 10 205ndash231 hier 229 Zu Losevs Kritik der bdquoRenaissance-Kulturldquo des Westens ausfuumlhrlich Annett Jubara Die Philosophie des Mythos von Aleksej Losev im Kontext bdquoRussischer Philosophieldquo Wiesba-den 2000 bes 131ndash154 Siehe auch Naftalij Prat bdquoAleksej Losev und der Totalitarismusldquo in Leonid Luks (Hg) Das Christentum und die totalitaumlren Herausforderungen des 20 Jahrhunderts Koumlln [ua] 2002 103ndash114 bes 108f

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 21

waren (augenfaumlllig etwa in der Architektur der 1930er bis 50er Jahre)68 Anderer-seits erwies sich der orthodoxe Moumlnch damit auch als Apologet des Sowjetregi-mes bedroht die Autonomie des Individuums doch den Wesenskern einer jeden Herrschaft die das Wahrheitsmonopol fuumlr sich beansprucht

Die Ablehnung der modernen bdquokopernikanischen Weltldquo (Hans Blumen-berg) durchzieht das gesamte philosophische Werk Losevs und Florenskijs dazu gehoumlren die Ablehnung des heliozentrischen Weltbildes die Polemik gegen Kants kritischen Idealismus (die bdquokopernikanische Wendeldquo in der Philosophie) die Ab-lehnung der Zentralperspektive in der Kunst die Ablehnung des nominalistischen Rationalismus und schlieszliglich die Ablehnung der saumlkularen und demokratischen Gesellschaftsordnung zugunsten einer bdquoVerkirchlichungldquo (ocerkovlenie) aller Be-reiche der Gesellschaft und des Staates in Gestalt einer theokratischen Synarchie Florenskij der sich als einen mittelalterlichen Menschen charakterisierte69 ndash Ni-kolaj Berdjaev selbst Verkuumlnder eines religioumls-integralen bdquoNeuen Mittelaltersldquo nannte ihn einen bdquoraffinierten Reaktionaumlrldquo ndash70 war uumlberzeugt dass die bdquoentseelte Renaissance-Zivilisationldquo sich erschoumlpft habe und eine neue ganzheitlich-objekti-ve Kultur anbrechen werde71 Vorbild dieser bdquoKultur des anderen Typusldquo werde Russland sein bdquoerste Keimeldquo seien bereits zu erkennen Seine Zeit begriff Floren-skij bdquoan den Wasserscheiden des Denkensldquo und er sah seine Lebensaufgabe darin bdquoWege zu bahnen zu einer kuumlnftigen ganzheitlichen Weltanschauungldquo72

68 Losevs Renaissance-Kritik (va in Ėstetika Vozroždenija) wurde deshalb auch als ver-

schleierte Kritik am Sowjetsystem verstanden Siehe Annett Jubara bdquoAleksej Losevs Philosophie des Mythos als Kritik an der Sowjetischen Moderneldquo in Studies in East Euro-pean Thought 56 (2004) 211ndash224 Aus dem Kreis der Schuumller Losevs gingen seit den 1960er Jahren zahlreiche dissidentische russische Nationalisten hervor Nikolaj Mitrochin Russkaja partija Dviženie russkich nacionalistov v SSSR 1953ndash1985 Moskva 2003 288f Zur Kritik der Renaissance-Zivilisation siehe auch Vladimir Bibichin Novyj renessans Moskva 1998 bes 131ndash155

69 Siehe Florenskij bdquoAvtoreferatldquo Noch im Maumlrz 1933 nach seiner Verhaftung erklaumlrte Flo-renskij gegenuumlber den Ermittlungsbeamten bdquoIch Pavel Aleksandrovič Florenskij [hellip] bin dem Charakter meiner politischen Anschauungen nach ein Romantiker des Mittelalters un-gefaumlhr des 14 Jahrhundertsldquo Vitalij Šentalinskij bdquoUdel veličijaldquo in Ogonek 1990 45 23ndash27 hier 26

70 Nikolaj Berdjaev Samopoznanie (Opyt filosofskoj avtobiografii) Moskva 1991 161 Sie-he Nikolaj Berdjaev Novoe srednevekovrsquoe Berlin 1924 dt Nikolaus Berdjajew Das Neue Mittelalter Darmstadt 1927

71 Siehe Michael Hagemeister bdquoWiederverzauberung der Welt ndash Pavel Florenskijs Neues Mittelalterldquo in Norbert Franz [ua] (Hgg) Pavel Florenskij ndash Tradition und Moderne Beitraumlge zum Internationalen Symposium an der Universitaumlt Potsdam 5 bis 9 April 2000 Frankfurt aM [ua] 2001 21ndash41 Zu Florenskijs Kritik an Renaissance und Humanismus (bdquoder Humanismus entsprang der Kabbalaldquo) siehe auch Ilona Svetlikova bdquoOb ideologii sbquoobratnoj perspektivylsquo Pavla Florenskogoldquo in Russkaja intellektualʼnaja revoljucija 1910ndash1930-ch godov Moskva 2016 123ndash139 zu den Uumlbereinstimmungen mit Heidegger siehe Viktor Arslanov Postmodernizm i russkij bdquotretij putrsquoldquo tertium datur rossijskoj kulrsquotury XX veka Moskva 2007 472ndash499

72 Florenskij bdquoAvtoreferatldquo 114

22 Michael Hagemeister

In juumlngster Zeit hat das wiedererwachte Interesse an der eigenen spirituellen Tradition und ihren byzantinischen Wurzeln ndash oftmals verbunden mit dem Bestre-ben sich vom bdquosaumlkularen Westenldquo und der bdquowestlichen Moderneldquo abzugrenzen ndash zu einer Wiederbelebung des palamitischen Hesychasmus (neopalamizm) und der ndash davon zu unterscheidenden ndash bdquoNamensverehrungldquo (imjaslavie) gefuumlhrt73 Be-reits in den 1970er Jahren war John Meyendorffs klassische Studie St Greacutegoire Palamas et la mystique orthodoxe (Paris 1959) ins Russische uumlbersetzt worden und kursierte in der Sowjetunion in Samizdat-Ausgaben im Milieu religioumls-philo-sophischer Dissidenten Heute wird die Wiederbelebung des Hesychasmus auch durch den patriotischen Kult um Serafim von Sarov (Prochor Mošnin 1759ndash1833) befoumlrdert einen Wundertaumlter und Apokalyptiker der im postsowjetischen Russland zu einem der meistverehrten Heiligen avanciert ist74 In einer in viele Sprachen uumlbersetzten und millionenfach verbreiteten Schrift schildert sein Schuuml-ler Nikolaj Motovilov (1809ndash1879) die Verklaumlrung Serafims im ungeschaffenen Licht des Heiligen Geistes die sich angeblich im November 1831 auf einer einsa-men verschneiten Waldlichtung ereignet hat75

73 Dies gilt nicht nur fuumlr Russland auch auf Vertreter der angelsaumlchsischen bdquoRadical Ortho-

doxyldquo die das Projekt einer von modern-saumlkularem Denken nicht korrumpierten Theologie verfolgen uumlben Hesychasmus und russische Sophiologie starke Faszination aus Siehe die Beitraumlge in Adrian PabstChristoph Schneider (Hgg) Encounter Between Eastern Ortho-doxy and Radical Orthodoxy Transfiguring the World Through the Word Farnham 2009 Zur Wiederbelebung des imjaslavie im post-sowjetischen Russland siehe Scott M Ken-worthy bdquoDebating the Theology of the Name in Post-Soviet Russia Metropolitan Ilarion Alfeev and Sergei Khoruzhiildquo in Katya Tolstaya (Hg) Orthodox Paradoxes Hetero-geneities and Complexities in Contemporary Russian Orthodoxy LeidenBoston 2014 250ndash264 Siehe auch Loren Grahams Bericht uumlber diskrete Zusammenkuumlnfte der imjaslav-cy im Kellergeschoss der Moskauer Tatrsquojana-Kirche in den fruumlhen 2000er Jahren Loren GrahamJean-Michel Kantor Naming Infinity A True Story of Religious Mysticism and Mathematical Creativity Cambridge MassLondon 2009 1ndash5

74 Fuumlr die Anhaumlnger der Doktrin einer bdquoAtomaren Orthodoxieldquo (atomnoe pravoslavie) ist Se-rafim auch der Schutzheilige der russischen Atombombe wurde doch Sarov der Ort seines Wirkens 1946 unter dem Namen Arzamas-16 zur streng geheimen Nuklearstadt in der Wissenschaftler unter ihnen Andrej Sacharov am Bau der sowjetischen Atom- und Was-serstoffbomben arbeiteten Patriotische Russen deuten dies als Zeichen dass bdquoim Hause unseres Vaters Serafimldquo mit dessen Segen der nukleare bdquoSchild zum Schutz der Heimatldquo geschmiedet worden sei Pavel V Florenskij bdquoNeobchodimostrsquo našej atomnoj bombyldquo in Naš sovremennik 1997 4 219ndash221 Bei dem Verfasser handelt es sich um einen Enkel des beruumlhmten Philosophen Siehe auch lthttpsruwikipediaorgwiki Атомное_правосла виеgt

75 Die Schrift deren Authentizitaumlt umstritten ist wurde bekannt unter dem Titel bdquoGespraumlch uumlber das Ziel des christlichen Lebensldquo (Beseda o celi christianskoj žizni) Erstmals veroumlf-fentlicht wurde das bdquoGespraumlchldquo 1903 von Sergej Nilus (1862ndash1929) dem Herausgeber und Kommentator der Protokolle der Weisen von Zion Siehe Michael Hagemeister bdquoIl proble-ma della genesi del sbquoColloquio con Motovilovlsquoldquo in Adalberto Mainardi (Hg) San Sera-fim Da Sarov a Diveevo Atti del IV Convegno ecumenico internazionale di spiritualitagrave russa Bose 18ndash20 settembre 1996 Magnano 1998 157ndash174 Bis heute gibt es keine kriti-sche Ausgabe dieses zentralen Textes russischer Geistigkeit

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 23

Von der Wiederbelebung des Hesychasmus zeugt auch das groszligangelegte Projekt einer bdquosynergetischen Anthropologieldquo (sinergijnaja antropologija) des Mathematikers Physikers und religioumlsen Philosophen Sergej Choružij Prakti-sches Ziel das seit 2005 durch ein eigenes Institut in Moskau verfolgt wird ist die psychosomatisch-holistische Selbsttransformation des Menschen die auf unmittelbarer (mystisch-energetischer) Erfahrung bzw Einwirkung des ontolo-gisch Anderen (Goumlttlichen) beruht sowie die Uumlberwindung der Subjekt-Objekt-Trennung der modernen westlichen Philosophie die Choružij fuumlr den von ihm als krisenhaft und katastrophisch beschriebenen Zustand der westlichen Moderne verantwortlich macht Im Unterschied zu orthodoxen Fundamentalisten und Anti-Westlern sucht Choružij indes die asketischen Praktiken des Hesychasmus mit modernen und postmodernen westlichen Anthropologien (Kierkegaard Scheler Heidegger und insbesondere Foucaults technique oder practique de soi) in Bezie-hung zu setzen76

bdquoPolitischer Hesychasmusldquo

Es duumlrfte deutlich geworden sein dass Hesychasmus nicht nur eine weltabge-wandte mystisch-asketische bdquogeistige Praxisldquo bezeichnet sondern auch als Kampfbegriff gegen die saumlkulare Kultur des bdquoWestensldquo und der bdquowestlichen Mo-derneldquo dient Dies gilt vor allem fuumlr das Konzept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo (političeskij isichazm)

In den russischen Diskurs wurde dieses Konzept um die Mitte der 1960er Jahre von dem Leningrader Mediaumlvisten und Byzantinisten Gelian Prochorov ein-gefuumlhrt77 Seiner Hauptthese zufolge wurde der Hesychasmus nachdem er aus den Klosterzellen herausgetreten war und eine philosophisch-theologische

76 Siehe Sergej Choružij Očerki sinergijnoj antropologii Moskva Inst Sinergijnoj antropo-

logii Inst filosofii teologii i istorii Sv Fomy 2005 ders (Hg) Fonarrsquo Diogena Proekt sinergijnoj antropologii v sovremennom gumanitarnom kontekste Moskva 2010 ders bdquoDie mystische Verwandlung des Menschen Uumlber den Hesychasmus als Raum der Philo-sophieldquo in Fuge Journal fuumlr Religion amp Moderne 7 (2010) 72ndash99 Siehe auch die Web-site lthttpsynergia-isarugt Kristina Stoeckl bdquoA New Anthropology Sergej S Khoru-žijrsquos Search for an alternative to the Cartesian Subject in sbquoOčerki sinergijnoj antropologiilsquoldquo in Studies in East European Thought 59 (2007) 237ndash245

77 Gelian Prochorov bdquoĖtničeskaja integracija v Vostočnoj Evrope v XIV-m veke Ot isichastskich sporov do Kulikovskoj bitvyldquo in Doklady otdelenija ėtnografii 2 (196265) Leningrad 1966 81ndash110 ders bdquoIsichazm i obščestvennaja myslʼ v Vostočnoj Evrope v XIV vldquo in Literaturnye svjazi drevnich slavjan (Trudy otdela drevnerusskoj literatury 23) Leningrad 1968 86ndash108 ders bdquoKulʼturnoe svoeobrazie ėpochi kulikovskoj bitvyldquo in Kulikovskaja bitva i podldquoem nacionalrsquonogo samopoznanija (Trudy otdela drevne-russkoj literatury 34) Leningrad 1979 3ndash17 ndash Prochorov gehoumlrte bereits zu Sowjetzeiten ins Lager der (neo-)slavophilen Anti-Westler er war eng befreundet mit dem bdquoEurasierldquo und Antisemiten Lev Gumilev (1912ndash1992) und uumlbernahm von diesem das Konzept der bdquoEthnogeneseldquo

24 Michael Hagemeister

Grundlegung erfahren hatte am Ende des 14 Jahrhunderts zu einem entscheiden-den politischen und kulturellen Faktor nicht nur in Byzanz sondern in ganz Ost-europa und lieferte unter anderem das ideologische Fundament zur Konsolidie-rung der nachmongolischen Rusʼ Im Streit zwischen dem bdquorationalistischen Hu-manismus und dem kontemplativen Hesychasmus [hellip] entschied Byzanz uumlber sein geistiges Schicksal Das Land blieb bis zuletzt mittelalterlich Den Hesy-chasten gelang es zu Wortfuumlhrern der oumlffentlichen Meinung in Byzanz zu werden die letzte schoumlpferische Synthese seiner traditionellen Kultur zu entwickeln und eine breite kulturelle und gesellschaftliche Bewegung in Gang zu setzen die zu einer Erneuerung des Mittelalters und zu einer Wiederbelebung der Orthodoxie im ganzen oumlstlichen Europa fuumlhrteldquo78

Im Anschluss an das von seinem Lehrer Dmitrij Lichačev entwickelte Kon-zept einer bdquoVorrenaissanceldquo (Predvozroždenie)79 spricht Prochorov von einer bdquovorrenaissancelichen Gegenreformationldquo (predvozroždenčeskaja kontrreforma-cija) und einer bdquoOrthodoxen Renaissanceldquo (Pravoslavnoe Vozroždenie)80 Ge-meint war damit dass die Palamiten (Hesychasten) den Sieg der Barlaamiten ver-hindern konnten und auf die Schriften der antiken Kirchenvaumlter zuruumlckgreifend ein mystisch-kontemplatives Aumlquivalent zum rationalistischen und saumlkularen Hu-manismus geschaffen haumltten Auf diese Weise habe der drohende Uumlbergang der byzantinischen und osteuropaumlischen christlich gepraumlgten Kultur von der bdquoVorre-naissanceldquo zu einer auf heidnisch-antiken Wurzeln beruhenden Renaissance ab-gewendet werden koumlnnen81 Auf die bdquoVorrenaissanceldquo sei ein bdquoNeues Mittelalterldquo gefolgt das in der bdquoHeiligen Rusʼldquo um die Wende zum 15 Jahrhundert seinen Houmlhepunkt erreicht habe Ihm verdanke Russland seine Groumlszlige und die russische Kultur ihre bdquoUniversalitaumltldquo und bdquoGeistigkeitldquo82

Bemerkenswert ist dass der sowjetische Wissenschaftler die beiden ideolo-gischen Lager mit traditionellen (neo-)slavophilen Wertungsoppositionen wie sie bereits bei Florenskij und Losev begegnet sind verbindet und dabei deutlich seine 78 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 4 79 Vor allem in seinem Buch Kulʼtura Rusi vremeni Andreja Rubleva i Epifanija Premudrogo

MoskvaLeningrad 1962 80 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 8 Siehe auch ders Nekogda ne narod a nyne narod

Božijhellip Drevnjaja Rusʼ kak istoriko-kulʼturnyj fenomen Sankt-Peterburg 2010 133ndash157 81 So auch Igorʼ Ėkonomcev bdquoDie osteuropaumlische sbquoVorrenaissancelsquo ist nicht die erste Stufe

zur saumlkularisierten Renaissance vom abendlaumlndischen Typ sondern ihre Antithese Der geistige und kulturelle Aufschwung in Osteuropa war die wahre volle und eindeutige Re-naissance die sich grundlegend von der westlichen Renaissance unterschied Sie haumltte sich niemals in eine Renaissance westlicher Praumlgung verwandeln koumlnnenldquo Ėkonomcev bdquoDer Hesychasmusldquo 764 vgl ders bdquoIsichazmldquo 69 Diese (osteuropaumlische) Renaissance so Ėkonomcev an anderer Stelle sei ungleich bdquoerhabener geistiger und reinerldquo gewesen als bdquodie westeuropaumlische Renaissance mit ihrer krankhaften Disharmonie zwischen Glauben und Vernunft Geist und Leib die trotz allem gespieltem Optimismus ein Gefuumlhl der Aus-weglosigkeit und Verzweiflung hinterlaumlsstldquo Igumen Ioann Ėkonomcev bdquoVizantinizm Kirillo-Mefodievo nasledie i kreščenie Rusildquo in ders Pravoslavie Vizantija Rossija Sbornik statej Moskva 1992 7ndash22 hier 18

82 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 9 15

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 25

Sympathie zeigt Die byzantinischen Humanisten werden von ihm als kalte Ratio-nalisten dargestellt die in der Hoffnung auf militaumlrische Unterstuumltzung durch den katholischen Westen im Kampf gegen die Osmanen bereit gewesen seien den eigenen Glauben zu opfern83 Die Hesychasten hingegen haumltten so Prochorov den Westen realistischer eingeschaumltzt und auf Hilfe von Seiten der orthodoxen Staaten gehofft Im entscheidenden Moment haumltten nicht die bdquoWestler-Huma-nistenldquo (zapadniki-gumanisty) mit ihren bdquokalten Uumlberlegungenldquo (cholodnymi rassuždenijami) beim Volk Gehoumlr gefunden sondern die Hesychasten mit ihren bdquoheiszligen Gebetenldquo (gorjačimi molitvami)84

Mit seiner Apologie eines bdquowiederbelebtenldquo Mittelalters und einer bdquoOrtho-doxen Renaissanceldquo die alle Bereiche des politischen gesellschaftlichen und kul-turellen Lebens gepraumlgt habe und deren Kern der Hesychasmus gewesen sei stieszlig Prochorov bei seinen sowjetischen Kollegen auf Kritik So sah Apollon Kuzmin im Palamismus eine desintegrative Erscheinung weshalb er Prochorovs positive Bewertung der Hesychasten bei der bdquoWiedergeburtldquo der Rusʼ zuruumlckwies85 Aumlhn-lich argumentierte Gennadij Litavrin Die Palamiten seien diejenigen gewesen die eine unrealistische Einschaumltzung der politischen Lage gehabt haumltten Sie haumltten die Bedrohung durch die Tuumlrken nicht erkannt und stattdessen die Illusion verbreitet die Feinde zum Christentum bekehren und zu neuen Untertanen ma-chen zu koumlnnen Der Palamismus sei eine bdquoIdeologie der Demutldquo und habe eine bdquounheilvolle Rolle in der Geschichte des Kampfes gegen die tuumlrkische Aggres-sionldquo gespielt86 Michail Sjuzjumov sprach sogar vom bdquoasozialen Charakter des Palamismusldquo der den aufkommenden humanistischen Tendenzen gegenuumlber feindlich gewesen und zur bdquoIdeologie der Reaktionldquo in Byzanz geworden sei87 Auf Ablehnung stieszlig Prochorov auch im Ausland Valerij Lepachin kritisierte den Begriff bdquopolitischer Hesychasmusldquo als unzulaumlssige Verbindung weltlicher und geistlicher Sphaumlren damit verliere der Hesychasmus seinen wesentlichen Sinn-gehalt88 Fuumlr den in Berkeley lehrenden Philologen Viktor Živov schlieszliglich war

83 Ebd 12 84 Ebd 13 ndash An anderer Stelle betont Prochorov den Gegensatz zwischen den abstrakten

bdquoausgedachtenldquo philosophischen Konstruktionen des europaumlischen Idealismus und der ganzheitlichen kontemplativ-spekulativen Welterfahrung der griechisch-byzantinischen Philosophie Prochorov bdquoĖtničeskaja integracijaldquo 90f An Florenskijs Renaissance-Kritik (etwa in Ikonostas 1922) erinnert auch Prochorovs Verweis auf den euklidischen Raum und den Perspektivismus der humanistischen Weltwahrnehmung mit seiner Illusion der Unendlichkeit Prochorov bdquoIsichazmldquo 94

85 Apollon Kuzmin bdquoCerkovʼ i svetskaja vlastʼ v ėpochu Kulikovskoj bitvyldquo in Voprosy naučnogo ateizma 37 (1988) 90ndash99

86 Gennadij Litavrin bdquoVizantija v period graždanskoj vojny i dviženija Zilotov (1341ndash1355 gg)ldquo in Sergej Skazkin (Hg) Istorija Vizantii Bd 3 Moskva 1967 135ndash160 hier 158

87 Michail Sjuzjumov bdquoFilosofija i bogoslovieldquo in ebd 234ndash256 hier 248f 88 Valerij Lepachin bdquoUmnoe delanie (o soderžanie i granicach ponjatija sbquoisichazmlsquo)ldquo in

Vestnik Russkogo Christianskogo Dviženija 164 1992 5ndash32 hier 23

26 Michael Hagemeister

bdquopolitischer Hesychasmusldquo bdquokonzeptuelles Unkraut [sornjak] das man so schnell wie moumlglich ausrottenldquo solle89

Fast ein halbes Jahrhundert nach ihrer ersten Veroumlffentlichung wurde Pro-chorovs Konzept eines bdquopolitischen Hesychasmusldquo von seinem Schuumller Vladimir Petrunin wieder aufgegriffen und aktualisiert In der 2009 erschienenen Monogra-phie bdquoDer politische Hesychasmus und seine Traditionen in der Sozialkonzeption des Moskauer Patriarchatsldquo90 stellt Petrunin das sogenannte bdquoNichtgehorsamkeits-prinzipldquo (princip nepovinovenija) wie es in den von der Moskauer Bischofssyno-de im August 2000 verabschiedeten bdquoGrundlagen der Sozialkonzeption der Rus-sischen Orthodoxen Kircheldquo formuliert worden ist91 in eine Tradition die er bis auf die bdquopolitischen Hesychastenldquo im Byzanz des 14 und 15 Jahrhunderts zu-ruumlckzufuumlhren sucht Immer wieder zieht Petrunin Parallelen zwischen dem spaumlten Byzanz und dem postsowjetischen Russland Hatten die Byzantiner den Hesy-chasmus als Reaktion auf den Humanismus des Westens hervorgebracht so diene heute die Sozialkonzeption der Abwehr des westlichen Saumlkularismus Liberalis-mus und Kapitalismus Damals wie heute stuumlnden der kirchliche Heilsauftrag und die Verteidigung des Glaubens uumlber den Interessen des Staates selbst ndash wie das Beispiel von Byzanz zeige ndash um den Preis seines Untergangs Ebenso wie die byzantinischen Hesychasten den mit dem Westen kollaborierenden Herrschern die Gefolgschaft im Kampf gegen die Osmanen verweigert haumltten da sie die bdquoReinheit ihres Glaubensldquo eher bdquounter einem tuumlrkischen Turban als unter der lateinischen Tiaraldquo gewahrt sahen92 rufe die Sozialkonzeption die Kirche heute dazu auf der Staatsmacht den Gehorsam zu verweigern sollte diese bdquodie ortho-doxen Glaumlubigen zum Abfall von Christus und Seiner Kirche sowie zu suumlndhaften

89 Viktor Živov bdquoVidenija sveta i problemy russkogo srednevekovogo isichazmaldquo in Lidov

(Hg) Ierotopija 350ndash367 hier 363 359 90 Vladimir Petrunin Političeskij isichazm i ego tradicii v socialʼnoj koncepcii Moskovskogo

Patriarchata Sankt-Peterburg 2009 91 Osnovy socialrsquonoj koncepcii Russkoj Pravoslavnoj Cerkvi III5 lthttpwwwpatriarchia

rudbtext141422htmlgt Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo wird von den meisten Inter-preten als ein bemerkenswertes Umdenken in der Kirchenpolitik angesehen hatte doch die Russische Orthodoxe Kirche unter Patriarch Sergij in einer prekaumlren Lage 1927 Loyalitaumlt gegenuumlber dem Sowjetstaat gefordert Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo war auch eine wichtige Voraussetzung fuumlr die Vereinigung der Auslandskirche mit dem Moskauer Pa-triarchat Zur Sozialkonzeption insgesamt Vasilios N Makrides bdquoDie politische Aufgabe der Kirche Bemerkungen anhand der Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kir-cheldquo in Irene DingelChristiane Tietz (Hgg) Die politische Aufgabe von Religion Per-spektiven der drei monotheistischen Religionen Goumlttingen 2011 219ndash243

92 Petrunin Političeskij isichazm 66f 120 Es handelt sich um eine zeitgenoumlssische Losung Siehe Halina Evert-Kappesowa bdquoLa tiare ou le turbanldquo in Byzantinoslavica 14 (1953) 245ndash257 ndash Auch Aleksandr Nevskij (1220ndash1263) zog eine Verstaumlndigung mit den Mongo-len einer Union mit Rom vor die ihm Papst Innozenz IV im Jahr 1248 angeboten hatte und wandte sich stattdessen gegen die bdquoLateinerldquo Heutige Anti-Westler feiern den Heili-gen der Russischen Orthodoxen Kirche deshalb auch als bdquoersten Eurasierldquo

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 27

und der Seele abtraumlglichen Taten noumltigenldquo93 Die Sozialkonzeption hat fuumlr Petru-nin nur einen moumlglichen Sinn Falls Russlands politische Elite sich weiterhin dem liberalen Wertekanon des Westens verschreibe und Russlands bdquoEigenartldquo (samo-bytnostʼ) als bdquoorthodoxe Zivilisationldquo bestreite94 muumlsse die Kirche ndash wie einst in Byzanz ndash dem Staat die Loyalitaumlt aufkuumlndigen und das Volk zum Widerstand auf-rufen

Es ist ganz offensichtlich dass die Prozesse der Globalisierung und Saumlkularisierung eng miteinander verbunden sind So wie einst die byzantinischen Hesychasten ist heute die Russische Kirche mit der westlichen Zivilisation konfrontiert die nach der Weltherrschaft trachtet war fruumlher der Katholizismus deren Grundlage so ist es jetzt der saumlkulare Humanismus [hellip] Waumlhrend sie [die westliche Welt MH] damals fuumlr die Hesychasten mit Rom gleichgesetzt wurde so verkoumlrpert heute das kosmopolitische New York den Westen Indem sie Liberalismus und Saumlkularisie-rung abwehrt tritt die Kirche auch gegen die politischen und wirtschaftlichen Hegemoniebestrebungen des Westens auf und stellt so ihr Bestreben unter Beweis die zivilisatorische Eigenstaumlndigkeit Russlands wieder herzustellen Wie schon vor 600 Jahren im Byzantinischen Imperium so ist auch heute in Russland allein die Kirche ein ernstzunehmender und gut organisierter Gegner des Westens und seiner saumlkularen Werte [hellip] Sollte Russland weiter den Weg der Saumlkularisierung be-schreiten so koumlnnte damit fuumlr die Kirche der gefaumlhrliche Praumlzedenzfall geschaffen werden in dem sie von ihrem Recht Gebrauch machen muumlsste das Volk zu zivilem Ungehorsam aufzurufen95

In seinem Vorwort nannte Prochorov das Buch seines Schuumllers eine bdquoWarnung an unseren Staat unsere saumlkulare Gesellschaft an uns alleldquo96 Wie das spaumlte Byzanz unter dem bdquoDruck aus dem Westenldquo gestanden habe ndash dem die Herrscher und die bdquoHumanistenldquo schlieszliglich nachgegeben haumltten ndash so laufe auch das postkommu-nistische Russland Gefahr dem bdquoDruck des Liberalismus und der Globalisierungldquo nachzugeben Allein die Orthodoxe Kirche habe sich damals wie heute als bdquoFes-tungldquo erwiesen faumlhig diesem bdquozersetzenden Einflussldquo Widerstand zu leisten97

Petrunins Buch das mit dem Segen von Metropolit Ilarion (Grigorij Al-feev)98 erschienen war stieszlig bei westlichen Forschern auf Skepsis und Ableh-nung So kritisierte Kristina Stoumlckl die unhistorische Interpretation und forcierte Aktualisierung der philosophischen theologischen und politischen Kontroversen des 14 Jahrhunderts sowie die einseitige konservative Interpretation der Sozial-konzeption Hesychasmus werde in dem Kirchendokument ebenso wenig erwaumlhnt

93 Osnovy socialrsquonoj koncepcii 94 Petrunin Političeskij isichazm 81 95 Ebd 122f 96 Ebd 5 97 Ebd 98 Zu jener Zeit Bischof von Wien und Oumlsterreich heute Leiter des Auszligenamtes des Moskau-

er Patriarchats und scharfer Kritiker des bdquomilitanten Saumlkularismusldquo des Westens Siehe auch lthttpazbykaruxristianstvo-pered-vyzovom-voinstvuyushhego-sekulyariz ma-2gt

28 Michael Hagemeister

wie der Untergang von Byzanz99 Klaus Buchenau warf Petrunin vor er bdquoverfor-m[e] und ideologisier[e] die urspruumlnglichen Motive des hesychastischen Moumlnch-tums bis zur Unkenntlichkeitldquo100 Und Viktor Živov der bereits Prochorovs Kon-zept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo als bdquoUnkrautldquo bezeichnet hatte sah in Petru-nins Buch ein Beispiel dafuumlr wie dieses sich bdquospontan und schaumldlichldquo ausbreite Die von Petrunin konstruierte bdquophantastische Genealogie des politischen Hesy-chasmusldquo beruhe so Živov auf einer bdquoMischung aus Einseitigkeit und Unwissen-heitldquo Weder sei der bdquotuumlrkische Turbanldquo fuumlr den Patriarchen attraktiv gewesen noch sei am Widerstand gegen die Union irgendetwas spezifisch bdquoHesychasti-schesldquo Petrunin habe ein bdquoPhantomldquo geschaffen dessen angebliche Verbindung mit der Sozialkonzeption man nicht weiter zu verfolgen brauche101

bdquoNeobyzantismusldquo Das Dritte Rom ndash der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo

Eine eigenwillige Interpretation des Hesychasmus und seine Wendung gegen den Westen stammen von Aleksandr Dugin dem Fuumlhrer der bdquoeurasischenldquo Bewegung und einflussreichsten Vordenker der Neuen Rechten in Russland Der polyglotte und belesene Autodidakt der nie eine akademische Ausbildung genossen hat war Gruumlnder der Partei der Nationalbolschewisten Berater des Vorsitzenden der Du-ma und des Generalstabs sowie von 2008 bis 2014 Professor fuumlr Soziologie an der renommierten Moskauer Lomonosov-Universitaumlt und Direktor des dortigen bdquoZentrums fuumlr Konservatismusstudienldquo Seit Anfang der 1990er Jahre verbreitet er mit graphomanem Eifer seine politischen und bdquometaphysischenldquo Botschaften in einer inzwischen kaum noch uumlberschaubaren Zahl von Publikationen102 und Web-Artikeln in mehreren Sprachen sowie durch spektakulaumlre Auftritte in staats-nahen Medien103 99 Kristina Stoumlckl bdquoPolitical Hesychasm Vladimir Petruninrsquos Neo-Byzantine Interpretation

of the Social Doctrine of the Russian Orthodox Churchldquo in Studies in East European Thought 62 (2010) 125ndash133

100 Klaus Buchenau Auf russischen Spuren Orthodoxe Antiwestler in Serbien 1850ndash1945 Wiesbaden 2011 480 Anm 2

101 Živov bdquoVidenija svetaldquo 364f ndash Von der Kritik offenbar unbeeindruckt verschaumlrfte Petru-nin noch seine Position So sprach er 2012 in einem Vortrag uumlber die gesellschaftliche und politische Wirkung der hesychastischen Gebetspraxis Nach dem Fall von Byzanz sei das bdquoJesusgebet faktisch zu einem sbquopolitischen Gebetlsquoldquo geworden das auf die bdquoVerwandlung [preobraženie] der orthodoxen Oumlkumeneldquo ausgerichtet gewesen sei und das bdquoPhaumlnomen der Heiligen Rusrsquoldquo hervorgebracht habe lthttpsynergia-isarup=8604gt

102 Zuletzt in der bislang fuumlnf Baumlnde umfassenden Reihe bdquoNoomachijaldquo (2014ndash2015) einer hochambitioumlsen letztlich aber manichaumlisch-schematischen Beschreibung der bdquoSuche nach dem Logosldquo in den ndash von Dugin essenzialistisch aufgefassten ndash bdquoWeltkulturenldquo

103 Auch die Literatur zu Dugin ist kaum noch uumlberschaubar Siehe zB Alexander Houmlllwerth Das sakrale eurasische Imperium des Aleksandr Dugin Eine Diskursanalyse zum post-sowjetischen russischen Rechtsextremismus Stuttgart 2007 Stefan Wiederkehr Die eurasische Bewegung Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwi-schenkriegszeit und im postsowjetischen Russland Koumlln [ua] 2007 227ndash261 Anton

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 29

Dugin deutet den Hesychasmus im Rahmen des sogenannten bdquointegralen Traditionalismusldquo einer antimodernen Denkrichtung die im ersten Drittel des 20 Jahrhunderts in Frankreich und Italien entstand und in Reneacute Gueacutenon (1886ndash1951) und Julius Evola (1898ndash1974) ihre bekanntesten (und auch fuumlr Dugin wichtigsten) Vertreter hat104 Ihre Lehre besagt dass alle Religionen ungeachtet ihrer histori-schen und regionalen Auspraumlgungen in ihrem esoterischen nur dem Eingeweih-ten zugaumlnglichen Kern eine gemeinsame urspruumlngliche Wahrheit teilen und als philosophia perennis tradieren das Wissen um die Goumlttlichkeit und den Zugang zu ihr Dieses sakrale und initiatorische Wissen sei im Verlauf der westlichen Mo-derne insbesondere durch die Aufklaumlrung verlorengegangen in traditionellen Gesellschaften (China Indien islamische Welt) jedoch bewahrt geblieben105

Auch die Orthodoxie so Dugin habe im Gegensatz zu Katholizismus und Protestantismus bdquodie Treue zum esoterischen Kernldquo bewahrt naumlmlich in ihrer mystischen Unterstroumlmung dem Hesychasmus106 In der Kanonisierung des Gre-gorios Palamas durch die Ostkirche bei gleichzeitiger Verdammung des Humanis-ten Barlaam sieht Dugin das Bekenntnis zum bdquognostisch-realistischen Geist der orthodoxen Esoterikldquo Ganz im Sinn des Traditionalismus deutet er die psycho-physische Uumlbung der Hesychasten das bdquogeistige Tunldquo als Verfahren der bdquoInitia-tionldquo und das Endziel der bdquoVerklaumlrungldquo und bdquoVergoumlttlichungldquo als bdquoalchemistische Verwandlung des Leibesldquo (alchimičeskoe preobraženie tela) Dadurch wuumlrden der bdquoDualismus von Geist und Materie Leib und Seeleldquo sowie die bdquoGrenzen der Individualitaumltldquo ndash charakteristisch fuumlr den bdquorein exoterischen Mystizismusldquo des Westens ndash aufgehoben107 Die bdquoTradition der hesychastischen Esoterikldquo sei die

Shekhovtsov bdquoThe Palingenetic Thrust of Russian Neo-Eurasianism Ideas of Rebirth in Aleksandr Duginrsquos Worldviewldquo in Totalitarian Movements and Political Religions 9 (2008) 491ndash506 Mark Sedgwick bdquoOccult Dissident Culture The Case of Aleksandr Du-ginldquo in Birgit Menzel [ua] (Hgg) The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimen-sions MuumlnchenBerlin 2012 273ndash292 Schmid Technologien der Seele 210ndash220

104 Aleksandr Dugin Filosofija tradicionalizma Moskva 2002 Zum Traditionalismus siehe das Standardwerk von Mark Sedgwick Against the Modern World Traditionalism and the Secret Intellectual History of the Twentieth Century OxfordNew York 2004 zu Dugin 221ndash237 Vgl auch Christopher DL Johnson The Globalization of the Jesus Prayer Con-testing Contemplation London New York 2010 70ndash73

105 Aumlhnliche Gedanken entwickelte Pavel Florenskij bereits 19081909 in seinem Vortrag bdquoObščečelovečeskie korni idealizmaldquo in dem er die bdquoEsoterikldquo der Philosophie Platons und seiner Nachfolger in der bdquoallgemeinmenschlichenldquo mystisch-magischen Weltauffas-sung der bdquoVolksseeleldquo wurzeln laumlsst

106 Das Folgende nach Aleksandr Dugin bdquoOboženie preestestvennejšeeldquo in Milyj angel 1 1991 56ndash59

107 Das Konzept der bdquoInitiationldquo und die Unterscheidung von bdquoesoterischldquo und bdquoexoterischldquo sind zentral fuumlr die Anhaumlnger des Traditionalismus siehe Sedgwick Against the Modern World 265 ndash Als Mitglied des okkultistischen und faschistischen Južinskij-Kreises machte Dugin in Moskaus bdquomystischem Untergrundldquo in den 1980er Jahren selbst Entgrenzugser-fahrungen mit Hilfe sexualmagischer Praktiken und bewusstseinserweiternder Drogen Bei einem Teil der orthodoxen Glaumlubigen stoumlszligt seine Esoterik denn auch auf Misstrauen und

30 Michael Hagemeister

bdquoSeele der russischen Orthodoxieldquo und habe in Serafim von Sarov ihren bdquoletzten leuchtendsten Vertreterldquo gefunden

Der Hesychasmus gehoumlre zum traditionellen Erbe von Byzanz das Russ-land angetreten habe als es zum Dritten Rom und zum Zentrum der orthodoxen Welt geworden sei bdquoWir sindldquo so Dugin bdquobyzantinisch in unserer Seele unseren Wurzeln und in unserer Identitaumltldquo108

Unser stabilstes Fundament ist Byzanz [hellip] Russland ist Byzanz [hellip] Unsere For-mel lautet Der Westen ist das Boumlse Byzanz das Gute Alles Schlechte das uumlber Byzanz geschrieben wurde ist eine Luumlge Das sind lediglich Winkelzuumlge im ideolo-gischen Kampf von Seiten des Westens [hellip] Jeder Russe muss wissen Byzanz ist das reine Gute Jeder der etwas anderes behauptet ist ein Feind [hellip] Wer Byzanz kritisiert ist ein Feind des russischen Volkes Das muss unser ehernes Prinzip sein [hellip] Byzanz ist der absolute Orientierungspunkt des russischen Projekts109

Damit sind Russlands Ort und Mission in der bdquohistoriosophischenldquo Deutung des Weltgeschehens bestimmt Nach Dugin wird die Geschichte der Menschheit be-herrscht vom bdquookkulten planetarischen Ringenldquo zweier antagonistischer Maumlchte dem bdquogroszligen Krieg der Kontinenteldquo Land gegen Meer Behemoth gegen Levia-than die organischen bodenstaumlndigen und traditionalistischen bdquoTellurokratienldquo des eurasischen Ostens gegen die wurzel- und seelenlosen materialistischen bdquoTha-lassokratienldquo des angloamerikanischen Westens das apokalyptische Tier aus dem Meer (Offb 13 1-10)110 Die USA als bdquoQuintessenz des Westensldquo und New York als moderne Hure Babylon (Offb 17 und 18) sind das Reich des Antichrist eine chimaumlrisch-antiorganische transplantierte Zivilisation die keine sakrale Tradi-tion besitze ihre Selbsterhebung zu bdquoGottes neuem Israelldquo und bdquoNeuem Zionldquo ndash gemaumlszlig der anglo-amerikanischen Interpretation der Substitutionslehre ndash deutet Dugin als besonders perfiden Taumluschungsversuch des bdquowestlichen Antichristldquo Das Jahr der Entdeckung Amerikas (1492 ist nach der altrussisch-byzantinischen

offene Ablehnung Fuumlr den Sektenexperten des Moskauer Patriarchats ist Dugin ein bdquoge-faumlhrlicher Feindldquo der die bdquoOrthodoxie in Kabbalistik umzuschmelzenldquo versuche Andrej Kuraev Cerkovrsquo v mire ljudej Moskva 2006 142

108 Aleksandr Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Tradition Duginrsquos Guidelineldquo lthttpswwwyoutubecomwatchv=m0RIa61eZDggt

109 Aleksandr Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo in ders Russkaja Veščrsquo Očerki nacionalrsquonoj filosofii Bd 1 Moskva 2001 69ndash76 hier 70ndash72 (Hervorhebungen im Original) Der Be-griff bdquoByzantismusldquo (vizantizm) ndash im Unterschied zum negativ konnotierten bdquoByzantinis-musldquo ndash als Bezeichnung eines dem europaumlischen entgegengesetzten Kulturtypus der auf den Prinzipien von Orthodoxie und Selbstherrschaft beruht geht auf den konservativen Philosophen Konstantin Leontrsquoev (1831ndash1891) und sein Buch Vizantizm i slavjanstvo (1875) zuruumlck

110 Auch fuumlr den von Dugin verehrten Heidegger waren die Seemaumlchte Groszligbritannien und Amerika nicht Teil der abendlaumlndischen Tradition sondern im Gegensatz zum restlichen Europa wurzellos und sinnleer Der Antagonismus von Land und Meer die kategorische Unterscheidung von Freund und Feind sowie das Konzept des Katechon gehen auf Carl Schmitt zuruumlck als dessen Schuumller Dugin sich bezeichnet Siehe auch Fn 41

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 31

Weltaumlra das Jahr 7000 nach dem chiliadischen Weltwochenschema also der sieb-te Tag der Schoumlpfung) verweise ebenso auf den Endzeitcharakter der bdquoNeuen Weltldquo wie die bdquosakrale Geographieldquo nach der das Paradies im Osten die Houmllle aber das bdquoLand des Todesldquo im Westen zu suchen seien111

Dem Antichrist entgegen stehe seit jeher der Katechon dessen bdquoletzter Hortldquo bis ans Ende der Zeit die Heilige Rusrsquo das Dritte Rom sei112 In der petrini-schen Epoche als die Hauptstadt in die bdquonoumlrdlichen Suumlmpfeldquo in die bdquoGespenster-stadtldquo Petersburg verlegt und das Patriarchat abgeschafft wurde haumltten allein die Altglaumlubigen den Geist von Byzanz den Katechon bewahrt zweihundert Jahre lang sei der Weg frei gewesen fuumlr das zerstoumlrerische Wirken des Antichrist Erst die sowjetische Periode habe eine bdquomystische Ruumlckkehr zum Byzantismusldquo be-deutet indem die Bolschewiki das heilige Moskau wieder zur Hauptstadt erklaumlr-ten das Patriarchat wiederherstellten die Ausbeuter als Klasse vernichteten und dem Westen auf allen Gebieten Widerstand boten Im bdquoroten Byzantismusldquo der Dritten Internationale sei der Katechon zuruumlckgekehrt113

Um seine Mission zur Erloumlsung der Menschheit auch kuumlnftig zu erfuumlllen muumlsse das Dritte Rom nach dem Zerfall der Sowjetunion114 nunmehr ein groszligkon-tinentales sakral fundiertes bdquoEurasisches Imperiumldquo errichten gegen den Erz-feind die materialistische universalistische alles nivellierende Zivilisation des Westens als der Verkoumlrperung des bdquoweltweiten Boumlsenldquo (mirovoe zlo) gegen Libe-ralismus Individualismus Globalismus Egalitarismus sowie die bdquomondialisti-scheldquo Konzeption der Menschenrechte115 Verbuumlndete im bevorstehenden apoka-lyptischen bdquoEndkampfldquo (von Dugin stets deutsch geschrieben) werden all jene sein die den Bezug zum bdquoSakralenldquo noch nicht verloren haben russische Altglaumlu-bige ultraorthodoxe antizionistische Juden europaumlische Traditionalisten sowie jene bdquoanti-atlantischenldquo islamistischen Fundamentalisten die in den USA den Dajjacircl den falschen Messias und Antichrist erkennen gegen den die Retter-gestalt des Mahdicirc zu Felde ziehen wird116 111 Aleksandr Dugin Absoljutnaja Rodina Puti Absoljuta Metafizika Blagoj Vesti Misterii

Evrazii Moskva 1999 645ndash670 112 Ebd 378ndash395 493ndash521 113 Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo 74ndash76 Siehe auch ders bdquoKatechon i revoljucijaldquo in ders

Tampliery proletariata Nacional-bolrsquoševizm i iniciacija Moskva 1997 52ndash59 ndash Die mes-sianische Identifizierung des Dritten Rom mit der Dritten Internationale reicht bis ins Gruumlndungsjahr der Komintern (1919) zuruumlck Beide so der slawophile Philosoph und An-haumlnger des imjaslavie Valerian Muravrsquoev (1885ndash1930) in einem Brief vom 6 Januar 1920 an Lev Trockij seien Ausdruck der Suche des russischen Volkes und der Intelligencija nach einem Reich der Wahrheit und Gerechtigkeit Valerian Muravrsquoev Sočinenija Bd 2 Moskva 2011 352f Weitere Belege bei Emanuel Sarkisyanz Russland und der Messianis-mus des Orients Tuumlbingen 1955 196 Mikhail Agursky Third Rome National Bolshevism in the USSR Boulder Co 1987

114 Damals sah ein Journalist bdquoauf den Ruinen des Imperiumsldquo das Dritte Rom in Gefahr zu einem Land der Dritten Welt zu werden Andrej Fadin bdquoTretij Rim v tretrsquoem mire Razmy-šlenija na ruinach imperiildquo in Nezavisimaja gazeta 1291991

115 [Aleksandr Dugin] bdquoLibo-my libo-ničtoldquo in Ėlementy 8 19961997 1ndash4 hier 2 116 [Aleksandr Dugin] bdquoIdeologija Mirovogo Pravitelrsquostvaldquo in Ėlementy 2 1992 1f

32 Michael Hagemeister

Das Dritte Rom als Zentrum des eurasischen bdquoEuro-Sowjetischen Imperiumsldquo Titelbild der von Aleksandr Dugin herausgegebenen Zeitschrift bdquoElemente Eurasische Rundschauldquo (1992) Dugins Werk mit seiner provokanten Mischung esoterischer antimoderner und antiwestlicher Motive findet besonders unter jungen Intellektuellen Anklang und Nachahmer so etwa bei dem promovierten Philosophen und selbstproklamierten bdquoorthodoxen Metaphysikerldquo Arkadij Maler einem vehementen Propagandisten einer bdquopolitischen Orthodoxieldquo (političeskoe Pravoslavie) und fuumlhrenden Ideolo-gen der bdquoneobyzantinischenldquo Doktrin Obwohl sich Maler von Dugin distan-ziert117 beschwoumlrt auch er die eschatologische bdquogeistige Mission des Dritten Romldquo die es von Byzanz geerbt habe und die in seiner bdquozentralen katechontischen Rolleldquo bestehe dem Kampf gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo des bdquogottlosen Wes-tensldquo118 Russische Politik koumlnne deshalb nicht anders als imperial sein und muumlsse ihren Einfluss auf den gesamten Planeten ausdehnen Wie Dugin sieht auch Maler die Bolschewiki in dieser Tradition als sie Moskau zur Hauptstadt des bdquoRoten

117 In den spaumlten 1990er Jahren gehoumlrte Maler der vaumlterlicherseits juumldischer Abstammung ist

zusammen mit Dugin und Ėduard Limonov zur Fuumlhrungsriege der Nationalbolschewisti-schen Partei und schrieb fuumlr die Parteizeitung Limonka sich selbst charakterisierte er als bdquorotbraunen Zionistenldquo Nach seiner Konversion zur Orthodoxie trennte er sich 1999 von Dugin und kritisierte dessen esoterischen Traditionalismus aus einer ultraorthodoxen Posi-tion Dugin wiederum warf Maler vor ihn zu plagiieren

118 Arkadij Maler Duchovnaja missija Tretrsquoego Rima Moskva 2005 bes 134ndash136 170ndash206 Siehe auch ders bdquoIdeologija Vizantizmaldquo in Severnij Katechon 1 (2005) 7ndash49 bdquoNeovi-zantizm kak novyj bolrsquošoj stilrsquoldquo in Aleksej Nilogov (Hg) Kto segodnja delaet filosofiju v Rossii Moskva 2007 110ndash124

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 33

Imperiumsldquo machten und dieses zur bdquoabsoluten Antithese des Westensldquo erklaumlrten zum bdquoTraumlger der planetarischen Mission der Befreiung der Welt aus den sbquoFesseln des Kapitalslsquoldquo119 Das Dritte Rom sei zeitweise in die Dritte Internationale trans-formiert worden ohne jedoch seine Mission als Katechon als aufhaltende Macht gegen das Reich des Boumlsen und Ausgangspunkt zur Errettung der Welt aufzuge-ben Die bdquoletzte Etappeldquo im Kampf gegen den Antichrist werde so Maler der bdquoeschatologische Krieg des Dritten Rom gegen das Dritte Karthagoldquo den bdquoAnti-katechonldquo sein die bdquoanglo-amerikanische [] atlantische Zivilisationldquo120 Zur Propagierung der katechontischen Mission Russlands gruumlndete Maler 1999 am Institut fuumlr Philosophie der Akademie der Wissenschaften in Moskau einen bdquoBy-zantistischen Klub Katechonldquo (Vizantistskij Klub Katechon) und 2005 das bdquoPhi-losophisch-politische Zentrum sbquoNoumlrdlicher Katechonlsquoldquo das einen gleichnamigen Almanach (Severnyj Katechon) herausgibt121

Apokalyptischer Ausblick

Die Formel vom Dritten Rom und die Figur des Katechon des Aufhalters des bdquoweltweiten Boumlsenldquo sind zu Markenzeichen russischer Anti-Westler und Ver-schwoumlrungstheoretiker und ihres schrillen Szenariums eines globalen apokalyp-tischen bdquoEndkampfesldquo gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo geworden122 Unter dem Titel bdquoDie russische Doktrin Die Staatsideologie der Epoche Putinsldquo verfasste in den Jahren 2005 und 2006 ein Kollektiv nationalpatriotischer Autoren ndash unter ih-nen der bdquoByzantistldquo Arkadij Maler ndash ein uumlber 1000 Seiten langes ultrakonservati-ves und antiwestliches Manifest das auch die Unterstuumltzung hoher kirchlicher Wuumlrdentraumlger fand123 In ihrem Entwurf einer bdquoorganischen weltanschaulichen Plattformldquo fuumlr das kuumlnftige Russland behandeln die Autoren ausfuumlhrlich die bdquohis-toriosophischeldquo Konzeption vom Dritten Rom und seine Mission als Katechon gegen das bdquoHeidentumldquo des Westens124 Gefordert wird die positive Identifikation

119 Maler Duchovnaja missija 182f 185 120 Ebd 177 ndash Als Mittel im ideologischen Kampf gegen den saumlkularen Westen fordert Maler

in Analogie zur katholischen Gegenreformation eine orthodoxe konservative bdquoGegenauf-klaumlrungldquo (Kontrprosveščenie) lthttpwwwkatehonruhtmltoppolitologiaideaotkritije _polit_pravoslavijahtmgt

121 Siehe die Website lthttpwwwkatehonrugt 122 Siehe zB Galina A Morozova Tretij Rim protiv novogo mirovogo porjadka Moskva

2009 Die Formel von Dritten Rom hat laumlngst auch Schriftsteller und Maler inspiriert und scheint auch werbewirksam zu sein bdquoDrittes Romldquo nennt sich ein Verlag ein Videospiel eine Bank ein Reisebuumlro und sogar ein Kasino in Jalta Ein Schoumlnheitswettbewerb in Mos-kau vergibt alljaumlhrlich den Titel einer bdquoMiss Drittes Romldquo Judith E Kalb Russiarsquos Rome Imperial Visions Messianic Dreams 1890ndash1940 Madison Wisconsin 2008 198f Zum Katechon siehe Maria Engstroumlm bdquoContemporary Russian Messianism and New Russian Foreign Policyldquo in Contemporary Security Policy 35 (2014) 3 356ndash379

123 Russkaja doktrina Gosudarstvennaja ideologija ėpochi Putina Moskva 2016 124 Ebd 68ndash72 116ndash120 und passim

34 Michael Hagemeister

mit der Geschichte Russlands und seinen Lichtgestalten dem Heiligen Serafim von Sarov dem bdquoeschatologischen Fuumlhrer des russischen Volkes am Ende der Zeitenldquo der bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo und Stalin der dem paulinischen Kate-chon gleich die bdquoGesetzlosigkeitldquo (bezzakonie) bekaumlmpft und das bdquoFundament fuumlr eine groszlige Zukunftldquo gelegt habe125

bdquoKatechonldquo nennt sich auch ein prominent besetzter Think tank den der Oligarch und Berater Putins Konstantin Malofeev im Jahr 2015 gegruumlndet hat126 Der Milliardaumlr der sein Vermoumlgen mit einer Investmentfirma auf den Cayman Inseln gemacht hat bezeichnet sich selbst als bdquoorthodoxen Monarchistenldquo127 Er unterstuumltzt die Separatisten in der Ostukraine und unterhaumllt vielfaumlltige Verbindun-gen zu europaumlischen Rechtspopulisten wie dem Front National der FPOuml Syriza und der Lega Nord Neben dem Forum bdquoKatechonldquo betreibt Malofeev auch einen Fernsehsender mit dem programmatischen Namen bdquoZargradldquo128 (Motto bdquoDas Licht Christi erleuchtet alleldquo) dessen Chefkommentator niemand anderes ist als Aleksandr Dugin129

bdquoKatechonldquo und bdquoZargradldquo propagieren den Kampf gegen die westliche Moderne mit Bezug auf das byzantinische Erbe Russlands Im November 2014 fand in der Moskauer Manege eine Konferenz bdquoMoskau ndash das Dritte Romldquo statt130 An ihr nahmen auszliger Dugin und Malofeev auch Archimandrit Tichon und Nata-lrsquoja Naročnickaja teil eine hochrangige Diplomatin Mitglied des Izborsker Klubs und Leiterin des Pariser bdquoInstituts fuumlr Demokratie und Kooperationldquo das die oumlf-fentliche Meinung im Westen im Sinne des Kremls beeinflussen soll Tichons Film bdquoDie Lehre von Byzanzldquo sei so Naročnickaja auch eine Warnung an den Westen der seine christlichen Werte verraten habe weshalb er den glaubens-festen Migranten und ihrer Verachtung hilflos ausgeliefert sei131

Im Oktober 2009 wurde Tichons Film in Athen vor ausverkauftem Saal aufgefuumlhrt Unter denen die dem Drehbuchautor Beifall spendeten war der Philo-soph und Theologe Christos Yannaras einer der Hauptvertreter der Neoorthodo-xie und scharfer Kritiker des Westens Wie ihre russischen Gesinnungsgenossen

125 Ebd 130f 153 142ndash145 126 Mit einem Auftritt im Internet in 9 Sprachen Siehe die deutsche Version unter lthttp

katehoncomdewer-sind-wirgt 127 lthttpsdewikipediaorgwikiKonstantin_Walerjewitsch_Malofejewgt 128 Carrsquograd ist der altrussische Name fuumlr Konstantinopel 129 Auch Dugin unterhaumllt seit mehr als 25 Jahren Kontakte zu ultrakonservativen traditiona-

listischen und faschistischen Gesinnungsgenossen in Westeuropa Siehe Vladimir Ivanov Alexander Dugin und die rechtsextremen Netzwerke Fakten und Hypothesen zu den inter-nationalen Verflechtungen der russischen Neuen Rechten Stuttgart 2007

130 lthttpwwwpravoslavieru75070htmlgt 131 lthttpwwwpravoslavieru7414htmlgt ndash Fuumlr Metropolit Ilarion (Alfeev) der sich dabei

auf Dugin beruft verwandeln sich die Laumlnder Westeuropas bereits in die bdquoSphaumlre des Anti-christldquo lthttpwwwpatriarchiarudbtext3065216htmlgt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 35

verherrlichen auch die griechischen Neoorthodoxen die byzantinische Vergan-genheit und sehen in der modernen saumlkularen Gesellschaft eine Bedrohung ihrer kulturellen Identitaumlt132 Gemeinsam suchen sie der Globalisierung mit einer bdquoby-zantinischen Internationaleldquo als bdquoorthodoxer Oumlkumeneldquo entgegenzuwirken einer letztlich sakral verstandenen Gemeinschaft deren Einfluss indes weit uumlber die kirchliche Sphaumlre hinausreichen und eine transnationale Vereinigung der ortho-doxen Welt von Serbien uumlber Syrien bis Georgien und Armenien unter Fuumlhrung Moskaus schaffen soll133 Als wichtiger symbolischer Schritt auf diesem Weg wurde der Besuch von Praumlsident Putin und Patriarch Kirill des Heiligen Berges Athos einer traditionellen Hochburg antiwestlicher Opposition im Mai 2016 ge-feiert Das weltliche und das geistliche Oberhaupt Russlands ndash die bdquoSymphonia der Maumlchteldquo ndash zeigten damit so Aleksandr Dugin ihr Bekenntnis zu Byzanz und seiner Rolle als Katechon Damit anerkenne bdquounsere Rusrsquo ihre historische Bestim-mung Wir sind bereit fuumlr die Endzeitldquo134

132 Ausfuumlhrlich dazu Daniel P Payne The Revival of Political Hesychasm in Contemporary

Orthodox Thought The Political Hesychasm of John Romanides and Christos Yannaras Lanham [ua] 2011 Siehe auch Vasilios N Makrides bdquoByzantium in Contemporary Greece The Neo-Orthodox Current of Ideasldquo in David RicksPaul Magdalino (Hgg) Byzantium and the Modern Greek Identity Aldershot 1998 141ndash153 Zum griechischen Neobyzantismus unter russischem Einfluss Aleksey Kamenskikh bdquoThe Image of the Second Rome through the Prism of the Thirdrdquo in Teresa Obolevich [ua] (Hgg) Russian Thought in Europe Reception Polemics Development Krakoacutew 2013 13ndash22 ndash Antimo-derne und antiwestliche Stroumlmungen in den vom orthodoxen Christentum gepraumlgten Kultu-ren haben der Religionswissenschaftler Makrides und der Slavist Uffelmann vor einigen Jahren als Desiderat der Forschung benannt Vasilios N MakridesDirk Uffelmann bdquoStudying Eastern Orthodox Anti-Westernism The Need for a Comparative Research Agendaldquo in Jonathan SuttonWil van den Bercken (Hgg) Orthodox Christianity and Contemporary Europe Leuven [ua] 2003 87ndash120 Seitdem haben Makrides und die Politikwissenschaftlerin Stoumlckl eine Reihe einschlaumlgiger Arbeiten vorgelegt in denen or-thodoxe Alternativen zu westlichen philosophischen und politischen Konzepten untersucht werden Vasilios N Makrides bdquoOrthodoxes Cristentum und Moderne ndash Inkompatibilitaumlt oder langfristige Anpassungldquo in Una Sancta 2011 1 15ndash30 ders bdquoOumlstliches orthodo-xes Christentum und Saumlkularitaumlt Ein Vergleich mit dem lateinischen Christentumldquo in Transit 47 (2015) 59ndash75 Kristina Stoumlckl bdquoModernity and its Critique in Twentieth Cen-tury Russian Orthodox Thoughtldquo in Studies in East European Thought 58 (2006) 243ndash269 dies Community after Totalitarianism The Russian Orthodox Intellectual Tradition and the Philosophical Discourse of Political Modernity Frankfurt aM [ua] 2008

133 Dazu gehoumlrt auch die Verwirklichung des jahrhundertealten Traums der Wiedererrichtung des Kreuzes auf der Hagia Sophia Siehe Egor Cholmogorov Russkij proekt restavracija buduščego Moskva 2005 283 Der Verfasser Mitglied des Expertenteams des Izborsker Klubs ist Begruumlnder der Doktrin der bdquoAtomaren Orthodoxieldquo siehe Fn 74

134 Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Traditionldquo

ZUM AUTOR

Michael Hagemeister geb 1951 in EllwangenJagst Studium der Slavistik Ge-schichte Germanistik und Philosophie in Basel und MarburgLahn Promotion mit einer Arbeit uumlber den russischen Philosophen Nikolaj Fedorov Wissenschaft-licher Mitarbeiter am Slawischen Seminar in Marburg Gastprofessor am Seminar fuumlr Komparatistik der Universitaumlt Innsbruck Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lotman-Institut fuumlr russische und sowjetische Kultur der Ruhr-Universitaumlt Bo-chum am Lehrstuhl fuumlr Geschichte Osteuropas der Europa-Universitaumlt Viadrina Frankfurt (Oder) an den Historischen Seminaren der Universitaumlten Basel Duumlssel-dorf und Bochum Vertretung der Professuren fuumlr Geschichte Osteuropas an der Ludwig-Maximilians Universitaumlt Muumlnchen und an der Europa-Universitaumlt Frank-furt (Oder)

Forschungen zur russischen Philosophie und Geistesgeschichte zum utopischen und apokalyptischen Denken in Russland zum russischen Rechtsextremismus und Antisemitismus sowie insbesondere zu den Protokollen der Weisen von Zion und ihrem Herausgeber Sergej Nilus Publikationen ua Die Neue Menschheit Biopolitische Utopien in Russland (hg mit Boris Groys) Frankfurt aM 2005 The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimensions (hg mit Birgit Menzel und Bernice Rosenthal) Muumlnchen 2012 Die Fiktion von der juumldischen Weltver-schwoumlrung Zu Text und Kontext der bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo (hg mit Eva Horn) Goumlttingen 2012 Die bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo vor Gericht Der Berner Prozess und die bdquoantisemitische Internationaleldquo in der Zwischen-kriegszeit Chronik Dokumente und Kommentare Zuumlrich (im Druck)

ERFURTER VORTRAumlGE ZUR KULTURGESCHICHTE DES ORTHODOXEN CHRISTENTUMS Reihenherausgeber Vasilios N Makrides

Heft 1 Thomas Bremer Konfrontation statt Oumlkumene Zur kirchlichen Situation in der Ukraine Erfurt 2001

Heft 2 Gerhard Podskalsky Zur Hermeneutik des theologischen Ost-West-

Gespraumlchs in historischer Perspektive Erfurt 2002 Heft 3 Karl Christian Felmy Warum und zu welchem Behufe treiben wir

Ostkirchenkunde Erfurt 2003 Heft 4 Wassilios Klein bdquoTatarenjoch ndash татарское игоldquo Beobachtungen zur

Wahrnehmung des Islam im eurasischen Raum Erfurt 2005 Heft 5 Stamatios D Gerogiorgakis Zeitphilosophie im Mittelalter Byzantinische

und lateinische Vorstellungen Erfurt 2006 Heft 6 Heinz Ohme Das Oumlkumenische Patriarchat von Konstantinopel und die

tuumlrkische Religionspolitik Erfurt 2007 Heft 7 Alexander Agadjanian Russian Orthodox Vision of Human Rights Recent

Documents and Their Significance Erfurt 2008 Heft 8 Christos Yannaras Wem gehoumlrt die griechische Antike Erfurt 2009 Heft 9 Joachim Willems Religions- und Ethikunterricht in Russland ndash Was

wollen Staat und Kirche Zur Einfuumlhrung des neuen Schulfaches bdquoGrundlagen der religioumlsen Kulturen und der weltlichen Ethikldquo Erfurt 2010

Heft 10 Chris Hann Eastern Christianity and Western Social Theory Erfurt 2011 Heft 11 Jennifer Wasmuth Akademische Theologie im zaristischen Russland in

ihrer Bedeutung fuumlr die neuere orthodoxe Theologie Erfurt 2012 Heft 12 Anna Briskina-Muumlller Auf der Suche nach der bdquoHesychialdquo Paisij

Veličkovskij (1722ndash1794) und sein Leben fuumlr die bdquoPhilokalieldquo Erfurt 2014

Heft 13 Vladimir Cvetković From ldquoMerciful Angelrdquo to ldquoFortress Europerdquo The

Perception of Europe and the West in Contemporary Serbian Orthodoxy Erfurt 2015

Heft 14 Stefan G Reichelt Lebenslinien Nikolaj A Berdjaev (1874ndash1948) und Sergij N Bulgakov (1871ndash1944) im Westen ndash Eine Wuumlrdigung Erfurt 2015

Heft 15 Michael Hagemeister Der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo ndash bdquoNeobyzantismusldquo

und bdquopolitischer Hesychasmusldquo im postsowjetischen Russland Erfurt 2016

Alle Hefte der vorliegenden Schriftenreihe koumlnnen unter folgendem Link kostenlos heruntergeladen werden URL httpswwwuni-erfurtdereligionswissenschaftprofessur-orthodoxes-christentumveroeffentlichungenerfurter-vortraege-zur-kulturgeschichte-des-orthodoxen-christentums

Page 6: Michael Hagemeister FINAL - uni-erfurt.de · doziert Tichon, während er das antike Kons tantinopel computeranimiert auferste- hen lässt. Das prosperierende Impe rium erregte freilich

6 Michael Hagemeister

Das Drehbuch stammt von Archimandrit Tichon (Georgij Ševkunov) dem Vorsteher des Sretenskij Klosters auf der Lubjanka in Moskau das als Hort des religioumlsen Fundamentalismus und einer bdquoorthodoxen Machtstaatsideologieldquo (pra-voslavnaja deržavnostrsquo) gilt5 Tichon der vor seiner Priesterweihe ein Studium am Moskauer Gerasimov-Filminstitut absolviert hatte ist einer der bekanntesten Geistlichen im heutigen Russland Medienstar Filmemacher und Bestsellerautor Sein Buch bdquosbquoUnheilige Heiligelsquo und andere Erzaumlhlungenldquo eine autobiographisch grundierte Sammlung moderner Hagiographien und Wunderberichte erreichte in Russland eine Millionenauflage und wurde in mehr als zehn Sprachen uumlbersetzt Tichon preist darin bedingungslosen Gehorsam und Schicksalsergebenheit und bietet damit bdquoeine ideale Grundlage fuumlr eine autoritaumlre Gesellschaftsordnung wie sie sich im letzten Jahrzehnt in Russland herausgebildet hatldquo6 Tichon ist Mitglied des Obersten Kirchenrates der Russischen Orthodoxen Kirche des Praumlsidialrates fuumlr Kultur und Kunst und des nationalpatriotischen Izborsker Klubs7 sowie geistli-cher Begleiter und Beichtvater (duchovnik) von Vladimir Putin8 Bereits lange vor seiner Weihe zum Bischof im Jahr 2015 galt Tichon als ultrakonservativ Er ge-houmlrte zu den Initiatoren der Kampagne gegen die Einfuumlhrung der persoumlnlichen Steuernummer die er als Zahl des apokalyptischen Tieres deutete9 er warnte vor der Macht der Daumlmonen und dem Antichrist als dem falschen Messias der Juden und beschwor die drohende Gefahr eines bdquomystischen okkulten Genozidsldquo an

5 Nikolaj Mitrochin Russkaja pravoslavnaja cerkovrsquo sovremennoe sostojanie i aktualrsquonye

problemy Moskva 2006 210f Irina Papkova The Orthodox Church and Russian Politics New York 2011 47ndash53 219f

6 Ulrich Schmid Technologien der Seele Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur Frankfurt aM 2015 197

7 Zu den Mitgliedern des 2012 von dem Schriftsteller und Initiator eines mystisch-religioumlsen Stalin-Kultes Aleksandr Prochanov (siehe auch Fn 45) gegruumlndeten Klubs gehoumlren neben Tichon auch der Antisemit Holocaust-Leugner und Verschwoumlrungstheoretiker Oleg Plato-nov sowie der Neofaschist und bdquoEurasierldquo Aleksandr Dugin (zu ihm ausfuumlhrlicher unten) Siehe Roland Goumltz bdquoDie andere Welt Im Izborsker Klub Russlands antiwestliche Intel-ligencijaldquo in Osteuropa 65 (2015) 3 109ndash138 Marlene Laruelle bdquoThe Izborsky Club or the New Conservative Avant-Garde in Russialdquo in The Russian Review 75 (2016) 626ndash644 Siehe auch die Website lthttpwwwizborsk-clubrugt

8 lthttpsruwikipediaorgwikiТихон_(Шевкунов)gt 9 Papkova The Orthodox Church 124 Alexander Verkhovsky bdquoThe Orthodox in the Rus-

sian Ultranationalist Movementsldquo in Occasional Papers on Religion in Eastern Europe 22 (2002) 3 18ndash36

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 7

Russlands rechtglaumlubigen Christen10 Auch forderte er die Behandlung der bibli-schen Schoumlpfungslehre im Unterricht um das bdquoMonopol des Darwinismusldquo zu brechen11

Der Film bdquoUntergang eines Imperiumsldquo schildert die Geschichte des Ostroumlmischen Reiches von einer vage datierten Bluumltezeit bis zur Eroberung Kon-stantinopels durch die Osmanen im Jahr 1453 Der Drehbuchautor selbst tritt als Kommentator auf der durch die Szenen fuumlhrt und das Gezeigte deutet Dem Film zufolge bluumlhte Byzanz als geistiges kulturelles und politisches Zentrum der Welt waumlhrend sich der Westen sein bdquoHinterhofldquo bdquoim Zustand tiefster Barbareildquo12 be-fand und seine Bewohner bdquogrobe und ungehobelte Skandinavier Germanen Franken und Angelsachsenldquo13 als primitive Raumluberbanden umherzogen Kaiser Justinian schuf hier den ersten Rechtsstaat hier wurde die erste Universitaumlt ge-gruumlndet und hier entstand das bdquostabilste Finanzsystem in der Geschichte der Menschheitldquo14 Byzantinische Ingenieurkunst und Architektur waren beispiellos doziert Tichon waumlhrend er das antike Konstantinopel computeranimiert auferste-hen laumlsst

Das prosperierende Imperium erregte freilich den Neid und die Habgier des Westens 1204 zogen die Kreuzritter bdquotreubruumlchigldquo gegen Konstantinopel erober-ten und pluumlnderten die Stadt und eroumlffneten dem Westen Zugang zu deren bdquounermesslichen Reichtuumlmernldquo Die geraubten und nach Italien verschleppten Kunstwerke und Goldschaumltze ermoumlglichten dann das Kulturwunder der Renais-sance erschufen aber auch das bdquoMonster des wucherischen Bankensystems der heutigen Weltldquo und damit den modernen Kapitalismus bdquomit seiner unbaumlndigen Profitgierldquo die so Tichon bdquoim Grunde genommen nur den Furor bei den Kriegs-zuumlgen genetisch fortsetztldquo15 bdquoWie Pilze nach dem Regen schossen damals die ersten europaumlischen Banken emporldquo und die kleine Stadt Venedig wurde bdquodas New York des 13 Jahrhundertsldquo16 bdquoDurch Spekulation mit den heiligen Reliqui-en aus Konstantinopelldquo entstanden auch bdquodie ersten groszligen juumldischen Kapital-vermoumlgenldquo17 ndash an dieser Stelle erscheint im Film das beruumlhmte flaumlmische Gemaumll-de bdquoDie Steuereintreiberldquo deren Fratzen die Goldgier der juumldischen Bankiers und

10 Ieromonach Tichon (Ševkunov) bdquoNevidimaja branrsquoldquo in Literaturnaja Rossija 20 (21

Mai 1993) 6f Auch lthttpwwwlibrarypravpiterrubook_327htmgt Tichon wusste wovon er sprach hatte er doch als Student selbst an spiritistischen Seacuteancen teilgenommen Archimandrit Tichon (Ševkunov) bdquoNesvjatye svjatyeldquo i drugie rasskazy Moskva 122015 12ndash17

11 Michael Zimmerman bdquoRussian Creationism Sounds Frighteningly Familiarldquo in The Huffington Post 14 Juni 2010 lthttpwwwhuffingtonpostcommichael-zimmerman russian-creationism-sound_b_610266htmlgt

12 Tichon (Ševkunov) Gibelrsquo imperii 10 13 Ebd 14 Ebd 8 15 Ebd 11f 16 Ebd 12 17 Ebd Vgl auch 79

8 Michael Hagemeister

Wucherer illustrieren sollen bdquoDer barbarische Westen wurde erst dann zum zivi-lisierten Westen als er das byzantinische Imperium erobert gepluumlndert zerstoumlrt und absorbiert hatteldquo18

Waumlhrend der materialistische Westen sich an den Reichtuumlmern Konstanti-nopels guumltlich tat erkannten die Russen worin der groumlszligte Schatz von Byzanz bestand bdquoDas waren weder Gold noch Edelsteine nicht einmal Wissenschaft und Kunst Der groumlszligte Schatz von Byzanz war Gott [hellip] Und auf diesen Schatz gruumlndeten unsere groszligen Vorfahren nicht Banken oder Kapital nicht einmal Mu-seen oder Lombardsaumltze Sie gruumlndeten die Rusʼ Russland die geistige Erbin von Byzanzldquo19

Das multinationale Ostroumlmische Reich das sich zwischen Europa und Asi-en erstreckte bildete so die Lehre des Films eine hierarchisch gegliederte organi-sche Einheit gegruumlndet auf die Orthodoxie und die Loyalitaumlt gegenuumlber dem Kaiser als dem Verteidiger des wahren Glaubens Ein bdquosolch demonstrativer Kon-servatismusldquo aber war dem Westen bdquowo schon damals Individualismus und pri-vate Willkuumlr zum geheiligten Prinzip erhoben wurdenldquo ganz fremd und uner-traumlglich weshalb er bdquomit erbittertem Fanatismusldquo forderte bdquoByzanz solle sein ge-samtes Leben nach westlichem Muster modernisieren ndash in erster Linie die reli-gioumlse und geistige Sphaumlre dann aber auch die intellektuelle und materielle Kultur Was die Einzigartigkeit und Besonderheit von Byzanz angeht so lautete der Ur-teilsspruch des Westens [hellip] muss all dies vernichtet werden falls noumltig gemein-sam mit Byzanz und dessen geistigen Erbenldquo20 In Byzanz selbst entstand eine prowestliche Partei Dieser bdquoinnere Feindldquo wurde von den europaumlischen Regie-rungen zunaumlchst heimlich dann aber immer offener unterstuumltzt und gewann all-maumlhlich die Oberhand uumlber die bdquoimperialen Traditionalistenldquo Weitreichende Re-formen der byzantinischen bdquoWestlerldquo schwaumlchten den Staat untergruben den Glauben und zerstoumlrten schlieszliglich das Imperium Der Hauptgrund fuumlr den Unter-gang von Byzanz sei so Tichon die bdquogeistige Zersetzungldquo seiner Elite gewesen die vom Westen verfuumlhrt die Orthodoxie in der Florentiner Union an den roumlmi-schen Papst verraten habe21

Immer wieder zieht der Film kaum verhuumlllte oder direkte Analogien zum postsowjetischen Russland und dessen Verhaumlltnis zum Westen So haumltten die Ve-nezianer die Eroberung der ostroumlmischen Hauptstadt mit der Verteidigung der bdquoRechte auf den freien internationalen Marktldquo begruumlndet und behauptet einen ge-rechten Kampf gegen ein Regime zu fuumlhren das sich bdquogesamteuropaumlischen Wer-tenldquo verweigere und somit ein bdquoReich des Boumlsenldquo sei22 Als weitere Ursache fuumlr den Niedergang wurden korrupte Beamte eigenmaumlchtige Provinzgouverneure und staatsschaumldigende Oligarchen ausgemacht Ihnen habe sich Kaiser Basileios

18 Ebd 19 Ebd 13f 20 Ebd 44ndash46 21 Ebd 54f 22 Ebd 20f

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 9

II widersetzt indem er bdquomit harter Hand die Vertikale der Macht wieder herstell-teldquo Basileios II bdquozerschlug die separatistische Bewegung in den Randgebieten unterdruumlckte die aufruumlhrerischen Gouverneure und Oligarchen die sich anschick-ten das Imperium aufzuteilen Dann fuumlhrte er eine sbquoSaumluberunglsquo in der Regierung durch und konfiszierte fuumlr die Staatskasse groszlige Summen geraubten Geldesldquo23 Seinem Nachfolger hinterlieszlig er einen riesigen bdquoStabilisierungsfondsldquo24

Es liegt auf der Hand ndash und Tichon deutete es in einem Interview selbst an ndash25 dass mit der bdquoVertikale der Machtldquo die Putinsche Politik der Staumlrkung der Zentralgewalt gemeint ist Die bdquoseparatistische Bewegungldquo laumlsst sich auf Tsche-tschenien und die Ukraine beziehen und jene bdquoOligarchenldquo die nicht nur Reich-tum sondern auch politische Macht erstrebten oder vom feindlichen Ausland aus ihre Wuumlhlarbeit betrieben26 heiszligen heute Berezovskij Abramovič und Chodor-kovskij Und sogar der aktuelle Brain-Drain wird thematisiert wenn es heiszligt bdquoDie reiche Jugend von Byzanz lernte nicht mehr im eigenen Land sondern ging zur Ausbildung ins Ausland Die besten Koumlpfe der einheimischen Wissenschaft emi-grierten in den Westenldquo27

Die bis heute guumlltige bdquoLehre von Byzanzldquo und damit die Botschaft des Films bestehen jedoch in der Erkenntnis des ewigen Hasses den der wesens-fremde Westen gegen die orthodoxe Welt hege Mit den Worten Tichons bdquoDer racheluumlsterne Hass des Westens auf Byzanz und dessen Nachfolger den nicht einmal sie selbst ganz und gar verstehen setzt sich auf einer tieferen genetischen Ebene so paradox es auch klingen mag bis heute fort Falls wir diesen verbluumlffen-den doch unbestreitbaren Tatbestand nicht verstehen laufen wir Gefahr nicht nur in der weit zuruumlckliegenden Vergangenheit sondern auch in der Geschichte des 20 und sogar des 21 Jahrhunderts vieles nicht zu begreifenldquo28

Sowohl die Kritiker als auch die Bewunderer des Films haben denn auch erkannt dass es Tichon nicht um das historische Byzanz sondern um das heutige Russland geht ndash vom hegemonialen Westen bedroht von inneren Schwaumlchen wie Egoismus Zynismus und Korruption Genusssucht und Geburtenruumlckgang ge-zeichnet29 Der Film so Roman Lunkin sei eine bdquohistoriosophische Skizzeldquo und

23 Ebd 25 24 Ebd 27 25 Ebd 121 26 Ebd 31 27 Ebd 50 28 Ebd 64f ndash Dies so Tichon habe auch Stalin erkannt als er 1943 die bis dahin verfemte

Byzantinistik per Dekret wieder eingefuumlhrt habe Der bdquoehemalige Seminarist Džugašvilildquo habe bdquodamals endlich begriffen bei wem man die Geschichte studierenldquo muumlsse Ebd 65

29 Der Film so der renommierte Byzantinist Sergej Ivanov sei bdquoreine Fiktion voller kruder faktischer Fehler und krasser Verzerrungenldquo und bdquoerfuumlllt von giftigem Hass auf den Wes-tenldquo Sergey A Ivanov bdquoThe Second Rome as Seen by the Third Russian Debates on sbquoThe Byzantine Legacylsquoldquo in Przemysław MarciniakDion C Smythe (Hgg) The Reception of Byzantium in European Culture Since 1500 Farnham Burlington 2016 55ndash79 hier 72 [dt bdquoDas Zweite Rom aus der Sicht des Dritten Russische Debatten uumlber das sbquobyzan-tinische Erbelsquoldquo in Transit 46 (20142015) 157ndash173 hier 171] Siehe auch ders bdquoVtoroj

10 Michael Hagemeister

sein Autor eine Art bdquomoderner Moumlnch Filofejldquo der die Idee vom Dritten Rom propagiere30 Lunkin gab damit zwei Stichworte die im Folgenden naumlher betrach-tet werden sollen Historiosophie dh die geschichtsmetaphysische Deutung bzw Instrumentalisierung historischer Ereignisse und die Formel von MoskauRuss-land als dem Dritten Rom

Historiosophie Die heilsgeschichtliche Mission Russlands

Unter den Schlagwoumlrtern bdquoHistoriosophieldquo (istoriosofija) und bdquoMetahistorieldquo (metaistorija) erfreuen sich im postsowjetischen Russland Versuche groszliger Be-liebtheit Ziel und Sinn des weltgeschichtlichen Prozesses und die ihn gestalten-den Kraumlfte spekulativ zu bestimmen und ndash als aufbauende oder zerstoumlrende heil-volle oder unheilvolle Faktoren ndash zu bewerten31 Dabei werden Traditionen der russischen Geschichtsmetaphysik und Geschichtstheologie des 19 und 20 Jahr-hunderts aufgegriffen die die irdische Geschichte als Vollzug eines goumlttlichen Heilsplans deuten der den Glaumlubigen in seinem Anfang und Ende sowie den we-sentlichen Etappen geoffenbart worden sei Das providentielle teacutelos der Geschich-te das Ende und zugleich sinngebende Ziel enthuumlllen apokalyptische Texte So beschreibt die Offenbarung des Johannes die Geschehnisse am Ende der Zeit den Kampf zwischen den Maumlchten des Lichts und der Finsternis die Taumluschung und Verfuumlhrung durch den oder die Repraumlsentanten des Boumlsen die Entscheidungs-schlacht und das Juumlngste Gericht den Untergang der alten durch Konflikte zerrissenen Welt und den Beginn einer neuen vollkommenen und zeitlosen Welt Unverkennbar ist auch der Einfluss der dualistisch-deterministischen Geschichts-konzeption der Sowjetideologie (Geschichte als Einsicht in die bdquoobjektiven Ent-wicklungsgesetze der Gesellschaftldquo) kennt doch auch die Eschatologie und Daumlmonologie des historischen Materialismus den auf ein Endziel (bdquoReich der

Rim glazami Tretrsquoego Ėvoljucija obraza Vizantii v rossijskom obščestvennom soznaniildquo lthttppolitruarticle20090414vizantgt

30 lthttpwwwportal-credorusiteact=freshampid=719gt 31 Vgl Michael Hagemeister bdquoDas Dritte Rom gegen den Dritten Tempel ndash Der Antichrist

im postsowjetischen Russlandldquo in Mariano DelgadoVolker Leppin (Hgg) Der Anti-christ Historische und systematische Zugaumlnge FribourgStuttgart 2011 461ndash485 ndash Der Begriff bdquoHistoriosophieldquo geht auf August Cieszkowski (1814ndash1894) zuruumlck einen der Be-gruumlnder des polnischen Messianismus der in seinen Prolegomena zur Historiosophie (Ber-lin 1838) eine aktive Geschichtsteleologie entwarf Mit dem Begriff bdquoMetahistorieldquo be-zeichnete Sergej Bulgakov (1871ndash1944) bdquoden Gegenstand der Apokalypseldquo naumlmlich bdquodie noumenale Seite jenes universellen Prozesses dessen andere Seite sich uns als Geschichte zeigtldquo Sergej Bulgakov bdquoApokaliptika i socializmldquo in ders Dva grada Bd 2 Moskva 1911 51ndash127 hier 103 Zur Neuentdeckung und Aufwertung des in der Sowjetunion tabuisierten Begriffs bdquoHistoriosophieldquo im postsowjetischen Russland siehe Jutta Scherrer Kulturologie Ruszligland auf der Suche nach einer zivilisatorischen Identitaumlt Goumlttingen 2003 bes 91ndash126

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 11

Freiheitldquo) ausgerichteten Verlauf der Geschichte deren bdquoinnre verborgne Ge-setzeldquo und bdquotreibende Maumlchteldquo (Friedrich Engels) sich nur einem fortschrittlichen Bewusstsein zu erkennen geben

Zu den klassischen Werken bdquohistoriosophischerldquo Geschichtsdeutung die immer wieder aufgelegt werden gehoumlren Vladimir Solovrsquoevs (1853ndash1900) bdquoKur-ze Erzaumlhlung vom Antichristldquo (Kratkaja povestrsquo ob antichriste 1900) eine bdquophi-losophische Dichtungldquo die vielfach nicht als literarische Fiktion sondern als kon-krete Prophetie rezipiert und auf die Gegenwart und nahe Zukunft bezogen wird32 sowie insbesondere die manichaumlischen Geschichtskonzeptionen der religioumlsen Philosophen Pavel Florenskij (1882ndash1937) und Aleksej Losev (1893ndash1988) die gepraumlgt sind von der Vorstellung eines permanenten und allumfassenden in sei-nem Ausgang freilich entschiedenen Kampfes zwischen Logos und Chaos Chris-tus und dem Antichrist und dessen irdischem Agenten dem Judentum

In dieser bdquohistoriosophischenldquo oder bdquometahistorischenldquo Sicht erscheint die Geschichte Russlands als Feld auf dem eine bdquounsichtbare Schlachtldquo (nezrimaja bitva) lichtvoller und finsterer Maumlchte tobt Dabei wird das historische Geschehen in Analogie zur Passion Christi als Leidens- oder Kreuzweg (krestnyj putrsquo) aufge-fasst33 als Kreuzigung (raspjatie) durch die Maumlchte des Antichristentums und als Opfertod (požertvovanie) ein Ereignis das in der Regel mit der Epoche der bdquojuuml-disch-bolschewistischenldquo Sowjetherrschaft identifiziert wird34 Noch befinde sich Russland so die Adepten jener bdquosakralen Metahistorieldquo in einer Phase der Pruuml-fung auf dem Weg zum Ziel der Heilsgeschichte noch liege Russland ohnmaumlchtig im Grab doch werde schon bald seine wunderbare Auferstehung (voskresenie) erfolgen35 In der dann anbrechenden Bluumltephase dem letzten Zeitalter der Welt-geschichte vor dem Juumlngsten Gericht werde das wiedergeborene Russland unter der Herrschaft eines Endzeitkaisers die Menschheit von der Macht des Boumlsen be-freien Russland bringt sich also selbst zum Opfer um am Ende zu triumphieren

32 Siehe Michael Hagemeister bdquoTrilogie der Apokalypse ndash Vladimir Solovrsquoev Serafim von

Sarov und Sergej Nilus uumlber das Kommen des Antichrist und das Ende der Weltgeschich-teldquo in Wolfram BrandesFelicitas Schmieder (Hgg) Antichrist Konstruktionen von Feindbildern Berlin 2010 255ndash275 hier 261

33 Als Stationen an bdquoRusslands Kreuzwegldquo werden zumeist genannt das bdquoTatarenjochldquo als Russland die Feinde der Christenheit auf sich lenkte und durch sein Opfer die Zivilisation des Abendlandes vor dem Untergang rettete (worauf schon Aleksandr Puškin in seinem beruumlhmten Brief vom 19 Oktober 1836 an Petr Čaadaev einen Kritiker des russischen Byzantinismus hinwies) sodann der Einfall der bdquoLateinerldquo zu Beginn des 17 Jahrhun-derts die bdquolaumlsterlichenldquo Reformen des bdquoWestlersldquo Peter I (fuumlr viele der Antichrist) und schlieszliglich die bdquoKatastrophe des Jahres 1917ldquo

34 Siehe Vadim Rossman Russian Intellectual Antisemitism in the Post-Communist Era LincolnLondon 2002 223ndash225

35 Siehe Vardan Bagdasarian bdquoApokalipsis ndash segodnja ėschatologičeskie poiski v sovremen-noj Rossiildquo in Dmitrij Andreev [ua] (Hgg) Ėschatologičeskij sbornik Sankt-Peterburg 2006 435ndash453 hier 436f

12 Michael Hagemeister

Moskau ndash Drittes Rom und Katechon

Die Auffassung von Russlands entscheidender Rolle im Drama der Heilsge-schichte wird begruumlndet mit der Doktrin von Moskau als dem Dritten Rom wie sie aus der beruumlhmten eschatologischen Formel des Pskover Moumlnchs Filofej aus der ersten Haumllfte des 16 Jahrhunderts abgeleitet worden ist bdquoAlle christlichen Zartuumlmer haben sich ihrem Ende zugeneigt und sind gemaumlszlig den prophetischen Buumlchern eingegangen in das eine Zartum unseres Herrschers das heiszligt ins russi-sche Zartum Denn zwei Rome sind gefallen und das dritte steht Ein viertes aber wird es nicht gebenldquo36

Nach der Apostasie der Lateiner (dem Schisma von 1054) und dem bdquoVer-ratldquo Konstantinopels (durch die Florentiner Union 1439) dem als Strafe Gottes der Untergang des Byzantinischen Reichs (1453) folgte wird Russland zum drit-ten und ndash der goumlttlichen Trinitaumlt entsprechend ndash letzten Hort der Rechtglaumlubig-keit37 Dessen Ende wird auch das Ende der Geschichte sein mit dem Auftreten des Antichrist des falschen Messias der Juden der durch Taumluschung und Verfuumlh-rung die Parusie des wahren Messias gleichzeitig verbergen und ankuumlndigen soll Bis dahin aber sind das Heilige Russland und seine Herrscher von Gott erwaumlhlt und berufen den Widersacher Christi abzuwehren und das Ende aufzuhalten Nach der sogenannten Substitutionslehre sind die Erwaumlhlung und der messiani-sche Sendungsauftrag Israels nach dessen bdquoVerratldquo auf die Heilige Rusrsquo und das

36 bdquoMoskau ndash das Dritte Romldquo Das Sendschreiben des Filofej von Pskov in Peter Haupt-

mannGerd Stricker (Hgg) Die Orthodoxe Kirche in Ruszligland Dokumente ihrer Geschich-te 960ndash1980 Goumlttingen 1980 253 Bis zur ersten Publikation von Filofejs Sendschreiben in den 1860er Jahren war dieses Konzept freilich kaum bekannt Zu seinen vielfaumlltigen und bisweilen kontraumlren Deutungen siehe Nina Sinicyna Tretij Rim Istoki i ėvoljucija russkoj srednevekovoj koncepcii (XVndashXVI vv) Moskva 1998 zur Wirkungsgeschichte bis in die postsowjetische Gegenwart siehe Peter J S Duncan Russian Messianism Third Rome Revolution Communism and After LondonNew York 2000 Vgl auch Marshall Poe bdquoMoscow the Third Rome The Origins and Transformations of a sbquoPitoval Momentlsquoldquo in Jahrbuumlcher fuumlr Geschichte Osteuropas 49 (2001) 3 412ndash429 Frank Kaumlmpfer bdquoDie Lehre vom Dritten Rom ndash pitoval moment historiographische Folkloreldquo ebd 430ndash441 Fran-ziska Thun-Hohenstein bdquosbquoMoskau ndash Drittes Romlsquo Nachklaumlnge einer alten Denkfigur in der russischen Kultur des 20 Jahrhundertsldquo in Daniel Weidner (Hg) Figuren des Euro-paumlischen Kulturgeschichtliche Perspektiven Muumlnchen 2006 78ndash97 Sergej Magaril Mi-fologija bdquosbquoTretrsquoego Rimalsquo v rossijskom obrazovannom soobščestveldquo in Ėmilrsquo A Pain (Hg) Ideologija bdquoosobogo putildquo v Rossii i Germanii istoki soderžanie posledstvija Moskva 2010 127ndash156 Anna Briskina-Muumlller bdquoDas neue sbquoneue Romlsquo eine byzantinische Idee auf russischem Bodenldquo in Reinhard FlogausJennifer Wasmuth (Hgg) Orthodoxie im Dialog Historische und aktuelle Perspektiven Berlin [ua] 2015 311ndash336

37 Filofej sprach was oft uumlbersehen wird nicht von Moskau als dem Dritten Rom diese For-mel taucht erst im 17 Jahrhundert auf Auch wird aus dem bdquorhomaumlischen (Romejskoe) Zartumldquo bei Filofej erst spaumlter das bdquorussische (Rosejskoe) Zartumldquo Siehe Sinicyna Tretij Rim 244 324ndash328 ndash Die Vorstellung der Stadt Moskau als dem Dritten Rom treibt inzwi-schen seltsame Bluumlten So glaubt der vielfach ausgezeichnete Kulturologe Rustam Rach-matullin in seinem Bestseller Dve Moskvy ili metafizika stolicy (2008) eine bdquosakrale Identitaumltldquo zwischen Moskau Rom und Jerusalem nachweisen zu koumlnnen

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 13

russische bdquoGottestraumlgervolkldquo (narod-Bogonosec) uumlbergegangen die Orthodoxe Kirche wurde zum bdquoNeuen Israelldquo ihre heiligen Staumltten zum bdquoNeuen Jerusa-lemldquo38 Wenn Paulus davon spricht dass am Ende bdquoganz Israel errettetldquo werde (Roumlm 11 26) so sei damit die Kirche Jesu Christi gemeint zu der die Juden sich bekehren muumlssten39

bdquoMoskau ndash Drittes Romldquo Ikone (2011) Maler unbekannt lthttpwwwruniversrugalgallery-allphpSECTION_ID=7641ampELEMENT_ID=462777gt

Russlands Herrscher fungiert mithin als Katechon als jene hemmende aufhalten-de Macht von der im zweiten Brief des (Pseudo-)Paulus an die Thessalonicher die Rede ist

38 Siehe zB Michail Nazarov Voždju Tretrsquoego Rima K poznaniju russkoj idei v apokalipsi-

českoe vremja Moskva 2005 933f 945 ndash Fuumlr die Anhaumlnger der angloamerikanischen bdquoChristian Identityldquo sind hingegen die bdquoArierldquo bdquoGottes auserwaumlhltes Volkldquo und die Verei-nigten Staaten das bdquoNEW JerUSAlemldquo Martin Durham White Rage The Extreme-Right and American Politics London 2007 67

39 Eine fruumlhe heute wieder viel zitierte wertende Entgegensetzung von Judentum und (russi-schem) Christentum findet sich bereits in der um die Mitte des 11 Jahrhunderts verfassten bdquoRede uumlber das Gesetz und die Gnadeldquo (Slovo o zakone i blagodati) des Metropoliten Ila-rion

14 Michael Hagemeister

Zuerst muss der Abfall von Gott kommen und der Mensch der Gesetzlosigkeit offenbart werden der Sohn des Verderbens der Widersacher der sich erhebt uumlber alles was Gott heiszligt oder Heiligtum so dass er sich sogar in den Tempel Gottes setzt und sich fuumlr Gott ausgibt [] Denn das Geheimnis der Gesetzlosigkeit [τὸ μυστήριον τῆς ἀνομίας]40 ist schon wirksam nur muss erst der beseitigt werden der es bis jetzt noch aufhaumllt [ὁ κατέχων] und dann wird der Gesetzlose offenbart werden [hellip] (2 Thess 23-4 und 7-8)

Die durch bdquofeigen Verratldquo erzwungene Abdankung des Zaren im Maumlrz 1917 und seine Ermordung im Juli 1918 wurden denn auch als Erfuumlllung jener Prophetie verstanden dh als Beseitigung des Katechon damit der Weg frei werde fuumlr die Herrschaft des Antichrist41 Der Regizid wurde in dieser Sicht zu einem bdquoapoka-lyptischen Verbrechenldquo langfristig geplant und auf blutig-rituelle Weise ausge-fuumlhrt von den Agenten des Antichrist den Juden Fuumlr diese so der Historiker Mi-chail Nazarov war der von Gott erwaumlhlte und gesalbte apostelgleiche Herrscher des Dritten Rom der bdquokatechontischen orthodoxen Machtldquo objektiv der groumlszligte metaphysische Feind und seine Beseitigung mithin eine Tat bdquovon houmlchster mys-tisch-religioumlser Bedeutungldquo42

Viele Glaumlubige sind indes uumlberzeugt dass die Stelle des Katechon nicht vakant sei sondern von der Gottesmutter uumlbernommen wurde Als Beweis dafuumlr dient die wundersame Auffindung einer Ikone im Dorf Kolomenskoe bei Moskau an jenem Tag an dem Nikolaus II dem Thron entsagte43 Die Ikone zeigt die

40 Luther uumlbersetzt bdquoGeheimnis der Bosheitldquo in der mittelalterlichen Theologie als der Anti-

christ gedeutet der nach der Offenbarung des Johannes am Ende der Zeiten erscheint 41 Im Russischen wird die Rolle des bdquoSelbstherrschersldquo (samoderžec) als bdquoAufhalter Kate-

chonldquo (uderživajuščij) auch etymologisch deutlich russ deržatrsquo entspricht griech κατέ-χειν ndash Die mysterioumlse Figur des Katechon (im griechischen Text einmal Neutrum einmal Maskulinum) die das Endgericht und den Anbruch des Reiches Gottes verzoumlgert bietet sich ebenso wie der Antichrist und seine Trabanten seit jeher zu immer neuen Identifikatio-nen mit einzelnen Gestalten Gruppen oder politischen Maumlchten an So identifizierte Carl Schmitt (1888ndash1985) der bdquoApokalyptiker der Gegenrevolutionldquo (Jacob Taubes) Liberalis-mus Bolschewismus und Judentum mit dem Antichrist (oder seinen Agenten) und glaubte dendas Katechon unter anderem in der Diktatur Hitlers zu erkennen 1947 notierte er bdquoIch glaube an den Katechon er ist fuumlr mich die einzige Moumlglichkeit als Christ Geschichte zu verstehen und sinnvoll zu findenldquo Carl Schmitt Glossarium Aufzeichnungen aus den Jah-ren 1947 bis 1958 hg von Gerd Giesler und Martin Tielke Berlin 2015 47 Schmitt und seine politische Theologie werden in russischen Intellektuellenkreisen intensiv rezipiert

42 Nazarov Voždju 213ndash223 ders Tajna Rossii Istoriosofija XX veka 1999 695ndash699 ndash Die Ermordung der Zarenfamilie durch die Bolschewiki im Juli 1918 in Ekaterinburg wur-de und wird von russischen Nationalisten als juumldischer antichristlicher Ritualmord darge-stellt Extremistische Kirchenkreise forderten denn auch Nikolaus II und seine Familie als bdquovon Jidden Gemarterteldquo (ot židov umučennye) heiligzusprechen Dem wurde freilich von fuumlhrenden Vertretern des Moskauer Patriarchats widersprochen

43 Im Februar 1917 war der Baumluerin Evdokija Andrianova im Traum der Fundort der Ikone erschienen Nach langem Suchen wurde diese schlieszliglich am 215 Maumlrz im Keller der Himmelfahrtskirche von Kolomenskoe entdeckt Siehe Aleksandr N Kazakevič bdquosbquoV podvale chrama pojavilasrsquo ikona Bogomaterilsquo Dokumenty Centralrsquonogo istoričeskogo

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 15

Himmelskoumlnigin mit den Zeichen ihrer Regentschaft im kaiserlichen Purpur mit Krone Szepter und Reichsapfel Das Bild der bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo (Bogo-materrsquo Deržavnaja) erwies sich sogleich als wundertaumltig und zog zahlreiche Pil-ger an Kopien verbreiteten seine Verehrung im ganzen Land Bis heute gilt es vielen als ein Zeichen dass Russlands Schutz vor dem Ansturm des Antichrist vom Zaren auf die Gottesmutter uumlbergegangen ist und sie die autokratische Macht bis zur Wiederherstellung der Monarchie bewahren wird44 Zum 70 Jahrestag des Sieges lieszlig der Izborsker Klub eine Variante der beruumlhmten Ikone anfertigen Sie zeigt die bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo zusammen mit Stalin und seinen Marschaumll-len Fuumlr Aleksandr Prochanov ist Stalin der Katechon der von Gott gesandte Fuumlhrer des Sowjetvolks das durch den Opfertod seiner Soumlhne im bdquogeheiligtenldquo Groszligen Vaterlaumlndischen Krieg ebenso wie einst Christus die Macht der Houmllle be-siegt und die Menschheit erloumlst habe45

lthttpwwwizborsk-clubruarh2015_04_Blokpdfgt

In bdquohistoriosophischerldquo Sicht bildet die Ermordung des Zaren und seiner Familie das zentrale sinnstiftende Ereignis der Geschichte Russlands im 20 Jahrhundert Alles darauf folgende Ungluumlck und Leiden die Verfolgung der Christen Hunger und Terror der Tod von Millionen Menschen werden aufgefasst als Strafe Gottes fuumlr den Abfall des russischen Volkes vom Glauben und fuumlr den judasgleichen

archiva Moskvy o Deržavnoj ikone Božiej Materildquo in Otečestvennye archivy 1 (2004) lthttpricolororghistorykasvyatyniik_derggt

44 Vgl Grigorij Nikolaev bdquoĖschatologičeskij triptichldquo in Ėschatologičeskij sbornik 358ndash396 hier 376f Bagdasarjan bdquoApokalipsis ndash segodnja 441f

45 Aleksandr Prochanov bdquoMističeskij stalinizmldquo in Izborskij klub Russkie strategii 4 (28) 2015 78ndash81 auch lthttpwwwizborsk-clubruarh2015_04_Blokpdfgt

16 Michael Hagemeister

bdquoVerratldquo an seinem Herrscher Wie Jesus sich dem Willen des goumlttlichen Vaters unterworfen hat und auf Golgatha fuumlr die Suumlnden der Welt gestorben ist so habe der Zar in Ekaterinburg (dem bdquorussischen Golgathaldquo) sein Leben als bdquoSuumlhneopferldquo dargebracht fuumlr die Suumlnden ganz Russlands46 Erst wenn das russische Volk sein Land von den Idolen und Symbolen der Gottlosigkeit reinige den Ideen der De-mokratie und politischen Gleichheit abschwoumlre seine kollektive Schuld bereue und Buszlige tue fuumlr das bdquoschrecklichste und unheilvollste Verbrechen des 20 Jahr-hundertsldquo werde der Zar zuruumlckkehren und Russland seine einstige Groumlszlige wie-dererlangen47

Einer der vehementesten und einflussreichsten Propagandisten der Selbst-charismatisierung Russlands war in den Jahren nach dem Ende der Sowjetunion Metropolit Ioann (Ivan Snyčev 1927ndash1995) von St Petersburg und Ladoga Mit-glied des Heiligen Synods und dritthoumlchster Kirchenhierarch des Landes In einer Vielzahl von Buumlchern Aufsaumltzen und Interviews beschwor Ioann die universale Mission des Dritten Rom als des bdquoletzten Hortes des wahren Glaubensldquo im Kampf gegen den Antichrist und seine Verbuumlndeten das bdquoVolk der Gesetzlosigkeitldquo48 Zu den apokalyptischen Feinden Christi zaumlhlte er die bdquoglobalen Maumlchte hinter den Kulissenldquo (mirovaja zakulisa) das internationale Freimaurertum die bdquotransnatio-nale Finanzoligarchieldquo die Anhaumlnger des Zionismus und Marxismus sowie Israel die USA und deren westeuropaumlische Satelliten49 Wiedergeboren im Geist der Or-thodoxie sei das Dritte Rom der irdische Sockel auf dem der Thron Gottes ruhen werde ndash ihm entgegen stehe der Dritte Tempel der Thron des Antichrist50

Hesychasmus als Kulturscheide ndash Kritik der Renaissance

Als entscheidende Waffe in dieser heilsgeschichtlichen Auseinandersetzung wird in juumlngster Zeit von antiwestlichen Intellektuellen und Kirchenkreisen der soge-nannte Hesychasmus in Stellung gebracht Urspruumlnglich handelt es sich dabei um

46 Das Schicksal des letzten Zaren wurde in der antibolschewistisch-antisemitischen Polemik

schon fruumlh mit der Passion Christi verglichen oder gleichgesetzt Eindrucksvolle Beispiele aus juumlngerer Zeit bieten die patriotischen Lieder der prominenten Saumlngerin Žanna Bičev-skaja oder die Filme Iskupitelrsquonaja žertva (1992) und Russkaja Golgofa (2000) Siehe auch Papkova The Orthodox Church 63f 222

47 Marija Achmetova Konec sveta v odnoj otdelrsquono vzjatoj strane Religioznye soobščestva postsovetskoj Rossii i ich ėschatologičeskij mif Moskva 2010 245ndash260

48 Vgl Rossman Russian Intellectual Antisemitism 221ndash225 Hagemeister bdquoDas Dritte Romldquo 476

49 Metropolit Ioann (Snyčev) bdquoToržestvo pravoslavijaldquo in ders Bitva za Rossiju Sankt-Peterburg 1993 28ndash35 In seinem Bestreben Russland als Opfer jahrhundertealter Ver-schwoumlrungen finsterer antichristlicher Maumlchte darzustellen griff Ioann immer wieder auch auf die Protokolle der Weisen von Zion zuruumlck

50 Metropolit Ioann (Snyčev) Samoderžavie ducha Očerki russkogo samosoznanija Sankt-Peterburg 1994 7

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 17

eine individuelle psychosomatische Gebets- und Meditationstechnik des byzanti-nischen und slavischen Moumlnchtums deren Anfaumlnge bis auf die Wuumlstenvaumlter zu-ruumlckreichen Durch die unablaumlssige konzentrierte Wiederholung des sogenannten bdquoJesusgebetsldquo ndash der Anrufung des rettenden Namens Jesu Christi ndash im Rhythmus des Herzschlags (deshalb auch bdquoHerzensgebetldquo) eine Uumlbung die als bdquogeistiges Tunldquo (πρᾶξις νοερά russ umnoe delanie) bezeichnet wird kann der Asket der die innere Ruhe (ἡσυχία) und Leidenschaftslosigkeit (ἀπάθεια) erreicht hat zur ekstatischen Schau (θεωρία) der Herrlichkeit Gottes in Lichtvisionen gelangen51

Die mit dem bdquoJesusgebetldquo verbundenen mystischen Erfahrungen fuumlhrten im 14 Jahrhundert zu einer hochspekulativen theologischen Deutung und Systemati-sierung durch den Athosmoumlnch (spaumlter Erzbischof von Thessalonike) Gregorios Palamas (129697minus1359) und seine Anhaumlnger im sogenannten bdquoHesychasmus-streitldquo Dabei ging es ndash stark vereinfacht ndash um die Frage inwiefern bestimmte sinnliche Erfahrungen beim Gebet wie das Schauen von Licht aber auch die Empfindung von Waumlrme und Wohlgeruch als Begegnung mit der Realitaumlt Gottes aufzufassen seien (und nicht als Pseudovisionen also als Einbildungen oder gar Inspirationen daumlmonischer Maumlchte) Dahinter steht das alte theologische Problem der Erkennbarkeit oder sinnlichen Erfahrbarkeit Gottes der Kommunikation zwi-schen Immanenz und Transzendenz aber auch der Gefahr der Verfuumlgung uumlber das Goumlttliche (extrem im Gotteszwang durch Beschwoumlrung)

Palamas loumlst die Frage indem er in Anlehnung an neuplatonische Vorstel-lungen das unzugaumlngliche ewige bdquoWesenldquo (οὐσία) Gottes von seiner in der ge-schaffenen Welt d h in Raum und Zeit mitteilbaren ungeschaffenen bdquoWirkkraftldquo oder bdquoEnergieldquo (ἐνέργεια) unterscheidet nicht aber trennt52 Diese Energien bdquodie der dreieinige Gott ausstrahlt und die zu seinem Wesen gehoumlren wie die Strahlen zur Sonne oder das Kraftfeld zum Magnetenldquo53 kann der Asket der den Stufen-prozess von bdquoReinigungldquo (κάθαρσις) bdquoErleuchtungldquo (φωτισμός) und bdquoVergoumlttli-chungldquo (θέωσις) durchlaumluft durch die Gnade Gottes sinnlich erfahren Als houmlch-stes mystisches Erlebnis im Zusammenwirken (συνεργία) aller menschlichen En-ergien mit der goumlttlichen Energie gilt die Schau des ungeschaffenen Lichtes wie sie den Juumlngern Jesu bei dessen Verklaumlrung auf dem Berg Tabor (μεταμόρφωσις

51 Ich folge hier zum Teil meinen Ausfuumlhrungen in Michael Hagemeister bdquoImjaslavie ndash imja-

dejstvie Namensmystik und Namensmagie in Russland (1900ndash1930)ldquo in Tatjana Petzer [ua] (Hgg) Namen Benennung ndash Verehrung ndash Wirkung Positionen der europaumlischen Moderne Berlin 2009 77ndash98 hier 79ndash81 88ndash90 Zum Hesychasmus liegt eine umfangrei-che Literatur vor Das Nachschlagewerk von Sergej Choružij (Hg) Isichazm annotiro-vannaja bibliografija Moskva 2004 umfasst mehr als 10000 Titel in 20 Sprachen

52 Die Unterscheidung von Gottes unerkennbarem Wesen und seinen wahrnehmbaren Wirk-kraumlften reicht bis auf Philon von Alexandria (gest ca 40 n Chr) zuruumlck Siehe Fairy v Lilienfeld bdquoHesychasmusldquo in Theologische Realenzyklopaumldie Bd 15 BerlinNew York 1986 282ndash289 ndash bdquoEnergieldquo ist Synonym fuumlr jeden bdquoAustrittldquo Gottes aus seinem Wesen Die bdquoSaumlttigungldquo mit goumlttlicher Energie erklaumlrt beispielsweise auch die gnadenreiche Heil-wirkung die von den Gebeinen der Heiligen selbst nach deren Tod ausgeht

53 Ebd 284

18 Michael Hagemeister

τοῦ Χριστοῦ Mt 171minus13) zuteil geworden war54 Fuumlr den endzeitlich gestimm-ten Palamas war diese Schau eine Vorwegnahme der Parusie der Vereinigung des Geschaffenen und des Ungeschaffenen und des kuumlnftigen Reiches Gottes somit bdquorealisierte Eschatologieldquo55

Der Glaube an die Wahrnehmbarkeit des ungeschaffenen ewigen Lichtes als Ausfluss der Energien Gottes stieszlig jedoch auf Widerspruch Palamasrsquo promi-nentester Gegner war der aus Kalabrien stammende Moumlnch Barlaam (ca 1290ndash1348) der in der Tradition der abendlaumlndischen rationalistischen Scholastik die Unterscheidung des transzendenten unzugaumlnglichen Wesens Gottes und der da-von untrennbaren Energien die aber ad extra wirken und sich dem Menschen mitteilen als haumlretisch verwarf und auf der absoluten Unerkennbarkeit Gottes be-stand Rom lehnte denn auch die Energienlehre des Palamas aufs schaumlrfste ab Dagegen erkannte die byzantinische Kirche sie 1341 und 1351 als Dogma an Seitdem gilt der palamitische Hesychasmus als ein Spezifikum der Orthodoxie und dient gerade heute wieder der polemischen Abgrenzung gegenuumlber dem Wes-ten56

Fuumlr die bereits genannten Philosophen Pavel Florenskij und Aleksej Losev charakterisiert das Bekenntnis zum Hesychasmus den Kulturtypus des christli-chen Mittelalters der sich in idealer Weise in Byzanz und in der Moskauer Rusrsquo ausgepraumlgt habe und in diametralem Gegensatz zur sogenannten bdquoRenaissance-Kulturldquo des Westens stehe Merkmale jener integralen Kultur des christlichen Ostens seien Gemeinschaftlichkeit (sobornostrsquo) Geistigkeit (duchovnostrsquo) Ob-jektivitaumlt Konkretheit Ganzheit (celrsquonostrsquo) und Ganzheitlichkeit (celostnostrsquo) synthetische Schau und Realismus57 waumlhrend die westliche Moderne seit der Re-naissance gepraumlgt sei durch Subjektivismus Relativismus szientifische Ratio-nalitaumlt (bdquoEntzauberung der Weltldquo) Materialismus Liberalismus Individualismus

54 Siehe Sergej Choružij bdquoSvet Plotinov i svet Favora mistika sveta v neoplatonizme i isi-

chazmeldquo in Aleksej Lidov (Hg) Ierotopija Ognja i Sveta v kulrsquoture vizantijskogo mira Moskva 2013 37ndash44 Zur Terminologie des Hesychasmus ders bdquoAnalitičeskij slovarʼ isi-chastskoj antropologiildquo in ders K fenomenologii askezy Moskva 1998 22ndash186

55 Peter Kawerau Das Christentum des Ostens Stuttgart [ua] 1972 131 56 Siehe zB die Arbeiten des Moskauer Theologen Igorʼ Ėkonomcev (Archimandrit Ioann)

bes bdquoIsichazm i vostočnoevropejskoe Vozroždenieldquo in Bogoslovskie trudy 29 (1989) 167ndash196 erweiterte Fassung bdquoDer Hesychasmus und die Renaissance in Osteuropaldquo in Karl Christian Felmy (Hg) Tausend Jahre Christentum in Russland Zum Millennium der Taufe der Kiever Rusrsquo Goumlttingen 1988 731ndash771 ndash Im 19 Jahrhundert erlebte der Hesy-chasmus im Zuge der Wiederbelebung mystischer Froumlmmigkeit durch Paisij Veličkovskij (1722ndash1794) eine Bluumlte im russischen Starzentum Dabei handelt es sich auch ndash aumlhnlich wie beim Pietismus ndash um eine Reaktion auf die Einfluumlsse der westlichen Aufklaumlrung Siehe die Beitraumlge in Adalberto Mainardi (Hg) Paisij lo starec Atti del III Convegno ecumenico internazionale di spiritualitagrave russa Bose 20ndash23 settembre 1995 Magnano 1997

57 Die Uumlberwindung der Trennung des erkennenden Subjekts vom Objekt der Erkenntnis (Descartes Locke Kant) durch das spekulative intuitive Erfassen des Wesens (der Ideen des Absoluten) als des eigentlich Realen hat die russische Philosophie des 20 Jahrhunderts bdquolebendiges Wissenldquo (živoe znanie) bdquoIdeal-Realismusldquo (ideal-realizm) oder bdquointuitiven Realismusldquo (intuitivnyj realizm) genannt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 19

Abstraktheit Zersplitterung und Atomisierung58 Der Sieg des Nominalismus im mittelalterlichen Universalienstreit und die Feier des autonomen Individuums in Renaissance Humanismus und Aufklaumlrung markieren in dieser katastrophischen Perspektive den Zerfall der goumlttlichen Ordnung des Universums und der Sakralitaumlt von Hierarchie und Herrschaft und damit den bdquoSuumlndenfallldquo der abendlaumlndischen Kultur die im Anthropozentrismus der satanischen Hybris einer bdquoSelbstvergot-tungldquo des Menschen (čelovekobožie)59 zugleich gipfele und scheitere60

Am Anfang dieser verhaumlngnisvollen Spaltung standen die Annahme der pa-lamitischen Lehre durch die Ostkirche und die Ablehnung dieser Lehre im Westen durch den bdquoRenaissance-Menschenldquo (vozroždenec) Barlaam den Lehrer Boccac-cios und Petrarcas61 Mit aller Schaumlrfe formulierte Losev diesen Gegensatz bdquo[hellip] entweder ist das Taborlicht untrennbar vom Wesen Gottes und ist deshalb Gott selbst (obwohl Gott selbst nicht [das] Licht ist) ndash dann ist die Orthodoxie gerettet oder das Licht ist vom Wesen Gottes trennbar und darum geschaffen ndash dann be-ginnen die apokalyptischen Kraumlmpfe des Renaissance-Westensldquo62 Indem sie Bar-laam einen bdquozugereisten Kalabrierldquo und seine Anhaumlnger mit dem Bann belegte habe die Orthodoxe Kirche so Losev die damals heraufziehende Renaissance

58 Siehe zB Pavel Florenskij bdquoAvtoreferat (192526)ldquo in Voprosy filosofii 1988 12 113ndash

116 dt Pavel Florenski bdquoAutorreferatldquo in ders Leben und Denken hg von Fritz und Sieglinde Mierau Bd 1 Ostfildern 1995 32ndash38 Aleksej Losev Dialektika mifa (1930) Moskva 2001 137ndash138 dt Die Dialektik des Mythos Hamburg 1994 109 ndash Die wertende Entgegensetzung von mittelalterlicher und Renaissance-Kultur (bzw der Typen bdquoobjekti-verldquo und bdquosubjektiverldquo Kulturen) findet sich durchgaumlngig im Werk Florenskijs und Losevs Siehe zuletzt Oksana SedychJulija Grišatova bdquoRusskij Renessans o Renessanseldquo in Vo-prosy filosofii 2015 6 111ndash121

59 bdquoSatan war der erste Revolutionaumlrldquo zitiert Losev einen (apokryphen) Ausspruch des Hl Serafim von Sarov Aleksej Losev bdquoDopolnenie k sbquoDialektike mifalsquo (novyj fragment)ldquo in AF Losev tvorčestvo tradicii interpretacii Moskva 2014 397ndash411 hier 401

60 So degradiere ndash um nur ein Beispiel fuumlr das Scheitern der Renaissance zu geben ndash das heliozentrische Weltbild eines Kopernikus und Giordano Bruno den Menschen zum Be-wohner eines bdquonichtigen Sandkornsldquo im unendlichen Weltraum SedychGrišatova bdquoRuss-kij Renessansldquo 114 Florenskij suchte denn auch in seiner Schrift Mnimosti v geometrii (1922) das geozentrische Weltbild des Mittelalters zu rehabilitieren Zum griechisch-or-thodoxen Antikopernikanismus Vasilios Makrides Die religioumlse Kritik am kopernikani-schen Weltbild in Griechenland zwischen 1794 und 1821 Aspekte griechisch-orthodoxer Apologetik angesichts naturwissenschaftlicher Fortschritte Frankfurt aM [ua] 1995

61 Mitunter wurde Barlaam sogar als Agent einer groszligangelegten antiorthodoxen Verschwouml-rung des bdquoPapismusldquo denunziert Siehe Ėkonomcev bdquoIsichazmldquo 59 vgl ders bdquoDer Hesy-chasmusldquo 736 ndash Eine Kontrastierung des weltlichen Humanisten Petrarca und des Hesy-chasten Palamas unternahm Losevs Schuumller und Sekretaumlr Vladimir Bibichin lthttpwww philologyruliterature3bibikhin-90htmgt

62 Aleksej Losev Očerki antičnogo simvolizma i mifologii Moskva 1930 856 Auch Ėko-nomcev spricht von den bdquoschreienden Widerspruumlchen und Grimassen der westlichen Re-naissance deren geistiger Vater Barlaam wurdeldquo Ėkonomcev bdquoIsichazmldquo 63 (in der deut-schen Version ist von bdquohimmelschreienden Gegensaumltzenldquo und bdquoscheuszliglichen Grimassenldquo die Rede Ėkonomcev bdquoDer Hesychasmusldquo 746)

20 Michael Hagemeister

insgesamt verdammt (anafematstvovala) der alle westlichen Voumllker verfallen sei-en und wahrscheinlich bis ans Ende ihrer Tage verfallen blieben63

Bis zuletzt verteidigte Losev ein mit Orden des Sowjetstaates ausgezeich-neter Philosoph der 1929 von Archimandrit David (Muchranov 1847ndash1930) ei-nem Fuumlhrer der hesychastischen bdquoNamensverehrerldquo (imjaslavcy)64 heimlich zum Moumlnch geweiht worden war die Lehre des Palamas als einen Grundpfeiler der Orthodoxie65 Gleichzeitig hielt er an seiner schroffen Ablehnung des bdquoRenaissan-ce-Westensldquo fest dessen Geschichte insgesamt nichts anderes sei als bdquoeine libera-le Kritik des Mittelaltersldquo 1978 stellte Losev in seiner umfangreichen Studie zur Aumlsthetik der Renaissance der bdquoganzheitlichen Kulturldquo (celostnaja kulrsquotura) des Mittelalters die zerrissene Kultur der Renaissance gegenuumlber die auf der Verabso-lutierung und bdquotitanischen Verherrlichungldquo des isolierten Subjekts und der bdquoAbge-trenntheit vom lebendigen Seinldquo (otryv ot živogo bytija) beruhe66 In einem Ge-spraumlch mit dem Schriftsteller Viktor Erofeev das 1985 veroumlffentlicht wurde de-nunzierte Losev den Typus des bdquoRenaissance-Menschenldquo der sich selbst vergoumltt-liche und deshalb dem Nihilismus und Satanismus verfalle bdquoIndem die Renais-sance das Subjekt zum Absolutum erhob oumlffnete sie den Weg fuumlr den Triumph des Subjektivismus in den folgenden Jahrhunderten In diesem Sinne stellt der gesamte Westen fuumlr mich eine Sackgasse des Denkens darldquo67 Damit geriet der Philosoph einerseits in scharfen Gegensatz zum sowjetischen Selbstverstaumlndnis das sich als Erbe und Vollender gerade jener bdquoprogressivenldquo Prozesse und huma-nistischen Traditionen sah die von der europaumlischen Renaissance ausgegangen

63 Losev Očerki 849 856 64 Zur Bewegung des imjaslavie die zu Beginn des 20 Jahrhunderts auf dem Athos entstand

und in Florenskij und Losev prominente Unterstuumltzer fand liegt inzwischen eine reiche Literatur vor Siehe die juumlngste Veroumlffentlichung Antoine Niviegravere Les glorificateurs du nom Une querelle theacuteologique parmi les moines russes du mont Athos (1907ndash1914) Genegraveve 2016

65 Siehe Valentina Postovalova bdquoAfonskij spor ob Imeni Božiem v filosofsko-bogoslovskom osmyslenii AF Losevaldquo in AF Losev 95ndash106 bes 105f

66 Aleksej Losev Ėstetika Vozroždenija Moskva 21982 (11978) 45 61 137 und passim Losevs Modernekritik erinnert an Heidegger und dessen Begriff der bdquoSeinsvergessenheitldquo Wie fuumlr Heidegger so war auch fuumlr Losev (und Florenskij) der Agent der verhassten Moder-ne ein bdquorechnendesldquo und bdquowurzellosesldquo mythisches Judentum Zu Losevs metaphysischem Antisemitismus (bdquodas satanische Wesen des Judentumsldquo) siehe zuletzt mit zahlreichen Belegen Natalrsquoja Boneckaja Duch Serebrjanogo veka (fenomenologija ėpochi) Moskva Sankt-Peterburg 2016 688ndash693

67 Aleksej Losev bdquoV poiskach smyslaldquo in Voprosy literatury 1985 10 205ndash231 hier 229 Zu Losevs Kritik der bdquoRenaissance-Kulturldquo des Westens ausfuumlhrlich Annett Jubara Die Philosophie des Mythos von Aleksej Losev im Kontext bdquoRussischer Philosophieldquo Wiesba-den 2000 bes 131ndash154 Siehe auch Naftalij Prat bdquoAleksej Losev und der Totalitarismusldquo in Leonid Luks (Hg) Das Christentum und die totalitaumlren Herausforderungen des 20 Jahrhunderts Koumlln [ua] 2002 103ndash114 bes 108f

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 21

waren (augenfaumlllig etwa in der Architektur der 1930er bis 50er Jahre)68 Anderer-seits erwies sich der orthodoxe Moumlnch damit auch als Apologet des Sowjetregi-mes bedroht die Autonomie des Individuums doch den Wesenskern einer jeden Herrschaft die das Wahrheitsmonopol fuumlr sich beansprucht

Die Ablehnung der modernen bdquokopernikanischen Weltldquo (Hans Blumen-berg) durchzieht das gesamte philosophische Werk Losevs und Florenskijs dazu gehoumlren die Ablehnung des heliozentrischen Weltbildes die Polemik gegen Kants kritischen Idealismus (die bdquokopernikanische Wendeldquo in der Philosophie) die Ab-lehnung der Zentralperspektive in der Kunst die Ablehnung des nominalistischen Rationalismus und schlieszliglich die Ablehnung der saumlkularen und demokratischen Gesellschaftsordnung zugunsten einer bdquoVerkirchlichungldquo (ocerkovlenie) aller Be-reiche der Gesellschaft und des Staates in Gestalt einer theokratischen Synarchie Florenskij der sich als einen mittelalterlichen Menschen charakterisierte69 ndash Ni-kolaj Berdjaev selbst Verkuumlnder eines religioumls-integralen bdquoNeuen Mittelaltersldquo nannte ihn einen bdquoraffinierten Reaktionaumlrldquo ndash70 war uumlberzeugt dass die bdquoentseelte Renaissance-Zivilisationldquo sich erschoumlpft habe und eine neue ganzheitlich-objekti-ve Kultur anbrechen werde71 Vorbild dieser bdquoKultur des anderen Typusldquo werde Russland sein bdquoerste Keimeldquo seien bereits zu erkennen Seine Zeit begriff Floren-skij bdquoan den Wasserscheiden des Denkensldquo und er sah seine Lebensaufgabe darin bdquoWege zu bahnen zu einer kuumlnftigen ganzheitlichen Weltanschauungldquo72

68 Losevs Renaissance-Kritik (va in Ėstetika Vozroždenija) wurde deshalb auch als ver-

schleierte Kritik am Sowjetsystem verstanden Siehe Annett Jubara bdquoAleksej Losevs Philosophie des Mythos als Kritik an der Sowjetischen Moderneldquo in Studies in East Euro-pean Thought 56 (2004) 211ndash224 Aus dem Kreis der Schuumller Losevs gingen seit den 1960er Jahren zahlreiche dissidentische russische Nationalisten hervor Nikolaj Mitrochin Russkaja partija Dviženie russkich nacionalistov v SSSR 1953ndash1985 Moskva 2003 288f Zur Kritik der Renaissance-Zivilisation siehe auch Vladimir Bibichin Novyj renessans Moskva 1998 bes 131ndash155

69 Siehe Florenskij bdquoAvtoreferatldquo Noch im Maumlrz 1933 nach seiner Verhaftung erklaumlrte Flo-renskij gegenuumlber den Ermittlungsbeamten bdquoIch Pavel Aleksandrovič Florenskij [hellip] bin dem Charakter meiner politischen Anschauungen nach ein Romantiker des Mittelalters un-gefaumlhr des 14 Jahrhundertsldquo Vitalij Šentalinskij bdquoUdel veličijaldquo in Ogonek 1990 45 23ndash27 hier 26

70 Nikolaj Berdjaev Samopoznanie (Opyt filosofskoj avtobiografii) Moskva 1991 161 Sie-he Nikolaj Berdjaev Novoe srednevekovrsquoe Berlin 1924 dt Nikolaus Berdjajew Das Neue Mittelalter Darmstadt 1927

71 Siehe Michael Hagemeister bdquoWiederverzauberung der Welt ndash Pavel Florenskijs Neues Mittelalterldquo in Norbert Franz [ua] (Hgg) Pavel Florenskij ndash Tradition und Moderne Beitraumlge zum Internationalen Symposium an der Universitaumlt Potsdam 5 bis 9 April 2000 Frankfurt aM [ua] 2001 21ndash41 Zu Florenskijs Kritik an Renaissance und Humanismus (bdquoder Humanismus entsprang der Kabbalaldquo) siehe auch Ilona Svetlikova bdquoOb ideologii sbquoobratnoj perspektivylsquo Pavla Florenskogoldquo in Russkaja intellektualʼnaja revoljucija 1910ndash1930-ch godov Moskva 2016 123ndash139 zu den Uumlbereinstimmungen mit Heidegger siehe Viktor Arslanov Postmodernizm i russkij bdquotretij putrsquoldquo tertium datur rossijskoj kulrsquotury XX veka Moskva 2007 472ndash499

72 Florenskij bdquoAvtoreferatldquo 114

22 Michael Hagemeister

In juumlngster Zeit hat das wiedererwachte Interesse an der eigenen spirituellen Tradition und ihren byzantinischen Wurzeln ndash oftmals verbunden mit dem Bestre-ben sich vom bdquosaumlkularen Westenldquo und der bdquowestlichen Moderneldquo abzugrenzen ndash zu einer Wiederbelebung des palamitischen Hesychasmus (neopalamizm) und der ndash davon zu unterscheidenden ndash bdquoNamensverehrungldquo (imjaslavie) gefuumlhrt73 Be-reits in den 1970er Jahren war John Meyendorffs klassische Studie St Greacutegoire Palamas et la mystique orthodoxe (Paris 1959) ins Russische uumlbersetzt worden und kursierte in der Sowjetunion in Samizdat-Ausgaben im Milieu religioumls-philo-sophischer Dissidenten Heute wird die Wiederbelebung des Hesychasmus auch durch den patriotischen Kult um Serafim von Sarov (Prochor Mošnin 1759ndash1833) befoumlrdert einen Wundertaumlter und Apokalyptiker der im postsowjetischen Russland zu einem der meistverehrten Heiligen avanciert ist74 In einer in viele Sprachen uumlbersetzten und millionenfach verbreiteten Schrift schildert sein Schuuml-ler Nikolaj Motovilov (1809ndash1879) die Verklaumlrung Serafims im ungeschaffenen Licht des Heiligen Geistes die sich angeblich im November 1831 auf einer einsa-men verschneiten Waldlichtung ereignet hat75

73 Dies gilt nicht nur fuumlr Russland auch auf Vertreter der angelsaumlchsischen bdquoRadical Ortho-

doxyldquo die das Projekt einer von modern-saumlkularem Denken nicht korrumpierten Theologie verfolgen uumlben Hesychasmus und russische Sophiologie starke Faszination aus Siehe die Beitraumlge in Adrian PabstChristoph Schneider (Hgg) Encounter Between Eastern Ortho-doxy and Radical Orthodoxy Transfiguring the World Through the Word Farnham 2009 Zur Wiederbelebung des imjaslavie im post-sowjetischen Russland siehe Scott M Ken-worthy bdquoDebating the Theology of the Name in Post-Soviet Russia Metropolitan Ilarion Alfeev and Sergei Khoruzhiildquo in Katya Tolstaya (Hg) Orthodox Paradoxes Hetero-geneities and Complexities in Contemporary Russian Orthodoxy LeidenBoston 2014 250ndash264 Siehe auch Loren Grahams Bericht uumlber diskrete Zusammenkuumlnfte der imjaslav-cy im Kellergeschoss der Moskauer Tatrsquojana-Kirche in den fruumlhen 2000er Jahren Loren GrahamJean-Michel Kantor Naming Infinity A True Story of Religious Mysticism and Mathematical Creativity Cambridge MassLondon 2009 1ndash5

74 Fuumlr die Anhaumlnger der Doktrin einer bdquoAtomaren Orthodoxieldquo (atomnoe pravoslavie) ist Se-rafim auch der Schutzheilige der russischen Atombombe wurde doch Sarov der Ort seines Wirkens 1946 unter dem Namen Arzamas-16 zur streng geheimen Nuklearstadt in der Wissenschaftler unter ihnen Andrej Sacharov am Bau der sowjetischen Atom- und Was-serstoffbomben arbeiteten Patriotische Russen deuten dies als Zeichen dass bdquoim Hause unseres Vaters Serafimldquo mit dessen Segen der nukleare bdquoSchild zum Schutz der Heimatldquo geschmiedet worden sei Pavel V Florenskij bdquoNeobchodimostrsquo našej atomnoj bombyldquo in Naš sovremennik 1997 4 219ndash221 Bei dem Verfasser handelt es sich um einen Enkel des beruumlhmten Philosophen Siehe auch lthttpsruwikipediaorgwiki Атомное_правосла виеgt

75 Die Schrift deren Authentizitaumlt umstritten ist wurde bekannt unter dem Titel bdquoGespraumlch uumlber das Ziel des christlichen Lebensldquo (Beseda o celi christianskoj žizni) Erstmals veroumlf-fentlicht wurde das bdquoGespraumlchldquo 1903 von Sergej Nilus (1862ndash1929) dem Herausgeber und Kommentator der Protokolle der Weisen von Zion Siehe Michael Hagemeister bdquoIl proble-ma della genesi del sbquoColloquio con Motovilovlsquoldquo in Adalberto Mainardi (Hg) San Sera-fim Da Sarov a Diveevo Atti del IV Convegno ecumenico internazionale di spiritualitagrave russa Bose 18ndash20 settembre 1996 Magnano 1998 157ndash174 Bis heute gibt es keine kriti-sche Ausgabe dieses zentralen Textes russischer Geistigkeit

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 23

Von der Wiederbelebung des Hesychasmus zeugt auch das groszligangelegte Projekt einer bdquosynergetischen Anthropologieldquo (sinergijnaja antropologija) des Mathematikers Physikers und religioumlsen Philosophen Sergej Choružij Prakti-sches Ziel das seit 2005 durch ein eigenes Institut in Moskau verfolgt wird ist die psychosomatisch-holistische Selbsttransformation des Menschen die auf unmittelbarer (mystisch-energetischer) Erfahrung bzw Einwirkung des ontolo-gisch Anderen (Goumlttlichen) beruht sowie die Uumlberwindung der Subjekt-Objekt-Trennung der modernen westlichen Philosophie die Choružij fuumlr den von ihm als krisenhaft und katastrophisch beschriebenen Zustand der westlichen Moderne verantwortlich macht Im Unterschied zu orthodoxen Fundamentalisten und Anti-Westlern sucht Choružij indes die asketischen Praktiken des Hesychasmus mit modernen und postmodernen westlichen Anthropologien (Kierkegaard Scheler Heidegger und insbesondere Foucaults technique oder practique de soi) in Bezie-hung zu setzen76

bdquoPolitischer Hesychasmusldquo

Es duumlrfte deutlich geworden sein dass Hesychasmus nicht nur eine weltabge-wandte mystisch-asketische bdquogeistige Praxisldquo bezeichnet sondern auch als Kampfbegriff gegen die saumlkulare Kultur des bdquoWestensldquo und der bdquowestlichen Mo-derneldquo dient Dies gilt vor allem fuumlr das Konzept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo (političeskij isichazm)

In den russischen Diskurs wurde dieses Konzept um die Mitte der 1960er Jahre von dem Leningrader Mediaumlvisten und Byzantinisten Gelian Prochorov ein-gefuumlhrt77 Seiner Hauptthese zufolge wurde der Hesychasmus nachdem er aus den Klosterzellen herausgetreten war und eine philosophisch-theologische

76 Siehe Sergej Choružij Očerki sinergijnoj antropologii Moskva Inst Sinergijnoj antropo-

logii Inst filosofii teologii i istorii Sv Fomy 2005 ders (Hg) Fonarrsquo Diogena Proekt sinergijnoj antropologii v sovremennom gumanitarnom kontekste Moskva 2010 ders bdquoDie mystische Verwandlung des Menschen Uumlber den Hesychasmus als Raum der Philo-sophieldquo in Fuge Journal fuumlr Religion amp Moderne 7 (2010) 72ndash99 Siehe auch die Web-site lthttpsynergia-isarugt Kristina Stoeckl bdquoA New Anthropology Sergej S Khoru-žijrsquos Search for an alternative to the Cartesian Subject in sbquoOčerki sinergijnoj antropologiilsquoldquo in Studies in East European Thought 59 (2007) 237ndash245

77 Gelian Prochorov bdquoĖtničeskaja integracija v Vostočnoj Evrope v XIV-m veke Ot isichastskich sporov do Kulikovskoj bitvyldquo in Doklady otdelenija ėtnografii 2 (196265) Leningrad 1966 81ndash110 ders bdquoIsichazm i obščestvennaja myslʼ v Vostočnoj Evrope v XIV vldquo in Literaturnye svjazi drevnich slavjan (Trudy otdela drevnerusskoj literatury 23) Leningrad 1968 86ndash108 ders bdquoKulʼturnoe svoeobrazie ėpochi kulikovskoj bitvyldquo in Kulikovskaja bitva i podldquoem nacionalrsquonogo samopoznanija (Trudy otdela drevne-russkoj literatury 34) Leningrad 1979 3ndash17 ndash Prochorov gehoumlrte bereits zu Sowjetzeiten ins Lager der (neo-)slavophilen Anti-Westler er war eng befreundet mit dem bdquoEurasierldquo und Antisemiten Lev Gumilev (1912ndash1992) und uumlbernahm von diesem das Konzept der bdquoEthnogeneseldquo

24 Michael Hagemeister

Grundlegung erfahren hatte am Ende des 14 Jahrhunderts zu einem entscheiden-den politischen und kulturellen Faktor nicht nur in Byzanz sondern in ganz Ost-europa und lieferte unter anderem das ideologische Fundament zur Konsolidie-rung der nachmongolischen Rusʼ Im Streit zwischen dem bdquorationalistischen Hu-manismus und dem kontemplativen Hesychasmus [hellip] entschied Byzanz uumlber sein geistiges Schicksal Das Land blieb bis zuletzt mittelalterlich Den Hesy-chasten gelang es zu Wortfuumlhrern der oumlffentlichen Meinung in Byzanz zu werden die letzte schoumlpferische Synthese seiner traditionellen Kultur zu entwickeln und eine breite kulturelle und gesellschaftliche Bewegung in Gang zu setzen die zu einer Erneuerung des Mittelalters und zu einer Wiederbelebung der Orthodoxie im ganzen oumlstlichen Europa fuumlhrteldquo78

Im Anschluss an das von seinem Lehrer Dmitrij Lichačev entwickelte Kon-zept einer bdquoVorrenaissanceldquo (Predvozroždenie)79 spricht Prochorov von einer bdquovorrenaissancelichen Gegenreformationldquo (predvozroždenčeskaja kontrreforma-cija) und einer bdquoOrthodoxen Renaissanceldquo (Pravoslavnoe Vozroždenie)80 Ge-meint war damit dass die Palamiten (Hesychasten) den Sieg der Barlaamiten ver-hindern konnten und auf die Schriften der antiken Kirchenvaumlter zuruumlckgreifend ein mystisch-kontemplatives Aumlquivalent zum rationalistischen und saumlkularen Hu-manismus geschaffen haumltten Auf diese Weise habe der drohende Uumlbergang der byzantinischen und osteuropaumlischen christlich gepraumlgten Kultur von der bdquoVorre-naissanceldquo zu einer auf heidnisch-antiken Wurzeln beruhenden Renaissance ab-gewendet werden koumlnnen81 Auf die bdquoVorrenaissanceldquo sei ein bdquoNeues Mittelalterldquo gefolgt das in der bdquoHeiligen Rusʼldquo um die Wende zum 15 Jahrhundert seinen Houmlhepunkt erreicht habe Ihm verdanke Russland seine Groumlszlige und die russische Kultur ihre bdquoUniversalitaumltldquo und bdquoGeistigkeitldquo82

Bemerkenswert ist dass der sowjetische Wissenschaftler die beiden ideolo-gischen Lager mit traditionellen (neo-)slavophilen Wertungsoppositionen wie sie bereits bei Florenskij und Losev begegnet sind verbindet und dabei deutlich seine 78 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 4 79 Vor allem in seinem Buch Kulʼtura Rusi vremeni Andreja Rubleva i Epifanija Premudrogo

MoskvaLeningrad 1962 80 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 8 Siehe auch ders Nekogda ne narod a nyne narod

Božijhellip Drevnjaja Rusʼ kak istoriko-kulʼturnyj fenomen Sankt-Peterburg 2010 133ndash157 81 So auch Igorʼ Ėkonomcev bdquoDie osteuropaumlische sbquoVorrenaissancelsquo ist nicht die erste Stufe

zur saumlkularisierten Renaissance vom abendlaumlndischen Typ sondern ihre Antithese Der geistige und kulturelle Aufschwung in Osteuropa war die wahre volle und eindeutige Re-naissance die sich grundlegend von der westlichen Renaissance unterschied Sie haumltte sich niemals in eine Renaissance westlicher Praumlgung verwandeln koumlnnenldquo Ėkonomcev bdquoDer Hesychasmusldquo 764 vgl ders bdquoIsichazmldquo 69 Diese (osteuropaumlische) Renaissance so Ėkonomcev an anderer Stelle sei ungleich bdquoerhabener geistiger und reinerldquo gewesen als bdquodie westeuropaumlische Renaissance mit ihrer krankhaften Disharmonie zwischen Glauben und Vernunft Geist und Leib die trotz allem gespieltem Optimismus ein Gefuumlhl der Aus-weglosigkeit und Verzweiflung hinterlaumlsstldquo Igumen Ioann Ėkonomcev bdquoVizantinizm Kirillo-Mefodievo nasledie i kreščenie Rusildquo in ders Pravoslavie Vizantija Rossija Sbornik statej Moskva 1992 7ndash22 hier 18

82 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 9 15

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 25

Sympathie zeigt Die byzantinischen Humanisten werden von ihm als kalte Ratio-nalisten dargestellt die in der Hoffnung auf militaumlrische Unterstuumltzung durch den katholischen Westen im Kampf gegen die Osmanen bereit gewesen seien den eigenen Glauben zu opfern83 Die Hesychasten hingegen haumltten so Prochorov den Westen realistischer eingeschaumltzt und auf Hilfe von Seiten der orthodoxen Staaten gehofft Im entscheidenden Moment haumltten nicht die bdquoWestler-Huma-nistenldquo (zapadniki-gumanisty) mit ihren bdquokalten Uumlberlegungenldquo (cholodnymi rassuždenijami) beim Volk Gehoumlr gefunden sondern die Hesychasten mit ihren bdquoheiszligen Gebetenldquo (gorjačimi molitvami)84

Mit seiner Apologie eines bdquowiederbelebtenldquo Mittelalters und einer bdquoOrtho-doxen Renaissanceldquo die alle Bereiche des politischen gesellschaftlichen und kul-turellen Lebens gepraumlgt habe und deren Kern der Hesychasmus gewesen sei stieszlig Prochorov bei seinen sowjetischen Kollegen auf Kritik So sah Apollon Kuzmin im Palamismus eine desintegrative Erscheinung weshalb er Prochorovs positive Bewertung der Hesychasten bei der bdquoWiedergeburtldquo der Rusʼ zuruumlckwies85 Aumlhn-lich argumentierte Gennadij Litavrin Die Palamiten seien diejenigen gewesen die eine unrealistische Einschaumltzung der politischen Lage gehabt haumltten Sie haumltten die Bedrohung durch die Tuumlrken nicht erkannt und stattdessen die Illusion verbreitet die Feinde zum Christentum bekehren und zu neuen Untertanen ma-chen zu koumlnnen Der Palamismus sei eine bdquoIdeologie der Demutldquo und habe eine bdquounheilvolle Rolle in der Geschichte des Kampfes gegen die tuumlrkische Aggres-sionldquo gespielt86 Michail Sjuzjumov sprach sogar vom bdquoasozialen Charakter des Palamismusldquo der den aufkommenden humanistischen Tendenzen gegenuumlber feindlich gewesen und zur bdquoIdeologie der Reaktionldquo in Byzanz geworden sei87 Auf Ablehnung stieszlig Prochorov auch im Ausland Valerij Lepachin kritisierte den Begriff bdquopolitischer Hesychasmusldquo als unzulaumlssige Verbindung weltlicher und geistlicher Sphaumlren damit verliere der Hesychasmus seinen wesentlichen Sinn-gehalt88 Fuumlr den in Berkeley lehrenden Philologen Viktor Živov schlieszliglich war

83 Ebd 12 84 Ebd 13 ndash An anderer Stelle betont Prochorov den Gegensatz zwischen den abstrakten

bdquoausgedachtenldquo philosophischen Konstruktionen des europaumlischen Idealismus und der ganzheitlichen kontemplativ-spekulativen Welterfahrung der griechisch-byzantinischen Philosophie Prochorov bdquoĖtničeskaja integracijaldquo 90f An Florenskijs Renaissance-Kritik (etwa in Ikonostas 1922) erinnert auch Prochorovs Verweis auf den euklidischen Raum und den Perspektivismus der humanistischen Weltwahrnehmung mit seiner Illusion der Unendlichkeit Prochorov bdquoIsichazmldquo 94

85 Apollon Kuzmin bdquoCerkovʼ i svetskaja vlastʼ v ėpochu Kulikovskoj bitvyldquo in Voprosy naučnogo ateizma 37 (1988) 90ndash99

86 Gennadij Litavrin bdquoVizantija v period graždanskoj vojny i dviženija Zilotov (1341ndash1355 gg)ldquo in Sergej Skazkin (Hg) Istorija Vizantii Bd 3 Moskva 1967 135ndash160 hier 158

87 Michail Sjuzjumov bdquoFilosofija i bogoslovieldquo in ebd 234ndash256 hier 248f 88 Valerij Lepachin bdquoUmnoe delanie (o soderžanie i granicach ponjatija sbquoisichazmlsquo)ldquo in

Vestnik Russkogo Christianskogo Dviženija 164 1992 5ndash32 hier 23

26 Michael Hagemeister

bdquopolitischer Hesychasmusldquo bdquokonzeptuelles Unkraut [sornjak] das man so schnell wie moumlglich ausrottenldquo solle89

Fast ein halbes Jahrhundert nach ihrer ersten Veroumlffentlichung wurde Pro-chorovs Konzept eines bdquopolitischen Hesychasmusldquo von seinem Schuumller Vladimir Petrunin wieder aufgegriffen und aktualisiert In der 2009 erschienenen Monogra-phie bdquoDer politische Hesychasmus und seine Traditionen in der Sozialkonzeption des Moskauer Patriarchatsldquo90 stellt Petrunin das sogenannte bdquoNichtgehorsamkeits-prinzipldquo (princip nepovinovenija) wie es in den von der Moskauer Bischofssyno-de im August 2000 verabschiedeten bdquoGrundlagen der Sozialkonzeption der Rus-sischen Orthodoxen Kircheldquo formuliert worden ist91 in eine Tradition die er bis auf die bdquopolitischen Hesychastenldquo im Byzanz des 14 und 15 Jahrhunderts zu-ruumlckzufuumlhren sucht Immer wieder zieht Petrunin Parallelen zwischen dem spaumlten Byzanz und dem postsowjetischen Russland Hatten die Byzantiner den Hesy-chasmus als Reaktion auf den Humanismus des Westens hervorgebracht so diene heute die Sozialkonzeption der Abwehr des westlichen Saumlkularismus Liberalis-mus und Kapitalismus Damals wie heute stuumlnden der kirchliche Heilsauftrag und die Verteidigung des Glaubens uumlber den Interessen des Staates selbst ndash wie das Beispiel von Byzanz zeige ndash um den Preis seines Untergangs Ebenso wie die byzantinischen Hesychasten den mit dem Westen kollaborierenden Herrschern die Gefolgschaft im Kampf gegen die Osmanen verweigert haumltten da sie die bdquoReinheit ihres Glaubensldquo eher bdquounter einem tuumlrkischen Turban als unter der lateinischen Tiaraldquo gewahrt sahen92 rufe die Sozialkonzeption die Kirche heute dazu auf der Staatsmacht den Gehorsam zu verweigern sollte diese bdquodie ortho-doxen Glaumlubigen zum Abfall von Christus und Seiner Kirche sowie zu suumlndhaften

89 Viktor Živov bdquoVidenija sveta i problemy russkogo srednevekovogo isichazmaldquo in Lidov

(Hg) Ierotopija 350ndash367 hier 363 359 90 Vladimir Petrunin Političeskij isichazm i ego tradicii v socialʼnoj koncepcii Moskovskogo

Patriarchata Sankt-Peterburg 2009 91 Osnovy socialrsquonoj koncepcii Russkoj Pravoslavnoj Cerkvi III5 lthttpwwwpatriarchia

rudbtext141422htmlgt Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo wird von den meisten Inter-preten als ein bemerkenswertes Umdenken in der Kirchenpolitik angesehen hatte doch die Russische Orthodoxe Kirche unter Patriarch Sergij in einer prekaumlren Lage 1927 Loyalitaumlt gegenuumlber dem Sowjetstaat gefordert Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo war auch eine wichtige Voraussetzung fuumlr die Vereinigung der Auslandskirche mit dem Moskauer Pa-triarchat Zur Sozialkonzeption insgesamt Vasilios N Makrides bdquoDie politische Aufgabe der Kirche Bemerkungen anhand der Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kir-cheldquo in Irene DingelChristiane Tietz (Hgg) Die politische Aufgabe von Religion Per-spektiven der drei monotheistischen Religionen Goumlttingen 2011 219ndash243

92 Petrunin Političeskij isichazm 66f 120 Es handelt sich um eine zeitgenoumlssische Losung Siehe Halina Evert-Kappesowa bdquoLa tiare ou le turbanldquo in Byzantinoslavica 14 (1953) 245ndash257 ndash Auch Aleksandr Nevskij (1220ndash1263) zog eine Verstaumlndigung mit den Mongo-len einer Union mit Rom vor die ihm Papst Innozenz IV im Jahr 1248 angeboten hatte und wandte sich stattdessen gegen die bdquoLateinerldquo Heutige Anti-Westler feiern den Heili-gen der Russischen Orthodoxen Kirche deshalb auch als bdquoersten Eurasierldquo

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 27

und der Seele abtraumlglichen Taten noumltigenldquo93 Die Sozialkonzeption hat fuumlr Petru-nin nur einen moumlglichen Sinn Falls Russlands politische Elite sich weiterhin dem liberalen Wertekanon des Westens verschreibe und Russlands bdquoEigenartldquo (samo-bytnostʼ) als bdquoorthodoxe Zivilisationldquo bestreite94 muumlsse die Kirche ndash wie einst in Byzanz ndash dem Staat die Loyalitaumlt aufkuumlndigen und das Volk zum Widerstand auf-rufen

Es ist ganz offensichtlich dass die Prozesse der Globalisierung und Saumlkularisierung eng miteinander verbunden sind So wie einst die byzantinischen Hesychasten ist heute die Russische Kirche mit der westlichen Zivilisation konfrontiert die nach der Weltherrschaft trachtet war fruumlher der Katholizismus deren Grundlage so ist es jetzt der saumlkulare Humanismus [hellip] Waumlhrend sie [die westliche Welt MH] damals fuumlr die Hesychasten mit Rom gleichgesetzt wurde so verkoumlrpert heute das kosmopolitische New York den Westen Indem sie Liberalismus und Saumlkularisie-rung abwehrt tritt die Kirche auch gegen die politischen und wirtschaftlichen Hegemoniebestrebungen des Westens auf und stellt so ihr Bestreben unter Beweis die zivilisatorische Eigenstaumlndigkeit Russlands wieder herzustellen Wie schon vor 600 Jahren im Byzantinischen Imperium so ist auch heute in Russland allein die Kirche ein ernstzunehmender und gut organisierter Gegner des Westens und seiner saumlkularen Werte [hellip] Sollte Russland weiter den Weg der Saumlkularisierung be-schreiten so koumlnnte damit fuumlr die Kirche der gefaumlhrliche Praumlzedenzfall geschaffen werden in dem sie von ihrem Recht Gebrauch machen muumlsste das Volk zu zivilem Ungehorsam aufzurufen95

In seinem Vorwort nannte Prochorov das Buch seines Schuumllers eine bdquoWarnung an unseren Staat unsere saumlkulare Gesellschaft an uns alleldquo96 Wie das spaumlte Byzanz unter dem bdquoDruck aus dem Westenldquo gestanden habe ndash dem die Herrscher und die bdquoHumanistenldquo schlieszliglich nachgegeben haumltten ndash so laufe auch das postkommu-nistische Russland Gefahr dem bdquoDruck des Liberalismus und der Globalisierungldquo nachzugeben Allein die Orthodoxe Kirche habe sich damals wie heute als bdquoFes-tungldquo erwiesen faumlhig diesem bdquozersetzenden Einflussldquo Widerstand zu leisten97

Petrunins Buch das mit dem Segen von Metropolit Ilarion (Grigorij Al-feev)98 erschienen war stieszlig bei westlichen Forschern auf Skepsis und Ableh-nung So kritisierte Kristina Stoumlckl die unhistorische Interpretation und forcierte Aktualisierung der philosophischen theologischen und politischen Kontroversen des 14 Jahrhunderts sowie die einseitige konservative Interpretation der Sozial-konzeption Hesychasmus werde in dem Kirchendokument ebenso wenig erwaumlhnt

93 Osnovy socialrsquonoj koncepcii 94 Petrunin Političeskij isichazm 81 95 Ebd 122f 96 Ebd 5 97 Ebd 98 Zu jener Zeit Bischof von Wien und Oumlsterreich heute Leiter des Auszligenamtes des Moskau-

er Patriarchats und scharfer Kritiker des bdquomilitanten Saumlkularismusldquo des Westens Siehe auch lthttpazbykaruxristianstvo-pered-vyzovom-voinstvuyushhego-sekulyariz ma-2gt

28 Michael Hagemeister

wie der Untergang von Byzanz99 Klaus Buchenau warf Petrunin vor er bdquoverfor-m[e] und ideologisier[e] die urspruumlnglichen Motive des hesychastischen Moumlnch-tums bis zur Unkenntlichkeitldquo100 Und Viktor Živov der bereits Prochorovs Kon-zept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo als bdquoUnkrautldquo bezeichnet hatte sah in Petru-nins Buch ein Beispiel dafuumlr wie dieses sich bdquospontan und schaumldlichldquo ausbreite Die von Petrunin konstruierte bdquophantastische Genealogie des politischen Hesy-chasmusldquo beruhe so Živov auf einer bdquoMischung aus Einseitigkeit und Unwissen-heitldquo Weder sei der bdquotuumlrkische Turbanldquo fuumlr den Patriarchen attraktiv gewesen noch sei am Widerstand gegen die Union irgendetwas spezifisch bdquoHesychasti-schesldquo Petrunin habe ein bdquoPhantomldquo geschaffen dessen angebliche Verbindung mit der Sozialkonzeption man nicht weiter zu verfolgen brauche101

bdquoNeobyzantismusldquo Das Dritte Rom ndash der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo

Eine eigenwillige Interpretation des Hesychasmus und seine Wendung gegen den Westen stammen von Aleksandr Dugin dem Fuumlhrer der bdquoeurasischenldquo Bewegung und einflussreichsten Vordenker der Neuen Rechten in Russland Der polyglotte und belesene Autodidakt der nie eine akademische Ausbildung genossen hat war Gruumlnder der Partei der Nationalbolschewisten Berater des Vorsitzenden der Du-ma und des Generalstabs sowie von 2008 bis 2014 Professor fuumlr Soziologie an der renommierten Moskauer Lomonosov-Universitaumlt und Direktor des dortigen bdquoZentrums fuumlr Konservatismusstudienldquo Seit Anfang der 1990er Jahre verbreitet er mit graphomanem Eifer seine politischen und bdquometaphysischenldquo Botschaften in einer inzwischen kaum noch uumlberschaubaren Zahl von Publikationen102 und Web-Artikeln in mehreren Sprachen sowie durch spektakulaumlre Auftritte in staats-nahen Medien103 99 Kristina Stoumlckl bdquoPolitical Hesychasm Vladimir Petruninrsquos Neo-Byzantine Interpretation

of the Social Doctrine of the Russian Orthodox Churchldquo in Studies in East European Thought 62 (2010) 125ndash133

100 Klaus Buchenau Auf russischen Spuren Orthodoxe Antiwestler in Serbien 1850ndash1945 Wiesbaden 2011 480 Anm 2

101 Živov bdquoVidenija svetaldquo 364f ndash Von der Kritik offenbar unbeeindruckt verschaumlrfte Petru-nin noch seine Position So sprach er 2012 in einem Vortrag uumlber die gesellschaftliche und politische Wirkung der hesychastischen Gebetspraxis Nach dem Fall von Byzanz sei das bdquoJesusgebet faktisch zu einem sbquopolitischen Gebetlsquoldquo geworden das auf die bdquoVerwandlung [preobraženie] der orthodoxen Oumlkumeneldquo ausgerichtet gewesen sei und das bdquoPhaumlnomen der Heiligen Rusrsquoldquo hervorgebracht habe lthttpsynergia-isarup=8604gt

102 Zuletzt in der bislang fuumlnf Baumlnde umfassenden Reihe bdquoNoomachijaldquo (2014ndash2015) einer hochambitioumlsen letztlich aber manichaumlisch-schematischen Beschreibung der bdquoSuche nach dem Logosldquo in den ndash von Dugin essenzialistisch aufgefassten ndash bdquoWeltkulturenldquo

103 Auch die Literatur zu Dugin ist kaum noch uumlberschaubar Siehe zB Alexander Houmlllwerth Das sakrale eurasische Imperium des Aleksandr Dugin Eine Diskursanalyse zum post-sowjetischen russischen Rechtsextremismus Stuttgart 2007 Stefan Wiederkehr Die eurasische Bewegung Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwi-schenkriegszeit und im postsowjetischen Russland Koumlln [ua] 2007 227ndash261 Anton

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 29

Dugin deutet den Hesychasmus im Rahmen des sogenannten bdquointegralen Traditionalismusldquo einer antimodernen Denkrichtung die im ersten Drittel des 20 Jahrhunderts in Frankreich und Italien entstand und in Reneacute Gueacutenon (1886ndash1951) und Julius Evola (1898ndash1974) ihre bekanntesten (und auch fuumlr Dugin wichtigsten) Vertreter hat104 Ihre Lehre besagt dass alle Religionen ungeachtet ihrer histori-schen und regionalen Auspraumlgungen in ihrem esoterischen nur dem Eingeweih-ten zugaumlnglichen Kern eine gemeinsame urspruumlngliche Wahrheit teilen und als philosophia perennis tradieren das Wissen um die Goumlttlichkeit und den Zugang zu ihr Dieses sakrale und initiatorische Wissen sei im Verlauf der westlichen Mo-derne insbesondere durch die Aufklaumlrung verlorengegangen in traditionellen Gesellschaften (China Indien islamische Welt) jedoch bewahrt geblieben105

Auch die Orthodoxie so Dugin habe im Gegensatz zu Katholizismus und Protestantismus bdquodie Treue zum esoterischen Kernldquo bewahrt naumlmlich in ihrer mystischen Unterstroumlmung dem Hesychasmus106 In der Kanonisierung des Gre-gorios Palamas durch die Ostkirche bei gleichzeitiger Verdammung des Humanis-ten Barlaam sieht Dugin das Bekenntnis zum bdquognostisch-realistischen Geist der orthodoxen Esoterikldquo Ganz im Sinn des Traditionalismus deutet er die psycho-physische Uumlbung der Hesychasten das bdquogeistige Tunldquo als Verfahren der bdquoInitia-tionldquo und das Endziel der bdquoVerklaumlrungldquo und bdquoVergoumlttlichungldquo als bdquoalchemistische Verwandlung des Leibesldquo (alchimičeskoe preobraženie tela) Dadurch wuumlrden der bdquoDualismus von Geist und Materie Leib und Seeleldquo sowie die bdquoGrenzen der Individualitaumltldquo ndash charakteristisch fuumlr den bdquorein exoterischen Mystizismusldquo des Westens ndash aufgehoben107 Die bdquoTradition der hesychastischen Esoterikldquo sei die

Shekhovtsov bdquoThe Palingenetic Thrust of Russian Neo-Eurasianism Ideas of Rebirth in Aleksandr Duginrsquos Worldviewldquo in Totalitarian Movements and Political Religions 9 (2008) 491ndash506 Mark Sedgwick bdquoOccult Dissident Culture The Case of Aleksandr Du-ginldquo in Birgit Menzel [ua] (Hgg) The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimen-sions MuumlnchenBerlin 2012 273ndash292 Schmid Technologien der Seele 210ndash220

104 Aleksandr Dugin Filosofija tradicionalizma Moskva 2002 Zum Traditionalismus siehe das Standardwerk von Mark Sedgwick Against the Modern World Traditionalism and the Secret Intellectual History of the Twentieth Century OxfordNew York 2004 zu Dugin 221ndash237 Vgl auch Christopher DL Johnson The Globalization of the Jesus Prayer Con-testing Contemplation London New York 2010 70ndash73

105 Aumlhnliche Gedanken entwickelte Pavel Florenskij bereits 19081909 in seinem Vortrag bdquoObščečelovečeskie korni idealizmaldquo in dem er die bdquoEsoterikldquo der Philosophie Platons und seiner Nachfolger in der bdquoallgemeinmenschlichenldquo mystisch-magischen Weltauffas-sung der bdquoVolksseeleldquo wurzeln laumlsst

106 Das Folgende nach Aleksandr Dugin bdquoOboženie preestestvennejšeeldquo in Milyj angel 1 1991 56ndash59

107 Das Konzept der bdquoInitiationldquo und die Unterscheidung von bdquoesoterischldquo und bdquoexoterischldquo sind zentral fuumlr die Anhaumlnger des Traditionalismus siehe Sedgwick Against the Modern World 265 ndash Als Mitglied des okkultistischen und faschistischen Južinskij-Kreises machte Dugin in Moskaus bdquomystischem Untergrundldquo in den 1980er Jahren selbst Entgrenzugser-fahrungen mit Hilfe sexualmagischer Praktiken und bewusstseinserweiternder Drogen Bei einem Teil der orthodoxen Glaumlubigen stoumlszligt seine Esoterik denn auch auf Misstrauen und

30 Michael Hagemeister

bdquoSeele der russischen Orthodoxieldquo und habe in Serafim von Sarov ihren bdquoletzten leuchtendsten Vertreterldquo gefunden

Der Hesychasmus gehoumlre zum traditionellen Erbe von Byzanz das Russ-land angetreten habe als es zum Dritten Rom und zum Zentrum der orthodoxen Welt geworden sei bdquoWir sindldquo so Dugin bdquobyzantinisch in unserer Seele unseren Wurzeln und in unserer Identitaumltldquo108

Unser stabilstes Fundament ist Byzanz [hellip] Russland ist Byzanz [hellip] Unsere For-mel lautet Der Westen ist das Boumlse Byzanz das Gute Alles Schlechte das uumlber Byzanz geschrieben wurde ist eine Luumlge Das sind lediglich Winkelzuumlge im ideolo-gischen Kampf von Seiten des Westens [hellip] Jeder Russe muss wissen Byzanz ist das reine Gute Jeder der etwas anderes behauptet ist ein Feind [hellip] Wer Byzanz kritisiert ist ein Feind des russischen Volkes Das muss unser ehernes Prinzip sein [hellip] Byzanz ist der absolute Orientierungspunkt des russischen Projekts109

Damit sind Russlands Ort und Mission in der bdquohistoriosophischenldquo Deutung des Weltgeschehens bestimmt Nach Dugin wird die Geschichte der Menschheit be-herrscht vom bdquookkulten planetarischen Ringenldquo zweier antagonistischer Maumlchte dem bdquogroszligen Krieg der Kontinenteldquo Land gegen Meer Behemoth gegen Levia-than die organischen bodenstaumlndigen und traditionalistischen bdquoTellurokratienldquo des eurasischen Ostens gegen die wurzel- und seelenlosen materialistischen bdquoTha-lassokratienldquo des angloamerikanischen Westens das apokalyptische Tier aus dem Meer (Offb 13 1-10)110 Die USA als bdquoQuintessenz des Westensldquo und New York als moderne Hure Babylon (Offb 17 und 18) sind das Reich des Antichrist eine chimaumlrisch-antiorganische transplantierte Zivilisation die keine sakrale Tradi-tion besitze ihre Selbsterhebung zu bdquoGottes neuem Israelldquo und bdquoNeuem Zionldquo ndash gemaumlszlig der anglo-amerikanischen Interpretation der Substitutionslehre ndash deutet Dugin als besonders perfiden Taumluschungsversuch des bdquowestlichen Antichristldquo Das Jahr der Entdeckung Amerikas (1492 ist nach der altrussisch-byzantinischen

offene Ablehnung Fuumlr den Sektenexperten des Moskauer Patriarchats ist Dugin ein bdquoge-faumlhrlicher Feindldquo der die bdquoOrthodoxie in Kabbalistik umzuschmelzenldquo versuche Andrej Kuraev Cerkovrsquo v mire ljudej Moskva 2006 142

108 Aleksandr Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Tradition Duginrsquos Guidelineldquo lthttpswwwyoutubecomwatchv=m0RIa61eZDggt

109 Aleksandr Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo in ders Russkaja Veščrsquo Očerki nacionalrsquonoj filosofii Bd 1 Moskva 2001 69ndash76 hier 70ndash72 (Hervorhebungen im Original) Der Be-griff bdquoByzantismusldquo (vizantizm) ndash im Unterschied zum negativ konnotierten bdquoByzantinis-musldquo ndash als Bezeichnung eines dem europaumlischen entgegengesetzten Kulturtypus der auf den Prinzipien von Orthodoxie und Selbstherrschaft beruht geht auf den konservativen Philosophen Konstantin Leontrsquoev (1831ndash1891) und sein Buch Vizantizm i slavjanstvo (1875) zuruumlck

110 Auch fuumlr den von Dugin verehrten Heidegger waren die Seemaumlchte Groszligbritannien und Amerika nicht Teil der abendlaumlndischen Tradition sondern im Gegensatz zum restlichen Europa wurzellos und sinnleer Der Antagonismus von Land und Meer die kategorische Unterscheidung von Freund und Feind sowie das Konzept des Katechon gehen auf Carl Schmitt zuruumlck als dessen Schuumller Dugin sich bezeichnet Siehe auch Fn 41

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 31

Weltaumlra das Jahr 7000 nach dem chiliadischen Weltwochenschema also der sieb-te Tag der Schoumlpfung) verweise ebenso auf den Endzeitcharakter der bdquoNeuen Weltldquo wie die bdquosakrale Geographieldquo nach der das Paradies im Osten die Houmllle aber das bdquoLand des Todesldquo im Westen zu suchen seien111

Dem Antichrist entgegen stehe seit jeher der Katechon dessen bdquoletzter Hortldquo bis ans Ende der Zeit die Heilige Rusrsquo das Dritte Rom sei112 In der petrini-schen Epoche als die Hauptstadt in die bdquonoumlrdlichen Suumlmpfeldquo in die bdquoGespenster-stadtldquo Petersburg verlegt und das Patriarchat abgeschafft wurde haumltten allein die Altglaumlubigen den Geist von Byzanz den Katechon bewahrt zweihundert Jahre lang sei der Weg frei gewesen fuumlr das zerstoumlrerische Wirken des Antichrist Erst die sowjetische Periode habe eine bdquomystische Ruumlckkehr zum Byzantismusldquo be-deutet indem die Bolschewiki das heilige Moskau wieder zur Hauptstadt erklaumlr-ten das Patriarchat wiederherstellten die Ausbeuter als Klasse vernichteten und dem Westen auf allen Gebieten Widerstand boten Im bdquoroten Byzantismusldquo der Dritten Internationale sei der Katechon zuruumlckgekehrt113

Um seine Mission zur Erloumlsung der Menschheit auch kuumlnftig zu erfuumlllen muumlsse das Dritte Rom nach dem Zerfall der Sowjetunion114 nunmehr ein groszligkon-tinentales sakral fundiertes bdquoEurasisches Imperiumldquo errichten gegen den Erz-feind die materialistische universalistische alles nivellierende Zivilisation des Westens als der Verkoumlrperung des bdquoweltweiten Boumlsenldquo (mirovoe zlo) gegen Libe-ralismus Individualismus Globalismus Egalitarismus sowie die bdquomondialisti-scheldquo Konzeption der Menschenrechte115 Verbuumlndete im bevorstehenden apoka-lyptischen bdquoEndkampfldquo (von Dugin stets deutsch geschrieben) werden all jene sein die den Bezug zum bdquoSakralenldquo noch nicht verloren haben russische Altglaumlu-bige ultraorthodoxe antizionistische Juden europaumlische Traditionalisten sowie jene bdquoanti-atlantischenldquo islamistischen Fundamentalisten die in den USA den Dajjacircl den falschen Messias und Antichrist erkennen gegen den die Retter-gestalt des Mahdicirc zu Felde ziehen wird116 111 Aleksandr Dugin Absoljutnaja Rodina Puti Absoljuta Metafizika Blagoj Vesti Misterii

Evrazii Moskva 1999 645ndash670 112 Ebd 378ndash395 493ndash521 113 Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo 74ndash76 Siehe auch ders bdquoKatechon i revoljucijaldquo in ders

Tampliery proletariata Nacional-bolrsquoševizm i iniciacija Moskva 1997 52ndash59 ndash Die mes-sianische Identifizierung des Dritten Rom mit der Dritten Internationale reicht bis ins Gruumlndungsjahr der Komintern (1919) zuruumlck Beide so der slawophile Philosoph und An-haumlnger des imjaslavie Valerian Muravrsquoev (1885ndash1930) in einem Brief vom 6 Januar 1920 an Lev Trockij seien Ausdruck der Suche des russischen Volkes und der Intelligencija nach einem Reich der Wahrheit und Gerechtigkeit Valerian Muravrsquoev Sočinenija Bd 2 Moskva 2011 352f Weitere Belege bei Emanuel Sarkisyanz Russland und der Messianis-mus des Orients Tuumlbingen 1955 196 Mikhail Agursky Third Rome National Bolshevism in the USSR Boulder Co 1987

114 Damals sah ein Journalist bdquoauf den Ruinen des Imperiumsldquo das Dritte Rom in Gefahr zu einem Land der Dritten Welt zu werden Andrej Fadin bdquoTretij Rim v tretrsquoem mire Razmy-šlenija na ruinach imperiildquo in Nezavisimaja gazeta 1291991

115 [Aleksandr Dugin] bdquoLibo-my libo-ničtoldquo in Ėlementy 8 19961997 1ndash4 hier 2 116 [Aleksandr Dugin] bdquoIdeologija Mirovogo Pravitelrsquostvaldquo in Ėlementy 2 1992 1f

32 Michael Hagemeister

Das Dritte Rom als Zentrum des eurasischen bdquoEuro-Sowjetischen Imperiumsldquo Titelbild der von Aleksandr Dugin herausgegebenen Zeitschrift bdquoElemente Eurasische Rundschauldquo (1992) Dugins Werk mit seiner provokanten Mischung esoterischer antimoderner und antiwestlicher Motive findet besonders unter jungen Intellektuellen Anklang und Nachahmer so etwa bei dem promovierten Philosophen und selbstproklamierten bdquoorthodoxen Metaphysikerldquo Arkadij Maler einem vehementen Propagandisten einer bdquopolitischen Orthodoxieldquo (političeskoe Pravoslavie) und fuumlhrenden Ideolo-gen der bdquoneobyzantinischenldquo Doktrin Obwohl sich Maler von Dugin distan-ziert117 beschwoumlrt auch er die eschatologische bdquogeistige Mission des Dritten Romldquo die es von Byzanz geerbt habe und die in seiner bdquozentralen katechontischen Rolleldquo bestehe dem Kampf gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo des bdquogottlosen Wes-tensldquo118 Russische Politik koumlnne deshalb nicht anders als imperial sein und muumlsse ihren Einfluss auf den gesamten Planeten ausdehnen Wie Dugin sieht auch Maler die Bolschewiki in dieser Tradition als sie Moskau zur Hauptstadt des bdquoRoten

117 In den spaumlten 1990er Jahren gehoumlrte Maler der vaumlterlicherseits juumldischer Abstammung ist

zusammen mit Dugin und Ėduard Limonov zur Fuumlhrungsriege der Nationalbolschewisti-schen Partei und schrieb fuumlr die Parteizeitung Limonka sich selbst charakterisierte er als bdquorotbraunen Zionistenldquo Nach seiner Konversion zur Orthodoxie trennte er sich 1999 von Dugin und kritisierte dessen esoterischen Traditionalismus aus einer ultraorthodoxen Posi-tion Dugin wiederum warf Maler vor ihn zu plagiieren

118 Arkadij Maler Duchovnaja missija Tretrsquoego Rima Moskva 2005 bes 134ndash136 170ndash206 Siehe auch ders bdquoIdeologija Vizantizmaldquo in Severnij Katechon 1 (2005) 7ndash49 bdquoNeovi-zantizm kak novyj bolrsquošoj stilrsquoldquo in Aleksej Nilogov (Hg) Kto segodnja delaet filosofiju v Rossii Moskva 2007 110ndash124

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 33

Imperiumsldquo machten und dieses zur bdquoabsoluten Antithese des Westensldquo erklaumlrten zum bdquoTraumlger der planetarischen Mission der Befreiung der Welt aus den sbquoFesseln des Kapitalslsquoldquo119 Das Dritte Rom sei zeitweise in die Dritte Internationale trans-formiert worden ohne jedoch seine Mission als Katechon als aufhaltende Macht gegen das Reich des Boumlsen und Ausgangspunkt zur Errettung der Welt aufzuge-ben Die bdquoletzte Etappeldquo im Kampf gegen den Antichrist werde so Maler der bdquoeschatologische Krieg des Dritten Rom gegen das Dritte Karthagoldquo den bdquoAnti-katechonldquo sein die bdquoanglo-amerikanische [] atlantische Zivilisationldquo120 Zur Propagierung der katechontischen Mission Russlands gruumlndete Maler 1999 am Institut fuumlr Philosophie der Akademie der Wissenschaften in Moskau einen bdquoBy-zantistischen Klub Katechonldquo (Vizantistskij Klub Katechon) und 2005 das bdquoPhi-losophisch-politische Zentrum sbquoNoumlrdlicher Katechonlsquoldquo das einen gleichnamigen Almanach (Severnyj Katechon) herausgibt121

Apokalyptischer Ausblick

Die Formel vom Dritten Rom und die Figur des Katechon des Aufhalters des bdquoweltweiten Boumlsenldquo sind zu Markenzeichen russischer Anti-Westler und Ver-schwoumlrungstheoretiker und ihres schrillen Szenariums eines globalen apokalyp-tischen bdquoEndkampfesldquo gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo geworden122 Unter dem Titel bdquoDie russische Doktrin Die Staatsideologie der Epoche Putinsldquo verfasste in den Jahren 2005 und 2006 ein Kollektiv nationalpatriotischer Autoren ndash unter ih-nen der bdquoByzantistldquo Arkadij Maler ndash ein uumlber 1000 Seiten langes ultrakonservati-ves und antiwestliches Manifest das auch die Unterstuumltzung hoher kirchlicher Wuumlrdentraumlger fand123 In ihrem Entwurf einer bdquoorganischen weltanschaulichen Plattformldquo fuumlr das kuumlnftige Russland behandeln die Autoren ausfuumlhrlich die bdquohis-toriosophischeldquo Konzeption vom Dritten Rom und seine Mission als Katechon gegen das bdquoHeidentumldquo des Westens124 Gefordert wird die positive Identifikation

119 Maler Duchovnaja missija 182f 185 120 Ebd 177 ndash Als Mittel im ideologischen Kampf gegen den saumlkularen Westen fordert Maler

in Analogie zur katholischen Gegenreformation eine orthodoxe konservative bdquoGegenauf-klaumlrungldquo (Kontrprosveščenie) lthttpwwwkatehonruhtmltoppolitologiaideaotkritije _polit_pravoslavijahtmgt

121 Siehe die Website lthttpwwwkatehonrugt 122 Siehe zB Galina A Morozova Tretij Rim protiv novogo mirovogo porjadka Moskva

2009 Die Formel von Dritten Rom hat laumlngst auch Schriftsteller und Maler inspiriert und scheint auch werbewirksam zu sein bdquoDrittes Romldquo nennt sich ein Verlag ein Videospiel eine Bank ein Reisebuumlro und sogar ein Kasino in Jalta Ein Schoumlnheitswettbewerb in Mos-kau vergibt alljaumlhrlich den Titel einer bdquoMiss Drittes Romldquo Judith E Kalb Russiarsquos Rome Imperial Visions Messianic Dreams 1890ndash1940 Madison Wisconsin 2008 198f Zum Katechon siehe Maria Engstroumlm bdquoContemporary Russian Messianism and New Russian Foreign Policyldquo in Contemporary Security Policy 35 (2014) 3 356ndash379

123 Russkaja doktrina Gosudarstvennaja ideologija ėpochi Putina Moskva 2016 124 Ebd 68ndash72 116ndash120 und passim

34 Michael Hagemeister

mit der Geschichte Russlands und seinen Lichtgestalten dem Heiligen Serafim von Sarov dem bdquoeschatologischen Fuumlhrer des russischen Volkes am Ende der Zeitenldquo der bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo und Stalin der dem paulinischen Kate-chon gleich die bdquoGesetzlosigkeitldquo (bezzakonie) bekaumlmpft und das bdquoFundament fuumlr eine groszlige Zukunftldquo gelegt habe125

bdquoKatechonldquo nennt sich auch ein prominent besetzter Think tank den der Oligarch und Berater Putins Konstantin Malofeev im Jahr 2015 gegruumlndet hat126 Der Milliardaumlr der sein Vermoumlgen mit einer Investmentfirma auf den Cayman Inseln gemacht hat bezeichnet sich selbst als bdquoorthodoxen Monarchistenldquo127 Er unterstuumltzt die Separatisten in der Ostukraine und unterhaumllt vielfaumlltige Verbindun-gen zu europaumlischen Rechtspopulisten wie dem Front National der FPOuml Syriza und der Lega Nord Neben dem Forum bdquoKatechonldquo betreibt Malofeev auch einen Fernsehsender mit dem programmatischen Namen bdquoZargradldquo128 (Motto bdquoDas Licht Christi erleuchtet alleldquo) dessen Chefkommentator niemand anderes ist als Aleksandr Dugin129

bdquoKatechonldquo und bdquoZargradldquo propagieren den Kampf gegen die westliche Moderne mit Bezug auf das byzantinische Erbe Russlands Im November 2014 fand in der Moskauer Manege eine Konferenz bdquoMoskau ndash das Dritte Romldquo statt130 An ihr nahmen auszliger Dugin und Malofeev auch Archimandrit Tichon und Nata-lrsquoja Naročnickaja teil eine hochrangige Diplomatin Mitglied des Izborsker Klubs und Leiterin des Pariser bdquoInstituts fuumlr Demokratie und Kooperationldquo das die oumlf-fentliche Meinung im Westen im Sinne des Kremls beeinflussen soll Tichons Film bdquoDie Lehre von Byzanzldquo sei so Naročnickaja auch eine Warnung an den Westen der seine christlichen Werte verraten habe weshalb er den glaubens-festen Migranten und ihrer Verachtung hilflos ausgeliefert sei131

Im Oktober 2009 wurde Tichons Film in Athen vor ausverkauftem Saal aufgefuumlhrt Unter denen die dem Drehbuchautor Beifall spendeten war der Philo-soph und Theologe Christos Yannaras einer der Hauptvertreter der Neoorthodo-xie und scharfer Kritiker des Westens Wie ihre russischen Gesinnungsgenossen

125 Ebd 130f 153 142ndash145 126 Mit einem Auftritt im Internet in 9 Sprachen Siehe die deutsche Version unter lthttp

katehoncomdewer-sind-wirgt 127 lthttpsdewikipediaorgwikiKonstantin_Walerjewitsch_Malofejewgt 128 Carrsquograd ist der altrussische Name fuumlr Konstantinopel 129 Auch Dugin unterhaumllt seit mehr als 25 Jahren Kontakte zu ultrakonservativen traditiona-

listischen und faschistischen Gesinnungsgenossen in Westeuropa Siehe Vladimir Ivanov Alexander Dugin und die rechtsextremen Netzwerke Fakten und Hypothesen zu den inter-nationalen Verflechtungen der russischen Neuen Rechten Stuttgart 2007

130 lthttpwwwpravoslavieru75070htmlgt 131 lthttpwwwpravoslavieru7414htmlgt ndash Fuumlr Metropolit Ilarion (Alfeev) der sich dabei

auf Dugin beruft verwandeln sich die Laumlnder Westeuropas bereits in die bdquoSphaumlre des Anti-christldquo lthttpwwwpatriarchiarudbtext3065216htmlgt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 35

verherrlichen auch die griechischen Neoorthodoxen die byzantinische Vergan-genheit und sehen in der modernen saumlkularen Gesellschaft eine Bedrohung ihrer kulturellen Identitaumlt132 Gemeinsam suchen sie der Globalisierung mit einer bdquoby-zantinischen Internationaleldquo als bdquoorthodoxer Oumlkumeneldquo entgegenzuwirken einer letztlich sakral verstandenen Gemeinschaft deren Einfluss indes weit uumlber die kirchliche Sphaumlre hinausreichen und eine transnationale Vereinigung der ortho-doxen Welt von Serbien uumlber Syrien bis Georgien und Armenien unter Fuumlhrung Moskaus schaffen soll133 Als wichtiger symbolischer Schritt auf diesem Weg wurde der Besuch von Praumlsident Putin und Patriarch Kirill des Heiligen Berges Athos einer traditionellen Hochburg antiwestlicher Opposition im Mai 2016 ge-feiert Das weltliche und das geistliche Oberhaupt Russlands ndash die bdquoSymphonia der Maumlchteldquo ndash zeigten damit so Aleksandr Dugin ihr Bekenntnis zu Byzanz und seiner Rolle als Katechon Damit anerkenne bdquounsere Rusrsquo ihre historische Bestim-mung Wir sind bereit fuumlr die Endzeitldquo134

132 Ausfuumlhrlich dazu Daniel P Payne The Revival of Political Hesychasm in Contemporary

Orthodox Thought The Political Hesychasm of John Romanides and Christos Yannaras Lanham [ua] 2011 Siehe auch Vasilios N Makrides bdquoByzantium in Contemporary Greece The Neo-Orthodox Current of Ideasldquo in David RicksPaul Magdalino (Hgg) Byzantium and the Modern Greek Identity Aldershot 1998 141ndash153 Zum griechischen Neobyzantismus unter russischem Einfluss Aleksey Kamenskikh bdquoThe Image of the Second Rome through the Prism of the Thirdrdquo in Teresa Obolevich [ua] (Hgg) Russian Thought in Europe Reception Polemics Development Krakoacutew 2013 13ndash22 ndash Antimo-derne und antiwestliche Stroumlmungen in den vom orthodoxen Christentum gepraumlgten Kultu-ren haben der Religionswissenschaftler Makrides und der Slavist Uffelmann vor einigen Jahren als Desiderat der Forschung benannt Vasilios N MakridesDirk Uffelmann bdquoStudying Eastern Orthodox Anti-Westernism The Need for a Comparative Research Agendaldquo in Jonathan SuttonWil van den Bercken (Hgg) Orthodox Christianity and Contemporary Europe Leuven [ua] 2003 87ndash120 Seitdem haben Makrides und die Politikwissenschaftlerin Stoumlckl eine Reihe einschlaumlgiger Arbeiten vorgelegt in denen or-thodoxe Alternativen zu westlichen philosophischen und politischen Konzepten untersucht werden Vasilios N Makrides bdquoOrthodoxes Cristentum und Moderne ndash Inkompatibilitaumlt oder langfristige Anpassungldquo in Una Sancta 2011 1 15ndash30 ders bdquoOumlstliches orthodo-xes Christentum und Saumlkularitaumlt Ein Vergleich mit dem lateinischen Christentumldquo in Transit 47 (2015) 59ndash75 Kristina Stoumlckl bdquoModernity and its Critique in Twentieth Cen-tury Russian Orthodox Thoughtldquo in Studies in East European Thought 58 (2006) 243ndash269 dies Community after Totalitarianism The Russian Orthodox Intellectual Tradition and the Philosophical Discourse of Political Modernity Frankfurt aM [ua] 2008

133 Dazu gehoumlrt auch die Verwirklichung des jahrhundertealten Traums der Wiedererrichtung des Kreuzes auf der Hagia Sophia Siehe Egor Cholmogorov Russkij proekt restavracija buduščego Moskva 2005 283 Der Verfasser Mitglied des Expertenteams des Izborsker Klubs ist Begruumlnder der Doktrin der bdquoAtomaren Orthodoxieldquo siehe Fn 74

134 Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Traditionldquo

ZUM AUTOR

Michael Hagemeister geb 1951 in EllwangenJagst Studium der Slavistik Ge-schichte Germanistik und Philosophie in Basel und MarburgLahn Promotion mit einer Arbeit uumlber den russischen Philosophen Nikolaj Fedorov Wissenschaft-licher Mitarbeiter am Slawischen Seminar in Marburg Gastprofessor am Seminar fuumlr Komparatistik der Universitaumlt Innsbruck Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lotman-Institut fuumlr russische und sowjetische Kultur der Ruhr-Universitaumlt Bo-chum am Lehrstuhl fuumlr Geschichte Osteuropas der Europa-Universitaumlt Viadrina Frankfurt (Oder) an den Historischen Seminaren der Universitaumlten Basel Duumlssel-dorf und Bochum Vertretung der Professuren fuumlr Geschichte Osteuropas an der Ludwig-Maximilians Universitaumlt Muumlnchen und an der Europa-Universitaumlt Frank-furt (Oder)

Forschungen zur russischen Philosophie und Geistesgeschichte zum utopischen und apokalyptischen Denken in Russland zum russischen Rechtsextremismus und Antisemitismus sowie insbesondere zu den Protokollen der Weisen von Zion und ihrem Herausgeber Sergej Nilus Publikationen ua Die Neue Menschheit Biopolitische Utopien in Russland (hg mit Boris Groys) Frankfurt aM 2005 The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimensions (hg mit Birgit Menzel und Bernice Rosenthal) Muumlnchen 2012 Die Fiktion von der juumldischen Weltver-schwoumlrung Zu Text und Kontext der bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo (hg mit Eva Horn) Goumlttingen 2012 Die bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo vor Gericht Der Berner Prozess und die bdquoantisemitische Internationaleldquo in der Zwischen-kriegszeit Chronik Dokumente und Kommentare Zuumlrich (im Druck)

ERFURTER VORTRAumlGE ZUR KULTURGESCHICHTE DES ORTHODOXEN CHRISTENTUMS Reihenherausgeber Vasilios N Makrides

Heft 1 Thomas Bremer Konfrontation statt Oumlkumene Zur kirchlichen Situation in der Ukraine Erfurt 2001

Heft 2 Gerhard Podskalsky Zur Hermeneutik des theologischen Ost-West-

Gespraumlchs in historischer Perspektive Erfurt 2002 Heft 3 Karl Christian Felmy Warum und zu welchem Behufe treiben wir

Ostkirchenkunde Erfurt 2003 Heft 4 Wassilios Klein bdquoTatarenjoch ndash татарское игоldquo Beobachtungen zur

Wahrnehmung des Islam im eurasischen Raum Erfurt 2005 Heft 5 Stamatios D Gerogiorgakis Zeitphilosophie im Mittelalter Byzantinische

und lateinische Vorstellungen Erfurt 2006 Heft 6 Heinz Ohme Das Oumlkumenische Patriarchat von Konstantinopel und die

tuumlrkische Religionspolitik Erfurt 2007 Heft 7 Alexander Agadjanian Russian Orthodox Vision of Human Rights Recent

Documents and Their Significance Erfurt 2008 Heft 8 Christos Yannaras Wem gehoumlrt die griechische Antike Erfurt 2009 Heft 9 Joachim Willems Religions- und Ethikunterricht in Russland ndash Was

wollen Staat und Kirche Zur Einfuumlhrung des neuen Schulfaches bdquoGrundlagen der religioumlsen Kulturen und der weltlichen Ethikldquo Erfurt 2010

Heft 10 Chris Hann Eastern Christianity and Western Social Theory Erfurt 2011 Heft 11 Jennifer Wasmuth Akademische Theologie im zaristischen Russland in

ihrer Bedeutung fuumlr die neuere orthodoxe Theologie Erfurt 2012 Heft 12 Anna Briskina-Muumlller Auf der Suche nach der bdquoHesychialdquo Paisij

Veličkovskij (1722ndash1794) und sein Leben fuumlr die bdquoPhilokalieldquo Erfurt 2014

Heft 13 Vladimir Cvetković From ldquoMerciful Angelrdquo to ldquoFortress Europerdquo The

Perception of Europe and the West in Contemporary Serbian Orthodoxy Erfurt 2015

Heft 14 Stefan G Reichelt Lebenslinien Nikolaj A Berdjaev (1874ndash1948) und Sergij N Bulgakov (1871ndash1944) im Westen ndash Eine Wuumlrdigung Erfurt 2015

Heft 15 Michael Hagemeister Der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo ndash bdquoNeobyzantismusldquo

und bdquopolitischer Hesychasmusldquo im postsowjetischen Russland Erfurt 2016

Alle Hefte der vorliegenden Schriftenreihe koumlnnen unter folgendem Link kostenlos heruntergeladen werden URL httpswwwuni-erfurtdereligionswissenschaftprofessur-orthodoxes-christentumveroeffentlichungenerfurter-vortraege-zur-kulturgeschichte-des-orthodoxen-christentums

Page 7: Michael Hagemeister FINAL - uni-erfurt.de · doziert Tichon, während er das antike Kons tantinopel computeranimiert auferste- hen lässt. Das prosperierende Impe rium erregte freilich

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 7

Russlands rechtglaumlubigen Christen10 Auch forderte er die Behandlung der bibli-schen Schoumlpfungslehre im Unterricht um das bdquoMonopol des Darwinismusldquo zu brechen11

Der Film bdquoUntergang eines Imperiumsldquo schildert die Geschichte des Ostroumlmischen Reiches von einer vage datierten Bluumltezeit bis zur Eroberung Kon-stantinopels durch die Osmanen im Jahr 1453 Der Drehbuchautor selbst tritt als Kommentator auf der durch die Szenen fuumlhrt und das Gezeigte deutet Dem Film zufolge bluumlhte Byzanz als geistiges kulturelles und politisches Zentrum der Welt waumlhrend sich der Westen sein bdquoHinterhofldquo bdquoim Zustand tiefster Barbareildquo12 be-fand und seine Bewohner bdquogrobe und ungehobelte Skandinavier Germanen Franken und Angelsachsenldquo13 als primitive Raumluberbanden umherzogen Kaiser Justinian schuf hier den ersten Rechtsstaat hier wurde die erste Universitaumlt ge-gruumlndet und hier entstand das bdquostabilste Finanzsystem in der Geschichte der Menschheitldquo14 Byzantinische Ingenieurkunst und Architektur waren beispiellos doziert Tichon waumlhrend er das antike Konstantinopel computeranimiert auferste-hen laumlsst

Das prosperierende Imperium erregte freilich den Neid und die Habgier des Westens 1204 zogen die Kreuzritter bdquotreubruumlchigldquo gegen Konstantinopel erober-ten und pluumlnderten die Stadt und eroumlffneten dem Westen Zugang zu deren bdquounermesslichen Reichtuumlmernldquo Die geraubten und nach Italien verschleppten Kunstwerke und Goldschaumltze ermoumlglichten dann das Kulturwunder der Renais-sance erschufen aber auch das bdquoMonster des wucherischen Bankensystems der heutigen Weltldquo und damit den modernen Kapitalismus bdquomit seiner unbaumlndigen Profitgierldquo die so Tichon bdquoim Grunde genommen nur den Furor bei den Kriegs-zuumlgen genetisch fortsetztldquo15 bdquoWie Pilze nach dem Regen schossen damals die ersten europaumlischen Banken emporldquo und die kleine Stadt Venedig wurde bdquodas New York des 13 Jahrhundertsldquo16 bdquoDurch Spekulation mit den heiligen Reliqui-en aus Konstantinopelldquo entstanden auch bdquodie ersten groszligen juumldischen Kapital-vermoumlgenldquo17 ndash an dieser Stelle erscheint im Film das beruumlhmte flaumlmische Gemaumll-de bdquoDie Steuereintreiberldquo deren Fratzen die Goldgier der juumldischen Bankiers und

10 Ieromonach Tichon (Ševkunov) bdquoNevidimaja branrsquoldquo in Literaturnaja Rossija 20 (21

Mai 1993) 6f Auch lthttpwwwlibrarypravpiterrubook_327htmgt Tichon wusste wovon er sprach hatte er doch als Student selbst an spiritistischen Seacuteancen teilgenommen Archimandrit Tichon (Ševkunov) bdquoNesvjatye svjatyeldquo i drugie rasskazy Moskva 122015 12ndash17

11 Michael Zimmerman bdquoRussian Creationism Sounds Frighteningly Familiarldquo in The Huffington Post 14 Juni 2010 lthttpwwwhuffingtonpostcommichael-zimmerman russian-creationism-sound_b_610266htmlgt

12 Tichon (Ševkunov) Gibelrsquo imperii 10 13 Ebd 14 Ebd 8 15 Ebd 11f 16 Ebd 12 17 Ebd Vgl auch 79

8 Michael Hagemeister

Wucherer illustrieren sollen bdquoDer barbarische Westen wurde erst dann zum zivi-lisierten Westen als er das byzantinische Imperium erobert gepluumlndert zerstoumlrt und absorbiert hatteldquo18

Waumlhrend der materialistische Westen sich an den Reichtuumlmern Konstanti-nopels guumltlich tat erkannten die Russen worin der groumlszligte Schatz von Byzanz bestand bdquoDas waren weder Gold noch Edelsteine nicht einmal Wissenschaft und Kunst Der groumlszligte Schatz von Byzanz war Gott [hellip] Und auf diesen Schatz gruumlndeten unsere groszligen Vorfahren nicht Banken oder Kapital nicht einmal Mu-seen oder Lombardsaumltze Sie gruumlndeten die Rusʼ Russland die geistige Erbin von Byzanzldquo19

Das multinationale Ostroumlmische Reich das sich zwischen Europa und Asi-en erstreckte bildete so die Lehre des Films eine hierarchisch gegliederte organi-sche Einheit gegruumlndet auf die Orthodoxie und die Loyalitaumlt gegenuumlber dem Kaiser als dem Verteidiger des wahren Glaubens Ein bdquosolch demonstrativer Kon-servatismusldquo aber war dem Westen bdquowo schon damals Individualismus und pri-vate Willkuumlr zum geheiligten Prinzip erhoben wurdenldquo ganz fremd und uner-traumlglich weshalb er bdquomit erbittertem Fanatismusldquo forderte bdquoByzanz solle sein ge-samtes Leben nach westlichem Muster modernisieren ndash in erster Linie die reli-gioumlse und geistige Sphaumlre dann aber auch die intellektuelle und materielle Kultur Was die Einzigartigkeit und Besonderheit von Byzanz angeht so lautete der Ur-teilsspruch des Westens [hellip] muss all dies vernichtet werden falls noumltig gemein-sam mit Byzanz und dessen geistigen Erbenldquo20 In Byzanz selbst entstand eine prowestliche Partei Dieser bdquoinnere Feindldquo wurde von den europaumlischen Regie-rungen zunaumlchst heimlich dann aber immer offener unterstuumltzt und gewann all-maumlhlich die Oberhand uumlber die bdquoimperialen Traditionalistenldquo Weitreichende Re-formen der byzantinischen bdquoWestlerldquo schwaumlchten den Staat untergruben den Glauben und zerstoumlrten schlieszliglich das Imperium Der Hauptgrund fuumlr den Unter-gang von Byzanz sei so Tichon die bdquogeistige Zersetzungldquo seiner Elite gewesen die vom Westen verfuumlhrt die Orthodoxie in der Florentiner Union an den roumlmi-schen Papst verraten habe21

Immer wieder zieht der Film kaum verhuumlllte oder direkte Analogien zum postsowjetischen Russland und dessen Verhaumlltnis zum Westen So haumltten die Ve-nezianer die Eroberung der ostroumlmischen Hauptstadt mit der Verteidigung der bdquoRechte auf den freien internationalen Marktldquo begruumlndet und behauptet einen ge-rechten Kampf gegen ein Regime zu fuumlhren das sich bdquogesamteuropaumlischen Wer-tenldquo verweigere und somit ein bdquoReich des Boumlsenldquo sei22 Als weitere Ursache fuumlr den Niedergang wurden korrupte Beamte eigenmaumlchtige Provinzgouverneure und staatsschaumldigende Oligarchen ausgemacht Ihnen habe sich Kaiser Basileios

18 Ebd 19 Ebd 13f 20 Ebd 44ndash46 21 Ebd 54f 22 Ebd 20f

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 9

II widersetzt indem er bdquomit harter Hand die Vertikale der Macht wieder herstell-teldquo Basileios II bdquozerschlug die separatistische Bewegung in den Randgebieten unterdruumlckte die aufruumlhrerischen Gouverneure und Oligarchen die sich anschick-ten das Imperium aufzuteilen Dann fuumlhrte er eine sbquoSaumluberunglsquo in der Regierung durch und konfiszierte fuumlr die Staatskasse groszlige Summen geraubten Geldesldquo23 Seinem Nachfolger hinterlieszlig er einen riesigen bdquoStabilisierungsfondsldquo24

Es liegt auf der Hand ndash und Tichon deutete es in einem Interview selbst an ndash25 dass mit der bdquoVertikale der Machtldquo die Putinsche Politik der Staumlrkung der Zentralgewalt gemeint ist Die bdquoseparatistische Bewegungldquo laumlsst sich auf Tsche-tschenien und die Ukraine beziehen und jene bdquoOligarchenldquo die nicht nur Reich-tum sondern auch politische Macht erstrebten oder vom feindlichen Ausland aus ihre Wuumlhlarbeit betrieben26 heiszligen heute Berezovskij Abramovič und Chodor-kovskij Und sogar der aktuelle Brain-Drain wird thematisiert wenn es heiszligt bdquoDie reiche Jugend von Byzanz lernte nicht mehr im eigenen Land sondern ging zur Ausbildung ins Ausland Die besten Koumlpfe der einheimischen Wissenschaft emi-grierten in den Westenldquo27

Die bis heute guumlltige bdquoLehre von Byzanzldquo und damit die Botschaft des Films bestehen jedoch in der Erkenntnis des ewigen Hasses den der wesens-fremde Westen gegen die orthodoxe Welt hege Mit den Worten Tichons bdquoDer racheluumlsterne Hass des Westens auf Byzanz und dessen Nachfolger den nicht einmal sie selbst ganz und gar verstehen setzt sich auf einer tieferen genetischen Ebene so paradox es auch klingen mag bis heute fort Falls wir diesen verbluumlffen-den doch unbestreitbaren Tatbestand nicht verstehen laufen wir Gefahr nicht nur in der weit zuruumlckliegenden Vergangenheit sondern auch in der Geschichte des 20 und sogar des 21 Jahrhunderts vieles nicht zu begreifenldquo28

Sowohl die Kritiker als auch die Bewunderer des Films haben denn auch erkannt dass es Tichon nicht um das historische Byzanz sondern um das heutige Russland geht ndash vom hegemonialen Westen bedroht von inneren Schwaumlchen wie Egoismus Zynismus und Korruption Genusssucht und Geburtenruumlckgang ge-zeichnet29 Der Film so Roman Lunkin sei eine bdquohistoriosophische Skizzeldquo und

23 Ebd 25 24 Ebd 27 25 Ebd 121 26 Ebd 31 27 Ebd 50 28 Ebd 64f ndash Dies so Tichon habe auch Stalin erkannt als er 1943 die bis dahin verfemte

Byzantinistik per Dekret wieder eingefuumlhrt habe Der bdquoehemalige Seminarist Džugašvilildquo habe bdquodamals endlich begriffen bei wem man die Geschichte studierenldquo muumlsse Ebd 65

29 Der Film so der renommierte Byzantinist Sergej Ivanov sei bdquoreine Fiktion voller kruder faktischer Fehler und krasser Verzerrungenldquo und bdquoerfuumlllt von giftigem Hass auf den Wes-tenldquo Sergey A Ivanov bdquoThe Second Rome as Seen by the Third Russian Debates on sbquoThe Byzantine Legacylsquoldquo in Przemysław MarciniakDion C Smythe (Hgg) The Reception of Byzantium in European Culture Since 1500 Farnham Burlington 2016 55ndash79 hier 72 [dt bdquoDas Zweite Rom aus der Sicht des Dritten Russische Debatten uumlber das sbquobyzan-tinische Erbelsquoldquo in Transit 46 (20142015) 157ndash173 hier 171] Siehe auch ders bdquoVtoroj

10 Michael Hagemeister

sein Autor eine Art bdquomoderner Moumlnch Filofejldquo der die Idee vom Dritten Rom propagiere30 Lunkin gab damit zwei Stichworte die im Folgenden naumlher betrach-tet werden sollen Historiosophie dh die geschichtsmetaphysische Deutung bzw Instrumentalisierung historischer Ereignisse und die Formel von MoskauRuss-land als dem Dritten Rom

Historiosophie Die heilsgeschichtliche Mission Russlands

Unter den Schlagwoumlrtern bdquoHistoriosophieldquo (istoriosofija) und bdquoMetahistorieldquo (metaistorija) erfreuen sich im postsowjetischen Russland Versuche groszliger Be-liebtheit Ziel und Sinn des weltgeschichtlichen Prozesses und die ihn gestalten-den Kraumlfte spekulativ zu bestimmen und ndash als aufbauende oder zerstoumlrende heil-volle oder unheilvolle Faktoren ndash zu bewerten31 Dabei werden Traditionen der russischen Geschichtsmetaphysik und Geschichtstheologie des 19 und 20 Jahr-hunderts aufgegriffen die die irdische Geschichte als Vollzug eines goumlttlichen Heilsplans deuten der den Glaumlubigen in seinem Anfang und Ende sowie den we-sentlichen Etappen geoffenbart worden sei Das providentielle teacutelos der Geschich-te das Ende und zugleich sinngebende Ziel enthuumlllen apokalyptische Texte So beschreibt die Offenbarung des Johannes die Geschehnisse am Ende der Zeit den Kampf zwischen den Maumlchten des Lichts und der Finsternis die Taumluschung und Verfuumlhrung durch den oder die Repraumlsentanten des Boumlsen die Entscheidungs-schlacht und das Juumlngste Gericht den Untergang der alten durch Konflikte zerrissenen Welt und den Beginn einer neuen vollkommenen und zeitlosen Welt Unverkennbar ist auch der Einfluss der dualistisch-deterministischen Geschichts-konzeption der Sowjetideologie (Geschichte als Einsicht in die bdquoobjektiven Ent-wicklungsgesetze der Gesellschaftldquo) kennt doch auch die Eschatologie und Daumlmonologie des historischen Materialismus den auf ein Endziel (bdquoReich der

Rim glazami Tretrsquoego Ėvoljucija obraza Vizantii v rossijskom obščestvennom soznaniildquo lthttppolitruarticle20090414vizantgt

30 lthttpwwwportal-credorusiteact=freshampid=719gt 31 Vgl Michael Hagemeister bdquoDas Dritte Rom gegen den Dritten Tempel ndash Der Antichrist

im postsowjetischen Russlandldquo in Mariano DelgadoVolker Leppin (Hgg) Der Anti-christ Historische und systematische Zugaumlnge FribourgStuttgart 2011 461ndash485 ndash Der Begriff bdquoHistoriosophieldquo geht auf August Cieszkowski (1814ndash1894) zuruumlck einen der Be-gruumlnder des polnischen Messianismus der in seinen Prolegomena zur Historiosophie (Ber-lin 1838) eine aktive Geschichtsteleologie entwarf Mit dem Begriff bdquoMetahistorieldquo be-zeichnete Sergej Bulgakov (1871ndash1944) bdquoden Gegenstand der Apokalypseldquo naumlmlich bdquodie noumenale Seite jenes universellen Prozesses dessen andere Seite sich uns als Geschichte zeigtldquo Sergej Bulgakov bdquoApokaliptika i socializmldquo in ders Dva grada Bd 2 Moskva 1911 51ndash127 hier 103 Zur Neuentdeckung und Aufwertung des in der Sowjetunion tabuisierten Begriffs bdquoHistoriosophieldquo im postsowjetischen Russland siehe Jutta Scherrer Kulturologie Ruszligland auf der Suche nach einer zivilisatorischen Identitaumlt Goumlttingen 2003 bes 91ndash126

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 11

Freiheitldquo) ausgerichteten Verlauf der Geschichte deren bdquoinnre verborgne Ge-setzeldquo und bdquotreibende Maumlchteldquo (Friedrich Engels) sich nur einem fortschrittlichen Bewusstsein zu erkennen geben

Zu den klassischen Werken bdquohistoriosophischerldquo Geschichtsdeutung die immer wieder aufgelegt werden gehoumlren Vladimir Solovrsquoevs (1853ndash1900) bdquoKur-ze Erzaumlhlung vom Antichristldquo (Kratkaja povestrsquo ob antichriste 1900) eine bdquophi-losophische Dichtungldquo die vielfach nicht als literarische Fiktion sondern als kon-krete Prophetie rezipiert und auf die Gegenwart und nahe Zukunft bezogen wird32 sowie insbesondere die manichaumlischen Geschichtskonzeptionen der religioumlsen Philosophen Pavel Florenskij (1882ndash1937) und Aleksej Losev (1893ndash1988) die gepraumlgt sind von der Vorstellung eines permanenten und allumfassenden in sei-nem Ausgang freilich entschiedenen Kampfes zwischen Logos und Chaos Chris-tus und dem Antichrist und dessen irdischem Agenten dem Judentum

In dieser bdquohistoriosophischenldquo oder bdquometahistorischenldquo Sicht erscheint die Geschichte Russlands als Feld auf dem eine bdquounsichtbare Schlachtldquo (nezrimaja bitva) lichtvoller und finsterer Maumlchte tobt Dabei wird das historische Geschehen in Analogie zur Passion Christi als Leidens- oder Kreuzweg (krestnyj putrsquo) aufge-fasst33 als Kreuzigung (raspjatie) durch die Maumlchte des Antichristentums und als Opfertod (požertvovanie) ein Ereignis das in der Regel mit der Epoche der bdquojuuml-disch-bolschewistischenldquo Sowjetherrschaft identifiziert wird34 Noch befinde sich Russland so die Adepten jener bdquosakralen Metahistorieldquo in einer Phase der Pruuml-fung auf dem Weg zum Ziel der Heilsgeschichte noch liege Russland ohnmaumlchtig im Grab doch werde schon bald seine wunderbare Auferstehung (voskresenie) erfolgen35 In der dann anbrechenden Bluumltephase dem letzten Zeitalter der Welt-geschichte vor dem Juumlngsten Gericht werde das wiedergeborene Russland unter der Herrschaft eines Endzeitkaisers die Menschheit von der Macht des Boumlsen be-freien Russland bringt sich also selbst zum Opfer um am Ende zu triumphieren

32 Siehe Michael Hagemeister bdquoTrilogie der Apokalypse ndash Vladimir Solovrsquoev Serafim von

Sarov und Sergej Nilus uumlber das Kommen des Antichrist und das Ende der Weltgeschich-teldquo in Wolfram BrandesFelicitas Schmieder (Hgg) Antichrist Konstruktionen von Feindbildern Berlin 2010 255ndash275 hier 261

33 Als Stationen an bdquoRusslands Kreuzwegldquo werden zumeist genannt das bdquoTatarenjochldquo als Russland die Feinde der Christenheit auf sich lenkte und durch sein Opfer die Zivilisation des Abendlandes vor dem Untergang rettete (worauf schon Aleksandr Puškin in seinem beruumlhmten Brief vom 19 Oktober 1836 an Petr Čaadaev einen Kritiker des russischen Byzantinismus hinwies) sodann der Einfall der bdquoLateinerldquo zu Beginn des 17 Jahrhun-derts die bdquolaumlsterlichenldquo Reformen des bdquoWestlersldquo Peter I (fuumlr viele der Antichrist) und schlieszliglich die bdquoKatastrophe des Jahres 1917ldquo

34 Siehe Vadim Rossman Russian Intellectual Antisemitism in the Post-Communist Era LincolnLondon 2002 223ndash225

35 Siehe Vardan Bagdasarian bdquoApokalipsis ndash segodnja ėschatologičeskie poiski v sovremen-noj Rossiildquo in Dmitrij Andreev [ua] (Hgg) Ėschatologičeskij sbornik Sankt-Peterburg 2006 435ndash453 hier 436f

12 Michael Hagemeister

Moskau ndash Drittes Rom und Katechon

Die Auffassung von Russlands entscheidender Rolle im Drama der Heilsge-schichte wird begruumlndet mit der Doktrin von Moskau als dem Dritten Rom wie sie aus der beruumlhmten eschatologischen Formel des Pskover Moumlnchs Filofej aus der ersten Haumllfte des 16 Jahrhunderts abgeleitet worden ist bdquoAlle christlichen Zartuumlmer haben sich ihrem Ende zugeneigt und sind gemaumlszlig den prophetischen Buumlchern eingegangen in das eine Zartum unseres Herrschers das heiszligt ins russi-sche Zartum Denn zwei Rome sind gefallen und das dritte steht Ein viertes aber wird es nicht gebenldquo36

Nach der Apostasie der Lateiner (dem Schisma von 1054) und dem bdquoVer-ratldquo Konstantinopels (durch die Florentiner Union 1439) dem als Strafe Gottes der Untergang des Byzantinischen Reichs (1453) folgte wird Russland zum drit-ten und ndash der goumlttlichen Trinitaumlt entsprechend ndash letzten Hort der Rechtglaumlubig-keit37 Dessen Ende wird auch das Ende der Geschichte sein mit dem Auftreten des Antichrist des falschen Messias der Juden der durch Taumluschung und Verfuumlh-rung die Parusie des wahren Messias gleichzeitig verbergen und ankuumlndigen soll Bis dahin aber sind das Heilige Russland und seine Herrscher von Gott erwaumlhlt und berufen den Widersacher Christi abzuwehren und das Ende aufzuhalten Nach der sogenannten Substitutionslehre sind die Erwaumlhlung und der messiani-sche Sendungsauftrag Israels nach dessen bdquoVerratldquo auf die Heilige Rusrsquo und das

36 bdquoMoskau ndash das Dritte Romldquo Das Sendschreiben des Filofej von Pskov in Peter Haupt-

mannGerd Stricker (Hgg) Die Orthodoxe Kirche in Ruszligland Dokumente ihrer Geschich-te 960ndash1980 Goumlttingen 1980 253 Bis zur ersten Publikation von Filofejs Sendschreiben in den 1860er Jahren war dieses Konzept freilich kaum bekannt Zu seinen vielfaumlltigen und bisweilen kontraumlren Deutungen siehe Nina Sinicyna Tretij Rim Istoki i ėvoljucija russkoj srednevekovoj koncepcii (XVndashXVI vv) Moskva 1998 zur Wirkungsgeschichte bis in die postsowjetische Gegenwart siehe Peter J S Duncan Russian Messianism Third Rome Revolution Communism and After LondonNew York 2000 Vgl auch Marshall Poe bdquoMoscow the Third Rome The Origins and Transformations of a sbquoPitoval Momentlsquoldquo in Jahrbuumlcher fuumlr Geschichte Osteuropas 49 (2001) 3 412ndash429 Frank Kaumlmpfer bdquoDie Lehre vom Dritten Rom ndash pitoval moment historiographische Folkloreldquo ebd 430ndash441 Fran-ziska Thun-Hohenstein bdquosbquoMoskau ndash Drittes Romlsquo Nachklaumlnge einer alten Denkfigur in der russischen Kultur des 20 Jahrhundertsldquo in Daniel Weidner (Hg) Figuren des Euro-paumlischen Kulturgeschichtliche Perspektiven Muumlnchen 2006 78ndash97 Sergej Magaril Mi-fologija bdquosbquoTretrsquoego Rimalsquo v rossijskom obrazovannom soobščestveldquo in Ėmilrsquo A Pain (Hg) Ideologija bdquoosobogo putildquo v Rossii i Germanii istoki soderžanie posledstvija Moskva 2010 127ndash156 Anna Briskina-Muumlller bdquoDas neue sbquoneue Romlsquo eine byzantinische Idee auf russischem Bodenldquo in Reinhard FlogausJennifer Wasmuth (Hgg) Orthodoxie im Dialog Historische und aktuelle Perspektiven Berlin [ua] 2015 311ndash336

37 Filofej sprach was oft uumlbersehen wird nicht von Moskau als dem Dritten Rom diese For-mel taucht erst im 17 Jahrhundert auf Auch wird aus dem bdquorhomaumlischen (Romejskoe) Zartumldquo bei Filofej erst spaumlter das bdquorussische (Rosejskoe) Zartumldquo Siehe Sinicyna Tretij Rim 244 324ndash328 ndash Die Vorstellung der Stadt Moskau als dem Dritten Rom treibt inzwi-schen seltsame Bluumlten So glaubt der vielfach ausgezeichnete Kulturologe Rustam Rach-matullin in seinem Bestseller Dve Moskvy ili metafizika stolicy (2008) eine bdquosakrale Identitaumltldquo zwischen Moskau Rom und Jerusalem nachweisen zu koumlnnen

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 13

russische bdquoGottestraumlgervolkldquo (narod-Bogonosec) uumlbergegangen die Orthodoxe Kirche wurde zum bdquoNeuen Israelldquo ihre heiligen Staumltten zum bdquoNeuen Jerusa-lemldquo38 Wenn Paulus davon spricht dass am Ende bdquoganz Israel errettetldquo werde (Roumlm 11 26) so sei damit die Kirche Jesu Christi gemeint zu der die Juden sich bekehren muumlssten39

bdquoMoskau ndash Drittes Romldquo Ikone (2011) Maler unbekannt lthttpwwwruniversrugalgallery-allphpSECTION_ID=7641ampELEMENT_ID=462777gt

Russlands Herrscher fungiert mithin als Katechon als jene hemmende aufhalten-de Macht von der im zweiten Brief des (Pseudo-)Paulus an die Thessalonicher die Rede ist

38 Siehe zB Michail Nazarov Voždju Tretrsquoego Rima K poznaniju russkoj idei v apokalipsi-

českoe vremja Moskva 2005 933f 945 ndash Fuumlr die Anhaumlnger der angloamerikanischen bdquoChristian Identityldquo sind hingegen die bdquoArierldquo bdquoGottes auserwaumlhltes Volkldquo und die Verei-nigten Staaten das bdquoNEW JerUSAlemldquo Martin Durham White Rage The Extreme-Right and American Politics London 2007 67

39 Eine fruumlhe heute wieder viel zitierte wertende Entgegensetzung von Judentum und (russi-schem) Christentum findet sich bereits in der um die Mitte des 11 Jahrhunderts verfassten bdquoRede uumlber das Gesetz und die Gnadeldquo (Slovo o zakone i blagodati) des Metropoliten Ila-rion

14 Michael Hagemeister

Zuerst muss der Abfall von Gott kommen und der Mensch der Gesetzlosigkeit offenbart werden der Sohn des Verderbens der Widersacher der sich erhebt uumlber alles was Gott heiszligt oder Heiligtum so dass er sich sogar in den Tempel Gottes setzt und sich fuumlr Gott ausgibt [] Denn das Geheimnis der Gesetzlosigkeit [τὸ μυστήριον τῆς ἀνομίας]40 ist schon wirksam nur muss erst der beseitigt werden der es bis jetzt noch aufhaumllt [ὁ κατέχων] und dann wird der Gesetzlose offenbart werden [hellip] (2 Thess 23-4 und 7-8)

Die durch bdquofeigen Verratldquo erzwungene Abdankung des Zaren im Maumlrz 1917 und seine Ermordung im Juli 1918 wurden denn auch als Erfuumlllung jener Prophetie verstanden dh als Beseitigung des Katechon damit der Weg frei werde fuumlr die Herrschaft des Antichrist41 Der Regizid wurde in dieser Sicht zu einem bdquoapoka-lyptischen Verbrechenldquo langfristig geplant und auf blutig-rituelle Weise ausge-fuumlhrt von den Agenten des Antichrist den Juden Fuumlr diese so der Historiker Mi-chail Nazarov war der von Gott erwaumlhlte und gesalbte apostelgleiche Herrscher des Dritten Rom der bdquokatechontischen orthodoxen Machtldquo objektiv der groumlszligte metaphysische Feind und seine Beseitigung mithin eine Tat bdquovon houmlchster mys-tisch-religioumlser Bedeutungldquo42

Viele Glaumlubige sind indes uumlberzeugt dass die Stelle des Katechon nicht vakant sei sondern von der Gottesmutter uumlbernommen wurde Als Beweis dafuumlr dient die wundersame Auffindung einer Ikone im Dorf Kolomenskoe bei Moskau an jenem Tag an dem Nikolaus II dem Thron entsagte43 Die Ikone zeigt die

40 Luther uumlbersetzt bdquoGeheimnis der Bosheitldquo in der mittelalterlichen Theologie als der Anti-

christ gedeutet der nach der Offenbarung des Johannes am Ende der Zeiten erscheint 41 Im Russischen wird die Rolle des bdquoSelbstherrschersldquo (samoderžec) als bdquoAufhalter Kate-

chonldquo (uderživajuščij) auch etymologisch deutlich russ deržatrsquo entspricht griech κατέ-χειν ndash Die mysterioumlse Figur des Katechon (im griechischen Text einmal Neutrum einmal Maskulinum) die das Endgericht und den Anbruch des Reiches Gottes verzoumlgert bietet sich ebenso wie der Antichrist und seine Trabanten seit jeher zu immer neuen Identifikatio-nen mit einzelnen Gestalten Gruppen oder politischen Maumlchten an So identifizierte Carl Schmitt (1888ndash1985) der bdquoApokalyptiker der Gegenrevolutionldquo (Jacob Taubes) Liberalis-mus Bolschewismus und Judentum mit dem Antichrist (oder seinen Agenten) und glaubte dendas Katechon unter anderem in der Diktatur Hitlers zu erkennen 1947 notierte er bdquoIch glaube an den Katechon er ist fuumlr mich die einzige Moumlglichkeit als Christ Geschichte zu verstehen und sinnvoll zu findenldquo Carl Schmitt Glossarium Aufzeichnungen aus den Jah-ren 1947 bis 1958 hg von Gerd Giesler und Martin Tielke Berlin 2015 47 Schmitt und seine politische Theologie werden in russischen Intellektuellenkreisen intensiv rezipiert

42 Nazarov Voždju 213ndash223 ders Tajna Rossii Istoriosofija XX veka 1999 695ndash699 ndash Die Ermordung der Zarenfamilie durch die Bolschewiki im Juli 1918 in Ekaterinburg wur-de und wird von russischen Nationalisten als juumldischer antichristlicher Ritualmord darge-stellt Extremistische Kirchenkreise forderten denn auch Nikolaus II und seine Familie als bdquovon Jidden Gemarterteldquo (ot židov umučennye) heiligzusprechen Dem wurde freilich von fuumlhrenden Vertretern des Moskauer Patriarchats widersprochen

43 Im Februar 1917 war der Baumluerin Evdokija Andrianova im Traum der Fundort der Ikone erschienen Nach langem Suchen wurde diese schlieszliglich am 215 Maumlrz im Keller der Himmelfahrtskirche von Kolomenskoe entdeckt Siehe Aleksandr N Kazakevič bdquosbquoV podvale chrama pojavilasrsquo ikona Bogomaterilsquo Dokumenty Centralrsquonogo istoričeskogo

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 15

Himmelskoumlnigin mit den Zeichen ihrer Regentschaft im kaiserlichen Purpur mit Krone Szepter und Reichsapfel Das Bild der bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo (Bogo-materrsquo Deržavnaja) erwies sich sogleich als wundertaumltig und zog zahlreiche Pil-ger an Kopien verbreiteten seine Verehrung im ganzen Land Bis heute gilt es vielen als ein Zeichen dass Russlands Schutz vor dem Ansturm des Antichrist vom Zaren auf die Gottesmutter uumlbergegangen ist und sie die autokratische Macht bis zur Wiederherstellung der Monarchie bewahren wird44 Zum 70 Jahrestag des Sieges lieszlig der Izborsker Klub eine Variante der beruumlhmten Ikone anfertigen Sie zeigt die bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo zusammen mit Stalin und seinen Marschaumll-len Fuumlr Aleksandr Prochanov ist Stalin der Katechon der von Gott gesandte Fuumlhrer des Sowjetvolks das durch den Opfertod seiner Soumlhne im bdquogeheiligtenldquo Groszligen Vaterlaumlndischen Krieg ebenso wie einst Christus die Macht der Houmllle be-siegt und die Menschheit erloumlst habe45

lthttpwwwizborsk-clubruarh2015_04_Blokpdfgt

In bdquohistoriosophischerldquo Sicht bildet die Ermordung des Zaren und seiner Familie das zentrale sinnstiftende Ereignis der Geschichte Russlands im 20 Jahrhundert Alles darauf folgende Ungluumlck und Leiden die Verfolgung der Christen Hunger und Terror der Tod von Millionen Menschen werden aufgefasst als Strafe Gottes fuumlr den Abfall des russischen Volkes vom Glauben und fuumlr den judasgleichen

archiva Moskvy o Deržavnoj ikone Božiej Materildquo in Otečestvennye archivy 1 (2004) lthttpricolororghistorykasvyatyniik_derggt

44 Vgl Grigorij Nikolaev bdquoĖschatologičeskij triptichldquo in Ėschatologičeskij sbornik 358ndash396 hier 376f Bagdasarjan bdquoApokalipsis ndash segodnja 441f

45 Aleksandr Prochanov bdquoMističeskij stalinizmldquo in Izborskij klub Russkie strategii 4 (28) 2015 78ndash81 auch lthttpwwwizborsk-clubruarh2015_04_Blokpdfgt

16 Michael Hagemeister

bdquoVerratldquo an seinem Herrscher Wie Jesus sich dem Willen des goumlttlichen Vaters unterworfen hat und auf Golgatha fuumlr die Suumlnden der Welt gestorben ist so habe der Zar in Ekaterinburg (dem bdquorussischen Golgathaldquo) sein Leben als bdquoSuumlhneopferldquo dargebracht fuumlr die Suumlnden ganz Russlands46 Erst wenn das russische Volk sein Land von den Idolen und Symbolen der Gottlosigkeit reinige den Ideen der De-mokratie und politischen Gleichheit abschwoumlre seine kollektive Schuld bereue und Buszlige tue fuumlr das bdquoschrecklichste und unheilvollste Verbrechen des 20 Jahr-hundertsldquo werde der Zar zuruumlckkehren und Russland seine einstige Groumlszlige wie-dererlangen47

Einer der vehementesten und einflussreichsten Propagandisten der Selbst-charismatisierung Russlands war in den Jahren nach dem Ende der Sowjetunion Metropolit Ioann (Ivan Snyčev 1927ndash1995) von St Petersburg und Ladoga Mit-glied des Heiligen Synods und dritthoumlchster Kirchenhierarch des Landes In einer Vielzahl von Buumlchern Aufsaumltzen und Interviews beschwor Ioann die universale Mission des Dritten Rom als des bdquoletzten Hortes des wahren Glaubensldquo im Kampf gegen den Antichrist und seine Verbuumlndeten das bdquoVolk der Gesetzlosigkeitldquo48 Zu den apokalyptischen Feinden Christi zaumlhlte er die bdquoglobalen Maumlchte hinter den Kulissenldquo (mirovaja zakulisa) das internationale Freimaurertum die bdquotransnatio-nale Finanzoligarchieldquo die Anhaumlnger des Zionismus und Marxismus sowie Israel die USA und deren westeuropaumlische Satelliten49 Wiedergeboren im Geist der Or-thodoxie sei das Dritte Rom der irdische Sockel auf dem der Thron Gottes ruhen werde ndash ihm entgegen stehe der Dritte Tempel der Thron des Antichrist50

Hesychasmus als Kulturscheide ndash Kritik der Renaissance

Als entscheidende Waffe in dieser heilsgeschichtlichen Auseinandersetzung wird in juumlngster Zeit von antiwestlichen Intellektuellen und Kirchenkreisen der soge-nannte Hesychasmus in Stellung gebracht Urspruumlnglich handelt es sich dabei um

46 Das Schicksal des letzten Zaren wurde in der antibolschewistisch-antisemitischen Polemik

schon fruumlh mit der Passion Christi verglichen oder gleichgesetzt Eindrucksvolle Beispiele aus juumlngerer Zeit bieten die patriotischen Lieder der prominenten Saumlngerin Žanna Bičev-skaja oder die Filme Iskupitelrsquonaja žertva (1992) und Russkaja Golgofa (2000) Siehe auch Papkova The Orthodox Church 63f 222

47 Marija Achmetova Konec sveta v odnoj otdelrsquono vzjatoj strane Religioznye soobščestva postsovetskoj Rossii i ich ėschatologičeskij mif Moskva 2010 245ndash260

48 Vgl Rossman Russian Intellectual Antisemitism 221ndash225 Hagemeister bdquoDas Dritte Romldquo 476

49 Metropolit Ioann (Snyčev) bdquoToržestvo pravoslavijaldquo in ders Bitva za Rossiju Sankt-Peterburg 1993 28ndash35 In seinem Bestreben Russland als Opfer jahrhundertealter Ver-schwoumlrungen finsterer antichristlicher Maumlchte darzustellen griff Ioann immer wieder auch auf die Protokolle der Weisen von Zion zuruumlck

50 Metropolit Ioann (Snyčev) Samoderžavie ducha Očerki russkogo samosoznanija Sankt-Peterburg 1994 7

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 17

eine individuelle psychosomatische Gebets- und Meditationstechnik des byzanti-nischen und slavischen Moumlnchtums deren Anfaumlnge bis auf die Wuumlstenvaumlter zu-ruumlckreichen Durch die unablaumlssige konzentrierte Wiederholung des sogenannten bdquoJesusgebetsldquo ndash der Anrufung des rettenden Namens Jesu Christi ndash im Rhythmus des Herzschlags (deshalb auch bdquoHerzensgebetldquo) eine Uumlbung die als bdquogeistiges Tunldquo (πρᾶξις νοερά russ umnoe delanie) bezeichnet wird kann der Asket der die innere Ruhe (ἡσυχία) und Leidenschaftslosigkeit (ἀπάθεια) erreicht hat zur ekstatischen Schau (θεωρία) der Herrlichkeit Gottes in Lichtvisionen gelangen51

Die mit dem bdquoJesusgebetldquo verbundenen mystischen Erfahrungen fuumlhrten im 14 Jahrhundert zu einer hochspekulativen theologischen Deutung und Systemati-sierung durch den Athosmoumlnch (spaumlter Erzbischof von Thessalonike) Gregorios Palamas (129697minus1359) und seine Anhaumlnger im sogenannten bdquoHesychasmus-streitldquo Dabei ging es ndash stark vereinfacht ndash um die Frage inwiefern bestimmte sinnliche Erfahrungen beim Gebet wie das Schauen von Licht aber auch die Empfindung von Waumlrme und Wohlgeruch als Begegnung mit der Realitaumlt Gottes aufzufassen seien (und nicht als Pseudovisionen also als Einbildungen oder gar Inspirationen daumlmonischer Maumlchte) Dahinter steht das alte theologische Problem der Erkennbarkeit oder sinnlichen Erfahrbarkeit Gottes der Kommunikation zwi-schen Immanenz und Transzendenz aber auch der Gefahr der Verfuumlgung uumlber das Goumlttliche (extrem im Gotteszwang durch Beschwoumlrung)

Palamas loumlst die Frage indem er in Anlehnung an neuplatonische Vorstel-lungen das unzugaumlngliche ewige bdquoWesenldquo (οὐσία) Gottes von seiner in der ge-schaffenen Welt d h in Raum und Zeit mitteilbaren ungeschaffenen bdquoWirkkraftldquo oder bdquoEnergieldquo (ἐνέργεια) unterscheidet nicht aber trennt52 Diese Energien bdquodie der dreieinige Gott ausstrahlt und die zu seinem Wesen gehoumlren wie die Strahlen zur Sonne oder das Kraftfeld zum Magnetenldquo53 kann der Asket der den Stufen-prozess von bdquoReinigungldquo (κάθαρσις) bdquoErleuchtungldquo (φωτισμός) und bdquoVergoumlttli-chungldquo (θέωσις) durchlaumluft durch die Gnade Gottes sinnlich erfahren Als houmlch-stes mystisches Erlebnis im Zusammenwirken (συνεργία) aller menschlichen En-ergien mit der goumlttlichen Energie gilt die Schau des ungeschaffenen Lichtes wie sie den Juumlngern Jesu bei dessen Verklaumlrung auf dem Berg Tabor (μεταμόρφωσις

51 Ich folge hier zum Teil meinen Ausfuumlhrungen in Michael Hagemeister bdquoImjaslavie ndash imja-

dejstvie Namensmystik und Namensmagie in Russland (1900ndash1930)ldquo in Tatjana Petzer [ua] (Hgg) Namen Benennung ndash Verehrung ndash Wirkung Positionen der europaumlischen Moderne Berlin 2009 77ndash98 hier 79ndash81 88ndash90 Zum Hesychasmus liegt eine umfangrei-che Literatur vor Das Nachschlagewerk von Sergej Choružij (Hg) Isichazm annotiro-vannaja bibliografija Moskva 2004 umfasst mehr als 10000 Titel in 20 Sprachen

52 Die Unterscheidung von Gottes unerkennbarem Wesen und seinen wahrnehmbaren Wirk-kraumlften reicht bis auf Philon von Alexandria (gest ca 40 n Chr) zuruumlck Siehe Fairy v Lilienfeld bdquoHesychasmusldquo in Theologische Realenzyklopaumldie Bd 15 BerlinNew York 1986 282ndash289 ndash bdquoEnergieldquo ist Synonym fuumlr jeden bdquoAustrittldquo Gottes aus seinem Wesen Die bdquoSaumlttigungldquo mit goumlttlicher Energie erklaumlrt beispielsweise auch die gnadenreiche Heil-wirkung die von den Gebeinen der Heiligen selbst nach deren Tod ausgeht

53 Ebd 284

18 Michael Hagemeister

τοῦ Χριστοῦ Mt 171minus13) zuteil geworden war54 Fuumlr den endzeitlich gestimm-ten Palamas war diese Schau eine Vorwegnahme der Parusie der Vereinigung des Geschaffenen und des Ungeschaffenen und des kuumlnftigen Reiches Gottes somit bdquorealisierte Eschatologieldquo55

Der Glaube an die Wahrnehmbarkeit des ungeschaffenen ewigen Lichtes als Ausfluss der Energien Gottes stieszlig jedoch auf Widerspruch Palamasrsquo promi-nentester Gegner war der aus Kalabrien stammende Moumlnch Barlaam (ca 1290ndash1348) der in der Tradition der abendlaumlndischen rationalistischen Scholastik die Unterscheidung des transzendenten unzugaumlnglichen Wesens Gottes und der da-von untrennbaren Energien die aber ad extra wirken und sich dem Menschen mitteilen als haumlretisch verwarf und auf der absoluten Unerkennbarkeit Gottes be-stand Rom lehnte denn auch die Energienlehre des Palamas aufs schaumlrfste ab Dagegen erkannte die byzantinische Kirche sie 1341 und 1351 als Dogma an Seitdem gilt der palamitische Hesychasmus als ein Spezifikum der Orthodoxie und dient gerade heute wieder der polemischen Abgrenzung gegenuumlber dem Wes-ten56

Fuumlr die bereits genannten Philosophen Pavel Florenskij und Aleksej Losev charakterisiert das Bekenntnis zum Hesychasmus den Kulturtypus des christli-chen Mittelalters der sich in idealer Weise in Byzanz und in der Moskauer Rusrsquo ausgepraumlgt habe und in diametralem Gegensatz zur sogenannten bdquoRenaissance-Kulturldquo des Westens stehe Merkmale jener integralen Kultur des christlichen Ostens seien Gemeinschaftlichkeit (sobornostrsquo) Geistigkeit (duchovnostrsquo) Ob-jektivitaumlt Konkretheit Ganzheit (celrsquonostrsquo) und Ganzheitlichkeit (celostnostrsquo) synthetische Schau und Realismus57 waumlhrend die westliche Moderne seit der Re-naissance gepraumlgt sei durch Subjektivismus Relativismus szientifische Ratio-nalitaumlt (bdquoEntzauberung der Weltldquo) Materialismus Liberalismus Individualismus

54 Siehe Sergej Choružij bdquoSvet Plotinov i svet Favora mistika sveta v neoplatonizme i isi-

chazmeldquo in Aleksej Lidov (Hg) Ierotopija Ognja i Sveta v kulrsquoture vizantijskogo mira Moskva 2013 37ndash44 Zur Terminologie des Hesychasmus ders bdquoAnalitičeskij slovarʼ isi-chastskoj antropologiildquo in ders K fenomenologii askezy Moskva 1998 22ndash186

55 Peter Kawerau Das Christentum des Ostens Stuttgart [ua] 1972 131 56 Siehe zB die Arbeiten des Moskauer Theologen Igorʼ Ėkonomcev (Archimandrit Ioann)

bes bdquoIsichazm i vostočnoevropejskoe Vozroždenieldquo in Bogoslovskie trudy 29 (1989) 167ndash196 erweiterte Fassung bdquoDer Hesychasmus und die Renaissance in Osteuropaldquo in Karl Christian Felmy (Hg) Tausend Jahre Christentum in Russland Zum Millennium der Taufe der Kiever Rusrsquo Goumlttingen 1988 731ndash771 ndash Im 19 Jahrhundert erlebte der Hesy-chasmus im Zuge der Wiederbelebung mystischer Froumlmmigkeit durch Paisij Veličkovskij (1722ndash1794) eine Bluumlte im russischen Starzentum Dabei handelt es sich auch ndash aumlhnlich wie beim Pietismus ndash um eine Reaktion auf die Einfluumlsse der westlichen Aufklaumlrung Siehe die Beitraumlge in Adalberto Mainardi (Hg) Paisij lo starec Atti del III Convegno ecumenico internazionale di spiritualitagrave russa Bose 20ndash23 settembre 1995 Magnano 1997

57 Die Uumlberwindung der Trennung des erkennenden Subjekts vom Objekt der Erkenntnis (Descartes Locke Kant) durch das spekulative intuitive Erfassen des Wesens (der Ideen des Absoluten) als des eigentlich Realen hat die russische Philosophie des 20 Jahrhunderts bdquolebendiges Wissenldquo (živoe znanie) bdquoIdeal-Realismusldquo (ideal-realizm) oder bdquointuitiven Realismusldquo (intuitivnyj realizm) genannt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 19

Abstraktheit Zersplitterung und Atomisierung58 Der Sieg des Nominalismus im mittelalterlichen Universalienstreit und die Feier des autonomen Individuums in Renaissance Humanismus und Aufklaumlrung markieren in dieser katastrophischen Perspektive den Zerfall der goumlttlichen Ordnung des Universums und der Sakralitaumlt von Hierarchie und Herrschaft und damit den bdquoSuumlndenfallldquo der abendlaumlndischen Kultur die im Anthropozentrismus der satanischen Hybris einer bdquoSelbstvergot-tungldquo des Menschen (čelovekobožie)59 zugleich gipfele und scheitere60

Am Anfang dieser verhaumlngnisvollen Spaltung standen die Annahme der pa-lamitischen Lehre durch die Ostkirche und die Ablehnung dieser Lehre im Westen durch den bdquoRenaissance-Menschenldquo (vozroždenec) Barlaam den Lehrer Boccac-cios und Petrarcas61 Mit aller Schaumlrfe formulierte Losev diesen Gegensatz bdquo[hellip] entweder ist das Taborlicht untrennbar vom Wesen Gottes und ist deshalb Gott selbst (obwohl Gott selbst nicht [das] Licht ist) ndash dann ist die Orthodoxie gerettet oder das Licht ist vom Wesen Gottes trennbar und darum geschaffen ndash dann be-ginnen die apokalyptischen Kraumlmpfe des Renaissance-Westensldquo62 Indem sie Bar-laam einen bdquozugereisten Kalabrierldquo und seine Anhaumlnger mit dem Bann belegte habe die Orthodoxe Kirche so Losev die damals heraufziehende Renaissance

58 Siehe zB Pavel Florenskij bdquoAvtoreferat (192526)ldquo in Voprosy filosofii 1988 12 113ndash

116 dt Pavel Florenski bdquoAutorreferatldquo in ders Leben und Denken hg von Fritz und Sieglinde Mierau Bd 1 Ostfildern 1995 32ndash38 Aleksej Losev Dialektika mifa (1930) Moskva 2001 137ndash138 dt Die Dialektik des Mythos Hamburg 1994 109 ndash Die wertende Entgegensetzung von mittelalterlicher und Renaissance-Kultur (bzw der Typen bdquoobjekti-verldquo und bdquosubjektiverldquo Kulturen) findet sich durchgaumlngig im Werk Florenskijs und Losevs Siehe zuletzt Oksana SedychJulija Grišatova bdquoRusskij Renessans o Renessanseldquo in Vo-prosy filosofii 2015 6 111ndash121

59 bdquoSatan war der erste Revolutionaumlrldquo zitiert Losev einen (apokryphen) Ausspruch des Hl Serafim von Sarov Aleksej Losev bdquoDopolnenie k sbquoDialektike mifalsquo (novyj fragment)ldquo in AF Losev tvorčestvo tradicii interpretacii Moskva 2014 397ndash411 hier 401

60 So degradiere ndash um nur ein Beispiel fuumlr das Scheitern der Renaissance zu geben ndash das heliozentrische Weltbild eines Kopernikus und Giordano Bruno den Menschen zum Be-wohner eines bdquonichtigen Sandkornsldquo im unendlichen Weltraum SedychGrišatova bdquoRuss-kij Renessansldquo 114 Florenskij suchte denn auch in seiner Schrift Mnimosti v geometrii (1922) das geozentrische Weltbild des Mittelalters zu rehabilitieren Zum griechisch-or-thodoxen Antikopernikanismus Vasilios Makrides Die religioumlse Kritik am kopernikani-schen Weltbild in Griechenland zwischen 1794 und 1821 Aspekte griechisch-orthodoxer Apologetik angesichts naturwissenschaftlicher Fortschritte Frankfurt aM [ua] 1995

61 Mitunter wurde Barlaam sogar als Agent einer groszligangelegten antiorthodoxen Verschwouml-rung des bdquoPapismusldquo denunziert Siehe Ėkonomcev bdquoIsichazmldquo 59 vgl ders bdquoDer Hesy-chasmusldquo 736 ndash Eine Kontrastierung des weltlichen Humanisten Petrarca und des Hesy-chasten Palamas unternahm Losevs Schuumller und Sekretaumlr Vladimir Bibichin lthttpwww philologyruliterature3bibikhin-90htmgt

62 Aleksej Losev Očerki antičnogo simvolizma i mifologii Moskva 1930 856 Auch Ėko-nomcev spricht von den bdquoschreienden Widerspruumlchen und Grimassen der westlichen Re-naissance deren geistiger Vater Barlaam wurdeldquo Ėkonomcev bdquoIsichazmldquo 63 (in der deut-schen Version ist von bdquohimmelschreienden Gegensaumltzenldquo und bdquoscheuszliglichen Grimassenldquo die Rede Ėkonomcev bdquoDer Hesychasmusldquo 746)

20 Michael Hagemeister

insgesamt verdammt (anafematstvovala) der alle westlichen Voumllker verfallen sei-en und wahrscheinlich bis ans Ende ihrer Tage verfallen blieben63

Bis zuletzt verteidigte Losev ein mit Orden des Sowjetstaates ausgezeich-neter Philosoph der 1929 von Archimandrit David (Muchranov 1847ndash1930) ei-nem Fuumlhrer der hesychastischen bdquoNamensverehrerldquo (imjaslavcy)64 heimlich zum Moumlnch geweiht worden war die Lehre des Palamas als einen Grundpfeiler der Orthodoxie65 Gleichzeitig hielt er an seiner schroffen Ablehnung des bdquoRenaissan-ce-Westensldquo fest dessen Geschichte insgesamt nichts anderes sei als bdquoeine libera-le Kritik des Mittelaltersldquo 1978 stellte Losev in seiner umfangreichen Studie zur Aumlsthetik der Renaissance der bdquoganzheitlichen Kulturldquo (celostnaja kulrsquotura) des Mittelalters die zerrissene Kultur der Renaissance gegenuumlber die auf der Verabso-lutierung und bdquotitanischen Verherrlichungldquo des isolierten Subjekts und der bdquoAbge-trenntheit vom lebendigen Seinldquo (otryv ot živogo bytija) beruhe66 In einem Ge-spraumlch mit dem Schriftsteller Viktor Erofeev das 1985 veroumlffentlicht wurde de-nunzierte Losev den Typus des bdquoRenaissance-Menschenldquo der sich selbst vergoumltt-liche und deshalb dem Nihilismus und Satanismus verfalle bdquoIndem die Renais-sance das Subjekt zum Absolutum erhob oumlffnete sie den Weg fuumlr den Triumph des Subjektivismus in den folgenden Jahrhunderten In diesem Sinne stellt der gesamte Westen fuumlr mich eine Sackgasse des Denkens darldquo67 Damit geriet der Philosoph einerseits in scharfen Gegensatz zum sowjetischen Selbstverstaumlndnis das sich als Erbe und Vollender gerade jener bdquoprogressivenldquo Prozesse und huma-nistischen Traditionen sah die von der europaumlischen Renaissance ausgegangen

63 Losev Očerki 849 856 64 Zur Bewegung des imjaslavie die zu Beginn des 20 Jahrhunderts auf dem Athos entstand

und in Florenskij und Losev prominente Unterstuumltzer fand liegt inzwischen eine reiche Literatur vor Siehe die juumlngste Veroumlffentlichung Antoine Niviegravere Les glorificateurs du nom Une querelle theacuteologique parmi les moines russes du mont Athos (1907ndash1914) Genegraveve 2016

65 Siehe Valentina Postovalova bdquoAfonskij spor ob Imeni Božiem v filosofsko-bogoslovskom osmyslenii AF Losevaldquo in AF Losev 95ndash106 bes 105f

66 Aleksej Losev Ėstetika Vozroždenija Moskva 21982 (11978) 45 61 137 und passim Losevs Modernekritik erinnert an Heidegger und dessen Begriff der bdquoSeinsvergessenheitldquo Wie fuumlr Heidegger so war auch fuumlr Losev (und Florenskij) der Agent der verhassten Moder-ne ein bdquorechnendesldquo und bdquowurzellosesldquo mythisches Judentum Zu Losevs metaphysischem Antisemitismus (bdquodas satanische Wesen des Judentumsldquo) siehe zuletzt mit zahlreichen Belegen Natalrsquoja Boneckaja Duch Serebrjanogo veka (fenomenologija ėpochi) Moskva Sankt-Peterburg 2016 688ndash693

67 Aleksej Losev bdquoV poiskach smyslaldquo in Voprosy literatury 1985 10 205ndash231 hier 229 Zu Losevs Kritik der bdquoRenaissance-Kulturldquo des Westens ausfuumlhrlich Annett Jubara Die Philosophie des Mythos von Aleksej Losev im Kontext bdquoRussischer Philosophieldquo Wiesba-den 2000 bes 131ndash154 Siehe auch Naftalij Prat bdquoAleksej Losev und der Totalitarismusldquo in Leonid Luks (Hg) Das Christentum und die totalitaumlren Herausforderungen des 20 Jahrhunderts Koumlln [ua] 2002 103ndash114 bes 108f

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 21

waren (augenfaumlllig etwa in der Architektur der 1930er bis 50er Jahre)68 Anderer-seits erwies sich der orthodoxe Moumlnch damit auch als Apologet des Sowjetregi-mes bedroht die Autonomie des Individuums doch den Wesenskern einer jeden Herrschaft die das Wahrheitsmonopol fuumlr sich beansprucht

Die Ablehnung der modernen bdquokopernikanischen Weltldquo (Hans Blumen-berg) durchzieht das gesamte philosophische Werk Losevs und Florenskijs dazu gehoumlren die Ablehnung des heliozentrischen Weltbildes die Polemik gegen Kants kritischen Idealismus (die bdquokopernikanische Wendeldquo in der Philosophie) die Ab-lehnung der Zentralperspektive in der Kunst die Ablehnung des nominalistischen Rationalismus und schlieszliglich die Ablehnung der saumlkularen und demokratischen Gesellschaftsordnung zugunsten einer bdquoVerkirchlichungldquo (ocerkovlenie) aller Be-reiche der Gesellschaft und des Staates in Gestalt einer theokratischen Synarchie Florenskij der sich als einen mittelalterlichen Menschen charakterisierte69 ndash Ni-kolaj Berdjaev selbst Verkuumlnder eines religioumls-integralen bdquoNeuen Mittelaltersldquo nannte ihn einen bdquoraffinierten Reaktionaumlrldquo ndash70 war uumlberzeugt dass die bdquoentseelte Renaissance-Zivilisationldquo sich erschoumlpft habe und eine neue ganzheitlich-objekti-ve Kultur anbrechen werde71 Vorbild dieser bdquoKultur des anderen Typusldquo werde Russland sein bdquoerste Keimeldquo seien bereits zu erkennen Seine Zeit begriff Floren-skij bdquoan den Wasserscheiden des Denkensldquo und er sah seine Lebensaufgabe darin bdquoWege zu bahnen zu einer kuumlnftigen ganzheitlichen Weltanschauungldquo72

68 Losevs Renaissance-Kritik (va in Ėstetika Vozroždenija) wurde deshalb auch als ver-

schleierte Kritik am Sowjetsystem verstanden Siehe Annett Jubara bdquoAleksej Losevs Philosophie des Mythos als Kritik an der Sowjetischen Moderneldquo in Studies in East Euro-pean Thought 56 (2004) 211ndash224 Aus dem Kreis der Schuumller Losevs gingen seit den 1960er Jahren zahlreiche dissidentische russische Nationalisten hervor Nikolaj Mitrochin Russkaja partija Dviženie russkich nacionalistov v SSSR 1953ndash1985 Moskva 2003 288f Zur Kritik der Renaissance-Zivilisation siehe auch Vladimir Bibichin Novyj renessans Moskva 1998 bes 131ndash155

69 Siehe Florenskij bdquoAvtoreferatldquo Noch im Maumlrz 1933 nach seiner Verhaftung erklaumlrte Flo-renskij gegenuumlber den Ermittlungsbeamten bdquoIch Pavel Aleksandrovič Florenskij [hellip] bin dem Charakter meiner politischen Anschauungen nach ein Romantiker des Mittelalters un-gefaumlhr des 14 Jahrhundertsldquo Vitalij Šentalinskij bdquoUdel veličijaldquo in Ogonek 1990 45 23ndash27 hier 26

70 Nikolaj Berdjaev Samopoznanie (Opyt filosofskoj avtobiografii) Moskva 1991 161 Sie-he Nikolaj Berdjaev Novoe srednevekovrsquoe Berlin 1924 dt Nikolaus Berdjajew Das Neue Mittelalter Darmstadt 1927

71 Siehe Michael Hagemeister bdquoWiederverzauberung der Welt ndash Pavel Florenskijs Neues Mittelalterldquo in Norbert Franz [ua] (Hgg) Pavel Florenskij ndash Tradition und Moderne Beitraumlge zum Internationalen Symposium an der Universitaumlt Potsdam 5 bis 9 April 2000 Frankfurt aM [ua] 2001 21ndash41 Zu Florenskijs Kritik an Renaissance und Humanismus (bdquoder Humanismus entsprang der Kabbalaldquo) siehe auch Ilona Svetlikova bdquoOb ideologii sbquoobratnoj perspektivylsquo Pavla Florenskogoldquo in Russkaja intellektualʼnaja revoljucija 1910ndash1930-ch godov Moskva 2016 123ndash139 zu den Uumlbereinstimmungen mit Heidegger siehe Viktor Arslanov Postmodernizm i russkij bdquotretij putrsquoldquo tertium datur rossijskoj kulrsquotury XX veka Moskva 2007 472ndash499

72 Florenskij bdquoAvtoreferatldquo 114

22 Michael Hagemeister

In juumlngster Zeit hat das wiedererwachte Interesse an der eigenen spirituellen Tradition und ihren byzantinischen Wurzeln ndash oftmals verbunden mit dem Bestre-ben sich vom bdquosaumlkularen Westenldquo und der bdquowestlichen Moderneldquo abzugrenzen ndash zu einer Wiederbelebung des palamitischen Hesychasmus (neopalamizm) und der ndash davon zu unterscheidenden ndash bdquoNamensverehrungldquo (imjaslavie) gefuumlhrt73 Be-reits in den 1970er Jahren war John Meyendorffs klassische Studie St Greacutegoire Palamas et la mystique orthodoxe (Paris 1959) ins Russische uumlbersetzt worden und kursierte in der Sowjetunion in Samizdat-Ausgaben im Milieu religioumls-philo-sophischer Dissidenten Heute wird die Wiederbelebung des Hesychasmus auch durch den patriotischen Kult um Serafim von Sarov (Prochor Mošnin 1759ndash1833) befoumlrdert einen Wundertaumlter und Apokalyptiker der im postsowjetischen Russland zu einem der meistverehrten Heiligen avanciert ist74 In einer in viele Sprachen uumlbersetzten und millionenfach verbreiteten Schrift schildert sein Schuuml-ler Nikolaj Motovilov (1809ndash1879) die Verklaumlrung Serafims im ungeschaffenen Licht des Heiligen Geistes die sich angeblich im November 1831 auf einer einsa-men verschneiten Waldlichtung ereignet hat75

73 Dies gilt nicht nur fuumlr Russland auch auf Vertreter der angelsaumlchsischen bdquoRadical Ortho-

doxyldquo die das Projekt einer von modern-saumlkularem Denken nicht korrumpierten Theologie verfolgen uumlben Hesychasmus und russische Sophiologie starke Faszination aus Siehe die Beitraumlge in Adrian PabstChristoph Schneider (Hgg) Encounter Between Eastern Ortho-doxy and Radical Orthodoxy Transfiguring the World Through the Word Farnham 2009 Zur Wiederbelebung des imjaslavie im post-sowjetischen Russland siehe Scott M Ken-worthy bdquoDebating the Theology of the Name in Post-Soviet Russia Metropolitan Ilarion Alfeev and Sergei Khoruzhiildquo in Katya Tolstaya (Hg) Orthodox Paradoxes Hetero-geneities and Complexities in Contemporary Russian Orthodoxy LeidenBoston 2014 250ndash264 Siehe auch Loren Grahams Bericht uumlber diskrete Zusammenkuumlnfte der imjaslav-cy im Kellergeschoss der Moskauer Tatrsquojana-Kirche in den fruumlhen 2000er Jahren Loren GrahamJean-Michel Kantor Naming Infinity A True Story of Religious Mysticism and Mathematical Creativity Cambridge MassLondon 2009 1ndash5

74 Fuumlr die Anhaumlnger der Doktrin einer bdquoAtomaren Orthodoxieldquo (atomnoe pravoslavie) ist Se-rafim auch der Schutzheilige der russischen Atombombe wurde doch Sarov der Ort seines Wirkens 1946 unter dem Namen Arzamas-16 zur streng geheimen Nuklearstadt in der Wissenschaftler unter ihnen Andrej Sacharov am Bau der sowjetischen Atom- und Was-serstoffbomben arbeiteten Patriotische Russen deuten dies als Zeichen dass bdquoim Hause unseres Vaters Serafimldquo mit dessen Segen der nukleare bdquoSchild zum Schutz der Heimatldquo geschmiedet worden sei Pavel V Florenskij bdquoNeobchodimostrsquo našej atomnoj bombyldquo in Naš sovremennik 1997 4 219ndash221 Bei dem Verfasser handelt es sich um einen Enkel des beruumlhmten Philosophen Siehe auch lthttpsruwikipediaorgwiki Атомное_правосла виеgt

75 Die Schrift deren Authentizitaumlt umstritten ist wurde bekannt unter dem Titel bdquoGespraumlch uumlber das Ziel des christlichen Lebensldquo (Beseda o celi christianskoj žizni) Erstmals veroumlf-fentlicht wurde das bdquoGespraumlchldquo 1903 von Sergej Nilus (1862ndash1929) dem Herausgeber und Kommentator der Protokolle der Weisen von Zion Siehe Michael Hagemeister bdquoIl proble-ma della genesi del sbquoColloquio con Motovilovlsquoldquo in Adalberto Mainardi (Hg) San Sera-fim Da Sarov a Diveevo Atti del IV Convegno ecumenico internazionale di spiritualitagrave russa Bose 18ndash20 settembre 1996 Magnano 1998 157ndash174 Bis heute gibt es keine kriti-sche Ausgabe dieses zentralen Textes russischer Geistigkeit

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 23

Von der Wiederbelebung des Hesychasmus zeugt auch das groszligangelegte Projekt einer bdquosynergetischen Anthropologieldquo (sinergijnaja antropologija) des Mathematikers Physikers und religioumlsen Philosophen Sergej Choružij Prakti-sches Ziel das seit 2005 durch ein eigenes Institut in Moskau verfolgt wird ist die psychosomatisch-holistische Selbsttransformation des Menschen die auf unmittelbarer (mystisch-energetischer) Erfahrung bzw Einwirkung des ontolo-gisch Anderen (Goumlttlichen) beruht sowie die Uumlberwindung der Subjekt-Objekt-Trennung der modernen westlichen Philosophie die Choružij fuumlr den von ihm als krisenhaft und katastrophisch beschriebenen Zustand der westlichen Moderne verantwortlich macht Im Unterschied zu orthodoxen Fundamentalisten und Anti-Westlern sucht Choružij indes die asketischen Praktiken des Hesychasmus mit modernen und postmodernen westlichen Anthropologien (Kierkegaard Scheler Heidegger und insbesondere Foucaults technique oder practique de soi) in Bezie-hung zu setzen76

bdquoPolitischer Hesychasmusldquo

Es duumlrfte deutlich geworden sein dass Hesychasmus nicht nur eine weltabge-wandte mystisch-asketische bdquogeistige Praxisldquo bezeichnet sondern auch als Kampfbegriff gegen die saumlkulare Kultur des bdquoWestensldquo und der bdquowestlichen Mo-derneldquo dient Dies gilt vor allem fuumlr das Konzept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo (političeskij isichazm)

In den russischen Diskurs wurde dieses Konzept um die Mitte der 1960er Jahre von dem Leningrader Mediaumlvisten und Byzantinisten Gelian Prochorov ein-gefuumlhrt77 Seiner Hauptthese zufolge wurde der Hesychasmus nachdem er aus den Klosterzellen herausgetreten war und eine philosophisch-theologische

76 Siehe Sergej Choružij Očerki sinergijnoj antropologii Moskva Inst Sinergijnoj antropo-

logii Inst filosofii teologii i istorii Sv Fomy 2005 ders (Hg) Fonarrsquo Diogena Proekt sinergijnoj antropologii v sovremennom gumanitarnom kontekste Moskva 2010 ders bdquoDie mystische Verwandlung des Menschen Uumlber den Hesychasmus als Raum der Philo-sophieldquo in Fuge Journal fuumlr Religion amp Moderne 7 (2010) 72ndash99 Siehe auch die Web-site lthttpsynergia-isarugt Kristina Stoeckl bdquoA New Anthropology Sergej S Khoru-žijrsquos Search for an alternative to the Cartesian Subject in sbquoOčerki sinergijnoj antropologiilsquoldquo in Studies in East European Thought 59 (2007) 237ndash245

77 Gelian Prochorov bdquoĖtničeskaja integracija v Vostočnoj Evrope v XIV-m veke Ot isichastskich sporov do Kulikovskoj bitvyldquo in Doklady otdelenija ėtnografii 2 (196265) Leningrad 1966 81ndash110 ders bdquoIsichazm i obščestvennaja myslʼ v Vostočnoj Evrope v XIV vldquo in Literaturnye svjazi drevnich slavjan (Trudy otdela drevnerusskoj literatury 23) Leningrad 1968 86ndash108 ders bdquoKulʼturnoe svoeobrazie ėpochi kulikovskoj bitvyldquo in Kulikovskaja bitva i podldquoem nacionalrsquonogo samopoznanija (Trudy otdela drevne-russkoj literatury 34) Leningrad 1979 3ndash17 ndash Prochorov gehoumlrte bereits zu Sowjetzeiten ins Lager der (neo-)slavophilen Anti-Westler er war eng befreundet mit dem bdquoEurasierldquo und Antisemiten Lev Gumilev (1912ndash1992) und uumlbernahm von diesem das Konzept der bdquoEthnogeneseldquo

24 Michael Hagemeister

Grundlegung erfahren hatte am Ende des 14 Jahrhunderts zu einem entscheiden-den politischen und kulturellen Faktor nicht nur in Byzanz sondern in ganz Ost-europa und lieferte unter anderem das ideologische Fundament zur Konsolidie-rung der nachmongolischen Rusʼ Im Streit zwischen dem bdquorationalistischen Hu-manismus und dem kontemplativen Hesychasmus [hellip] entschied Byzanz uumlber sein geistiges Schicksal Das Land blieb bis zuletzt mittelalterlich Den Hesy-chasten gelang es zu Wortfuumlhrern der oumlffentlichen Meinung in Byzanz zu werden die letzte schoumlpferische Synthese seiner traditionellen Kultur zu entwickeln und eine breite kulturelle und gesellschaftliche Bewegung in Gang zu setzen die zu einer Erneuerung des Mittelalters und zu einer Wiederbelebung der Orthodoxie im ganzen oumlstlichen Europa fuumlhrteldquo78

Im Anschluss an das von seinem Lehrer Dmitrij Lichačev entwickelte Kon-zept einer bdquoVorrenaissanceldquo (Predvozroždenie)79 spricht Prochorov von einer bdquovorrenaissancelichen Gegenreformationldquo (predvozroždenčeskaja kontrreforma-cija) und einer bdquoOrthodoxen Renaissanceldquo (Pravoslavnoe Vozroždenie)80 Ge-meint war damit dass die Palamiten (Hesychasten) den Sieg der Barlaamiten ver-hindern konnten und auf die Schriften der antiken Kirchenvaumlter zuruumlckgreifend ein mystisch-kontemplatives Aumlquivalent zum rationalistischen und saumlkularen Hu-manismus geschaffen haumltten Auf diese Weise habe der drohende Uumlbergang der byzantinischen und osteuropaumlischen christlich gepraumlgten Kultur von der bdquoVorre-naissanceldquo zu einer auf heidnisch-antiken Wurzeln beruhenden Renaissance ab-gewendet werden koumlnnen81 Auf die bdquoVorrenaissanceldquo sei ein bdquoNeues Mittelalterldquo gefolgt das in der bdquoHeiligen Rusʼldquo um die Wende zum 15 Jahrhundert seinen Houmlhepunkt erreicht habe Ihm verdanke Russland seine Groumlszlige und die russische Kultur ihre bdquoUniversalitaumltldquo und bdquoGeistigkeitldquo82

Bemerkenswert ist dass der sowjetische Wissenschaftler die beiden ideolo-gischen Lager mit traditionellen (neo-)slavophilen Wertungsoppositionen wie sie bereits bei Florenskij und Losev begegnet sind verbindet und dabei deutlich seine 78 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 4 79 Vor allem in seinem Buch Kulʼtura Rusi vremeni Andreja Rubleva i Epifanija Premudrogo

MoskvaLeningrad 1962 80 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 8 Siehe auch ders Nekogda ne narod a nyne narod

Božijhellip Drevnjaja Rusʼ kak istoriko-kulʼturnyj fenomen Sankt-Peterburg 2010 133ndash157 81 So auch Igorʼ Ėkonomcev bdquoDie osteuropaumlische sbquoVorrenaissancelsquo ist nicht die erste Stufe

zur saumlkularisierten Renaissance vom abendlaumlndischen Typ sondern ihre Antithese Der geistige und kulturelle Aufschwung in Osteuropa war die wahre volle und eindeutige Re-naissance die sich grundlegend von der westlichen Renaissance unterschied Sie haumltte sich niemals in eine Renaissance westlicher Praumlgung verwandeln koumlnnenldquo Ėkonomcev bdquoDer Hesychasmusldquo 764 vgl ders bdquoIsichazmldquo 69 Diese (osteuropaumlische) Renaissance so Ėkonomcev an anderer Stelle sei ungleich bdquoerhabener geistiger und reinerldquo gewesen als bdquodie westeuropaumlische Renaissance mit ihrer krankhaften Disharmonie zwischen Glauben und Vernunft Geist und Leib die trotz allem gespieltem Optimismus ein Gefuumlhl der Aus-weglosigkeit und Verzweiflung hinterlaumlsstldquo Igumen Ioann Ėkonomcev bdquoVizantinizm Kirillo-Mefodievo nasledie i kreščenie Rusildquo in ders Pravoslavie Vizantija Rossija Sbornik statej Moskva 1992 7ndash22 hier 18

82 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 9 15

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 25

Sympathie zeigt Die byzantinischen Humanisten werden von ihm als kalte Ratio-nalisten dargestellt die in der Hoffnung auf militaumlrische Unterstuumltzung durch den katholischen Westen im Kampf gegen die Osmanen bereit gewesen seien den eigenen Glauben zu opfern83 Die Hesychasten hingegen haumltten so Prochorov den Westen realistischer eingeschaumltzt und auf Hilfe von Seiten der orthodoxen Staaten gehofft Im entscheidenden Moment haumltten nicht die bdquoWestler-Huma-nistenldquo (zapadniki-gumanisty) mit ihren bdquokalten Uumlberlegungenldquo (cholodnymi rassuždenijami) beim Volk Gehoumlr gefunden sondern die Hesychasten mit ihren bdquoheiszligen Gebetenldquo (gorjačimi molitvami)84

Mit seiner Apologie eines bdquowiederbelebtenldquo Mittelalters und einer bdquoOrtho-doxen Renaissanceldquo die alle Bereiche des politischen gesellschaftlichen und kul-turellen Lebens gepraumlgt habe und deren Kern der Hesychasmus gewesen sei stieszlig Prochorov bei seinen sowjetischen Kollegen auf Kritik So sah Apollon Kuzmin im Palamismus eine desintegrative Erscheinung weshalb er Prochorovs positive Bewertung der Hesychasten bei der bdquoWiedergeburtldquo der Rusʼ zuruumlckwies85 Aumlhn-lich argumentierte Gennadij Litavrin Die Palamiten seien diejenigen gewesen die eine unrealistische Einschaumltzung der politischen Lage gehabt haumltten Sie haumltten die Bedrohung durch die Tuumlrken nicht erkannt und stattdessen die Illusion verbreitet die Feinde zum Christentum bekehren und zu neuen Untertanen ma-chen zu koumlnnen Der Palamismus sei eine bdquoIdeologie der Demutldquo und habe eine bdquounheilvolle Rolle in der Geschichte des Kampfes gegen die tuumlrkische Aggres-sionldquo gespielt86 Michail Sjuzjumov sprach sogar vom bdquoasozialen Charakter des Palamismusldquo der den aufkommenden humanistischen Tendenzen gegenuumlber feindlich gewesen und zur bdquoIdeologie der Reaktionldquo in Byzanz geworden sei87 Auf Ablehnung stieszlig Prochorov auch im Ausland Valerij Lepachin kritisierte den Begriff bdquopolitischer Hesychasmusldquo als unzulaumlssige Verbindung weltlicher und geistlicher Sphaumlren damit verliere der Hesychasmus seinen wesentlichen Sinn-gehalt88 Fuumlr den in Berkeley lehrenden Philologen Viktor Živov schlieszliglich war

83 Ebd 12 84 Ebd 13 ndash An anderer Stelle betont Prochorov den Gegensatz zwischen den abstrakten

bdquoausgedachtenldquo philosophischen Konstruktionen des europaumlischen Idealismus und der ganzheitlichen kontemplativ-spekulativen Welterfahrung der griechisch-byzantinischen Philosophie Prochorov bdquoĖtničeskaja integracijaldquo 90f An Florenskijs Renaissance-Kritik (etwa in Ikonostas 1922) erinnert auch Prochorovs Verweis auf den euklidischen Raum und den Perspektivismus der humanistischen Weltwahrnehmung mit seiner Illusion der Unendlichkeit Prochorov bdquoIsichazmldquo 94

85 Apollon Kuzmin bdquoCerkovʼ i svetskaja vlastʼ v ėpochu Kulikovskoj bitvyldquo in Voprosy naučnogo ateizma 37 (1988) 90ndash99

86 Gennadij Litavrin bdquoVizantija v period graždanskoj vojny i dviženija Zilotov (1341ndash1355 gg)ldquo in Sergej Skazkin (Hg) Istorija Vizantii Bd 3 Moskva 1967 135ndash160 hier 158

87 Michail Sjuzjumov bdquoFilosofija i bogoslovieldquo in ebd 234ndash256 hier 248f 88 Valerij Lepachin bdquoUmnoe delanie (o soderžanie i granicach ponjatija sbquoisichazmlsquo)ldquo in

Vestnik Russkogo Christianskogo Dviženija 164 1992 5ndash32 hier 23

26 Michael Hagemeister

bdquopolitischer Hesychasmusldquo bdquokonzeptuelles Unkraut [sornjak] das man so schnell wie moumlglich ausrottenldquo solle89

Fast ein halbes Jahrhundert nach ihrer ersten Veroumlffentlichung wurde Pro-chorovs Konzept eines bdquopolitischen Hesychasmusldquo von seinem Schuumller Vladimir Petrunin wieder aufgegriffen und aktualisiert In der 2009 erschienenen Monogra-phie bdquoDer politische Hesychasmus und seine Traditionen in der Sozialkonzeption des Moskauer Patriarchatsldquo90 stellt Petrunin das sogenannte bdquoNichtgehorsamkeits-prinzipldquo (princip nepovinovenija) wie es in den von der Moskauer Bischofssyno-de im August 2000 verabschiedeten bdquoGrundlagen der Sozialkonzeption der Rus-sischen Orthodoxen Kircheldquo formuliert worden ist91 in eine Tradition die er bis auf die bdquopolitischen Hesychastenldquo im Byzanz des 14 und 15 Jahrhunderts zu-ruumlckzufuumlhren sucht Immer wieder zieht Petrunin Parallelen zwischen dem spaumlten Byzanz und dem postsowjetischen Russland Hatten die Byzantiner den Hesy-chasmus als Reaktion auf den Humanismus des Westens hervorgebracht so diene heute die Sozialkonzeption der Abwehr des westlichen Saumlkularismus Liberalis-mus und Kapitalismus Damals wie heute stuumlnden der kirchliche Heilsauftrag und die Verteidigung des Glaubens uumlber den Interessen des Staates selbst ndash wie das Beispiel von Byzanz zeige ndash um den Preis seines Untergangs Ebenso wie die byzantinischen Hesychasten den mit dem Westen kollaborierenden Herrschern die Gefolgschaft im Kampf gegen die Osmanen verweigert haumltten da sie die bdquoReinheit ihres Glaubensldquo eher bdquounter einem tuumlrkischen Turban als unter der lateinischen Tiaraldquo gewahrt sahen92 rufe die Sozialkonzeption die Kirche heute dazu auf der Staatsmacht den Gehorsam zu verweigern sollte diese bdquodie ortho-doxen Glaumlubigen zum Abfall von Christus und Seiner Kirche sowie zu suumlndhaften

89 Viktor Živov bdquoVidenija sveta i problemy russkogo srednevekovogo isichazmaldquo in Lidov

(Hg) Ierotopija 350ndash367 hier 363 359 90 Vladimir Petrunin Političeskij isichazm i ego tradicii v socialʼnoj koncepcii Moskovskogo

Patriarchata Sankt-Peterburg 2009 91 Osnovy socialrsquonoj koncepcii Russkoj Pravoslavnoj Cerkvi III5 lthttpwwwpatriarchia

rudbtext141422htmlgt Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo wird von den meisten Inter-preten als ein bemerkenswertes Umdenken in der Kirchenpolitik angesehen hatte doch die Russische Orthodoxe Kirche unter Patriarch Sergij in einer prekaumlren Lage 1927 Loyalitaumlt gegenuumlber dem Sowjetstaat gefordert Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo war auch eine wichtige Voraussetzung fuumlr die Vereinigung der Auslandskirche mit dem Moskauer Pa-triarchat Zur Sozialkonzeption insgesamt Vasilios N Makrides bdquoDie politische Aufgabe der Kirche Bemerkungen anhand der Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kir-cheldquo in Irene DingelChristiane Tietz (Hgg) Die politische Aufgabe von Religion Per-spektiven der drei monotheistischen Religionen Goumlttingen 2011 219ndash243

92 Petrunin Političeskij isichazm 66f 120 Es handelt sich um eine zeitgenoumlssische Losung Siehe Halina Evert-Kappesowa bdquoLa tiare ou le turbanldquo in Byzantinoslavica 14 (1953) 245ndash257 ndash Auch Aleksandr Nevskij (1220ndash1263) zog eine Verstaumlndigung mit den Mongo-len einer Union mit Rom vor die ihm Papst Innozenz IV im Jahr 1248 angeboten hatte und wandte sich stattdessen gegen die bdquoLateinerldquo Heutige Anti-Westler feiern den Heili-gen der Russischen Orthodoxen Kirche deshalb auch als bdquoersten Eurasierldquo

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 27

und der Seele abtraumlglichen Taten noumltigenldquo93 Die Sozialkonzeption hat fuumlr Petru-nin nur einen moumlglichen Sinn Falls Russlands politische Elite sich weiterhin dem liberalen Wertekanon des Westens verschreibe und Russlands bdquoEigenartldquo (samo-bytnostʼ) als bdquoorthodoxe Zivilisationldquo bestreite94 muumlsse die Kirche ndash wie einst in Byzanz ndash dem Staat die Loyalitaumlt aufkuumlndigen und das Volk zum Widerstand auf-rufen

Es ist ganz offensichtlich dass die Prozesse der Globalisierung und Saumlkularisierung eng miteinander verbunden sind So wie einst die byzantinischen Hesychasten ist heute die Russische Kirche mit der westlichen Zivilisation konfrontiert die nach der Weltherrschaft trachtet war fruumlher der Katholizismus deren Grundlage so ist es jetzt der saumlkulare Humanismus [hellip] Waumlhrend sie [die westliche Welt MH] damals fuumlr die Hesychasten mit Rom gleichgesetzt wurde so verkoumlrpert heute das kosmopolitische New York den Westen Indem sie Liberalismus und Saumlkularisie-rung abwehrt tritt die Kirche auch gegen die politischen und wirtschaftlichen Hegemoniebestrebungen des Westens auf und stellt so ihr Bestreben unter Beweis die zivilisatorische Eigenstaumlndigkeit Russlands wieder herzustellen Wie schon vor 600 Jahren im Byzantinischen Imperium so ist auch heute in Russland allein die Kirche ein ernstzunehmender und gut organisierter Gegner des Westens und seiner saumlkularen Werte [hellip] Sollte Russland weiter den Weg der Saumlkularisierung be-schreiten so koumlnnte damit fuumlr die Kirche der gefaumlhrliche Praumlzedenzfall geschaffen werden in dem sie von ihrem Recht Gebrauch machen muumlsste das Volk zu zivilem Ungehorsam aufzurufen95

In seinem Vorwort nannte Prochorov das Buch seines Schuumllers eine bdquoWarnung an unseren Staat unsere saumlkulare Gesellschaft an uns alleldquo96 Wie das spaumlte Byzanz unter dem bdquoDruck aus dem Westenldquo gestanden habe ndash dem die Herrscher und die bdquoHumanistenldquo schlieszliglich nachgegeben haumltten ndash so laufe auch das postkommu-nistische Russland Gefahr dem bdquoDruck des Liberalismus und der Globalisierungldquo nachzugeben Allein die Orthodoxe Kirche habe sich damals wie heute als bdquoFes-tungldquo erwiesen faumlhig diesem bdquozersetzenden Einflussldquo Widerstand zu leisten97

Petrunins Buch das mit dem Segen von Metropolit Ilarion (Grigorij Al-feev)98 erschienen war stieszlig bei westlichen Forschern auf Skepsis und Ableh-nung So kritisierte Kristina Stoumlckl die unhistorische Interpretation und forcierte Aktualisierung der philosophischen theologischen und politischen Kontroversen des 14 Jahrhunderts sowie die einseitige konservative Interpretation der Sozial-konzeption Hesychasmus werde in dem Kirchendokument ebenso wenig erwaumlhnt

93 Osnovy socialrsquonoj koncepcii 94 Petrunin Političeskij isichazm 81 95 Ebd 122f 96 Ebd 5 97 Ebd 98 Zu jener Zeit Bischof von Wien und Oumlsterreich heute Leiter des Auszligenamtes des Moskau-

er Patriarchats und scharfer Kritiker des bdquomilitanten Saumlkularismusldquo des Westens Siehe auch lthttpazbykaruxristianstvo-pered-vyzovom-voinstvuyushhego-sekulyariz ma-2gt

28 Michael Hagemeister

wie der Untergang von Byzanz99 Klaus Buchenau warf Petrunin vor er bdquoverfor-m[e] und ideologisier[e] die urspruumlnglichen Motive des hesychastischen Moumlnch-tums bis zur Unkenntlichkeitldquo100 Und Viktor Živov der bereits Prochorovs Kon-zept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo als bdquoUnkrautldquo bezeichnet hatte sah in Petru-nins Buch ein Beispiel dafuumlr wie dieses sich bdquospontan und schaumldlichldquo ausbreite Die von Petrunin konstruierte bdquophantastische Genealogie des politischen Hesy-chasmusldquo beruhe so Živov auf einer bdquoMischung aus Einseitigkeit und Unwissen-heitldquo Weder sei der bdquotuumlrkische Turbanldquo fuumlr den Patriarchen attraktiv gewesen noch sei am Widerstand gegen die Union irgendetwas spezifisch bdquoHesychasti-schesldquo Petrunin habe ein bdquoPhantomldquo geschaffen dessen angebliche Verbindung mit der Sozialkonzeption man nicht weiter zu verfolgen brauche101

bdquoNeobyzantismusldquo Das Dritte Rom ndash der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo

Eine eigenwillige Interpretation des Hesychasmus und seine Wendung gegen den Westen stammen von Aleksandr Dugin dem Fuumlhrer der bdquoeurasischenldquo Bewegung und einflussreichsten Vordenker der Neuen Rechten in Russland Der polyglotte und belesene Autodidakt der nie eine akademische Ausbildung genossen hat war Gruumlnder der Partei der Nationalbolschewisten Berater des Vorsitzenden der Du-ma und des Generalstabs sowie von 2008 bis 2014 Professor fuumlr Soziologie an der renommierten Moskauer Lomonosov-Universitaumlt und Direktor des dortigen bdquoZentrums fuumlr Konservatismusstudienldquo Seit Anfang der 1990er Jahre verbreitet er mit graphomanem Eifer seine politischen und bdquometaphysischenldquo Botschaften in einer inzwischen kaum noch uumlberschaubaren Zahl von Publikationen102 und Web-Artikeln in mehreren Sprachen sowie durch spektakulaumlre Auftritte in staats-nahen Medien103 99 Kristina Stoumlckl bdquoPolitical Hesychasm Vladimir Petruninrsquos Neo-Byzantine Interpretation

of the Social Doctrine of the Russian Orthodox Churchldquo in Studies in East European Thought 62 (2010) 125ndash133

100 Klaus Buchenau Auf russischen Spuren Orthodoxe Antiwestler in Serbien 1850ndash1945 Wiesbaden 2011 480 Anm 2

101 Živov bdquoVidenija svetaldquo 364f ndash Von der Kritik offenbar unbeeindruckt verschaumlrfte Petru-nin noch seine Position So sprach er 2012 in einem Vortrag uumlber die gesellschaftliche und politische Wirkung der hesychastischen Gebetspraxis Nach dem Fall von Byzanz sei das bdquoJesusgebet faktisch zu einem sbquopolitischen Gebetlsquoldquo geworden das auf die bdquoVerwandlung [preobraženie] der orthodoxen Oumlkumeneldquo ausgerichtet gewesen sei und das bdquoPhaumlnomen der Heiligen Rusrsquoldquo hervorgebracht habe lthttpsynergia-isarup=8604gt

102 Zuletzt in der bislang fuumlnf Baumlnde umfassenden Reihe bdquoNoomachijaldquo (2014ndash2015) einer hochambitioumlsen letztlich aber manichaumlisch-schematischen Beschreibung der bdquoSuche nach dem Logosldquo in den ndash von Dugin essenzialistisch aufgefassten ndash bdquoWeltkulturenldquo

103 Auch die Literatur zu Dugin ist kaum noch uumlberschaubar Siehe zB Alexander Houmlllwerth Das sakrale eurasische Imperium des Aleksandr Dugin Eine Diskursanalyse zum post-sowjetischen russischen Rechtsextremismus Stuttgart 2007 Stefan Wiederkehr Die eurasische Bewegung Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwi-schenkriegszeit und im postsowjetischen Russland Koumlln [ua] 2007 227ndash261 Anton

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 29

Dugin deutet den Hesychasmus im Rahmen des sogenannten bdquointegralen Traditionalismusldquo einer antimodernen Denkrichtung die im ersten Drittel des 20 Jahrhunderts in Frankreich und Italien entstand und in Reneacute Gueacutenon (1886ndash1951) und Julius Evola (1898ndash1974) ihre bekanntesten (und auch fuumlr Dugin wichtigsten) Vertreter hat104 Ihre Lehre besagt dass alle Religionen ungeachtet ihrer histori-schen und regionalen Auspraumlgungen in ihrem esoterischen nur dem Eingeweih-ten zugaumlnglichen Kern eine gemeinsame urspruumlngliche Wahrheit teilen und als philosophia perennis tradieren das Wissen um die Goumlttlichkeit und den Zugang zu ihr Dieses sakrale und initiatorische Wissen sei im Verlauf der westlichen Mo-derne insbesondere durch die Aufklaumlrung verlorengegangen in traditionellen Gesellschaften (China Indien islamische Welt) jedoch bewahrt geblieben105

Auch die Orthodoxie so Dugin habe im Gegensatz zu Katholizismus und Protestantismus bdquodie Treue zum esoterischen Kernldquo bewahrt naumlmlich in ihrer mystischen Unterstroumlmung dem Hesychasmus106 In der Kanonisierung des Gre-gorios Palamas durch die Ostkirche bei gleichzeitiger Verdammung des Humanis-ten Barlaam sieht Dugin das Bekenntnis zum bdquognostisch-realistischen Geist der orthodoxen Esoterikldquo Ganz im Sinn des Traditionalismus deutet er die psycho-physische Uumlbung der Hesychasten das bdquogeistige Tunldquo als Verfahren der bdquoInitia-tionldquo und das Endziel der bdquoVerklaumlrungldquo und bdquoVergoumlttlichungldquo als bdquoalchemistische Verwandlung des Leibesldquo (alchimičeskoe preobraženie tela) Dadurch wuumlrden der bdquoDualismus von Geist und Materie Leib und Seeleldquo sowie die bdquoGrenzen der Individualitaumltldquo ndash charakteristisch fuumlr den bdquorein exoterischen Mystizismusldquo des Westens ndash aufgehoben107 Die bdquoTradition der hesychastischen Esoterikldquo sei die

Shekhovtsov bdquoThe Palingenetic Thrust of Russian Neo-Eurasianism Ideas of Rebirth in Aleksandr Duginrsquos Worldviewldquo in Totalitarian Movements and Political Religions 9 (2008) 491ndash506 Mark Sedgwick bdquoOccult Dissident Culture The Case of Aleksandr Du-ginldquo in Birgit Menzel [ua] (Hgg) The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimen-sions MuumlnchenBerlin 2012 273ndash292 Schmid Technologien der Seele 210ndash220

104 Aleksandr Dugin Filosofija tradicionalizma Moskva 2002 Zum Traditionalismus siehe das Standardwerk von Mark Sedgwick Against the Modern World Traditionalism and the Secret Intellectual History of the Twentieth Century OxfordNew York 2004 zu Dugin 221ndash237 Vgl auch Christopher DL Johnson The Globalization of the Jesus Prayer Con-testing Contemplation London New York 2010 70ndash73

105 Aumlhnliche Gedanken entwickelte Pavel Florenskij bereits 19081909 in seinem Vortrag bdquoObščečelovečeskie korni idealizmaldquo in dem er die bdquoEsoterikldquo der Philosophie Platons und seiner Nachfolger in der bdquoallgemeinmenschlichenldquo mystisch-magischen Weltauffas-sung der bdquoVolksseeleldquo wurzeln laumlsst

106 Das Folgende nach Aleksandr Dugin bdquoOboženie preestestvennejšeeldquo in Milyj angel 1 1991 56ndash59

107 Das Konzept der bdquoInitiationldquo und die Unterscheidung von bdquoesoterischldquo und bdquoexoterischldquo sind zentral fuumlr die Anhaumlnger des Traditionalismus siehe Sedgwick Against the Modern World 265 ndash Als Mitglied des okkultistischen und faschistischen Južinskij-Kreises machte Dugin in Moskaus bdquomystischem Untergrundldquo in den 1980er Jahren selbst Entgrenzugser-fahrungen mit Hilfe sexualmagischer Praktiken und bewusstseinserweiternder Drogen Bei einem Teil der orthodoxen Glaumlubigen stoumlszligt seine Esoterik denn auch auf Misstrauen und

30 Michael Hagemeister

bdquoSeele der russischen Orthodoxieldquo und habe in Serafim von Sarov ihren bdquoletzten leuchtendsten Vertreterldquo gefunden

Der Hesychasmus gehoumlre zum traditionellen Erbe von Byzanz das Russ-land angetreten habe als es zum Dritten Rom und zum Zentrum der orthodoxen Welt geworden sei bdquoWir sindldquo so Dugin bdquobyzantinisch in unserer Seele unseren Wurzeln und in unserer Identitaumltldquo108

Unser stabilstes Fundament ist Byzanz [hellip] Russland ist Byzanz [hellip] Unsere For-mel lautet Der Westen ist das Boumlse Byzanz das Gute Alles Schlechte das uumlber Byzanz geschrieben wurde ist eine Luumlge Das sind lediglich Winkelzuumlge im ideolo-gischen Kampf von Seiten des Westens [hellip] Jeder Russe muss wissen Byzanz ist das reine Gute Jeder der etwas anderes behauptet ist ein Feind [hellip] Wer Byzanz kritisiert ist ein Feind des russischen Volkes Das muss unser ehernes Prinzip sein [hellip] Byzanz ist der absolute Orientierungspunkt des russischen Projekts109

Damit sind Russlands Ort und Mission in der bdquohistoriosophischenldquo Deutung des Weltgeschehens bestimmt Nach Dugin wird die Geschichte der Menschheit be-herrscht vom bdquookkulten planetarischen Ringenldquo zweier antagonistischer Maumlchte dem bdquogroszligen Krieg der Kontinenteldquo Land gegen Meer Behemoth gegen Levia-than die organischen bodenstaumlndigen und traditionalistischen bdquoTellurokratienldquo des eurasischen Ostens gegen die wurzel- und seelenlosen materialistischen bdquoTha-lassokratienldquo des angloamerikanischen Westens das apokalyptische Tier aus dem Meer (Offb 13 1-10)110 Die USA als bdquoQuintessenz des Westensldquo und New York als moderne Hure Babylon (Offb 17 und 18) sind das Reich des Antichrist eine chimaumlrisch-antiorganische transplantierte Zivilisation die keine sakrale Tradi-tion besitze ihre Selbsterhebung zu bdquoGottes neuem Israelldquo und bdquoNeuem Zionldquo ndash gemaumlszlig der anglo-amerikanischen Interpretation der Substitutionslehre ndash deutet Dugin als besonders perfiden Taumluschungsversuch des bdquowestlichen Antichristldquo Das Jahr der Entdeckung Amerikas (1492 ist nach der altrussisch-byzantinischen

offene Ablehnung Fuumlr den Sektenexperten des Moskauer Patriarchats ist Dugin ein bdquoge-faumlhrlicher Feindldquo der die bdquoOrthodoxie in Kabbalistik umzuschmelzenldquo versuche Andrej Kuraev Cerkovrsquo v mire ljudej Moskva 2006 142

108 Aleksandr Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Tradition Duginrsquos Guidelineldquo lthttpswwwyoutubecomwatchv=m0RIa61eZDggt

109 Aleksandr Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo in ders Russkaja Veščrsquo Očerki nacionalrsquonoj filosofii Bd 1 Moskva 2001 69ndash76 hier 70ndash72 (Hervorhebungen im Original) Der Be-griff bdquoByzantismusldquo (vizantizm) ndash im Unterschied zum negativ konnotierten bdquoByzantinis-musldquo ndash als Bezeichnung eines dem europaumlischen entgegengesetzten Kulturtypus der auf den Prinzipien von Orthodoxie und Selbstherrschaft beruht geht auf den konservativen Philosophen Konstantin Leontrsquoev (1831ndash1891) und sein Buch Vizantizm i slavjanstvo (1875) zuruumlck

110 Auch fuumlr den von Dugin verehrten Heidegger waren die Seemaumlchte Groszligbritannien und Amerika nicht Teil der abendlaumlndischen Tradition sondern im Gegensatz zum restlichen Europa wurzellos und sinnleer Der Antagonismus von Land und Meer die kategorische Unterscheidung von Freund und Feind sowie das Konzept des Katechon gehen auf Carl Schmitt zuruumlck als dessen Schuumller Dugin sich bezeichnet Siehe auch Fn 41

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 31

Weltaumlra das Jahr 7000 nach dem chiliadischen Weltwochenschema also der sieb-te Tag der Schoumlpfung) verweise ebenso auf den Endzeitcharakter der bdquoNeuen Weltldquo wie die bdquosakrale Geographieldquo nach der das Paradies im Osten die Houmllle aber das bdquoLand des Todesldquo im Westen zu suchen seien111

Dem Antichrist entgegen stehe seit jeher der Katechon dessen bdquoletzter Hortldquo bis ans Ende der Zeit die Heilige Rusrsquo das Dritte Rom sei112 In der petrini-schen Epoche als die Hauptstadt in die bdquonoumlrdlichen Suumlmpfeldquo in die bdquoGespenster-stadtldquo Petersburg verlegt und das Patriarchat abgeschafft wurde haumltten allein die Altglaumlubigen den Geist von Byzanz den Katechon bewahrt zweihundert Jahre lang sei der Weg frei gewesen fuumlr das zerstoumlrerische Wirken des Antichrist Erst die sowjetische Periode habe eine bdquomystische Ruumlckkehr zum Byzantismusldquo be-deutet indem die Bolschewiki das heilige Moskau wieder zur Hauptstadt erklaumlr-ten das Patriarchat wiederherstellten die Ausbeuter als Klasse vernichteten und dem Westen auf allen Gebieten Widerstand boten Im bdquoroten Byzantismusldquo der Dritten Internationale sei der Katechon zuruumlckgekehrt113

Um seine Mission zur Erloumlsung der Menschheit auch kuumlnftig zu erfuumlllen muumlsse das Dritte Rom nach dem Zerfall der Sowjetunion114 nunmehr ein groszligkon-tinentales sakral fundiertes bdquoEurasisches Imperiumldquo errichten gegen den Erz-feind die materialistische universalistische alles nivellierende Zivilisation des Westens als der Verkoumlrperung des bdquoweltweiten Boumlsenldquo (mirovoe zlo) gegen Libe-ralismus Individualismus Globalismus Egalitarismus sowie die bdquomondialisti-scheldquo Konzeption der Menschenrechte115 Verbuumlndete im bevorstehenden apoka-lyptischen bdquoEndkampfldquo (von Dugin stets deutsch geschrieben) werden all jene sein die den Bezug zum bdquoSakralenldquo noch nicht verloren haben russische Altglaumlu-bige ultraorthodoxe antizionistische Juden europaumlische Traditionalisten sowie jene bdquoanti-atlantischenldquo islamistischen Fundamentalisten die in den USA den Dajjacircl den falschen Messias und Antichrist erkennen gegen den die Retter-gestalt des Mahdicirc zu Felde ziehen wird116 111 Aleksandr Dugin Absoljutnaja Rodina Puti Absoljuta Metafizika Blagoj Vesti Misterii

Evrazii Moskva 1999 645ndash670 112 Ebd 378ndash395 493ndash521 113 Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo 74ndash76 Siehe auch ders bdquoKatechon i revoljucijaldquo in ders

Tampliery proletariata Nacional-bolrsquoševizm i iniciacija Moskva 1997 52ndash59 ndash Die mes-sianische Identifizierung des Dritten Rom mit der Dritten Internationale reicht bis ins Gruumlndungsjahr der Komintern (1919) zuruumlck Beide so der slawophile Philosoph und An-haumlnger des imjaslavie Valerian Muravrsquoev (1885ndash1930) in einem Brief vom 6 Januar 1920 an Lev Trockij seien Ausdruck der Suche des russischen Volkes und der Intelligencija nach einem Reich der Wahrheit und Gerechtigkeit Valerian Muravrsquoev Sočinenija Bd 2 Moskva 2011 352f Weitere Belege bei Emanuel Sarkisyanz Russland und der Messianis-mus des Orients Tuumlbingen 1955 196 Mikhail Agursky Third Rome National Bolshevism in the USSR Boulder Co 1987

114 Damals sah ein Journalist bdquoauf den Ruinen des Imperiumsldquo das Dritte Rom in Gefahr zu einem Land der Dritten Welt zu werden Andrej Fadin bdquoTretij Rim v tretrsquoem mire Razmy-šlenija na ruinach imperiildquo in Nezavisimaja gazeta 1291991

115 [Aleksandr Dugin] bdquoLibo-my libo-ničtoldquo in Ėlementy 8 19961997 1ndash4 hier 2 116 [Aleksandr Dugin] bdquoIdeologija Mirovogo Pravitelrsquostvaldquo in Ėlementy 2 1992 1f

32 Michael Hagemeister

Das Dritte Rom als Zentrum des eurasischen bdquoEuro-Sowjetischen Imperiumsldquo Titelbild der von Aleksandr Dugin herausgegebenen Zeitschrift bdquoElemente Eurasische Rundschauldquo (1992) Dugins Werk mit seiner provokanten Mischung esoterischer antimoderner und antiwestlicher Motive findet besonders unter jungen Intellektuellen Anklang und Nachahmer so etwa bei dem promovierten Philosophen und selbstproklamierten bdquoorthodoxen Metaphysikerldquo Arkadij Maler einem vehementen Propagandisten einer bdquopolitischen Orthodoxieldquo (političeskoe Pravoslavie) und fuumlhrenden Ideolo-gen der bdquoneobyzantinischenldquo Doktrin Obwohl sich Maler von Dugin distan-ziert117 beschwoumlrt auch er die eschatologische bdquogeistige Mission des Dritten Romldquo die es von Byzanz geerbt habe und die in seiner bdquozentralen katechontischen Rolleldquo bestehe dem Kampf gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo des bdquogottlosen Wes-tensldquo118 Russische Politik koumlnne deshalb nicht anders als imperial sein und muumlsse ihren Einfluss auf den gesamten Planeten ausdehnen Wie Dugin sieht auch Maler die Bolschewiki in dieser Tradition als sie Moskau zur Hauptstadt des bdquoRoten

117 In den spaumlten 1990er Jahren gehoumlrte Maler der vaumlterlicherseits juumldischer Abstammung ist

zusammen mit Dugin und Ėduard Limonov zur Fuumlhrungsriege der Nationalbolschewisti-schen Partei und schrieb fuumlr die Parteizeitung Limonka sich selbst charakterisierte er als bdquorotbraunen Zionistenldquo Nach seiner Konversion zur Orthodoxie trennte er sich 1999 von Dugin und kritisierte dessen esoterischen Traditionalismus aus einer ultraorthodoxen Posi-tion Dugin wiederum warf Maler vor ihn zu plagiieren

118 Arkadij Maler Duchovnaja missija Tretrsquoego Rima Moskva 2005 bes 134ndash136 170ndash206 Siehe auch ders bdquoIdeologija Vizantizmaldquo in Severnij Katechon 1 (2005) 7ndash49 bdquoNeovi-zantizm kak novyj bolrsquošoj stilrsquoldquo in Aleksej Nilogov (Hg) Kto segodnja delaet filosofiju v Rossii Moskva 2007 110ndash124

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 33

Imperiumsldquo machten und dieses zur bdquoabsoluten Antithese des Westensldquo erklaumlrten zum bdquoTraumlger der planetarischen Mission der Befreiung der Welt aus den sbquoFesseln des Kapitalslsquoldquo119 Das Dritte Rom sei zeitweise in die Dritte Internationale trans-formiert worden ohne jedoch seine Mission als Katechon als aufhaltende Macht gegen das Reich des Boumlsen und Ausgangspunkt zur Errettung der Welt aufzuge-ben Die bdquoletzte Etappeldquo im Kampf gegen den Antichrist werde so Maler der bdquoeschatologische Krieg des Dritten Rom gegen das Dritte Karthagoldquo den bdquoAnti-katechonldquo sein die bdquoanglo-amerikanische [] atlantische Zivilisationldquo120 Zur Propagierung der katechontischen Mission Russlands gruumlndete Maler 1999 am Institut fuumlr Philosophie der Akademie der Wissenschaften in Moskau einen bdquoBy-zantistischen Klub Katechonldquo (Vizantistskij Klub Katechon) und 2005 das bdquoPhi-losophisch-politische Zentrum sbquoNoumlrdlicher Katechonlsquoldquo das einen gleichnamigen Almanach (Severnyj Katechon) herausgibt121

Apokalyptischer Ausblick

Die Formel vom Dritten Rom und die Figur des Katechon des Aufhalters des bdquoweltweiten Boumlsenldquo sind zu Markenzeichen russischer Anti-Westler und Ver-schwoumlrungstheoretiker und ihres schrillen Szenariums eines globalen apokalyp-tischen bdquoEndkampfesldquo gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo geworden122 Unter dem Titel bdquoDie russische Doktrin Die Staatsideologie der Epoche Putinsldquo verfasste in den Jahren 2005 und 2006 ein Kollektiv nationalpatriotischer Autoren ndash unter ih-nen der bdquoByzantistldquo Arkadij Maler ndash ein uumlber 1000 Seiten langes ultrakonservati-ves und antiwestliches Manifest das auch die Unterstuumltzung hoher kirchlicher Wuumlrdentraumlger fand123 In ihrem Entwurf einer bdquoorganischen weltanschaulichen Plattformldquo fuumlr das kuumlnftige Russland behandeln die Autoren ausfuumlhrlich die bdquohis-toriosophischeldquo Konzeption vom Dritten Rom und seine Mission als Katechon gegen das bdquoHeidentumldquo des Westens124 Gefordert wird die positive Identifikation

119 Maler Duchovnaja missija 182f 185 120 Ebd 177 ndash Als Mittel im ideologischen Kampf gegen den saumlkularen Westen fordert Maler

in Analogie zur katholischen Gegenreformation eine orthodoxe konservative bdquoGegenauf-klaumlrungldquo (Kontrprosveščenie) lthttpwwwkatehonruhtmltoppolitologiaideaotkritije _polit_pravoslavijahtmgt

121 Siehe die Website lthttpwwwkatehonrugt 122 Siehe zB Galina A Morozova Tretij Rim protiv novogo mirovogo porjadka Moskva

2009 Die Formel von Dritten Rom hat laumlngst auch Schriftsteller und Maler inspiriert und scheint auch werbewirksam zu sein bdquoDrittes Romldquo nennt sich ein Verlag ein Videospiel eine Bank ein Reisebuumlro und sogar ein Kasino in Jalta Ein Schoumlnheitswettbewerb in Mos-kau vergibt alljaumlhrlich den Titel einer bdquoMiss Drittes Romldquo Judith E Kalb Russiarsquos Rome Imperial Visions Messianic Dreams 1890ndash1940 Madison Wisconsin 2008 198f Zum Katechon siehe Maria Engstroumlm bdquoContemporary Russian Messianism and New Russian Foreign Policyldquo in Contemporary Security Policy 35 (2014) 3 356ndash379

123 Russkaja doktrina Gosudarstvennaja ideologija ėpochi Putina Moskva 2016 124 Ebd 68ndash72 116ndash120 und passim

34 Michael Hagemeister

mit der Geschichte Russlands und seinen Lichtgestalten dem Heiligen Serafim von Sarov dem bdquoeschatologischen Fuumlhrer des russischen Volkes am Ende der Zeitenldquo der bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo und Stalin der dem paulinischen Kate-chon gleich die bdquoGesetzlosigkeitldquo (bezzakonie) bekaumlmpft und das bdquoFundament fuumlr eine groszlige Zukunftldquo gelegt habe125

bdquoKatechonldquo nennt sich auch ein prominent besetzter Think tank den der Oligarch und Berater Putins Konstantin Malofeev im Jahr 2015 gegruumlndet hat126 Der Milliardaumlr der sein Vermoumlgen mit einer Investmentfirma auf den Cayman Inseln gemacht hat bezeichnet sich selbst als bdquoorthodoxen Monarchistenldquo127 Er unterstuumltzt die Separatisten in der Ostukraine und unterhaumllt vielfaumlltige Verbindun-gen zu europaumlischen Rechtspopulisten wie dem Front National der FPOuml Syriza und der Lega Nord Neben dem Forum bdquoKatechonldquo betreibt Malofeev auch einen Fernsehsender mit dem programmatischen Namen bdquoZargradldquo128 (Motto bdquoDas Licht Christi erleuchtet alleldquo) dessen Chefkommentator niemand anderes ist als Aleksandr Dugin129

bdquoKatechonldquo und bdquoZargradldquo propagieren den Kampf gegen die westliche Moderne mit Bezug auf das byzantinische Erbe Russlands Im November 2014 fand in der Moskauer Manege eine Konferenz bdquoMoskau ndash das Dritte Romldquo statt130 An ihr nahmen auszliger Dugin und Malofeev auch Archimandrit Tichon und Nata-lrsquoja Naročnickaja teil eine hochrangige Diplomatin Mitglied des Izborsker Klubs und Leiterin des Pariser bdquoInstituts fuumlr Demokratie und Kooperationldquo das die oumlf-fentliche Meinung im Westen im Sinne des Kremls beeinflussen soll Tichons Film bdquoDie Lehre von Byzanzldquo sei so Naročnickaja auch eine Warnung an den Westen der seine christlichen Werte verraten habe weshalb er den glaubens-festen Migranten und ihrer Verachtung hilflos ausgeliefert sei131

Im Oktober 2009 wurde Tichons Film in Athen vor ausverkauftem Saal aufgefuumlhrt Unter denen die dem Drehbuchautor Beifall spendeten war der Philo-soph und Theologe Christos Yannaras einer der Hauptvertreter der Neoorthodo-xie und scharfer Kritiker des Westens Wie ihre russischen Gesinnungsgenossen

125 Ebd 130f 153 142ndash145 126 Mit einem Auftritt im Internet in 9 Sprachen Siehe die deutsche Version unter lthttp

katehoncomdewer-sind-wirgt 127 lthttpsdewikipediaorgwikiKonstantin_Walerjewitsch_Malofejewgt 128 Carrsquograd ist der altrussische Name fuumlr Konstantinopel 129 Auch Dugin unterhaumllt seit mehr als 25 Jahren Kontakte zu ultrakonservativen traditiona-

listischen und faschistischen Gesinnungsgenossen in Westeuropa Siehe Vladimir Ivanov Alexander Dugin und die rechtsextremen Netzwerke Fakten und Hypothesen zu den inter-nationalen Verflechtungen der russischen Neuen Rechten Stuttgart 2007

130 lthttpwwwpravoslavieru75070htmlgt 131 lthttpwwwpravoslavieru7414htmlgt ndash Fuumlr Metropolit Ilarion (Alfeev) der sich dabei

auf Dugin beruft verwandeln sich die Laumlnder Westeuropas bereits in die bdquoSphaumlre des Anti-christldquo lthttpwwwpatriarchiarudbtext3065216htmlgt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 35

verherrlichen auch die griechischen Neoorthodoxen die byzantinische Vergan-genheit und sehen in der modernen saumlkularen Gesellschaft eine Bedrohung ihrer kulturellen Identitaumlt132 Gemeinsam suchen sie der Globalisierung mit einer bdquoby-zantinischen Internationaleldquo als bdquoorthodoxer Oumlkumeneldquo entgegenzuwirken einer letztlich sakral verstandenen Gemeinschaft deren Einfluss indes weit uumlber die kirchliche Sphaumlre hinausreichen und eine transnationale Vereinigung der ortho-doxen Welt von Serbien uumlber Syrien bis Georgien und Armenien unter Fuumlhrung Moskaus schaffen soll133 Als wichtiger symbolischer Schritt auf diesem Weg wurde der Besuch von Praumlsident Putin und Patriarch Kirill des Heiligen Berges Athos einer traditionellen Hochburg antiwestlicher Opposition im Mai 2016 ge-feiert Das weltliche und das geistliche Oberhaupt Russlands ndash die bdquoSymphonia der Maumlchteldquo ndash zeigten damit so Aleksandr Dugin ihr Bekenntnis zu Byzanz und seiner Rolle als Katechon Damit anerkenne bdquounsere Rusrsquo ihre historische Bestim-mung Wir sind bereit fuumlr die Endzeitldquo134

132 Ausfuumlhrlich dazu Daniel P Payne The Revival of Political Hesychasm in Contemporary

Orthodox Thought The Political Hesychasm of John Romanides and Christos Yannaras Lanham [ua] 2011 Siehe auch Vasilios N Makrides bdquoByzantium in Contemporary Greece The Neo-Orthodox Current of Ideasldquo in David RicksPaul Magdalino (Hgg) Byzantium and the Modern Greek Identity Aldershot 1998 141ndash153 Zum griechischen Neobyzantismus unter russischem Einfluss Aleksey Kamenskikh bdquoThe Image of the Second Rome through the Prism of the Thirdrdquo in Teresa Obolevich [ua] (Hgg) Russian Thought in Europe Reception Polemics Development Krakoacutew 2013 13ndash22 ndash Antimo-derne und antiwestliche Stroumlmungen in den vom orthodoxen Christentum gepraumlgten Kultu-ren haben der Religionswissenschaftler Makrides und der Slavist Uffelmann vor einigen Jahren als Desiderat der Forschung benannt Vasilios N MakridesDirk Uffelmann bdquoStudying Eastern Orthodox Anti-Westernism The Need for a Comparative Research Agendaldquo in Jonathan SuttonWil van den Bercken (Hgg) Orthodox Christianity and Contemporary Europe Leuven [ua] 2003 87ndash120 Seitdem haben Makrides und die Politikwissenschaftlerin Stoumlckl eine Reihe einschlaumlgiger Arbeiten vorgelegt in denen or-thodoxe Alternativen zu westlichen philosophischen und politischen Konzepten untersucht werden Vasilios N Makrides bdquoOrthodoxes Cristentum und Moderne ndash Inkompatibilitaumlt oder langfristige Anpassungldquo in Una Sancta 2011 1 15ndash30 ders bdquoOumlstliches orthodo-xes Christentum und Saumlkularitaumlt Ein Vergleich mit dem lateinischen Christentumldquo in Transit 47 (2015) 59ndash75 Kristina Stoumlckl bdquoModernity and its Critique in Twentieth Cen-tury Russian Orthodox Thoughtldquo in Studies in East European Thought 58 (2006) 243ndash269 dies Community after Totalitarianism The Russian Orthodox Intellectual Tradition and the Philosophical Discourse of Political Modernity Frankfurt aM [ua] 2008

133 Dazu gehoumlrt auch die Verwirklichung des jahrhundertealten Traums der Wiedererrichtung des Kreuzes auf der Hagia Sophia Siehe Egor Cholmogorov Russkij proekt restavracija buduščego Moskva 2005 283 Der Verfasser Mitglied des Expertenteams des Izborsker Klubs ist Begruumlnder der Doktrin der bdquoAtomaren Orthodoxieldquo siehe Fn 74

134 Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Traditionldquo

ZUM AUTOR

Michael Hagemeister geb 1951 in EllwangenJagst Studium der Slavistik Ge-schichte Germanistik und Philosophie in Basel und MarburgLahn Promotion mit einer Arbeit uumlber den russischen Philosophen Nikolaj Fedorov Wissenschaft-licher Mitarbeiter am Slawischen Seminar in Marburg Gastprofessor am Seminar fuumlr Komparatistik der Universitaumlt Innsbruck Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lotman-Institut fuumlr russische und sowjetische Kultur der Ruhr-Universitaumlt Bo-chum am Lehrstuhl fuumlr Geschichte Osteuropas der Europa-Universitaumlt Viadrina Frankfurt (Oder) an den Historischen Seminaren der Universitaumlten Basel Duumlssel-dorf und Bochum Vertretung der Professuren fuumlr Geschichte Osteuropas an der Ludwig-Maximilians Universitaumlt Muumlnchen und an der Europa-Universitaumlt Frank-furt (Oder)

Forschungen zur russischen Philosophie und Geistesgeschichte zum utopischen und apokalyptischen Denken in Russland zum russischen Rechtsextremismus und Antisemitismus sowie insbesondere zu den Protokollen der Weisen von Zion und ihrem Herausgeber Sergej Nilus Publikationen ua Die Neue Menschheit Biopolitische Utopien in Russland (hg mit Boris Groys) Frankfurt aM 2005 The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimensions (hg mit Birgit Menzel und Bernice Rosenthal) Muumlnchen 2012 Die Fiktion von der juumldischen Weltver-schwoumlrung Zu Text und Kontext der bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo (hg mit Eva Horn) Goumlttingen 2012 Die bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo vor Gericht Der Berner Prozess und die bdquoantisemitische Internationaleldquo in der Zwischen-kriegszeit Chronik Dokumente und Kommentare Zuumlrich (im Druck)

ERFURTER VORTRAumlGE ZUR KULTURGESCHICHTE DES ORTHODOXEN CHRISTENTUMS Reihenherausgeber Vasilios N Makrides

Heft 1 Thomas Bremer Konfrontation statt Oumlkumene Zur kirchlichen Situation in der Ukraine Erfurt 2001

Heft 2 Gerhard Podskalsky Zur Hermeneutik des theologischen Ost-West-

Gespraumlchs in historischer Perspektive Erfurt 2002 Heft 3 Karl Christian Felmy Warum und zu welchem Behufe treiben wir

Ostkirchenkunde Erfurt 2003 Heft 4 Wassilios Klein bdquoTatarenjoch ndash татарское игоldquo Beobachtungen zur

Wahrnehmung des Islam im eurasischen Raum Erfurt 2005 Heft 5 Stamatios D Gerogiorgakis Zeitphilosophie im Mittelalter Byzantinische

und lateinische Vorstellungen Erfurt 2006 Heft 6 Heinz Ohme Das Oumlkumenische Patriarchat von Konstantinopel und die

tuumlrkische Religionspolitik Erfurt 2007 Heft 7 Alexander Agadjanian Russian Orthodox Vision of Human Rights Recent

Documents and Their Significance Erfurt 2008 Heft 8 Christos Yannaras Wem gehoumlrt die griechische Antike Erfurt 2009 Heft 9 Joachim Willems Religions- und Ethikunterricht in Russland ndash Was

wollen Staat und Kirche Zur Einfuumlhrung des neuen Schulfaches bdquoGrundlagen der religioumlsen Kulturen und der weltlichen Ethikldquo Erfurt 2010

Heft 10 Chris Hann Eastern Christianity and Western Social Theory Erfurt 2011 Heft 11 Jennifer Wasmuth Akademische Theologie im zaristischen Russland in

ihrer Bedeutung fuumlr die neuere orthodoxe Theologie Erfurt 2012 Heft 12 Anna Briskina-Muumlller Auf der Suche nach der bdquoHesychialdquo Paisij

Veličkovskij (1722ndash1794) und sein Leben fuumlr die bdquoPhilokalieldquo Erfurt 2014

Heft 13 Vladimir Cvetković From ldquoMerciful Angelrdquo to ldquoFortress Europerdquo The

Perception of Europe and the West in Contemporary Serbian Orthodoxy Erfurt 2015

Heft 14 Stefan G Reichelt Lebenslinien Nikolaj A Berdjaev (1874ndash1948) und Sergij N Bulgakov (1871ndash1944) im Westen ndash Eine Wuumlrdigung Erfurt 2015

Heft 15 Michael Hagemeister Der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo ndash bdquoNeobyzantismusldquo

und bdquopolitischer Hesychasmusldquo im postsowjetischen Russland Erfurt 2016

Alle Hefte der vorliegenden Schriftenreihe koumlnnen unter folgendem Link kostenlos heruntergeladen werden URL httpswwwuni-erfurtdereligionswissenschaftprofessur-orthodoxes-christentumveroeffentlichungenerfurter-vortraege-zur-kulturgeschichte-des-orthodoxen-christentums

Page 8: Michael Hagemeister FINAL - uni-erfurt.de · doziert Tichon, während er das antike Kons tantinopel computeranimiert auferste- hen lässt. Das prosperierende Impe rium erregte freilich

8 Michael Hagemeister

Wucherer illustrieren sollen bdquoDer barbarische Westen wurde erst dann zum zivi-lisierten Westen als er das byzantinische Imperium erobert gepluumlndert zerstoumlrt und absorbiert hatteldquo18

Waumlhrend der materialistische Westen sich an den Reichtuumlmern Konstanti-nopels guumltlich tat erkannten die Russen worin der groumlszligte Schatz von Byzanz bestand bdquoDas waren weder Gold noch Edelsteine nicht einmal Wissenschaft und Kunst Der groumlszligte Schatz von Byzanz war Gott [hellip] Und auf diesen Schatz gruumlndeten unsere groszligen Vorfahren nicht Banken oder Kapital nicht einmal Mu-seen oder Lombardsaumltze Sie gruumlndeten die Rusʼ Russland die geistige Erbin von Byzanzldquo19

Das multinationale Ostroumlmische Reich das sich zwischen Europa und Asi-en erstreckte bildete so die Lehre des Films eine hierarchisch gegliederte organi-sche Einheit gegruumlndet auf die Orthodoxie und die Loyalitaumlt gegenuumlber dem Kaiser als dem Verteidiger des wahren Glaubens Ein bdquosolch demonstrativer Kon-servatismusldquo aber war dem Westen bdquowo schon damals Individualismus und pri-vate Willkuumlr zum geheiligten Prinzip erhoben wurdenldquo ganz fremd und uner-traumlglich weshalb er bdquomit erbittertem Fanatismusldquo forderte bdquoByzanz solle sein ge-samtes Leben nach westlichem Muster modernisieren ndash in erster Linie die reli-gioumlse und geistige Sphaumlre dann aber auch die intellektuelle und materielle Kultur Was die Einzigartigkeit und Besonderheit von Byzanz angeht so lautete der Ur-teilsspruch des Westens [hellip] muss all dies vernichtet werden falls noumltig gemein-sam mit Byzanz und dessen geistigen Erbenldquo20 In Byzanz selbst entstand eine prowestliche Partei Dieser bdquoinnere Feindldquo wurde von den europaumlischen Regie-rungen zunaumlchst heimlich dann aber immer offener unterstuumltzt und gewann all-maumlhlich die Oberhand uumlber die bdquoimperialen Traditionalistenldquo Weitreichende Re-formen der byzantinischen bdquoWestlerldquo schwaumlchten den Staat untergruben den Glauben und zerstoumlrten schlieszliglich das Imperium Der Hauptgrund fuumlr den Unter-gang von Byzanz sei so Tichon die bdquogeistige Zersetzungldquo seiner Elite gewesen die vom Westen verfuumlhrt die Orthodoxie in der Florentiner Union an den roumlmi-schen Papst verraten habe21

Immer wieder zieht der Film kaum verhuumlllte oder direkte Analogien zum postsowjetischen Russland und dessen Verhaumlltnis zum Westen So haumltten die Ve-nezianer die Eroberung der ostroumlmischen Hauptstadt mit der Verteidigung der bdquoRechte auf den freien internationalen Marktldquo begruumlndet und behauptet einen ge-rechten Kampf gegen ein Regime zu fuumlhren das sich bdquogesamteuropaumlischen Wer-tenldquo verweigere und somit ein bdquoReich des Boumlsenldquo sei22 Als weitere Ursache fuumlr den Niedergang wurden korrupte Beamte eigenmaumlchtige Provinzgouverneure und staatsschaumldigende Oligarchen ausgemacht Ihnen habe sich Kaiser Basileios

18 Ebd 19 Ebd 13f 20 Ebd 44ndash46 21 Ebd 54f 22 Ebd 20f

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 9

II widersetzt indem er bdquomit harter Hand die Vertikale der Macht wieder herstell-teldquo Basileios II bdquozerschlug die separatistische Bewegung in den Randgebieten unterdruumlckte die aufruumlhrerischen Gouverneure und Oligarchen die sich anschick-ten das Imperium aufzuteilen Dann fuumlhrte er eine sbquoSaumluberunglsquo in der Regierung durch und konfiszierte fuumlr die Staatskasse groszlige Summen geraubten Geldesldquo23 Seinem Nachfolger hinterlieszlig er einen riesigen bdquoStabilisierungsfondsldquo24

Es liegt auf der Hand ndash und Tichon deutete es in einem Interview selbst an ndash25 dass mit der bdquoVertikale der Machtldquo die Putinsche Politik der Staumlrkung der Zentralgewalt gemeint ist Die bdquoseparatistische Bewegungldquo laumlsst sich auf Tsche-tschenien und die Ukraine beziehen und jene bdquoOligarchenldquo die nicht nur Reich-tum sondern auch politische Macht erstrebten oder vom feindlichen Ausland aus ihre Wuumlhlarbeit betrieben26 heiszligen heute Berezovskij Abramovič und Chodor-kovskij Und sogar der aktuelle Brain-Drain wird thematisiert wenn es heiszligt bdquoDie reiche Jugend von Byzanz lernte nicht mehr im eigenen Land sondern ging zur Ausbildung ins Ausland Die besten Koumlpfe der einheimischen Wissenschaft emi-grierten in den Westenldquo27

Die bis heute guumlltige bdquoLehre von Byzanzldquo und damit die Botschaft des Films bestehen jedoch in der Erkenntnis des ewigen Hasses den der wesens-fremde Westen gegen die orthodoxe Welt hege Mit den Worten Tichons bdquoDer racheluumlsterne Hass des Westens auf Byzanz und dessen Nachfolger den nicht einmal sie selbst ganz und gar verstehen setzt sich auf einer tieferen genetischen Ebene so paradox es auch klingen mag bis heute fort Falls wir diesen verbluumlffen-den doch unbestreitbaren Tatbestand nicht verstehen laufen wir Gefahr nicht nur in der weit zuruumlckliegenden Vergangenheit sondern auch in der Geschichte des 20 und sogar des 21 Jahrhunderts vieles nicht zu begreifenldquo28

Sowohl die Kritiker als auch die Bewunderer des Films haben denn auch erkannt dass es Tichon nicht um das historische Byzanz sondern um das heutige Russland geht ndash vom hegemonialen Westen bedroht von inneren Schwaumlchen wie Egoismus Zynismus und Korruption Genusssucht und Geburtenruumlckgang ge-zeichnet29 Der Film so Roman Lunkin sei eine bdquohistoriosophische Skizzeldquo und

23 Ebd 25 24 Ebd 27 25 Ebd 121 26 Ebd 31 27 Ebd 50 28 Ebd 64f ndash Dies so Tichon habe auch Stalin erkannt als er 1943 die bis dahin verfemte

Byzantinistik per Dekret wieder eingefuumlhrt habe Der bdquoehemalige Seminarist Džugašvilildquo habe bdquodamals endlich begriffen bei wem man die Geschichte studierenldquo muumlsse Ebd 65

29 Der Film so der renommierte Byzantinist Sergej Ivanov sei bdquoreine Fiktion voller kruder faktischer Fehler und krasser Verzerrungenldquo und bdquoerfuumlllt von giftigem Hass auf den Wes-tenldquo Sergey A Ivanov bdquoThe Second Rome as Seen by the Third Russian Debates on sbquoThe Byzantine Legacylsquoldquo in Przemysław MarciniakDion C Smythe (Hgg) The Reception of Byzantium in European Culture Since 1500 Farnham Burlington 2016 55ndash79 hier 72 [dt bdquoDas Zweite Rom aus der Sicht des Dritten Russische Debatten uumlber das sbquobyzan-tinische Erbelsquoldquo in Transit 46 (20142015) 157ndash173 hier 171] Siehe auch ders bdquoVtoroj

10 Michael Hagemeister

sein Autor eine Art bdquomoderner Moumlnch Filofejldquo der die Idee vom Dritten Rom propagiere30 Lunkin gab damit zwei Stichworte die im Folgenden naumlher betrach-tet werden sollen Historiosophie dh die geschichtsmetaphysische Deutung bzw Instrumentalisierung historischer Ereignisse und die Formel von MoskauRuss-land als dem Dritten Rom

Historiosophie Die heilsgeschichtliche Mission Russlands

Unter den Schlagwoumlrtern bdquoHistoriosophieldquo (istoriosofija) und bdquoMetahistorieldquo (metaistorija) erfreuen sich im postsowjetischen Russland Versuche groszliger Be-liebtheit Ziel und Sinn des weltgeschichtlichen Prozesses und die ihn gestalten-den Kraumlfte spekulativ zu bestimmen und ndash als aufbauende oder zerstoumlrende heil-volle oder unheilvolle Faktoren ndash zu bewerten31 Dabei werden Traditionen der russischen Geschichtsmetaphysik und Geschichtstheologie des 19 und 20 Jahr-hunderts aufgegriffen die die irdische Geschichte als Vollzug eines goumlttlichen Heilsplans deuten der den Glaumlubigen in seinem Anfang und Ende sowie den we-sentlichen Etappen geoffenbart worden sei Das providentielle teacutelos der Geschich-te das Ende und zugleich sinngebende Ziel enthuumlllen apokalyptische Texte So beschreibt die Offenbarung des Johannes die Geschehnisse am Ende der Zeit den Kampf zwischen den Maumlchten des Lichts und der Finsternis die Taumluschung und Verfuumlhrung durch den oder die Repraumlsentanten des Boumlsen die Entscheidungs-schlacht und das Juumlngste Gericht den Untergang der alten durch Konflikte zerrissenen Welt und den Beginn einer neuen vollkommenen und zeitlosen Welt Unverkennbar ist auch der Einfluss der dualistisch-deterministischen Geschichts-konzeption der Sowjetideologie (Geschichte als Einsicht in die bdquoobjektiven Ent-wicklungsgesetze der Gesellschaftldquo) kennt doch auch die Eschatologie und Daumlmonologie des historischen Materialismus den auf ein Endziel (bdquoReich der

Rim glazami Tretrsquoego Ėvoljucija obraza Vizantii v rossijskom obščestvennom soznaniildquo lthttppolitruarticle20090414vizantgt

30 lthttpwwwportal-credorusiteact=freshampid=719gt 31 Vgl Michael Hagemeister bdquoDas Dritte Rom gegen den Dritten Tempel ndash Der Antichrist

im postsowjetischen Russlandldquo in Mariano DelgadoVolker Leppin (Hgg) Der Anti-christ Historische und systematische Zugaumlnge FribourgStuttgart 2011 461ndash485 ndash Der Begriff bdquoHistoriosophieldquo geht auf August Cieszkowski (1814ndash1894) zuruumlck einen der Be-gruumlnder des polnischen Messianismus der in seinen Prolegomena zur Historiosophie (Ber-lin 1838) eine aktive Geschichtsteleologie entwarf Mit dem Begriff bdquoMetahistorieldquo be-zeichnete Sergej Bulgakov (1871ndash1944) bdquoden Gegenstand der Apokalypseldquo naumlmlich bdquodie noumenale Seite jenes universellen Prozesses dessen andere Seite sich uns als Geschichte zeigtldquo Sergej Bulgakov bdquoApokaliptika i socializmldquo in ders Dva grada Bd 2 Moskva 1911 51ndash127 hier 103 Zur Neuentdeckung und Aufwertung des in der Sowjetunion tabuisierten Begriffs bdquoHistoriosophieldquo im postsowjetischen Russland siehe Jutta Scherrer Kulturologie Ruszligland auf der Suche nach einer zivilisatorischen Identitaumlt Goumlttingen 2003 bes 91ndash126

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 11

Freiheitldquo) ausgerichteten Verlauf der Geschichte deren bdquoinnre verborgne Ge-setzeldquo und bdquotreibende Maumlchteldquo (Friedrich Engels) sich nur einem fortschrittlichen Bewusstsein zu erkennen geben

Zu den klassischen Werken bdquohistoriosophischerldquo Geschichtsdeutung die immer wieder aufgelegt werden gehoumlren Vladimir Solovrsquoevs (1853ndash1900) bdquoKur-ze Erzaumlhlung vom Antichristldquo (Kratkaja povestrsquo ob antichriste 1900) eine bdquophi-losophische Dichtungldquo die vielfach nicht als literarische Fiktion sondern als kon-krete Prophetie rezipiert und auf die Gegenwart und nahe Zukunft bezogen wird32 sowie insbesondere die manichaumlischen Geschichtskonzeptionen der religioumlsen Philosophen Pavel Florenskij (1882ndash1937) und Aleksej Losev (1893ndash1988) die gepraumlgt sind von der Vorstellung eines permanenten und allumfassenden in sei-nem Ausgang freilich entschiedenen Kampfes zwischen Logos und Chaos Chris-tus und dem Antichrist und dessen irdischem Agenten dem Judentum

In dieser bdquohistoriosophischenldquo oder bdquometahistorischenldquo Sicht erscheint die Geschichte Russlands als Feld auf dem eine bdquounsichtbare Schlachtldquo (nezrimaja bitva) lichtvoller und finsterer Maumlchte tobt Dabei wird das historische Geschehen in Analogie zur Passion Christi als Leidens- oder Kreuzweg (krestnyj putrsquo) aufge-fasst33 als Kreuzigung (raspjatie) durch die Maumlchte des Antichristentums und als Opfertod (požertvovanie) ein Ereignis das in der Regel mit der Epoche der bdquojuuml-disch-bolschewistischenldquo Sowjetherrschaft identifiziert wird34 Noch befinde sich Russland so die Adepten jener bdquosakralen Metahistorieldquo in einer Phase der Pruuml-fung auf dem Weg zum Ziel der Heilsgeschichte noch liege Russland ohnmaumlchtig im Grab doch werde schon bald seine wunderbare Auferstehung (voskresenie) erfolgen35 In der dann anbrechenden Bluumltephase dem letzten Zeitalter der Welt-geschichte vor dem Juumlngsten Gericht werde das wiedergeborene Russland unter der Herrschaft eines Endzeitkaisers die Menschheit von der Macht des Boumlsen be-freien Russland bringt sich also selbst zum Opfer um am Ende zu triumphieren

32 Siehe Michael Hagemeister bdquoTrilogie der Apokalypse ndash Vladimir Solovrsquoev Serafim von

Sarov und Sergej Nilus uumlber das Kommen des Antichrist und das Ende der Weltgeschich-teldquo in Wolfram BrandesFelicitas Schmieder (Hgg) Antichrist Konstruktionen von Feindbildern Berlin 2010 255ndash275 hier 261

33 Als Stationen an bdquoRusslands Kreuzwegldquo werden zumeist genannt das bdquoTatarenjochldquo als Russland die Feinde der Christenheit auf sich lenkte und durch sein Opfer die Zivilisation des Abendlandes vor dem Untergang rettete (worauf schon Aleksandr Puškin in seinem beruumlhmten Brief vom 19 Oktober 1836 an Petr Čaadaev einen Kritiker des russischen Byzantinismus hinwies) sodann der Einfall der bdquoLateinerldquo zu Beginn des 17 Jahrhun-derts die bdquolaumlsterlichenldquo Reformen des bdquoWestlersldquo Peter I (fuumlr viele der Antichrist) und schlieszliglich die bdquoKatastrophe des Jahres 1917ldquo

34 Siehe Vadim Rossman Russian Intellectual Antisemitism in the Post-Communist Era LincolnLondon 2002 223ndash225

35 Siehe Vardan Bagdasarian bdquoApokalipsis ndash segodnja ėschatologičeskie poiski v sovremen-noj Rossiildquo in Dmitrij Andreev [ua] (Hgg) Ėschatologičeskij sbornik Sankt-Peterburg 2006 435ndash453 hier 436f

12 Michael Hagemeister

Moskau ndash Drittes Rom und Katechon

Die Auffassung von Russlands entscheidender Rolle im Drama der Heilsge-schichte wird begruumlndet mit der Doktrin von Moskau als dem Dritten Rom wie sie aus der beruumlhmten eschatologischen Formel des Pskover Moumlnchs Filofej aus der ersten Haumllfte des 16 Jahrhunderts abgeleitet worden ist bdquoAlle christlichen Zartuumlmer haben sich ihrem Ende zugeneigt und sind gemaumlszlig den prophetischen Buumlchern eingegangen in das eine Zartum unseres Herrschers das heiszligt ins russi-sche Zartum Denn zwei Rome sind gefallen und das dritte steht Ein viertes aber wird es nicht gebenldquo36

Nach der Apostasie der Lateiner (dem Schisma von 1054) und dem bdquoVer-ratldquo Konstantinopels (durch die Florentiner Union 1439) dem als Strafe Gottes der Untergang des Byzantinischen Reichs (1453) folgte wird Russland zum drit-ten und ndash der goumlttlichen Trinitaumlt entsprechend ndash letzten Hort der Rechtglaumlubig-keit37 Dessen Ende wird auch das Ende der Geschichte sein mit dem Auftreten des Antichrist des falschen Messias der Juden der durch Taumluschung und Verfuumlh-rung die Parusie des wahren Messias gleichzeitig verbergen und ankuumlndigen soll Bis dahin aber sind das Heilige Russland und seine Herrscher von Gott erwaumlhlt und berufen den Widersacher Christi abzuwehren und das Ende aufzuhalten Nach der sogenannten Substitutionslehre sind die Erwaumlhlung und der messiani-sche Sendungsauftrag Israels nach dessen bdquoVerratldquo auf die Heilige Rusrsquo und das

36 bdquoMoskau ndash das Dritte Romldquo Das Sendschreiben des Filofej von Pskov in Peter Haupt-

mannGerd Stricker (Hgg) Die Orthodoxe Kirche in Ruszligland Dokumente ihrer Geschich-te 960ndash1980 Goumlttingen 1980 253 Bis zur ersten Publikation von Filofejs Sendschreiben in den 1860er Jahren war dieses Konzept freilich kaum bekannt Zu seinen vielfaumlltigen und bisweilen kontraumlren Deutungen siehe Nina Sinicyna Tretij Rim Istoki i ėvoljucija russkoj srednevekovoj koncepcii (XVndashXVI vv) Moskva 1998 zur Wirkungsgeschichte bis in die postsowjetische Gegenwart siehe Peter J S Duncan Russian Messianism Third Rome Revolution Communism and After LondonNew York 2000 Vgl auch Marshall Poe bdquoMoscow the Third Rome The Origins and Transformations of a sbquoPitoval Momentlsquoldquo in Jahrbuumlcher fuumlr Geschichte Osteuropas 49 (2001) 3 412ndash429 Frank Kaumlmpfer bdquoDie Lehre vom Dritten Rom ndash pitoval moment historiographische Folkloreldquo ebd 430ndash441 Fran-ziska Thun-Hohenstein bdquosbquoMoskau ndash Drittes Romlsquo Nachklaumlnge einer alten Denkfigur in der russischen Kultur des 20 Jahrhundertsldquo in Daniel Weidner (Hg) Figuren des Euro-paumlischen Kulturgeschichtliche Perspektiven Muumlnchen 2006 78ndash97 Sergej Magaril Mi-fologija bdquosbquoTretrsquoego Rimalsquo v rossijskom obrazovannom soobščestveldquo in Ėmilrsquo A Pain (Hg) Ideologija bdquoosobogo putildquo v Rossii i Germanii istoki soderžanie posledstvija Moskva 2010 127ndash156 Anna Briskina-Muumlller bdquoDas neue sbquoneue Romlsquo eine byzantinische Idee auf russischem Bodenldquo in Reinhard FlogausJennifer Wasmuth (Hgg) Orthodoxie im Dialog Historische und aktuelle Perspektiven Berlin [ua] 2015 311ndash336

37 Filofej sprach was oft uumlbersehen wird nicht von Moskau als dem Dritten Rom diese For-mel taucht erst im 17 Jahrhundert auf Auch wird aus dem bdquorhomaumlischen (Romejskoe) Zartumldquo bei Filofej erst spaumlter das bdquorussische (Rosejskoe) Zartumldquo Siehe Sinicyna Tretij Rim 244 324ndash328 ndash Die Vorstellung der Stadt Moskau als dem Dritten Rom treibt inzwi-schen seltsame Bluumlten So glaubt der vielfach ausgezeichnete Kulturologe Rustam Rach-matullin in seinem Bestseller Dve Moskvy ili metafizika stolicy (2008) eine bdquosakrale Identitaumltldquo zwischen Moskau Rom und Jerusalem nachweisen zu koumlnnen

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 13

russische bdquoGottestraumlgervolkldquo (narod-Bogonosec) uumlbergegangen die Orthodoxe Kirche wurde zum bdquoNeuen Israelldquo ihre heiligen Staumltten zum bdquoNeuen Jerusa-lemldquo38 Wenn Paulus davon spricht dass am Ende bdquoganz Israel errettetldquo werde (Roumlm 11 26) so sei damit die Kirche Jesu Christi gemeint zu der die Juden sich bekehren muumlssten39

bdquoMoskau ndash Drittes Romldquo Ikone (2011) Maler unbekannt lthttpwwwruniversrugalgallery-allphpSECTION_ID=7641ampELEMENT_ID=462777gt

Russlands Herrscher fungiert mithin als Katechon als jene hemmende aufhalten-de Macht von der im zweiten Brief des (Pseudo-)Paulus an die Thessalonicher die Rede ist

38 Siehe zB Michail Nazarov Voždju Tretrsquoego Rima K poznaniju russkoj idei v apokalipsi-

českoe vremja Moskva 2005 933f 945 ndash Fuumlr die Anhaumlnger der angloamerikanischen bdquoChristian Identityldquo sind hingegen die bdquoArierldquo bdquoGottes auserwaumlhltes Volkldquo und die Verei-nigten Staaten das bdquoNEW JerUSAlemldquo Martin Durham White Rage The Extreme-Right and American Politics London 2007 67

39 Eine fruumlhe heute wieder viel zitierte wertende Entgegensetzung von Judentum und (russi-schem) Christentum findet sich bereits in der um die Mitte des 11 Jahrhunderts verfassten bdquoRede uumlber das Gesetz und die Gnadeldquo (Slovo o zakone i blagodati) des Metropoliten Ila-rion

14 Michael Hagemeister

Zuerst muss der Abfall von Gott kommen und der Mensch der Gesetzlosigkeit offenbart werden der Sohn des Verderbens der Widersacher der sich erhebt uumlber alles was Gott heiszligt oder Heiligtum so dass er sich sogar in den Tempel Gottes setzt und sich fuumlr Gott ausgibt [] Denn das Geheimnis der Gesetzlosigkeit [τὸ μυστήριον τῆς ἀνομίας]40 ist schon wirksam nur muss erst der beseitigt werden der es bis jetzt noch aufhaumllt [ὁ κατέχων] und dann wird der Gesetzlose offenbart werden [hellip] (2 Thess 23-4 und 7-8)

Die durch bdquofeigen Verratldquo erzwungene Abdankung des Zaren im Maumlrz 1917 und seine Ermordung im Juli 1918 wurden denn auch als Erfuumlllung jener Prophetie verstanden dh als Beseitigung des Katechon damit der Weg frei werde fuumlr die Herrschaft des Antichrist41 Der Regizid wurde in dieser Sicht zu einem bdquoapoka-lyptischen Verbrechenldquo langfristig geplant und auf blutig-rituelle Weise ausge-fuumlhrt von den Agenten des Antichrist den Juden Fuumlr diese so der Historiker Mi-chail Nazarov war der von Gott erwaumlhlte und gesalbte apostelgleiche Herrscher des Dritten Rom der bdquokatechontischen orthodoxen Machtldquo objektiv der groumlszligte metaphysische Feind und seine Beseitigung mithin eine Tat bdquovon houmlchster mys-tisch-religioumlser Bedeutungldquo42

Viele Glaumlubige sind indes uumlberzeugt dass die Stelle des Katechon nicht vakant sei sondern von der Gottesmutter uumlbernommen wurde Als Beweis dafuumlr dient die wundersame Auffindung einer Ikone im Dorf Kolomenskoe bei Moskau an jenem Tag an dem Nikolaus II dem Thron entsagte43 Die Ikone zeigt die

40 Luther uumlbersetzt bdquoGeheimnis der Bosheitldquo in der mittelalterlichen Theologie als der Anti-

christ gedeutet der nach der Offenbarung des Johannes am Ende der Zeiten erscheint 41 Im Russischen wird die Rolle des bdquoSelbstherrschersldquo (samoderžec) als bdquoAufhalter Kate-

chonldquo (uderživajuščij) auch etymologisch deutlich russ deržatrsquo entspricht griech κατέ-χειν ndash Die mysterioumlse Figur des Katechon (im griechischen Text einmal Neutrum einmal Maskulinum) die das Endgericht und den Anbruch des Reiches Gottes verzoumlgert bietet sich ebenso wie der Antichrist und seine Trabanten seit jeher zu immer neuen Identifikatio-nen mit einzelnen Gestalten Gruppen oder politischen Maumlchten an So identifizierte Carl Schmitt (1888ndash1985) der bdquoApokalyptiker der Gegenrevolutionldquo (Jacob Taubes) Liberalis-mus Bolschewismus und Judentum mit dem Antichrist (oder seinen Agenten) und glaubte dendas Katechon unter anderem in der Diktatur Hitlers zu erkennen 1947 notierte er bdquoIch glaube an den Katechon er ist fuumlr mich die einzige Moumlglichkeit als Christ Geschichte zu verstehen und sinnvoll zu findenldquo Carl Schmitt Glossarium Aufzeichnungen aus den Jah-ren 1947 bis 1958 hg von Gerd Giesler und Martin Tielke Berlin 2015 47 Schmitt und seine politische Theologie werden in russischen Intellektuellenkreisen intensiv rezipiert

42 Nazarov Voždju 213ndash223 ders Tajna Rossii Istoriosofija XX veka 1999 695ndash699 ndash Die Ermordung der Zarenfamilie durch die Bolschewiki im Juli 1918 in Ekaterinburg wur-de und wird von russischen Nationalisten als juumldischer antichristlicher Ritualmord darge-stellt Extremistische Kirchenkreise forderten denn auch Nikolaus II und seine Familie als bdquovon Jidden Gemarterteldquo (ot židov umučennye) heiligzusprechen Dem wurde freilich von fuumlhrenden Vertretern des Moskauer Patriarchats widersprochen

43 Im Februar 1917 war der Baumluerin Evdokija Andrianova im Traum der Fundort der Ikone erschienen Nach langem Suchen wurde diese schlieszliglich am 215 Maumlrz im Keller der Himmelfahrtskirche von Kolomenskoe entdeckt Siehe Aleksandr N Kazakevič bdquosbquoV podvale chrama pojavilasrsquo ikona Bogomaterilsquo Dokumenty Centralrsquonogo istoričeskogo

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 15

Himmelskoumlnigin mit den Zeichen ihrer Regentschaft im kaiserlichen Purpur mit Krone Szepter und Reichsapfel Das Bild der bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo (Bogo-materrsquo Deržavnaja) erwies sich sogleich als wundertaumltig und zog zahlreiche Pil-ger an Kopien verbreiteten seine Verehrung im ganzen Land Bis heute gilt es vielen als ein Zeichen dass Russlands Schutz vor dem Ansturm des Antichrist vom Zaren auf die Gottesmutter uumlbergegangen ist und sie die autokratische Macht bis zur Wiederherstellung der Monarchie bewahren wird44 Zum 70 Jahrestag des Sieges lieszlig der Izborsker Klub eine Variante der beruumlhmten Ikone anfertigen Sie zeigt die bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo zusammen mit Stalin und seinen Marschaumll-len Fuumlr Aleksandr Prochanov ist Stalin der Katechon der von Gott gesandte Fuumlhrer des Sowjetvolks das durch den Opfertod seiner Soumlhne im bdquogeheiligtenldquo Groszligen Vaterlaumlndischen Krieg ebenso wie einst Christus die Macht der Houmllle be-siegt und die Menschheit erloumlst habe45

lthttpwwwizborsk-clubruarh2015_04_Blokpdfgt

In bdquohistoriosophischerldquo Sicht bildet die Ermordung des Zaren und seiner Familie das zentrale sinnstiftende Ereignis der Geschichte Russlands im 20 Jahrhundert Alles darauf folgende Ungluumlck und Leiden die Verfolgung der Christen Hunger und Terror der Tod von Millionen Menschen werden aufgefasst als Strafe Gottes fuumlr den Abfall des russischen Volkes vom Glauben und fuumlr den judasgleichen

archiva Moskvy o Deržavnoj ikone Božiej Materildquo in Otečestvennye archivy 1 (2004) lthttpricolororghistorykasvyatyniik_derggt

44 Vgl Grigorij Nikolaev bdquoĖschatologičeskij triptichldquo in Ėschatologičeskij sbornik 358ndash396 hier 376f Bagdasarjan bdquoApokalipsis ndash segodnja 441f

45 Aleksandr Prochanov bdquoMističeskij stalinizmldquo in Izborskij klub Russkie strategii 4 (28) 2015 78ndash81 auch lthttpwwwizborsk-clubruarh2015_04_Blokpdfgt

16 Michael Hagemeister

bdquoVerratldquo an seinem Herrscher Wie Jesus sich dem Willen des goumlttlichen Vaters unterworfen hat und auf Golgatha fuumlr die Suumlnden der Welt gestorben ist so habe der Zar in Ekaterinburg (dem bdquorussischen Golgathaldquo) sein Leben als bdquoSuumlhneopferldquo dargebracht fuumlr die Suumlnden ganz Russlands46 Erst wenn das russische Volk sein Land von den Idolen und Symbolen der Gottlosigkeit reinige den Ideen der De-mokratie und politischen Gleichheit abschwoumlre seine kollektive Schuld bereue und Buszlige tue fuumlr das bdquoschrecklichste und unheilvollste Verbrechen des 20 Jahr-hundertsldquo werde der Zar zuruumlckkehren und Russland seine einstige Groumlszlige wie-dererlangen47

Einer der vehementesten und einflussreichsten Propagandisten der Selbst-charismatisierung Russlands war in den Jahren nach dem Ende der Sowjetunion Metropolit Ioann (Ivan Snyčev 1927ndash1995) von St Petersburg und Ladoga Mit-glied des Heiligen Synods und dritthoumlchster Kirchenhierarch des Landes In einer Vielzahl von Buumlchern Aufsaumltzen und Interviews beschwor Ioann die universale Mission des Dritten Rom als des bdquoletzten Hortes des wahren Glaubensldquo im Kampf gegen den Antichrist und seine Verbuumlndeten das bdquoVolk der Gesetzlosigkeitldquo48 Zu den apokalyptischen Feinden Christi zaumlhlte er die bdquoglobalen Maumlchte hinter den Kulissenldquo (mirovaja zakulisa) das internationale Freimaurertum die bdquotransnatio-nale Finanzoligarchieldquo die Anhaumlnger des Zionismus und Marxismus sowie Israel die USA und deren westeuropaumlische Satelliten49 Wiedergeboren im Geist der Or-thodoxie sei das Dritte Rom der irdische Sockel auf dem der Thron Gottes ruhen werde ndash ihm entgegen stehe der Dritte Tempel der Thron des Antichrist50

Hesychasmus als Kulturscheide ndash Kritik der Renaissance

Als entscheidende Waffe in dieser heilsgeschichtlichen Auseinandersetzung wird in juumlngster Zeit von antiwestlichen Intellektuellen und Kirchenkreisen der soge-nannte Hesychasmus in Stellung gebracht Urspruumlnglich handelt es sich dabei um

46 Das Schicksal des letzten Zaren wurde in der antibolschewistisch-antisemitischen Polemik

schon fruumlh mit der Passion Christi verglichen oder gleichgesetzt Eindrucksvolle Beispiele aus juumlngerer Zeit bieten die patriotischen Lieder der prominenten Saumlngerin Žanna Bičev-skaja oder die Filme Iskupitelrsquonaja žertva (1992) und Russkaja Golgofa (2000) Siehe auch Papkova The Orthodox Church 63f 222

47 Marija Achmetova Konec sveta v odnoj otdelrsquono vzjatoj strane Religioznye soobščestva postsovetskoj Rossii i ich ėschatologičeskij mif Moskva 2010 245ndash260

48 Vgl Rossman Russian Intellectual Antisemitism 221ndash225 Hagemeister bdquoDas Dritte Romldquo 476

49 Metropolit Ioann (Snyčev) bdquoToržestvo pravoslavijaldquo in ders Bitva za Rossiju Sankt-Peterburg 1993 28ndash35 In seinem Bestreben Russland als Opfer jahrhundertealter Ver-schwoumlrungen finsterer antichristlicher Maumlchte darzustellen griff Ioann immer wieder auch auf die Protokolle der Weisen von Zion zuruumlck

50 Metropolit Ioann (Snyčev) Samoderžavie ducha Očerki russkogo samosoznanija Sankt-Peterburg 1994 7

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 17

eine individuelle psychosomatische Gebets- und Meditationstechnik des byzanti-nischen und slavischen Moumlnchtums deren Anfaumlnge bis auf die Wuumlstenvaumlter zu-ruumlckreichen Durch die unablaumlssige konzentrierte Wiederholung des sogenannten bdquoJesusgebetsldquo ndash der Anrufung des rettenden Namens Jesu Christi ndash im Rhythmus des Herzschlags (deshalb auch bdquoHerzensgebetldquo) eine Uumlbung die als bdquogeistiges Tunldquo (πρᾶξις νοερά russ umnoe delanie) bezeichnet wird kann der Asket der die innere Ruhe (ἡσυχία) und Leidenschaftslosigkeit (ἀπάθεια) erreicht hat zur ekstatischen Schau (θεωρία) der Herrlichkeit Gottes in Lichtvisionen gelangen51

Die mit dem bdquoJesusgebetldquo verbundenen mystischen Erfahrungen fuumlhrten im 14 Jahrhundert zu einer hochspekulativen theologischen Deutung und Systemati-sierung durch den Athosmoumlnch (spaumlter Erzbischof von Thessalonike) Gregorios Palamas (129697minus1359) und seine Anhaumlnger im sogenannten bdquoHesychasmus-streitldquo Dabei ging es ndash stark vereinfacht ndash um die Frage inwiefern bestimmte sinnliche Erfahrungen beim Gebet wie das Schauen von Licht aber auch die Empfindung von Waumlrme und Wohlgeruch als Begegnung mit der Realitaumlt Gottes aufzufassen seien (und nicht als Pseudovisionen also als Einbildungen oder gar Inspirationen daumlmonischer Maumlchte) Dahinter steht das alte theologische Problem der Erkennbarkeit oder sinnlichen Erfahrbarkeit Gottes der Kommunikation zwi-schen Immanenz und Transzendenz aber auch der Gefahr der Verfuumlgung uumlber das Goumlttliche (extrem im Gotteszwang durch Beschwoumlrung)

Palamas loumlst die Frage indem er in Anlehnung an neuplatonische Vorstel-lungen das unzugaumlngliche ewige bdquoWesenldquo (οὐσία) Gottes von seiner in der ge-schaffenen Welt d h in Raum und Zeit mitteilbaren ungeschaffenen bdquoWirkkraftldquo oder bdquoEnergieldquo (ἐνέργεια) unterscheidet nicht aber trennt52 Diese Energien bdquodie der dreieinige Gott ausstrahlt und die zu seinem Wesen gehoumlren wie die Strahlen zur Sonne oder das Kraftfeld zum Magnetenldquo53 kann der Asket der den Stufen-prozess von bdquoReinigungldquo (κάθαρσις) bdquoErleuchtungldquo (φωτισμός) und bdquoVergoumlttli-chungldquo (θέωσις) durchlaumluft durch die Gnade Gottes sinnlich erfahren Als houmlch-stes mystisches Erlebnis im Zusammenwirken (συνεργία) aller menschlichen En-ergien mit der goumlttlichen Energie gilt die Schau des ungeschaffenen Lichtes wie sie den Juumlngern Jesu bei dessen Verklaumlrung auf dem Berg Tabor (μεταμόρφωσις

51 Ich folge hier zum Teil meinen Ausfuumlhrungen in Michael Hagemeister bdquoImjaslavie ndash imja-

dejstvie Namensmystik und Namensmagie in Russland (1900ndash1930)ldquo in Tatjana Petzer [ua] (Hgg) Namen Benennung ndash Verehrung ndash Wirkung Positionen der europaumlischen Moderne Berlin 2009 77ndash98 hier 79ndash81 88ndash90 Zum Hesychasmus liegt eine umfangrei-che Literatur vor Das Nachschlagewerk von Sergej Choružij (Hg) Isichazm annotiro-vannaja bibliografija Moskva 2004 umfasst mehr als 10000 Titel in 20 Sprachen

52 Die Unterscheidung von Gottes unerkennbarem Wesen und seinen wahrnehmbaren Wirk-kraumlften reicht bis auf Philon von Alexandria (gest ca 40 n Chr) zuruumlck Siehe Fairy v Lilienfeld bdquoHesychasmusldquo in Theologische Realenzyklopaumldie Bd 15 BerlinNew York 1986 282ndash289 ndash bdquoEnergieldquo ist Synonym fuumlr jeden bdquoAustrittldquo Gottes aus seinem Wesen Die bdquoSaumlttigungldquo mit goumlttlicher Energie erklaumlrt beispielsweise auch die gnadenreiche Heil-wirkung die von den Gebeinen der Heiligen selbst nach deren Tod ausgeht

53 Ebd 284

18 Michael Hagemeister

τοῦ Χριστοῦ Mt 171minus13) zuteil geworden war54 Fuumlr den endzeitlich gestimm-ten Palamas war diese Schau eine Vorwegnahme der Parusie der Vereinigung des Geschaffenen und des Ungeschaffenen und des kuumlnftigen Reiches Gottes somit bdquorealisierte Eschatologieldquo55

Der Glaube an die Wahrnehmbarkeit des ungeschaffenen ewigen Lichtes als Ausfluss der Energien Gottes stieszlig jedoch auf Widerspruch Palamasrsquo promi-nentester Gegner war der aus Kalabrien stammende Moumlnch Barlaam (ca 1290ndash1348) der in der Tradition der abendlaumlndischen rationalistischen Scholastik die Unterscheidung des transzendenten unzugaumlnglichen Wesens Gottes und der da-von untrennbaren Energien die aber ad extra wirken und sich dem Menschen mitteilen als haumlretisch verwarf und auf der absoluten Unerkennbarkeit Gottes be-stand Rom lehnte denn auch die Energienlehre des Palamas aufs schaumlrfste ab Dagegen erkannte die byzantinische Kirche sie 1341 und 1351 als Dogma an Seitdem gilt der palamitische Hesychasmus als ein Spezifikum der Orthodoxie und dient gerade heute wieder der polemischen Abgrenzung gegenuumlber dem Wes-ten56

Fuumlr die bereits genannten Philosophen Pavel Florenskij und Aleksej Losev charakterisiert das Bekenntnis zum Hesychasmus den Kulturtypus des christli-chen Mittelalters der sich in idealer Weise in Byzanz und in der Moskauer Rusrsquo ausgepraumlgt habe und in diametralem Gegensatz zur sogenannten bdquoRenaissance-Kulturldquo des Westens stehe Merkmale jener integralen Kultur des christlichen Ostens seien Gemeinschaftlichkeit (sobornostrsquo) Geistigkeit (duchovnostrsquo) Ob-jektivitaumlt Konkretheit Ganzheit (celrsquonostrsquo) und Ganzheitlichkeit (celostnostrsquo) synthetische Schau und Realismus57 waumlhrend die westliche Moderne seit der Re-naissance gepraumlgt sei durch Subjektivismus Relativismus szientifische Ratio-nalitaumlt (bdquoEntzauberung der Weltldquo) Materialismus Liberalismus Individualismus

54 Siehe Sergej Choružij bdquoSvet Plotinov i svet Favora mistika sveta v neoplatonizme i isi-

chazmeldquo in Aleksej Lidov (Hg) Ierotopija Ognja i Sveta v kulrsquoture vizantijskogo mira Moskva 2013 37ndash44 Zur Terminologie des Hesychasmus ders bdquoAnalitičeskij slovarʼ isi-chastskoj antropologiildquo in ders K fenomenologii askezy Moskva 1998 22ndash186

55 Peter Kawerau Das Christentum des Ostens Stuttgart [ua] 1972 131 56 Siehe zB die Arbeiten des Moskauer Theologen Igorʼ Ėkonomcev (Archimandrit Ioann)

bes bdquoIsichazm i vostočnoevropejskoe Vozroždenieldquo in Bogoslovskie trudy 29 (1989) 167ndash196 erweiterte Fassung bdquoDer Hesychasmus und die Renaissance in Osteuropaldquo in Karl Christian Felmy (Hg) Tausend Jahre Christentum in Russland Zum Millennium der Taufe der Kiever Rusrsquo Goumlttingen 1988 731ndash771 ndash Im 19 Jahrhundert erlebte der Hesy-chasmus im Zuge der Wiederbelebung mystischer Froumlmmigkeit durch Paisij Veličkovskij (1722ndash1794) eine Bluumlte im russischen Starzentum Dabei handelt es sich auch ndash aumlhnlich wie beim Pietismus ndash um eine Reaktion auf die Einfluumlsse der westlichen Aufklaumlrung Siehe die Beitraumlge in Adalberto Mainardi (Hg) Paisij lo starec Atti del III Convegno ecumenico internazionale di spiritualitagrave russa Bose 20ndash23 settembre 1995 Magnano 1997

57 Die Uumlberwindung der Trennung des erkennenden Subjekts vom Objekt der Erkenntnis (Descartes Locke Kant) durch das spekulative intuitive Erfassen des Wesens (der Ideen des Absoluten) als des eigentlich Realen hat die russische Philosophie des 20 Jahrhunderts bdquolebendiges Wissenldquo (živoe znanie) bdquoIdeal-Realismusldquo (ideal-realizm) oder bdquointuitiven Realismusldquo (intuitivnyj realizm) genannt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 19

Abstraktheit Zersplitterung und Atomisierung58 Der Sieg des Nominalismus im mittelalterlichen Universalienstreit und die Feier des autonomen Individuums in Renaissance Humanismus und Aufklaumlrung markieren in dieser katastrophischen Perspektive den Zerfall der goumlttlichen Ordnung des Universums und der Sakralitaumlt von Hierarchie und Herrschaft und damit den bdquoSuumlndenfallldquo der abendlaumlndischen Kultur die im Anthropozentrismus der satanischen Hybris einer bdquoSelbstvergot-tungldquo des Menschen (čelovekobožie)59 zugleich gipfele und scheitere60

Am Anfang dieser verhaumlngnisvollen Spaltung standen die Annahme der pa-lamitischen Lehre durch die Ostkirche und die Ablehnung dieser Lehre im Westen durch den bdquoRenaissance-Menschenldquo (vozroždenec) Barlaam den Lehrer Boccac-cios und Petrarcas61 Mit aller Schaumlrfe formulierte Losev diesen Gegensatz bdquo[hellip] entweder ist das Taborlicht untrennbar vom Wesen Gottes und ist deshalb Gott selbst (obwohl Gott selbst nicht [das] Licht ist) ndash dann ist die Orthodoxie gerettet oder das Licht ist vom Wesen Gottes trennbar und darum geschaffen ndash dann be-ginnen die apokalyptischen Kraumlmpfe des Renaissance-Westensldquo62 Indem sie Bar-laam einen bdquozugereisten Kalabrierldquo und seine Anhaumlnger mit dem Bann belegte habe die Orthodoxe Kirche so Losev die damals heraufziehende Renaissance

58 Siehe zB Pavel Florenskij bdquoAvtoreferat (192526)ldquo in Voprosy filosofii 1988 12 113ndash

116 dt Pavel Florenski bdquoAutorreferatldquo in ders Leben und Denken hg von Fritz und Sieglinde Mierau Bd 1 Ostfildern 1995 32ndash38 Aleksej Losev Dialektika mifa (1930) Moskva 2001 137ndash138 dt Die Dialektik des Mythos Hamburg 1994 109 ndash Die wertende Entgegensetzung von mittelalterlicher und Renaissance-Kultur (bzw der Typen bdquoobjekti-verldquo und bdquosubjektiverldquo Kulturen) findet sich durchgaumlngig im Werk Florenskijs und Losevs Siehe zuletzt Oksana SedychJulija Grišatova bdquoRusskij Renessans o Renessanseldquo in Vo-prosy filosofii 2015 6 111ndash121

59 bdquoSatan war der erste Revolutionaumlrldquo zitiert Losev einen (apokryphen) Ausspruch des Hl Serafim von Sarov Aleksej Losev bdquoDopolnenie k sbquoDialektike mifalsquo (novyj fragment)ldquo in AF Losev tvorčestvo tradicii interpretacii Moskva 2014 397ndash411 hier 401

60 So degradiere ndash um nur ein Beispiel fuumlr das Scheitern der Renaissance zu geben ndash das heliozentrische Weltbild eines Kopernikus und Giordano Bruno den Menschen zum Be-wohner eines bdquonichtigen Sandkornsldquo im unendlichen Weltraum SedychGrišatova bdquoRuss-kij Renessansldquo 114 Florenskij suchte denn auch in seiner Schrift Mnimosti v geometrii (1922) das geozentrische Weltbild des Mittelalters zu rehabilitieren Zum griechisch-or-thodoxen Antikopernikanismus Vasilios Makrides Die religioumlse Kritik am kopernikani-schen Weltbild in Griechenland zwischen 1794 und 1821 Aspekte griechisch-orthodoxer Apologetik angesichts naturwissenschaftlicher Fortschritte Frankfurt aM [ua] 1995

61 Mitunter wurde Barlaam sogar als Agent einer groszligangelegten antiorthodoxen Verschwouml-rung des bdquoPapismusldquo denunziert Siehe Ėkonomcev bdquoIsichazmldquo 59 vgl ders bdquoDer Hesy-chasmusldquo 736 ndash Eine Kontrastierung des weltlichen Humanisten Petrarca und des Hesy-chasten Palamas unternahm Losevs Schuumller und Sekretaumlr Vladimir Bibichin lthttpwww philologyruliterature3bibikhin-90htmgt

62 Aleksej Losev Očerki antičnogo simvolizma i mifologii Moskva 1930 856 Auch Ėko-nomcev spricht von den bdquoschreienden Widerspruumlchen und Grimassen der westlichen Re-naissance deren geistiger Vater Barlaam wurdeldquo Ėkonomcev bdquoIsichazmldquo 63 (in der deut-schen Version ist von bdquohimmelschreienden Gegensaumltzenldquo und bdquoscheuszliglichen Grimassenldquo die Rede Ėkonomcev bdquoDer Hesychasmusldquo 746)

20 Michael Hagemeister

insgesamt verdammt (anafematstvovala) der alle westlichen Voumllker verfallen sei-en und wahrscheinlich bis ans Ende ihrer Tage verfallen blieben63

Bis zuletzt verteidigte Losev ein mit Orden des Sowjetstaates ausgezeich-neter Philosoph der 1929 von Archimandrit David (Muchranov 1847ndash1930) ei-nem Fuumlhrer der hesychastischen bdquoNamensverehrerldquo (imjaslavcy)64 heimlich zum Moumlnch geweiht worden war die Lehre des Palamas als einen Grundpfeiler der Orthodoxie65 Gleichzeitig hielt er an seiner schroffen Ablehnung des bdquoRenaissan-ce-Westensldquo fest dessen Geschichte insgesamt nichts anderes sei als bdquoeine libera-le Kritik des Mittelaltersldquo 1978 stellte Losev in seiner umfangreichen Studie zur Aumlsthetik der Renaissance der bdquoganzheitlichen Kulturldquo (celostnaja kulrsquotura) des Mittelalters die zerrissene Kultur der Renaissance gegenuumlber die auf der Verabso-lutierung und bdquotitanischen Verherrlichungldquo des isolierten Subjekts und der bdquoAbge-trenntheit vom lebendigen Seinldquo (otryv ot živogo bytija) beruhe66 In einem Ge-spraumlch mit dem Schriftsteller Viktor Erofeev das 1985 veroumlffentlicht wurde de-nunzierte Losev den Typus des bdquoRenaissance-Menschenldquo der sich selbst vergoumltt-liche und deshalb dem Nihilismus und Satanismus verfalle bdquoIndem die Renais-sance das Subjekt zum Absolutum erhob oumlffnete sie den Weg fuumlr den Triumph des Subjektivismus in den folgenden Jahrhunderten In diesem Sinne stellt der gesamte Westen fuumlr mich eine Sackgasse des Denkens darldquo67 Damit geriet der Philosoph einerseits in scharfen Gegensatz zum sowjetischen Selbstverstaumlndnis das sich als Erbe und Vollender gerade jener bdquoprogressivenldquo Prozesse und huma-nistischen Traditionen sah die von der europaumlischen Renaissance ausgegangen

63 Losev Očerki 849 856 64 Zur Bewegung des imjaslavie die zu Beginn des 20 Jahrhunderts auf dem Athos entstand

und in Florenskij und Losev prominente Unterstuumltzer fand liegt inzwischen eine reiche Literatur vor Siehe die juumlngste Veroumlffentlichung Antoine Niviegravere Les glorificateurs du nom Une querelle theacuteologique parmi les moines russes du mont Athos (1907ndash1914) Genegraveve 2016

65 Siehe Valentina Postovalova bdquoAfonskij spor ob Imeni Božiem v filosofsko-bogoslovskom osmyslenii AF Losevaldquo in AF Losev 95ndash106 bes 105f

66 Aleksej Losev Ėstetika Vozroždenija Moskva 21982 (11978) 45 61 137 und passim Losevs Modernekritik erinnert an Heidegger und dessen Begriff der bdquoSeinsvergessenheitldquo Wie fuumlr Heidegger so war auch fuumlr Losev (und Florenskij) der Agent der verhassten Moder-ne ein bdquorechnendesldquo und bdquowurzellosesldquo mythisches Judentum Zu Losevs metaphysischem Antisemitismus (bdquodas satanische Wesen des Judentumsldquo) siehe zuletzt mit zahlreichen Belegen Natalrsquoja Boneckaja Duch Serebrjanogo veka (fenomenologija ėpochi) Moskva Sankt-Peterburg 2016 688ndash693

67 Aleksej Losev bdquoV poiskach smyslaldquo in Voprosy literatury 1985 10 205ndash231 hier 229 Zu Losevs Kritik der bdquoRenaissance-Kulturldquo des Westens ausfuumlhrlich Annett Jubara Die Philosophie des Mythos von Aleksej Losev im Kontext bdquoRussischer Philosophieldquo Wiesba-den 2000 bes 131ndash154 Siehe auch Naftalij Prat bdquoAleksej Losev und der Totalitarismusldquo in Leonid Luks (Hg) Das Christentum und die totalitaumlren Herausforderungen des 20 Jahrhunderts Koumlln [ua] 2002 103ndash114 bes 108f

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 21

waren (augenfaumlllig etwa in der Architektur der 1930er bis 50er Jahre)68 Anderer-seits erwies sich der orthodoxe Moumlnch damit auch als Apologet des Sowjetregi-mes bedroht die Autonomie des Individuums doch den Wesenskern einer jeden Herrschaft die das Wahrheitsmonopol fuumlr sich beansprucht

Die Ablehnung der modernen bdquokopernikanischen Weltldquo (Hans Blumen-berg) durchzieht das gesamte philosophische Werk Losevs und Florenskijs dazu gehoumlren die Ablehnung des heliozentrischen Weltbildes die Polemik gegen Kants kritischen Idealismus (die bdquokopernikanische Wendeldquo in der Philosophie) die Ab-lehnung der Zentralperspektive in der Kunst die Ablehnung des nominalistischen Rationalismus und schlieszliglich die Ablehnung der saumlkularen und demokratischen Gesellschaftsordnung zugunsten einer bdquoVerkirchlichungldquo (ocerkovlenie) aller Be-reiche der Gesellschaft und des Staates in Gestalt einer theokratischen Synarchie Florenskij der sich als einen mittelalterlichen Menschen charakterisierte69 ndash Ni-kolaj Berdjaev selbst Verkuumlnder eines religioumls-integralen bdquoNeuen Mittelaltersldquo nannte ihn einen bdquoraffinierten Reaktionaumlrldquo ndash70 war uumlberzeugt dass die bdquoentseelte Renaissance-Zivilisationldquo sich erschoumlpft habe und eine neue ganzheitlich-objekti-ve Kultur anbrechen werde71 Vorbild dieser bdquoKultur des anderen Typusldquo werde Russland sein bdquoerste Keimeldquo seien bereits zu erkennen Seine Zeit begriff Floren-skij bdquoan den Wasserscheiden des Denkensldquo und er sah seine Lebensaufgabe darin bdquoWege zu bahnen zu einer kuumlnftigen ganzheitlichen Weltanschauungldquo72

68 Losevs Renaissance-Kritik (va in Ėstetika Vozroždenija) wurde deshalb auch als ver-

schleierte Kritik am Sowjetsystem verstanden Siehe Annett Jubara bdquoAleksej Losevs Philosophie des Mythos als Kritik an der Sowjetischen Moderneldquo in Studies in East Euro-pean Thought 56 (2004) 211ndash224 Aus dem Kreis der Schuumller Losevs gingen seit den 1960er Jahren zahlreiche dissidentische russische Nationalisten hervor Nikolaj Mitrochin Russkaja partija Dviženie russkich nacionalistov v SSSR 1953ndash1985 Moskva 2003 288f Zur Kritik der Renaissance-Zivilisation siehe auch Vladimir Bibichin Novyj renessans Moskva 1998 bes 131ndash155

69 Siehe Florenskij bdquoAvtoreferatldquo Noch im Maumlrz 1933 nach seiner Verhaftung erklaumlrte Flo-renskij gegenuumlber den Ermittlungsbeamten bdquoIch Pavel Aleksandrovič Florenskij [hellip] bin dem Charakter meiner politischen Anschauungen nach ein Romantiker des Mittelalters un-gefaumlhr des 14 Jahrhundertsldquo Vitalij Šentalinskij bdquoUdel veličijaldquo in Ogonek 1990 45 23ndash27 hier 26

70 Nikolaj Berdjaev Samopoznanie (Opyt filosofskoj avtobiografii) Moskva 1991 161 Sie-he Nikolaj Berdjaev Novoe srednevekovrsquoe Berlin 1924 dt Nikolaus Berdjajew Das Neue Mittelalter Darmstadt 1927

71 Siehe Michael Hagemeister bdquoWiederverzauberung der Welt ndash Pavel Florenskijs Neues Mittelalterldquo in Norbert Franz [ua] (Hgg) Pavel Florenskij ndash Tradition und Moderne Beitraumlge zum Internationalen Symposium an der Universitaumlt Potsdam 5 bis 9 April 2000 Frankfurt aM [ua] 2001 21ndash41 Zu Florenskijs Kritik an Renaissance und Humanismus (bdquoder Humanismus entsprang der Kabbalaldquo) siehe auch Ilona Svetlikova bdquoOb ideologii sbquoobratnoj perspektivylsquo Pavla Florenskogoldquo in Russkaja intellektualʼnaja revoljucija 1910ndash1930-ch godov Moskva 2016 123ndash139 zu den Uumlbereinstimmungen mit Heidegger siehe Viktor Arslanov Postmodernizm i russkij bdquotretij putrsquoldquo tertium datur rossijskoj kulrsquotury XX veka Moskva 2007 472ndash499

72 Florenskij bdquoAvtoreferatldquo 114

22 Michael Hagemeister

In juumlngster Zeit hat das wiedererwachte Interesse an der eigenen spirituellen Tradition und ihren byzantinischen Wurzeln ndash oftmals verbunden mit dem Bestre-ben sich vom bdquosaumlkularen Westenldquo und der bdquowestlichen Moderneldquo abzugrenzen ndash zu einer Wiederbelebung des palamitischen Hesychasmus (neopalamizm) und der ndash davon zu unterscheidenden ndash bdquoNamensverehrungldquo (imjaslavie) gefuumlhrt73 Be-reits in den 1970er Jahren war John Meyendorffs klassische Studie St Greacutegoire Palamas et la mystique orthodoxe (Paris 1959) ins Russische uumlbersetzt worden und kursierte in der Sowjetunion in Samizdat-Ausgaben im Milieu religioumls-philo-sophischer Dissidenten Heute wird die Wiederbelebung des Hesychasmus auch durch den patriotischen Kult um Serafim von Sarov (Prochor Mošnin 1759ndash1833) befoumlrdert einen Wundertaumlter und Apokalyptiker der im postsowjetischen Russland zu einem der meistverehrten Heiligen avanciert ist74 In einer in viele Sprachen uumlbersetzten und millionenfach verbreiteten Schrift schildert sein Schuuml-ler Nikolaj Motovilov (1809ndash1879) die Verklaumlrung Serafims im ungeschaffenen Licht des Heiligen Geistes die sich angeblich im November 1831 auf einer einsa-men verschneiten Waldlichtung ereignet hat75

73 Dies gilt nicht nur fuumlr Russland auch auf Vertreter der angelsaumlchsischen bdquoRadical Ortho-

doxyldquo die das Projekt einer von modern-saumlkularem Denken nicht korrumpierten Theologie verfolgen uumlben Hesychasmus und russische Sophiologie starke Faszination aus Siehe die Beitraumlge in Adrian PabstChristoph Schneider (Hgg) Encounter Between Eastern Ortho-doxy and Radical Orthodoxy Transfiguring the World Through the Word Farnham 2009 Zur Wiederbelebung des imjaslavie im post-sowjetischen Russland siehe Scott M Ken-worthy bdquoDebating the Theology of the Name in Post-Soviet Russia Metropolitan Ilarion Alfeev and Sergei Khoruzhiildquo in Katya Tolstaya (Hg) Orthodox Paradoxes Hetero-geneities and Complexities in Contemporary Russian Orthodoxy LeidenBoston 2014 250ndash264 Siehe auch Loren Grahams Bericht uumlber diskrete Zusammenkuumlnfte der imjaslav-cy im Kellergeschoss der Moskauer Tatrsquojana-Kirche in den fruumlhen 2000er Jahren Loren GrahamJean-Michel Kantor Naming Infinity A True Story of Religious Mysticism and Mathematical Creativity Cambridge MassLondon 2009 1ndash5

74 Fuumlr die Anhaumlnger der Doktrin einer bdquoAtomaren Orthodoxieldquo (atomnoe pravoslavie) ist Se-rafim auch der Schutzheilige der russischen Atombombe wurde doch Sarov der Ort seines Wirkens 1946 unter dem Namen Arzamas-16 zur streng geheimen Nuklearstadt in der Wissenschaftler unter ihnen Andrej Sacharov am Bau der sowjetischen Atom- und Was-serstoffbomben arbeiteten Patriotische Russen deuten dies als Zeichen dass bdquoim Hause unseres Vaters Serafimldquo mit dessen Segen der nukleare bdquoSchild zum Schutz der Heimatldquo geschmiedet worden sei Pavel V Florenskij bdquoNeobchodimostrsquo našej atomnoj bombyldquo in Naš sovremennik 1997 4 219ndash221 Bei dem Verfasser handelt es sich um einen Enkel des beruumlhmten Philosophen Siehe auch lthttpsruwikipediaorgwiki Атомное_правосла виеgt

75 Die Schrift deren Authentizitaumlt umstritten ist wurde bekannt unter dem Titel bdquoGespraumlch uumlber das Ziel des christlichen Lebensldquo (Beseda o celi christianskoj žizni) Erstmals veroumlf-fentlicht wurde das bdquoGespraumlchldquo 1903 von Sergej Nilus (1862ndash1929) dem Herausgeber und Kommentator der Protokolle der Weisen von Zion Siehe Michael Hagemeister bdquoIl proble-ma della genesi del sbquoColloquio con Motovilovlsquoldquo in Adalberto Mainardi (Hg) San Sera-fim Da Sarov a Diveevo Atti del IV Convegno ecumenico internazionale di spiritualitagrave russa Bose 18ndash20 settembre 1996 Magnano 1998 157ndash174 Bis heute gibt es keine kriti-sche Ausgabe dieses zentralen Textes russischer Geistigkeit

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 23

Von der Wiederbelebung des Hesychasmus zeugt auch das groszligangelegte Projekt einer bdquosynergetischen Anthropologieldquo (sinergijnaja antropologija) des Mathematikers Physikers und religioumlsen Philosophen Sergej Choružij Prakti-sches Ziel das seit 2005 durch ein eigenes Institut in Moskau verfolgt wird ist die psychosomatisch-holistische Selbsttransformation des Menschen die auf unmittelbarer (mystisch-energetischer) Erfahrung bzw Einwirkung des ontolo-gisch Anderen (Goumlttlichen) beruht sowie die Uumlberwindung der Subjekt-Objekt-Trennung der modernen westlichen Philosophie die Choružij fuumlr den von ihm als krisenhaft und katastrophisch beschriebenen Zustand der westlichen Moderne verantwortlich macht Im Unterschied zu orthodoxen Fundamentalisten und Anti-Westlern sucht Choružij indes die asketischen Praktiken des Hesychasmus mit modernen und postmodernen westlichen Anthropologien (Kierkegaard Scheler Heidegger und insbesondere Foucaults technique oder practique de soi) in Bezie-hung zu setzen76

bdquoPolitischer Hesychasmusldquo

Es duumlrfte deutlich geworden sein dass Hesychasmus nicht nur eine weltabge-wandte mystisch-asketische bdquogeistige Praxisldquo bezeichnet sondern auch als Kampfbegriff gegen die saumlkulare Kultur des bdquoWestensldquo und der bdquowestlichen Mo-derneldquo dient Dies gilt vor allem fuumlr das Konzept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo (političeskij isichazm)

In den russischen Diskurs wurde dieses Konzept um die Mitte der 1960er Jahre von dem Leningrader Mediaumlvisten und Byzantinisten Gelian Prochorov ein-gefuumlhrt77 Seiner Hauptthese zufolge wurde der Hesychasmus nachdem er aus den Klosterzellen herausgetreten war und eine philosophisch-theologische

76 Siehe Sergej Choružij Očerki sinergijnoj antropologii Moskva Inst Sinergijnoj antropo-

logii Inst filosofii teologii i istorii Sv Fomy 2005 ders (Hg) Fonarrsquo Diogena Proekt sinergijnoj antropologii v sovremennom gumanitarnom kontekste Moskva 2010 ders bdquoDie mystische Verwandlung des Menschen Uumlber den Hesychasmus als Raum der Philo-sophieldquo in Fuge Journal fuumlr Religion amp Moderne 7 (2010) 72ndash99 Siehe auch die Web-site lthttpsynergia-isarugt Kristina Stoeckl bdquoA New Anthropology Sergej S Khoru-žijrsquos Search for an alternative to the Cartesian Subject in sbquoOčerki sinergijnoj antropologiilsquoldquo in Studies in East European Thought 59 (2007) 237ndash245

77 Gelian Prochorov bdquoĖtničeskaja integracija v Vostočnoj Evrope v XIV-m veke Ot isichastskich sporov do Kulikovskoj bitvyldquo in Doklady otdelenija ėtnografii 2 (196265) Leningrad 1966 81ndash110 ders bdquoIsichazm i obščestvennaja myslʼ v Vostočnoj Evrope v XIV vldquo in Literaturnye svjazi drevnich slavjan (Trudy otdela drevnerusskoj literatury 23) Leningrad 1968 86ndash108 ders bdquoKulʼturnoe svoeobrazie ėpochi kulikovskoj bitvyldquo in Kulikovskaja bitva i podldquoem nacionalrsquonogo samopoznanija (Trudy otdela drevne-russkoj literatury 34) Leningrad 1979 3ndash17 ndash Prochorov gehoumlrte bereits zu Sowjetzeiten ins Lager der (neo-)slavophilen Anti-Westler er war eng befreundet mit dem bdquoEurasierldquo und Antisemiten Lev Gumilev (1912ndash1992) und uumlbernahm von diesem das Konzept der bdquoEthnogeneseldquo

24 Michael Hagemeister

Grundlegung erfahren hatte am Ende des 14 Jahrhunderts zu einem entscheiden-den politischen und kulturellen Faktor nicht nur in Byzanz sondern in ganz Ost-europa und lieferte unter anderem das ideologische Fundament zur Konsolidie-rung der nachmongolischen Rusʼ Im Streit zwischen dem bdquorationalistischen Hu-manismus und dem kontemplativen Hesychasmus [hellip] entschied Byzanz uumlber sein geistiges Schicksal Das Land blieb bis zuletzt mittelalterlich Den Hesy-chasten gelang es zu Wortfuumlhrern der oumlffentlichen Meinung in Byzanz zu werden die letzte schoumlpferische Synthese seiner traditionellen Kultur zu entwickeln und eine breite kulturelle und gesellschaftliche Bewegung in Gang zu setzen die zu einer Erneuerung des Mittelalters und zu einer Wiederbelebung der Orthodoxie im ganzen oumlstlichen Europa fuumlhrteldquo78

Im Anschluss an das von seinem Lehrer Dmitrij Lichačev entwickelte Kon-zept einer bdquoVorrenaissanceldquo (Predvozroždenie)79 spricht Prochorov von einer bdquovorrenaissancelichen Gegenreformationldquo (predvozroždenčeskaja kontrreforma-cija) und einer bdquoOrthodoxen Renaissanceldquo (Pravoslavnoe Vozroždenie)80 Ge-meint war damit dass die Palamiten (Hesychasten) den Sieg der Barlaamiten ver-hindern konnten und auf die Schriften der antiken Kirchenvaumlter zuruumlckgreifend ein mystisch-kontemplatives Aumlquivalent zum rationalistischen und saumlkularen Hu-manismus geschaffen haumltten Auf diese Weise habe der drohende Uumlbergang der byzantinischen und osteuropaumlischen christlich gepraumlgten Kultur von der bdquoVorre-naissanceldquo zu einer auf heidnisch-antiken Wurzeln beruhenden Renaissance ab-gewendet werden koumlnnen81 Auf die bdquoVorrenaissanceldquo sei ein bdquoNeues Mittelalterldquo gefolgt das in der bdquoHeiligen Rusʼldquo um die Wende zum 15 Jahrhundert seinen Houmlhepunkt erreicht habe Ihm verdanke Russland seine Groumlszlige und die russische Kultur ihre bdquoUniversalitaumltldquo und bdquoGeistigkeitldquo82

Bemerkenswert ist dass der sowjetische Wissenschaftler die beiden ideolo-gischen Lager mit traditionellen (neo-)slavophilen Wertungsoppositionen wie sie bereits bei Florenskij und Losev begegnet sind verbindet und dabei deutlich seine 78 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 4 79 Vor allem in seinem Buch Kulʼtura Rusi vremeni Andreja Rubleva i Epifanija Premudrogo

MoskvaLeningrad 1962 80 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 8 Siehe auch ders Nekogda ne narod a nyne narod

Božijhellip Drevnjaja Rusʼ kak istoriko-kulʼturnyj fenomen Sankt-Peterburg 2010 133ndash157 81 So auch Igorʼ Ėkonomcev bdquoDie osteuropaumlische sbquoVorrenaissancelsquo ist nicht die erste Stufe

zur saumlkularisierten Renaissance vom abendlaumlndischen Typ sondern ihre Antithese Der geistige und kulturelle Aufschwung in Osteuropa war die wahre volle und eindeutige Re-naissance die sich grundlegend von der westlichen Renaissance unterschied Sie haumltte sich niemals in eine Renaissance westlicher Praumlgung verwandeln koumlnnenldquo Ėkonomcev bdquoDer Hesychasmusldquo 764 vgl ders bdquoIsichazmldquo 69 Diese (osteuropaumlische) Renaissance so Ėkonomcev an anderer Stelle sei ungleich bdquoerhabener geistiger und reinerldquo gewesen als bdquodie westeuropaumlische Renaissance mit ihrer krankhaften Disharmonie zwischen Glauben und Vernunft Geist und Leib die trotz allem gespieltem Optimismus ein Gefuumlhl der Aus-weglosigkeit und Verzweiflung hinterlaumlsstldquo Igumen Ioann Ėkonomcev bdquoVizantinizm Kirillo-Mefodievo nasledie i kreščenie Rusildquo in ders Pravoslavie Vizantija Rossija Sbornik statej Moskva 1992 7ndash22 hier 18

82 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 9 15

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 25

Sympathie zeigt Die byzantinischen Humanisten werden von ihm als kalte Ratio-nalisten dargestellt die in der Hoffnung auf militaumlrische Unterstuumltzung durch den katholischen Westen im Kampf gegen die Osmanen bereit gewesen seien den eigenen Glauben zu opfern83 Die Hesychasten hingegen haumltten so Prochorov den Westen realistischer eingeschaumltzt und auf Hilfe von Seiten der orthodoxen Staaten gehofft Im entscheidenden Moment haumltten nicht die bdquoWestler-Huma-nistenldquo (zapadniki-gumanisty) mit ihren bdquokalten Uumlberlegungenldquo (cholodnymi rassuždenijami) beim Volk Gehoumlr gefunden sondern die Hesychasten mit ihren bdquoheiszligen Gebetenldquo (gorjačimi molitvami)84

Mit seiner Apologie eines bdquowiederbelebtenldquo Mittelalters und einer bdquoOrtho-doxen Renaissanceldquo die alle Bereiche des politischen gesellschaftlichen und kul-turellen Lebens gepraumlgt habe und deren Kern der Hesychasmus gewesen sei stieszlig Prochorov bei seinen sowjetischen Kollegen auf Kritik So sah Apollon Kuzmin im Palamismus eine desintegrative Erscheinung weshalb er Prochorovs positive Bewertung der Hesychasten bei der bdquoWiedergeburtldquo der Rusʼ zuruumlckwies85 Aumlhn-lich argumentierte Gennadij Litavrin Die Palamiten seien diejenigen gewesen die eine unrealistische Einschaumltzung der politischen Lage gehabt haumltten Sie haumltten die Bedrohung durch die Tuumlrken nicht erkannt und stattdessen die Illusion verbreitet die Feinde zum Christentum bekehren und zu neuen Untertanen ma-chen zu koumlnnen Der Palamismus sei eine bdquoIdeologie der Demutldquo und habe eine bdquounheilvolle Rolle in der Geschichte des Kampfes gegen die tuumlrkische Aggres-sionldquo gespielt86 Michail Sjuzjumov sprach sogar vom bdquoasozialen Charakter des Palamismusldquo der den aufkommenden humanistischen Tendenzen gegenuumlber feindlich gewesen und zur bdquoIdeologie der Reaktionldquo in Byzanz geworden sei87 Auf Ablehnung stieszlig Prochorov auch im Ausland Valerij Lepachin kritisierte den Begriff bdquopolitischer Hesychasmusldquo als unzulaumlssige Verbindung weltlicher und geistlicher Sphaumlren damit verliere der Hesychasmus seinen wesentlichen Sinn-gehalt88 Fuumlr den in Berkeley lehrenden Philologen Viktor Živov schlieszliglich war

83 Ebd 12 84 Ebd 13 ndash An anderer Stelle betont Prochorov den Gegensatz zwischen den abstrakten

bdquoausgedachtenldquo philosophischen Konstruktionen des europaumlischen Idealismus und der ganzheitlichen kontemplativ-spekulativen Welterfahrung der griechisch-byzantinischen Philosophie Prochorov bdquoĖtničeskaja integracijaldquo 90f An Florenskijs Renaissance-Kritik (etwa in Ikonostas 1922) erinnert auch Prochorovs Verweis auf den euklidischen Raum und den Perspektivismus der humanistischen Weltwahrnehmung mit seiner Illusion der Unendlichkeit Prochorov bdquoIsichazmldquo 94

85 Apollon Kuzmin bdquoCerkovʼ i svetskaja vlastʼ v ėpochu Kulikovskoj bitvyldquo in Voprosy naučnogo ateizma 37 (1988) 90ndash99

86 Gennadij Litavrin bdquoVizantija v period graždanskoj vojny i dviženija Zilotov (1341ndash1355 gg)ldquo in Sergej Skazkin (Hg) Istorija Vizantii Bd 3 Moskva 1967 135ndash160 hier 158

87 Michail Sjuzjumov bdquoFilosofija i bogoslovieldquo in ebd 234ndash256 hier 248f 88 Valerij Lepachin bdquoUmnoe delanie (o soderžanie i granicach ponjatija sbquoisichazmlsquo)ldquo in

Vestnik Russkogo Christianskogo Dviženija 164 1992 5ndash32 hier 23

26 Michael Hagemeister

bdquopolitischer Hesychasmusldquo bdquokonzeptuelles Unkraut [sornjak] das man so schnell wie moumlglich ausrottenldquo solle89

Fast ein halbes Jahrhundert nach ihrer ersten Veroumlffentlichung wurde Pro-chorovs Konzept eines bdquopolitischen Hesychasmusldquo von seinem Schuumller Vladimir Petrunin wieder aufgegriffen und aktualisiert In der 2009 erschienenen Monogra-phie bdquoDer politische Hesychasmus und seine Traditionen in der Sozialkonzeption des Moskauer Patriarchatsldquo90 stellt Petrunin das sogenannte bdquoNichtgehorsamkeits-prinzipldquo (princip nepovinovenija) wie es in den von der Moskauer Bischofssyno-de im August 2000 verabschiedeten bdquoGrundlagen der Sozialkonzeption der Rus-sischen Orthodoxen Kircheldquo formuliert worden ist91 in eine Tradition die er bis auf die bdquopolitischen Hesychastenldquo im Byzanz des 14 und 15 Jahrhunderts zu-ruumlckzufuumlhren sucht Immer wieder zieht Petrunin Parallelen zwischen dem spaumlten Byzanz und dem postsowjetischen Russland Hatten die Byzantiner den Hesy-chasmus als Reaktion auf den Humanismus des Westens hervorgebracht so diene heute die Sozialkonzeption der Abwehr des westlichen Saumlkularismus Liberalis-mus und Kapitalismus Damals wie heute stuumlnden der kirchliche Heilsauftrag und die Verteidigung des Glaubens uumlber den Interessen des Staates selbst ndash wie das Beispiel von Byzanz zeige ndash um den Preis seines Untergangs Ebenso wie die byzantinischen Hesychasten den mit dem Westen kollaborierenden Herrschern die Gefolgschaft im Kampf gegen die Osmanen verweigert haumltten da sie die bdquoReinheit ihres Glaubensldquo eher bdquounter einem tuumlrkischen Turban als unter der lateinischen Tiaraldquo gewahrt sahen92 rufe die Sozialkonzeption die Kirche heute dazu auf der Staatsmacht den Gehorsam zu verweigern sollte diese bdquodie ortho-doxen Glaumlubigen zum Abfall von Christus und Seiner Kirche sowie zu suumlndhaften

89 Viktor Živov bdquoVidenija sveta i problemy russkogo srednevekovogo isichazmaldquo in Lidov

(Hg) Ierotopija 350ndash367 hier 363 359 90 Vladimir Petrunin Političeskij isichazm i ego tradicii v socialʼnoj koncepcii Moskovskogo

Patriarchata Sankt-Peterburg 2009 91 Osnovy socialrsquonoj koncepcii Russkoj Pravoslavnoj Cerkvi III5 lthttpwwwpatriarchia

rudbtext141422htmlgt Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo wird von den meisten Inter-preten als ein bemerkenswertes Umdenken in der Kirchenpolitik angesehen hatte doch die Russische Orthodoxe Kirche unter Patriarch Sergij in einer prekaumlren Lage 1927 Loyalitaumlt gegenuumlber dem Sowjetstaat gefordert Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo war auch eine wichtige Voraussetzung fuumlr die Vereinigung der Auslandskirche mit dem Moskauer Pa-triarchat Zur Sozialkonzeption insgesamt Vasilios N Makrides bdquoDie politische Aufgabe der Kirche Bemerkungen anhand der Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kir-cheldquo in Irene DingelChristiane Tietz (Hgg) Die politische Aufgabe von Religion Per-spektiven der drei monotheistischen Religionen Goumlttingen 2011 219ndash243

92 Petrunin Političeskij isichazm 66f 120 Es handelt sich um eine zeitgenoumlssische Losung Siehe Halina Evert-Kappesowa bdquoLa tiare ou le turbanldquo in Byzantinoslavica 14 (1953) 245ndash257 ndash Auch Aleksandr Nevskij (1220ndash1263) zog eine Verstaumlndigung mit den Mongo-len einer Union mit Rom vor die ihm Papst Innozenz IV im Jahr 1248 angeboten hatte und wandte sich stattdessen gegen die bdquoLateinerldquo Heutige Anti-Westler feiern den Heili-gen der Russischen Orthodoxen Kirche deshalb auch als bdquoersten Eurasierldquo

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 27

und der Seele abtraumlglichen Taten noumltigenldquo93 Die Sozialkonzeption hat fuumlr Petru-nin nur einen moumlglichen Sinn Falls Russlands politische Elite sich weiterhin dem liberalen Wertekanon des Westens verschreibe und Russlands bdquoEigenartldquo (samo-bytnostʼ) als bdquoorthodoxe Zivilisationldquo bestreite94 muumlsse die Kirche ndash wie einst in Byzanz ndash dem Staat die Loyalitaumlt aufkuumlndigen und das Volk zum Widerstand auf-rufen

Es ist ganz offensichtlich dass die Prozesse der Globalisierung und Saumlkularisierung eng miteinander verbunden sind So wie einst die byzantinischen Hesychasten ist heute die Russische Kirche mit der westlichen Zivilisation konfrontiert die nach der Weltherrschaft trachtet war fruumlher der Katholizismus deren Grundlage so ist es jetzt der saumlkulare Humanismus [hellip] Waumlhrend sie [die westliche Welt MH] damals fuumlr die Hesychasten mit Rom gleichgesetzt wurde so verkoumlrpert heute das kosmopolitische New York den Westen Indem sie Liberalismus und Saumlkularisie-rung abwehrt tritt die Kirche auch gegen die politischen und wirtschaftlichen Hegemoniebestrebungen des Westens auf und stellt so ihr Bestreben unter Beweis die zivilisatorische Eigenstaumlndigkeit Russlands wieder herzustellen Wie schon vor 600 Jahren im Byzantinischen Imperium so ist auch heute in Russland allein die Kirche ein ernstzunehmender und gut organisierter Gegner des Westens und seiner saumlkularen Werte [hellip] Sollte Russland weiter den Weg der Saumlkularisierung be-schreiten so koumlnnte damit fuumlr die Kirche der gefaumlhrliche Praumlzedenzfall geschaffen werden in dem sie von ihrem Recht Gebrauch machen muumlsste das Volk zu zivilem Ungehorsam aufzurufen95

In seinem Vorwort nannte Prochorov das Buch seines Schuumllers eine bdquoWarnung an unseren Staat unsere saumlkulare Gesellschaft an uns alleldquo96 Wie das spaumlte Byzanz unter dem bdquoDruck aus dem Westenldquo gestanden habe ndash dem die Herrscher und die bdquoHumanistenldquo schlieszliglich nachgegeben haumltten ndash so laufe auch das postkommu-nistische Russland Gefahr dem bdquoDruck des Liberalismus und der Globalisierungldquo nachzugeben Allein die Orthodoxe Kirche habe sich damals wie heute als bdquoFes-tungldquo erwiesen faumlhig diesem bdquozersetzenden Einflussldquo Widerstand zu leisten97

Petrunins Buch das mit dem Segen von Metropolit Ilarion (Grigorij Al-feev)98 erschienen war stieszlig bei westlichen Forschern auf Skepsis und Ableh-nung So kritisierte Kristina Stoumlckl die unhistorische Interpretation und forcierte Aktualisierung der philosophischen theologischen und politischen Kontroversen des 14 Jahrhunderts sowie die einseitige konservative Interpretation der Sozial-konzeption Hesychasmus werde in dem Kirchendokument ebenso wenig erwaumlhnt

93 Osnovy socialrsquonoj koncepcii 94 Petrunin Političeskij isichazm 81 95 Ebd 122f 96 Ebd 5 97 Ebd 98 Zu jener Zeit Bischof von Wien und Oumlsterreich heute Leiter des Auszligenamtes des Moskau-

er Patriarchats und scharfer Kritiker des bdquomilitanten Saumlkularismusldquo des Westens Siehe auch lthttpazbykaruxristianstvo-pered-vyzovom-voinstvuyushhego-sekulyariz ma-2gt

28 Michael Hagemeister

wie der Untergang von Byzanz99 Klaus Buchenau warf Petrunin vor er bdquoverfor-m[e] und ideologisier[e] die urspruumlnglichen Motive des hesychastischen Moumlnch-tums bis zur Unkenntlichkeitldquo100 Und Viktor Živov der bereits Prochorovs Kon-zept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo als bdquoUnkrautldquo bezeichnet hatte sah in Petru-nins Buch ein Beispiel dafuumlr wie dieses sich bdquospontan und schaumldlichldquo ausbreite Die von Petrunin konstruierte bdquophantastische Genealogie des politischen Hesy-chasmusldquo beruhe so Živov auf einer bdquoMischung aus Einseitigkeit und Unwissen-heitldquo Weder sei der bdquotuumlrkische Turbanldquo fuumlr den Patriarchen attraktiv gewesen noch sei am Widerstand gegen die Union irgendetwas spezifisch bdquoHesychasti-schesldquo Petrunin habe ein bdquoPhantomldquo geschaffen dessen angebliche Verbindung mit der Sozialkonzeption man nicht weiter zu verfolgen brauche101

bdquoNeobyzantismusldquo Das Dritte Rom ndash der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo

Eine eigenwillige Interpretation des Hesychasmus und seine Wendung gegen den Westen stammen von Aleksandr Dugin dem Fuumlhrer der bdquoeurasischenldquo Bewegung und einflussreichsten Vordenker der Neuen Rechten in Russland Der polyglotte und belesene Autodidakt der nie eine akademische Ausbildung genossen hat war Gruumlnder der Partei der Nationalbolschewisten Berater des Vorsitzenden der Du-ma und des Generalstabs sowie von 2008 bis 2014 Professor fuumlr Soziologie an der renommierten Moskauer Lomonosov-Universitaumlt und Direktor des dortigen bdquoZentrums fuumlr Konservatismusstudienldquo Seit Anfang der 1990er Jahre verbreitet er mit graphomanem Eifer seine politischen und bdquometaphysischenldquo Botschaften in einer inzwischen kaum noch uumlberschaubaren Zahl von Publikationen102 und Web-Artikeln in mehreren Sprachen sowie durch spektakulaumlre Auftritte in staats-nahen Medien103 99 Kristina Stoumlckl bdquoPolitical Hesychasm Vladimir Petruninrsquos Neo-Byzantine Interpretation

of the Social Doctrine of the Russian Orthodox Churchldquo in Studies in East European Thought 62 (2010) 125ndash133

100 Klaus Buchenau Auf russischen Spuren Orthodoxe Antiwestler in Serbien 1850ndash1945 Wiesbaden 2011 480 Anm 2

101 Živov bdquoVidenija svetaldquo 364f ndash Von der Kritik offenbar unbeeindruckt verschaumlrfte Petru-nin noch seine Position So sprach er 2012 in einem Vortrag uumlber die gesellschaftliche und politische Wirkung der hesychastischen Gebetspraxis Nach dem Fall von Byzanz sei das bdquoJesusgebet faktisch zu einem sbquopolitischen Gebetlsquoldquo geworden das auf die bdquoVerwandlung [preobraženie] der orthodoxen Oumlkumeneldquo ausgerichtet gewesen sei und das bdquoPhaumlnomen der Heiligen Rusrsquoldquo hervorgebracht habe lthttpsynergia-isarup=8604gt

102 Zuletzt in der bislang fuumlnf Baumlnde umfassenden Reihe bdquoNoomachijaldquo (2014ndash2015) einer hochambitioumlsen letztlich aber manichaumlisch-schematischen Beschreibung der bdquoSuche nach dem Logosldquo in den ndash von Dugin essenzialistisch aufgefassten ndash bdquoWeltkulturenldquo

103 Auch die Literatur zu Dugin ist kaum noch uumlberschaubar Siehe zB Alexander Houmlllwerth Das sakrale eurasische Imperium des Aleksandr Dugin Eine Diskursanalyse zum post-sowjetischen russischen Rechtsextremismus Stuttgart 2007 Stefan Wiederkehr Die eurasische Bewegung Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwi-schenkriegszeit und im postsowjetischen Russland Koumlln [ua] 2007 227ndash261 Anton

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 29

Dugin deutet den Hesychasmus im Rahmen des sogenannten bdquointegralen Traditionalismusldquo einer antimodernen Denkrichtung die im ersten Drittel des 20 Jahrhunderts in Frankreich und Italien entstand und in Reneacute Gueacutenon (1886ndash1951) und Julius Evola (1898ndash1974) ihre bekanntesten (und auch fuumlr Dugin wichtigsten) Vertreter hat104 Ihre Lehre besagt dass alle Religionen ungeachtet ihrer histori-schen und regionalen Auspraumlgungen in ihrem esoterischen nur dem Eingeweih-ten zugaumlnglichen Kern eine gemeinsame urspruumlngliche Wahrheit teilen und als philosophia perennis tradieren das Wissen um die Goumlttlichkeit und den Zugang zu ihr Dieses sakrale und initiatorische Wissen sei im Verlauf der westlichen Mo-derne insbesondere durch die Aufklaumlrung verlorengegangen in traditionellen Gesellschaften (China Indien islamische Welt) jedoch bewahrt geblieben105

Auch die Orthodoxie so Dugin habe im Gegensatz zu Katholizismus und Protestantismus bdquodie Treue zum esoterischen Kernldquo bewahrt naumlmlich in ihrer mystischen Unterstroumlmung dem Hesychasmus106 In der Kanonisierung des Gre-gorios Palamas durch die Ostkirche bei gleichzeitiger Verdammung des Humanis-ten Barlaam sieht Dugin das Bekenntnis zum bdquognostisch-realistischen Geist der orthodoxen Esoterikldquo Ganz im Sinn des Traditionalismus deutet er die psycho-physische Uumlbung der Hesychasten das bdquogeistige Tunldquo als Verfahren der bdquoInitia-tionldquo und das Endziel der bdquoVerklaumlrungldquo und bdquoVergoumlttlichungldquo als bdquoalchemistische Verwandlung des Leibesldquo (alchimičeskoe preobraženie tela) Dadurch wuumlrden der bdquoDualismus von Geist und Materie Leib und Seeleldquo sowie die bdquoGrenzen der Individualitaumltldquo ndash charakteristisch fuumlr den bdquorein exoterischen Mystizismusldquo des Westens ndash aufgehoben107 Die bdquoTradition der hesychastischen Esoterikldquo sei die

Shekhovtsov bdquoThe Palingenetic Thrust of Russian Neo-Eurasianism Ideas of Rebirth in Aleksandr Duginrsquos Worldviewldquo in Totalitarian Movements and Political Religions 9 (2008) 491ndash506 Mark Sedgwick bdquoOccult Dissident Culture The Case of Aleksandr Du-ginldquo in Birgit Menzel [ua] (Hgg) The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimen-sions MuumlnchenBerlin 2012 273ndash292 Schmid Technologien der Seele 210ndash220

104 Aleksandr Dugin Filosofija tradicionalizma Moskva 2002 Zum Traditionalismus siehe das Standardwerk von Mark Sedgwick Against the Modern World Traditionalism and the Secret Intellectual History of the Twentieth Century OxfordNew York 2004 zu Dugin 221ndash237 Vgl auch Christopher DL Johnson The Globalization of the Jesus Prayer Con-testing Contemplation London New York 2010 70ndash73

105 Aumlhnliche Gedanken entwickelte Pavel Florenskij bereits 19081909 in seinem Vortrag bdquoObščečelovečeskie korni idealizmaldquo in dem er die bdquoEsoterikldquo der Philosophie Platons und seiner Nachfolger in der bdquoallgemeinmenschlichenldquo mystisch-magischen Weltauffas-sung der bdquoVolksseeleldquo wurzeln laumlsst

106 Das Folgende nach Aleksandr Dugin bdquoOboženie preestestvennejšeeldquo in Milyj angel 1 1991 56ndash59

107 Das Konzept der bdquoInitiationldquo und die Unterscheidung von bdquoesoterischldquo und bdquoexoterischldquo sind zentral fuumlr die Anhaumlnger des Traditionalismus siehe Sedgwick Against the Modern World 265 ndash Als Mitglied des okkultistischen und faschistischen Južinskij-Kreises machte Dugin in Moskaus bdquomystischem Untergrundldquo in den 1980er Jahren selbst Entgrenzugser-fahrungen mit Hilfe sexualmagischer Praktiken und bewusstseinserweiternder Drogen Bei einem Teil der orthodoxen Glaumlubigen stoumlszligt seine Esoterik denn auch auf Misstrauen und

30 Michael Hagemeister

bdquoSeele der russischen Orthodoxieldquo und habe in Serafim von Sarov ihren bdquoletzten leuchtendsten Vertreterldquo gefunden

Der Hesychasmus gehoumlre zum traditionellen Erbe von Byzanz das Russ-land angetreten habe als es zum Dritten Rom und zum Zentrum der orthodoxen Welt geworden sei bdquoWir sindldquo so Dugin bdquobyzantinisch in unserer Seele unseren Wurzeln und in unserer Identitaumltldquo108

Unser stabilstes Fundament ist Byzanz [hellip] Russland ist Byzanz [hellip] Unsere For-mel lautet Der Westen ist das Boumlse Byzanz das Gute Alles Schlechte das uumlber Byzanz geschrieben wurde ist eine Luumlge Das sind lediglich Winkelzuumlge im ideolo-gischen Kampf von Seiten des Westens [hellip] Jeder Russe muss wissen Byzanz ist das reine Gute Jeder der etwas anderes behauptet ist ein Feind [hellip] Wer Byzanz kritisiert ist ein Feind des russischen Volkes Das muss unser ehernes Prinzip sein [hellip] Byzanz ist der absolute Orientierungspunkt des russischen Projekts109

Damit sind Russlands Ort und Mission in der bdquohistoriosophischenldquo Deutung des Weltgeschehens bestimmt Nach Dugin wird die Geschichte der Menschheit be-herrscht vom bdquookkulten planetarischen Ringenldquo zweier antagonistischer Maumlchte dem bdquogroszligen Krieg der Kontinenteldquo Land gegen Meer Behemoth gegen Levia-than die organischen bodenstaumlndigen und traditionalistischen bdquoTellurokratienldquo des eurasischen Ostens gegen die wurzel- und seelenlosen materialistischen bdquoTha-lassokratienldquo des angloamerikanischen Westens das apokalyptische Tier aus dem Meer (Offb 13 1-10)110 Die USA als bdquoQuintessenz des Westensldquo und New York als moderne Hure Babylon (Offb 17 und 18) sind das Reich des Antichrist eine chimaumlrisch-antiorganische transplantierte Zivilisation die keine sakrale Tradi-tion besitze ihre Selbsterhebung zu bdquoGottes neuem Israelldquo und bdquoNeuem Zionldquo ndash gemaumlszlig der anglo-amerikanischen Interpretation der Substitutionslehre ndash deutet Dugin als besonders perfiden Taumluschungsversuch des bdquowestlichen Antichristldquo Das Jahr der Entdeckung Amerikas (1492 ist nach der altrussisch-byzantinischen

offene Ablehnung Fuumlr den Sektenexperten des Moskauer Patriarchats ist Dugin ein bdquoge-faumlhrlicher Feindldquo der die bdquoOrthodoxie in Kabbalistik umzuschmelzenldquo versuche Andrej Kuraev Cerkovrsquo v mire ljudej Moskva 2006 142

108 Aleksandr Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Tradition Duginrsquos Guidelineldquo lthttpswwwyoutubecomwatchv=m0RIa61eZDggt

109 Aleksandr Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo in ders Russkaja Veščrsquo Očerki nacionalrsquonoj filosofii Bd 1 Moskva 2001 69ndash76 hier 70ndash72 (Hervorhebungen im Original) Der Be-griff bdquoByzantismusldquo (vizantizm) ndash im Unterschied zum negativ konnotierten bdquoByzantinis-musldquo ndash als Bezeichnung eines dem europaumlischen entgegengesetzten Kulturtypus der auf den Prinzipien von Orthodoxie und Selbstherrschaft beruht geht auf den konservativen Philosophen Konstantin Leontrsquoev (1831ndash1891) und sein Buch Vizantizm i slavjanstvo (1875) zuruumlck

110 Auch fuumlr den von Dugin verehrten Heidegger waren die Seemaumlchte Groszligbritannien und Amerika nicht Teil der abendlaumlndischen Tradition sondern im Gegensatz zum restlichen Europa wurzellos und sinnleer Der Antagonismus von Land und Meer die kategorische Unterscheidung von Freund und Feind sowie das Konzept des Katechon gehen auf Carl Schmitt zuruumlck als dessen Schuumller Dugin sich bezeichnet Siehe auch Fn 41

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 31

Weltaumlra das Jahr 7000 nach dem chiliadischen Weltwochenschema also der sieb-te Tag der Schoumlpfung) verweise ebenso auf den Endzeitcharakter der bdquoNeuen Weltldquo wie die bdquosakrale Geographieldquo nach der das Paradies im Osten die Houmllle aber das bdquoLand des Todesldquo im Westen zu suchen seien111

Dem Antichrist entgegen stehe seit jeher der Katechon dessen bdquoletzter Hortldquo bis ans Ende der Zeit die Heilige Rusrsquo das Dritte Rom sei112 In der petrini-schen Epoche als die Hauptstadt in die bdquonoumlrdlichen Suumlmpfeldquo in die bdquoGespenster-stadtldquo Petersburg verlegt und das Patriarchat abgeschafft wurde haumltten allein die Altglaumlubigen den Geist von Byzanz den Katechon bewahrt zweihundert Jahre lang sei der Weg frei gewesen fuumlr das zerstoumlrerische Wirken des Antichrist Erst die sowjetische Periode habe eine bdquomystische Ruumlckkehr zum Byzantismusldquo be-deutet indem die Bolschewiki das heilige Moskau wieder zur Hauptstadt erklaumlr-ten das Patriarchat wiederherstellten die Ausbeuter als Klasse vernichteten und dem Westen auf allen Gebieten Widerstand boten Im bdquoroten Byzantismusldquo der Dritten Internationale sei der Katechon zuruumlckgekehrt113

Um seine Mission zur Erloumlsung der Menschheit auch kuumlnftig zu erfuumlllen muumlsse das Dritte Rom nach dem Zerfall der Sowjetunion114 nunmehr ein groszligkon-tinentales sakral fundiertes bdquoEurasisches Imperiumldquo errichten gegen den Erz-feind die materialistische universalistische alles nivellierende Zivilisation des Westens als der Verkoumlrperung des bdquoweltweiten Boumlsenldquo (mirovoe zlo) gegen Libe-ralismus Individualismus Globalismus Egalitarismus sowie die bdquomondialisti-scheldquo Konzeption der Menschenrechte115 Verbuumlndete im bevorstehenden apoka-lyptischen bdquoEndkampfldquo (von Dugin stets deutsch geschrieben) werden all jene sein die den Bezug zum bdquoSakralenldquo noch nicht verloren haben russische Altglaumlu-bige ultraorthodoxe antizionistische Juden europaumlische Traditionalisten sowie jene bdquoanti-atlantischenldquo islamistischen Fundamentalisten die in den USA den Dajjacircl den falschen Messias und Antichrist erkennen gegen den die Retter-gestalt des Mahdicirc zu Felde ziehen wird116 111 Aleksandr Dugin Absoljutnaja Rodina Puti Absoljuta Metafizika Blagoj Vesti Misterii

Evrazii Moskva 1999 645ndash670 112 Ebd 378ndash395 493ndash521 113 Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo 74ndash76 Siehe auch ders bdquoKatechon i revoljucijaldquo in ders

Tampliery proletariata Nacional-bolrsquoševizm i iniciacija Moskva 1997 52ndash59 ndash Die mes-sianische Identifizierung des Dritten Rom mit der Dritten Internationale reicht bis ins Gruumlndungsjahr der Komintern (1919) zuruumlck Beide so der slawophile Philosoph und An-haumlnger des imjaslavie Valerian Muravrsquoev (1885ndash1930) in einem Brief vom 6 Januar 1920 an Lev Trockij seien Ausdruck der Suche des russischen Volkes und der Intelligencija nach einem Reich der Wahrheit und Gerechtigkeit Valerian Muravrsquoev Sočinenija Bd 2 Moskva 2011 352f Weitere Belege bei Emanuel Sarkisyanz Russland und der Messianis-mus des Orients Tuumlbingen 1955 196 Mikhail Agursky Third Rome National Bolshevism in the USSR Boulder Co 1987

114 Damals sah ein Journalist bdquoauf den Ruinen des Imperiumsldquo das Dritte Rom in Gefahr zu einem Land der Dritten Welt zu werden Andrej Fadin bdquoTretij Rim v tretrsquoem mire Razmy-šlenija na ruinach imperiildquo in Nezavisimaja gazeta 1291991

115 [Aleksandr Dugin] bdquoLibo-my libo-ničtoldquo in Ėlementy 8 19961997 1ndash4 hier 2 116 [Aleksandr Dugin] bdquoIdeologija Mirovogo Pravitelrsquostvaldquo in Ėlementy 2 1992 1f

32 Michael Hagemeister

Das Dritte Rom als Zentrum des eurasischen bdquoEuro-Sowjetischen Imperiumsldquo Titelbild der von Aleksandr Dugin herausgegebenen Zeitschrift bdquoElemente Eurasische Rundschauldquo (1992) Dugins Werk mit seiner provokanten Mischung esoterischer antimoderner und antiwestlicher Motive findet besonders unter jungen Intellektuellen Anklang und Nachahmer so etwa bei dem promovierten Philosophen und selbstproklamierten bdquoorthodoxen Metaphysikerldquo Arkadij Maler einem vehementen Propagandisten einer bdquopolitischen Orthodoxieldquo (političeskoe Pravoslavie) und fuumlhrenden Ideolo-gen der bdquoneobyzantinischenldquo Doktrin Obwohl sich Maler von Dugin distan-ziert117 beschwoumlrt auch er die eschatologische bdquogeistige Mission des Dritten Romldquo die es von Byzanz geerbt habe und die in seiner bdquozentralen katechontischen Rolleldquo bestehe dem Kampf gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo des bdquogottlosen Wes-tensldquo118 Russische Politik koumlnne deshalb nicht anders als imperial sein und muumlsse ihren Einfluss auf den gesamten Planeten ausdehnen Wie Dugin sieht auch Maler die Bolschewiki in dieser Tradition als sie Moskau zur Hauptstadt des bdquoRoten

117 In den spaumlten 1990er Jahren gehoumlrte Maler der vaumlterlicherseits juumldischer Abstammung ist

zusammen mit Dugin und Ėduard Limonov zur Fuumlhrungsriege der Nationalbolschewisti-schen Partei und schrieb fuumlr die Parteizeitung Limonka sich selbst charakterisierte er als bdquorotbraunen Zionistenldquo Nach seiner Konversion zur Orthodoxie trennte er sich 1999 von Dugin und kritisierte dessen esoterischen Traditionalismus aus einer ultraorthodoxen Posi-tion Dugin wiederum warf Maler vor ihn zu plagiieren

118 Arkadij Maler Duchovnaja missija Tretrsquoego Rima Moskva 2005 bes 134ndash136 170ndash206 Siehe auch ders bdquoIdeologija Vizantizmaldquo in Severnij Katechon 1 (2005) 7ndash49 bdquoNeovi-zantizm kak novyj bolrsquošoj stilrsquoldquo in Aleksej Nilogov (Hg) Kto segodnja delaet filosofiju v Rossii Moskva 2007 110ndash124

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 33

Imperiumsldquo machten und dieses zur bdquoabsoluten Antithese des Westensldquo erklaumlrten zum bdquoTraumlger der planetarischen Mission der Befreiung der Welt aus den sbquoFesseln des Kapitalslsquoldquo119 Das Dritte Rom sei zeitweise in die Dritte Internationale trans-formiert worden ohne jedoch seine Mission als Katechon als aufhaltende Macht gegen das Reich des Boumlsen und Ausgangspunkt zur Errettung der Welt aufzuge-ben Die bdquoletzte Etappeldquo im Kampf gegen den Antichrist werde so Maler der bdquoeschatologische Krieg des Dritten Rom gegen das Dritte Karthagoldquo den bdquoAnti-katechonldquo sein die bdquoanglo-amerikanische [] atlantische Zivilisationldquo120 Zur Propagierung der katechontischen Mission Russlands gruumlndete Maler 1999 am Institut fuumlr Philosophie der Akademie der Wissenschaften in Moskau einen bdquoBy-zantistischen Klub Katechonldquo (Vizantistskij Klub Katechon) und 2005 das bdquoPhi-losophisch-politische Zentrum sbquoNoumlrdlicher Katechonlsquoldquo das einen gleichnamigen Almanach (Severnyj Katechon) herausgibt121

Apokalyptischer Ausblick

Die Formel vom Dritten Rom und die Figur des Katechon des Aufhalters des bdquoweltweiten Boumlsenldquo sind zu Markenzeichen russischer Anti-Westler und Ver-schwoumlrungstheoretiker und ihres schrillen Szenariums eines globalen apokalyp-tischen bdquoEndkampfesldquo gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo geworden122 Unter dem Titel bdquoDie russische Doktrin Die Staatsideologie der Epoche Putinsldquo verfasste in den Jahren 2005 und 2006 ein Kollektiv nationalpatriotischer Autoren ndash unter ih-nen der bdquoByzantistldquo Arkadij Maler ndash ein uumlber 1000 Seiten langes ultrakonservati-ves und antiwestliches Manifest das auch die Unterstuumltzung hoher kirchlicher Wuumlrdentraumlger fand123 In ihrem Entwurf einer bdquoorganischen weltanschaulichen Plattformldquo fuumlr das kuumlnftige Russland behandeln die Autoren ausfuumlhrlich die bdquohis-toriosophischeldquo Konzeption vom Dritten Rom und seine Mission als Katechon gegen das bdquoHeidentumldquo des Westens124 Gefordert wird die positive Identifikation

119 Maler Duchovnaja missija 182f 185 120 Ebd 177 ndash Als Mittel im ideologischen Kampf gegen den saumlkularen Westen fordert Maler

in Analogie zur katholischen Gegenreformation eine orthodoxe konservative bdquoGegenauf-klaumlrungldquo (Kontrprosveščenie) lthttpwwwkatehonruhtmltoppolitologiaideaotkritije _polit_pravoslavijahtmgt

121 Siehe die Website lthttpwwwkatehonrugt 122 Siehe zB Galina A Morozova Tretij Rim protiv novogo mirovogo porjadka Moskva

2009 Die Formel von Dritten Rom hat laumlngst auch Schriftsteller und Maler inspiriert und scheint auch werbewirksam zu sein bdquoDrittes Romldquo nennt sich ein Verlag ein Videospiel eine Bank ein Reisebuumlro und sogar ein Kasino in Jalta Ein Schoumlnheitswettbewerb in Mos-kau vergibt alljaumlhrlich den Titel einer bdquoMiss Drittes Romldquo Judith E Kalb Russiarsquos Rome Imperial Visions Messianic Dreams 1890ndash1940 Madison Wisconsin 2008 198f Zum Katechon siehe Maria Engstroumlm bdquoContemporary Russian Messianism and New Russian Foreign Policyldquo in Contemporary Security Policy 35 (2014) 3 356ndash379

123 Russkaja doktrina Gosudarstvennaja ideologija ėpochi Putina Moskva 2016 124 Ebd 68ndash72 116ndash120 und passim

34 Michael Hagemeister

mit der Geschichte Russlands und seinen Lichtgestalten dem Heiligen Serafim von Sarov dem bdquoeschatologischen Fuumlhrer des russischen Volkes am Ende der Zeitenldquo der bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo und Stalin der dem paulinischen Kate-chon gleich die bdquoGesetzlosigkeitldquo (bezzakonie) bekaumlmpft und das bdquoFundament fuumlr eine groszlige Zukunftldquo gelegt habe125

bdquoKatechonldquo nennt sich auch ein prominent besetzter Think tank den der Oligarch und Berater Putins Konstantin Malofeev im Jahr 2015 gegruumlndet hat126 Der Milliardaumlr der sein Vermoumlgen mit einer Investmentfirma auf den Cayman Inseln gemacht hat bezeichnet sich selbst als bdquoorthodoxen Monarchistenldquo127 Er unterstuumltzt die Separatisten in der Ostukraine und unterhaumllt vielfaumlltige Verbindun-gen zu europaumlischen Rechtspopulisten wie dem Front National der FPOuml Syriza und der Lega Nord Neben dem Forum bdquoKatechonldquo betreibt Malofeev auch einen Fernsehsender mit dem programmatischen Namen bdquoZargradldquo128 (Motto bdquoDas Licht Christi erleuchtet alleldquo) dessen Chefkommentator niemand anderes ist als Aleksandr Dugin129

bdquoKatechonldquo und bdquoZargradldquo propagieren den Kampf gegen die westliche Moderne mit Bezug auf das byzantinische Erbe Russlands Im November 2014 fand in der Moskauer Manege eine Konferenz bdquoMoskau ndash das Dritte Romldquo statt130 An ihr nahmen auszliger Dugin und Malofeev auch Archimandrit Tichon und Nata-lrsquoja Naročnickaja teil eine hochrangige Diplomatin Mitglied des Izborsker Klubs und Leiterin des Pariser bdquoInstituts fuumlr Demokratie und Kooperationldquo das die oumlf-fentliche Meinung im Westen im Sinne des Kremls beeinflussen soll Tichons Film bdquoDie Lehre von Byzanzldquo sei so Naročnickaja auch eine Warnung an den Westen der seine christlichen Werte verraten habe weshalb er den glaubens-festen Migranten und ihrer Verachtung hilflos ausgeliefert sei131

Im Oktober 2009 wurde Tichons Film in Athen vor ausverkauftem Saal aufgefuumlhrt Unter denen die dem Drehbuchautor Beifall spendeten war der Philo-soph und Theologe Christos Yannaras einer der Hauptvertreter der Neoorthodo-xie und scharfer Kritiker des Westens Wie ihre russischen Gesinnungsgenossen

125 Ebd 130f 153 142ndash145 126 Mit einem Auftritt im Internet in 9 Sprachen Siehe die deutsche Version unter lthttp

katehoncomdewer-sind-wirgt 127 lthttpsdewikipediaorgwikiKonstantin_Walerjewitsch_Malofejewgt 128 Carrsquograd ist der altrussische Name fuumlr Konstantinopel 129 Auch Dugin unterhaumllt seit mehr als 25 Jahren Kontakte zu ultrakonservativen traditiona-

listischen und faschistischen Gesinnungsgenossen in Westeuropa Siehe Vladimir Ivanov Alexander Dugin und die rechtsextremen Netzwerke Fakten und Hypothesen zu den inter-nationalen Verflechtungen der russischen Neuen Rechten Stuttgart 2007

130 lthttpwwwpravoslavieru75070htmlgt 131 lthttpwwwpravoslavieru7414htmlgt ndash Fuumlr Metropolit Ilarion (Alfeev) der sich dabei

auf Dugin beruft verwandeln sich die Laumlnder Westeuropas bereits in die bdquoSphaumlre des Anti-christldquo lthttpwwwpatriarchiarudbtext3065216htmlgt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 35

verherrlichen auch die griechischen Neoorthodoxen die byzantinische Vergan-genheit und sehen in der modernen saumlkularen Gesellschaft eine Bedrohung ihrer kulturellen Identitaumlt132 Gemeinsam suchen sie der Globalisierung mit einer bdquoby-zantinischen Internationaleldquo als bdquoorthodoxer Oumlkumeneldquo entgegenzuwirken einer letztlich sakral verstandenen Gemeinschaft deren Einfluss indes weit uumlber die kirchliche Sphaumlre hinausreichen und eine transnationale Vereinigung der ortho-doxen Welt von Serbien uumlber Syrien bis Georgien und Armenien unter Fuumlhrung Moskaus schaffen soll133 Als wichtiger symbolischer Schritt auf diesem Weg wurde der Besuch von Praumlsident Putin und Patriarch Kirill des Heiligen Berges Athos einer traditionellen Hochburg antiwestlicher Opposition im Mai 2016 ge-feiert Das weltliche und das geistliche Oberhaupt Russlands ndash die bdquoSymphonia der Maumlchteldquo ndash zeigten damit so Aleksandr Dugin ihr Bekenntnis zu Byzanz und seiner Rolle als Katechon Damit anerkenne bdquounsere Rusrsquo ihre historische Bestim-mung Wir sind bereit fuumlr die Endzeitldquo134

132 Ausfuumlhrlich dazu Daniel P Payne The Revival of Political Hesychasm in Contemporary

Orthodox Thought The Political Hesychasm of John Romanides and Christos Yannaras Lanham [ua] 2011 Siehe auch Vasilios N Makrides bdquoByzantium in Contemporary Greece The Neo-Orthodox Current of Ideasldquo in David RicksPaul Magdalino (Hgg) Byzantium and the Modern Greek Identity Aldershot 1998 141ndash153 Zum griechischen Neobyzantismus unter russischem Einfluss Aleksey Kamenskikh bdquoThe Image of the Second Rome through the Prism of the Thirdrdquo in Teresa Obolevich [ua] (Hgg) Russian Thought in Europe Reception Polemics Development Krakoacutew 2013 13ndash22 ndash Antimo-derne und antiwestliche Stroumlmungen in den vom orthodoxen Christentum gepraumlgten Kultu-ren haben der Religionswissenschaftler Makrides und der Slavist Uffelmann vor einigen Jahren als Desiderat der Forschung benannt Vasilios N MakridesDirk Uffelmann bdquoStudying Eastern Orthodox Anti-Westernism The Need for a Comparative Research Agendaldquo in Jonathan SuttonWil van den Bercken (Hgg) Orthodox Christianity and Contemporary Europe Leuven [ua] 2003 87ndash120 Seitdem haben Makrides und die Politikwissenschaftlerin Stoumlckl eine Reihe einschlaumlgiger Arbeiten vorgelegt in denen or-thodoxe Alternativen zu westlichen philosophischen und politischen Konzepten untersucht werden Vasilios N Makrides bdquoOrthodoxes Cristentum und Moderne ndash Inkompatibilitaumlt oder langfristige Anpassungldquo in Una Sancta 2011 1 15ndash30 ders bdquoOumlstliches orthodo-xes Christentum und Saumlkularitaumlt Ein Vergleich mit dem lateinischen Christentumldquo in Transit 47 (2015) 59ndash75 Kristina Stoumlckl bdquoModernity and its Critique in Twentieth Cen-tury Russian Orthodox Thoughtldquo in Studies in East European Thought 58 (2006) 243ndash269 dies Community after Totalitarianism The Russian Orthodox Intellectual Tradition and the Philosophical Discourse of Political Modernity Frankfurt aM [ua] 2008

133 Dazu gehoumlrt auch die Verwirklichung des jahrhundertealten Traums der Wiedererrichtung des Kreuzes auf der Hagia Sophia Siehe Egor Cholmogorov Russkij proekt restavracija buduščego Moskva 2005 283 Der Verfasser Mitglied des Expertenteams des Izborsker Klubs ist Begruumlnder der Doktrin der bdquoAtomaren Orthodoxieldquo siehe Fn 74

134 Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Traditionldquo

ZUM AUTOR

Michael Hagemeister geb 1951 in EllwangenJagst Studium der Slavistik Ge-schichte Germanistik und Philosophie in Basel und MarburgLahn Promotion mit einer Arbeit uumlber den russischen Philosophen Nikolaj Fedorov Wissenschaft-licher Mitarbeiter am Slawischen Seminar in Marburg Gastprofessor am Seminar fuumlr Komparatistik der Universitaumlt Innsbruck Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lotman-Institut fuumlr russische und sowjetische Kultur der Ruhr-Universitaumlt Bo-chum am Lehrstuhl fuumlr Geschichte Osteuropas der Europa-Universitaumlt Viadrina Frankfurt (Oder) an den Historischen Seminaren der Universitaumlten Basel Duumlssel-dorf und Bochum Vertretung der Professuren fuumlr Geschichte Osteuropas an der Ludwig-Maximilians Universitaumlt Muumlnchen und an der Europa-Universitaumlt Frank-furt (Oder)

Forschungen zur russischen Philosophie und Geistesgeschichte zum utopischen und apokalyptischen Denken in Russland zum russischen Rechtsextremismus und Antisemitismus sowie insbesondere zu den Protokollen der Weisen von Zion und ihrem Herausgeber Sergej Nilus Publikationen ua Die Neue Menschheit Biopolitische Utopien in Russland (hg mit Boris Groys) Frankfurt aM 2005 The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimensions (hg mit Birgit Menzel und Bernice Rosenthal) Muumlnchen 2012 Die Fiktion von der juumldischen Weltver-schwoumlrung Zu Text und Kontext der bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo (hg mit Eva Horn) Goumlttingen 2012 Die bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo vor Gericht Der Berner Prozess und die bdquoantisemitische Internationaleldquo in der Zwischen-kriegszeit Chronik Dokumente und Kommentare Zuumlrich (im Druck)

ERFURTER VORTRAumlGE ZUR KULTURGESCHICHTE DES ORTHODOXEN CHRISTENTUMS Reihenherausgeber Vasilios N Makrides

Heft 1 Thomas Bremer Konfrontation statt Oumlkumene Zur kirchlichen Situation in der Ukraine Erfurt 2001

Heft 2 Gerhard Podskalsky Zur Hermeneutik des theologischen Ost-West-

Gespraumlchs in historischer Perspektive Erfurt 2002 Heft 3 Karl Christian Felmy Warum und zu welchem Behufe treiben wir

Ostkirchenkunde Erfurt 2003 Heft 4 Wassilios Klein bdquoTatarenjoch ndash татарское игоldquo Beobachtungen zur

Wahrnehmung des Islam im eurasischen Raum Erfurt 2005 Heft 5 Stamatios D Gerogiorgakis Zeitphilosophie im Mittelalter Byzantinische

und lateinische Vorstellungen Erfurt 2006 Heft 6 Heinz Ohme Das Oumlkumenische Patriarchat von Konstantinopel und die

tuumlrkische Religionspolitik Erfurt 2007 Heft 7 Alexander Agadjanian Russian Orthodox Vision of Human Rights Recent

Documents and Their Significance Erfurt 2008 Heft 8 Christos Yannaras Wem gehoumlrt die griechische Antike Erfurt 2009 Heft 9 Joachim Willems Religions- und Ethikunterricht in Russland ndash Was

wollen Staat und Kirche Zur Einfuumlhrung des neuen Schulfaches bdquoGrundlagen der religioumlsen Kulturen und der weltlichen Ethikldquo Erfurt 2010

Heft 10 Chris Hann Eastern Christianity and Western Social Theory Erfurt 2011 Heft 11 Jennifer Wasmuth Akademische Theologie im zaristischen Russland in

ihrer Bedeutung fuumlr die neuere orthodoxe Theologie Erfurt 2012 Heft 12 Anna Briskina-Muumlller Auf der Suche nach der bdquoHesychialdquo Paisij

Veličkovskij (1722ndash1794) und sein Leben fuumlr die bdquoPhilokalieldquo Erfurt 2014

Heft 13 Vladimir Cvetković From ldquoMerciful Angelrdquo to ldquoFortress Europerdquo The

Perception of Europe and the West in Contemporary Serbian Orthodoxy Erfurt 2015

Heft 14 Stefan G Reichelt Lebenslinien Nikolaj A Berdjaev (1874ndash1948) und Sergij N Bulgakov (1871ndash1944) im Westen ndash Eine Wuumlrdigung Erfurt 2015

Heft 15 Michael Hagemeister Der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo ndash bdquoNeobyzantismusldquo

und bdquopolitischer Hesychasmusldquo im postsowjetischen Russland Erfurt 2016

Alle Hefte der vorliegenden Schriftenreihe koumlnnen unter folgendem Link kostenlos heruntergeladen werden URL httpswwwuni-erfurtdereligionswissenschaftprofessur-orthodoxes-christentumveroeffentlichungenerfurter-vortraege-zur-kulturgeschichte-des-orthodoxen-christentums

Page 9: Michael Hagemeister FINAL - uni-erfurt.de · doziert Tichon, während er das antike Kons tantinopel computeranimiert auferste- hen lässt. Das prosperierende Impe rium erregte freilich

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 9

II widersetzt indem er bdquomit harter Hand die Vertikale der Macht wieder herstell-teldquo Basileios II bdquozerschlug die separatistische Bewegung in den Randgebieten unterdruumlckte die aufruumlhrerischen Gouverneure und Oligarchen die sich anschick-ten das Imperium aufzuteilen Dann fuumlhrte er eine sbquoSaumluberunglsquo in der Regierung durch und konfiszierte fuumlr die Staatskasse groszlige Summen geraubten Geldesldquo23 Seinem Nachfolger hinterlieszlig er einen riesigen bdquoStabilisierungsfondsldquo24

Es liegt auf der Hand ndash und Tichon deutete es in einem Interview selbst an ndash25 dass mit der bdquoVertikale der Machtldquo die Putinsche Politik der Staumlrkung der Zentralgewalt gemeint ist Die bdquoseparatistische Bewegungldquo laumlsst sich auf Tsche-tschenien und die Ukraine beziehen und jene bdquoOligarchenldquo die nicht nur Reich-tum sondern auch politische Macht erstrebten oder vom feindlichen Ausland aus ihre Wuumlhlarbeit betrieben26 heiszligen heute Berezovskij Abramovič und Chodor-kovskij Und sogar der aktuelle Brain-Drain wird thematisiert wenn es heiszligt bdquoDie reiche Jugend von Byzanz lernte nicht mehr im eigenen Land sondern ging zur Ausbildung ins Ausland Die besten Koumlpfe der einheimischen Wissenschaft emi-grierten in den Westenldquo27

Die bis heute guumlltige bdquoLehre von Byzanzldquo und damit die Botschaft des Films bestehen jedoch in der Erkenntnis des ewigen Hasses den der wesens-fremde Westen gegen die orthodoxe Welt hege Mit den Worten Tichons bdquoDer racheluumlsterne Hass des Westens auf Byzanz und dessen Nachfolger den nicht einmal sie selbst ganz und gar verstehen setzt sich auf einer tieferen genetischen Ebene so paradox es auch klingen mag bis heute fort Falls wir diesen verbluumlffen-den doch unbestreitbaren Tatbestand nicht verstehen laufen wir Gefahr nicht nur in der weit zuruumlckliegenden Vergangenheit sondern auch in der Geschichte des 20 und sogar des 21 Jahrhunderts vieles nicht zu begreifenldquo28

Sowohl die Kritiker als auch die Bewunderer des Films haben denn auch erkannt dass es Tichon nicht um das historische Byzanz sondern um das heutige Russland geht ndash vom hegemonialen Westen bedroht von inneren Schwaumlchen wie Egoismus Zynismus und Korruption Genusssucht und Geburtenruumlckgang ge-zeichnet29 Der Film so Roman Lunkin sei eine bdquohistoriosophische Skizzeldquo und

23 Ebd 25 24 Ebd 27 25 Ebd 121 26 Ebd 31 27 Ebd 50 28 Ebd 64f ndash Dies so Tichon habe auch Stalin erkannt als er 1943 die bis dahin verfemte

Byzantinistik per Dekret wieder eingefuumlhrt habe Der bdquoehemalige Seminarist Džugašvilildquo habe bdquodamals endlich begriffen bei wem man die Geschichte studierenldquo muumlsse Ebd 65

29 Der Film so der renommierte Byzantinist Sergej Ivanov sei bdquoreine Fiktion voller kruder faktischer Fehler und krasser Verzerrungenldquo und bdquoerfuumlllt von giftigem Hass auf den Wes-tenldquo Sergey A Ivanov bdquoThe Second Rome as Seen by the Third Russian Debates on sbquoThe Byzantine Legacylsquoldquo in Przemysław MarciniakDion C Smythe (Hgg) The Reception of Byzantium in European Culture Since 1500 Farnham Burlington 2016 55ndash79 hier 72 [dt bdquoDas Zweite Rom aus der Sicht des Dritten Russische Debatten uumlber das sbquobyzan-tinische Erbelsquoldquo in Transit 46 (20142015) 157ndash173 hier 171] Siehe auch ders bdquoVtoroj

10 Michael Hagemeister

sein Autor eine Art bdquomoderner Moumlnch Filofejldquo der die Idee vom Dritten Rom propagiere30 Lunkin gab damit zwei Stichworte die im Folgenden naumlher betrach-tet werden sollen Historiosophie dh die geschichtsmetaphysische Deutung bzw Instrumentalisierung historischer Ereignisse und die Formel von MoskauRuss-land als dem Dritten Rom

Historiosophie Die heilsgeschichtliche Mission Russlands

Unter den Schlagwoumlrtern bdquoHistoriosophieldquo (istoriosofija) und bdquoMetahistorieldquo (metaistorija) erfreuen sich im postsowjetischen Russland Versuche groszliger Be-liebtheit Ziel und Sinn des weltgeschichtlichen Prozesses und die ihn gestalten-den Kraumlfte spekulativ zu bestimmen und ndash als aufbauende oder zerstoumlrende heil-volle oder unheilvolle Faktoren ndash zu bewerten31 Dabei werden Traditionen der russischen Geschichtsmetaphysik und Geschichtstheologie des 19 und 20 Jahr-hunderts aufgegriffen die die irdische Geschichte als Vollzug eines goumlttlichen Heilsplans deuten der den Glaumlubigen in seinem Anfang und Ende sowie den we-sentlichen Etappen geoffenbart worden sei Das providentielle teacutelos der Geschich-te das Ende und zugleich sinngebende Ziel enthuumlllen apokalyptische Texte So beschreibt die Offenbarung des Johannes die Geschehnisse am Ende der Zeit den Kampf zwischen den Maumlchten des Lichts und der Finsternis die Taumluschung und Verfuumlhrung durch den oder die Repraumlsentanten des Boumlsen die Entscheidungs-schlacht und das Juumlngste Gericht den Untergang der alten durch Konflikte zerrissenen Welt und den Beginn einer neuen vollkommenen und zeitlosen Welt Unverkennbar ist auch der Einfluss der dualistisch-deterministischen Geschichts-konzeption der Sowjetideologie (Geschichte als Einsicht in die bdquoobjektiven Ent-wicklungsgesetze der Gesellschaftldquo) kennt doch auch die Eschatologie und Daumlmonologie des historischen Materialismus den auf ein Endziel (bdquoReich der

Rim glazami Tretrsquoego Ėvoljucija obraza Vizantii v rossijskom obščestvennom soznaniildquo lthttppolitruarticle20090414vizantgt

30 lthttpwwwportal-credorusiteact=freshampid=719gt 31 Vgl Michael Hagemeister bdquoDas Dritte Rom gegen den Dritten Tempel ndash Der Antichrist

im postsowjetischen Russlandldquo in Mariano DelgadoVolker Leppin (Hgg) Der Anti-christ Historische und systematische Zugaumlnge FribourgStuttgart 2011 461ndash485 ndash Der Begriff bdquoHistoriosophieldquo geht auf August Cieszkowski (1814ndash1894) zuruumlck einen der Be-gruumlnder des polnischen Messianismus der in seinen Prolegomena zur Historiosophie (Ber-lin 1838) eine aktive Geschichtsteleologie entwarf Mit dem Begriff bdquoMetahistorieldquo be-zeichnete Sergej Bulgakov (1871ndash1944) bdquoden Gegenstand der Apokalypseldquo naumlmlich bdquodie noumenale Seite jenes universellen Prozesses dessen andere Seite sich uns als Geschichte zeigtldquo Sergej Bulgakov bdquoApokaliptika i socializmldquo in ders Dva grada Bd 2 Moskva 1911 51ndash127 hier 103 Zur Neuentdeckung und Aufwertung des in der Sowjetunion tabuisierten Begriffs bdquoHistoriosophieldquo im postsowjetischen Russland siehe Jutta Scherrer Kulturologie Ruszligland auf der Suche nach einer zivilisatorischen Identitaumlt Goumlttingen 2003 bes 91ndash126

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 11

Freiheitldquo) ausgerichteten Verlauf der Geschichte deren bdquoinnre verborgne Ge-setzeldquo und bdquotreibende Maumlchteldquo (Friedrich Engels) sich nur einem fortschrittlichen Bewusstsein zu erkennen geben

Zu den klassischen Werken bdquohistoriosophischerldquo Geschichtsdeutung die immer wieder aufgelegt werden gehoumlren Vladimir Solovrsquoevs (1853ndash1900) bdquoKur-ze Erzaumlhlung vom Antichristldquo (Kratkaja povestrsquo ob antichriste 1900) eine bdquophi-losophische Dichtungldquo die vielfach nicht als literarische Fiktion sondern als kon-krete Prophetie rezipiert und auf die Gegenwart und nahe Zukunft bezogen wird32 sowie insbesondere die manichaumlischen Geschichtskonzeptionen der religioumlsen Philosophen Pavel Florenskij (1882ndash1937) und Aleksej Losev (1893ndash1988) die gepraumlgt sind von der Vorstellung eines permanenten und allumfassenden in sei-nem Ausgang freilich entschiedenen Kampfes zwischen Logos und Chaos Chris-tus und dem Antichrist und dessen irdischem Agenten dem Judentum

In dieser bdquohistoriosophischenldquo oder bdquometahistorischenldquo Sicht erscheint die Geschichte Russlands als Feld auf dem eine bdquounsichtbare Schlachtldquo (nezrimaja bitva) lichtvoller und finsterer Maumlchte tobt Dabei wird das historische Geschehen in Analogie zur Passion Christi als Leidens- oder Kreuzweg (krestnyj putrsquo) aufge-fasst33 als Kreuzigung (raspjatie) durch die Maumlchte des Antichristentums und als Opfertod (požertvovanie) ein Ereignis das in der Regel mit der Epoche der bdquojuuml-disch-bolschewistischenldquo Sowjetherrschaft identifiziert wird34 Noch befinde sich Russland so die Adepten jener bdquosakralen Metahistorieldquo in einer Phase der Pruuml-fung auf dem Weg zum Ziel der Heilsgeschichte noch liege Russland ohnmaumlchtig im Grab doch werde schon bald seine wunderbare Auferstehung (voskresenie) erfolgen35 In der dann anbrechenden Bluumltephase dem letzten Zeitalter der Welt-geschichte vor dem Juumlngsten Gericht werde das wiedergeborene Russland unter der Herrschaft eines Endzeitkaisers die Menschheit von der Macht des Boumlsen be-freien Russland bringt sich also selbst zum Opfer um am Ende zu triumphieren

32 Siehe Michael Hagemeister bdquoTrilogie der Apokalypse ndash Vladimir Solovrsquoev Serafim von

Sarov und Sergej Nilus uumlber das Kommen des Antichrist und das Ende der Weltgeschich-teldquo in Wolfram BrandesFelicitas Schmieder (Hgg) Antichrist Konstruktionen von Feindbildern Berlin 2010 255ndash275 hier 261

33 Als Stationen an bdquoRusslands Kreuzwegldquo werden zumeist genannt das bdquoTatarenjochldquo als Russland die Feinde der Christenheit auf sich lenkte und durch sein Opfer die Zivilisation des Abendlandes vor dem Untergang rettete (worauf schon Aleksandr Puškin in seinem beruumlhmten Brief vom 19 Oktober 1836 an Petr Čaadaev einen Kritiker des russischen Byzantinismus hinwies) sodann der Einfall der bdquoLateinerldquo zu Beginn des 17 Jahrhun-derts die bdquolaumlsterlichenldquo Reformen des bdquoWestlersldquo Peter I (fuumlr viele der Antichrist) und schlieszliglich die bdquoKatastrophe des Jahres 1917ldquo

34 Siehe Vadim Rossman Russian Intellectual Antisemitism in the Post-Communist Era LincolnLondon 2002 223ndash225

35 Siehe Vardan Bagdasarian bdquoApokalipsis ndash segodnja ėschatologičeskie poiski v sovremen-noj Rossiildquo in Dmitrij Andreev [ua] (Hgg) Ėschatologičeskij sbornik Sankt-Peterburg 2006 435ndash453 hier 436f

12 Michael Hagemeister

Moskau ndash Drittes Rom und Katechon

Die Auffassung von Russlands entscheidender Rolle im Drama der Heilsge-schichte wird begruumlndet mit der Doktrin von Moskau als dem Dritten Rom wie sie aus der beruumlhmten eschatologischen Formel des Pskover Moumlnchs Filofej aus der ersten Haumllfte des 16 Jahrhunderts abgeleitet worden ist bdquoAlle christlichen Zartuumlmer haben sich ihrem Ende zugeneigt und sind gemaumlszlig den prophetischen Buumlchern eingegangen in das eine Zartum unseres Herrschers das heiszligt ins russi-sche Zartum Denn zwei Rome sind gefallen und das dritte steht Ein viertes aber wird es nicht gebenldquo36

Nach der Apostasie der Lateiner (dem Schisma von 1054) und dem bdquoVer-ratldquo Konstantinopels (durch die Florentiner Union 1439) dem als Strafe Gottes der Untergang des Byzantinischen Reichs (1453) folgte wird Russland zum drit-ten und ndash der goumlttlichen Trinitaumlt entsprechend ndash letzten Hort der Rechtglaumlubig-keit37 Dessen Ende wird auch das Ende der Geschichte sein mit dem Auftreten des Antichrist des falschen Messias der Juden der durch Taumluschung und Verfuumlh-rung die Parusie des wahren Messias gleichzeitig verbergen und ankuumlndigen soll Bis dahin aber sind das Heilige Russland und seine Herrscher von Gott erwaumlhlt und berufen den Widersacher Christi abzuwehren und das Ende aufzuhalten Nach der sogenannten Substitutionslehre sind die Erwaumlhlung und der messiani-sche Sendungsauftrag Israels nach dessen bdquoVerratldquo auf die Heilige Rusrsquo und das

36 bdquoMoskau ndash das Dritte Romldquo Das Sendschreiben des Filofej von Pskov in Peter Haupt-

mannGerd Stricker (Hgg) Die Orthodoxe Kirche in Ruszligland Dokumente ihrer Geschich-te 960ndash1980 Goumlttingen 1980 253 Bis zur ersten Publikation von Filofejs Sendschreiben in den 1860er Jahren war dieses Konzept freilich kaum bekannt Zu seinen vielfaumlltigen und bisweilen kontraumlren Deutungen siehe Nina Sinicyna Tretij Rim Istoki i ėvoljucija russkoj srednevekovoj koncepcii (XVndashXVI vv) Moskva 1998 zur Wirkungsgeschichte bis in die postsowjetische Gegenwart siehe Peter J S Duncan Russian Messianism Third Rome Revolution Communism and After LondonNew York 2000 Vgl auch Marshall Poe bdquoMoscow the Third Rome The Origins and Transformations of a sbquoPitoval Momentlsquoldquo in Jahrbuumlcher fuumlr Geschichte Osteuropas 49 (2001) 3 412ndash429 Frank Kaumlmpfer bdquoDie Lehre vom Dritten Rom ndash pitoval moment historiographische Folkloreldquo ebd 430ndash441 Fran-ziska Thun-Hohenstein bdquosbquoMoskau ndash Drittes Romlsquo Nachklaumlnge einer alten Denkfigur in der russischen Kultur des 20 Jahrhundertsldquo in Daniel Weidner (Hg) Figuren des Euro-paumlischen Kulturgeschichtliche Perspektiven Muumlnchen 2006 78ndash97 Sergej Magaril Mi-fologija bdquosbquoTretrsquoego Rimalsquo v rossijskom obrazovannom soobščestveldquo in Ėmilrsquo A Pain (Hg) Ideologija bdquoosobogo putildquo v Rossii i Germanii istoki soderžanie posledstvija Moskva 2010 127ndash156 Anna Briskina-Muumlller bdquoDas neue sbquoneue Romlsquo eine byzantinische Idee auf russischem Bodenldquo in Reinhard FlogausJennifer Wasmuth (Hgg) Orthodoxie im Dialog Historische und aktuelle Perspektiven Berlin [ua] 2015 311ndash336

37 Filofej sprach was oft uumlbersehen wird nicht von Moskau als dem Dritten Rom diese For-mel taucht erst im 17 Jahrhundert auf Auch wird aus dem bdquorhomaumlischen (Romejskoe) Zartumldquo bei Filofej erst spaumlter das bdquorussische (Rosejskoe) Zartumldquo Siehe Sinicyna Tretij Rim 244 324ndash328 ndash Die Vorstellung der Stadt Moskau als dem Dritten Rom treibt inzwi-schen seltsame Bluumlten So glaubt der vielfach ausgezeichnete Kulturologe Rustam Rach-matullin in seinem Bestseller Dve Moskvy ili metafizika stolicy (2008) eine bdquosakrale Identitaumltldquo zwischen Moskau Rom und Jerusalem nachweisen zu koumlnnen

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 13

russische bdquoGottestraumlgervolkldquo (narod-Bogonosec) uumlbergegangen die Orthodoxe Kirche wurde zum bdquoNeuen Israelldquo ihre heiligen Staumltten zum bdquoNeuen Jerusa-lemldquo38 Wenn Paulus davon spricht dass am Ende bdquoganz Israel errettetldquo werde (Roumlm 11 26) so sei damit die Kirche Jesu Christi gemeint zu der die Juden sich bekehren muumlssten39

bdquoMoskau ndash Drittes Romldquo Ikone (2011) Maler unbekannt lthttpwwwruniversrugalgallery-allphpSECTION_ID=7641ampELEMENT_ID=462777gt

Russlands Herrscher fungiert mithin als Katechon als jene hemmende aufhalten-de Macht von der im zweiten Brief des (Pseudo-)Paulus an die Thessalonicher die Rede ist

38 Siehe zB Michail Nazarov Voždju Tretrsquoego Rima K poznaniju russkoj idei v apokalipsi-

českoe vremja Moskva 2005 933f 945 ndash Fuumlr die Anhaumlnger der angloamerikanischen bdquoChristian Identityldquo sind hingegen die bdquoArierldquo bdquoGottes auserwaumlhltes Volkldquo und die Verei-nigten Staaten das bdquoNEW JerUSAlemldquo Martin Durham White Rage The Extreme-Right and American Politics London 2007 67

39 Eine fruumlhe heute wieder viel zitierte wertende Entgegensetzung von Judentum und (russi-schem) Christentum findet sich bereits in der um die Mitte des 11 Jahrhunderts verfassten bdquoRede uumlber das Gesetz und die Gnadeldquo (Slovo o zakone i blagodati) des Metropoliten Ila-rion

14 Michael Hagemeister

Zuerst muss der Abfall von Gott kommen und der Mensch der Gesetzlosigkeit offenbart werden der Sohn des Verderbens der Widersacher der sich erhebt uumlber alles was Gott heiszligt oder Heiligtum so dass er sich sogar in den Tempel Gottes setzt und sich fuumlr Gott ausgibt [] Denn das Geheimnis der Gesetzlosigkeit [τὸ μυστήριον τῆς ἀνομίας]40 ist schon wirksam nur muss erst der beseitigt werden der es bis jetzt noch aufhaumllt [ὁ κατέχων] und dann wird der Gesetzlose offenbart werden [hellip] (2 Thess 23-4 und 7-8)

Die durch bdquofeigen Verratldquo erzwungene Abdankung des Zaren im Maumlrz 1917 und seine Ermordung im Juli 1918 wurden denn auch als Erfuumlllung jener Prophetie verstanden dh als Beseitigung des Katechon damit der Weg frei werde fuumlr die Herrschaft des Antichrist41 Der Regizid wurde in dieser Sicht zu einem bdquoapoka-lyptischen Verbrechenldquo langfristig geplant und auf blutig-rituelle Weise ausge-fuumlhrt von den Agenten des Antichrist den Juden Fuumlr diese so der Historiker Mi-chail Nazarov war der von Gott erwaumlhlte und gesalbte apostelgleiche Herrscher des Dritten Rom der bdquokatechontischen orthodoxen Machtldquo objektiv der groumlszligte metaphysische Feind und seine Beseitigung mithin eine Tat bdquovon houmlchster mys-tisch-religioumlser Bedeutungldquo42

Viele Glaumlubige sind indes uumlberzeugt dass die Stelle des Katechon nicht vakant sei sondern von der Gottesmutter uumlbernommen wurde Als Beweis dafuumlr dient die wundersame Auffindung einer Ikone im Dorf Kolomenskoe bei Moskau an jenem Tag an dem Nikolaus II dem Thron entsagte43 Die Ikone zeigt die

40 Luther uumlbersetzt bdquoGeheimnis der Bosheitldquo in der mittelalterlichen Theologie als der Anti-

christ gedeutet der nach der Offenbarung des Johannes am Ende der Zeiten erscheint 41 Im Russischen wird die Rolle des bdquoSelbstherrschersldquo (samoderžec) als bdquoAufhalter Kate-

chonldquo (uderživajuščij) auch etymologisch deutlich russ deržatrsquo entspricht griech κατέ-χειν ndash Die mysterioumlse Figur des Katechon (im griechischen Text einmal Neutrum einmal Maskulinum) die das Endgericht und den Anbruch des Reiches Gottes verzoumlgert bietet sich ebenso wie der Antichrist und seine Trabanten seit jeher zu immer neuen Identifikatio-nen mit einzelnen Gestalten Gruppen oder politischen Maumlchten an So identifizierte Carl Schmitt (1888ndash1985) der bdquoApokalyptiker der Gegenrevolutionldquo (Jacob Taubes) Liberalis-mus Bolschewismus und Judentum mit dem Antichrist (oder seinen Agenten) und glaubte dendas Katechon unter anderem in der Diktatur Hitlers zu erkennen 1947 notierte er bdquoIch glaube an den Katechon er ist fuumlr mich die einzige Moumlglichkeit als Christ Geschichte zu verstehen und sinnvoll zu findenldquo Carl Schmitt Glossarium Aufzeichnungen aus den Jah-ren 1947 bis 1958 hg von Gerd Giesler und Martin Tielke Berlin 2015 47 Schmitt und seine politische Theologie werden in russischen Intellektuellenkreisen intensiv rezipiert

42 Nazarov Voždju 213ndash223 ders Tajna Rossii Istoriosofija XX veka 1999 695ndash699 ndash Die Ermordung der Zarenfamilie durch die Bolschewiki im Juli 1918 in Ekaterinburg wur-de und wird von russischen Nationalisten als juumldischer antichristlicher Ritualmord darge-stellt Extremistische Kirchenkreise forderten denn auch Nikolaus II und seine Familie als bdquovon Jidden Gemarterteldquo (ot židov umučennye) heiligzusprechen Dem wurde freilich von fuumlhrenden Vertretern des Moskauer Patriarchats widersprochen

43 Im Februar 1917 war der Baumluerin Evdokija Andrianova im Traum der Fundort der Ikone erschienen Nach langem Suchen wurde diese schlieszliglich am 215 Maumlrz im Keller der Himmelfahrtskirche von Kolomenskoe entdeckt Siehe Aleksandr N Kazakevič bdquosbquoV podvale chrama pojavilasrsquo ikona Bogomaterilsquo Dokumenty Centralrsquonogo istoričeskogo

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 15

Himmelskoumlnigin mit den Zeichen ihrer Regentschaft im kaiserlichen Purpur mit Krone Szepter und Reichsapfel Das Bild der bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo (Bogo-materrsquo Deržavnaja) erwies sich sogleich als wundertaumltig und zog zahlreiche Pil-ger an Kopien verbreiteten seine Verehrung im ganzen Land Bis heute gilt es vielen als ein Zeichen dass Russlands Schutz vor dem Ansturm des Antichrist vom Zaren auf die Gottesmutter uumlbergegangen ist und sie die autokratische Macht bis zur Wiederherstellung der Monarchie bewahren wird44 Zum 70 Jahrestag des Sieges lieszlig der Izborsker Klub eine Variante der beruumlhmten Ikone anfertigen Sie zeigt die bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo zusammen mit Stalin und seinen Marschaumll-len Fuumlr Aleksandr Prochanov ist Stalin der Katechon der von Gott gesandte Fuumlhrer des Sowjetvolks das durch den Opfertod seiner Soumlhne im bdquogeheiligtenldquo Groszligen Vaterlaumlndischen Krieg ebenso wie einst Christus die Macht der Houmllle be-siegt und die Menschheit erloumlst habe45

lthttpwwwizborsk-clubruarh2015_04_Blokpdfgt

In bdquohistoriosophischerldquo Sicht bildet die Ermordung des Zaren und seiner Familie das zentrale sinnstiftende Ereignis der Geschichte Russlands im 20 Jahrhundert Alles darauf folgende Ungluumlck und Leiden die Verfolgung der Christen Hunger und Terror der Tod von Millionen Menschen werden aufgefasst als Strafe Gottes fuumlr den Abfall des russischen Volkes vom Glauben und fuumlr den judasgleichen

archiva Moskvy o Deržavnoj ikone Božiej Materildquo in Otečestvennye archivy 1 (2004) lthttpricolororghistorykasvyatyniik_derggt

44 Vgl Grigorij Nikolaev bdquoĖschatologičeskij triptichldquo in Ėschatologičeskij sbornik 358ndash396 hier 376f Bagdasarjan bdquoApokalipsis ndash segodnja 441f

45 Aleksandr Prochanov bdquoMističeskij stalinizmldquo in Izborskij klub Russkie strategii 4 (28) 2015 78ndash81 auch lthttpwwwizborsk-clubruarh2015_04_Blokpdfgt

16 Michael Hagemeister

bdquoVerratldquo an seinem Herrscher Wie Jesus sich dem Willen des goumlttlichen Vaters unterworfen hat und auf Golgatha fuumlr die Suumlnden der Welt gestorben ist so habe der Zar in Ekaterinburg (dem bdquorussischen Golgathaldquo) sein Leben als bdquoSuumlhneopferldquo dargebracht fuumlr die Suumlnden ganz Russlands46 Erst wenn das russische Volk sein Land von den Idolen und Symbolen der Gottlosigkeit reinige den Ideen der De-mokratie und politischen Gleichheit abschwoumlre seine kollektive Schuld bereue und Buszlige tue fuumlr das bdquoschrecklichste und unheilvollste Verbrechen des 20 Jahr-hundertsldquo werde der Zar zuruumlckkehren und Russland seine einstige Groumlszlige wie-dererlangen47

Einer der vehementesten und einflussreichsten Propagandisten der Selbst-charismatisierung Russlands war in den Jahren nach dem Ende der Sowjetunion Metropolit Ioann (Ivan Snyčev 1927ndash1995) von St Petersburg und Ladoga Mit-glied des Heiligen Synods und dritthoumlchster Kirchenhierarch des Landes In einer Vielzahl von Buumlchern Aufsaumltzen und Interviews beschwor Ioann die universale Mission des Dritten Rom als des bdquoletzten Hortes des wahren Glaubensldquo im Kampf gegen den Antichrist und seine Verbuumlndeten das bdquoVolk der Gesetzlosigkeitldquo48 Zu den apokalyptischen Feinden Christi zaumlhlte er die bdquoglobalen Maumlchte hinter den Kulissenldquo (mirovaja zakulisa) das internationale Freimaurertum die bdquotransnatio-nale Finanzoligarchieldquo die Anhaumlnger des Zionismus und Marxismus sowie Israel die USA und deren westeuropaumlische Satelliten49 Wiedergeboren im Geist der Or-thodoxie sei das Dritte Rom der irdische Sockel auf dem der Thron Gottes ruhen werde ndash ihm entgegen stehe der Dritte Tempel der Thron des Antichrist50

Hesychasmus als Kulturscheide ndash Kritik der Renaissance

Als entscheidende Waffe in dieser heilsgeschichtlichen Auseinandersetzung wird in juumlngster Zeit von antiwestlichen Intellektuellen und Kirchenkreisen der soge-nannte Hesychasmus in Stellung gebracht Urspruumlnglich handelt es sich dabei um

46 Das Schicksal des letzten Zaren wurde in der antibolschewistisch-antisemitischen Polemik

schon fruumlh mit der Passion Christi verglichen oder gleichgesetzt Eindrucksvolle Beispiele aus juumlngerer Zeit bieten die patriotischen Lieder der prominenten Saumlngerin Žanna Bičev-skaja oder die Filme Iskupitelrsquonaja žertva (1992) und Russkaja Golgofa (2000) Siehe auch Papkova The Orthodox Church 63f 222

47 Marija Achmetova Konec sveta v odnoj otdelrsquono vzjatoj strane Religioznye soobščestva postsovetskoj Rossii i ich ėschatologičeskij mif Moskva 2010 245ndash260

48 Vgl Rossman Russian Intellectual Antisemitism 221ndash225 Hagemeister bdquoDas Dritte Romldquo 476

49 Metropolit Ioann (Snyčev) bdquoToržestvo pravoslavijaldquo in ders Bitva za Rossiju Sankt-Peterburg 1993 28ndash35 In seinem Bestreben Russland als Opfer jahrhundertealter Ver-schwoumlrungen finsterer antichristlicher Maumlchte darzustellen griff Ioann immer wieder auch auf die Protokolle der Weisen von Zion zuruumlck

50 Metropolit Ioann (Snyčev) Samoderžavie ducha Očerki russkogo samosoznanija Sankt-Peterburg 1994 7

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 17

eine individuelle psychosomatische Gebets- und Meditationstechnik des byzanti-nischen und slavischen Moumlnchtums deren Anfaumlnge bis auf die Wuumlstenvaumlter zu-ruumlckreichen Durch die unablaumlssige konzentrierte Wiederholung des sogenannten bdquoJesusgebetsldquo ndash der Anrufung des rettenden Namens Jesu Christi ndash im Rhythmus des Herzschlags (deshalb auch bdquoHerzensgebetldquo) eine Uumlbung die als bdquogeistiges Tunldquo (πρᾶξις νοερά russ umnoe delanie) bezeichnet wird kann der Asket der die innere Ruhe (ἡσυχία) und Leidenschaftslosigkeit (ἀπάθεια) erreicht hat zur ekstatischen Schau (θεωρία) der Herrlichkeit Gottes in Lichtvisionen gelangen51

Die mit dem bdquoJesusgebetldquo verbundenen mystischen Erfahrungen fuumlhrten im 14 Jahrhundert zu einer hochspekulativen theologischen Deutung und Systemati-sierung durch den Athosmoumlnch (spaumlter Erzbischof von Thessalonike) Gregorios Palamas (129697minus1359) und seine Anhaumlnger im sogenannten bdquoHesychasmus-streitldquo Dabei ging es ndash stark vereinfacht ndash um die Frage inwiefern bestimmte sinnliche Erfahrungen beim Gebet wie das Schauen von Licht aber auch die Empfindung von Waumlrme und Wohlgeruch als Begegnung mit der Realitaumlt Gottes aufzufassen seien (und nicht als Pseudovisionen also als Einbildungen oder gar Inspirationen daumlmonischer Maumlchte) Dahinter steht das alte theologische Problem der Erkennbarkeit oder sinnlichen Erfahrbarkeit Gottes der Kommunikation zwi-schen Immanenz und Transzendenz aber auch der Gefahr der Verfuumlgung uumlber das Goumlttliche (extrem im Gotteszwang durch Beschwoumlrung)

Palamas loumlst die Frage indem er in Anlehnung an neuplatonische Vorstel-lungen das unzugaumlngliche ewige bdquoWesenldquo (οὐσία) Gottes von seiner in der ge-schaffenen Welt d h in Raum und Zeit mitteilbaren ungeschaffenen bdquoWirkkraftldquo oder bdquoEnergieldquo (ἐνέργεια) unterscheidet nicht aber trennt52 Diese Energien bdquodie der dreieinige Gott ausstrahlt und die zu seinem Wesen gehoumlren wie die Strahlen zur Sonne oder das Kraftfeld zum Magnetenldquo53 kann der Asket der den Stufen-prozess von bdquoReinigungldquo (κάθαρσις) bdquoErleuchtungldquo (φωτισμός) und bdquoVergoumlttli-chungldquo (θέωσις) durchlaumluft durch die Gnade Gottes sinnlich erfahren Als houmlch-stes mystisches Erlebnis im Zusammenwirken (συνεργία) aller menschlichen En-ergien mit der goumlttlichen Energie gilt die Schau des ungeschaffenen Lichtes wie sie den Juumlngern Jesu bei dessen Verklaumlrung auf dem Berg Tabor (μεταμόρφωσις

51 Ich folge hier zum Teil meinen Ausfuumlhrungen in Michael Hagemeister bdquoImjaslavie ndash imja-

dejstvie Namensmystik und Namensmagie in Russland (1900ndash1930)ldquo in Tatjana Petzer [ua] (Hgg) Namen Benennung ndash Verehrung ndash Wirkung Positionen der europaumlischen Moderne Berlin 2009 77ndash98 hier 79ndash81 88ndash90 Zum Hesychasmus liegt eine umfangrei-che Literatur vor Das Nachschlagewerk von Sergej Choružij (Hg) Isichazm annotiro-vannaja bibliografija Moskva 2004 umfasst mehr als 10000 Titel in 20 Sprachen

52 Die Unterscheidung von Gottes unerkennbarem Wesen und seinen wahrnehmbaren Wirk-kraumlften reicht bis auf Philon von Alexandria (gest ca 40 n Chr) zuruumlck Siehe Fairy v Lilienfeld bdquoHesychasmusldquo in Theologische Realenzyklopaumldie Bd 15 BerlinNew York 1986 282ndash289 ndash bdquoEnergieldquo ist Synonym fuumlr jeden bdquoAustrittldquo Gottes aus seinem Wesen Die bdquoSaumlttigungldquo mit goumlttlicher Energie erklaumlrt beispielsweise auch die gnadenreiche Heil-wirkung die von den Gebeinen der Heiligen selbst nach deren Tod ausgeht

53 Ebd 284

18 Michael Hagemeister

τοῦ Χριστοῦ Mt 171minus13) zuteil geworden war54 Fuumlr den endzeitlich gestimm-ten Palamas war diese Schau eine Vorwegnahme der Parusie der Vereinigung des Geschaffenen und des Ungeschaffenen und des kuumlnftigen Reiches Gottes somit bdquorealisierte Eschatologieldquo55

Der Glaube an die Wahrnehmbarkeit des ungeschaffenen ewigen Lichtes als Ausfluss der Energien Gottes stieszlig jedoch auf Widerspruch Palamasrsquo promi-nentester Gegner war der aus Kalabrien stammende Moumlnch Barlaam (ca 1290ndash1348) der in der Tradition der abendlaumlndischen rationalistischen Scholastik die Unterscheidung des transzendenten unzugaumlnglichen Wesens Gottes und der da-von untrennbaren Energien die aber ad extra wirken und sich dem Menschen mitteilen als haumlretisch verwarf und auf der absoluten Unerkennbarkeit Gottes be-stand Rom lehnte denn auch die Energienlehre des Palamas aufs schaumlrfste ab Dagegen erkannte die byzantinische Kirche sie 1341 und 1351 als Dogma an Seitdem gilt der palamitische Hesychasmus als ein Spezifikum der Orthodoxie und dient gerade heute wieder der polemischen Abgrenzung gegenuumlber dem Wes-ten56

Fuumlr die bereits genannten Philosophen Pavel Florenskij und Aleksej Losev charakterisiert das Bekenntnis zum Hesychasmus den Kulturtypus des christli-chen Mittelalters der sich in idealer Weise in Byzanz und in der Moskauer Rusrsquo ausgepraumlgt habe und in diametralem Gegensatz zur sogenannten bdquoRenaissance-Kulturldquo des Westens stehe Merkmale jener integralen Kultur des christlichen Ostens seien Gemeinschaftlichkeit (sobornostrsquo) Geistigkeit (duchovnostrsquo) Ob-jektivitaumlt Konkretheit Ganzheit (celrsquonostrsquo) und Ganzheitlichkeit (celostnostrsquo) synthetische Schau und Realismus57 waumlhrend die westliche Moderne seit der Re-naissance gepraumlgt sei durch Subjektivismus Relativismus szientifische Ratio-nalitaumlt (bdquoEntzauberung der Weltldquo) Materialismus Liberalismus Individualismus

54 Siehe Sergej Choružij bdquoSvet Plotinov i svet Favora mistika sveta v neoplatonizme i isi-

chazmeldquo in Aleksej Lidov (Hg) Ierotopija Ognja i Sveta v kulrsquoture vizantijskogo mira Moskva 2013 37ndash44 Zur Terminologie des Hesychasmus ders bdquoAnalitičeskij slovarʼ isi-chastskoj antropologiildquo in ders K fenomenologii askezy Moskva 1998 22ndash186

55 Peter Kawerau Das Christentum des Ostens Stuttgart [ua] 1972 131 56 Siehe zB die Arbeiten des Moskauer Theologen Igorʼ Ėkonomcev (Archimandrit Ioann)

bes bdquoIsichazm i vostočnoevropejskoe Vozroždenieldquo in Bogoslovskie trudy 29 (1989) 167ndash196 erweiterte Fassung bdquoDer Hesychasmus und die Renaissance in Osteuropaldquo in Karl Christian Felmy (Hg) Tausend Jahre Christentum in Russland Zum Millennium der Taufe der Kiever Rusrsquo Goumlttingen 1988 731ndash771 ndash Im 19 Jahrhundert erlebte der Hesy-chasmus im Zuge der Wiederbelebung mystischer Froumlmmigkeit durch Paisij Veličkovskij (1722ndash1794) eine Bluumlte im russischen Starzentum Dabei handelt es sich auch ndash aumlhnlich wie beim Pietismus ndash um eine Reaktion auf die Einfluumlsse der westlichen Aufklaumlrung Siehe die Beitraumlge in Adalberto Mainardi (Hg) Paisij lo starec Atti del III Convegno ecumenico internazionale di spiritualitagrave russa Bose 20ndash23 settembre 1995 Magnano 1997

57 Die Uumlberwindung der Trennung des erkennenden Subjekts vom Objekt der Erkenntnis (Descartes Locke Kant) durch das spekulative intuitive Erfassen des Wesens (der Ideen des Absoluten) als des eigentlich Realen hat die russische Philosophie des 20 Jahrhunderts bdquolebendiges Wissenldquo (živoe znanie) bdquoIdeal-Realismusldquo (ideal-realizm) oder bdquointuitiven Realismusldquo (intuitivnyj realizm) genannt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 19

Abstraktheit Zersplitterung und Atomisierung58 Der Sieg des Nominalismus im mittelalterlichen Universalienstreit und die Feier des autonomen Individuums in Renaissance Humanismus und Aufklaumlrung markieren in dieser katastrophischen Perspektive den Zerfall der goumlttlichen Ordnung des Universums und der Sakralitaumlt von Hierarchie und Herrschaft und damit den bdquoSuumlndenfallldquo der abendlaumlndischen Kultur die im Anthropozentrismus der satanischen Hybris einer bdquoSelbstvergot-tungldquo des Menschen (čelovekobožie)59 zugleich gipfele und scheitere60

Am Anfang dieser verhaumlngnisvollen Spaltung standen die Annahme der pa-lamitischen Lehre durch die Ostkirche und die Ablehnung dieser Lehre im Westen durch den bdquoRenaissance-Menschenldquo (vozroždenec) Barlaam den Lehrer Boccac-cios und Petrarcas61 Mit aller Schaumlrfe formulierte Losev diesen Gegensatz bdquo[hellip] entweder ist das Taborlicht untrennbar vom Wesen Gottes und ist deshalb Gott selbst (obwohl Gott selbst nicht [das] Licht ist) ndash dann ist die Orthodoxie gerettet oder das Licht ist vom Wesen Gottes trennbar und darum geschaffen ndash dann be-ginnen die apokalyptischen Kraumlmpfe des Renaissance-Westensldquo62 Indem sie Bar-laam einen bdquozugereisten Kalabrierldquo und seine Anhaumlnger mit dem Bann belegte habe die Orthodoxe Kirche so Losev die damals heraufziehende Renaissance

58 Siehe zB Pavel Florenskij bdquoAvtoreferat (192526)ldquo in Voprosy filosofii 1988 12 113ndash

116 dt Pavel Florenski bdquoAutorreferatldquo in ders Leben und Denken hg von Fritz und Sieglinde Mierau Bd 1 Ostfildern 1995 32ndash38 Aleksej Losev Dialektika mifa (1930) Moskva 2001 137ndash138 dt Die Dialektik des Mythos Hamburg 1994 109 ndash Die wertende Entgegensetzung von mittelalterlicher und Renaissance-Kultur (bzw der Typen bdquoobjekti-verldquo und bdquosubjektiverldquo Kulturen) findet sich durchgaumlngig im Werk Florenskijs und Losevs Siehe zuletzt Oksana SedychJulija Grišatova bdquoRusskij Renessans o Renessanseldquo in Vo-prosy filosofii 2015 6 111ndash121

59 bdquoSatan war der erste Revolutionaumlrldquo zitiert Losev einen (apokryphen) Ausspruch des Hl Serafim von Sarov Aleksej Losev bdquoDopolnenie k sbquoDialektike mifalsquo (novyj fragment)ldquo in AF Losev tvorčestvo tradicii interpretacii Moskva 2014 397ndash411 hier 401

60 So degradiere ndash um nur ein Beispiel fuumlr das Scheitern der Renaissance zu geben ndash das heliozentrische Weltbild eines Kopernikus und Giordano Bruno den Menschen zum Be-wohner eines bdquonichtigen Sandkornsldquo im unendlichen Weltraum SedychGrišatova bdquoRuss-kij Renessansldquo 114 Florenskij suchte denn auch in seiner Schrift Mnimosti v geometrii (1922) das geozentrische Weltbild des Mittelalters zu rehabilitieren Zum griechisch-or-thodoxen Antikopernikanismus Vasilios Makrides Die religioumlse Kritik am kopernikani-schen Weltbild in Griechenland zwischen 1794 und 1821 Aspekte griechisch-orthodoxer Apologetik angesichts naturwissenschaftlicher Fortschritte Frankfurt aM [ua] 1995

61 Mitunter wurde Barlaam sogar als Agent einer groszligangelegten antiorthodoxen Verschwouml-rung des bdquoPapismusldquo denunziert Siehe Ėkonomcev bdquoIsichazmldquo 59 vgl ders bdquoDer Hesy-chasmusldquo 736 ndash Eine Kontrastierung des weltlichen Humanisten Petrarca und des Hesy-chasten Palamas unternahm Losevs Schuumller und Sekretaumlr Vladimir Bibichin lthttpwww philologyruliterature3bibikhin-90htmgt

62 Aleksej Losev Očerki antičnogo simvolizma i mifologii Moskva 1930 856 Auch Ėko-nomcev spricht von den bdquoschreienden Widerspruumlchen und Grimassen der westlichen Re-naissance deren geistiger Vater Barlaam wurdeldquo Ėkonomcev bdquoIsichazmldquo 63 (in der deut-schen Version ist von bdquohimmelschreienden Gegensaumltzenldquo und bdquoscheuszliglichen Grimassenldquo die Rede Ėkonomcev bdquoDer Hesychasmusldquo 746)

20 Michael Hagemeister

insgesamt verdammt (anafematstvovala) der alle westlichen Voumllker verfallen sei-en und wahrscheinlich bis ans Ende ihrer Tage verfallen blieben63

Bis zuletzt verteidigte Losev ein mit Orden des Sowjetstaates ausgezeich-neter Philosoph der 1929 von Archimandrit David (Muchranov 1847ndash1930) ei-nem Fuumlhrer der hesychastischen bdquoNamensverehrerldquo (imjaslavcy)64 heimlich zum Moumlnch geweiht worden war die Lehre des Palamas als einen Grundpfeiler der Orthodoxie65 Gleichzeitig hielt er an seiner schroffen Ablehnung des bdquoRenaissan-ce-Westensldquo fest dessen Geschichte insgesamt nichts anderes sei als bdquoeine libera-le Kritik des Mittelaltersldquo 1978 stellte Losev in seiner umfangreichen Studie zur Aumlsthetik der Renaissance der bdquoganzheitlichen Kulturldquo (celostnaja kulrsquotura) des Mittelalters die zerrissene Kultur der Renaissance gegenuumlber die auf der Verabso-lutierung und bdquotitanischen Verherrlichungldquo des isolierten Subjekts und der bdquoAbge-trenntheit vom lebendigen Seinldquo (otryv ot živogo bytija) beruhe66 In einem Ge-spraumlch mit dem Schriftsteller Viktor Erofeev das 1985 veroumlffentlicht wurde de-nunzierte Losev den Typus des bdquoRenaissance-Menschenldquo der sich selbst vergoumltt-liche und deshalb dem Nihilismus und Satanismus verfalle bdquoIndem die Renais-sance das Subjekt zum Absolutum erhob oumlffnete sie den Weg fuumlr den Triumph des Subjektivismus in den folgenden Jahrhunderten In diesem Sinne stellt der gesamte Westen fuumlr mich eine Sackgasse des Denkens darldquo67 Damit geriet der Philosoph einerseits in scharfen Gegensatz zum sowjetischen Selbstverstaumlndnis das sich als Erbe und Vollender gerade jener bdquoprogressivenldquo Prozesse und huma-nistischen Traditionen sah die von der europaumlischen Renaissance ausgegangen

63 Losev Očerki 849 856 64 Zur Bewegung des imjaslavie die zu Beginn des 20 Jahrhunderts auf dem Athos entstand

und in Florenskij und Losev prominente Unterstuumltzer fand liegt inzwischen eine reiche Literatur vor Siehe die juumlngste Veroumlffentlichung Antoine Niviegravere Les glorificateurs du nom Une querelle theacuteologique parmi les moines russes du mont Athos (1907ndash1914) Genegraveve 2016

65 Siehe Valentina Postovalova bdquoAfonskij spor ob Imeni Božiem v filosofsko-bogoslovskom osmyslenii AF Losevaldquo in AF Losev 95ndash106 bes 105f

66 Aleksej Losev Ėstetika Vozroždenija Moskva 21982 (11978) 45 61 137 und passim Losevs Modernekritik erinnert an Heidegger und dessen Begriff der bdquoSeinsvergessenheitldquo Wie fuumlr Heidegger so war auch fuumlr Losev (und Florenskij) der Agent der verhassten Moder-ne ein bdquorechnendesldquo und bdquowurzellosesldquo mythisches Judentum Zu Losevs metaphysischem Antisemitismus (bdquodas satanische Wesen des Judentumsldquo) siehe zuletzt mit zahlreichen Belegen Natalrsquoja Boneckaja Duch Serebrjanogo veka (fenomenologija ėpochi) Moskva Sankt-Peterburg 2016 688ndash693

67 Aleksej Losev bdquoV poiskach smyslaldquo in Voprosy literatury 1985 10 205ndash231 hier 229 Zu Losevs Kritik der bdquoRenaissance-Kulturldquo des Westens ausfuumlhrlich Annett Jubara Die Philosophie des Mythos von Aleksej Losev im Kontext bdquoRussischer Philosophieldquo Wiesba-den 2000 bes 131ndash154 Siehe auch Naftalij Prat bdquoAleksej Losev und der Totalitarismusldquo in Leonid Luks (Hg) Das Christentum und die totalitaumlren Herausforderungen des 20 Jahrhunderts Koumlln [ua] 2002 103ndash114 bes 108f

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 21

waren (augenfaumlllig etwa in der Architektur der 1930er bis 50er Jahre)68 Anderer-seits erwies sich der orthodoxe Moumlnch damit auch als Apologet des Sowjetregi-mes bedroht die Autonomie des Individuums doch den Wesenskern einer jeden Herrschaft die das Wahrheitsmonopol fuumlr sich beansprucht

Die Ablehnung der modernen bdquokopernikanischen Weltldquo (Hans Blumen-berg) durchzieht das gesamte philosophische Werk Losevs und Florenskijs dazu gehoumlren die Ablehnung des heliozentrischen Weltbildes die Polemik gegen Kants kritischen Idealismus (die bdquokopernikanische Wendeldquo in der Philosophie) die Ab-lehnung der Zentralperspektive in der Kunst die Ablehnung des nominalistischen Rationalismus und schlieszliglich die Ablehnung der saumlkularen und demokratischen Gesellschaftsordnung zugunsten einer bdquoVerkirchlichungldquo (ocerkovlenie) aller Be-reiche der Gesellschaft und des Staates in Gestalt einer theokratischen Synarchie Florenskij der sich als einen mittelalterlichen Menschen charakterisierte69 ndash Ni-kolaj Berdjaev selbst Verkuumlnder eines religioumls-integralen bdquoNeuen Mittelaltersldquo nannte ihn einen bdquoraffinierten Reaktionaumlrldquo ndash70 war uumlberzeugt dass die bdquoentseelte Renaissance-Zivilisationldquo sich erschoumlpft habe und eine neue ganzheitlich-objekti-ve Kultur anbrechen werde71 Vorbild dieser bdquoKultur des anderen Typusldquo werde Russland sein bdquoerste Keimeldquo seien bereits zu erkennen Seine Zeit begriff Floren-skij bdquoan den Wasserscheiden des Denkensldquo und er sah seine Lebensaufgabe darin bdquoWege zu bahnen zu einer kuumlnftigen ganzheitlichen Weltanschauungldquo72

68 Losevs Renaissance-Kritik (va in Ėstetika Vozroždenija) wurde deshalb auch als ver-

schleierte Kritik am Sowjetsystem verstanden Siehe Annett Jubara bdquoAleksej Losevs Philosophie des Mythos als Kritik an der Sowjetischen Moderneldquo in Studies in East Euro-pean Thought 56 (2004) 211ndash224 Aus dem Kreis der Schuumller Losevs gingen seit den 1960er Jahren zahlreiche dissidentische russische Nationalisten hervor Nikolaj Mitrochin Russkaja partija Dviženie russkich nacionalistov v SSSR 1953ndash1985 Moskva 2003 288f Zur Kritik der Renaissance-Zivilisation siehe auch Vladimir Bibichin Novyj renessans Moskva 1998 bes 131ndash155

69 Siehe Florenskij bdquoAvtoreferatldquo Noch im Maumlrz 1933 nach seiner Verhaftung erklaumlrte Flo-renskij gegenuumlber den Ermittlungsbeamten bdquoIch Pavel Aleksandrovič Florenskij [hellip] bin dem Charakter meiner politischen Anschauungen nach ein Romantiker des Mittelalters un-gefaumlhr des 14 Jahrhundertsldquo Vitalij Šentalinskij bdquoUdel veličijaldquo in Ogonek 1990 45 23ndash27 hier 26

70 Nikolaj Berdjaev Samopoznanie (Opyt filosofskoj avtobiografii) Moskva 1991 161 Sie-he Nikolaj Berdjaev Novoe srednevekovrsquoe Berlin 1924 dt Nikolaus Berdjajew Das Neue Mittelalter Darmstadt 1927

71 Siehe Michael Hagemeister bdquoWiederverzauberung der Welt ndash Pavel Florenskijs Neues Mittelalterldquo in Norbert Franz [ua] (Hgg) Pavel Florenskij ndash Tradition und Moderne Beitraumlge zum Internationalen Symposium an der Universitaumlt Potsdam 5 bis 9 April 2000 Frankfurt aM [ua] 2001 21ndash41 Zu Florenskijs Kritik an Renaissance und Humanismus (bdquoder Humanismus entsprang der Kabbalaldquo) siehe auch Ilona Svetlikova bdquoOb ideologii sbquoobratnoj perspektivylsquo Pavla Florenskogoldquo in Russkaja intellektualʼnaja revoljucija 1910ndash1930-ch godov Moskva 2016 123ndash139 zu den Uumlbereinstimmungen mit Heidegger siehe Viktor Arslanov Postmodernizm i russkij bdquotretij putrsquoldquo tertium datur rossijskoj kulrsquotury XX veka Moskva 2007 472ndash499

72 Florenskij bdquoAvtoreferatldquo 114

22 Michael Hagemeister

In juumlngster Zeit hat das wiedererwachte Interesse an der eigenen spirituellen Tradition und ihren byzantinischen Wurzeln ndash oftmals verbunden mit dem Bestre-ben sich vom bdquosaumlkularen Westenldquo und der bdquowestlichen Moderneldquo abzugrenzen ndash zu einer Wiederbelebung des palamitischen Hesychasmus (neopalamizm) und der ndash davon zu unterscheidenden ndash bdquoNamensverehrungldquo (imjaslavie) gefuumlhrt73 Be-reits in den 1970er Jahren war John Meyendorffs klassische Studie St Greacutegoire Palamas et la mystique orthodoxe (Paris 1959) ins Russische uumlbersetzt worden und kursierte in der Sowjetunion in Samizdat-Ausgaben im Milieu religioumls-philo-sophischer Dissidenten Heute wird die Wiederbelebung des Hesychasmus auch durch den patriotischen Kult um Serafim von Sarov (Prochor Mošnin 1759ndash1833) befoumlrdert einen Wundertaumlter und Apokalyptiker der im postsowjetischen Russland zu einem der meistverehrten Heiligen avanciert ist74 In einer in viele Sprachen uumlbersetzten und millionenfach verbreiteten Schrift schildert sein Schuuml-ler Nikolaj Motovilov (1809ndash1879) die Verklaumlrung Serafims im ungeschaffenen Licht des Heiligen Geistes die sich angeblich im November 1831 auf einer einsa-men verschneiten Waldlichtung ereignet hat75

73 Dies gilt nicht nur fuumlr Russland auch auf Vertreter der angelsaumlchsischen bdquoRadical Ortho-

doxyldquo die das Projekt einer von modern-saumlkularem Denken nicht korrumpierten Theologie verfolgen uumlben Hesychasmus und russische Sophiologie starke Faszination aus Siehe die Beitraumlge in Adrian PabstChristoph Schneider (Hgg) Encounter Between Eastern Ortho-doxy and Radical Orthodoxy Transfiguring the World Through the Word Farnham 2009 Zur Wiederbelebung des imjaslavie im post-sowjetischen Russland siehe Scott M Ken-worthy bdquoDebating the Theology of the Name in Post-Soviet Russia Metropolitan Ilarion Alfeev and Sergei Khoruzhiildquo in Katya Tolstaya (Hg) Orthodox Paradoxes Hetero-geneities and Complexities in Contemporary Russian Orthodoxy LeidenBoston 2014 250ndash264 Siehe auch Loren Grahams Bericht uumlber diskrete Zusammenkuumlnfte der imjaslav-cy im Kellergeschoss der Moskauer Tatrsquojana-Kirche in den fruumlhen 2000er Jahren Loren GrahamJean-Michel Kantor Naming Infinity A True Story of Religious Mysticism and Mathematical Creativity Cambridge MassLondon 2009 1ndash5

74 Fuumlr die Anhaumlnger der Doktrin einer bdquoAtomaren Orthodoxieldquo (atomnoe pravoslavie) ist Se-rafim auch der Schutzheilige der russischen Atombombe wurde doch Sarov der Ort seines Wirkens 1946 unter dem Namen Arzamas-16 zur streng geheimen Nuklearstadt in der Wissenschaftler unter ihnen Andrej Sacharov am Bau der sowjetischen Atom- und Was-serstoffbomben arbeiteten Patriotische Russen deuten dies als Zeichen dass bdquoim Hause unseres Vaters Serafimldquo mit dessen Segen der nukleare bdquoSchild zum Schutz der Heimatldquo geschmiedet worden sei Pavel V Florenskij bdquoNeobchodimostrsquo našej atomnoj bombyldquo in Naš sovremennik 1997 4 219ndash221 Bei dem Verfasser handelt es sich um einen Enkel des beruumlhmten Philosophen Siehe auch lthttpsruwikipediaorgwiki Атомное_правосла виеgt

75 Die Schrift deren Authentizitaumlt umstritten ist wurde bekannt unter dem Titel bdquoGespraumlch uumlber das Ziel des christlichen Lebensldquo (Beseda o celi christianskoj žizni) Erstmals veroumlf-fentlicht wurde das bdquoGespraumlchldquo 1903 von Sergej Nilus (1862ndash1929) dem Herausgeber und Kommentator der Protokolle der Weisen von Zion Siehe Michael Hagemeister bdquoIl proble-ma della genesi del sbquoColloquio con Motovilovlsquoldquo in Adalberto Mainardi (Hg) San Sera-fim Da Sarov a Diveevo Atti del IV Convegno ecumenico internazionale di spiritualitagrave russa Bose 18ndash20 settembre 1996 Magnano 1998 157ndash174 Bis heute gibt es keine kriti-sche Ausgabe dieses zentralen Textes russischer Geistigkeit

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 23

Von der Wiederbelebung des Hesychasmus zeugt auch das groszligangelegte Projekt einer bdquosynergetischen Anthropologieldquo (sinergijnaja antropologija) des Mathematikers Physikers und religioumlsen Philosophen Sergej Choružij Prakti-sches Ziel das seit 2005 durch ein eigenes Institut in Moskau verfolgt wird ist die psychosomatisch-holistische Selbsttransformation des Menschen die auf unmittelbarer (mystisch-energetischer) Erfahrung bzw Einwirkung des ontolo-gisch Anderen (Goumlttlichen) beruht sowie die Uumlberwindung der Subjekt-Objekt-Trennung der modernen westlichen Philosophie die Choružij fuumlr den von ihm als krisenhaft und katastrophisch beschriebenen Zustand der westlichen Moderne verantwortlich macht Im Unterschied zu orthodoxen Fundamentalisten und Anti-Westlern sucht Choružij indes die asketischen Praktiken des Hesychasmus mit modernen und postmodernen westlichen Anthropologien (Kierkegaard Scheler Heidegger und insbesondere Foucaults technique oder practique de soi) in Bezie-hung zu setzen76

bdquoPolitischer Hesychasmusldquo

Es duumlrfte deutlich geworden sein dass Hesychasmus nicht nur eine weltabge-wandte mystisch-asketische bdquogeistige Praxisldquo bezeichnet sondern auch als Kampfbegriff gegen die saumlkulare Kultur des bdquoWestensldquo und der bdquowestlichen Mo-derneldquo dient Dies gilt vor allem fuumlr das Konzept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo (političeskij isichazm)

In den russischen Diskurs wurde dieses Konzept um die Mitte der 1960er Jahre von dem Leningrader Mediaumlvisten und Byzantinisten Gelian Prochorov ein-gefuumlhrt77 Seiner Hauptthese zufolge wurde der Hesychasmus nachdem er aus den Klosterzellen herausgetreten war und eine philosophisch-theologische

76 Siehe Sergej Choružij Očerki sinergijnoj antropologii Moskva Inst Sinergijnoj antropo-

logii Inst filosofii teologii i istorii Sv Fomy 2005 ders (Hg) Fonarrsquo Diogena Proekt sinergijnoj antropologii v sovremennom gumanitarnom kontekste Moskva 2010 ders bdquoDie mystische Verwandlung des Menschen Uumlber den Hesychasmus als Raum der Philo-sophieldquo in Fuge Journal fuumlr Religion amp Moderne 7 (2010) 72ndash99 Siehe auch die Web-site lthttpsynergia-isarugt Kristina Stoeckl bdquoA New Anthropology Sergej S Khoru-žijrsquos Search for an alternative to the Cartesian Subject in sbquoOčerki sinergijnoj antropologiilsquoldquo in Studies in East European Thought 59 (2007) 237ndash245

77 Gelian Prochorov bdquoĖtničeskaja integracija v Vostočnoj Evrope v XIV-m veke Ot isichastskich sporov do Kulikovskoj bitvyldquo in Doklady otdelenija ėtnografii 2 (196265) Leningrad 1966 81ndash110 ders bdquoIsichazm i obščestvennaja myslʼ v Vostočnoj Evrope v XIV vldquo in Literaturnye svjazi drevnich slavjan (Trudy otdela drevnerusskoj literatury 23) Leningrad 1968 86ndash108 ders bdquoKulʼturnoe svoeobrazie ėpochi kulikovskoj bitvyldquo in Kulikovskaja bitva i podldquoem nacionalrsquonogo samopoznanija (Trudy otdela drevne-russkoj literatury 34) Leningrad 1979 3ndash17 ndash Prochorov gehoumlrte bereits zu Sowjetzeiten ins Lager der (neo-)slavophilen Anti-Westler er war eng befreundet mit dem bdquoEurasierldquo und Antisemiten Lev Gumilev (1912ndash1992) und uumlbernahm von diesem das Konzept der bdquoEthnogeneseldquo

24 Michael Hagemeister

Grundlegung erfahren hatte am Ende des 14 Jahrhunderts zu einem entscheiden-den politischen und kulturellen Faktor nicht nur in Byzanz sondern in ganz Ost-europa und lieferte unter anderem das ideologische Fundament zur Konsolidie-rung der nachmongolischen Rusʼ Im Streit zwischen dem bdquorationalistischen Hu-manismus und dem kontemplativen Hesychasmus [hellip] entschied Byzanz uumlber sein geistiges Schicksal Das Land blieb bis zuletzt mittelalterlich Den Hesy-chasten gelang es zu Wortfuumlhrern der oumlffentlichen Meinung in Byzanz zu werden die letzte schoumlpferische Synthese seiner traditionellen Kultur zu entwickeln und eine breite kulturelle und gesellschaftliche Bewegung in Gang zu setzen die zu einer Erneuerung des Mittelalters und zu einer Wiederbelebung der Orthodoxie im ganzen oumlstlichen Europa fuumlhrteldquo78

Im Anschluss an das von seinem Lehrer Dmitrij Lichačev entwickelte Kon-zept einer bdquoVorrenaissanceldquo (Predvozroždenie)79 spricht Prochorov von einer bdquovorrenaissancelichen Gegenreformationldquo (predvozroždenčeskaja kontrreforma-cija) und einer bdquoOrthodoxen Renaissanceldquo (Pravoslavnoe Vozroždenie)80 Ge-meint war damit dass die Palamiten (Hesychasten) den Sieg der Barlaamiten ver-hindern konnten und auf die Schriften der antiken Kirchenvaumlter zuruumlckgreifend ein mystisch-kontemplatives Aumlquivalent zum rationalistischen und saumlkularen Hu-manismus geschaffen haumltten Auf diese Weise habe der drohende Uumlbergang der byzantinischen und osteuropaumlischen christlich gepraumlgten Kultur von der bdquoVorre-naissanceldquo zu einer auf heidnisch-antiken Wurzeln beruhenden Renaissance ab-gewendet werden koumlnnen81 Auf die bdquoVorrenaissanceldquo sei ein bdquoNeues Mittelalterldquo gefolgt das in der bdquoHeiligen Rusʼldquo um die Wende zum 15 Jahrhundert seinen Houmlhepunkt erreicht habe Ihm verdanke Russland seine Groumlszlige und die russische Kultur ihre bdquoUniversalitaumltldquo und bdquoGeistigkeitldquo82

Bemerkenswert ist dass der sowjetische Wissenschaftler die beiden ideolo-gischen Lager mit traditionellen (neo-)slavophilen Wertungsoppositionen wie sie bereits bei Florenskij und Losev begegnet sind verbindet und dabei deutlich seine 78 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 4 79 Vor allem in seinem Buch Kulʼtura Rusi vremeni Andreja Rubleva i Epifanija Premudrogo

MoskvaLeningrad 1962 80 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 8 Siehe auch ders Nekogda ne narod a nyne narod

Božijhellip Drevnjaja Rusʼ kak istoriko-kulʼturnyj fenomen Sankt-Peterburg 2010 133ndash157 81 So auch Igorʼ Ėkonomcev bdquoDie osteuropaumlische sbquoVorrenaissancelsquo ist nicht die erste Stufe

zur saumlkularisierten Renaissance vom abendlaumlndischen Typ sondern ihre Antithese Der geistige und kulturelle Aufschwung in Osteuropa war die wahre volle und eindeutige Re-naissance die sich grundlegend von der westlichen Renaissance unterschied Sie haumltte sich niemals in eine Renaissance westlicher Praumlgung verwandeln koumlnnenldquo Ėkonomcev bdquoDer Hesychasmusldquo 764 vgl ders bdquoIsichazmldquo 69 Diese (osteuropaumlische) Renaissance so Ėkonomcev an anderer Stelle sei ungleich bdquoerhabener geistiger und reinerldquo gewesen als bdquodie westeuropaumlische Renaissance mit ihrer krankhaften Disharmonie zwischen Glauben und Vernunft Geist und Leib die trotz allem gespieltem Optimismus ein Gefuumlhl der Aus-weglosigkeit und Verzweiflung hinterlaumlsstldquo Igumen Ioann Ėkonomcev bdquoVizantinizm Kirillo-Mefodievo nasledie i kreščenie Rusildquo in ders Pravoslavie Vizantija Rossija Sbornik statej Moskva 1992 7ndash22 hier 18

82 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 9 15

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 25

Sympathie zeigt Die byzantinischen Humanisten werden von ihm als kalte Ratio-nalisten dargestellt die in der Hoffnung auf militaumlrische Unterstuumltzung durch den katholischen Westen im Kampf gegen die Osmanen bereit gewesen seien den eigenen Glauben zu opfern83 Die Hesychasten hingegen haumltten so Prochorov den Westen realistischer eingeschaumltzt und auf Hilfe von Seiten der orthodoxen Staaten gehofft Im entscheidenden Moment haumltten nicht die bdquoWestler-Huma-nistenldquo (zapadniki-gumanisty) mit ihren bdquokalten Uumlberlegungenldquo (cholodnymi rassuždenijami) beim Volk Gehoumlr gefunden sondern die Hesychasten mit ihren bdquoheiszligen Gebetenldquo (gorjačimi molitvami)84

Mit seiner Apologie eines bdquowiederbelebtenldquo Mittelalters und einer bdquoOrtho-doxen Renaissanceldquo die alle Bereiche des politischen gesellschaftlichen und kul-turellen Lebens gepraumlgt habe und deren Kern der Hesychasmus gewesen sei stieszlig Prochorov bei seinen sowjetischen Kollegen auf Kritik So sah Apollon Kuzmin im Palamismus eine desintegrative Erscheinung weshalb er Prochorovs positive Bewertung der Hesychasten bei der bdquoWiedergeburtldquo der Rusʼ zuruumlckwies85 Aumlhn-lich argumentierte Gennadij Litavrin Die Palamiten seien diejenigen gewesen die eine unrealistische Einschaumltzung der politischen Lage gehabt haumltten Sie haumltten die Bedrohung durch die Tuumlrken nicht erkannt und stattdessen die Illusion verbreitet die Feinde zum Christentum bekehren und zu neuen Untertanen ma-chen zu koumlnnen Der Palamismus sei eine bdquoIdeologie der Demutldquo und habe eine bdquounheilvolle Rolle in der Geschichte des Kampfes gegen die tuumlrkische Aggres-sionldquo gespielt86 Michail Sjuzjumov sprach sogar vom bdquoasozialen Charakter des Palamismusldquo der den aufkommenden humanistischen Tendenzen gegenuumlber feindlich gewesen und zur bdquoIdeologie der Reaktionldquo in Byzanz geworden sei87 Auf Ablehnung stieszlig Prochorov auch im Ausland Valerij Lepachin kritisierte den Begriff bdquopolitischer Hesychasmusldquo als unzulaumlssige Verbindung weltlicher und geistlicher Sphaumlren damit verliere der Hesychasmus seinen wesentlichen Sinn-gehalt88 Fuumlr den in Berkeley lehrenden Philologen Viktor Živov schlieszliglich war

83 Ebd 12 84 Ebd 13 ndash An anderer Stelle betont Prochorov den Gegensatz zwischen den abstrakten

bdquoausgedachtenldquo philosophischen Konstruktionen des europaumlischen Idealismus und der ganzheitlichen kontemplativ-spekulativen Welterfahrung der griechisch-byzantinischen Philosophie Prochorov bdquoĖtničeskaja integracijaldquo 90f An Florenskijs Renaissance-Kritik (etwa in Ikonostas 1922) erinnert auch Prochorovs Verweis auf den euklidischen Raum und den Perspektivismus der humanistischen Weltwahrnehmung mit seiner Illusion der Unendlichkeit Prochorov bdquoIsichazmldquo 94

85 Apollon Kuzmin bdquoCerkovʼ i svetskaja vlastʼ v ėpochu Kulikovskoj bitvyldquo in Voprosy naučnogo ateizma 37 (1988) 90ndash99

86 Gennadij Litavrin bdquoVizantija v period graždanskoj vojny i dviženija Zilotov (1341ndash1355 gg)ldquo in Sergej Skazkin (Hg) Istorija Vizantii Bd 3 Moskva 1967 135ndash160 hier 158

87 Michail Sjuzjumov bdquoFilosofija i bogoslovieldquo in ebd 234ndash256 hier 248f 88 Valerij Lepachin bdquoUmnoe delanie (o soderžanie i granicach ponjatija sbquoisichazmlsquo)ldquo in

Vestnik Russkogo Christianskogo Dviženija 164 1992 5ndash32 hier 23

26 Michael Hagemeister

bdquopolitischer Hesychasmusldquo bdquokonzeptuelles Unkraut [sornjak] das man so schnell wie moumlglich ausrottenldquo solle89

Fast ein halbes Jahrhundert nach ihrer ersten Veroumlffentlichung wurde Pro-chorovs Konzept eines bdquopolitischen Hesychasmusldquo von seinem Schuumller Vladimir Petrunin wieder aufgegriffen und aktualisiert In der 2009 erschienenen Monogra-phie bdquoDer politische Hesychasmus und seine Traditionen in der Sozialkonzeption des Moskauer Patriarchatsldquo90 stellt Petrunin das sogenannte bdquoNichtgehorsamkeits-prinzipldquo (princip nepovinovenija) wie es in den von der Moskauer Bischofssyno-de im August 2000 verabschiedeten bdquoGrundlagen der Sozialkonzeption der Rus-sischen Orthodoxen Kircheldquo formuliert worden ist91 in eine Tradition die er bis auf die bdquopolitischen Hesychastenldquo im Byzanz des 14 und 15 Jahrhunderts zu-ruumlckzufuumlhren sucht Immer wieder zieht Petrunin Parallelen zwischen dem spaumlten Byzanz und dem postsowjetischen Russland Hatten die Byzantiner den Hesy-chasmus als Reaktion auf den Humanismus des Westens hervorgebracht so diene heute die Sozialkonzeption der Abwehr des westlichen Saumlkularismus Liberalis-mus und Kapitalismus Damals wie heute stuumlnden der kirchliche Heilsauftrag und die Verteidigung des Glaubens uumlber den Interessen des Staates selbst ndash wie das Beispiel von Byzanz zeige ndash um den Preis seines Untergangs Ebenso wie die byzantinischen Hesychasten den mit dem Westen kollaborierenden Herrschern die Gefolgschaft im Kampf gegen die Osmanen verweigert haumltten da sie die bdquoReinheit ihres Glaubensldquo eher bdquounter einem tuumlrkischen Turban als unter der lateinischen Tiaraldquo gewahrt sahen92 rufe die Sozialkonzeption die Kirche heute dazu auf der Staatsmacht den Gehorsam zu verweigern sollte diese bdquodie ortho-doxen Glaumlubigen zum Abfall von Christus und Seiner Kirche sowie zu suumlndhaften

89 Viktor Živov bdquoVidenija sveta i problemy russkogo srednevekovogo isichazmaldquo in Lidov

(Hg) Ierotopija 350ndash367 hier 363 359 90 Vladimir Petrunin Političeskij isichazm i ego tradicii v socialʼnoj koncepcii Moskovskogo

Patriarchata Sankt-Peterburg 2009 91 Osnovy socialrsquonoj koncepcii Russkoj Pravoslavnoj Cerkvi III5 lthttpwwwpatriarchia

rudbtext141422htmlgt Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo wird von den meisten Inter-preten als ein bemerkenswertes Umdenken in der Kirchenpolitik angesehen hatte doch die Russische Orthodoxe Kirche unter Patriarch Sergij in einer prekaumlren Lage 1927 Loyalitaumlt gegenuumlber dem Sowjetstaat gefordert Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo war auch eine wichtige Voraussetzung fuumlr die Vereinigung der Auslandskirche mit dem Moskauer Pa-triarchat Zur Sozialkonzeption insgesamt Vasilios N Makrides bdquoDie politische Aufgabe der Kirche Bemerkungen anhand der Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kir-cheldquo in Irene DingelChristiane Tietz (Hgg) Die politische Aufgabe von Religion Per-spektiven der drei monotheistischen Religionen Goumlttingen 2011 219ndash243

92 Petrunin Političeskij isichazm 66f 120 Es handelt sich um eine zeitgenoumlssische Losung Siehe Halina Evert-Kappesowa bdquoLa tiare ou le turbanldquo in Byzantinoslavica 14 (1953) 245ndash257 ndash Auch Aleksandr Nevskij (1220ndash1263) zog eine Verstaumlndigung mit den Mongo-len einer Union mit Rom vor die ihm Papst Innozenz IV im Jahr 1248 angeboten hatte und wandte sich stattdessen gegen die bdquoLateinerldquo Heutige Anti-Westler feiern den Heili-gen der Russischen Orthodoxen Kirche deshalb auch als bdquoersten Eurasierldquo

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 27

und der Seele abtraumlglichen Taten noumltigenldquo93 Die Sozialkonzeption hat fuumlr Petru-nin nur einen moumlglichen Sinn Falls Russlands politische Elite sich weiterhin dem liberalen Wertekanon des Westens verschreibe und Russlands bdquoEigenartldquo (samo-bytnostʼ) als bdquoorthodoxe Zivilisationldquo bestreite94 muumlsse die Kirche ndash wie einst in Byzanz ndash dem Staat die Loyalitaumlt aufkuumlndigen und das Volk zum Widerstand auf-rufen

Es ist ganz offensichtlich dass die Prozesse der Globalisierung und Saumlkularisierung eng miteinander verbunden sind So wie einst die byzantinischen Hesychasten ist heute die Russische Kirche mit der westlichen Zivilisation konfrontiert die nach der Weltherrschaft trachtet war fruumlher der Katholizismus deren Grundlage so ist es jetzt der saumlkulare Humanismus [hellip] Waumlhrend sie [die westliche Welt MH] damals fuumlr die Hesychasten mit Rom gleichgesetzt wurde so verkoumlrpert heute das kosmopolitische New York den Westen Indem sie Liberalismus und Saumlkularisie-rung abwehrt tritt die Kirche auch gegen die politischen und wirtschaftlichen Hegemoniebestrebungen des Westens auf und stellt so ihr Bestreben unter Beweis die zivilisatorische Eigenstaumlndigkeit Russlands wieder herzustellen Wie schon vor 600 Jahren im Byzantinischen Imperium so ist auch heute in Russland allein die Kirche ein ernstzunehmender und gut organisierter Gegner des Westens und seiner saumlkularen Werte [hellip] Sollte Russland weiter den Weg der Saumlkularisierung be-schreiten so koumlnnte damit fuumlr die Kirche der gefaumlhrliche Praumlzedenzfall geschaffen werden in dem sie von ihrem Recht Gebrauch machen muumlsste das Volk zu zivilem Ungehorsam aufzurufen95

In seinem Vorwort nannte Prochorov das Buch seines Schuumllers eine bdquoWarnung an unseren Staat unsere saumlkulare Gesellschaft an uns alleldquo96 Wie das spaumlte Byzanz unter dem bdquoDruck aus dem Westenldquo gestanden habe ndash dem die Herrscher und die bdquoHumanistenldquo schlieszliglich nachgegeben haumltten ndash so laufe auch das postkommu-nistische Russland Gefahr dem bdquoDruck des Liberalismus und der Globalisierungldquo nachzugeben Allein die Orthodoxe Kirche habe sich damals wie heute als bdquoFes-tungldquo erwiesen faumlhig diesem bdquozersetzenden Einflussldquo Widerstand zu leisten97

Petrunins Buch das mit dem Segen von Metropolit Ilarion (Grigorij Al-feev)98 erschienen war stieszlig bei westlichen Forschern auf Skepsis und Ableh-nung So kritisierte Kristina Stoumlckl die unhistorische Interpretation und forcierte Aktualisierung der philosophischen theologischen und politischen Kontroversen des 14 Jahrhunderts sowie die einseitige konservative Interpretation der Sozial-konzeption Hesychasmus werde in dem Kirchendokument ebenso wenig erwaumlhnt

93 Osnovy socialrsquonoj koncepcii 94 Petrunin Političeskij isichazm 81 95 Ebd 122f 96 Ebd 5 97 Ebd 98 Zu jener Zeit Bischof von Wien und Oumlsterreich heute Leiter des Auszligenamtes des Moskau-

er Patriarchats und scharfer Kritiker des bdquomilitanten Saumlkularismusldquo des Westens Siehe auch lthttpazbykaruxristianstvo-pered-vyzovom-voinstvuyushhego-sekulyariz ma-2gt

28 Michael Hagemeister

wie der Untergang von Byzanz99 Klaus Buchenau warf Petrunin vor er bdquoverfor-m[e] und ideologisier[e] die urspruumlnglichen Motive des hesychastischen Moumlnch-tums bis zur Unkenntlichkeitldquo100 Und Viktor Živov der bereits Prochorovs Kon-zept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo als bdquoUnkrautldquo bezeichnet hatte sah in Petru-nins Buch ein Beispiel dafuumlr wie dieses sich bdquospontan und schaumldlichldquo ausbreite Die von Petrunin konstruierte bdquophantastische Genealogie des politischen Hesy-chasmusldquo beruhe so Živov auf einer bdquoMischung aus Einseitigkeit und Unwissen-heitldquo Weder sei der bdquotuumlrkische Turbanldquo fuumlr den Patriarchen attraktiv gewesen noch sei am Widerstand gegen die Union irgendetwas spezifisch bdquoHesychasti-schesldquo Petrunin habe ein bdquoPhantomldquo geschaffen dessen angebliche Verbindung mit der Sozialkonzeption man nicht weiter zu verfolgen brauche101

bdquoNeobyzantismusldquo Das Dritte Rom ndash der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo

Eine eigenwillige Interpretation des Hesychasmus und seine Wendung gegen den Westen stammen von Aleksandr Dugin dem Fuumlhrer der bdquoeurasischenldquo Bewegung und einflussreichsten Vordenker der Neuen Rechten in Russland Der polyglotte und belesene Autodidakt der nie eine akademische Ausbildung genossen hat war Gruumlnder der Partei der Nationalbolschewisten Berater des Vorsitzenden der Du-ma und des Generalstabs sowie von 2008 bis 2014 Professor fuumlr Soziologie an der renommierten Moskauer Lomonosov-Universitaumlt und Direktor des dortigen bdquoZentrums fuumlr Konservatismusstudienldquo Seit Anfang der 1990er Jahre verbreitet er mit graphomanem Eifer seine politischen und bdquometaphysischenldquo Botschaften in einer inzwischen kaum noch uumlberschaubaren Zahl von Publikationen102 und Web-Artikeln in mehreren Sprachen sowie durch spektakulaumlre Auftritte in staats-nahen Medien103 99 Kristina Stoumlckl bdquoPolitical Hesychasm Vladimir Petruninrsquos Neo-Byzantine Interpretation

of the Social Doctrine of the Russian Orthodox Churchldquo in Studies in East European Thought 62 (2010) 125ndash133

100 Klaus Buchenau Auf russischen Spuren Orthodoxe Antiwestler in Serbien 1850ndash1945 Wiesbaden 2011 480 Anm 2

101 Živov bdquoVidenija svetaldquo 364f ndash Von der Kritik offenbar unbeeindruckt verschaumlrfte Petru-nin noch seine Position So sprach er 2012 in einem Vortrag uumlber die gesellschaftliche und politische Wirkung der hesychastischen Gebetspraxis Nach dem Fall von Byzanz sei das bdquoJesusgebet faktisch zu einem sbquopolitischen Gebetlsquoldquo geworden das auf die bdquoVerwandlung [preobraženie] der orthodoxen Oumlkumeneldquo ausgerichtet gewesen sei und das bdquoPhaumlnomen der Heiligen Rusrsquoldquo hervorgebracht habe lthttpsynergia-isarup=8604gt

102 Zuletzt in der bislang fuumlnf Baumlnde umfassenden Reihe bdquoNoomachijaldquo (2014ndash2015) einer hochambitioumlsen letztlich aber manichaumlisch-schematischen Beschreibung der bdquoSuche nach dem Logosldquo in den ndash von Dugin essenzialistisch aufgefassten ndash bdquoWeltkulturenldquo

103 Auch die Literatur zu Dugin ist kaum noch uumlberschaubar Siehe zB Alexander Houmlllwerth Das sakrale eurasische Imperium des Aleksandr Dugin Eine Diskursanalyse zum post-sowjetischen russischen Rechtsextremismus Stuttgart 2007 Stefan Wiederkehr Die eurasische Bewegung Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwi-schenkriegszeit und im postsowjetischen Russland Koumlln [ua] 2007 227ndash261 Anton

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 29

Dugin deutet den Hesychasmus im Rahmen des sogenannten bdquointegralen Traditionalismusldquo einer antimodernen Denkrichtung die im ersten Drittel des 20 Jahrhunderts in Frankreich und Italien entstand und in Reneacute Gueacutenon (1886ndash1951) und Julius Evola (1898ndash1974) ihre bekanntesten (und auch fuumlr Dugin wichtigsten) Vertreter hat104 Ihre Lehre besagt dass alle Religionen ungeachtet ihrer histori-schen und regionalen Auspraumlgungen in ihrem esoterischen nur dem Eingeweih-ten zugaumlnglichen Kern eine gemeinsame urspruumlngliche Wahrheit teilen und als philosophia perennis tradieren das Wissen um die Goumlttlichkeit und den Zugang zu ihr Dieses sakrale und initiatorische Wissen sei im Verlauf der westlichen Mo-derne insbesondere durch die Aufklaumlrung verlorengegangen in traditionellen Gesellschaften (China Indien islamische Welt) jedoch bewahrt geblieben105

Auch die Orthodoxie so Dugin habe im Gegensatz zu Katholizismus und Protestantismus bdquodie Treue zum esoterischen Kernldquo bewahrt naumlmlich in ihrer mystischen Unterstroumlmung dem Hesychasmus106 In der Kanonisierung des Gre-gorios Palamas durch die Ostkirche bei gleichzeitiger Verdammung des Humanis-ten Barlaam sieht Dugin das Bekenntnis zum bdquognostisch-realistischen Geist der orthodoxen Esoterikldquo Ganz im Sinn des Traditionalismus deutet er die psycho-physische Uumlbung der Hesychasten das bdquogeistige Tunldquo als Verfahren der bdquoInitia-tionldquo und das Endziel der bdquoVerklaumlrungldquo und bdquoVergoumlttlichungldquo als bdquoalchemistische Verwandlung des Leibesldquo (alchimičeskoe preobraženie tela) Dadurch wuumlrden der bdquoDualismus von Geist und Materie Leib und Seeleldquo sowie die bdquoGrenzen der Individualitaumltldquo ndash charakteristisch fuumlr den bdquorein exoterischen Mystizismusldquo des Westens ndash aufgehoben107 Die bdquoTradition der hesychastischen Esoterikldquo sei die

Shekhovtsov bdquoThe Palingenetic Thrust of Russian Neo-Eurasianism Ideas of Rebirth in Aleksandr Duginrsquos Worldviewldquo in Totalitarian Movements and Political Religions 9 (2008) 491ndash506 Mark Sedgwick bdquoOccult Dissident Culture The Case of Aleksandr Du-ginldquo in Birgit Menzel [ua] (Hgg) The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimen-sions MuumlnchenBerlin 2012 273ndash292 Schmid Technologien der Seele 210ndash220

104 Aleksandr Dugin Filosofija tradicionalizma Moskva 2002 Zum Traditionalismus siehe das Standardwerk von Mark Sedgwick Against the Modern World Traditionalism and the Secret Intellectual History of the Twentieth Century OxfordNew York 2004 zu Dugin 221ndash237 Vgl auch Christopher DL Johnson The Globalization of the Jesus Prayer Con-testing Contemplation London New York 2010 70ndash73

105 Aumlhnliche Gedanken entwickelte Pavel Florenskij bereits 19081909 in seinem Vortrag bdquoObščečelovečeskie korni idealizmaldquo in dem er die bdquoEsoterikldquo der Philosophie Platons und seiner Nachfolger in der bdquoallgemeinmenschlichenldquo mystisch-magischen Weltauffas-sung der bdquoVolksseeleldquo wurzeln laumlsst

106 Das Folgende nach Aleksandr Dugin bdquoOboženie preestestvennejšeeldquo in Milyj angel 1 1991 56ndash59

107 Das Konzept der bdquoInitiationldquo und die Unterscheidung von bdquoesoterischldquo und bdquoexoterischldquo sind zentral fuumlr die Anhaumlnger des Traditionalismus siehe Sedgwick Against the Modern World 265 ndash Als Mitglied des okkultistischen und faschistischen Južinskij-Kreises machte Dugin in Moskaus bdquomystischem Untergrundldquo in den 1980er Jahren selbst Entgrenzugser-fahrungen mit Hilfe sexualmagischer Praktiken und bewusstseinserweiternder Drogen Bei einem Teil der orthodoxen Glaumlubigen stoumlszligt seine Esoterik denn auch auf Misstrauen und

30 Michael Hagemeister

bdquoSeele der russischen Orthodoxieldquo und habe in Serafim von Sarov ihren bdquoletzten leuchtendsten Vertreterldquo gefunden

Der Hesychasmus gehoumlre zum traditionellen Erbe von Byzanz das Russ-land angetreten habe als es zum Dritten Rom und zum Zentrum der orthodoxen Welt geworden sei bdquoWir sindldquo so Dugin bdquobyzantinisch in unserer Seele unseren Wurzeln und in unserer Identitaumltldquo108

Unser stabilstes Fundament ist Byzanz [hellip] Russland ist Byzanz [hellip] Unsere For-mel lautet Der Westen ist das Boumlse Byzanz das Gute Alles Schlechte das uumlber Byzanz geschrieben wurde ist eine Luumlge Das sind lediglich Winkelzuumlge im ideolo-gischen Kampf von Seiten des Westens [hellip] Jeder Russe muss wissen Byzanz ist das reine Gute Jeder der etwas anderes behauptet ist ein Feind [hellip] Wer Byzanz kritisiert ist ein Feind des russischen Volkes Das muss unser ehernes Prinzip sein [hellip] Byzanz ist der absolute Orientierungspunkt des russischen Projekts109

Damit sind Russlands Ort und Mission in der bdquohistoriosophischenldquo Deutung des Weltgeschehens bestimmt Nach Dugin wird die Geschichte der Menschheit be-herrscht vom bdquookkulten planetarischen Ringenldquo zweier antagonistischer Maumlchte dem bdquogroszligen Krieg der Kontinenteldquo Land gegen Meer Behemoth gegen Levia-than die organischen bodenstaumlndigen und traditionalistischen bdquoTellurokratienldquo des eurasischen Ostens gegen die wurzel- und seelenlosen materialistischen bdquoTha-lassokratienldquo des angloamerikanischen Westens das apokalyptische Tier aus dem Meer (Offb 13 1-10)110 Die USA als bdquoQuintessenz des Westensldquo und New York als moderne Hure Babylon (Offb 17 und 18) sind das Reich des Antichrist eine chimaumlrisch-antiorganische transplantierte Zivilisation die keine sakrale Tradi-tion besitze ihre Selbsterhebung zu bdquoGottes neuem Israelldquo und bdquoNeuem Zionldquo ndash gemaumlszlig der anglo-amerikanischen Interpretation der Substitutionslehre ndash deutet Dugin als besonders perfiden Taumluschungsversuch des bdquowestlichen Antichristldquo Das Jahr der Entdeckung Amerikas (1492 ist nach der altrussisch-byzantinischen

offene Ablehnung Fuumlr den Sektenexperten des Moskauer Patriarchats ist Dugin ein bdquoge-faumlhrlicher Feindldquo der die bdquoOrthodoxie in Kabbalistik umzuschmelzenldquo versuche Andrej Kuraev Cerkovrsquo v mire ljudej Moskva 2006 142

108 Aleksandr Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Tradition Duginrsquos Guidelineldquo lthttpswwwyoutubecomwatchv=m0RIa61eZDggt

109 Aleksandr Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo in ders Russkaja Veščrsquo Očerki nacionalrsquonoj filosofii Bd 1 Moskva 2001 69ndash76 hier 70ndash72 (Hervorhebungen im Original) Der Be-griff bdquoByzantismusldquo (vizantizm) ndash im Unterschied zum negativ konnotierten bdquoByzantinis-musldquo ndash als Bezeichnung eines dem europaumlischen entgegengesetzten Kulturtypus der auf den Prinzipien von Orthodoxie und Selbstherrschaft beruht geht auf den konservativen Philosophen Konstantin Leontrsquoev (1831ndash1891) und sein Buch Vizantizm i slavjanstvo (1875) zuruumlck

110 Auch fuumlr den von Dugin verehrten Heidegger waren die Seemaumlchte Groszligbritannien und Amerika nicht Teil der abendlaumlndischen Tradition sondern im Gegensatz zum restlichen Europa wurzellos und sinnleer Der Antagonismus von Land und Meer die kategorische Unterscheidung von Freund und Feind sowie das Konzept des Katechon gehen auf Carl Schmitt zuruumlck als dessen Schuumller Dugin sich bezeichnet Siehe auch Fn 41

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 31

Weltaumlra das Jahr 7000 nach dem chiliadischen Weltwochenschema also der sieb-te Tag der Schoumlpfung) verweise ebenso auf den Endzeitcharakter der bdquoNeuen Weltldquo wie die bdquosakrale Geographieldquo nach der das Paradies im Osten die Houmllle aber das bdquoLand des Todesldquo im Westen zu suchen seien111

Dem Antichrist entgegen stehe seit jeher der Katechon dessen bdquoletzter Hortldquo bis ans Ende der Zeit die Heilige Rusrsquo das Dritte Rom sei112 In der petrini-schen Epoche als die Hauptstadt in die bdquonoumlrdlichen Suumlmpfeldquo in die bdquoGespenster-stadtldquo Petersburg verlegt und das Patriarchat abgeschafft wurde haumltten allein die Altglaumlubigen den Geist von Byzanz den Katechon bewahrt zweihundert Jahre lang sei der Weg frei gewesen fuumlr das zerstoumlrerische Wirken des Antichrist Erst die sowjetische Periode habe eine bdquomystische Ruumlckkehr zum Byzantismusldquo be-deutet indem die Bolschewiki das heilige Moskau wieder zur Hauptstadt erklaumlr-ten das Patriarchat wiederherstellten die Ausbeuter als Klasse vernichteten und dem Westen auf allen Gebieten Widerstand boten Im bdquoroten Byzantismusldquo der Dritten Internationale sei der Katechon zuruumlckgekehrt113

Um seine Mission zur Erloumlsung der Menschheit auch kuumlnftig zu erfuumlllen muumlsse das Dritte Rom nach dem Zerfall der Sowjetunion114 nunmehr ein groszligkon-tinentales sakral fundiertes bdquoEurasisches Imperiumldquo errichten gegen den Erz-feind die materialistische universalistische alles nivellierende Zivilisation des Westens als der Verkoumlrperung des bdquoweltweiten Boumlsenldquo (mirovoe zlo) gegen Libe-ralismus Individualismus Globalismus Egalitarismus sowie die bdquomondialisti-scheldquo Konzeption der Menschenrechte115 Verbuumlndete im bevorstehenden apoka-lyptischen bdquoEndkampfldquo (von Dugin stets deutsch geschrieben) werden all jene sein die den Bezug zum bdquoSakralenldquo noch nicht verloren haben russische Altglaumlu-bige ultraorthodoxe antizionistische Juden europaumlische Traditionalisten sowie jene bdquoanti-atlantischenldquo islamistischen Fundamentalisten die in den USA den Dajjacircl den falschen Messias und Antichrist erkennen gegen den die Retter-gestalt des Mahdicirc zu Felde ziehen wird116 111 Aleksandr Dugin Absoljutnaja Rodina Puti Absoljuta Metafizika Blagoj Vesti Misterii

Evrazii Moskva 1999 645ndash670 112 Ebd 378ndash395 493ndash521 113 Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo 74ndash76 Siehe auch ders bdquoKatechon i revoljucijaldquo in ders

Tampliery proletariata Nacional-bolrsquoševizm i iniciacija Moskva 1997 52ndash59 ndash Die mes-sianische Identifizierung des Dritten Rom mit der Dritten Internationale reicht bis ins Gruumlndungsjahr der Komintern (1919) zuruumlck Beide so der slawophile Philosoph und An-haumlnger des imjaslavie Valerian Muravrsquoev (1885ndash1930) in einem Brief vom 6 Januar 1920 an Lev Trockij seien Ausdruck der Suche des russischen Volkes und der Intelligencija nach einem Reich der Wahrheit und Gerechtigkeit Valerian Muravrsquoev Sočinenija Bd 2 Moskva 2011 352f Weitere Belege bei Emanuel Sarkisyanz Russland und der Messianis-mus des Orients Tuumlbingen 1955 196 Mikhail Agursky Third Rome National Bolshevism in the USSR Boulder Co 1987

114 Damals sah ein Journalist bdquoauf den Ruinen des Imperiumsldquo das Dritte Rom in Gefahr zu einem Land der Dritten Welt zu werden Andrej Fadin bdquoTretij Rim v tretrsquoem mire Razmy-šlenija na ruinach imperiildquo in Nezavisimaja gazeta 1291991

115 [Aleksandr Dugin] bdquoLibo-my libo-ničtoldquo in Ėlementy 8 19961997 1ndash4 hier 2 116 [Aleksandr Dugin] bdquoIdeologija Mirovogo Pravitelrsquostvaldquo in Ėlementy 2 1992 1f

32 Michael Hagemeister

Das Dritte Rom als Zentrum des eurasischen bdquoEuro-Sowjetischen Imperiumsldquo Titelbild der von Aleksandr Dugin herausgegebenen Zeitschrift bdquoElemente Eurasische Rundschauldquo (1992) Dugins Werk mit seiner provokanten Mischung esoterischer antimoderner und antiwestlicher Motive findet besonders unter jungen Intellektuellen Anklang und Nachahmer so etwa bei dem promovierten Philosophen und selbstproklamierten bdquoorthodoxen Metaphysikerldquo Arkadij Maler einem vehementen Propagandisten einer bdquopolitischen Orthodoxieldquo (političeskoe Pravoslavie) und fuumlhrenden Ideolo-gen der bdquoneobyzantinischenldquo Doktrin Obwohl sich Maler von Dugin distan-ziert117 beschwoumlrt auch er die eschatologische bdquogeistige Mission des Dritten Romldquo die es von Byzanz geerbt habe und die in seiner bdquozentralen katechontischen Rolleldquo bestehe dem Kampf gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo des bdquogottlosen Wes-tensldquo118 Russische Politik koumlnne deshalb nicht anders als imperial sein und muumlsse ihren Einfluss auf den gesamten Planeten ausdehnen Wie Dugin sieht auch Maler die Bolschewiki in dieser Tradition als sie Moskau zur Hauptstadt des bdquoRoten

117 In den spaumlten 1990er Jahren gehoumlrte Maler der vaumlterlicherseits juumldischer Abstammung ist

zusammen mit Dugin und Ėduard Limonov zur Fuumlhrungsriege der Nationalbolschewisti-schen Partei und schrieb fuumlr die Parteizeitung Limonka sich selbst charakterisierte er als bdquorotbraunen Zionistenldquo Nach seiner Konversion zur Orthodoxie trennte er sich 1999 von Dugin und kritisierte dessen esoterischen Traditionalismus aus einer ultraorthodoxen Posi-tion Dugin wiederum warf Maler vor ihn zu plagiieren

118 Arkadij Maler Duchovnaja missija Tretrsquoego Rima Moskva 2005 bes 134ndash136 170ndash206 Siehe auch ders bdquoIdeologija Vizantizmaldquo in Severnij Katechon 1 (2005) 7ndash49 bdquoNeovi-zantizm kak novyj bolrsquošoj stilrsquoldquo in Aleksej Nilogov (Hg) Kto segodnja delaet filosofiju v Rossii Moskva 2007 110ndash124

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 33

Imperiumsldquo machten und dieses zur bdquoabsoluten Antithese des Westensldquo erklaumlrten zum bdquoTraumlger der planetarischen Mission der Befreiung der Welt aus den sbquoFesseln des Kapitalslsquoldquo119 Das Dritte Rom sei zeitweise in die Dritte Internationale trans-formiert worden ohne jedoch seine Mission als Katechon als aufhaltende Macht gegen das Reich des Boumlsen und Ausgangspunkt zur Errettung der Welt aufzuge-ben Die bdquoletzte Etappeldquo im Kampf gegen den Antichrist werde so Maler der bdquoeschatologische Krieg des Dritten Rom gegen das Dritte Karthagoldquo den bdquoAnti-katechonldquo sein die bdquoanglo-amerikanische [] atlantische Zivilisationldquo120 Zur Propagierung der katechontischen Mission Russlands gruumlndete Maler 1999 am Institut fuumlr Philosophie der Akademie der Wissenschaften in Moskau einen bdquoBy-zantistischen Klub Katechonldquo (Vizantistskij Klub Katechon) und 2005 das bdquoPhi-losophisch-politische Zentrum sbquoNoumlrdlicher Katechonlsquoldquo das einen gleichnamigen Almanach (Severnyj Katechon) herausgibt121

Apokalyptischer Ausblick

Die Formel vom Dritten Rom und die Figur des Katechon des Aufhalters des bdquoweltweiten Boumlsenldquo sind zu Markenzeichen russischer Anti-Westler und Ver-schwoumlrungstheoretiker und ihres schrillen Szenariums eines globalen apokalyp-tischen bdquoEndkampfesldquo gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo geworden122 Unter dem Titel bdquoDie russische Doktrin Die Staatsideologie der Epoche Putinsldquo verfasste in den Jahren 2005 und 2006 ein Kollektiv nationalpatriotischer Autoren ndash unter ih-nen der bdquoByzantistldquo Arkadij Maler ndash ein uumlber 1000 Seiten langes ultrakonservati-ves und antiwestliches Manifest das auch die Unterstuumltzung hoher kirchlicher Wuumlrdentraumlger fand123 In ihrem Entwurf einer bdquoorganischen weltanschaulichen Plattformldquo fuumlr das kuumlnftige Russland behandeln die Autoren ausfuumlhrlich die bdquohis-toriosophischeldquo Konzeption vom Dritten Rom und seine Mission als Katechon gegen das bdquoHeidentumldquo des Westens124 Gefordert wird die positive Identifikation

119 Maler Duchovnaja missija 182f 185 120 Ebd 177 ndash Als Mittel im ideologischen Kampf gegen den saumlkularen Westen fordert Maler

in Analogie zur katholischen Gegenreformation eine orthodoxe konservative bdquoGegenauf-klaumlrungldquo (Kontrprosveščenie) lthttpwwwkatehonruhtmltoppolitologiaideaotkritije _polit_pravoslavijahtmgt

121 Siehe die Website lthttpwwwkatehonrugt 122 Siehe zB Galina A Morozova Tretij Rim protiv novogo mirovogo porjadka Moskva

2009 Die Formel von Dritten Rom hat laumlngst auch Schriftsteller und Maler inspiriert und scheint auch werbewirksam zu sein bdquoDrittes Romldquo nennt sich ein Verlag ein Videospiel eine Bank ein Reisebuumlro und sogar ein Kasino in Jalta Ein Schoumlnheitswettbewerb in Mos-kau vergibt alljaumlhrlich den Titel einer bdquoMiss Drittes Romldquo Judith E Kalb Russiarsquos Rome Imperial Visions Messianic Dreams 1890ndash1940 Madison Wisconsin 2008 198f Zum Katechon siehe Maria Engstroumlm bdquoContemporary Russian Messianism and New Russian Foreign Policyldquo in Contemporary Security Policy 35 (2014) 3 356ndash379

123 Russkaja doktrina Gosudarstvennaja ideologija ėpochi Putina Moskva 2016 124 Ebd 68ndash72 116ndash120 und passim

34 Michael Hagemeister

mit der Geschichte Russlands und seinen Lichtgestalten dem Heiligen Serafim von Sarov dem bdquoeschatologischen Fuumlhrer des russischen Volkes am Ende der Zeitenldquo der bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo und Stalin der dem paulinischen Kate-chon gleich die bdquoGesetzlosigkeitldquo (bezzakonie) bekaumlmpft und das bdquoFundament fuumlr eine groszlige Zukunftldquo gelegt habe125

bdquoKatechonldquo nennt sich auch ein prominent besetzter Think tank den der Oligarch und Berater Putins Konstantin Malofeev im Jahr 2015 gegruumlndet hat126 Der Milliardaumlr der sein Vermoumlgen mit einer Investmentfirma auf den Cayman Inseln gemacht hat bezeichnet sich selbst als bdquoorthodoxen Monarchistenldquo127 Er unterstuumltzt die Separatisten in der Ostukraine und unterhaumllt vielfaumlltige Verbindun-gen zu europaumlischen Rechtspopulisten wie dem Front National der FPOuml Syriza und der Lega Nord Neben dem Forum bdquoKatechonldquo betreibt Malofeev auch einen Fernsehsender mit dem programmatischen Namen bdquoZargradldquo128 (Motto bdquoDas Licht Christi erleuchtet alleldquo) dessen Chefkommentator niemand anderes ist als Aleksandr Dugin129

bdquoKatechonldquo und bdquoZargradldquo propagieren den Kampf gegen die westliche Moderne mit Bezug auf das byzantinische Erbe Russlands Im November 2014 fand in der Moskauer Manege eine Konferenz bdquoMoskau ndash das Dritte Romldquo statt130 An ihr nahmen auszliger Dugin und Malofeev auch Archimandrit Tichon und Nata-lrsquoja Naročnickaja teil eine hochrangige Diplomatin Mitglied des Izborsker Klubs und Leiterin des Pariser bdquoInstituts fuumlr Demokratie und Kooperationldquo das die oumlf-fentliche Meinung im Westen im Sinne des Kremls beeinflussen soll Tichons Film bdquoDie Lehre von Byzanzldquo sei so Naročnickaja auch eine Warnung an den Westen der seine christlichen Werte verraten habe weshalb er den glaubens-festen Migranten und ihrer Verachtung hilflos ausgeliefert sei131

Im Oktober 2009 wurde Tichons Film in Athen vor ausverkauftem Saal aufgefuumlhrt Unter denen die dem Drehbuchautor Beifall spendeten war der Philo-soph und Theologe Christos Yannaras einer der Hauptvertreter der Neoorthodo-xie und scharfer Kritiker des Westens Wie ihre russischen Gesinnungsgenossen

125 Ebd 130f 153 142ndash145 126 Mit einem Auftritt im Internet in 9 Sprachen Siehe die deutsche Version unter lthttp

katehoncomdewer-sind-wirgt 127 lthttpsdewikipediaorgwikiKonstantin_Walerjewitsch_Malofejewgt 128 Carrsquograd ist der altrussische Name fuumlr Konstantinopel 129 Auch Dugin unterhaumllt seit mehr als 25 Jahren Kontakte zu ultrakonservativen traditiona-

listischen und faschistischen Gesinnungsgenossen in Westeuropa Siehe Vladimir Ivanov Alexander Dugin und die rechtsextremen Netzwerke Fakten und Hypothesen zu den inter-nationalen Verflechtungen der russischen Neuen Rechten Stuttgart 2007

130 lthttpwwwpravoslavieru75070htmlgt 131 lthttpwwwpravoslavieru7414htmlgt ndash Fuumlr Metropolit Ilarion (Alfeev) der sich dabei

auf Dugin beruft verwandeln sich die Laumlnder Westeuropas bereits in die bdquoSphaumlre des Anti-christldquo lthttpwwwpatriarchiarudbtext3065216htmlgt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 35

verherrlichen auch die griechischen Neoorthodoxen die byzantinische Vergan-genheit und sehen in der modernen saumlkularen Gesellschaft eine Bedrohung ihrer kulturellen Identitaumlt132 Gemeinsam suchen sie der Globalisierung mit einer bdquoby-zantinischen Internationaleldquo als bdquoorthodoxer Oumlkumeneldquo entgegenzuwirken einer letztlich sakral verstandenen Gemeinschaft deren Einfluss indes weit uumlber die kirchliche Sphaumlre hinausreichen und eine transnationale Vereinigung der ortho-doxen Welt von Serbien uumlber Syrien bis Georgien und Armenien unter Fuumlhrung Moskaus schaffen soll133 Als wichtiger symbolischer Schritt auf diesem Weg wurde der Besuch von Praumlsident Putin und Patriarch Kirill des Heiligen Berges Athos einer traditionellen Hochburg antiwestlicher Opposition im Mai 2016 ge-feiert Das weltliche und das geistliche Oberhaupt Russlands ndash die bdquoSymphonia der Maumlchteldquo ndash zeigten damit so Aleksandr Dugin ihr Bekenntnis zu Byzanz und seiner Rolle als Katechon Damit anerkenne bdquounsere Rusrsquo ihre historische Bestim-mung Wir sind bereit fuumlr die Endzeitldquo134

132 Ausfuumlhrlich dazu Daniel P Payne The Revival of Political Hesychasm in Contemporary

Orthodox Thought The Political Hesychasm of John Romanides and Christos Yannaras Lanham [ua] 2011 Siehe auch Vasilios N Makrides bdquoByzantium in Contemporary Greece The Neo-Orthodox Current of Ideasldquo in David RicksPaul Magdalino (Hgg) Byzantium and the Modern Greek Identity Aldershot 1998 141ndash153 Zum griechischen Neobyzantismus unter russischem Einfluss Aleksey Kamenskikh bdquoThe Image of the Second Rome through the Prism of the Thirdrdquo in Teresa Obolevich [ua] (Hgg) Russian Thought in Europe Reception Polemics Development Krakoacutew 2013 13ndash22 ndash Antimo-derne und antiwestliche Stroumlmungen in den vom orthodoxen Christentum gepraumlgten Kultu-ren haben der Religionswissenschaftler Makrides und der Slavist Uffelmann vor einigen Jahren als Desiderat der Forschung benannt Vasilios N MakridesDirk Uffelmann bdquoStudying Eastern Orthodox Anti-Westernism The Need for a Comparative Research Agendaldquo in Jonathan SuttonWil van den Bercken (Hgg) Orthodox Christianity and Contemporary Europe Leuven [ua] 2003 87ndash120 Seitdem haben Makrides und die Politikwissenschaftlerin Stoumlckl eine Reihe einschlaumlgiger Arbeiten vorgelegt in denen or-thodoxe Alternativen zu westlichen philosophischen und politischen Konzepten untersucht werden Vasilios N Makrides bdquoOrthodoxes Cristentum und Moderne ndash Inkompatibilitaumlt oder langfristige Anpassungldquo in Una Sancta 2011 1 15ndash30 ders bdquoOumlstliches orthodo-xes Christentum und Saumlkularitaumlt Ein Vergleich mit dem lateinischen Christentumldquo in Transit 47 (2015) 59ndash75 Kristina Stoumlckl bdquoModernity and its Critique in Twentieth Cen-tury Russian Orthodox Thoughtldquo in Studies in East European Thought 58 (2006) 243ndash269 dies Community after Totalitarianism The Russian Orthodox Intellectual Tradition and the Philosophical Discourse of Political Modernity Frankfurt aM [ua] 2008

133 Dazu gehoumlrt auch die Verwirklichung des jahrhundertealten Traums der Wiedererrichtung des Kreuzes auf der Hagia Sophia Siehe Egor Cholmogorov Russkij proekt restavracija buduščego Moskva 2005 283 Der Verfasser Mitglied des Expertenteams des Izborsker Klubs ist Begruumlnder der Doktrin der bdquoAtomaren Orthodoxieldquo siehe Fn 74

134 Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Traditionldquo

ZUM AUTOR

Michael Hagemeister geb 1951 in EllwangenJagst Studium der Slavistik Ge-schichte Germanistik und Philosophie in Basel und MarburgLahn Promotion mit einer Arbeit uumlber den russischen Philosophen Nikolaj Fedorov Wissenschaft-licher Mitarbeiter am Slawischen Seminar in Marburg Gastprofessor am Seminar fuumlr Komparatistik der Universitaumlt Innsbruck Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lotman-Institut fuumlr russische und sowjetische Kultur der Ruhr-Universitaumlt Bo-chum am Lehrstuhl fuumlr Geschichte Osteuropas der Europa-Universitaumlt Viadrina Frankfurt (Oder) an den Historischen Seminaren der Universitaumlten Basel Duumlssel-dorf und Bochum Vertretung der Professuren fuumlr Geschichte Osteuropas an der Ludwig-Maximilians Universitaumlt Muumlnchen und an der Europa-Universitaumlt Frank-furt (Oder)

Forschungen zur russischen Philosophie und Geistesgeschichte zum utopischen und apokalyptischen Denken in Russland zum russischen Rechtsextremismus und Antisemitismus sowie insbesondere zu den Protokollen der Weisen von Zion und ihrem Herausgeber Sergej Nilus Publikationen ua Die Neue Menschheit Biopolitische Utopien in Russland (hg mit Boris Groys) Frankfurt aM 2005 The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimensions (hg mit Birgit Menzel und Bernice Rosenthal) Muumlnchen 2012 Die Fiktion von der juumldischen Weltver-schwoumlrung Zu Text und Kontext der bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo (hg mit Eva Horn) Goumlttingen 2012 Die bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo vor Gericht Der Berner Prozess und die bdquoantisemitische Internationaleldquo in der Zwischen-kriegszeit Chronik Dokumente und Kommentare Zuumlrich (im Druck)

ERFURTER VORTRAumlGE ZUR KULTURGESCHICHTE DES ORTHODOXEN CHRISTENTUMS Reihenherausgeber Vasilios N Makrides

Heft 1 Thomas Bremer Konfrontation statt Oumlkumene Zur kirchlichen Situation in der Ukraine Erfurt 2001

Heft 2 Gerhard Podskalsky Zur Hermeneutik des theologischen Ost-West-

Gespraumlchs in historischer Perspektive Erfurt 2002 Heft 3 Karl Christian Felmy Warum und zu welchem Behufe treiben wir

Ostkirchenkunde Erfurt 2003 Heft 4 Wassilios Klein bdquoTatarenjoch ndash татарское игоldquo Beobachtungen zur

Wahrnehmung des Islam im eurasischen Raum Erfurt 2005 Heft 5 Stamatios D Gerogiorgakis Zeitphilosophie im Mittelalter Byzantinische

und lateinische Vorstellungen Erfurt 2006 Heft 6 Heinz Ohme Das Oumlkumenische Patriarchat von Konstantinopel und die

tuumlrkische Religionspolitik Erfurt 2007 Heft 7 Alexander Agadjanian Russian Orthodox Vision of Human Rights Recent

Documents and Their Significance Erfurt 2008 Heft 8 Christos Yannaras Wem gehoumlrt die griechische Antike Erfurt 2009 Heft 9 Joachim Willems Religions- und Ethikunterricht in Russland ndash Was

wollen Staat und Kirche Zur Einfuumlhrung des neuen Schulfaches bdquoGrundlagen der religioumlsen Kulturen und der weltlichen Ethikldquo Erfurt 2010

Heft 10 Chris Hann Eastern Christianity and Western Social Theory Erfurt 2011 Heft 11 Jennifer Wasmuth Akademische Theologie im zaristischen Russland in

ihrer Bedeutung fuumlr die neuere orthodoxe Theologie Erfurt 2012 Heft 12 Anna Briskina-Muumlller Auf der Suche nach der bdquoHesychialdquo Paisij

Veličkovskij (1722ndash1794) und sein Leben fuumlr die bdquoPhilokalieldquo Erfurt 2014

Heft 13 Vladimir Cvetković From ldquoMerciful Angelrdquo to ldquoFortress Europerdquo The

Perception of Europe and the West in Contemporary Serbian Orthodoxy Erfurt 2015

Heft 14 Stefan G Reichelt Lebenslinien Nikolaj A Berdjaev (1874ndash1948) und Sergij N Bulgakov (1871ndash1944) im Westen ndash Eine Wuumlrdigung Erfurt 2015

Heft 15 Michael Hagemeister Der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo ndash bdquoNeobyzantismusldquo

und bdquopolitischer Hesychasmusldquo im postsowjetischen Russland Erfurt 2016

Alle Hefte der vorliegenden Schriftenreihe koumlnnen unter folgendem Link kostenlos heruntergeladen werden URL httpswwwuni-erfurtdereligionswissenschaftprofessur-orthodoxes-christentumveroeffentlichungenerfurter-vortraege-zur-kulturgeschichte-des-orthodoxen-christentums

Page 10: Michael Hagemeister FINAL - uni-erfurt.de · doziert Tichon, während er das antike Kons tantinopel computeranimiert auferste- hen lässt. Das prosperierende Impe rium erregte freilich

10 Michael Hagemeister

sein Autor eine Art bdquomoderner Moumlnch Filofejldquo der die Idee vom Dritten Rom propagiere30 Lunkin gab damit zwei Stichworte die im Folgenden naumlher betrach-tet werden sollen Historiosophie dh die geschichtsmetaphysische Deutung bzw Instrumentalisierung historischer Ereignisse und die Formel von MoskauRuss-land als dem Dritten Rom

Historiosophie Die heilsgeschichtliche Mission Russlands

Unter den Schlagwoumlrtern bdquoHistoriosophieldquo (istoriosofija) und bdquoMetahistorieldquo (metaistorija) erfreuen sich im postsowjetischen Russland Versuche groszliger Be-liebtheit Ziel und Sinn des weltgeschichtlichen Prozesses und die ihn gestalten-den Kraumlfte spekulativ zu bestimmen und ndash als aufbauende oder zerstoumlrende heil-volle oder unheilvolle Faktoren ndash zu bewerten31 Dabei werden Traditionen der russischen Geschichtsmetaphysik und Geschichtstheologie des 19 und 20 Jahr-hunderts aufgegriffen die die irdische Geschichte als Vollzug eines goumlttlichen Heilsplans deuten der den Glaumlubigen in seinem Anfang und Ende sowie den we-sentlichen Etappen geoffenbart worden sei Das providentielle teacutelos der Geschich-te das Ende und zugleich sinngebende Ziel enthuumlllen apokalyptische Texte So beschreibt die Offenbarung des Johannes die Geschehnisse am Ende der Zeit den Kampf zwischen den Maumlchten des Lichts und der Finsternis die Taumluschung und Verfuumlhrung durch den oder die Repraumlsentanten des Boumlsen die Entscheidungs-schlacht und das Juumlngste Gericht den Untergang der alten durch Konflikte zerrissenen Welt und den Beginn einer neuen vollkommenen und zeitlosen Welt Unverkennbar ist auch der Einfluss der dualistisch-deterministischen Geschichts-konzeption der Sowjetideologie (Geschichte als Einsicht in die bdquoobjektiven Ent-wicklungsgesetze der Gesellschaftldquo) kennt doch auch die Eschatologie und Daumlmonologie des historischen Materialismus den auf ein Endziel (bdquoReich der

Rim glazami Tretrsquoego Ėvoljucija obraza Vizantii v rossijskom obščestvennom soznaniildquo lthttppolitruarticle20090414vizantgt

30 lthttpwwwportal-credorusiteact=freshampid=719gt 31 Vgl Michael Hagemeister bdquoDas Dritte Rom gegen den Dritten Tempel ndash Der Antichrist

im postsowjetischen Russlandldquo in Mariano DelgadoVolker Leppin (Hgg) Der Anti-christ Historische und systematische Zugaumlnge FribourgStuttgart 2011 461ndash485 ndash Der Begriff bdquoHistoriosophieldquo geht auf August Cieszkowski (1814ndash1894) zuruumlck einen der Be-gruumlnder des polnischen Messianismus der in seinen Prolegomena zur Historiosophie (Ber-lin 1838) eine aktive Geschichtsteleologie entwarf Mit dem Begriff bdquoMetahistorieldquo be-zeichnete Sergej Bulgakov (1871ndash1944) bdquoden Gegenstand der Apokalypseldquo naumlmlich bdquodie noumenale Seite jenes universellen Prozesses dessen andere Seite sich uns als Geschichte zeigtldquo Sergej Bulgakov bdquoApokaliptika i socializmldquo in ders Dva grada Bd 2 Moskva 1911 51ndash127 hier 103 Zur Neuentdeckung und Aufwertung des in der Sowjetunion tabuisierten Begriffs bdquoHistoriosophieldquo im postsowjetischen Russland siehe Jutta Scherrer Kulturologie Ruszligland auf der Suche nach einer zivilisatorischen Identitaumlt Goumlttingen 2003 bes 91ndash126

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 11

Freiheitldquo) ausgerichteten Verlauf der Geschichte deren bdquoinnre verborgne Ge-setzeldquo und bdquotreibende Maumlchteldquo (Friedrich Engels) sich nur einem fortschrittlichen Bewusstsein zu erkennen geben

Zu den klassischen Werken bdquohistoriosophischerldquo Geschichtsdeutung die immer wieder aufgelegt werden gehoumlren Vladimir Solovrsquoevs (1853ndash1900) bdquoKur-ze Erzaumlhlung vom Antichristldquo (Kratkaja povestrsquo ob antichriste 1900) eine bdquophi-losophische Dichtungldquo die vielfach nicht als literarische Fiktion sondern als kon-krete Prophetie rezipiert und auf die Gegenwart und nahe Zukunft bezogen wird32 sowie insbesondere die manichaumlischen Geschichtskonzeptionen der religioumlsen Philosophen Pavel Florenskij (1882ndash1937) und Aleksej Losev (1893ndash1988) die gepraumlgt sind von der Vorstellung eines permanenten und allumfassenden in sei-nem Ausgang freilich entschiedenen Kampfes zwischen Logos und Chaos Chris-tus und dem Antichrist und dessen irdischem Agenten dem Judentum

In dieser bdquohistoriosophischenldquo oder bdquometahistorischenldquo Sicht erscheint die Geschichte Russlands als Feld auf dem eine bdquounsichtbare Schlachtldquo (nezrimaja bitva) lichtvoller und finsterer Maumlchte tobt Dabei wird das historische Geschehen in Analogie zur Passion Christi als Leidens- oder Kreuzweg (krestnyj putrsquo) aufge-fasst33 als Kreuzigung (raspjatie) durch die Maumlchte des Antichristentums und als Opfertod (požertvovanie) ein Ereignis das in der Regel mit der Epoche der bdquojuuml-disch-bolschewistischenldquo Sowjetherrschaft identifiziert wird34 Noch befinde sich Russland so die Adepten jener bdquosakralen Metahistorieldquo in einer Phase der Pruuml-fung auf dem Weg zum Ziel der Heilsgeschichte noch liege Russland ohnmaumlchtig im Grab doch werde schon bald seine wunderbare Auferstehung (voskresenie) erfolgen35 In der dann anbrechenden Bluumltephase dem letzten Zeitalter der Welt-geschichte vor dem Juumlngsten Gericht werde das wiedergeborene Russland unter der Herrschaft eines Endzeitkaisers die Menschheit von der Macht des Boumlsen be-freien Russland bringt sich also selbst zum Opfer um am Ende zu triumphieren

32 Siehe Michael Hagemeister bdquoTrilogie der Apokalypse ndash Vladimir Solovrsquoev Serafim von

Sarov und Sergej Nilus uumlber das Kommen des Antichrist und das Ende der Weltgeschich-teldquo in Wolfram BrandesFelicitas Schmieder (Hgg) Antichrist Konstruktionen von Feindbildern Berlin 2010 255ndash275 hier 261

33 Als Stationen an bdquoRusslands Kreuzwegldquo werden zumeist genannt das bdquoTatarenjochldquo als Russland die Feinde der Christenheit auf sich lenkte und durch sein Opfer die Zivilisation des Abendlandes vor dem Untergang rettete (worauf schon Aleksandr Puškin in seinem beruumlhmten Brief vom 19 Oktober 1836 an Petr Čaadaev einen Kritiker des russischen Byzantinismus hinwies) sodann der Einfall der bdquoLateinerldquo zu Beginn des 17 Jahrhun-derts die bdquolaumlsterlichenldquo Reformen des bdquoWestlersldquo Peter I (fuumlr viele der Antichrist) und schlieszliglich die bdquoKatastrophe des Jahres 1917ldquo

34 Siehe Vadim Rossman Russian Intellectual Antisemitism in the Post-Communist Era LincolnLondon 2002 223ndash225

35 Siehe Vardan Bagdasarian bdquoApokalipsis ndash segodnja ėschatologičeskie poiski v sovremen-noj Rossiildquo in Dmitrij Andreev [ua] (Hgg) Ėschatologičeskij sbornik Sankt-Peterburg 2006 435ndash453 hier 436f

12 Michael Hagemeister

Moskau ndash Drittes Rom und Katechon

Die Auffassung von Russlands entscheidender Rolle im Drama der Heilsge-schichte wird begruumlndet mit der Doktrin von Moskau als dem Dritten Rom wie sie aus der beruumlhmten eschatologischen Formel des Pskover Moumlnchs Filofej aus der ersten Haumllfte des 16 Jahrhunderts abgeleitet worden ist bdquoAlle christlichen Zartuumlmer haben sich ihrem Ende zugeneigt und sind gemaumlszlig den prophetischen Buumlchern eingegangen in das eine Zartum unseres Herrschers das heiszligt ins russi-sche Zartum Denn zwei Rome sind gefallen und das dritte steht Ein viertes aber wird es nicht gebenldquo36

Nach der Apostasie der Lateiner (dem Schisma von 1054) und dem bdquoVer-ratldquo Konstantinopels (durch die Florentiner Union 1439) dem als Strafe Gottes der Untergang des Byzantinischen Reichs (1453) folgte wird Russland zum drit-ten und ndash der goumlttlichen Trinitaumlt entsprechend ndash letzten Hort der Rechtglaumlubig-keit37 Dessen Ende wird auch das Ende der Geschichte sein mit dem Auftreten des Antichrist des falschen Messias der Juden der durch Taumluschung und Verfuumlh-rung die Parusie des wahren Messias gleichzeitig verbergen und ankuumlndigen soll Bis dahin aber sind das Heilige Russland und seine Herrscher von Gott erwaumlhlt und berufen den Widersacher Christi abzuwehren und das Ende aufzuhalten Nach der sogenannten Substitutionslehre sind die Erwaumlhlung und der messiani-sche Sendungsauftrag Israels nach dessen bdquoVerratldquo auf die Heilige Rusrsquo und das

36 bdquoMoskau ndash das Dritte Romldquo Das Sendschreiben des Filofej von Pskov in Peter Haupt-

mannGerd Stricker (Hgg) Die Orthodoxe Kirche in Ruszligland Dokumente ihrer Geschich-te 960ndash1980 Goumlttingen 1980 253 Bis zur ersten Publikation von Filofejs Sendschreiben in den 1860er Jahren war dieses Konzept freilich kaum bekannt Zu seinen vielfaumlltigen und bisweilen kontraumlren Deutungen siehe Nina Sinicyna Tretij Rim Istoki i ėvoljucija russkoj srednevekovoj koncepcii (XVndashXVI vv) Moskva 1998 zur Wirkungsgeschichte bis in die postsowjetische Gegenwart siehe Peter J S Duncan Russian Messianism Third Rome Revolution Communism and After LondonNew York 2000 Vgl auch Marshall Poe bdquoMoscow the Third Rome The Origins and Transformations of a sbquoPitoval Momentlsquoldquo in Jahrbuumlcher fuumlr Geschichte Osteuropas 49 (2001) 3 412ndash429 Frank Kaumlmpfer bdquoDie Lehre vom Dritten Rom ndash pitoval moment historiographische Folkloreldquo ebd 430ndash441 Fran-ziska Thun-Hohenstein bdquosbquoMoskau ndash Drittes Romlsquo Nachklaumlnge einer alten Denkfigur in der russischen Kultur des 20 Jahrhundertsldquo in Daniel Weidner (Hg) Figuren des Euro-paumlischen Kulturgeschichtliche Perspektiven Muumlnchen 2006 78ndash97 Sergej Magaril Mi-fologija bdquosbquoTretrsquoego Rimalsquo v rossijskom obrazovannom soobščestveldquo in Ėmilrsquo A Pain (Hg) Ideologija bdquoosobogo putildquo v Rossii i Germanii istoki soderžanie posledstvija Moskva 2010 127ndash156 Anna Briskina-Muumlller bdquoDas neue sbquoneue Romlsquo eine byzantinische Idee auf russischem Bodenldquo in Reinhard FlogausJennifer Wasmuth (Hgg) Orthodoxie im Dialog Historische und aktuelle Perspektiven Berlin [ua] 2015 311ndash336

37 Filofej sprach was oft uumlbersehen wird nicht von Moskau als dem Dritten Rom diese For-mel taucht erst im 17 Jahrhundert auf Auch wird aus dem bdquorhomaumlischen (Romejskoe) Zartumldquo bei Filofej erst spaumlter das bdquorussische (Rosejskoe) Zartumldquo Siehe Sinicyna Tretij Rim 244 324ndash328 ndash Die Vorstellung der Stadt Moskau als dem Dritten Rom treibt inzwi-schen seltsame Bluumlten So glaubt der vielfach ausgezeichnete Kulturologe Rustam Rach-matullin in seinem Bestseller Dve Moskvy ili metafizika stolicy (2008) eine bdquosakrale Identitaumltldquo zwischen Moskau Rom und Jerusalem nachweisen zu koumlnnen

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 13

russische bdquoGottestraumlgervolkldquo (narod-Bogonosec) uumlbergegangen die Orthodoxe Kirche wurde zum bdquoNeuen Israelldquo ihre heiligen Staumltten zum bdquoNeuen Jerusa-lemldquo38 Wenn Paulus davon spricht dass am Ende bdquoganz Israel errettetldquo werde (Roumlm 11 26) so sei damit die Kirche Jesu Christi gemeint zu der die Juden sich bekehren muumlssten39

bdquoMoskau ndash Drittes Romldquo Ikone (2011) Maler unbekannt lthttpwwwruniversrugalgallery-allphpSECTION_ID=7641ampELEMENT_ID=462777gt

Russlands Herrscher fungiert mithin als Katechon als jene hemmende aufhalten-de Macht von der im zweiten Brief des (Pseudo-)Paulus an die Thessalonicher die Rede ist

38 Siehe zB Michail Nazarov Voždju Tretrsquoego Rima K poznaniju russkoj idei v apokalipsi-

českoe vremja Moskva 2005 933f 945 ndash Fuumlr die Anhaumlnger der angloamerikanischen bdquoChristian Identityldquo sind hingegen die bdquoArierldquo bdquoGottes auserwaumlhltes Volkldquo und die Verei-nigten Staaten das bdquoNEW JerUSAlemldquo Martin Durham White Rage The Extreme-Right and American Politics London 2007 67

39 Eine fruumlhe heute wieder viel zitierte wertende Entgegensetzung von Judentum und (russi-schem) Christentum findet sich bereits in der um die Mitte des 11 Jahrhunderts verfassten bdquoRede uumlber das Gesetz und die Gnadeldquo (Slovo o zakone i blagodati) des Metropoliten Ila-rion

14 Michael Hagemeister

Zuerst muss der Abfall von Gott kommen und der Mensch der Gesetzlosigkeit offenbart werden der Sohn des Verderbens der Widersacher der sich erhebt uumlber alles was Gott heiszligt oder Heiligtum so dass er sich sogar in den Tempel Gottes setzt und sich fuumlr Gott ausgibt [] Denn das Geheimnis der Gesetzlosigkeit [τὸ μυστήριον τῆς ἀνομίας]40 ist schon wirksam nur muss erst der beseitigt werden der es bis jetzt noch aufhaumllt [ὁ κατέχων] und dann wird der Gesetzlose offenbart werden [hellip] (2 Thess 23-4 und 7-8)

Die durch bdquofeigen Verratldquo erzwungene Abdankung des Zaren im Maumlrz 1917 und seine Ermordung im Juli 1918 wurden denn auch als Erfuumlllung jener Prophetie verstanden dh als Beseitigung des Katechon damit der Weg frei werde fuumlr die Herrschaft des Antichrist41 Der Regizid wurde in dieser Sicht zu einem bdquoapoka-lyptischen Verbrechenldquo langfristig geplant und auf blutig-rituelle Weise ausge-fuumlhrt von den Agenten des Antichrist den Juden Fuumlr diese so der Historiker Mi-chail Nazarov war der von Gott erwaumlhlte und gesalbte apostelgleiche Herrscher des Dritten Rom der bdquokatechontischen orthodoxen Machtldquo objektiv der groumlszligte metaphysische Feind und seine Beseitigung mithin eine Tat bdquovon houmlchster mys-tisch-religioumlser Bedeutungldquo42

Viele Glaumlubige sind indes uumlberzeugt dass die Stelle des Katechon nicht vakant sei sondern von der Gottesmutter uumlbernommen wurde Als Beweis dafuumlr dient die wundersame Auffindung einer Ikone im Dorf Kolomenskoe bei Moskau an jenem Tag an dem Nikolaus II dem Thron entsagte43 Die Ikone zeigt die

40 Luther uumlbersetzt bdquoGeheimnis der Bosheitldquo in der mittelalterlichen Theologie als der Anti-

christ gedeutet der nach der Offenbarung des Johannes am Ende der Zeiten erscheint 41 Im Russischen wird die Rolle des bdquoSelbstherrschersldquo (samoderžec) als bdquoAufhalter Kate-

chonldquo (uderživajuščij) auch etymologisch deutlich russ deržatrsquo entspricht griech κατέ-χειν ndash Die mysterioumlse Figur des Katechon (im griechischen Text einmal Neutrum einmal Maskulinum) die das Endgericht und den Anbruch des Reiches Gottes verzoumlgert bietet sich ebenso wie der Antichrist und seine Trabanten seit jeher zu immer neuen Identifikatio-nen mit einzelnen Gestalten Gruppen oder politischen Maumlchten an So identifizierte Carl Schmitt (1888ndash1985) der bdquoApokalyptiker der Gegenrevolutionldquo (Jacob Taubes) Liberalis-mus Bolschewismus und Judentum mit dem Antichrist (oder seinen Agenten) und glaubte dendas Katechon unter anderem in der Diktatur Hitlers zu erkennen 1947 notierte er bdquoIch glaube an den Katechon er ist fuumlr mich die einzige Moumlglichkeit als Christ Geschichte zu verstehen und sinnvoll zu findenldquo Carl Schmitt Glossarium Aufzeichnungen aus den Jah-ren 1947 bis 1958 hg von Gerd Giesler und Martin Tielke Berlin 2015 47 Schmitt und seine politische Theologie werden in russischen Intellektuellenkreisen intensiv rezipiert

42 Nazarov Voždju 213ndash223 ders Tajna Rossii Istoriosofija XX veka 1999 695ndash699 ndash Die Ermordung der Zarenfamilie durch die Bolschewiki im Juli 1918 in Ekaterinburg wur-de und wird von russischen Nationalisten als juumldischer antichristlicher Ritualmord darge-stellt Extremistische Kirchenkreise forderten denn auch Nikolaus II und seine Familie als bdquovon Jidden Gemarterteldquo (ot židov umučennye) heiligzusprechen Dem wurde freilich von fuumlhrenden Vertretern des Moskauer Patriarchats widersprochen

43 Im Februar 1917 war der Baumluerin Evdokija Andrianova im Traum der Fundort der Ikone erschienen Nach langem Suchen wurde diese schlieszliglich am 215 Maumlrz im Keller der Himmelfahrtskirche von Kolomenskoe entdeckt Siehe Aleksandr N Kazakevič bdquosbquoV podvale chrama pojavilasrsquo ikona Bogomaterilsquo Dokumenty Centralrsquonogo istoričeskogo

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 15

Himmelskoumlnigin mit den Zeichen ihrer Regentschaft im kaiserlichen Purpur mit Krone Szepter und Reichsapfel Das Bild der bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo (Bogo-materrsquo Deržavnaja) erwies sich sogleich als wundertaumltig und zog zahlreiche Pil-ger an Kopien verbreiteten seine Verehrung im ganzen Land Bis heute gilt es vielen als ein Zeichen dass Russlands Schutz vor dem Ansturm des Antichrist vom Zaren auf die Gottesmutter uumlbergegangen ist und sie die autokratische Macht bis zur Wiederherstellung der Monarchie bewahren wird44 Zum 70 Jahrestag des Sieges lieszlig der Izborsker Klub eine Variante der beruumlhmten Ikone anfertigen Sie zeigt die bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo zusammen mit Stalin und seinen Marschaumll-len Fuumlr Aleksandr Prochanov ist Stalin der Katechon der von Gott gesandte Fuumlhrer des Sowjetvolks das durch den Opfertod seiner Soumlhne im bdquogeheiligtenldquo Groszligen Vaterlaumlndischen Krieg ebenso wie einst Christus die Macht der Houmllle be-siegt und die Menschheit erloumlst habe45

lthttpwwwizborsk-clubruarh2015_04_Blokpdfgt

In bdquohistoriosophischerldquo Sicht bildet die Ermordung des Zaren und seiner Familie das zentrale sinnstiftende Ereignis der Geschichte Russlands im 20 Jahrhundert Alles darauf folgende Ungluumlck und Leiden die Verfolgung der Christen Hunger und Terror der Tod von Millionen Menschen werden aufgefasst als Strafe Gottes fuumlr den Abfall des russischen Volkes vom Glauben und fuumlr den judasgleichen

archiva Moskvy o Deržavnoj ikone Božiej Materildquo in Otečestvennye archivy 1 (2004) lthttpricolororghistorykasvyatyniik_derggt

44 Vgl Grigorij Nikolaev bdquoĖschatologičeskij triptichldquo in Ėschatologičeskij sbornik 358ndash396 hier 376f Bagdasarjan bdquoApokalipsis ndash segodnja 441f

45 Aleksandr Prochanov bdquoMističeskij stalinizmldquo in Izborskij klub Russkie strategii 4 (28) 2015 78ndash81 auch lthttpwwwizborsk-clubruarh2015_04_Blokpdfgt

16 Michael Hagemeister

bdquoVerratldquo an seinem Herrscher Wie Jesus sich dem Willen des goumlttlichen Vaters unterworfen hat und auf Golgatha fuumlr die Suumlnden der Welt gestorben ist so habe der Zar in Ekaterinburg (dem bdquorussischen Golgathaldquo) sein Leben als bdquoSuumlhneopferldquo dargebracht fuumlr die Suumlnden ganz Russlands46 Erst wenn das russische Volk sein Land von den Idolen und Symbolen der Gottlosigkeit reinige den Ideen der De-mokratie und politischen Gleichheit abschwoumlre seine kollektive Schuld bereue und Buszlige tue fuumlr das bdquoschrecklichste und unheilvollste Verbrechen des 20 Jahr-hundertsldquo werde der Zar zuruumlckkehren und Russland seine einstige Groumlszlige wie-dererlangen47

Einer der vehementesten und einflussreichsten Propagandisten der Selbst-charismatisierung Russlands war in den Jahren nach dem Ende der Sowjetunion Metropolit Ioann (Ivan Snyčev 1927ndash1995) von St Petersburg und Ladoga Mit-glied des Heiligen Synods und dritthoumlchster Kirchenhierarch des Landes In einer Vielzahl von Buumlchern Aufsaumltzen und Interviews beschwor Ioann die universale Mission des Dritten Rom als des bdquoletzten Hortes des wahren Glaubensldquo im Kampf gegen den Antichrist und seine Verbuumlndeten das bdquoVolk der Gesetzlosigkeitldquo48 Zu den apokalyptischen Feinden Christi zaumlhlte er die bdquoglobalen Maumlchte hinter den Kulissenldquo (mirovaja zakulisa) das internationale Freimaurertum die bdquotransnatio-nale Finanzoligarchieldquo die Anhaumlnger des Zionismus und Marxismus sowie Israel die USA und deren westeuropaumlische Satelliten49 Wiedergeboren im Geist der Or-thodoxie sei das Dritte Rom der irdische Sockel auf dem der Thron Gottes ruhen werde ndash ihm entgegen stehe der Dritte Tempel der Thron des Antichrist50

Hesychasmus als Kulturscheide ndash Kritik der Renaissance

Als entscheidende Waffe in dieser heilsgeschichtlichen Auseinandersetzung wird in juumlngster Zeit von antiwestlichen Intellektuellen und Kirchenkreisen der soge-nannte Hesychasmus in Stellung gebracht Urspruumlnglich handelt es sich dabei um

46 Das Schicksal des letzten Zaren wurde in der antibolschewistisch-antisemitischen Polemik

schon fruumlh mit der Passion Christi verglichen oder gleichgesetzt Eindrucksvolle Beispiele aus juumlngerer Zeit bieten die patriotischen Lieder der prominenten Saumlngerin Žanna Bičev-skaja oder die Filme Iskupitelrsquonaja žertva (1992) und Russkaja Golgofa (2000) Siehe auch Papkova The Orthodox Church 63f 222

47 Marija Achmetova Konec sveta v odnoj otdelrsquono vzjatoj strane Religioznye soobščestva postsovetskoj Rossii i ich ėschatologičeskij mif Moskva 2010 245ndash260

48 Vgl Rossman Russian Intellectual Antisemitism 221ndash225 Hagemeister bdquoDas Dritte Romldquo 476

49 Metropolit Ioann (Snyčev) bdquoToržestvo pravoslavijaldquo in ders Bitva za Rossiju Sankt-Peterburg 1993 28ndash35 In seinem Bestreben Russland als Opfer jahrhundertealter Ver-schwoumlrungen finsterer antichristlicher Maumlchte darzustellen griff Ioann immer wieder auch auf die Protokolle der Weisen von Zion zuruumlck

50 Metropolit Ioann (Snyčev) Samoderžavie ducha Očerki russkogo samosoznanija Sankt-Peterburg 1994 7

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 17

eine individuelle psychosomatische Gebets- und Meditationstechnik des byzanti-nischen und slavischen Moumlnchtums deren Anfaumlnge bis auf die Wuumlstenvaumlter zu-ruumlckreichen Durch die unablaumlssige konzentrierte Wiederholung des sogenannten bdquoJesusgebetsldquo ndash der Anrufung des rettenden Namens Jesu Christi ndash im Rhythmus des Herzschlags (deshalb auch bdquoHerzensgebetldquo) eine Uumlbung die als bdquogeistiges Tunldquo (πρᾶξις νοερά russ umnoe delanie) bezeichnet wird kann der Asket der die innere Ruhe (ἡσυχία) und Leidenschaftslosigkeit (ἀπάθεια) erreicht hat zur ekstatischen Schau (θεωρία) der Herrlichkeit Gottes in Lichtvisionen gelangen51

Die mit dem bdquoJesusgebetldquo verbundenen mystischen Erfahrungen fuumlhrten im 14 Jahrhundert zu einer hochspekulativen theologischen Deutung und Systemati-sierung durch den Athosmoumlnch (spaumlter Erzbischof von Thessalonike) Gregorios Palamas (129697minus1359) und seine Anhaumlnger im sogenannten bdquoHesychasmus-streitldquo Dabei ging es ndash stark vereinfacht ndash um die Frage inwiefern bestimmte sinnliche Erfahrungen beim Gebet wie das Schauen von Licht aber auch die Empfindung von Waumlrme und Wohlgeruch als Begegnung mit der Realitaumlt Gottes aufzufassen seien (und nicht als Pseudovisionen also als Einbildungen oder gar Inspirationen daumlmonischer Maumlchte) Dahinter steht das alte theologische Problem der Erkennbarkeit oder sinnlichen Erfahrbarkeit Gottes der Kommunikation zwi-schen Immanenz und Transzendenz aber auch der Gefahr der Verfuumlgung uumlber das Goumlttliche (extrem im Gotteszwang durch Beschwoumlrung)

Palamas loumlst die Frage indem er in Anlehnung an neuplatonische Vorstel-lungen das unzugaumlngliche ewige bdquoWesenldquo (οὐσία) Gottes von seiner in der ge-schaffenen Welt d h in Raum und Zeit mitteilbaren ungeschaffenen bdquoWirkkraftldquo oder bdquoEnergieldquo (ἐνέργεια) unterscheidet nicht aber trennt52 Diese Energien bdquodie der dreieinige Gott ausstrahlt und die zu seinem Wesen gehoumlren wie die Strahlen zur Sonne oder das Kraftfeld zum Magnetenldquo53 kann der Asket der den Stufen-prozess von bdquoReinigungldquo (κάθαρσις) bdquoErleuchtungldquo (φωτισμός) und bdquoVergoumlttli-chungldquo (θέωσις) durchlaumluft durch die Gnade Gottes sinnlich erfahren Als houmlch-stes mystisches Erlebnis im Zusammenwirken (συνεργία) aller menschlichen En-ergien mit der goumlttlichen Energie gilt die Schau des ungeschaffenen Lichtes wie sie den Juumlngern Jesu bei dessen Verklaumlrung auf dem Berg Tabor (μεταμόρφωσις

51 Ich folge hier zum Teil meinen Ausfuumlhrungen in Michael Hagemeister bdquoImjaslavie ndash imja-

dejstvie Namensmystik und Namensmagie in Russland (1900ndash1930)ldquo in Tatjana Petzer [ua] (Hgg) Namen Benennung ndash Verehrung ndash Wirkung Positionen der europaumlischen Moderne Berlin 2009 77ndash98 hier 79ndash81 88ndash90 Zum Hesychasmus liegt eine umfangrei-che Literatur vor Das Nachschlagewerk von Sergej Choružij (Hg) Isichazm annotiro-vannaja bibliografija Moskva 2004 umfasst mehr als 10000 Titel in 20 Sprachen

52 Die Unterscheidung von Gottes unerkennbarem Wesen und seinen wahrnehmbaren Wirk-kraumlften reicht bis auf Philon von Alexandria (gest ca 40 n Chr) zuruumlck Siehe Fairy v Lilienfeld bdquoHesychasmusldquo in Theologische Realenzyklopaumldie Bd 15 BerlinNew York 1986 282ndash289 ndash bdquoEnergieldquo ist Synonym fuumlr jeden bdquoAustrittldquo Gottes aus seinem Wesen Die bdquoSaumlttigungldquo mit goumlttlicher Energie erklaumlrt beispielsweise auch die gnadenreiche Heil-wirkung die von den Gebeinen der Heiligen selbst nach deren Tod ausgeht

53 Ebd 284

18 Michael Hagemeister

τοῦ Χριστοῦ Mt 171minus13) zuteil geworden war54 Fuumlr den endzeitlich gestimm-ten Palamas war diese Schau eine Vorwegnahme der Parusie der Vereinigung des Geschaffenen und des Ungeschaffenen und des kuumlnftigen Reiches Gottes somit bdquorealisierte Eschatologieldquo55

Der Glaube an die Wahrnehmbarkeit des ungeschaffenen ewigen Lichtes als Ausfluss der Energien Gottes stieszlig jedoch auf Widerspruch Palamasrsquo promi-nentester Gegner war der aus Kalabrien stammende Moumlnch Barlaam (ca 1290ndash1348) der in der Tradition der abendlaumlndischen rationalistischen Scholastik die Unterscheidung des transzendenten unzugaumlnglichen Wesens Gottes und der da-von untrennbaren Energien die aber ad extra wirken und sich dem Menschen mitteilen als haumlretisch verwarf und auf der absoluten Unerkennbarkeit Gottes be-stand Rom lehnte denn auch die Energienlehre des Palamas aufs schaumlrfste ab Dagegen erkannte die byzantinische Kirche sie 1341 und 1351 als Dogma an Seitdem gilt der palamitische Hesychasmus als ein Spezifikum der Orthodoxie und dient gerade heute wieder der polemischen Abgrenzung gegenuumlber dem Wes-ten56

Fuumlr die bereits genannten Philosophen Pavel Florenskij und Aleksej Losev charakterisiert das Bekenntnis zum Hesychasmus den Kulturtypus des christli-chen Mittelalters der sich in idealer Weise in Byzanz und in der Moskauer Rusrsquo ausgepraumlgt habe und in diametralem Gegensatz zur sogenannten bdquoRenaissance-Kulturldquo des Westens stehe Merkmale jener integralen Kultur des christlichen Ostens seien Gemeinschaftlichkeit (sobornostrsquo) Geistigkeit (duchovnostrsquo) Ob-jektivitaumlt Konkretheit Ganzheit (celrsquonostrsquo) und Ganzheitlichkeit (celostnostrsquo) synthetische Schau und Realismus57 waumlhrend die westliche Moderne seit der Re-naissance gepraumlgt sei durch Subjektivismus Relativismus szientifische Ratio-nalitaumlt (bdquoEntzauberung der Weltldquo) Materialismus Liberalismus Individualismus

54 Siehe Sergej Choružij bdquoSvet Plotinov i svet Favora mistika sveta v neoplatonizme i isi-

chazmeldquo in Aleksej Lidov (Hg) Ierotopija Ognja i Sveta v kulrsquoture vizantijskogo mira Moskva 2013 37ndash44 Zur Terminologie des Hesychasmus ders bdquoAnalitičeskij slovarʼ isi-chastskoj antropologiildquo in ders K fenomenologii askezy Moskva 1998 22ndash186

55 Peter Kawerau Das Christentum des Ostens Stuttgart [ua] 1972 131 56 Siehe zB die Arbeiten des Moskauer Theologen Igorʼ Ėkonomcev (Archimandrit Ioann)

bes bdquoIsichazm i vostočnoevropejskoe Vozroždenieldquo in Bogoslovskie trudy 29 (1989) 167ndash196 erweiterte Fassung bdquoDer Hesychasmus und die Renaissance in Osteuropaldquo in Karl Christian Felmy (Hg) Tausend Jahre Christentum in Russland Zum Millennium der Taufe der Kiever Rusrsquo Goumlttingen 1988 731ndash771 ndash Im 19 Jahrhundert erlebte der Hesy-chasmus im Zuge der Wiederbelebung mystischer Froumlmmigkeit durch Paisij Veličkovskij (1722ndash1794) eine Bluumlte im russischen Starzentum Dabei handelt es sich auch ndash aumlhnlich wie beim Pietismus ndash um eine Reaktion auf die Einfluumlsse der westlichen Aufklaumlrung Siehe die Beitraumlge in Adalberto Mainardi (Hg) Paisij lo starec Atti del III Convegno ecumenico internazionale di spiritualitagrave russa Bose 20ndash23 settembre 1995 Magnano 1997

57 Die Uumlberwindung der Trennung des erkennenden Subjekts vom Objekt der Erkenntnis (Descartes Locke Kant) durch das spekulative intuitive Erfassen des Wesens (der Ideen des Absoluten) als des eigentlich Realen hat die russische Philosophie des 20 Jahrhunderts bdquolebendiges Wissenldquo (živoe znanie) bdquoIdeal-Realismusldquo (ideal-realizm) oder bdquointuitiven Realismusldquo (intuitivnyj realizm) genannt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 19

Abstraktheit Zersplitterung und Atomisierung58 Der Sieg des Nominalismus im mittelalterlichen Universalienstreit und die Feier des autonomen Individuums in Renaissance Humanismus und Aufklaumlrung markieren in dieser katastrophischen Perspektive den Zerfall der goumlttlichen Ordnung des Universums und der Sakralitaumlt von Hierarchie und Herrschaft und damit den bdquoSuumlndenfallldquo der abendlaumlndischen Kultur die im Anthropozentrismus der satanischen Hybris einer bdquoSelbstvergot-tungldquo des Menschen (čelovekobožie)59 zugleich gipfele und scheitere60

Am Anfang dieser verhaumlngnisvollen Spaltung standen die Annahme der pa-lamitischen Lehre durch die Ostkirche und die Ablehnung dieser Lehre im Westen durch den bdquoRenaissance-Menschenldquo (vozroždenec) Barlaam den Lehrer Boccac-cios und Petrarcas61 Mit aller Schaumlrfe formulierte Losev diesen Gegensatz bdquo[hellip] entweder ist das Taborlicht untrennbar vom Wesen Gottes und ist deshalb Gott selbst (obwohl Gott selbst nicht [das] Licht ist) ndash dann ist die Orthodoxie gerettet oder das Licht ist vom Wesen Gottes trennbar und darum geschaffen ndash dann be-ginnen die apokalyptischen Kraumlmpfe des Renaissance-Westensldquo62 Indem sie Bar-laam einen bdquozugereisten Kalabrierldquo und seine Anhaumlnger mit dem Bann belegte habe die Orthodoxe Kirche so Losev die damals heraufziehende Renaissance

58 Siehe zB Pavel Florenskij bdquoAvtoreferat (192526)ldquo in Voprosy filosofii 1988 12 113ndash

116 dt Pavel Florenski bdquoAutorreferatldquo in ders Leben und Denken hg von Fritz und Sieglinde Mierau Bd 1 Ostfildern 1995 32ndash38 Aleksej Losev Dialektika mifa (1930) Moskva 2001 137ndash138 dt Die Dialektik des Mythos Hamburg 1994 109 ndash Die wertende Entgegensetzung von mittelalterlicher und Renaissance-Kultur (bzw der Typen bdquoobjekti-verldquo und bdquosubjektiverldquo Kulturen) findet sich durchgaumlngig im Werk Florenskijs und Losevs Siehe zuletzt Oksana SedychJulija Grišatova bdquoRusskij Renessans o Renessanseldquo in Vo-prosy filosofii 2015 6 111ndash121

59 bdquoSatan war der erste Revolutionaumlrldquo zitiert Losev einen (apokryphen) Ausspruch des Hl Serafim von Sarov Aleksej Losev bdquoDopolnenie k sbquoDialektike mifalsquo (novyj fragment)ldquo in AF Losev tvorčestvo tradicii interpretacii Moskva 2014 397ndash411 hier 401

60 So degradiere ndash um nur ein Beispiel fuumlr das Scheitern der Renaissance zu geben ndash das heliozentrische Weltbild eines Kopernikus und Giordano Bruno den Menschen zum Be-wohner eines bdquonichtigen Sandkornsldquo im unendlichen Weltraum SedychGrišatova bdquoRuss-kij Renessansldquo 114 Florenskij suchte denn auch in seiner Schrift Mnimosti v geometrii (1922) das geozentrische Weltbild des Mittelalters zu rehabilitieren Zum griechisch-or-thodoxen Antikopernikanismus Vasilios Makrides Die religioumlse Kritik am kopernikani-schen Weltbild in Griechenland zwischen 1794 und 1821 Aspekte griechisch-orthodoxer Apologetik angesichts naturwissenschaftlicher Fortschritte Frankfurt aM [ua] 1995

61 Mitunter wurde Barlaam sogar als Agent einer groszligangelegten antiorthodoxen Verschwouml-rung des bdquoPapismusldquo denunziert Siehe Ėkonomcev bdquoIsichazmldquo 59 vgl ders bdquoDer Hesy-chasmusldquo 736 ndash Eine Kontrastierung des weltlichen Humanisten Petrarca und des Hesy-chasten Palamas unternahm Losevs Schuumller und Sekretaumlr Vladimir Bibichin lthttpwww philologyruliterature3bibikhin-90htmgt

62 Aleksej Losev Očerki antičnogo simvolizma i mifologii Moskva 1930 856 Auch Ėko-nomcev spricht von den bdquoschreienden Widerspruumlchen und Grimassen der westlichen Re-naissance deren geistiger Vater Barlaam wurdeldquo Ėkonomcev bdquoIsichazmldquo 63 (in der deut-schen Version ist von bdquohimmelschreienden Gegensaumltzenldquo und bdquoscheuszliglichen Grimassenldquo die Rede Ėkonomcev bdquoDer Hesychasmusldquo 746)

20 Michael Hagemeister

insgesamt verdammt (anafematstvovala) der alle westlichen Voumllker verfallen sei-en und wahrscheinlich bis ans Ende ihrer Tage verfallen blieben63

Bis zuletzt verteidigte Losev ein mit Orden des Sowjetstaates ausgezeich-neter Philosoph der 1929 von Archimandrit David (Muchranov 1847ndash1930) ei-nem Fuumlhrer der hesychastischen bdquoNamensverehrerldquo (imjaslavcy)64 heimlich zum Moumlnch geweiht worden war die Lehre des Palamas als einen Grundpfeiler der Orthodoxie65 Gleichzeitig hielt er an seiner schroffen Ablehnung des bdquoRenaissan-ce-Westensldquo fest dessen Geschichte insgesamt nichts anderes sei als bdquoeine libera-le Kritik des Mittelaltersldquo 1978 stellte Losev in seiner umfangreichen Studie zur Aumlsthetik der Renaissance der bdquoganzheitlichen Kulturldquo (celostnaja kulrsquotura) des Mittelalters die zerrissene Kultur der Renaissance gegenuumlber die auf der Verabso-lutierung und bdquotitanischen Verherrlichungldquo des isolierten Subjekts und der bdquoAbge-trenntheit vom lebendigen Seinldquo (otryv ot živogo bytija) beruhe66 In einem Ge-spraumlch mit dem Schriftsteller Viktor Erofeev das 1985 veroumlffentlicht wurde de-nunzierte Losev den Typus des bdquoRenaissance-Menschenldquo der sich selbst vergoumltt-liche und deshalb dem Nihilismus und Satanismus verfalle bdquoIndem die Renais-sance das Subjekt zum Absolutum erhob oumlffnete sie den Weg fuumlr den Triumph des Subjektivismus in den folgenden Jahrhunderten In diesem Sinne stellt der gesamte Westen fuumlr mich eine Sackgasse des Denkens darldquo67 Damit geriet der Philosoph einerseits in scharfen Gegensatz zum sowjetischen Selbstverstaumlndnis das sich als Erbe und Vollender gerade jener bdquoprogressivenldquo Prozesse und huma-nistischen Traditionen sah die von der europaumlischen Renaissance ausgegangen

63 Losev Očerki 849 856 64 Zur Bewegung des imjaslavie die zu Beginn des 20 Jahrhunderts auf dem Athos entstand

und in Florenskij und Losev prominente Unterstuumltzer fand liegt inzwischen eine reiche Literatur vor Siehe die juumlngste Veroumlffentlichung Antoine Niviegravere Les glorificateurs du nom Une querelle theacuteologique parmi les moines russes du mont Athos (1907ndash1914) Genegraveve 2016

65 Siehe Valentina Postovalova bdquoAfonskij spor ob Imeni Božiem v filosofsko-bogoslovskom osmyslenii AF Losevaldquo in AF Losev 95ndash106 bes 105f

66 Aleksej Losev Ėstetika Vozroždenija Moskva 21982 (11978) 45 61 137 und passim Losevs Modernekritik erinnert an Heidegger und dessen Begriff der bdquoSeinsvergessenheitldquo Wie fuumlr Heidegger so war auch fuumlr Losev (und Florenskij) der Agent der verhassten Moder-ne ein bdquorechnendesldquo und bdquowurzellosesldquo mythisches Judentum Zu Losevs metaphysischem Antisemitismus (bdquodas satanische Wesen des Judentumsldquo) siehe zuletzt mit zahlreichen Belegen Natalrsquoja Boneckaja Duch Serebrjanogo veka (fenomenologija ėpochi) Moskva Sankt-Peterburg 2016 688ndash693

67 Aleksej Losev bdquoV poiskach smyslaldquo in Voprosy literatury 1985 10 205ndash231 hier 229 Zu Losevs Kritik der bdquoRenaissance-Kulturldquo des Westens ausfuumlhrlich Annett Jubara Die Philosophie des Mythos von Aleksej Losev im Kontext bdquoRussischer Philosophieldquo Wiesba-den 2000 bes 131ndash154 Siehe auch Naftalij Prat bdquoAleksej Losev und der Totalitarismusldquo in Leonid Luks (Hg) Das Christentum und die totalitaumlren Herausforderungen des 20 Jahrhunderts Koumlln [ua] 2002 103ndash114 bes 108f

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 21

waren (augenfaumlllig etwa in der Architektur der 1930er bis 50er Jahre)68 Anderer-seits erwies sich der orthodoxe Moumlnch damit auch als Apologet des Sowjetregi-mes bedroht die Autonomie des Individuums doch den Wesenskern einer jeden Herrschaft die das Wahrheitsmonopol fuumlr sich beansprucht

Die Ablehnung der modernen bdquokopernikanischen Weltldquo (Hans Blumen-berg) durchzieht das gesamte philosophische Werk Losevs und Florenskijs dazu gehoumlren die Ablehnung des heliozentrischen Weltbildes die Polemik gegen Kants kritischen Idealismus (die bdquokopernikanische Wendeldquo in der Philosophie) die Ab-lehnung der Zentralperspektive in der Kunst die Ablehnung des nominalistischen Rationalismus und schlieszliglich die Ablehnung der saumlkularen und demokratischen Gesellschaftsordnung zugunsten einer bdquoVerkirchlichungldquo (ocerkovlenie) aller Be-reiche der Gesellschaft und des Staates in Gestalt einer theokratischen Synarchie Florenskij der sich als einen mittelalterlichen Menschen charakterisierte69 ndash Ni-kolaj Berdjaev selbst Verkuumlnder eines religioumls-integralen bdquoNeuen Mittelaltersldquo nannte ihn einen bdquoraffinierten Reaktionaumlrldquo ndash70 war uumlberzeugt dass die bdquoentseelte Renaissance-Zivilisationldquo sich erschoumlpft habe und eine neue ganzheitlich-objekti-ve Kultur anbrechen werde71 Vorbild dieser bdquoKultur des anderen Typusldquo werde Russland sein bdquoerste Keimeldquo seien bereits zu erkennen Seine Zeit begriff Floren-skij bdquoan den Wasserscheiden des Denkensldquo und er sah seine Lebensaufgabe darin bdquoWege zu bahnen zu einer kuumlnftigen ganzheitlichen Weltanschauungldquo72

68 Losevs Renaissance-Kritik (va in Ėstetika Vozroždenija) wurde deshalb auch als ver-

schleierte Kritik am Sowjetsystem verstanden Siehe Annett Jubara bdquoAleksej Losevs Philosophie des Mythos als Kritik an der Sowjetischen Moderneldquo in Studies in East Euro-pean Thought 56 (2004) 211ndash224 Aus dem Kreis der Schuumller Losevs gingen seit den 1960er Jahren zahlreiche dissidentische russische Nationalisten hervor Nikolaj Mitrochin Russkaja partija Dviženie russkich nacionalistov v SSSR 1953ndash1985 Moskva 2003 288f Zur Kritik der Renaissance-Zivilisation siehe auch Vladimir Bibichin Novyj renessans Moskva 1998 bes 131ndash155

69 Siehe Florenskij bdquoAvtoreferatldquo Noch im Maumlrz 1933 nach seiner Verhaftung erklaumlrte Flo-renskij gegenuumlber den Ermittlungsbeamten bdquoIch Pavel Aleksandrovič Florenskij [hellip] bin dem Charakter meiner politischen Anschauungen nach ein Romantiker des Mittelalters un-gefaumlhr des 14 Jahrhundertsldquo Vitalij Šentalinskij bdquoUdel veličijaldquo in Ogonek 1990 45 23ndash27 hier 26

70 Nikolaj Berdjaev Samopoznanie (Opyt filosofskoj avtobiografii) Moskva 1991 161 Sie-he Nikolaj Berdjaev Novoe srednevekovrsquoe Berlin 1924 dt Nikolaus Berdjajew Das Neue Mittelalter Darmstadt 1927

71 Siehe Michael Hagemeister bdquoWiederverzauberung der Welt ndash Pavel Florenskijs Neues Mittelalterldquo in Norbert Franz [ua] (Hgg) Pavel Florenskij ndash Tradition und Moderne Beitraumlge zum Internationalen Symposium an der Universitaumlt Potsdam 5 bis 9 April 2000 Frankfurt aM [ua] 2001 21ndash41 Zu Florenskijs Kritik an Renaissance und Humanismus (bdquoder Humanismus entsprang der Kabbalaldquo) siehe auch Ilona Svetlikova bdquoOb ideologii sbquoobratnoj perspektivylsquo Pavla Florenskogoldquo in Russkaja intellektualʼnaja revoljucija 1910ndash1930-ch godov Moskva 2016 123ndash139 zu den Uumlbereinstimmungen mit Heidegger siehe Viktor Arslanov Postmodernizm i russkij bdquotretij putrsquoldquo tertium datur rossijskoj kulrsquotury XX veka Moskva 2007 472ndash499

72 Florenskij bdquoAvtoreferatldquo 114

22 Michael Hagemeister

In juumlngster Zeit hat das wiedererwachte Interesse an der eigenen spirituellen Tradition und ihren byzantinischen Wurzeln ndash oftmals verbunden mit dem Bestre-ben sich vom bdquosaumlkularen Westenldquo und der bdquowestlichen Moderneldquo abzugrenzen ndash zu einer Wiederbelebung des palamitischen Hesychasmus (neopalamizm) und der ndash davon zu unterscheidenden ndash bdquoNamensverehrungldquo (imjaslavie) gefuumlhrt73 Be-reits in den 1970er Jahren war John Meyendorffs klassische Studie St Greacutegoire Palamas et la mystique orthodoxe (Paris 1959) ins Russische uumlbersetzt worden und kursierte in der Sowjetunion in Samizdat-Ausgaben im Milieu religioumls-philo-sophischer Dissidenten Heute wird die Wiederbelebung des Hesychasmus auch durch den patriotischen Kult um Serafim von Sarov (Prochor Mošnin 1759ndash1833) befoumlrdert einen Wundertaumlter und Apokalyptiker der im postsowjetischen Russland zu einem der meistverehrten Heiligen avanciert ist74 In einer in viele Sprachen uumlbersetzten und millionenfach verbreiteten Schrift schildert sein Schuuml-ler Nikolaj Motovilov (1809ndash1879) die Verklaumlrung Serafims im ungeschaffenen Licht des Heiligen Geistes die sich angeblich im November 1831 auf einer einsa-men verschneiten Waldlichtung ereignet hat75

73 Dies gilt nicht nur fuumlr Russland auch auf Vertreter der angelsaumlchsischen bdquoRadical Ortho-

doxyldquo die das Projekt einer von modern-saumlkularem Denken nicht korrumpierten Theologie verfolgen uumlben Hesychasmus und russische Sophiologie starke Faszination aus Siehe die Beitraumlge in Adrian PabstChristoph Schneider (Hgg) Encounter Between Eastern Ortho-doxy and Radical Orthodoxy Transfiguring the World Through the Word Farnham 2009 Zur Wiederbelebung des imjaslavie im post-sowjetischen Russland siehe Scott M Ken-worthy bdquoDebating the Theology of the Name in Post-Soviet Russia Metropolitan Ilarion Alfeev and Sergei Khoruzhiildquo in Katya Tolstaya (Hg) Orthodox Paradoxes Hetero-geneities and Complexities in Contemporary Russian Orthodoxy LeidenBoston 2014 250ndash264 Siehe auch Loren Grahams Bericht uumlber diskrete Zusammenkuumlnfte der imjaslav-cy im Kellergeschoss der Moskauer Tatrsquojana-Kirche in den fruumlhen 2000er Jahren Loren GrahamJean-Michel Kantor Naming Infinity A True Story of Religious Mysticism and Mathematical Creativity Cambridge MassLondon 2009 1ndash5

74 Fuumlr die Anhaumlnger der Doktrin einer bdquoAtomaren Orthodoxieldquo (atomnoe pravoslavie) ist Se-rafim auch der Schutzheilige der russischen Atombombe wurde doch Sarov der Ort seines Wirkens 1946 unter dem Namen Arzamas-16 zur streng geheimen Nuklearstadt in der Wissenschaftler unter ihnen Andrej Sacharov am Bau der sowjetischen Atom- und Was-serstoffbomben arbeiteten Patriotische Russen deuten dies als Zeichen dass bdquoim Hause unseres Vaters Serafimldquo mit dessen Segen der nukleare bdquoSchild zum Schutz der Heimatldquo geschmiedet worden sei Pavel V Florenskij bdquoNeobchodimostrsquo našej atomnoj bombyldquo in Naš sovremennik 1997 4 219ndash221 Bei dem Verfasser handelt es sich um einen Enkel des beruumlhmten Philosophen Siehe auch lthttpsruwikipediaorgwiki Атомное_правосла виеgt

75 Die Schrift deren Authentizitaumlt umstritten ist wurde bekannt unter dem Titel bdquoGespraumlch uumlber das Ziel des christlichen Lebensldquo (Beseda o celi christianskoj žizni) Erstmals veroumlf-fentlicht wurde das bdquoGespraumlchldquo 1903 von Sergej Nilus (1862ndash1929) dem Herausgeber und Kommentator der Protokolle der Weisen von Zion Siehe Michael Hagemeister bdquoIl proble-ma della genesi del sbquoColloquio con Motovilovlsquoldquo in Adalberto Mainardi (Hg) San Sera-fim Da Sarov a Diveevo Atti del IV Convegno ecumenico internazionale di spiritualitagrave russa Bose 18ndash20 settembre 1996 Magnano 1998 157ndash174 Bis heute gibt es keine kriti-sche Ausgabe dieses zentralen Textes russischer Geistigkeit

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 23

Von der Wiederbelebung des Hesychasmus zeugt auch das groszligangelegte Projekt einer bdquosynergetischen Anthropologieldquo (sinergijnaja antropologija) des Mathematikers Physikers und religioumlsen Philosophen Sergej Choružij Prakti-sches Ziel das seit 2005 durch ein eigenes Institut in Moskau verfolgt wird ist die psychosomatisch-holistische Selbsttransformation des Menschen die auf unmittelbarer (mystisch-energetischer) Erfahrung bzw Einwirkung des ontolo-gisch Anderen (Goumlttlichen) beruht sowie die Uumlberwindung der Subjekt-Objekt-Trennung der modernen westlichen Philosophie die Choružij fuumlr den von ihm als krisenhaft und katastrophisch beschriebenen Zustand der westlichen Moderne verantwortlich macht Im Unterschied zu orthodoxen Fundamentalisten und Anti-Westlern sucht Choružij indes die asketischen Praktiken des Hesychasmus mit modernen und postmodernen westlichen Anthropologien (Kierkegaard Scheler Heidegger und insbesondere Foucaults technique oder practique de soi) in Bezie-hung zu setzen76

bdquoPolitischer Hesychasmusldquo

Es duumlrfte deutlich geworden sein dass Hesychasmus nicht nur eine weltabge-wandte mystisch-asketische bdquogeistige Praxisldquo bezeichnet sondern auch als Kampfbegriff gegen die saumlkulare Kultur des bdquoWestensldquo und der bdquowestlichen Mo-derneldquo dient Dies gilt vor allem fuumlr das Konzept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo (političeskij isichazm)

In den russischen Diskurs wurde dieses Konzept um die Mitte der 1960er Jahre von dem Leningrader Mediaumlvisten und Byzantinisten Gelian Prochorov ein-gefuumlhrt77 Seiner Hauptthese zufolge wurde der Hesychasmus nachdem er aus den Klosterzellen herausgetreten war und eine philosophisch-theologische

76 Siehe Sergej Choružij Očerki sinergijnoj antropologii Moskva Inst Sinergijnoj antropo-

logii Inst filosofii teologii i istorii Sv Fomy 2005 ders (Hg) Fonarrsquo Diogena Proekt sinergijnoj antropologii v sovremennom gumanitarnom kontekste Moskva 2010 ders bdquoDie mystische Verwandlung des Menschen Uumlber den Hesychasmus als Raum der Philo-sophieldquo in Fuge Journal fuumlr Religion amp Moderne 7 (2010) 72ndash99 Siehe auch die Web-site lthttpsynergia-isarugt Kristina Stoeckl bdquoA New Anthropology Sergej S Khoru-žijrsquos Search for an alternative to the Cartesian Subject in sbquoOčerki sinergijnoj antropologiilsquoldquo in Studies in East European Thought 59 (2007) 237ndash245

77 Gelian Prochorov bdquoĖtničeskaja integracija v Vostočnoj Evrope v XIV-m veke Ot isichastskich sporov do Kulikovskoj bitvyldquo in Doklady otdelenija ėtnografii 2 (196265) Leningrad 1966 81ndash110 ders bdquoIsichazm i obščestvennaja myslʼ v Vostočnoj Evrope v XIV vldquo in Literaturnye svjazi drevnich slavjan (Trudy otdela drevnerusskoj literatury 23) Leningrad 1968 86ndash108 ders bdquoKulʼturnoe svoeobrazie ėpochi kulikovskoj bitvyldquo in Kulikovskaja bitva i podldquoem nacionalrsquonogo samopoznanija (Trudy otdela drevne-russkoj literatury 34) Leningrad 1979 3ndash17 ndash Prochorov gehoumlrte bereits zu Sowjetzeiten ins Lager der (neo-)slavophilen Anti-Westler er war eng befreundet mit dem bdquoEurasierldquo und Antisemiten Lev Gumilev (1912ndash1992) und uumlbernahm von diesem das Konzept der bdquoEthnogeneseldquo

24 Michael Hagemeister

Grundlegung erfahren hatte am Ende des 14 Jahrhunderts zu einem entscheiden-den politischen und kulturellen Faktor nicht nur in Byzanz sondern in ganz Ost-europa und lieferte unter anderem das ideologische Fundament zur Konsolidie-rung der nachmongolischen Rusʼ Im Streit zwischen dem bdquorationalistischen Hu-manismus und dem kontemplativen Hesychasmus [hellip] entschied Byzanz uumlber sein geistiges Schicksal Das Land blieb bis zuletzt mittelalterlich Den Hesy-chasten gelang es zu Wortfuumlhrern der oumlffentlichen Meinung in Byzanz zu werden die letzte schoumlpferische Synthese seiner traditionellen Kultur zu entwickeln und eine breite kulturelle und gesellschaftliche Bewegung in Gang zu setzen die zu einer Erneuerung des Mittelalters und zu einer Wiederbelebung der Orthodoxie im ganzen oumlstlichen Europa fuumlhrteldquo78

Im Anschluss an das von seinem Lehrer Dmitrij Lichačev entwickelte Kon-zept einer bdquoVorrenaissanceldquo (Predvozroždenie)79 spricht Prochorov von einer bdquovorrenaissancelichen Gegenreformationldquo (predvozroždenčeskaja kontrreforma-cija) und einer bdquoOrthodoxen Renaissanceldquo (Pravoslavnoe Vozroždenie)80 Ge-meint war damit dass die Palamiten (Hesychasten) den Sieg der Barlaamiten ver-hindern konnten und auf die Schriften der antiken Kirchenvaumlter zuruumlckgreifend ein mystisch-kontemplatives Aumlquivalent zum rationalistischen und saumlkularen Hu-manismus geschaffen haumltten Auf diese Weise habe der drohende Uumlbergang der byzantinischen und osteuropaumlischen christlich gepraumlgten Kultur von der bdquoVorre-naissanceldquo zu einer auf heidnisch-antiken Wurzeln beruhenden Renaissance ab-gewendet werden koumlnnen81 Auf die bdquoVorrenaissanceldquo sei ein bdquoNeues Mittelalterldquo gefolgt das in der bdquoHeiligen Rusʼldquo um die Wende zum 15 Jahrhundert seinen Houmlhepunkt erreicht habe Ihm verdanke Russland seine Groumlszlige und die russische Kultur ihre bdquoUniversalitaumltldquo und bdquoGeistigkeitldquo82

Bemerkenswert ist dass der sowjetische Wissenschaftler die beiden ideolo-gischen Lager mit traditionellen (neo-)slavophilen Wertungsoppositionen wie sie bereits bei Florenskij und Losev begegnet sind verbindet und dabei deutlich seine 78 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 4 79 Vor allem in seinem Buch Kulʼtura Rusi vremeni Andreja Rubleva i Epifanija Premudrogo

MoskvaLeningrad 1962 80 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 8 Siehe auch ders Nekogda ne narod a nyne narod

Božijhellip Drevnjaja Rusʼ kak istoriko-kulʼturnyj fenomen Sankt-Peterburg 2010 133ndash157 81 So auch Igorʼ Ėkonomcev bdquoDie osteuropaumlische sbquoVorrenaissancelsquo ist nicht die erste Stufe

zur saumlkularisierten Renaissance vom abendlaumlndischen Typ sondern ihre Antithese Der geistige und kulturelle Aufschwung in Osteuropa war die wahre volle und eindeutige Re-naissance die sich grundlegend von der westlichen Renaissance unterschied Sie haumltte sich niemals in eine Renaissance westlicher Praumlgung verwandeln koumlnnenldquo Ėkonomcev bdquoDer Hesychasmusldquo 764 vgl ders bdquoIsichazmldquo 69 Diese (osteuropaumlische) Renaissance so Ėkonomcev an anderer Stelle sei ungleich bdquoerhabener geistiger und reinerldquo gewesen als bdquodie westeuropaumlische Renaissance mit ihrer krankhaften Disharmonie zwischen Glauben und Vernunft Geist und Leib die trotz allem gespieltem Optimismus ein Gefuumlhl der Aus-weglosigkeit und Verzweiflung hinterlaumlsstldquo Igumen Ioann Ėkonomcev bdquoVizantinizm Kirillo-Mefodievo nasledie i kreščenie Rusildquo in ders Pravoslavie Vizantija Rossija Sbornik statej Moskva 1992 7ndash22 hier 18

82 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 9 15

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 25

Sympathie zeigt Die byzantinischen Humanisten werden von ihm als kalte Ratio-nalisten dargestellt die in der Hoffnung auf militaumlrische Unterstuumltzung durch den katholischen Westen im Kampf gegen die Osmanen bereit gewesen seien den eigenen Glauben zu opfern83 Die Hesychasten hingegen haumltten so Prochorov den Westen realistischer eingeschaumltzt und auf Hilfe von Seiten der orthodoxen Staaten gehofft Im entscheidenden Moment haumltten nicht die bdquoWestler-Huma-nistenldquo (zapadniki-gumanisty) mit ihren bdquokalten Uumlberlegungenldquo (cholodnymi rassuždenijami) beim Volk Gehoumlr gefunden sondern die Hesychasten mit ihren bdquoheiszligen Gebetenldquo (gorjačimi molitvami)84

Mit seiner Apologie eines bdquowiederbelebtenldquo Mittelalters und einer bdquoOrtho-doxen Renaissanceldquo die alle Bereiche des politischen gesellschaftlichen und kul-turellen Lebens gepraumlgt habe und deren Kern der Hesychasmus gewesen sei stieszlig Prochorov bei seinen sowjetischen Kollegen auf Kritik So sah Apollon Kuzmin im Palamismus eine desintegrative Erscheinung weshalb er Prochorovs positive Bewertung der Hesychasten bei der bdquoWiedergeburtldquo der Rusʼ zuruumlckwies85 Aumlhn-lich argumentierte Gennadij Litavrin Die Palamiten seien diejenigen gewesen die eine unrealistische Einschaumltzung der politischen Lage gehabt haumltten Sie haumltten die Bedrohung durch die Tuumlrken nicht erkannt und stattdessen die Illusion verbreitet die Feinde zum Christentum bekehren und zu neuen Untertanen ma-chen zu koumlnnen Der Palamismus sei eine bdquoIdeologie der Demutldquo und habe eine bdquounheilvolle Rolle in der Geschichte des Kampfes gegen die tuumlrkische Aggres-sionldquo gespielt86 Michail Sjuzjumov sprach sogar vom bdquoasozialen Charakter des Palamismusldquo der den aufkommenden humanistischen Tendenzen gegenuumlber feindlich gewesen und zur bdquoIdeologie der Reaktionldquo in Byzanz geworden sei87 Auf Ablehnung stieszlig Prochorov auch im Ausland Valerij Lepachin kritisierte den Begriff bdquopolitischer Hesychasmusldquo als unzulaumlssige Verbindung weltlicher und geistlicher Sphaumlren damit verliere der Hesychasmus seinen wesentlichen Sinn-gehalt88 Fuumlr den in Berkeley lehrenden Philologen Viktor Živov schlieszliglich war

83 Ebd 12 84 Ebd 13 ndash An anderer Stelle betont Prochorov den Gegensatz zwischen den abstrakten

bdquoausgedachtenldquo philosophischen Konstruktionen des europaumlischen Idealismus und der ganzheitlichen kontemplativ-spekulativen Welterfahrung der griechisch-byzantinischen Philosophie Prochorov bdquoĖtničeskaja integracijaldquo 90f An Florenskijs Renaissance-Kritik (etwa in Ikonostas 1922) erinnert auch Prochorovs Verweis auf den euklidischen Raum und den Perspektivismus der humanistischen Weltwahrnehmung mit seiner Illusion der Unendlichkeit Prochorov bdquoIsichazmldquo 94

85 Apollon Kuzmin bdquoCerkovʼ i svetskaja vlastʼ v ėpochu Kulikovskoj bitvyldquo in Voprosy naučnogo ateizma 37 (1988) 90ndash99

86 Gennadij Litavrin bdquoVizantija v period graždanskoj vojny i dviženija Zilotov (1341ndash1355 gg)ldquo in Sergej Skazkin (Hg) Istorija Vizantii Bd 3 Moskva 1967 135ndash160 hier 158

87 Michail Sjuzjumov bdquoFilosofija i bogoslovieldquo in ebd 234ndash256 hier 248f 88 Valerij Lepachin bdquoUmnoe delanie (o soderžanie i granicach ponjatija sbquoisichazmlsquo)ldquo in

Vestnik Russkogo Christianskogo Dviženija 164 1992 5ndash32 hier 23

26 Michael Hagemeister

bdquopolitischer Hesychasmusldquo bdquokonzeptuelles Unkraut [sornjak] das man so schnell wie moumlglich ausrottenldquo solle89

Fast ein halbes Jahrhundert nach ihrer ersten Veroumlffentlichung wurde Pro-chorovs Konzept eines bdquopolitischen Hesychasmusldquo von seinem Schuumller Vladimir Petrunin wieder aufgegriffen und aktualisiert In der 2009 erschienenen Monogra-phie bdquoDer politische Hesychasmus und seine Traditionen in der Sozialkonzeption des Moskauer Patriarchatsldquo90 stellt Petrunin das sogenannte bdquoNichtgehorsamkeits-prinzipldquo (princip nepovinovenija) wie es in den von der Moskauer Bischofssyno-de im August 2000 verabschiedeten bdquoGrundlagen der Sozialkonzeption der Rus-sischen Orthodoxen Kircheldquo formuliert worden ist91 in eine Tradition die er bis auf die bdquopolitischen Hesychastenldquo im Byzanz des 14 und 15 Jahrhunderts zu-ruumlckzufuumlhren sucht Immer wieder zieht Petrunin Parallelen zwischen dem spaumlten Byzanz und dem postsowjetischen Russland Hatten die Byzantiner den Hesy-chasmus als Reaktion auf den Humanismus des Westens hervorgebracht so diene heute die Sozialkonzeption der Abwehr des westlichen Saumlkularismus Liberalis-mus und Kapitalismus Damals wie heute stuumlnden der kirchliche Heilsauftrag und die Verteidigung des Glaubens uumlber den Interessen des Staates selbst ndash wie das Beispiel von Byzanz zeige ndash um den Preis seines Untergangs Ebenso wie die byzantinischen Hesychasten den mit dem Westen kollaborierenden Herrschern die Gefolgschaft im Kampf gegen die Osmanen verweigert haumltten da sie die bdquoReinheit ihres Glaubensldquo eher bdquounter einem tuumlrkischen Turban als unter der lateinischen Tiaraldquo gewahrt sahen92 rufe die Sozialkonzeption die Kirche heute dazu auf der Staatsmacht den Gehorsam zu verweigern sollte diese bdquodie ortho-doxen Glaumlubigen zum Abfall von Christus und Seiner Kirche sowie zu suumlndhaften

89 Viktor Živov bdquoVidenija sveta i problemy russkogo srednevekovogo isichazmaldquo in Lidov

(Hg) Ierotopija 350ndash367 hier 363 359 90 Vladimir Petrunin Političeskij isichazm i ego tradicii v socialʼnoj koncepcii Moskovskogo

Patriarchata Sankt-Peterburg 2009 91 Osnovy socialrsquonoj koncepcii Russkoj Pravoslavnoj Cerkvi III5 lthttpwwwpatriarchia

rudbtext141422htmlgt Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo wird von den meisten Inter-preten als ein bemerkenswertes Umdenken in der Kirchenpolitik angesehen hatte doch die Russische Orthodoxe Kirche unter Patriarch Sergij in einer prekaumlren Lage 1927 Loyalitaumlt gegenuumlber dem Sowjetstaat gefordert Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo war auch eine wichtige Voraussetzung fuumlr die Vereinigung der Auslandskirche mit dem Moskauer Pa-triarchat Zur Sozialkonzeption insgesamt Vasilios N Makrides bdquoDie politische Aufgabe der Kirche Bemerkungen anhand der Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kir-cheldquo in Irene DingelChristiane Tietz (Hgg) Die politische Aufgabe von Religion Per-spektiven der drei monotheistischen Religionen Goumlttingen 2011 219ndash243

92 Petrunin Političeskij isichazm 66f 120 Es handelt sich um eine zeitgenoumlssische Losung Siehe Halina Evert-Kappesowa bdquoLa tiare ou le turbanldquo in Byzantinoslavica 14 (1953) 245ndash257 ndash Auch Aleksandr Nevskij (1220ndash1263) zog eine Verstaumlndigung mit den Mongo-len einer Union mit Rom vor die ihm Papst Innozenz IV im Jahr 1248 angeboten hatte und wandte sich stattdessen gegen die bdquoLateinerldquo Heutige Anti-Westler feiern den Heili-gen der Russischen Orthodoxen Kirche deshalb auch als bdquoersten Eurasierldquo

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 27

und der Seele abtraumlglichen Taten noumltigenldquo93 Die Sozialkonzeption hat fuumlr Petru-nin nur einen moumlglichen Sinn Falls Russlands politische Elite sich weiterhin dem liberalen Wertekanon des Westens verschreibe und Russlands bdquoEigenartldquo (samo-bytnostʼ) als bdquoorthodoxe Zivilisationldquo bestreite94 muumlsse die Kirche ndash wie einst in Byzanz ndash dem Staat die Loyalitaumlt aufkuumlndigen und das Volk zum Widerstand auf-rufen

Es ist ganz offensichtlich dass die Prozesse der Globalisierung und Saumlkularisierung eng miteinander verbunden sind So wie einst die byzantinischen Hesychasten ist heute die Russische Kirche mit der westlichen Zivilisation konfrontiert die nach der Weltherrschaft trachtet war fruumlher der Katholizismus deren Grundlage so ist es jetzt der saumlkulare Humanismus [hellip] Waumlhrend sie [die westliche Welt MH] damals fuumlr die Hesychasten mit Rom gleichgesetzt wurde so verkoumlrpert heute das kosmopolitische New York den Westen Indem sie Liberalismus und Saumlkularisie-rung abwehrt tritt die Kirche auch gegen die politischen und wirtschaftlichen Hegemoniebestrebungen des Westens auf und stellt so ihr Bestreben unter Beweis die zivilisatorische Eigenstaumlndigkeit Russlands wieder herzustellen Wie schon vor 600 Jahren im Byzantinischen Imperium so ist auch heute in Russland allein die Kirche ein ernstzunehmender und gut organisierter Gegner des Westens und seiner saumlkularen Werte [hellip] Sollte Russland weiter den Weg der Saumlkularisierung be-schreiten so koumlnnte damit fuumlr die Kirche der gefaumlhrliche Praumlzedenzfall geschaffen werden in dem sie von ihrem Recht Gebrauch machen muumlsste das Volk zu zivilem Ungehorsam aufzurufen95

In seinem Vorwort nannte Prochorov das Buch seines Schuumllers eine bdquoWarnung an unseren Staat unsere saumlkulare Gesellschaft an uns alleldquo96 Wie das spaumlte Byzanz unter dem bdquoDruck aus dem Westenldquo gestanden habe ndash dem die Herrscher und die bdquoHumanistenldquo schlieszliglich nachgegeben haumltten ndash so laufe auch das postkommu-nistische Russland Gefahr dem bdquoDruck des Liberalismus und der Globalisierungldquo nachzugeben Allein die Orthodoxe Kirche habe sich damals wie heute als bdquoFes-tungldquo erwiesen faumlhig diesem bdquozersetzenden Einflussldquo Widerstand zu leisten97

Petrunins Buch das mit dem Segen von Metropolit Ilarion (Grigorij Al-feev)98 erschienen war stieszlig bei westlichen Forschern auf Skepsis und Ableh-nung So kritisierte Kristina Stoumlckl die unhistorische Interpretation und forcierte Aktualisierung der philosophischen theologischen und politischen Kontroversen des 14 Jahrhunderts sowie die einseitige konservative Interpretation der Sozial-konzeption Hesychasmus werde in dem Kirchendokument ebenso wenig erwaumlhnt

93 Osnovy socialrsquonoj koncepcii 94 Petrunin Političeskij isichazm 81 95 Ebd 122f 96 Ebd 5 97 Ebd 98 Zu jener Zeit Bischof von Wien und Oumlsterreich heute Leiter des Auszligenamtes des Moskau-

er Patriarchats und scharfer Kritiker des bdquomilitanten Saumlkularismusldquo des Westens Siehe auch lthttpazbykaruxristianstvo-pered-vyzovom-voinstvuyushhego-sekulyariz ma-2gt

28 Michael Hagemeister

wie der Untergang von Byzanz99 Klaus Buchenau warf Petrunin vor er bdquoverfor-m[e] und ideologisier[e] die urspruumlnglichen Motive des hesychastischen Moumlnch-tums bis zur Unkenntlichkeitldquo100 Und Viktor Živov der bereits Prochorovs Kon-zept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo als bdquoUnkrautldquo bezeichnet hatte sah in Petru-nins Buch ein Beispiel dafuumlr wie dieses sich bdquospontan und schaumldlichldquo ausbreite Die von Petrunin konstruierte bdquophantastische Genealogie des politischen Hesy-chasmusldquo beruhe so Živov auf einer bdquoMischung aus Einseitigkeit und Unwissen-heitldquo Weder sei der bdquotuumlrkische Turbanldquo fuumlr den Patriarchen attraktiv gewesen noch sei am Widerstand gegen die Union irgendetwas spezifisch bdquoHesychasti-schesldquo Petrunin habe ein bdquoPhantomldquo geschaffen dessen angebliche Verbindung mit der Sozialkonzeption man nicht weiter zu verfolgen brauche101

bdquoNeobyzantismusldquo Das Dritte Rom ndash der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo

Eine eigenwillige Interpretation des Hesychasmus und seine Wendung gegen den Westen stammen von Aleksandr Dugin dem Fuumlhrer der bdquoeurasischenldquo Bewegung und einflussreichsten Vordenker der Neuen Rechten in Russland Der polyglotte und belesene Autodidakt der nie eine akademische Ausbildung genossen hat war Gruumlnder der Partei der Nationalbolschewisten Berater des Vorsitzenden der Du-ma und des Generalstabs sowie von 2008 bis 2014 Professor fuumlr Soziologie an der renommierten Moskauer Lomonosov-Universitaumlt und Direktor des dortigen bdquoZentrums fuumlr Konservatismusstudienldquo Seit Anfang der 1990er Jahre verbreitet er mit graphomanem Eifer seine politischen und bdquometaphysischenldquo Botschaften in einer inzwischen kaum noch uumlberschaubaren Zahl von Publikationen102 und Web-Artikeln in mehreren Sprachen sowie durch spektakulaumlre Auftritte in staats-nahen Medien103 99 Kristina Stoumlckl bdquoPolitical Hesychasm Vladimir Petruninrsquos Neo-Byzantine Interpretation

of the Social Doctrine of the Russian Orthodox Churchldquo in Studies in East European Thought 62 (2010) 125ndash133

100 Klaus Buchenau Auf russischen Spuren Orthodoxe Antiwestler in Serbien 1850ndash1945 Wiesbaden 2011 480 Anm 2

101 Živov bdquoVidenija svetaldquo 364f ndash Von der Kritik offenbar unbeeindruckt verschaumlrfte Petru-nin noch seine Position So sprach er 2012 in einem Vortrag uumlber die gesellschaftliche und politische Wirkung der hesychastischen Gebetspraxis Nach dem Fall von Byzanz sei das bdquoJesusgebet faktisch zu einem sbquopolitischen Gebetlsquoldquo geworden das auf die bdquoVerwandlung [preobraženie] der orthodoxen Oumlkumeneldquo ausgerichtet gewesen sei und das bdquoPhaumlnomen der Heiligen Rusrsquoldquo hervorgebracht habe lthttpsynergia-isarup=8604gt

102 Zuletzt in der bislang fuumlnf Baumlnde umfassenden Reihe bdquoNoomachijaldquo (2014ndash2015) einer hochambitioumlsen letztlich aber manichaumlisch-schematischen Beschreibung der bdquoSuche nach dem Logosldquo in den ndash von Dugin essenzialistisch aufgefassten ndash bdquoWeltkulturenldquo

103 Auch die Literatur zu Dugin ist kaum noch uumlberschaubar Siehe zB Alexander Houmlllwerth Das sakrale eurasische Imperium des Aleksandr Dugin Eine Diskursanalyse zum post-sowjetischen russischen Rechtsextremismus Stuttgart 2007 Stefan Wiederkehr Die eurasische Bewegung Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwi-schenkriegszeit und im postsowjetischen Russland Koumlln [ua] 2007 227ndash261 Anton

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 29

Dugin deutet den Hesychasmus im Rahmen des sogenannten bdquointegralen Traditionalismusldquo einer antimodernen Denkrichtung die im ersten Drittel des 20 Jahrhunderts in Frankreich und Italien entstand und in Reneacute Gueacutenon (1886ndash1951) und Julius Evola (1898ndash1974) ihre bekanntesten (und auch fuumlr Dugin wichtigsten) Vertreter hat104 Ihre Lehre besagt dass alle Religionen ungeachtet ihrer histori-schen und regionalen Auspraumlgungen in ihrem esoterischen nur dem Eingeweih-ten zugaumlnglichen Kern eine gemeinsame urspruumlngliche Wahrheit teilen und als philosophia perennis tradieren das Wissen um die Goumlttlichkeit und den Zugang zu ihr Dieses sakrale und initiatorische Wissen sei im Verlauf der westlichen Mo-derne insbesondere durch die Aufklaumlrung verlorengegangen in traditionellen Gesellschaften (China Indien islamische Welt) jedoch bewahrt geblieben105

Auch die Orthodoxie so Dugin habe im Gegensatz zu Katholizismus und Protestantismus bdquodie Treue zum esoterischen Kernldquo bewahrt naumlmlich in ihrer mystischen Unterstroumlmung dem Hesychasmus106 In der Kanonisierung des Gre-gorios Palamas durch die Ostkirche bei gleichzeitiger Verdammung des Humanis-ten Barlaam sieht Dugin das Bekenntnis zum bdquognostisch-realistischen Geist der orthodoxen Esoterikldquo Ganz im Sinn des Traditionalismus deutet er die psycho-physische Uumlbung der Hesychasten das bdquogeistige Tunldquo als Verfahren der bdquoInitia-tionldquo und das Endziel der bdquoVerklaumlrungldquo und bdquoVergoumlttlichungldquo als bdquoalchemistische Verwandlung des Leibesldquo (alchimičeskoe preobraženie tela) Dadurch wuumlrden der bdquoDualismus von Geist und Materie Leib und Seeleldquo sowie die bdquoGrenzen der Individualitaumltldquo ndash charakteristisch fuumlr den bdquorein exoterischen Mystizismusldquo des Westens ndash aufgehoben107 Die bdquoTradition der hesychastischen Esoterikldquo sei die

Shekhovtsov bdquoThe Palingenetic Thrust of Russian Neo-Eurasianism Ideas of Rebirth in Aleksandr Duginrsquos Worldviewldquo in Totalitarian Movements and Political Religions 9 (2008) 491ndash506 Mark Sedgwick bdquoOccult Dissident Culture The Case of Aleksandr Du-ginldquo in Birgit Menzel [ua] (Hgg) The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimen-sions MuumlnchenBerlin 2012 273ndash292 Schmid Technologien der Seele 210ndash220

104 Aleksandr Dugin Filosofija tradicionalizma Moskva 2002 Zum Traditionalismus siehe das Standardwerk von Mark Sedgwick Against the Modern World Traditionalism and the Secret Intellectual History of the Twentieth Century OxfordNew York 2004 zu Dugin 221ndash237 Vgl auch Christopher DL Johnson The Globalization of the Jesus Prayer Con-testing Contemplation London New York 2010 70ndash73

105 Aumlhnliche Gedanken entwickelte Pavel Florenskij bereits 19081909 in seinem Vortrag bdquoObščečelovečeskie korni idealizmaldquo in dem er die bdquoEsoterikldquo der Philosophie Platons und seiner Nachfolger in der bdquoallgemeinmenschlichenldquo mystisch-magischen Weltauffas-sung der bdquoVolksseeleldquo wurzeln laumlsst

106 Das Folgende nach Aleksandr Dugin bdquoOboženie preestestvennejšeeldquo in Milyj angel 1 1991 56ndash59

107 Das Konzept der bdquoInitiationldquo und die Unterscheidung von bdquoesoterischldquo und bdquoexoterischldquo sind zentral fuumlr die Anhaumlnger des Traditionalismus siehe Sedgwick Against the Modern World 265 ndash Als Mitglied des okkultistischen und faschistischen Južinskij-Kreises machte Dugin in Moskaus bdquomystischem Untergrundldquo in den 1980er Jahren selbst Entgrenzugser-fahrungen mit Hilfe sexualmagischer Praktiken und bewusstseinserweiternder Drogen Bei einem Teil der orthodoxen Glaumlubigen stoumlszligt seine Esoterik denn auch auf Misstrauen und

30 Michael Hagemeister

bdquoSeele der russischen Orthodoxieldquo und habe in Serafim von Sarov ihren bdquoletzten leuchtendsten Vertreterldquo gefunden

Der Hesychasmus gehoumlre zum traditionellen Erbe von Byzanz das Russ-land angetreten habe als es zum Dritten Rom und zum Zentrum der orthodoxen Welt geworden sei bdquoWir sindldquo so Dugin bdquobyzantinisch in unserer Seele unseren Wurzeln und in unserer Identitaumltldquo108

Unser stabilstes Fundament ist Byzanz [hellip] Russland ist Byzanz [hellip] Unsere For-mel lautet Der Westen ist das Boumlse Byzanz das Gute Alles Schlechte das uumlber Byzanz geschrieben wurde ist eine Luumlge Das sind lediglich Winkelzuumlge im ideolo-gischen Kampf von Seiten des Westens [hellip] Jeder Russe muss wissen Byzanz ist das reine Gute Jeder der etwas anderes behauptet ist ein Feind [hellip] Wer Byzanz kritisiert ist ein Feind des russischen Volkes Das muss unser ehernes Prinzip sein [hellip] Byzanz ist der absolute Orientierungspunkt des russischen Projekts109

Damit sind Russlands Ort und Mission in der bdquohistoriosophischenldquo Deutung des Weltgeschehens bestimmt Nach Dugin wird die Geschichte der Menschheit be-herrscht vom bdquookkulten planetarischen Ringenldquo zweier antagonistischer Maumlchte dem bdquogroszligen Krieg der Kontinenteldquo Land gegen Meer Behemoth gegen Levia-than die organischen bodenstaumlndigen und traditionalistischen bdquoTellurokratienldquo des eurasischen Ostens gegen die wurzel- und seelenlosen materialistischen bdquoTha-lassokratienldquo des angloamerikanischen Westens das apokalyptische Tier aus dem Meer (Offb 13 1-10)110 Die USA als bdquoQuintessenz des Westensldquo und New York als moderne Hure Babylon (Offb 17 und 18) sind das Reich des Antichrist eine chimaumlrisch-antiorganische transplantierte Zivilisation die keine sakrale Tradi-tion besitze ihre Selbsterhebung zu bdquoGottes neuem Israelldquo und bdquoNeuem Zionldquo ndash gemaumlszlig der anglo-amerikanischen Interpretation der Substitutionslehre ndash deutet Dugin als besonders perfiden Taumluschungsversuch des bdquowestlichen Antichristldquo Das Jahr der Entdeckung Amerikas (1492 ist nach der altrussisch-byzantinischen

offene Ablehnung Fuumlr den Sektenexperten des Moskauer Patriarchats ist Dugin ein bdquoge-faumlhrlicher Feindldquo der die bdquoOrthodoxie in Kabbalistik umzuschmelzenldquo versuche Andrej Kuraev Cerkovrsquo v mire ljudej Moskva 2006 142

108 Aleksandr Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Tradition Duginrsquos Guidelineldquo lthttpswwwyoutubecomwatchv=m0RIa61eZDggt

109 Aleksandr Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo in ders Russkaja Veščrsquo Očerki nacionalrsquonoj filosofii Bd 1 Moskva 2001 69ndash76 hier 70ndash72 (Hervorhebungen im Original) Der Be-griff bdquoByzantismusldquo (vizantizm) ndash im Unterschied zum negativ konnotierten bdquoByzantinis-musldquo ndash als Bezeichnung eines dem europaumlischen entgegengesetzten Kulturtypus der auf den Prinzipien von Orthodoxie und Selbstherrschaft beruht geht auf den konservativen Philosophen Konstantin Leontrsquoev (1831ndash1891) und sein Buch Vizantizm i slavjanstvo (1875) zuruumlck

110 Auch fuumlr den von Dugin verehrten Heidegger waren die Seemaumlchte Groszligbritannien und Amerika nicht Teil der abendlaumlndischen Tradition sondern im Gegensatz zum restlichen Europa wurzellos und sinnleer Der Antagonismus von Land und Meer die kategorische Unterscheidung von Freund und Feind sowie das Konzept des Katechon gehen auf Carl Schmitt zuruumlck als dessen Schuumller Dugin sich bezeichnet Siehe auch Fn 41

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 31

Weltaumlra das Jahr 7000 nach dem chiliadischen Weltwochenschema also der sieb-te Tag der Schoumlpfung) verweise ebenso auf den Endzeitcharakter der bdquoNeuen Weltldquo wie die bdquosakrale Geographieldquo nach der das Paradies im Osten die Houmllle aber das bdquoLand des Todesldquo im Westen zu suchen seien111

Dem Antichrist entgegen stehe seit jeher der Katechon dessen bdquoletzter Hortldquo bis ans Ende der Zeit die Heilige Rusrsquo das Dritte Rom sei112 In der petrini-schen Epoche als die Hauptstadt in die bdquonoumlrdlichen Suumlmpfeldquo in die bdquoGespenster-stadtldquo Petersburg verlegt und das Patriarchat abgeschafft wurde haumltten allein die Altglaumlubigen den Geist von Byzanz den Katechon bewahrt zweihundert Jahre lang sei der Weg frei gewesen fuumlr das zerstoumlrerische Wirken des Antichrist Erst die sowjetische Periode habe eine bdquomystische Ruumlckkehr zum Byzantismusldquo be-deutet indem die Bolschewiki das heilige Moskau wieder zur Hauptstadt erklaumlr-ten das Patriarchat wiederherstellten die Ausbeuter als Klasse vernichteten und dem Westen auf allen Gebieten Widerstand boten Im bdquoroten Byzantismusldquo der Dritten Internationale sei der Katechon zuruumlckgekehrt113

Um seine Mission zur Erloumlsung der Menschheit auch kuumlnftig zu erfuumlllen muumlsse das Dritte Rom nach dem Zerfall der Sowjetunion114 nunmehr ein groszligkon-tinentales sakral fundiertes bdquoEurasisches Imperiumldquo errichten gegen den Erz-feind die materialistische universalistische alles nivellierende Zivilisation des Westens als der Verkoumlrperung des bdquoweltweiten Boumlsenldquo (mirovoe zlo) gegen Libe-ralismus Individualismus Globalismus Egalitarismus sowie die bdquomondialisti-scheldquo Konzeption der Menschenrechte115 Verbuumlndete im bevorstehenden apoka-lyptischen bdquoEndkampfldquo (von Dugin stets deutsch geschrieben) werden all jene sein die den Bezug zum bdquoSakralenldquo noch nicht verloren haben russische Altglaumlu-bige ultraorthodoxe antizionistische Juden europaumlische Traditionalisten sowie jene bdquoanti-atlantischenldquo islamistischen Fundamentalisten die in den USA den Dajjacircl den falschen Messias und Antichrist erkennen gegen den die Retter-gestalt des Mahdicirc zu Felde ziehen wird116 111 Aleksandr Dugin Absoljutnaja Rodina Puti Absoljuta Metafizika Blagoj Vesti Misterii

Evrazii Moskva 1999 645ndash670 112 Ebd 378ndash395 493ndash521 113 Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo 74ndash76 Siehe auch ders bdquoKatechon i revoljucijaldquo in ders

Tampliery proletariata Nacional-bolrsquoševizm i iniciacija Moskva 1997 52ndash59 ndash Die mes-sianische Identifizierung des Dritten Rom mit der Dritten Internationale reicht bis ins Gruumlndungsjahr der Komintern (1919) zuruumlck Beide so der slawophile Philosoph und An-haumlnger des imjaslavie Valerian Muravrsquoev (1885ndash1930) in einem Brief vom 6 Januar 1920 an Lev Trockij seien Ausdruck der Suche des russischen Volkes und der Intelligencija nach einem Reich der Wahrheit und Gerechtigkeit Valerian Muravrsquoev Sočinenija Bd 2 Moskva 2011 352f Weitere Belege bei Emanuel Sarkisyanz Russland und der Messianis-mus des Orients Tuumlbingen 1955 196 Mikhail Agursky Third Rome National Bolshevism in the USSR Boulder Co 1987

114 Damals sah ein Journalist bdquoauf den Ruinen des Imperiumsldquo das Dritte Rom in Gefahr zu einem Land der Dritten Welt zu werden Andrej Fadin bdquoTretij Rim v tretrsquoem mire Razmy-šlenija na ruinach imperiildquo in Nezavisimaja gazeta 1291991

115 [Aleksandr Dugin] bdquoLibo-my libo-ničtoldquo in Ėlementy 8 19961997 1ndash4 hier 2 116 [Aleksandr Dugin] bdquoIdeologija Mirovogo Pravitelrsquostvaldquo in Ėlementy 2 1992 1f

32 Michael Hagemeister

Das Dritte Rom als Zentrum des eurasischen bdquoEuro-Sowjetischen Imperiumsldquo Titelbild der von Aleksandr Dugin herausgegebenen Zeitschrift bdquoElemente Eurasische Rundschauldquo (1992) Dugins Werk mit seiner provokanten Mischung esoterischer antimoderner und antiwestlicher Motive findet besonders unter jungen Intellektuellen Anklang und Nachahmer so etwa bei dem promovierten Philosophen und selbstproklamierten bdquoorthodoxen Metaphysikerldquo Arkadij Maler einem vehementen Propagandisten einer bdquopolitischen Orthodoxieldquo (političeskoe Pravoslavie) und fuumlhrenden Ideolo-gen der bdquoneobyzantinischenldquo Doktrin Obwohl sich Maler von Dugin distan-ziert117 beschwoumlrt auch er die eschatologische bdquogeistige Mission des Dritten Romldquo die es von Byzanz geerbt habe und die in seiner bdquozentralen katechontischen Rolleldquo bestehe dem Kampf gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo des bdquogottlosen Wes-tensldquo118 Russische Politik koumlnne deshalb nicht anders als imperial sein und muumlsse ihren Einfluss auf den gesamten Planeten ausdehnen Wie Dugin sieht auch Maler die Bolschewiki in dieser Tradition als sie Moskau zur Hauptstadt des bdquoRoten

117 In den spaumlten 1990er Jahren gehoumlrte Maler der vaumlterlicherseits juumldischer Abstammung ist

zusammen mit Dugin und Ėduard Limonov zur Fuumlhrungsriege der Nationalbolschewisti-schen Partei und schrieb fuumlr die Parteizeitung Limonka sich selbst charakterisierte er als bdquorotbraunen Zionistenldquo Nach seiner Konversion zur Orthodoxie trennte er sich 1999 von Dugin und kritisierte dessen esoterischen Traditionalismus aus einer ultraorthodoxen Posi-tion Dugin wiederum warf Maler vor ihn zu plagiieren

118 Arkadij Maler Duchovnaja missija Tretrsquoego Rima Moskva 2005 bes 134ndash136 170ndash206 Siehe auch ders bdquoIdeologija Vizantizmaldquo in Severnij Katechon 1 (2005) 7ndash49 bdquoNeovi-zantizm kak novyj bolrsquošoj stilrsquoldquo in Aleksej Nilogov (Hg) Kto segodnja delaet filosofiju v Rossii Moskva 2007 110ndash124

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 33

Imperiumsldquo machten und dieses zur bdquoabsoluten Antithese des Westensldquo erklaumlrten zum bdquoTraumlger der planetarischen Mission der Befreiung der Welt aus den sbquoFesseln des Kapitalslsquoldquo119 Das Dritte Rom sei zeitweise in die Dritte Internationale trans-formiert worden ohne jedoch seine Mission als Katechon als aufhaltende Macht gegen das Reich des Boumlsen und Ausgangspunkt zur Errettung der Welt aufzuge-ben Die bdquoletzte Etappeldquo im Kampf gegen den Antichrist werde so Maler der bdquoeschatologische Krieg des Dritten Rom gegen das Dritte Karthagoldquo den bdquoAnti-katechonldquo sein die bdquoanglo-amerikanische [] atlantische Zivilisationldquo120 Zur Propagierung der katechontischen Mission Russlands gruumlndete Maler 1999 am Institut fuumlr Philosophie der Akademie der Wissenschaften in Moskau einen bdquoBy-zantistischen Klub Katechonldquo (Vizantistskij Klub Katechon) und 2005 das bdquoPhi-losophisch-politische Zentrum sbquoNoumlrdlicher Katechonlsquoldquo das einen gleichnamigen Almanach (Severnyj Katechon) herausgibt121

Apokalyptischer Ausblick

Die Formel vom Dritten Rom und die Figur des Katechon des Aufhalters des bdquoweltweiten Boumlsenldquo sind zu Markenzeichen russischer Anti-Westler und Ver-schwoumlrungstheoretiker und ihres schrillen Szenariums eines globalen apokalyp-tischen bdquoEndkampfesldquo gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo geworden122 Unter dem Titel bdquoDie russische Doktrin Die Staatsideologie der Epoche Putinsldquo verfasste in den Jahren 2005 und 2006 ein Kollektiv nationalpatriotischer Autoren ndash unter ih-nen der bdquoByzantistldquo Arkadij Maler ndash ein uumlber 1000 Seiten langes ultrakonservati-ves und antiwestliches Manifest das auch die Unterstuumltzung hoher kirchlicher Wuumlrdentraumlger fand123 In ihrem Entwurf einer bdquoorganischen weltanschaulichen Plattformldquo fuumlr das kuumlnftige Russland behandeln die Autoren ausfuumlhrlich die bdquohis-toriosophischeldquo Konzeption vom Dritten Rom und seine Mission als Katechon gegen das bdquoHeidentumldquo des Westens124 Gefordert wird die positive Identifikation

119 Maler Duchovnaja missija 182f 185 120 Ebd 177 ndash Als Mittel im ideologischen Kampf gegen den saumlkularen Westen fordert Maler

in Analogie zur katholischen Gegenreformation eine orthodoxe konservative bdquoGegenauf-klaumlrungldquo (Kontrprosveščenie) lthttpwwwkatehonruhtmltoppolitologiaideaotkritije _polit_pravoslavijahtmgt

121 Siehe die Website lthttpwwwkatehonrugt 122 Siehe zB Galina A Morozova Tretij Rim protiv novogo mirovogo porjadka Moskva

2009 Die Formel von Dritten Rom hat laumlngst auch Schriftsteller und Maler inspiriert und scheint auch werbewirksam zu sein bdquoDrittes Romldquo nennt sich ein Verlag ein Videospiel eine Bank ein Reisebuumlro und sogar ein Kasino in Jalta Ein Schoumlnheitswettbewerb in Mos-kau vergibt alljaumlhrlich den Titel einer bdquoMiss Drittes Romldquo Judith E Kalb Russiarsquos Rome Imperial Visions Messianic Dreams 1890ndash1940 Madison Wisconsin 2008 198f Zum Katechon siehe Maria Engstroumlm bdquoContemporary Russian Messianism and New Russian Foreign Policyldquo in Contemporary Security Policy 35 (2014) 3 356ndash379

123 Russkaja doktrina Gosudarstvennaja ideologija ėpochi Putina Moskva 2016 124 Ebd 68ndash72 116ndash120 und passim

34 Michael Hagemeister

mit der Geschichte Russlands und seinen Lichtgestalten dem Heiligen Serafim von Sarov dem bdquoeschatologischen Fuumlhrer des russischen Volkes am Ende der Zeitenldquo der bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo und Stalin der dem paulinischen Kate-chon gleich die bdquoGesetzlosigkeitldquo (bezzakonie) bekaumlmpft und das bdquoFundament fuumlr eine groszlige Zukunftldquo gelegt habe125

bdquoKatechonldquo nennt sich auch ein prominent besetzter Think tank den der Oligarch und Berater Putins Konstantin Malofeev im Jahr 2015 gegruumlndet hat126 Der Milliardaumlr der sein Vermoumlgen mit einer Investmentfirma auf den Cayman Inseln gemacht hat bezeichnet sich selbst als bdquoorthodoxen Monarchistenldquo127 Er unterstuumltzt die Separatisten in der Ostukraine und unterhaumllt vielfaumlltige Verbindun-gen zu europaumlischen Rechtspopulisten wie dem Front National der FPOuml Syriza und der Lega Nord Neben dem Forum bdquoKatechonldquo betreibt Malofeev auch einen Fernsehsender mit dem programmatischen Namen bdquoZargradldquo128 (Motto bdquoDas Licht Christi erleuchtet alleldquo) dessen Chefkommentator niemand anderes ist als Aleksandr Dugin129

bdquoKatechonldquo und bdquoZargradldquo propagieren den Kampf gegen die westliche Moderne mit Bezug auf das byzantinische Erbe Russlands Im November 2014 fand in der Moskauer Manege eine Konferenz bdquoMoskau ndash das Dritte Romldquo statt130 An ihr nahmen auszliger Dugin und Malofeev auch Archimandrit Tichon und Nata-lrsquoja Naročnickaja teil eine hochrangige Diplomatin Mitglied des Izborsker Klubs und Leiterin des Pariser bdquoInstituts fuumlr Demokratie und Kooperationldquo das die oumlf-fentliche Meinung im Westen im Sinne des Kremls beeinflussen soll Tichons Film bdquoDie Lehre von Byzanzldquo sei so Naročnickaja auch eine Warnung an den Westen der seine christlichen Werte verraten habe weshalb er den glaubens-festen Migranten und ihrer Verachtung hilflos ausgeliefert sei131

Im Oktober 2009 wurde Tichons Film in Athen vor ausverkauftem Saal aufgefuumlhrt Unter denen die dem Drehbuchautor Beifall spendeten war der Philo-soph und Theologe Christos Yannaras einer der Hauptvertreter der Neoorthodo-xie und scharfer Kritiker des Westens Wie ihre russischen Gesinnungsgenossen

125 Ebd 130f 153 142ndash145 126 Mit einem Auftritt im Internet in 9 Sprachen Siehe die deutsche Version unter lthttp

katehoncomdewer-sind-wirgt 127 lthttpsdewikipediaorgwikiKonstantin_Walerjewitsch_Malofejewgt 128 Carrsquograd ist der altrussische Name fuumlr Konstantinopel 129 Auch Dugin unterhaumllt seit mehr als 25 Jahren Kontakte zu ultrakonservativen traditiona-

listischen und faschistischen Gesinnungsgenossen in Westeuropa Siehe Vladimir Ivanov Alexander Dugin und die rechtsextremen Netzwerke Fakten und Hypothesen zu den inter-nationalen Verflechtungen der russischen Neuen Rechten Stuttgart 2007

130 lthttpwwwpravoslavieru75070htmlgt 131 lthttpwwwpravoslavieru7414htmlgt ndash Fuumlr Metropolit Ilarion (Alfeev) der sich dabei

auf Dugin beruft verwandeln sich die Laumlnder Westeuropas bereits in die bdquoSphaumlre des Anti-christldquo lthttpwwwpatriarchiarudbtext3065216htmlgt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 35

verherrlichen auch die griechischen Neoorthodoxen die byzantinische Vergan-genheit und sehen in der modernen saumlkularen Gesellschaft eine Bedrohung ihrer kulturellen Identitaumlt132 Gemeinsam suchen sie der Globalisierung mit einer bdquoby-zantinischen Internationaleldquo als bdquoorthodoxer Oumlkumeneldquo entgegenzuwirken einer letztlich sakral verstandenen Gemeinschaft deren Einfluss indes weit uumlber die kirchliche Sphaumlre hinausreichen und eine transnationale Vereinigung der ortho-doxen Welt von Serbien uumlber Syrien bis Georgien und Armenien unter Fuumlhrung Moskaus schaffen soll133 Als wichtiger symbolischer Schritt auf diesem Weg wurde der Besuch von Praumlsident Putin und Patriarch Kirill des Heiligen Berges Athos einer traditionellen Hochburg antiwestlicher Opposition im Mai 2016 ge-feiert Das weltliche und das geistliche Oberhaupt Russlands ndash die bdquoSymphonia der Maumlchteldquo ndash zeigten damit so Aleksandr Dugin ihr Bekenntnis zu Byzanz und seiner Rolle als Katechon Damit anerkenne bdquounsere Rusrsquo ihre historische Bestim-mung Wir sind bereit fuumlr die Endzeitldquo134

132 Ausfuumlhrlich dazu Daniel P Payne The Revival of Political Hesychasm in Contemporary

Orthodox Thought The Political Hesychasm of John Romanides and Christos Yannaras Lanham [ua] 2011 Siehe auch Vasilios N Makrides bdquoByzantium in Contemporary Greece The Neo-Orthodox Current of Ideasldquo in David RicksPaul Magdalino (Hgg) Byzantium and the Modern Greek Identity Aldershot 1998 141ndash153 Zum griechischen Neobyzantismus unter russischem Einfluss Aleksey Kamenskikh bdquoThe Image of the Second Rome through the Prism of the Thirdrdquo in Teresa Obolevich [ua] (Hgg) Russian Thought in Europe Reception Polemics Development Krakoacutew 2013 13ndash22 ndash Antimo-derne und antiwestliche Stroumlmungen in den vom orthodoxen Christentum gepraumlgten Kultu-ren haben der Religionswissenschaftler Makrides und der Slavist Uffelmann vor einigen Jahren als Desiderat der Forschung benannt Vasilios N MakridesDirk Uffelmann bdquoStudying Eastern Orthodox Anti-Westernism The Need for a Comparative Research Agendaldquo in Jonathan SuttonWil van den Bercken (Hgg) Orthodox Christianity and Contemporary Europe Leuven [ua] 2003 87ndash120 Seitdem haben Makrides und die Politikwissenschaftlerin Stoumlckl eine Reihe einschlaumlgiger Arbeiten vorgelegt in denen or-thodoxe Alternativen zu westlichen philosophischen und politischen Konzepten untersucht werden Vasilios N Makrides bdquoOrthodoxes Cristentum und Moderne ndash Inkompatibilitaumlt oder langfristige Anpassungldquo in Una Sancta 2011 1 15ndash30 ders bdquoOumlstliches orthodo-xes Christentum und Saumlkularitaumlt Ein Vergleich mit dem lateinischen Christentumldquo in Transit 47 (2015) 59ndash75 Kristina Stoumlckl bdquoModernity and its Critique in Twentieth Cen-tury Russian Orthodox Thoughtldquo in Studies in East European Thought 58 (2006) 243ndash269 dies Community after Totalitarianism The Russian Orthodox Intellectual Tradition and the Philosophical Discourse of Political Modernity Frankfurt aM [ua] 2008

133 Dazu gehoumlrt auch die Verwirklichung des jahrhundertealten Traums der Wiedererrichtung des Kreuzes auf der Hagia Sophia Siehe Egor Cholmogorov Russkij proekt restavracija buduščego Moskva 2005 283 Der Verfasser Mitglied des Expertenteams des Izborsker Klubs ist Begruumlnder der Doktrin der bdquoAtomaren Orthodoxieldquo siehe Fn 74

134 Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Traditionldquo

ZUM AUTOR

Michael Hagemeister geb 1951 in EllwangenJagst Studium der Slavistik Ge-schichte Germanistik und Philosophie in Basel und MarburgLahn Promotion mit einer Arbeit uumlber den russischen Philosophen Nikolaj Fedorov Wissenschaft-licher Mitarbeiter am Slawischen Seminar in Marburg Gastprofessor am Seminar fuumlr Komparatistik der Universitaumlt Innsbruck Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lotman-Institut fuumlr russische und sowjetische Kultur der Ruhr-Universitaumlt Bo-chum am Lehrstuhl fuumlr Geschichte Osteuropas der Europa-Universitaumlt Viadrina Frankfurt (Oder) an den Historischen Seminaren der Universitaumlten Basel Duumlssel-dorf und Bochum Vertretung der Professuren fuumlr Geschichte Osteuropas an der Ludwig-Maximilians Universitaumlt Muumlnchen und an der Europa-Universitaumlt Frank-furt (Oder)

Forschungen zur russischen Philosophie und Geistesgeschichte zum utopischen und apokalyptischen Denken in Russland zum russischen Rechtsextremismus und Antisemitismus sowie insbesondere zu den Protokollen der Weisen von Zion und ihrem Herausgeber Sergej Nilus Publikationen ua Die Neue Menschheit Biopolitische Utopien in Russland (hg mit Boris Groys) Frankfurt aM 2005 The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimensions (hg mit Birgit Menzel und Bernice Rosenthal) Muumlnchen 2012 Die Fiktion von der juumldischen Weltver-schwoumlrung Zu Text und Kontext der bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo (hg mit Eva Horn) Goumlttingen 2012 Die bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo vor Gericht Der Berner Prozess und die bdquoantisemitische Internationaleldquo in der Zwischen-kriegszeit Chronik Dokumente und Kommentare Zuumlrich (im Druck)

ERFURTER VORTRAumlGE ZUR KULTURGESCHICHTE DES ORTHODOXEN CHRISTENTUMS Reihenherausgeber Vasilios N Makrides

Heft 1 Thomas Bremer Konfrontation statt Oumlkumene Zur kirchlichen Situation in der Ukraine Erfurt 2001

Heft 2 Gerhard Podskalsky Zur Hermeneutik des theologischen Ost-West-

Gespraumlchs in historischer Perspektive Erfurt 2002 Heft 3 Karl Christian Felmy Warum und zu welchem Behufe treiben wir

Ostkirchenkunde Erfurt 2003 Heft 4 Wassilios Klein bdquoTatarenjoch ndash татарское игоldquo Beobachtungen zur

Wahrnehmung des Islam im eurasischen Raum Erfurt 2005 Heft 5 Stamatios D Gerogiorgakis Zeitphilosophie im Mittelalter Byzantinische

und lateinische Vorstellungen Erfurt 2006 Heft 6 Heinz Ohme Das Oumlkumenische Patriarchat von Konstantinopel und die

tuumlrkische Religionspolitik Erfurt 2007 Heft 7 Alexander Agadjanian Russian Orthodox Vision of Human Rights Recent

Documents and Their Significance Erfurt 2008 Heft 8 Christos Yannaras Wem gehoumlrt die griechische Antike Erfurt 2009 Heft 9 Joachim Willems Religions- und Ethikunterricht in Russland ndash Was

wollen Staat und Kirche Zur Einfuumlhrung des neuen Schulfaches bdquoGrundlagen der religioumlsen Kulturen und der weltlichen Ethikldquo Erfurt 2010

Heft 10 Chris Hann Eastern Christianity and Western Social Theory Erfurt 2011 Heft 11 Jennifer Wasmuth Akademische Theologie im zaristischen Russland in

ihrer Bedeutung fuumlr die neuere orthodoxe Theologie Erfurt 2012 Heft 12 Anna Briskina-Muumlller Auf der Suche nach der bdquoHesychialdquo Paisij

Veličkovskij (1722ndash1794) und sein Leben fuumlr die bdquoPhilokalieldquo Erfurt 2014

Heft 13 Vladimir Cvetković From ldquoMerciful Angelrdquo to ldquoFortress Europerdquo The

Perception of Europe and the West in Contemporary Serbian Orthodoxy Erfurt 2015

Heft 14 Stefan G Reichelt Lebenslinien Nikolaj A Berdjaev (1874ndash1948) und Sergij N Bulgakov (1871ndash1944) im Westen ndash Eine Wuumlrdigung Erfurt 2015

Heft 15 Michael Hagemeister Der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo ndash bdquoNeobyzantismusldquo

und bdquopolitischer Hesychasmusldquo im postsowjetischen Russland Erfurt 2016

Alle Hefte der vorliegenden Schriftenreihe koumlnnen unter folgendem Link kostenlos heruntergeladen werden URL httpswwwuni-erfurtdereligionswissenschaftprofessur-orthodoxes-christentumveroeffentlichungenerfurter-vortraege-zur-kulturgeschichte-des-orthodoxen-christentums

Page 11: Michael Hagemeister FINAL - uni-erfurt.de · doziert Tichon, während er das antike Kons tantinopel computeranimiert auferste- hen lässt. Das prosperierende Impe rium erregte freilich

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 11

Freiheitldquo) ausgerichteten Verlauf der Geschichte deren bdquoinnre verborgne Ge-setzeldquo und bdquotreibende Maumlchteldquo (Friedrich Engels) sich nur einem fortschrittlichen Bewusstsein zu erkennen geben

Zu den klassischen Werken bdquohistoriosophischerldquo Geschichtsdeutung die immer wieder aufgelegt werden gehoumlren Vladimir Solovrsquoevs (1853ndash1900) bdquoKur-ze Erzaumlhlung vom Antichristldquo (Kratkaja povestrsquo ob antichriste 1900) eine bdquophi-losophische Dichtungldquo die vielfach nicht als literarische Fiktion sondern als kon-krete Prophetie rezipiert und auf die Gegenwart und nahe Zukunft bezogen wird32 sowie insbesondere die manichaumlischen Geschichtskonzeptionen der religioumlsen Philosophen Pavel Florenskij (1882ndash1937) und Aleksej Losev (1893ndash1988) die gepraumlgt sind von der Vorstellung eines permanenten und allumfassenden in sei-nem Ausgang freilich entschiedenen Kampfes zwischen Logos und Chaos Chris-tus und dem Antichrist und dessen irdischem Agenten dem Judentum

In dieser bdquohistoriosophischenldquo oder bdquometahistorischenldquo Sicht erscheint die Geschichte Russlands als Feld auf dem eine bdquounsichtbare Schlachtldquo (nezrimaja bitva) lichtvoller und finsterer Maumlchte tobt Dabei wird das historische Geschehen in Analogie zur Passion Christi als Leidens- oder Kreuzweg (krestnyj putrsquo) aufge-fasst33 als Kreuzigung (raspjatie) durch die Maumlchte des Antichristentums und als Opfertod (požertvovanie) ein Ereignis das in der Regel mit der Epoche der bdquojuuml-disch-bolschewistischenldquo Sowjetherrschaft identifiziert wird34 Noch befinde sich Russland so die Adepten jener bdquosakralen Metahistorieldquo in einer Phase der Pruuml-fung auf dem Weg zum Ziel der Heilsgeschichte noch liege Russland ohnmaumlchtig im Grab doch werde schon bald seine wunderbare Auferstehung (voskresenie) erfolgen35 In der dann anbrechenden Bluumltephase dem letzten Zeitalter der Welt-geschichte vor dem Juumlngsten Gericht werde das wiedergeborene Russland unter der Herrschaft eines Endzeitkaisers die Menschheit von der Macht des Boumlsen be-freien Russland bringt sich also selbst zum Opfer um am Ende zu triumphieren

32 Siehe Michael Hagemeister bdquoTrilogie der Apokalypse ndash Vladimir Solovrsquoev Serafim von

Sarov und Sergej Nilus uumlber das Kommen des Antichrist und das Ende der Weltgeschich-teldquo in Wolfram BrandesFelicitas Schmieder (Hgg) Antichrist Konstruktionen von Feindbildern Berlin 2010 255ndash275 hier 261

33 Als Stationen an bdquoRusslands Kreuzwegldquo werden zumeist genannt das bdquoTatarenjochldquo als Russland die Feinde der Christenheit auf sich lenkte und durch sein Opfer die Zivilisation des Abendlandes vor dem Untergang rettete (worauf schon Aleksandr Puškin in seinem beruumlhmten Brief vom 19 Oktober 1836 an Petr Čaadaev einen Kritiker des russischen Byzantinismus hinwies) sodann der Einfall der bdquoLateinerldquo zu Beginn des 17 Jahrhun-derts die bdquolaumlsterlichenldquo Reformen des bdquoWestlersldquo Peter I (fuumlr viele der Antichrist) und schlieszliglich die bdquoKatastrophe des Jahres 1917ldquo

34 Siehe Vadim Rossman Russian Intellectual Antisemitism in the Post-Communist Era LincolnLondon 2002 223ndash225

35 Siehe Vardan Bagdasarian bdquoApokalipsis ndash segodnja ėschatologičeskie poiski v sovremen-noj Rossiildquo in Dmitrij Andreev [ua] (Hgg) Ėschatologičeskij sbornik Sankt-Peterburg 2006 435ndash453 hier 436f

12 Michael Hagemeister

Moskau ndash Drittes Rom und Katechon

Die Auffassung von Russlands entscheidender Rolle im Drama der Heilsge-schichte wird begruumlndet mit der Doktrin von Moskau als dem Dritten Rom wie sie aus der beruumlhmten eschatologischen Formel des Pskover Moumlnchs Filofej aus der ersten Haumllfte des 16 Jahrhunderts abgeleitet worden ist bdquoAlle christlichen Zartuumlmer haben sich ihrem Ende zugeneigt und sind gemaumlszlig den prophetischen Buumlchern eingegangen in das eine Zartum unseres Herrschers das heiszligt ins russi-sche Zartum Denn zwei Rome sind gefallen und das dritte steht Ein viertes aber wird es nicht gebenldquo36

Nach der Apostasie der Lateiner (dem Schisma von 1054) und dem bdquoVer-ratldquo Konstantinopels (durch die Florentiner Union 1439) dem als Strafe Gottes der Untergang des Byzantinischen Reichs (1453) folgte wird Russland zum drit-ten und ndash der goumlttlichen Trinitaumlt entsprechend ndash letzten Hort der Rechtglaumlubig-keit37 Dessen Ende wird auch das Ende der Geschichte sein mit dem Auftreten des Antichrist des falschen Messias der Juden der durch Taumluschung und Verfuumlh-rung die Parusie des wahren Messias gleichzeitig verbergen und ankuumlndigen soll Bis dahin aber sind das Heilige Russland und seine Herrscher von Gott erwaumlhlt und berufen den Widersacher Christi abzuwehren und das Ende aufzuhalten Nach der sogenannten Substitutionslehre sind die Erwaumlhlung und der messiani-sche Sendungsauftrag Israels nach dessen bdquoVerratldquo auf die Heilige Rusrsquo und das

36 bdquoMoskau ndash das Dritte Romldquo Das Sendschreiben des Filofej von Pskov in Peter Haupt-

mannGerd Stricker (Hgg) Die Orthodoxe Kirche in Ruszligland Dokumente ihrer Geschich-te 960ndash1980 Goumlttingen 1980 253 Bis zur ersten Publikation von Filofejs Sendschreiben in den 1860er Jahren war dieses Konzept freilich kaum bekannt Zu seinen vielfaumlltigen und bisweilen kontraumlren Deutungen siehe Nina Sinicyna Tretij Rim Istoki i ėvoljucija russkoj srednevekovoj koncepcii (XVndashXVI vv) Moskva 1998 zur Wirkungsgeschichte bis in die postsowjetische Gegenwart siehe Peter J S Duncan Russian Messianism Third Rome Revolution Communism and After LondonNew York 2000 Vgl auch Marshall Poe bdquoMoscow the Third Rome The Origins and Transformations of a sbquoPitoval Momentlsquoldquo in Jahrbuumlcher fuumlr Geschichte Osteuropas 49 (2001) 3 412ndash429 Frank Kaumlmpfer bdquoDie Lehre vom Dritten Rom ndash pitoval moment historiographische Folkloreldquo ebd 430ndash441 Fran-ziska Thun-Hohenstein bdquosbquoMoskau ndash Drittes Romlsquo Nachklaumlnge einer alten Denkfigur in der russischen Kultur des 20 Jahrhundertsldquo in Daniel Weidner (Hg) Figuren des Euro-paumlischen Kulturgeschichtliche Perspektiven Muumlnchen 2006 78ndash97 Sergej Magaril Mi-fologija bdquosbquoTretrsquoego Rimalsquo v rossijskom obrazovannom soobščestveldquo in Ėmilrsquo A Pain (Hg) Ideologija bdquoosobogo putildquo v Rossii i Germanii istoki soderžanie posledstvija Moskva 2010 127ndash156 Anna Briskina-Muumlller bdquoDas neue sbquoneue Romlsquo eine byzantinische Idee auf russischem Bodenldquo in Reinhard FlogausJennifer Wasmuth (Hgg) Orthodoxie im Dialog Historische und aktuelle Perspektiven Berlin [ua] 2015 311ndash336

37 Filofej sprach was oft uumlbersehen wird nicht von Moskau als dem Dritten Rom diese For-mel taucht erst im 17 Jahrhundert auf Auch wird aus dem bdquorhomaumlischen (Romejskoe) Zartumldquo bei Filofej erst spaumlter das bdquorussische (Rosejskoe) Zartumldquo Siehe Sinicyna Tretij Rim 244 324ndash328 ndash Die Vorstellung der Stadt Moskau als dem Dritten Rom treibt inzwi-schen seltsame Bluumlten So glaubt der vielfach ausgezeichnete Kulturologe Rustam Rach-matullin in seinem Bestseller Dve Moskvy ili metafizika stolicy (2008) eine bdquosakrale Identitaumltldquo zwischen Moskau Rom und Jerusalem nachweisen zu koumlnnen

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 13

russische bdquoGottestraumlgervolkldquo (narod-Bogonosec) uumlbergegangen die Orthodoxe Kirche wurde zum bdquoNeuen Israelldquo ihre heiligen Staumltten zum bdquoNeuen Jerusa-lemldquo38 Wenn Paulus davon spricht dass am Ende bdquoganz Israel errettetldquo werde (Roumlm 11 26) so sei damit die Kirche Jesu Christi gemeint zu der die Juden sich bekehren muumlssten39

bdquoMoskau ndash Drittes Romldquo Ikone (2011) Maler unbekannt lthttpwwwruniversrugalgallery-allphpSECTION_ID=7641ampELEMENT_ID=462777gt

Russlands Herrscher fungiert mithin als Katechon als jene hemmende aufhalten-de Macht von der im zweiten Brief des (Pseudo-)Paulus an die Thessalonicher die Rede ist

38 Siehe zB Michail Nazarov Voždju Tretrsquoego Rima K poznaniju russkoj idei v apokalipsi-

českoe vremja Moskva 2005 933f 945 ndash Fuumlr die Anhaumlnger der angloamerikanischen bdquoChristian Identityldquo sind hingegen die bdquoArierldquo bdquoGottes auserwaumlhltes Volkldquo und die Verei-nigten Staaten das bdquoNEW JerUSAlemldquo Martin Durham White Rage The Extreme-Right and American Politics London 2007 67

39 Eine fruumlhe heute wieder viel zitierte wertende Entgegensetzung von Judentum und (russi-schem) Christentum findet sich bereits in der um die Mitte des 11 Jahrhunderts verfassten bdquoRede uumlber das Gesetz und die Gnadeldquo (Slovo o zakone i blagodati) des Metropoliten Ila-rion

14 Michael Hagemeister

Zuerst muss der Abfall von Gott kommen und der Mensch der Gesetzlosigkeit offenbart werden der Sohn des Verderbens der Widersacher der sich erhebt uumlber alles was Gott heiszligt oder Heiligtum so dass er sich sogar in den Tempel Gottes setzt und sich fuumlr Gott ausgibt [] Denn das Geheimnis der Gesetzlosigkeit [τὸ μυστήριον τῆς ἀνομίας]40 ist schon wirksam nur muss erst der beseitigt werden der es bis jetzt noch aufhaumllt [ὁ κατέχων] und dann wird der Gesetzlose offenbart werden [hellip] (2 Thess 23-4 und 7-8)

Die durch bdquofeigen Verratldquo erzwungene Abdankung des Zaren im Maumlrz 1917 und seine Ermordung im Juli 1918 wurden denn auch als Erfuumlllung jener Prophetie verstanden dh als Beseitigung des Katechon damit der Weg frei werde fuumlr die Herrschaft des Antichrist41 Der Regizid wurde in dieser Sicht zu einem bdquoapoka-lyptischen Verbrechenldquo langfristig geplant und auf blutig-rituelle Weise ausge-fuumlhrt von den Agenten des Antichrist den Juden Fuumlr diese so der Historiker Mi-chail Nazarov war der von Gott erwaumlhlte und gesalbte apostelgleiche Herrscher des Dritten Rom der bdquokatechontischen orthodoxen Machtldquo objektiv der groumlszligte metaphysische Feind und seine Beseitigung mithin eine Tat bdquovon houmlchster mys-tisch-religioumlser Bedeutungldquo42

Viele Glaumlubige sind indes uumlberzeugt dass die Stelle des Katechon nicht vakant sei sondern von der Gottesmutter uumlbernommen wurde Als Beweis dafuumlr dient die wundersame Auffindung einer Ikone im Dorf Kolomenskoe bei Moskau an jenem Tag an dem Nikolaus II dem Thron entsagte43 Die Ikone zeigt die

40 Luther uumlbersetzt bdquoGeheimnis der Bosheitldquo in der mittelalterlichen Theologie als der Anti-

christ gedeutet der nach der Offenbarung des Johannes am Ende der Zeiten erscheint 41 Im Russischen wird die Rolle des bdquoSelbstherrschersldquo (samoderžec) als bdquoAufhalter Kate-

chonldquo (uderživajuščij) auch etymologisch deutlich russ deržatrsquo entspricht griech κατέ-χειν ndash Die mysterioumlse Figur des Katechon (im griechischen Text einmal Neutrum einmal Maskulinum) die das Endgericht und den Anbruch des Reiches Gottes verzoumlgert bietet sich ebenso wie der Antichrist und seine Trabanten seit jeher zu immer neuen Identifikatio-nen mit einzelnen Gestalten Gruppen oder politischen Maumlchten an So identifizierte Carl Schmitt (1888ndash1985) der bdquoApokalyptiker der Gegenrevolutionldquo (Jacob Taubes) Liberalis-mus Bolschewismus und Judentum mit dem Antichrist (oder seinen Agenten) und glaubte dendas Katechon unter anderem in der Diktatur Hitlers zu erkennen 1947 notierte er bdquoIch glaube an den Katechon er ist fuumlr mich die einzige Moumlglichkeit als Christ Geschichte zu verstehen und sinnvoll zu findenldquo Carl Schmitt Glossarium Aufzeichnungen aus den Jah-ren 1947 bis 1958 hg von Gerd Giesler und Martin Tielke Berlin 2015 47 Schmitt und seine politische Theologie werden in russischen Intellektuellenkreisen intensiv rezipiert

42 Nazarov Voždju 213ndash223 ders Tajna Rossii Istoriosofija XX veka 1999 695ndash699 ndash Die Ermordung der Zarenfamilie durch die Bolschewiki im Juli 1918 in Ekaterinburg wur-de und wird von russischen Nationalisten als juumldischer antichristlicher Ritualmord darge-stellt Extremistische Kirchenkreise forderten denn auch Nikolaus II und seine Familie als bdquovon Jidden Gemarterteldquo (ot židov umučennye) heiligzusprechen Dem wurde freilich von fuumlhrenden Vertretern des Moskauer Patriarchats widersprochen

43 Im Februar 1917 war der Baumluerin Evdokija Andrianova im Traum der Fundort der Ikone erschienen Nach langem Suchen wurde diese schlieszliglich am 215 Maumlrz im Keller der Himmelfahrtskirche von Kolomenskoe entdeckt Siehe Aleksandr N Kazakevič bdquosbquoV podvale chrama pojavilasrsquo ikona Bogomaterilsquo Dokumenty Centralrsquonogo istoričeskogo

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 15

Himmelskoumlnigin mit den Zeichen ihrer Regentschaft im kaiserlichen Purpur mit Krone Szepter und Reichsapfel Das Bild der bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo (Bogo-materrsquo Deržavnaja) erwies sich sogleich als wundertaumltig und zog zahlreiche Pil-ger an Kopien verbreiteten seine Verehrung im ganzen Land Bis heute gilt es vielen als ein Zeichen dass Russlands Schutz vor dem Ansturm des Antichrist vom Zaren auf die Gottesmutter uumlbergegangen ist und sie die autokratische Macht bis zur Wiederherstellung der Monarchie bewahren wird44 Zum 70 Jahrestag des Sieges lieszlig der Izborsker Klub eine Variante der beruumlhmten Ikone anfertigen Sie zeigt die bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo zusammen mit Stalin und seinen Marschaumll-len Fuumlr Aleksandr Prochanov ist Stalin der Katechon der von Gott gesandte Fuumlhrer des Sowjetvolks das durch den Opfertod seiner Soumlhne im bdquogeheiligtenldquo Groszligen Vaterlaumlndischen Krieg ebenso wie einst Christus die Macht der Houmllle be-siegt und die Menschheit erloumlst habe45

lthttpwwwizborsk-clubruarh2015_04_Blokpdfgt

In bdquohistoriosophischerldquo Sicht bildet die Ermordung des Zaren und seiner Familie das zentrale sinnstiftende Ereignis der Geschichte Russlands im 20 Jahrhundert Alles darauf folgende Ungluumlck und Leiden die Verfolgung der Christen Hunger und Terror der Tod von Millionen Menschen werden aufgefasst als Strafe Gottes fuumlr den Abfall des russischen Volkes vom Glauben und fuumlr den judasgleichen

archiva Moskvy o Deržavnoj ikone Božiej Materildquo in Otečestvennye archivy 1 (2004) lthttpricolororghistorykasvyatyniik_derggt

44 Vgl Grigorij Nikolaev bdquoĖschatologičeskij triptichldquo in Ėschatologičeskij sbornik 358ndash396 hier 376f Bagdasarjan bdquoApokalipsis ndash segodnja 441f

45 Aleksandr Prochanov bdquoMističeskij stalinizmldquo in Izborskij klub Russkie strategii 4 (28) 2015 78ndash81 auch lthttpwwwizborsk-clubruarh2015_04_Blokpdfgt

16 Michael Hagemeister

bdquoVerratldquo an seinem Herrscher Wie Jesus sich dem Willen des goumlttlichen Vaters unterworfen hat und auf Golgatha fuumlr die Suumlnden der Welt gestorben ist so habe der Zar in Ekaterinburg (dem bdquorussischen Golgathaldquo) sein Leben als bdquoSuumlhneopferldquo dargebracht fuumlr die Suumlnden ganz Russlands46 Erst wenn das russische Volk sein Land von den Idolen und Symbolen der Gottlosigkeit reinige den Ideen der De-mokratie und politischen Gleichheit abschwoumlre seine kollektive Schuld bereue und Buszlige tue fuumlr das bdquoschrecklichste und unheilvollste Verbrechen des 20 Jahr-hundertsldquo werde der Zar zuruumlckkehren und Russland seine einstige Groumlszlige wie-dererlangen47

Einer der vehementesten und einflussreichsten Propagandisten der Selbst-charismatisierung Russlands war in den Jahren nach dem Ende der Sowjetunion Metropolit Ioann (Ivan Snyčev 1927ndash1995) von St Petersburg und Ladoga Mit-glied des Heiligen Synods und dritthoumlchster Kirchenhierarch des Landes In einer Vielzahl von Buumlchern Aufsaumltzen und Interviews beschwor Ioann die universale Mission des Dritten Rom als des bdquoletzten Hortes des wahren Glaubensldquo im Kampf gegen den Antichrist und seine Verbuumlndeten das bdquoVolk der Gesetzlosigkeitldquo48 Zu den apokalyptischen Feinden Christi zaumlhlte er die bdquoglobalen Maumlchte hinter den Kulissenldquo (mirovaja zakulisa) das internationale Freimaurertum die bdquotransnatio-nale Finanzoligarchieldquo die Anhaumlnger des Zionismus und Marxismus sowie Israel die USA und deren westeuropaumlische Satelliten49 Wiedergeboren im Geist der Or-thodoxie sei das Dritte Rom der irdische Sockel auf dem der Thron Gottes ruhen werde ndash ihm entgegen stehe der Dritte Tempel der Thron des Antichrist50

Hesychasmus als Kulturscheide ndash Kritik der Renaissance

Als entscheidende Waffe in dieser heilsgeschichtlichen Auseinandersetzung wird in juumlngster Zeit von antiwestlichen Intellektuellen und Kirchenkreisen der soge-nannte Hesychasmus in Stellung gebracht Urspruumlnglich handelt es sich dabei um

46 Das Schicksal des letzten Zaren wurde in der antibolschewistisch-antisemitischen Polemik

schon fruumlh mit der Passion Christi verglichen oder gleichgesetzt Eindrucksvolle Beispiele aus juumlngerer Zeit bieten die patriotischen Lieder der prominenten Saumlngerin Žanna Bičev-skaja oder die Filme Iskupitelrsquonaja žertva (1992) und Russkaja Golgofa (2000) Siehe auch Papkova The Orthodox Church 63f 222

47 Marija Achmetova Konec sveta v odnoj otdelrsquono vzjatoj strane Religioznye soobščestva postsovetskoj Rossii i ich ėschatologičeskij mif Moskva 2010 245ndash260

48 Vgl Rossman Russian Intellectual Antisemitism 221ndash225 Hagemeister bdquoDas Dritte Romldquo 476

49 Metropolit Ioann (Snyčev) bdquoToržestvo pravoslavijaldquo in ders Bitva za Rossiju Sankt-Peterburg 1993 28ndash35 In seinem Bestreben Russland als Opfer jahrhundertealter Ver-schwoumlrungen finsterer antichristlicher Maumlchte darzustellen griff Ioann immer wieder auch auf die Protokolle der Weisen von Zion zuruumlck

50 Metropolit Ioann (Snyčev) Samoderžavie ducha Očerki russkogo samosoznanija Sankt-Peterburg 1994 7

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 17

eine individuelle psychosomatische Gebets- und Meditationstechnik des byzanti-nischen und slavischen Moumlnchtums deren Anfaumlnge bis auf die Wuumlstenvaumlter zu-ruumlckreichen Durch die unablaumlssige konzentrierte Wiederholung des sogenannten bdquoJesusgebetsldquo ndash der Anrufung des rettenden Namens Jesu Christi ndash im Rhythmus des Herzschlags (deshalb auch bdquoHerzensgebetldquo) eine Uumlbung die als bdquogeistiges Tunldquo (πρᾶξις νοερά russ umnoe delanie) bezeichnet wird kann der Asket der die innere Ruhe (ἡσυχία) und Leidenschaftslosigkeit (ἀπάθεια) erreicht hat zur ekstatischen Schau (θεωρία) der Herrlichkeit Gottes in Lichtvisionen gelangen51

Die mit dem bdquoJesusgebetldquo verbundenen mystischen Erfahrungen fuumlhrten im 14 Jahrhundert zu einer hochspekulativen theologischen Deutung und Systemati-sierung durch den Athosmoumlnch (spaumlter Erzbischof von Thessalonike) Gregorios Palamas (129697minus1359) und seine Anhaumlnger im sogenannten bdquoHesychasmus-streitldquo Dabei ging es ndash stark vereinfacht ndash um die Frage inwiefern bestimmte sinnliche Erfahrungen beim Gebet wie das Schauen von Licht aber auch die Empfindung von Waumlrme und Wohlgeruch als Begegnung mit der Realitaumlt Gottes aufzufassen seien (und nicht als Pseudovisionen also als Einbildungen oder gar Inspirationen daumlmonischer Maumlchte) Dahinter steht das alte theologische Problem der Erkennbarkeit oder sinnlichen Erfahrbarkeit Gottes der Kommunikation zwi-schen Immanenz und Transzendenz aber auch der Gefahr der Verfuumlgung uumlber das Goumlttliche (extrem im Gotteszwang durch Beschwoumlrung)

Palamas loumlst die Frage indem er in Anlehnung an neuplatonische Vorstel-lungen das unzugaumlngliche ewige bdquoWesenldquo (οὐσία) Gottes von seiner in der ge-schaffenen Welt d h in Raum und Zeit mitteilbaren ungeschaffenen bdquoWirkkraftldquo oder bdquoEnergieldquo (ἐνέργεια) unterscheidet nicht aber trennt52 Diese Energien bdquodie der dreieinige Gott ausstrahlt und die zu seinem Wesen gehoumlren wie die Strahlen zur Sonne oder das Kraftfeld zum Magnetenldquo53 kann der Asket der den Stufen-prozess von bdquoReinigungldquo (κάθαρσις) bdquoErleuchtungldquo (φωτισμός) und bdquoVergoumlttli-chungldquo (θέωσις) durchlaumluft durch die Gnade Gottes sinnlich erfahren Als houmlch-stes mystisches Erlebnis im Zusammenwirken (συνεργία) aller menschlichen En-ergien mit der goumlttlichen Energie gilt die Schau des ungeschaffenen Lichtes wie sie den Juumlngern Jesu bei dessen Verklaumlrung auf dem Berg Tabor (μεταμόρφωσις

51 Ich folge hier zum Teil meinen Ausfuumlhrungen in Michael Hagemeister bdquoImjaslavie ndash imja-

dejstvie Namensmystik und Namensmagie in Russland (1900ndash1930)ldquo in Tatjana Petzer [ua] (Hgg) Namen Benennung ndash Verehrung ndash Wirkung Positionen der europaumlischen Moderne Berlin 2009 77ndash98 hier 79ndash81 88ndash90 Zum Hesychasmus liegt eine umfangrei-che Literatur vor Das Nachschlagewerk von Sergej Choružij (Hg) Isichazm annotiro-vannaja bibliografija Moskva 2004 umfasst mehr als 10000 Titel in 20 Sprachen

52 Die Unterscheidung von Gottes unerkennbarem Wesen und seinen wahrnehmbaren Wirk-kraumlften reicht bis auf Philon von Alexandria (gest ca 40 n Chr) zuruumlck Siehe Fairy v Lilienfeld bdquoHesychasmusldquo in Theologische Realenzyklopaumldie Bd 15 BerlinNew York 1986 282ndash289 ndash bdquoEnergieldquo ist Synonym fuumlr jeden bdquoAustrittldquo Gottes aus seinem Wesen Die bdquoSaumlttigungldquo mit goumlttlicher Energie erklaumlrt beispielsweise auch die gnadenreiche Heil-wirkung die von den Gebeinen der Heiligen selbst nach deren Tod ausgeht

53 Ebd 284

18 Michael Hagemeister

τοῦ Χριστοῦ Mt 171minus13) zuteil geworden war54 Fuumlr den endzeitlich gestimm-ten Palamas war diese Schau eine Vorwegnahme der Parusie der Vereinigung des Geschaffenen und des Ungeschaffenen und des kuumlnftigen Reiches Gottes somit bdquorealisierte Eschatologieldquo55

Der Glaube an die Wahrnehmbarkeit des ungeschaffenen ewigen Lichtes als Ausfluss der Energien Gottes stieszlig jedoch auf Widerspruch Palamasrsquo promi-nentester Gegner war der aus Kalabrien stammende Moumlnch Barlaam (ca 1290ndash1348) der in der Tradition der abendlaumlndischen rationalistischen Scholastik die Unterscheidung des transzendenten unzugaumlnglichen Wesens Gottes und der da-von untrennbaren Energien die aber ad extra wirken und sich dem Menschen mitteilen als haumlretisch verwarf und auf der absoluten Unerkennbarkeit Gottes be-stand Rom lehnte denn auch die Energienlehre des Palamas aufs schaumlrfste ab Dagegen erkannte die byzantinische Kirche sie 1341 und 1351 als Dogma an Seitdem gilt der palamitische Hesychasmus als ein Spezifikum der Orthodoxie und dient gerade heute wieder der polemischen Abgrenzung gegenuumlber dem Wes-ten56

Fuumlr die bereits genannten Philosophen Pavel Florenskij und Aleksej Losev charakterisiert das Bekenntnis zum Hesychasmus den Kulturtypus des christli-chen Mittelalters der sich in idealer Weise in Byzanz und in der Moskauer Rusrsquo ausgepraumlgt habe und in diametralem Gegensatz zur sogenannten bdquoRenaissance-Kulturldquo des Westens stehe Merkmale jener integralen Kultur des christlichen Ostens seien Gemeinschaftlichkeit (sobornostrsquo) Geistigkeit (duchovnostrsquo) Ob-jektivitaumlt Konkretheit Ganzheit (celrsquonostrsquo) und Ganzheitlichkeit (celostnostrsquo) synthetische Schau und Realismus57 waumlhrend die westliche Moderne seit der Re-naissance gepraumlgt sei durch Subjektivismus Relativismus szientifische Ratio-nalitaumlt (bdquoEntzauberung der Weltldquo) Materialismus Liberalismus Individualismus

54 Siehe Sergej Choružij bdquoSvet Plotinov i svet Favora mistika sveta v neoplatonizme i isi-

chazmeldquo in Aleksej Lidov (Hg) Ierotopija Ognja i Sveta v kulrsquoture vizantijskogo mira Moskva 2013 37ndash44 Zur Terminologie des Hesychasmus ders bdquoAnalitičeskij slovarʼ isi-chastskoj antropologiildquo in ders K fenomenologii askezy Moskva 1998 22ndash186

55 Peter Kawerau Das Christentum des Ostens Stuttgart [ua] 1972 131 56 Siehe zB die Arbeiten des Moskauer Theologen Igorʼ Ėkonomcev (Archimandrit Ioann)

bes bdquoIsichazm i vostočnoevropejskoe Vozroždenieldquo in Bogoslovskie trudy 29 (1989) 167ndash196 erweiterte Fassung bdquoDer Hesychasmus und die Renaissance in Osteuropaldquo in Karl Christian Felmy (Hg) Tausend Jahre Christentum in Russland Zum Millennium der Taufe der Kiever Rusrsquo Goumlttingen 1988 731ndash771 ndash Im 19 Jahrhundert erlebte der Hesy-chasmus im Zuge der Wiederbelebung mystischer Froumlmmigkeit durch Paisij Veličkovskij (1722ndash1794) eine Bluumlte im russischen Starzentum Dabei handelt es sich auch ndash aumlhnlich wie beim Pietismus ndash um eine Reaktion auf die Einfluumlsse der westlichen Aufklaumlrung Siehe die Beitraumlge in Adalberto Mainardi (Hg) Paisij lo starec Atti del III Convegno ecumenico internazionale di spiritualitagrave russa Bose 20ndash23 settembre 1995 Magnano 1997

57 Die Uumlberwindung der Trennung des erkennenden Subjekts vom Objekt der Erkenntnis (Descartes Locke Kant) durch das spekulative intuitive Erfassen des Wesens (der Ideen des Absoluten) als des eigentlich Realen hat die russische Philosophie des 20 Jahrhunderts bdquolebendiges Wissenldquo (živoe znanie) bdquoIdeal-Realismusldquo (ideal-realizm) oder bdquointuitiven Realismusldquo (intuitivnyj realizm) genannt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 19

Abstraktheit Zersplitterung und Atomisierung58 Der Sieg des Nominalismus im mittelalterlichen Universalienstreit und die Feier des autonomen Individuums in Renaissance Humanismus und Aufklaumlrung markieren in dieser katastrophischen Perspektive den Zerfall der goumlttlichen Ordnung des Universums und der Sakralitaumlt von Hierarchie und Herrschaft und damit den bdquoSuumlndenfallldquo der abendlaumlndischen Kultur die im Anthropozentrismus der satanischen Hybris einer bdquoSelbstvergot-tungldquo des Menschen (čelovekobožie)59 zugleich gipfele und scheitere60

Am Anfang dieser verhaumlngnisvollen Spaltung standen die Annahme der pa-lamitischen Lehre durch die Ostkirche und die Ablehnung dieser Lehre im Westen durch den bdquoRenaissance-Menschenldquo (vozroždenec) Barlaam den Lehrer Boccac-cios und Petrarcas61 Mit aller Schaumlrfe formulierte Losev diesen Gegensatz bdquo[hellip] entweder ist das Taborlicht untrennbar vom Wesen Gottes und ist deshalb Gott selbst (obwohl Gott selbst nicht [das] Licht ist) ndash dann ist die Orthodoxie gerettet oder das Licht ist vom Wesen Gottes trennbar und darum geschaffen ndash dann be-ginnen die apokalyptischen Kraumlmpfe des Renaissance-Westensldquo62 Indem sie Bar-laam einen bdquozugereisten Kalabrierldquo und seine Anhaumlnger mit dem Bann belegte habe die Orthodoxe Kirche so Losev die damals heraufziehende Renaissance

58 Siehe zB Pavel Florenskij bdquoAvtoreferat (192526)ldquo in Voprosy filosofii 1988 12 113ndash

116 dt Pavel Florenski bdquoAutorreferatldquo in ders Leben und Denken hg von Fritz und Sieglinde Mierau Bd 1 Ostfildern 1995 32ndash38 Aleksej Losev Dialektika mifa (1930) Moskva 2001 137ndash138 dt Die Dialektik des Mythos Hamburg 1994 109 ndash Die wertende Entgegensetzung von mittelalterlicher und Renaissance-Kultur (bzw der Typen bdquoobjekti-verldquo und bdquosubjektiverldquo Kulturen) findet sich durchgaumlngig im Werk Florenskijs und Losevs Siehe zuletzt Oksana SedychJulija Grišatova bdquoRusskij Renessans o Renessanseldquo in Vo-prosy filosofii 2015 6 111ndash121

59 bdquoSatan war der erste Revolutionaumlrldquo zitiert Losev einen (apokryphen) Ausspruch des Hl Serafim von Sarov Aleksej Losev bdquoDopolnenie k sbquoDialektike mifalsquo (novyj fragment)ldquo in AF Losev tvorčestvo tradicii interpretacii Moskva 2014 397ndash411 hier 401

60 So degradiere ndash um nur ein Beispiel fuumlr das Scheitern der Renaissance zu geben ndash das heliozentrische Weltbild eines Kopernikus und Giordano Bruno den Menschen zum Be-wohner eines bdquonichtigen Sandkornsldquo im unendlichen Weltraum SedychGrišatova bdquoRuss-kij Renessansldquo 114 Florenskij suchte denn auch in seiner Schrift Mnimosti v geometrii (1922) das geozentrische Weltbild des Mittelalters zu rehabilitieren Zum griechisch-or-thodoxen Antikopernikanismus Vasilios Makrides Die religioumlse Kritik am kopernikani-schen Weltbild in Griechenland zwischen 1794 und 1821 Aspekte griechisch-orthodoxer Apologetik angesichts naturwissenschaftlicher Fortschritte Frankfurt aM [ua] 1995

61 Mitunter wurde Barlaam sogar als Agent einer groszligangelegten antiorthodoxen Verschwouml-rung des bdquoPapismusldquo denunziert Siehe Ėkonomcev bdquoIsichazmldquo 59 vgl ders bdquoDer Hesy-chasmusldquo 736 ndash Eine Kontrastierung des weltlichen Humanisten Petrarca und des Hesy-chasten Palamas unternahm Losevs Schuumller und Sekretaumlr Vladimir Bibichin lthttpwww philologyruliterature3bibikhin-90htmgt

62 Aleksej Losev Očerki antičnogo simvolizma i mifologii Moskva 1930 856 Auch Ėko-nomcev spricht von den bdquoschreienden Widerspruumlchen und Grimassen der westlichen Re-naissance deren geistiger Vater Barlaam wurdeldquo Ėkonomcev bdquoIsichazmldquo 63 (in der deut-schen Version ist von bdquohimmelschreienden Gegensaumltzenldquo und bdquoscheuszliglichen Grimassenldquo die Rede Ėkonomcev bdquoDer Hesychasmusldquo 746)

20 Michael Hagemeister

insgesamt verdammt (anafematstvovala) der alle westlichen Voumllker verfallen sei-en und wahrscheinlich bis ans Ende ihrer Tage verfallen blieben63

Bis zuletzt verteidigte Losev ein mit Orden des Sowjetstaates ausgezeich-neter Philosoph der 1929 von Archimandrit David (Muchranov 1847ndash1930) ei-nem Fuumlhrer der hesychastischen bdquoNamensverehrerldquo (imjaslavcy)64 heimlich zum Moumlnch geweiht worden war die Lehre des Palamas als einen Grundpfeiler der Orthodoxie65 Gleichzeitig hielt er an seiner schroffen Ablehnung des bdquoRenaissan-ce-Westensldquo fest dessen Geschichte insgesamt nichts anderes sei als bdquoeine libera-le Kritik des Mittelaltersldquo 1978 stellte Losev in seiner umfangreichen Studie zur Aumlsthetik der Renaissance der bdquoganzheitlichen Kulturldquo (celostnaja kulrsquotura) des Mittelalters die zerrissene Kultur der Renaissance gegenuumlber die auf der Verabso-lutierung und bdquotitanischen Verherrlichungldquo des isolierten Subjekts und der bdquoAbge-trenntheit vom lebendigen Seinldquo (otryv ot živogo bytija) beruhe66 In einem Ge-spraumlch mit dem Schriftsteller Viktor Erofeev das 1985 veroumlffentlicht wurde de-nunzierte Losev den Typus des bdquoRenaissance-Menschenldquo der sich selbst vergoumltt-liche und deshalb dem Nihilismus und Satanismus verfalle bdquoIndem die Renais-sance das Subjekt zum Absolutum erhob oumlffnete sie den Weg fuumlr den Triumph des Subjektivismus in den folgenden Jahrhunderten In diesem Sinne stellt der gesamte Westen fuumlr mich eine Sackgasse des Denkens darldquo67 Damit geriet der Philosoph einerseits in scharfen Gegensatz zum sowjetischen Selbstverstaumlndnis das sich als Erbe und Vollender gerade jener bdquoprogressivenldquo Prozesse und huma-nistischen Traditionen sah die von der europaumlischen Renaissance ausgegangen

63 Losev Očerki 849 856 64 Zur Bewegung des imjaslavie die zu Beginn des 20 Jahrhunderts auf dem Athos entstand

und in Florenskij und Losev prominente Unterstuumltzer fand liegt inzwischen eine reiche Literatur vor Siehe die juumlngste Veroumlffentlichung Antoine Niviegravere Les glorificateurs du nom Une querelle theacuteologique parmi les moines russes du mont Athos (1907ndash1914) Genegraveve 2016

65 Siehe Valentina Postovalova bdquoAfonskij spor ob Imeni Božiem v filosofsko-bogoslovskom osmyslenii AF Losevaldquo in AF Losev 95ndash106 bes 105f

66 Aleksej Losev Ėstetika Vozroždenija Moskva 21982 (11978) 45 61 137 und passim Losevs Modernekritik erinnert an Heidegger und dessen Begriff der bdquoSeinsvergessenheitldquo Wie fuumlr Heidegger so war auch fuumlr Losev (und Florenskij) der Agent der verhassten Moder-ne ein bdquorechnendesldquo und bdquowurzellosesldquo mythisches Judentum Zu Losevs metaphysischem Antisemitismus (bdquodas satanische Wesen des Judentumsldquo) siehe zuletzt mit zahlreichen Belegen Natalrsquoja Boneckaja Duch Serebrjanogo veka (fenomenologija ėpochi) Moskva Sankt-Peterburg 2016 688ndash693

67 Aleksej Losev bdquoV poiskach smyslaldquo in Voprosy literatury 1985 10 205ndash231 hier 229 Zu Losevs Kritik der bdquoRenaissance-Kulturldquo des Westens ausfuumlhrlich Annett Jubara Die Philosophie des Mythos von Aleksej Losev im Kontext bdquoRussischer Philosophieldquo Wiesba-den 2000 bes 131ndash154 Siehe auch Naftalij Prat bdquoAleksej Losev und der Totalitarismusldquo in Leonid Luks (Hg) Das Christentum und die totalitaumlren Herausforderungen des 20 Jahrhunderts Koumlln [ua] 2002 103ndash114 bes 108f

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 21

waren (augenfaumlllig etwa in der Architektur der 1930er bis 50er Jahre)68 Anderer-seits erwies sich der orthodoxe Moumlnch damit auch als Apologet des Sowjetregi-mes bedroht die Autonomie des Individuums doch den Wesenskern einer jeden Herrschaft die das Wahrheitsmonopol fuumlr sich beansprucht

Die Ablehnung der modernen bdquokopernikanischen Weltldquo (Hans Blumen-berg) durchzieht das gesamte philosophische Werk Losevs und Florenskijs dazu gehoumlren die Ablehnung des heliozentrischen Weltbildes die Polemik gegen Kants kritischen Idealismus (die bdquokopernikanische Wendeldquo in der Philosophie) die Ab-lehnung der Zentralperspektive in der Kunst die Ablehnung des nominalistischen Rationalismus und schlieszliglich die Ablehnung der saumlkularen und demokratischen Gesellschaftsordnung zugunsten einer bdquoVerkirchlichungldquo (ocerkovlenie) aller Be-reiche der Gesellschaft und des Staates in Gestalt einer theokratischen Synarchie Florenskij der sich als einen mittelalterlichen Menschen charakterisierte69 ndash Ni-kolaj Berdjaev selbst Verkuumlnder eines religioumls-integralen bdquoNeuen Mittelaltersldquo nannte ihn einen bdquoraffinierten Reaktionaumlrldquo ndash70 war uumlberzeugt dass die bdquoentseelte Renaissance-Zivilisationldquo sich erschoumlpft habe und eine neue ganzheitlich-objekti-ve Kultur anbrechen werde71 Vorbild dieser bdquoKultur des anderen Typusldquo werde Russland sein bdquoerste Keimeldquo seien bereits zu erkennen Seine Zeit begriff Floren-skij bdquoan den Wasserscheiden des Denkensldquo und er sah seine Lebensaufgabe darin bdquoWege zu bahnen zu einer kuumlnftigen ganzheitlichen Weltanschauungldquo72

68 Losevs Renaissance-Kritik (va in Ėstetika Vozroždenija) wurde deshalb auch als ver-

schleierte Kritik am Sowjetsystem verstanden Siehe Annett Jubara bdquoAleksej Losevs Philosophie des Mythos als Kritik an der Sowjetischen Moderneldquo in Studies in East Euro-pean Thought 56 (2004) 211ndash224 Aus dem Kreis der Schuumller Losevs gingen seit den 1960er Jahren zahlreiche dissidentische russische Nationalisten hervor Nikolaj Mitrochin Russkaja partija Dviženie russkich nacionalistov v SSSR 1953ndash1985 Moskva 2003 288f Zur Kritik der Renaissance-Zivilisation siehe auch Vladimir Bibichin Novyj renessans Moskva 1998 bes 131ndash155

69 Siehe Florenskij bdquoAvtoreferatldquo Noch im Maumlrz 1933 nach seiner Verhaftung erklaumlrte Flo-renskij gegenuumlber den Ermittlungsbeamten bdquoIch Pavel Aleksandrovič Florenskij [hellip] bin dem Charakter meiner politischen Anschauungen nach ein Romantiker des Mittelalters un-gefaumlhr des 14 Jahrhundertsldquo Vitalij Šentalinskij bdquoUdel veličijaldquo in Ogonek 1990 45 23ndash27 hier 26

70 Nikolaj Berdjaev Samopoznanie (Opyt filosofskoj avtobiografii) Moskva 1991 161 Sie-he Nikolaj Berdjaev Novoe srednevekovrsquoe Berlin 1924 dt Nikolaus Berdjajew Das Neue Mittelalter Darmstadt 1927

71 Siehe Michael Hagemeister bdquoWiederverzauberung der Welt ndash Pavel Florenskijs Neues Mittelalterldquo in Norbert Franz [ua] (Hgg) Pavel Florenskij ndash Tradition und Moderne Beitraumlge zum Internationalen Symposium an der Universitaumlt Potsdam 5 bis 9 April 2000 Frankfurt aM [ua] 2001 21ndash41 Zu Florenskijs Kritik an Renaissance und Humanismus (bdquoder Humanismus entsprang der Kabbalaldquo) siehe auch Ilona Svetlikova bdquoOb ideologii sbquoobratnoj perspektivylsquo Pavla Florenskogoldquo in Russkaja intellektualʼnaja revoljucija 1910ndash1930-ch godov Moskva 2016 123ndash139 zu den Uumlbereinstimmungen mit Heidegger siehe Viktor Arslanov Postmodernizm i russkij bdquotretij putrsquoldquo tertium datur rossijskoj kulrsquotury XX veka Moskva 2007 472ndash499

72 Florenskij bdquoAvtoreferatldquo 114

22 Michael Hagemeister

In juumlngster Zeit hat das wiedererwachte Interesse an der eigenen spirituellen Tradition und ihren byzantinischen Wurzeln ndash oftmals verbunden mit dem Bestre-ben sich vom bdquosaumlkularen Westenldquo und der bdquowestlichen Moderneldquo abzugrenzen ndash zu einer Wiederbelebung des palamitischen Hesychasmus (neopalamizm) und der ndash davon zu unterscheidenden ndash bdquoNamensverehrungldquo (imjaslavie) gefuumlhrt73 Be-reits in den 1970er Jahren war John Meyendorffs klassische Studie St Greacutegoire Palamas et la mystique orthodoxe (Paris 1959) ins Russische uumlbersetzt worden und kursierte in der Sowjetunion in Samizdat-Ausgaben im Milieu religioumls-philo-sophischer Dissidenten Heute wird die Wiederbelebung des Hesychasmus auch durch den patriotischen Kult um Serafim von Sarov (Prochor Mošnin 1759ndash1833) befoumlrdert einen Wundertaumlter und Apokalyptiker der im postsowjetischen Russland zu einem der meistverehrten Heiligen avanciert ist74 In einer in viele Sprachen uumlbersetzten und millionenfach verbreiteten Schrift schildert sein Schuuml-ler Nikolaj Motovilov (1809ndash1879) die Verklaumlrung Serafims im ungeschaffenen Licht des Heiligen Geistes die sich angeblich im November 1831 auf einer einsa-men verschneiten Waldlichtung ereignet hat75

73 Dies gilt nicht nur fuumlr Russland auch auf Vertreter der angelsaumlchsischen bdquoRadical Ortho-

doxyldquo die das Projekt einer von modern-saumlkularem Denken nicht korrumpierten Theologie verfolgen uumlben Hesychasmus und russische Sophiologie starke Faszination aus Siehe die Beitraumlge in Adrian PabstChristoph Schneider (Hgg) Encounter Between Eastern Ortho-doxy and Radical Orthodoxy Transfiguring the World Through the Word Farnham 2009 Zur Wiederbelebung des imjaslavie im post-sowjetischen Russland siehe Scott M Ken-worthy bdquoDebating the Theology of the Name in Post-Soviet Russia Metropolitan Ilarion Alfeev and Sergei Khoruzhiildquo in Katya Tolstaya (Hg) Orthodox Paradoxes Hetero-geneities and Complexities in Contemporary Russian Orthodoxy LeidenBoston 2014 250ndash264 Siehe auch Loren Grahams Bericht uumlber diskrete Zusammenkuumlnfte der imjaslav-cy im Kellergeschoss der Moskauer Tatrsquojana-Kirche in den fruumlhen 2000er Jahren Loren GrahamJean-Michel Kantor Naming Infinity A True Story of Religious Mysticism and Mathematical Creativity Cambridge MassLondon 2009 1ndash5

74 Fuumlr die Anhaumlnger der Doktrin einer bdquoAtomaren Orthodoxieldquo (atomnoe pravoslavie) ist Se-rafim auch der Schutzheilige der russischen Atombombe wurde doch Sarov der Ort seines Wirkens 1946 unter dem Namen Arzamas-16 zur streng geheimen Nuklearstadt in der Wissenschaftler unter ihnen Andrej Sacharov am Bau der sowjetischen Atom- und Was-serstoffbomben arbeiteten Patriotische Russen deuten dies als Zeichen dass bdquoim Hause unseres Vaters Serafimldquo mit dessen Segen der nukleare bdquoSchild zum Schutz der Heimatldquo geschmiedet worden sei Pavel V Florenskij bdquoNeobchodimostrsquo našej atomnoj bombyldquo in Naš sovremennik 1997 4 219ndash221 Bei dem Verfasser handelt es sich um einen Enkel des beruumlhmten Philosophen Siehe auch lthttpsruwikipediaorgwiki Атомное_правосла виеgt

75 Die Schrift deren Authentizitaumlt umstritten ist wurde bekannt unter dem Titel bdquoGespraumlch uumlber das Ziel des christlichen Lebensldquo (Beseda o celi christianskoj žizni) Erstmals veroumlf-fentlicht wurde das bdquoGespraumlchldquo 1903 von Sergej Nilus (1862ndash1929) dem Herausgeber und Kommentator der Protokolle der Weisen von Zion Siehe Michael Hagemeister bdquoIl proble-ma della genesi del sbquoColloquio con Motovilovlsquoldquo in Adalberto Mainardi (Hg) San Sera-fim Da Sarov a Diveevo Atti del IV Convegno ecumenico internazionale di spiritualitagrave russa Bose 18ndash20 settembre 1996 Magnano 1998 157ndash174 Bis heute gibt es keine kriti-sche Ausgabe dieses zentralen Textes russischer Geistigkeit

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 23

Von der Wiederbelebung des Hesychasmus zeugt auch das groszligangelegte Projekt einer bdquosynergetischen Anthropologieldquo (sinergijnaja antropologija) des Mathematikers Physikers und religioumlsen Philosophen Sergej Choružij Prakti-sches Ziel das seit 2005 durch ein eigenes Institut in Moskau verfolgt wird ist die psychosomatisch-holistische Selbsttransformation des Menschen die auf unmittelbarer (mystisch-energetischer) Erfahrung bzw Einwirkung des ontolo-gisch Anderen (Goumlttlichen) beruht sowie die Uumlberwindung der Subjekt-Objekt-Trennung der modernen westlichen Philosophie die Choružij fuumlr den von ihm als krisenhaft und katastrophisch beschriebenen Zustand der westlichen Moderne verantwortlich macht Im Unterschied zu orthodoxen Fundamentalisten und Anti-Westlern sucht Choružij indes die asketischen Praktiken des Hesychasmus mit modernen und postmodernen westlichen Anthropologien (Kierkegaard Scheler Heidegger und insbesondere Foucaults technique oder practique de soi) in Bezie-hung zu setzen76

bdquoPolitischer Hesychasmusldquo

Es duumlrfte deutlich geworden sein dass Hesychasmus nicht nur eine weltabge-wandte mystisch-asketische bdquogeistige Praxisldquo bezeichnet sondern auch als Kampfbegriff gegen die saumlkulare Kultur des bdquoWestensldquo und der bdquowestlichen Mo-derneldquo dient Dies gilt vor allem fuumlr das Konzept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo (političeskij isichazm)

In den russischen Diskurs wurde dieses Konzept um die Mitte der 1960er Jahre von dem Leningrader Mediaumlvisten und Byzantinisten Gelian Prochorov ein-gefuumlhrt77 Seiner Hauptthese zufolge wurde der Hesychasmus nachdem er aus den Klosterzellen herausgetreten war und eine philosophisch-theologische

76 Siehe Sergej Choružij Očerki sinergijnoj antropologii Moskva Inst Sinergijnoj antropo-

logii Inst filosofii teologii i istorii Sv Fomy 2005 ders (Hg) Fonarrsquo Diogena Proekt sinergijnoj antropologii v sovremennom gumanitarnom kontekste Moskva 2010 ders bdquoDie mystische Verwandlung des Menschen Uumlber den Hesychasmus als Raum der Philo-sophieldquo in Fuge Journal fuumlr Religion amp Moderne 7 (2010) 72ndash99 Siehe auch die Web-site lthttpsynergia-isarugt Kristina Stoeckl bdquoA New Anthropology Sergej S Khoru-žijrsquos Search for an alternative to the Cartesian Subject in sbquoOčerki sinergijnoj antropologiilsquoldquo in Studies in East European Thought 59 (2007) 237ndash245

77 Gelian Prochorov bdquoĖtničeskaja integracija v Vostočnoj Evrope v XIV-m veke Ot isichastskich sporov do Kulikovskoj bitvyldquo in Doklady otdelenija ėtnografii 2 (196265) Leningrad 1966 81ndash110 ders bdquoIsichazm i obščestvennaja myslʼ v Vostočnoj Evrope v XIV vldquo in Literaturnye svjazi drevnich slavjan (Trudy otdela drevnerusskoj literatury 23) Leningrad 1968 86ndash108 ders bdquoKulʼturnoe svoeobrazie ėpochi kulikovskoj bitvyldquo in Kulikovskaja bitva i podldquoem nacionalrsquonogo samopoznanija (Trudy otdela drevne-russkoj literatury 34) Leningrad 1979 3ndash17 ndash Prochorov gehoumlrte bereits zu Sowjetzeiten ins Lager der (neo-)slavophilen Anti-Westler er war eng befreundet mit dem bdquoEurasierldquo und Antisemiten Lev Gumilev (1912ndash1992) und uumlbernahm von diesem das Konzept der bdquoEthnogeneseldquo

24 Michael Hagemeister

Grundlegung erfahren hatte am Ende des 14 Jahrhunderts zu einem entscheiden-den politischen und kulturellen Faktor nicht nur in Byzanz sondern in ganz Ost-europa und lieferte unter anderem das ideologische Fundament zur Konsolidie-rung der nachmongolischen Rusʼ Im Streit zwischen dem bdquorationalistischen Hu-manismus und dem kontemplativen Hesychasmus [hellip] entschied Byzanz uumlber sein geistiges Schicksal Das Land blieb bis zuletzt mittelalterlich Den Hesy-chasten gelang es zu Wortfuumlhrern der oumlffentlichen Meinung in Byzanz zu werden die letzte schoumlpferische Synthese seiner traditionellen Kultur zu entwickeln und eine breite kulturelle und gesellschaftliche Bewegung in Gang zu setzen die zu einer Erneuerung des Mittelalters und zu einer Wiederbelebung der Orthodoxie im ganzen oumlstlichen Europa fuumlhrteldquo78

Im Anschluss an das von seinem Lehrer Dmitrij Lichačev entwickelte Kon-zept einer bdquoVorrenaissanceldquo (Predvozroždenie)79 spricht Prochorov von einer bdquovorrenaissancelichen Gegenreformationldquo (predvozroždenčeskaja kontrreforma-cija) und einer bdquoOrthodoxen Renaissanceldquo (Pravoslavnoe Vozroždenie)80 Ge-meint war damit dass die Palamiten (Hesychasten) den Sieg der Barlaamiten ver-hindern konnten und auf die Schriften der antiken Kirchenvaumlter zuruumlckgreifend ein mystisch-kontemplatives Aumlquivalent zum rationalistischen und saumlkularen Hu-manismus geschaffen haumltten Auf diese Weise habe der drohende Uumlbergang der byzantinischen und osteuropaumlischen christlich gepraumlgten Kultur von der bdquoVorre-naissanceldquo zu einer auf heidnisch-antiken Wurzeln beruhenden Renaissance ab-gewendet werden koumlnnen81 Auf die bdquoVorrenaissanceldquo sei ein bdquoNeues Mittelalterldquo gefolgt das in der bdquoHeiligen Rusʼldquo um die Wende zum 15 Jahrhundert seinen Houmlhepunkt erreicht habe Ihm verdanke Russland seine Groumlszlige und die russische Kultur ihre bdquoUniversalitaumltldquo und bdquoGeistigkeitldquo82

Bemerkenswert ist dass der sowjetische Wissenschaftler die beiden ideolo-gischen Lager mit traditionellen (neo-)slavophilen Wertungsoppositionen wie sie bereits bei Florenskij und Losev begegnet sind verbindet und dabei deutlich seine 78 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 4 79 Vor allem in seinem Buch Kulʼtura Rusi vremeni Andreja Rubleva i Epifanija Premudrogo

MoskvaLeningrad 1962 80 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 8 Siehe auch ders Nekogda ne narod a nyne narod

Božijhellip Drevnjaja Rusʼ kak istoriko-kulʼturnyj fenomen Sankt-Peterburg 2010 133ndash157 81 So auch Igorʼ Ėkonomcev bdquoDie osteuropaumlische sbquoVorrenaissancelsquo ist nicht die erste Stufe

zur saumlkularisierten Renaissance vom abendlaumlndischen Typ sondern ihre Antithese Der geistige und kulturelle Aufschwung in Osteuropa war die wahre volle und eindeutige Re-naissance die sich grundlegend von der westlichen Renaissance unterschied Sie haumltte sich niemals in eine Renaissance westlicher Praumlgung verwandeln koumlnnenldquo Ėkonomcev bdquoDer Hesychasmusldquo 764 vgl ders bdquoIsichazmldquo 69 Diese (osteuropaumlische) Renaissance so Ėkonomcev an anderer Stelle sei ungleich bdquoerhabener geistiger und reinerldquo gewesen als bdquodie westeuropaumlische Renaissance mit ihrer krankhaften Disharmonie zwischen Glauben und Vernunft Geist und Leib die trotz allem gespieltem Optimismus ein Gefuumlhl der Aus-weglosigkeit und Verzweiflung hinterlaumlsstldquo Igumen Ioann Ėkonomcev bdquoVizantinizm Kirillo-Mefodievo nasledie i kreščenie Rusildquo in ders Pravoslavie Vizantija Rossija Sbornik statej Moskva 1992 7ndash22 hier 18

82 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 9 15

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 25

Sympathie zeigt Die byzantinischen Humanisten werden von ihm als kalte Ratio-nalisten dargestellt die in der Hoffnung auf militaumlrische Unterstuumltzung durch den katholischen Westen im Kampf gegen die Osmanen bereit gewesen seien den eigenen Glauben zu opfern83 Die Hesychasten hingegen haumltten so Prochorov den Westen realistischer eingeschaumltzt und auf Hilfe von Seiten der orthodoxen Staaten gehofft Im entscheidenden Moment haumltten nicht die bdquoWestler-Huma-nistenldquo (zapadniki-gumanisty) mit ihren bdquokalten Uumlberlegungenldquo (cholodnymi rassuždenijami) beim Volk Gehoumlr gefunden sondern die Hesychasten mit ihren bdquoheiszligen Gebetenldquo (gorjačimi molitvami)84

Mit seiner Apologie eines bdquowiederbelebtenldquo Mittelalters und einer bdquoOrtho-doxen Renaissanceldquo die alle Bereiche des politischen gesellschaftlichen und kul-turellen Lebens gepraumlgt habe und deren Kern der Hesychasmus gewesen sei stieszlig Prochorov bei seinen sowjetischen Kollegen auf Kritik So sah Apollon Kuzmin im Palamismus eine desintegrative Erscheinung weshalb er Prochorovs positive Bewertung der Hesychasten bei der bdquoWiedergeburtldquo der Rusʼ zuruumlckwies85 Aumlhn-lich argumentierte Gennadij Litavrin Die Palamiten seien diejenigen gewesen die eine unrealistische Einschaumltzung der politischen Lage gehabt haumltten Sie haumltten die Bedrohung durch die Tuumlrken nicht erkannt und stattdessen die Illusion verbreitet die Feinde zum Christentum bekehren und zu neuen Untertanen ma-chen zu koumlnnen Der Palamismus sei eine bdquoIdeologie der Demutldquo und habe eine bdquounheilvolle Rolle in der Geschichte des Kampfes gegen die tuumlrkische Aggres-sionldquo gespielt86 Michail Sjuzjumov sprach sogar vom bdquoasozialen Charakter des Palamismusldquo der den aufkommenden humanistischen Tendenzen gegenuumlber feindlich gewesen und zur bdquoIdeologie der Reaktionldquo in Byzanz geworden sei87 Auf Ablehnung stieszlig Prochorov auch im Ausland Valerij Lepachin kritisierte den Begriff bdquopolitischer Hesychasmusldquo als unzulaumlssige Verbindung weltlicher und geistlicher Sphaumlren damit verliere der Hesychasmus seinen wesentlichen Sinn-gehalt88 Fuumlr den in Berkeley lehrenden Philologen Viktor Živov schlieszliglich war

83 Ebd 12 84 Ebd 13 ndash An anderer Stelle betont Prochorov den Gegensatz zwischen den abstrakten

bdquoausgedachtenldquo philosophischen Konstruktionen des europaumlischen Idealismus und der ganzheitlichen kontemplativ-spekulativen Welterfahrung der griechisch-byzantinischen Philosophie Prochorov bdquoĖtničeskaja integracijaldquo 90f An Florenskijs Renaissance-Kritik (etwa in Ikonostas 1922) erinnert auch Prochorovs Verweis auf den euklidischen Raum und den Perspektivismus der humanistischen Weltwahrnehmung mit seiner Illusion der Unendlichkeit Prochorov bdquoIsichazmldquo 94

85 Apollon Kuzmin bdquoCerkovʼ i svetskaja vlastʼ v ėpochu Kulikovskoj bitvyldquo in Voprosy naučnogo ateizma 37 (1988) 90ndash99

86 Gennadij Litavrin bdquoVizantija v period graždanskoj vojny i dviženija Zilotov (1341ndash1355 gg)ldquo in Sergej Skazkin (Hg) Istorija Vizantii Bd 3 Moskva 1967 135ndash160 hier 158

87 Michail Sjuzjumov bdquoFilosofija i bogoslovieldquo in ebd 234ndash256 hier 248f 88 Valerij Lepachin bdquoUmnoe delanie (o soderžanie i granicach ponjatija sbquoisichazmlsquo)ldquo in

Vestnik Russkogo Christianskogo Dviženija 164 1992 5ndash32 hier 23

26 Michael Hagemeister

bdquopolitischer Hesychasmusldquo bdquokonzeptuelles Unkraut [sornjak] das man so schnell wie moumlglich ausrottenldquo solle89

Fast ein halbes Jahrhundert nach ihrer ersten Veroumlffentlichung wurde Pro-chorovs Konzept eines bdquopolitischen Hesychasmusldquo von seinem Schuumller Vladimir Petrunin wieder aufgegriffen und aktualisiert In der 2009 erschienenen Monogra-phie bdquoDer politische Hesychasmus und seine Traditionen in der Sozialkonzeption des Moskauer Patriarchatsldquo90 stellt Petrunin das sogenannte bdquoNichtgehorsamkeits-prinzipldquo (princip nepovinovenija) wie es in den von der Moskauer Bischofssyno-de im August 2000 verabschiedeten bdquoGrundlagen der Sozialkonzeption der Rus-sischen Orthodoxen Kircheldquo formuliert worden ist91 in eine Tradition die er bis auf die bdquopolitischen Hesychastenldquo im Byzanz des 14 und 15 Jahrhunderts zu-ruumlckzufuumlhren sucht Immer wieder zieht Petrunin Parallelen zwischen dem spaumlten Byzanz und dem postsowjetischen Russland Hatten die Byzantiner den Hesy-chasmus als Reaktion auf den Humanismus des Westens hervorgebracht so diene heute die Sozialkonzeption der Abwehr des westlichen Saumlkularismus Liberalis-mus und Kapitalismus Damals wie heute stuumlnden der kirchliche Heilsauftrag und die Verteidigung des Glaubens uumlber den Interessen des Staates selbst ndash wie das Beispiel von Byzanz zeige ndash um den Preis seines Untergangs Ebenso wie die byzantinischen Hesychasten den mit dem Westen kollaborierenden Herrschern die Gefolgschaft im Kampf gegen die Osmanen verweigert haumltten da sie die bdquoReinheit ihres Glaubensldquo eher bdquounter einem tuumlrkischen Turban als unter der lateinischen Tiaraldquo gewahrt sahen92 rufe die Sozialkonzeption die Kirche heute dazu auf der Staatsmacht den Gehorsam zu verweigern sollte diese bdquodie ortho-doxen Glaumlubigen zum Abfall von Christus und Seiner Kirche sowie zu suumlndhaften

89 Viktor Živov bdquoVidenija sveta i problemy russkogo srednevekovogo isichazmaldquo in Lidov

(Hg) Ierotopija 350ndash367 hier 363 359 90 Vladimir Petrunin Političeskij isichazm i ego tradicii v socialʼnoj koncepcii Moskovskogo

Patriarchata Sankt-Peterburg 2009 91 Osnovy socialrsquonoj koncepcii Russkoj Pravoslavnoj Cerkvi III5 lthttpwwwpatriarchia

rudbtext141422htmlgt Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo wird von den meisten Inter-preten als ein bemerkenswertes Umdenken in der Kirchenpolitik angesehen hatte doch die Russische Orthodoxe Kirche unter Patriarch Sergij in einer prekaumlren Lage 1927 Loyalitaumlt gegenuumlber dem Sowjetstaat gefordert Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo war auch eine wichtige Voraussetzung fuumlr die Vereinigung der Auslandskirche mit dem Moskauer Pa-triarchat Zur Sozialkonzeption insgesamt Vasilios N Makrides bdquoDie politische Aufgabe der Kirche Bemerkungen anhand der Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kir-cheldquo in Irene DingelChristiane Tietz (Hgg) Die politische Aufgabe von Religion Per-spektiven der drei monotheistischen Religionen Goumlttingen 2011 219ndash243

92 Petrunin Političeskij isichazm 66f 120 Es handelt sich um eine zeitgenoumlssische Losung Siehe Halina Evert-Kappesowa bdquoLa tiare ou le turbanldquo in Byzantinoslavica 14 (1953) 245ndash257 ndash Auch Aleksandr Nevskij (1220ndash1263) zog eine Verstaumlndigung mit den Mongo-len einer Union mit Rom vor die ihm Papst Innozenz IV im Jahr 1248 angeboten hatte und wandte sich stattdessen gegen die bdquoLateinerldquo Heutige Anti-Westler feiern den Heili-gen der Russischen Orthodoxen Kirche deshalb auch als bdquoersten Eurasierldquo

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 27

und der Seele abtraumlglichen Taten noumltigenldquo93 Die Sozialkonzeption hat fuumlr Petru-nin nur einen moumlglichen Sinn Falls Russlands politische Elite sich weiterhin dem liberalen Wertekanon des Westens verschreibe und Russlands bdquoEigenartldquo (samo-bytnostʼ) als bdquoorthodoxe Zivilisationldquo bestreite94 muumlsse die Kirche ndash wie einst in Byzanz ndash dem Staat die Loyalitaumlt aufkuumlndigen und das Volk zum Widerstand auf-rufen

Es ist ganz offensichtlich dass die Prozesse der Globalisierung und Saumlkularisierung eng miteinander verbunden sind So wie einst die byzantinischen Hesychasten ist heute die Russische Kirche mit der westlichen Zivilisation konfrontiert die nach der Weltherrschaft trachtet war fruumlher der Katholizismus deren Grundlage so ist es jetzt der saumlkulare Humanismus [hellip] Waumlhrend sie [die westliche Welt MH] damals fuumlr die Hesychasten mit Rom gleichgesetzt wurde so verkoumlrpert heute das kosmopolitische New York den Westen Indem sie Liberalismus und Saumlkularisie-rung abwehrt tritt die Kirche auch gegen die politischen und wirtschaftlichen Hegemoniebestrebungen des Westens auf und stellt so ihr Bestreben unter Beweis die zivilisatorische Eigenstaumlndigkeit Russlands wieder herzustellen Wie schon vor 600 Jahren im Byzantinischen Imperium so ist auch heute in Russland allein die Kirche ein ernstzunehmender und gut organisierter Gegner des Westens und seiner saumlkularen Werte [hellip] Sollte Russland weiter den Weg der Saumlkularisierung be-schreiten so koumlnnte damit fuumlr die Kirche der gefaumlhrliche Praumlzedenzfall geschaffen werden in dem sie von ihrem Recht Gebrauch machen muumlsste das Volk zu zivilem Ungehorsam aufzurufen95

In seinem Vorwort nannte Prochorov das Buch seines Schuumllers eine bdquoWarnung an unseren Staat unsere saumlkulare Gesellschaft an uns alleldquo96 Wie das spaumlte Byzanz unter dem bdquoDruck aus dem Westenldquo gestanden habe ndash dem die Herrscher und die bdquoHumanistenldquo schlieszliglich nachgegeben haumltten ndash so laufe auch das postkommu-nistische Russland Gefahr dem bdquoDruck des Liberalismus und der Globalisierungldquo nachzugeben Allein die Orthodoxe Kirche habe sich damals wie heute als bdquoFes-tungldquo erwiesen faumlhig diesem bdquozersetzenden Einflussldquo Widerstand zu leisten97

Petrunins Buch das mit dem Segen von Metropolit Ilarion (Grigorij Al-feev)98 erschienen war stieszlig bei westlichen Forschern auf Skepsis und Ableh-nung So kritisierte Kristina Stoumlckl die unhistorische Interpretation und forcierte Aktualisierung der philosophischen theologischen und politischen Kontroversen des 14 Jahrhunderts sowie die einseitige konservative Interpretation der Sozial-konzeption Hesychasmus werde in dem Kirchendokument ebenso wenig erwaumlhnt

93 Osnovy socialrsquonoj koncepcii 94 Petrunin Političeskij isichazm 81 95 Ebd 122f 96 Ebd 5 97 Ebd 98 Zu jener Zeit Bischof von Wien und Oumlsterreich heute Leiter des Auszligenamtes des Moskau-

er Patriarchats und scharfer Kritiker des bdquomilitanten Saumlkularismusldquo des Westens Siehe auch lthttpazbykaruxristianstvo-pered-vyzovom-voinstvuyushhego-sekulyariz ma-2gt

28 Michael Hagemeister

wie der Untergang von Byzanz99 Klaus Buchenau warf Petrunin vor er bdquoverfor-m[e] und ideologisier[e] die urspruumlnglichen Motive des hesychastischen Moumlnch-tums bis zur Unkenntlichkeitldquo100 Und Viktor Živov der bereits Prochorovs Kon-zept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo als bdquoUnkrautldquo bezeichnet hatte sah in Petru-nins Buch ein Beispiel dafuumlr wie dieses sich bdquospontan und schaumldlichldquo ausbreite Die von Petrunin konstruierte bdquophantastische Genealogie des politischen Hesy-chasmusldquo beruhe so Živov auf einer bdquoMischung aus Einseitigkeit und Unwissen-heitldquo Weder sei der bdquotuumlrkische Turbanldquo fuumlr den Patriarchen attraktiv gewesen noch sei am Widerstand gegen die Union irgendetwas spezifisch bdquoHesychasti-schesldquo Petrunin habe ein bdquoPhantomldquo geschaffen dessen angebliche Verbindung mit der Sozialkonzeption man nicht weiter zu verfolgen brauche101

bdquoNeobyzantismusldquo Das Dritte Rom ndash der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo

Eine eigenwillige Interpretation des Hesychasmus und seine Wendung gegen den Westen stammen von Aleksandr Dugin dem Fuumlhrer der bdquoeurasischenldquo Bewegung und einflussreichsten Vordenker der Neuen Rechten in Russland Der polyglotte und belesene Autodidakt der nie eine akademische Ausbildung genossen hat war Gruumlnder der Partei der Nationalbolschewisten Berater des Vorsitzenden der Du-ma und des Generalstabs sowie von 2008 bis 2014 Professor fuumlr Soziologie an der renommierten Moskauer Lomonosov-Universitaumlt und Direktor des dortigen bdquoZentrums fuumlr Konservatismusstudienldquo Seit Anfang der 1990er Jahre verbreitet er mit graphomanem Eifer seine politischen und bdquometaphysischenldquo Botschaften in einer inzwischen kaum noch uumlberschaubaren Zahl von Publikationen102 und Web-Artikeln in mehreren Sprachen sowie durch spektakulaumlre Auftritte in staats-nahen Medien103 99 Kristina Stoumlckl bdquoPolitical Hesychasm Vladimir Petruninrsquos Neo-Byzantine Interpretation

of the Social Doctrine of the Russian Orthodox Churchldquo in Studies in East European Thought 62 (2010) 125ndash133

100 Klaus Buchenau Auf russischen Spuren Orthodoxe Antiwestler in Serbien 1850ndash1945 Wiesbaden 2011 480 Anm 2

101 Živov bdquoVidenija svetaldquo 364f ndash Von der Kritik offenbar unbeeindruckt verschaumlrfte Petru-nin noch seine Position So sprach er 2012 in einem Vortrag uumlber die gesellschaftliche und politische Wirkung der hesychastischen Gebetspraxis Nach dem Fall von Byzanz sei das bdquoJesusgebet faktisch zu einem sbquopolitischen Gebetlsquoldquo geworden das auf die bdquoVerwandlung [preobraženie] der orthodoxen Oumlkumeneldquo ausgerichtet gewesen sei und das bdquoPhaumlnomen der Heiligen Rusrsquoldquo hervorgebracht habe lthttpsynergia-isarup=8604gt

102 Zuletzt in der bislang fuumlnf Baumlnde umfassenden Reihe bdquoNoomachijaldquo (2014ndash2015) einer hochambitioumlsen letztlich aber manichaumlisch-schematischen Beschreibung der bdquoSuche nach dem Logosldquo in den ndash von Dugin essenzialistisch aufgefassten ndash bdquoWeltkulturenldquo

103 Auch die Literatur zu Dugin ist kaum noch uumlberschaubar Siehe zB Alexander Houmlllwerth Das sakrale eurasische Imperium des Aleksandr Dugin Eine Diskursanalyse zum post-sowjetischen russischen Rechtsextremismus Stuttgart 2007 Stefan Wiederkehr Die eurasische Bewegung Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwi-schenkriegszeit und im postsowjetischen Russland Koumlln [ua] 2007 227ndash261 Anton

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 29

Dugin deutet den Hesychasmus im Rahmen des sogenannten bdquointegralen Traditionalismusldquo einer antimodernen Denkrichtung die im ersten Drittel des 20 Jahrhunderts in Frankreich und Italien entstand und in Reneacute Gueacutenon (1886ndash1951) und Julius Evola (1898ndash1974) ihre bekanntesten (und auch fuumlr Dugin wichtigsten) Vertreter hat104 Ihre Lehre besagt dass alle Religionen ungeachtet ihrer histori-schen und regionalen Auspraumlgungen in ihrem esoterischen nur dem Eingeweih-ten zugaumlnglichen Kern eine gemeinsame urspruumlngliche Wahrheit teilen und als philosophia perennis tradieren das Wissen um die Goumlttlichkeit und den Zugang zu ihr Dieses sakrale und initiatorische Wissen sei im Verlauf der westlichen Mo-derne insbesondere durch die Aufklaumlrung verlorengegangen in traditionellen Gesellschaften (China Indien islamische Welt) jedoch bewahrt geblieben105

Auch die Orthodoxie so Dugin habe im Gegensatz zu Katholizismus und Protestantismus bdquodie Treue zum esoterischen Kernldquo bewahrt naumlmlich in ihrer mystischen Unterstroumlmung dem Hesychasmus106 In der Kanonisierung des Gre-gorios Palamas durch die Ostkirche bei gleichzeitiger Verdammung des Humanis-ten Barlaam sieht Dugin das Bekenntnis zum bdquognostisch-realistischen Geist der orthodoxen Esoterikldquo Ganz im Sinn des Traditionalismus deutet er die psycho-physische Uumlbung der Hesychasten das bdquogeistige Tunldquo als Verfahren der bdquoInitia-tionldquo und das Endziel der bdquoVerklaumlrungldquo und bdquoVergoumlttlichungldquo als bdquoalchemistische Verwandlung des Leibesldquo (alchimičeskoe preobraženie tela) Dadurch wuumlrden der bdquoDualismus von Geist und Materie Leib und Seeleldquo sowie die bdquoGrenzen der Individualitaumltldquo ndash charakteristisch fuumlr den bdquorein exoterischen Mystizismusldquo des Westens ndash aufgehoben107 Die bdquoTradition der hesychastischen Esoterikldquo sei die

Shekhovtsov bdquoThe Palingenetic Thrust of Russian Neo-Eurasianism Ideas of Rebirth in Aleksandr Duginrsquos Worldviewldquo in Totalitarian Movements and Political Religions 9 (2008) 491ndash506 Mark Sedgwick bdquoOccult Dissident Culture The Case of Aleksandr Du-ginldquo in Birgit Menzel [ua] (Hgg) The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimen-sions MuumlnchenBerlin 2012 273ndash292 Schmid Technologien der Seele 210ndash220

104 Aleksandr Dugin Filosofija tradicionalizma Moskva 2002 Zum Traditionalismus siehe das Standardwerk von Mark Sedgwick Against the Modern World Traditionalism and the Secret Intellectual History of the Twentieth Century OxfordNew York 2004 zu Dugin 221ndash237 Vgl auch Christopher DL Johnson The Globalization of the Jesus Prayer Con-testing Contemplation London New York 2010 70ndash73

105 Aumlhnliche Gedanken entwickelte Pavel Florenskij bereits 19081909 in seinem Vortrag bdquoObščečelovečeskie korni idealizmaldquo in dem er die bdquoEsoterikldquo der Philosophie Platons und seiner Nachfolger in der bdquoallgemeinmenschlichenldquo mystisch-magischen Weltauffas-sung der bdquoVolksseeleldquo wurzeln laumlsst

106 Das Folgende nach Aleksandr Dugin bdquoOboženie preestestvennejšeeldquo in Milyj angel 1 1991 56ndash59

107 Das Konzept der bdquoInitiationldquo und die Unterscheidung von bdquoesoterischldquo und bdquoexoterischldquo sind zentral fuumlr die Anhaumlnger des Traditionalismus siehe Sedgwick Against the Modern World 265 ndash Als Mitglied des okkultistischen und faschistischen Južinskij-Kreises machte Dugin in Moskaus bdquomystischem Untergrundldquo in den 1980er Jahren selbst Entgrenzugser-fahrungen mit Hilfe sexualmagischer Praktiken und bewusstseinserweiternder Drogen Bei einem Teil der orthodoxen Glaumlubigen stoumlszligt seine Esoterik denn auch auf Misstrauen und

30 Michael Hagemeister

bdquoSeele der russischen Orthodoxieldquo und habe in Serafim von Sarov ihren bdquoletzten leuchtendsten Vertreterldquo gefunden

Der Hesychasmus gehoumlre zum traditionellen Erbe von Byzanz das Russ-land angetreten habe als es zum Dritten Rom und zum Zentrum der orthodoxen Welt geworden sei bdquoWir sindldquo so Dugin bdquobyzantinisch in unserer Seele unseren Wurzeln und in unserer Identitaumltldquo108

Unser stabilstes Fundament ist Byzanz [hellip] Russland ist Byzanz [hellip] Unsere For-mel lautet Der Westen ist das Boumlse Byzanz das Gute Alles Schlechte das uumlber Byzanz geschrieben wurde ist eine Luumlge Das sind lediglich Winkelzuumlge im ideolo-gischen Kampf von Seiten des Westens [hellip] Jeder Russe muss wissen Byzanz ist das reine Gute Jeder der etwas anderes behauptet ist ein Feind [hellip] Wer Byzanz kritisiert ist ein Feind des russischen Volkes Das muss unser ehernes Prinzip sein [hellip] Byzanz ist der absolute Orientierungspunkt des russischen Projekts109

Damit sind Russlands Ort und Mission in der bdquohistoriosophischenldquo Deutung des Weltgeschehens bestimmt Nach Dugin wird die Geschichte der Menschheit be-herrscht vom bdquookkulten planetarischen Ringenldquo zweier antagonistischer Maumlchte dem bdquogroszligen Krieg der Kontinenteldquo Land gegen Meer Behemoth gegen Levia-than die organischen bodenstaumlndigen und traditionalistischen bdquoTellurokratienldquo des eurasischen Ostens gegen die wurzel- und seelenlosen materialistischen bdquoTha-lassokratienldquo des angloamerikanischen Westens das apokalyptische Tier aus dem Meer (Offb 13 1-10)110 Die USA als bdquoQuintessenz des Westensldquo und New York als moderne Hure Babylon (Offb 17 und 18) sind das Reich des Antichrist eine chimaumlrisch-antiorganische transplantierte Zivilisation die keine sakrale Tradi-tion besitze ihre Selbsterhebung zu bdquoGottes neuem Israelldquo und bdquoNeuem Zionldquo ndash gemaumlszlig der anglo-amerikanischen Interpretation der Substitutionslehre ndash deutet Dugin als besonders perfiden Taumluschungsversuch des bdquowestlichen Antichristldquo Das Jahr der Entdeckung Amerikas (1492 ist nach der altrussisch-byzantinischen

offene Ablehnung Fuumlr den Sektenexperten des Moskauer Patriarchats ist Dugin ein bdquoge-faumlhrlicher Feindldquo der die bdquoOrthodoxie in Kabbalistik umzuschmelzenldquo versuche Andrej Kuraev Cerkovrsquo v mire ljudej Moskva 2006 142

108 Aleksandr Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Tradition Duginrsquos Guidelineldquo lthttpswwwyoutubecomwatchv=m0RIa61eZDggt

109 Aleksandr Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo in ders Russkaja Veščrsquo Očerki nacionalrsquonoj filosofii Bd 1 Moskva 2001 69ndash76 hier 70ndash72 (Hervorhebungen im Original) Der Be-griff bdquoByzantismusldquo (vizantizm) ndash im Unterschied zum negativ konnotierten bdquoByzantinis-musldquo ndash als Bezeichnung eines dem europaumlischen entgegengesetzten Kulturtypus der auf den Prinzipien von Orthodoxie und Selbstherrschaft beruht geht auf den konservativen Philosophen Konstantin Leontrsquoev (1831ndash1891) und sein Buch Vizantizm i slavjanstvo (1875) zuruumlck

110 Auch fuumlr den von Dugin verehrten Heidegger waren die Seemaumlchte Groszligbritannien und Amerika nicht Teil der abendlaumlndischen Tradition sondern im Gegensatz zum restlichen Europa wurzellos und sinnleer Der Antagonismus von Land und Meer die kategorische Unterscheidung von Freund und Feind sowie das Konzept des Katechon gehen auf Carl Schmitt zuruumlck als dessen Schuumller Dugin sich bezeichnet Siehe auch Fn 41

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 31

Weltaumlra das Jahr 7000 nach dem chiliadischen Weltwochenschema also der sieb-te Tag der Schoumlpfung) verweise ebenso auf den Endzeitcharakter der bdquoNeuen Weltldquo wie die bdquosakrale Geographieldquo nach der das Paradies im Osten die Houmllle aber das bdquoLand des Todesldquo im Westen zu suchen seien111

Dem Antichrist entgegen stehe seit jeher der Katechon dessen bdquoletzter Hortldquo bis ans Ende der Zeit die Heilige Rusrsquo das Dritte Rom sei112 In der petrini-schen Epoche als die Hauptstadt in die bdquonoumlrdlichen Suumlmpfeldquo in die bdquoGespenster-stadtldquo Petersburg verlegt und das Patriarchat abgeschafft wurde haumltten allein die Altglaumlubigen den Geist von Byzanz den Katechon bewahrt zweihundert Jahre lang sei der Weg frei gewesen fuumlr das zerstoumlrerische Wirken des Antichrist Erst die sowjetische Periode habe eine bdquomystische Ruumlckkehr zum Byzantismusldquo be-deutet indem die Bolschewiki das heilige Moskau wieder zur Hauptstadt erklaumlr-ten das Patriarchat wiederherstellten die Ausbeuter als Klasse vernichteten und dem Westen auf allen Gebieten Widerstand boten Im bdquoroten Byzantismusldquo der Dritten Internationale sei der Katechon zuruumlckgekehrt113

Um seine Mission zur Erloumlsung der Menschheit auch kuumlnftig zu erfuumlllen muumlsse das Dritte Rom nach dem Zerfall der Sowjetunion114 nunmehr ein groszligkon-tinentales sakral fundiertes bdquoEurasisches Imperiumldquo errichten gegen den Erz-feind die materialistische universalistische alles nivellierende Zivilisation des Westens als der Verkoumlrperung des bdquoweltweiten Boumlsenldquo (mirovoe zlo) gegen Libe-ralismus Individualismus Globalismus Egalitarismus sowie die bdquomondialisti-scheldquo Konzeption der Menschenrechte115 Verbuumlndete im bevorstehenden apoka-lyptischen bdquoEndkampfldquo (von Dugin stets deutsch geschrieben) werden all jene sein die den Bezug zum bdquoSakralenldquo noch nicht verloren haben russische Altglaumlu-bige ultraorthodoxe antizionistische Juden europaumlische Traditionalisten sowie jene bdquoanti-atlantischenldquo islamistischen Fundamentalisten die in den USA den Dajjacircl den falschen Messias und Antichrist erkennen gegen den die Retter-gestalt des Mahdicirc zu Felde ziehen wird116 111 Aleksandr Dugin Absoljutnaja Rodina Puti Absoljuta Metafizika Blagoj Vesti Misterii

Evrazii Moskva 1999 645ndash670 112 Ebd 378ndash395 493ndash521 113 Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo 74ndash76 Siehe auch ders bdquoKatechon i revoljucijaldquo in ders

Tampliery proletariata Nacional-bolrsquoševizm i iniciacija Moskva 1997 52ndash59 ndash Die mes-sianische Identifizierung des Dritten Rom mit der Dritten Internationale reicht bis ins Gruumlndungsjahr der Komintern (1919) zuruumlck Beide so der slawophile Philosoph und An-haumlnger des imjaslavie Valerian Muravrsquoev (1885ndash1930) in einem Brief vom 6 Januar 1920 an Lev Trockij seien Ausdruck der Suche des russischen Volkes und der Intelligencija nach einem Reich der Wahrheit und Gerechtigkeit Valerian Muravrsquoev Sočinenija Bd 2 Moskva 2011 352f Weitere Belege bei Emanuel Sarkisyanz Russland und der Messianis-mus des Orients Tuumlbingen 1955 196 Mikhail Agursky Third Rome National Bolshevism in the USSR Boulder Co 1987

114 Damals sah ein Journalist bdquoauf den Ruinen des Imperiumsldquo das Dritte Rom in Gefahr zu einem Land der Dritten Welt zu werden Andrej Fadin bdquoTretij Rim v tretrsquoem mire Razmy-šlenija na ruinach imperiildquo in Nezavisimaja gazeta 1291991

115 [Aleksandr Dugin] bdquoLibo-my libo-ničtoldquo in Ėlementy 8 19961997 1ndash4 hier 2 116 [Aleksandr Dugin] bdquoIdeologija Mirovogo Pravitelrsquostvaldquo in Ėlementy 2 1992 1f

32 Michael Hagemeister

Das Dritte Rom als Zentrum des eurasischen bdquoEuro-Sowjetischen Imperiumsldquo Titelbild der von Aleksandr Dugin herausgegebenen Zeitschrift bdquoElemente Eurasische Rundschauldquo (1992) Dugins Werk mit seiner provokanten Mischung esoterischer antimoderner und antiwestlicher Motive findet besonders unter jungen Intellektuellen Anklang und Nachahmer so etwa bei dem promovierten Philosophen und selbstproklamierten bdquoorthodoxen Metaphysikerldquo Arkadij Maler einem vehementen Propagandisten einer bdquopolitischen Orthodoxieldquo (političeskoe Pravoslavie) und fuumlhrenden Ideolo-gen der bdquoneobyzantinischenldquo Doktrin Obwohl sich Maler von Dugin distan-ziert117 beschwoumlrt auch er die eschatologische bdquogeistige Mission des Dritten Romldquo die es von Byzanz geerbt habe und die in seiner bdquozentralen katechontischen Rolleldquo bestehe dem Kampf gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo des bdquogottlosen Wes-tensldquo118 Russische Politik koumlnne deshalb nicht anders als imperial sein und muumlsse ihren Einfluss auf den gesamten Planeten ausdehnen Wie Dugin sieht auch Maler die Bolschewiki in dieser Tradition als sie Moskau zur Hauptstadt des bdquoRoten

117 In den spaumlten 1990er Jahren gehoumlrte Maler der vaumlterlicherseits juumldischer Abstammung ist

zusammen mit Dugin und Ėduard Limonov zur Fuumlhrungsriege der Nationalbolschewisti-schen Partei und schrieb fuumlr die Parteizeitung Limonka sich selbst charakterisierte er als bdquorotbraunen Zionistenldquo Nach seiner Konversion zur Orthodoxie trennte er sich 1999 von Dugin und kritisierte dessen esoterischen Traditionalismus aus einer ultraorthodoxen Posi-tion Dugin wiederum warf Maler vor ihn zu plagiieren

118 Arkadij Maler Duchovnaja missija Tretrsquoego Rima Moskva 2005 bes 134ndash136 170ndash206 Siehe auch ders bdquoIdeologija Vizantizmaldquo in Severnij Katechon 1 (2005) 7ndash49 bdquoNeovi-zantizm kak novyj bolrsquošoj stilrsquoldquo in Aleksej Nilogov (Hg) Kto segodnja delaet filosofiju v Rossii Moskva 2007 110ndash124

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 33

Imperiumsldquo machten und dieses zur bdquoabsoluten Antithese des Westensldquo erklaumlrten zum bdquoTraumlger der planetarischen Mission der Befreiung der Welt aus den sbquoFesseln des Kapitalslsquoldquo119 Das Dritte Rom sei zeitweise in die Dritte Internationale trans-formiert worden ohne jedoch seine Mission als Katechon als aufhaltende Macht gegen das Reich des Boumlsen und Ausgangspunkt zur Errettung der Welt aufzuge-ben Die bdquoletzte Etappeldquo im Kampf gegen den Antichrist werde so Maler der bdquoeschatologische Krieg des Dritten Rom gegen das Dritte Karthagoldquo den bdquoAnti-katechonldquo sein die bdquoanglo-amerikanische [] atlantische Zivilisationldquo120 Zur Propagierung der katechontischen Mission Russlands gruumlndete Maler 1999 am Institut fuumlr Philosophie der Akademie der Wissenschaften in Moskau einen bdquoBy-zantistischen Klub Katechonldquo (Vizantistskij Klub Katechon) und 2005 das bdquoPhi-losophisch-politische Zentrum sbquoNoumlrdlicher Katechonlsquoldquo das einen gleichnamigen Almanach (Severnyj Katechon) herausgibt121

Apokalyptischer Ausblick

Die Formel vom Dritten Rom und die Figur des Katechon des Aufhalters des bdquoweltweiten Boumlsenldquo sind zu Markenzeichen russischer Anti-Westler und Ver-schwoumlrungstheoretiker und ihres schrillen Szenariums eines globalen apokalyp-tischen bdquoEndkampfesldquo gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo geworden122 Unter dem Titel bdquoDie russische Doktrin Die Staatsideologie der Epoche Putinsldquo verfasste in den Jahren 2005 und 2006 ein Kollektiv nationalpatriotischer Autoren ndash unter ih-nen der bdquoByzantistldquo Arkadij Maler ndash ein uumlber 1000 Seiten langes ultrakonservati-ves und antiwestliches Manifest das auch die Unterstuumltzung hoher kirchlicher Wuumlrdentraumlger fand123 In ihrem Entwurf einer bdquoorganischen weltanschaulichen Plattformldquo fuumlr das kuumlnftige Russland behandeln die Autoren ausfuumlhrlich die bdquohis-toriosophischeldquo Konzeption vom Dritten Rom und seine Mission als Katechon gegen das bdquoHeidentumldquo des Westens124 Gefordert wird die positive Identifikation

119 Maler Duchovnaja missija 182f 185 120 Ebd 177 ndash Als Mittel im ideologischen Kampf gegen den saumlkularen Westen fordert Maler

in Analogie zur katholischen Gegenreformation eine orthodoxe konservative bdquoGegenauf-klaumlrungldquo (Kontrprosveščenie) lthttpwwwkatehonruhtmltoppolitologiaideaotkritije _polit_pravoslavijahtmgt

121 Siehe die Website lthttpwwwkatehonrugt 122 Siehe zB Galina A Morozova Tretij Rim protiv novogo mirovogo porjadka Moskva

2009 Die Formel von Dritten Rom hat laumlngst auch Schriftsteller und Maler inspiriert und scheint auch werbewirksam zu sein bdquoDrittes Romldquo nennt sich ein Verlag ein Videospiel eine Bank ein Reisebuumlro und sogar ein Kasino in Jalta Ein Schoumlnheitswettbewerb in Mos-kau vergibt alljaumlhrlich den Titel einer bdquoMiss Drittes Romldquo Judith E Kalb Russiarsquos Rome Imperial Visions Messianic Dreams 1890ndash1940 Madison Wisconsin 2008 198f Zum Katechon siehe Maria Engstroumlm bdquoContemporary Russian Messianism and New Russian Foreign Policyldquo in Contemporary Security Policy 35 (2014) 3 356ndash379

123 Russkaja doktrina Gosudarstvennaja ideologija ėpochi Putina Moskva 2016 124 Ebd 68ndash72 116ndash120 und passim

34 Michael Hagemeister

mit der Geschichte Russlands und seinen Lichtgestalten dem Heiligen Serafim von Sarov dem bdquoeschatologischen Fuumlhrer des russischen Volkes am Ende der Zeitenldquo der bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo und Stalin der dem paulinischen Kate-chon gleich die bdquoGesetzlosigkeitldquo (bezzakonie) bekaumlmpft und das bdquoFundament fuumlr eine groszlige Zukunftldquo gelegt habe125

bdquoKatechonldquo nennt sich auch ein prominent besetzter Think tank den der Oligarch und Berater Putins Konstantin Malofeev im Jahr 2015 gegruumlndet hat126 Der Milliardaumlr der sein Vermoumlgen mit einer Investmentfirma auf den Cayman Inseln gemacht hat bezeichnet sich selbst als bdquoorthodoxen Monarchistenldquo127 Er unterstuumltzt die Separatisten in der Ostukraine und unterhaumllt vielfaumlltige Verbindun-gen zu europaumlischen Rechtspopulisten wie dem Front National der FPOuml Syriza und der Lega Nord Neben dem Forum bdquoKatechonldquo betreibt Malofeev auch einen Fernsehsender mit dem programmatischen Namen bdquoZargradldquo128 (Motto bdquoDas Licht Christi erleuchtet alleldquo) dessen Chefkommentator niemand anderes ist als Aleksandr Dugin129

bdquoKatechonldquo und bdquoZargradldquo propagieren den Kampf gegen die westliche Moderne mit Bezug auf das byzantinische Erbe Russlands Im November 2014 fand in der Moskauer Manege eine Konferenz bdquoMoskau ndash das Dritte Romldquo statt130 An ihr nahmen auszliger Dugin und Malofeev auch Archimandrit Tichon und Nata-lrsquoja Naročnickaja teil eine hochrangige Diplomatin Mitglied des Izborsker Klubs und Leiterin des Pariser bdquoInstituts fuumlr Demokratie und Kooperationldquo das die oumlf-fentliche Meinung im Westen im Sinne des Kremls beeinflussen soll Tichons Film bdquoDie Lehre von Byzanzldquo sei so Naročnickaja auch eine Warnung an den Westen der seine christlichen Werte verraten habe weshalb er den glaubens-festen Migranten und ihrer Verachtung hilflos ausgeliefert sei131

Im Oktober 2009 wurde Tichons Film in Athen vor ausverkauftem Saal aufgefuumlhrt Unter denen die dem Drehbuchautor Beifall spendeten war der Philo-soph und Theologe Christos Yannaras einer der Hauptvertreter der Neoorthodo-xie und scharfer Kritiker des Westens Wie ihre russischen Gesinnungsgenossen

125 Ebd 130f 153 142ndash145 126 Mit einem Auftritt im Internet in 9 Sprachen Siehe die deutsche Version unter lthttp

katehoncomdewer-sind-wirgt 127 lthttpsdewikipediaorgwikiKonstantin_Walerjewitsch_Malofejewgt 128 Carrsquograd ist der altrussische Name fuumlr Konstantinopel 129 Auch Dugin unterhaumllt seit mehr als 25 Jahren Kontakte zu ultrakonservativen traditiona-

listischen und faschistischen Gesinnungsgenossen in Westeuropa Siehe Vladimir Ivanov Alexander Dugin und die rechtsextremen Netzwerke Fakten und Hypothesen zu den inter-nationalen Verflechtungen der russischen Neuen Rechten Stuttgart 2007

130 lthttpwwwpravoslavieru75070htmlgt 131 lthttpwwwpravoslavieru7414htmlgt ndash Fuumlr Metropolit Ilarion (Alfeev) der sich dabei

auf Dugin beruft verwandeln sich die Laumlnder Westeuropas bereits in die bdquoSphaumlre des Anti-christldquo lthttpwwwpatriarchiarudbtext3065216htmlgt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 35

verherrlichen auch die griechischen Neoorthodoxen die byzantinische Vergan-genheit und sehen in der modernen saumlkularen Gesellschaft eine Bedrohung ihrer kulturellen Identitaumlt132 Gemeinsam suchen sie der Globalisierung mit einer bdquoby-zantinischen Internationaleldquo als bdquoorthodoxer Oumlkumeneldquo entgegenzuwirken einer letztlich sakral verstandenen Gemeinschaft deren Einfluss indes weit uumlber die kirchliche Sphaumlre hinausreichen und eine transnationale Vereinigung der ortho-doxen Welt von Serbien uumlber Syrien bis Georgien und Armenien unter Fuumlhrung Moskaus schaffen soll133 Als wichtiger symbolischer Schritt auf diesem Weg wurde der Besuch von Praumlsident Putin und Patriarch Kirill des Heiligen Berges Athos einer traditionellen Hochburg antiwestlicher Opposition im Mai 2016 ge-feiert Das weltliche und das geistliche Oberhaupt Russlands ndash die bdquoSymphonia der Maumlchteldquo ndash zeigten damit so Aleksandr Dugin ihr Bekenntnis zu Byzanz und seiner Rolle als Katechon Damit anerkenne bdquounsere Rusrsquo ihre historische Bestim-mung Wir sind bereit fuumlr die Endzeitldquo134

132 Ausfuumlhrlich dazu Daniel P Payne The Revival of Political Hesychasm in Contemporary

Orthodox Thought The Political Hesychasm of John Romanides and Christos Yannaras Lanham [ua] 2011 Siehe auch Vasilios N Makrides bdquoByzantium in Contemporary Greece The Neo-Orthodox Current of Ideasldquo in David RicksPaul Magdalino (Hgg) Byzantium and the Modern Greek Identity Aldershot 1998 141ndash153 Zum griechischen Neobyzantismus unter russischem Einfluss Aleksey Kamenskikh bdquoThe Image of the Second Rome through the Prism of the Thirdrdquo in Teresa Obolevich [ua] (Hgg) Russian Thought in Europe Reception Polemics Development Krakoacutew 2013 13ndash22 ndash Antimo-derne und antiwestliche Stroumlmungen in den vom orthodoxen Christentum gepraumlgten Kultu-ren haben der Religionswissenschaftler Makrides und der Slavist Uffelmann vor einigen Jahren als Desiderat der Forschung benannt Vasilios N MakridesDirk Uffelmann bdquoStudying Eastern Orthodox Anti-Westernism The Need for a Comparative Research Agendaldquo in Jonathan SuttonWil van den Bercken (Hgg) Orthodox Christianity and Contemporary Europe Leuven [ua] 2003 87ndash120 Seitdem haben Makrides und die Politikwissenschaftlerin Stoumlckl eine Reihe einschlaumlgiger Arbeiten vorgelegt in denen or-thodoxe Alternativen zu westlichen philosophischen und politischen Konzepten untersucht werden Vasilios N Makrides bdquoOrthodoxes Cristentum und Moderne ndash Inkompatibilitaumlt oder langfristige Anpassungldquo in Una Sancta 2011 1 15ndash30 ders bdquoOumlstliches orthodo-xes Christentum und Saumlkularitaumlt Ein Vergleich mit dem lateinischen Christentumldquo in Transit 47 (2015) 59ndash75 Kristina Stoumlckl bdquoModernity and its Critique in Twentieth Cen-tury Russian Orthodox Thoughtldquo in Studies in East European Thought 58 (2006) 243ndash269 dies Community after Totalitarianism The Russian Orthodox Intellectual Tradition and the Philosophical Discourse of Political Modernity Frankfurt aM [ua] 2008

133 Dazu gehoumlrt auch die Verwirklichung des jahrhundertealten Traums der Wiedererrichtung des Kreuzes auf der Hagia Sophia Siehe Egor Cholmogorov Russkij proekt restavracija buduščego Moskva 2005 283 Der Verfasser Mitglied des Expertenteams des Izborsker Klubs ist Begruumlnder der Doktrin der bdquoAtomaren Orthodoxieldquo siehe Fn 74

134 Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Traditionldquo

ZUM AUTOR

Michael Hagemeister geb 1951 in EllwangenJagst Studium der Slavistik Ge-schichte Germanistik und Philosophie in Basel und MarburgLahn Promotion mit einer Arbeit uumlber den russischen Philosophen Nikolaj Fedorov Wissenschaft-licher Mitarbeiter am Slawischen Seminar in Marburg Gastprofessor am Seminar fuumlr Komparatistik der Universitaumlt Innsbruck Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lotman-Institut fuumlr russische und sowjetische Kultur der Ruhr-Universitaumlt Bo-chum am Lehrstuhl fuumlr Geschichte Osteuropas der Europa-Universitaumlt Viadrina Frankfurt (Oder) an den Historischen Seminaren der Universitaumlten Basel Duumlssel-dorf und Bochum Vertretung der Professuren fuumlr Geschichte Osteuropas an der Ludwig-Maximilians Universitaumlt Muumlnchen und an der Europa-Universitaumlt Frank-furt (Oder)

Forschungen zur russischen Philosophie und Geistesgeschichte zum utopischen und apokalyptischen Denken in Russland zum russischen Rechtsextremismus und Antisemitismus sowie insbesondere zu den Protokollen der Weisen von Zion und ihrem Herausgeber Sergej Nilus Publikationen ua Die Neue Menschheit Biopolitische Utopien in Russland (hg mit Boris Groys) Frankfurt aM 2005 The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimensions (hg mit Birgit Menzel und Bernice Rosenthal) Muumlnchen 2012 Die Fiktion von der juumldischen Weltver-schwoumlrung Zu Text und Kontext der bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo (hg mit Eva Horn) Goumlttingen 2012 Die bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo vor Gericht Der Berner Prozess und die bdquoantisemitische Internationaleldquo in der Zwischen-kriegszeit Chronik Dokumente und Kommentare Zuumlrich (im Druck)

ERFURTER VORTRAumlGE ZUR KULTURGESCHICHTE DES ORTHODOXEN CHRISTENTUMS Reihenherausgeber Vasilios N Makrides

Heft 1 Thomas Bremer Konfrontation statt Oumlkumene Zur kirchlichen Situation in der Ukraine Erfurt 2001

Heft 2 Gerhard Podskalsky Zur Hermeneutik des theologischen Ost-West-

Gespraumlchs in historischer Perspektive Erfurt 2002 Heft 3 Karl Christian Felmy Warum und zu welchem Behufe treiben wir

Ostkirchenkunde Erfurt 2003 Heft 4 Wassilios Klein bdquoTatarenjoch ndash татарское игоldquo Beobachtungen zur

Wahrnehmung des Islam im eurasischen Raum Erfurt 2005 Heft 5 Stamatios D Gerogiorgakis Zeitphilosophie im Mittelalter Byzantinische

und lateinische Vorstellungen Erfurt 2006 Heft 6 Heinz Ohme Das Oumlkumenische Patriarchat von Konstantinopel und die

tuumlrkische Religionspolitik Erfurt 2007 Heft 7 Alexander Agadjanian Russian Orthodox Vision of Human Rights Recent

Documents and Their Significance Erfurt 2008 Heft 8 Christos Yannaras Wem gehoumlrt die griechische Antike Erfurt 2009 Heft 9 Joachim Willems Religions- und Ethikunterricht in Russland ndash Was

wollen Staat und Kirche Zur Einfuumlhrung des neuen Schulfaches bdquoGrundlagen der religioumlsen Kulturen und der weltlichen Ethikldquo Erfurt 2010

Heft 10 Chris Hann Eastern Christianity and Western Social Theory Erfurt 2011 Heft 11 Jennifer Wasmuth Akademische Theologie im zaristischen Russland in

ihrer Bedeutung fuumlr die neuere orthodoxe Theologie Erfurt 2012 Heft 12 Anna Briskina-Muumlller Auf der Suche nach der bdquoHesychialdquo Paisij

Veličkovskij (1722ndash1794) und sein Leben fuumlr die bdquoPhilokalieldquo Erfurt 2014

Heft 13 Vladimir Cvetković From ldquoMerciful Angelrdquo to ldquoFortress Europerdquo The

Perception of Europe and the West in Contemporary Serbian Orthodoxy Erfurt 2015

Heft 14 Stefan G Reichelt Lebenslinien Nikolaj A Berdjaev (1874ndash1948) und Sergij N Bulgakov (1871ndash1944) im Westen ndash Eine Wuumlrdigung Erfurt 2015

Heft 15 Michael Hagemeister Der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo ndash bdquoNeobyzantismusldquo

und bdquopolitischer Hesychasmusldquo im postsowjetischen Russland Erfurt 2016

Alle Hefte der vorliegenden Schriftenreihe koumlnnen unter folgendem Link kostenlos heruntergeladen werden URL httpswwwuni-erfurtdereligionswissenschaftprofessur-orthodoxes-christentumveroeffentlichungenerfurter-vortraege-zur-kulturgeschichte-des-orthodoxen-christentums

Page 12: Michael Hagemeister FINAL - uni-erfurt.de · doziert Tichon, während er das antike Kons tantinopel computeranimiert auferste- hen lässt. Das prosperierende Impe rium erregte freilich

12 Michael Hagemeister

Moskau ndash Drittes Rom und Katechon

Die Auffassung von Russlands entscheidender Rolle im Drama der Heilsge-schichte wird begruumlndet mit der Doktrin von Moskau als dem Dritten Rom wie sie aus der beruumlhmten eschatologischen Formel des Pskover Moumlnchs Filofej aus der ersten Haumllfte des 16 Jahrhunderts abgeleitet worden ist bdquoAlle christlichen Zartuumlmer haben sich ihrem Ende zugeneigt und sind gemaumlszlig den prophetischen Buumlchern eingegangen in das eine Zartum unseres Herrschers das heiszligt ins russi-sche Zartum Denn zwei Rome sind gefallen und das dritte steht Ein viertes aber wird es nicht gebenldquo36

Nach der Apostasie der Lateiner (dem Schisma von 1054) und dem bdquoVer-ratldquo Konstantinopels (durch die Florentiner Union 1439) dem als Strafe Gottes der Untergang des Byzantinischen Reichs (1453) folgte wird Russland zum drit-ten und ndash der goumlttlichen Trinitaumlt entsprechend ndash letzten Hort der Rechtglaumlubig-keit37 Dessen Ende wird auch das Ende der Geschichte sein mit dem Auftreten des Antichrist des falschen Messias der Juden der durch Taumluschung und Verfuumlh-rung die Parusie des wahren Messias gleichzeitig verbergen und ankuumlndigen soll Bis dahin aber sind das Heilige Russland und seine Herrscher von Gott erwaumlhlt und berufen den Widersacher Christi abzuwehren und das Ende aufzuhalten Nach der sogenannten Substitutionslehre sind die Erwaumlhlung und der messiani-sche Sendungsauftrag Israels nach dessen bdquoVerratldquo auf die Heilige Rusrsquo und das

36 bdquoMoskau ndash das Dritte Romldquo Das Sendschreiben des Filofej von Pskov in Peter Haupt-

mannGerd Stricker (Hgg) Die Orthodoxe Kirche in Ruszligland Dokumente ihrer Geschich-te 960ndash1980 Goumlttingen 1980 253 Bis zur ersten Publikation von Filofejs Sendschreiben in den 1860er Jahren war dieses Konzept freilich kaum bekannt Zu seinen vielfaumlltigen und bisweilen kontraumlren Deutungen siehe Nina Sinicyna Tretij Rim Istoki i ėvoljucija russkoj srednevekovoj koncepcii (XVndashXVI vv) Moskva 1998 zur Wirkungsgeschichte bis in die postsowjetische Gegenwart siehe Peter J S Duncan Russian Messianism Third Rome Revolution Communism and After LondonNew York 2000 Vgl auch Marshall Poe bdquoMoscow the Third Rome The Origins and Transformations of a sbquoPitoval Momentlsquoldquo in Jahrbuumlcher fuumlr Geschichte Osteuropas 49 (2001) 3 412ndash429 Frank Kaumlmpfer bdquoDie Lehre vom Dritten Rom ndash pitoval moment historiographische Folkloreldquo ebd 430ndash441 Fran-ziska Thun-Hohenstein bdquosbquoMoskau ndash Drittes Romlsquo Nachklaumlnge einer alten Denkfigur in der russischen Kultur des 20 Jahrhundertsldquo in Daniel Weidner (Hg) Figuren des Euro-paumlischen Kulturgeschichtliche Perspektiven Muumlnchen 2006 78ndash97 Sergej Magaril Mi-fologija bdquosbquoTretrsquoego Rimalsquo v rossijskom obrazovannom soobščestveldquo in Ėmilrsquo A Pain (Hg) Ideologija bdquoosobogo putildquo v Rossii i Germanii istoki soderžanie posledstvija Moskva 2010 127ndash156 Anna Briskina-Muumlller bdquoDas neue sbquoneue Romlsquo eine byzantinische Idee auf russischem Bodenldquo in Reinhard FlogausJennifer Wasmuth (Hgg) Orthodoxie im Dialog Historische und aktuelle Perspektiven Berlin [ua] 2015 311ndash336

37 Filofej sprach was oft uumlbersehen wird nicht von Moskau als dem Dritten Rom diese For-mel taucht erst im 17 Jahrhundert auf Auch wird aus dem bdquorhomaumlischen (Romejskoe) Zartumldquo bei Filofej erst spaumlter das bdquorussische (Rosejskoe) Zartumldquo Siehe Sinicyna Tretij Rim 244 324ndash328 ndash Die Vorstellung der Stadt Moskau als dem Dritten Rom treibt inzwi-schen seltsame Bluumlten So glaubt der vielfach ausgezeichnete Kulturologe Rustam Rach-matullin in seinem Bestseller Dve Moskvy ili metafizika stolicy (2008) eine bdquosakrale Identitaumltldquo zwischen Moskau Rom und Jerusalem nachweisen zu koumlnnen

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 13

russische bdquoGottestraumlgervolkldquo (narod-Bogonosec) uumlbergegangen die Orthodoxe Kirche wurde zum bdquoNeuen Israelldquo ihre heiligen Staumltten zum bdquoNeuen Jerusa-lemldquo38 Wenn Paulus davon spricht dass am Ende bdquoganz Israel errettetldquo werde (Roumlm 11 26) so sei damit die Kirche Jesu Christi gemeint zu der die Juden sich bekehren muumlssten39

bdquoMoskau ndash Drittes Romldquo Ikone (2011) Maler unbekannt lthttpwwwruniversrugalgallery-allphpSECTION_ID=7641ampELEMENT_ID=462777gt

Russlands Herrscher fungiert mithin als Katechon als jene hemmende aufhalten-de Macht von der im zweiten Brief des (Pseudo-)Paulus an die Thessalonicher die Rede ist

38 Siehe zB Michail Nazarov Voždju Tretrsquoego Rima K poznaniju russkoj idei v apokalipsi-

českoe vremja Moskva 2005 933f 945 ndash Fuumlr die Anhaumlnger der angloamerikanischen bdquoChristian Identityldquo sind hingegen die bdquoArierldquo bdquoGottes auserwaumlhltes Volkldquo und die Verei-nigten Staaten das bdquoNEW JerUSAlemldquo Martin Durham White Rage The Extreme-Right and American Politics London 2007 67

39 Eine fruumlhe heute wieder viel zitierte wertende Entgegensetzung von Judentum und (russi-schem) Christentum findet sich bereits in der um die Mitte des 11 Jahrhunderts verfassten bdquoRede uumlber das Gesetz und die Gnadeldquo (Slovo o zakone i blagodati) des Metropoliten Ila-rion

14 Michael Hagemeister

Zuerst muss der Abfall von Gott kommen und der Mensch der Gesetzlosigkeit offenbart werden der Sohn des Verderbens der Widersacher der sich erhebt uumlber alles was Gott heiszligt oder Heiligtum so dass er sich sogar in den Tempel Gottes setzt und sich fuumlr Gott ausgibt [] Denn das Geheimnis der Gesetzlosigkeit [τὸ μυστήριον τῆς ἀνομίας]40 ist schon wirksam nur muss erst der beseitigt werden der es bis jetzt noch aufhaumllt [ὁ κατέχων] und dann wird der Gesetzlose offenbart werden [hellip] (2 Thess 23-4 und 7-8)

Die durch bdquofeigen Verratldquo erzwungene Abdankung des Zaren im Maumlrz 1917 und seine Ermordung im Juli 1918 wurden denn auch als Erfuumlllung jener Prophetie verstanden dh als Beseitigung des Katechon damit der Weg frei werde fuumlr die Herrschaft des Antichrist41 Der Regizid wurde in dieser Sicht zu einem bdquoapoka-lyptischen Verbrechenldquo langfristig geplant und auf blutig-rituelle Weise ausge-fuumlhrt von den Agenten des Antichrist den Juden Fuumlr diese so der Historiker Mi-chail Nazarov war der von Gott erwaumlhlte und gesalbte apostelgleiche Herrscher des Dritten Rom der bdquokatechontischen orthodoxen Machtldquo objektiv der groumlszligte metaphysische Feind und seine Beseitigung mithin eine Tat bdquovon houmlchster mys-tisch-religioumlser Bedeutungldquo42

Viele Glaumlubige sind indes uumlberzeugt dass die Stelle des Katechon nicht vakant sei sondern von der Gottesmutter uumlbernommen wurde Als Beweis dafuumlr dient die wundersame Auffindung einer Ikone im Dorf Kolomenskoe bei Moskau an jenem Tag an dem Nikolaus II dem Thron entsagte43 Die Ikone zeigt die

40 Luther uumlbersetzt bdquoGeheimnis der Bosheitldquo in der mittelalterlichen Theologie als der Anti-

christ gedeutet der nach der Offenbarung des Johannes am Ende der Zeiten erscheint 41 Im Russischen wird die Rolle des bdquoSelbstherrschersldquo (samoderžec) als bdquoAufhalter Kate-

chonldquo (uderživajuščij) auch etymologisch deutlich russ deržatrsquo entspricht griech κατέ-χειν ndash Die mysterioumlse Figur des Katechon (im griechischen Text einmal Neutrum einmal Maskulinum) die das Endgericht und den Anbruch des Reiches Gottes verzoumlgert bietet sich ebenso wie der Antichrist und seine Trabanten seit jeher zu immer neuen Identifikatio-nen mit einzelnen Gestalten Gruppen oder politischen Maumlchten an So identifizierte Carl Schmitt (1888ndash1985) der bdquoApokalyptiker der Gegenrevolutionldquo (Jacob Taubes) Liberalis-mus Bolschewismus und Judentum mit dem Antichrist (oder seinen Agenten) und glaubte dendas Katechon unter anderem in der Diktatur Hitlers zu erkennen 1947 notierte er bdquoIch glaube an den Katechon er ist fuumlr mich die einzige Moumlglichkeit als Christ Geschichte zu verstehen und sinnvoll zu findenldquo Carl Schmitt Glossarium Aufzeichnungen aus den Jah-ren 1947 bis 1958 hg von Gerd Giesler und Martin Tielke Berlin 2015 47 Schmitt und seine politische Theologie werden in russischen Intellektuellenkreisen intensiv rezipiert

42 Nazarov Voždju 213ndash223 ders Tajna Rossii Istoriosofija XX veka 1999 695ndash699 ndash Die Ermordung der Zarenfamilie durch die Bolschewiki im Juli 1918 in Ekaterinburg wur-de und wird von russischen Nationalisten als juumldischer antichristlicher Ritualmord darge-stellt Extremistische Kirchenkreise forderten denn auch Nikolaus II und seine Familie als bdquovon Jidden Gemarterteldquo (ot židov umučennye) heiligzusprechen Dem wurde freilich von fuumlhrenden Vertretern des Moskauer Patriarchats widersprochen

43 Im Februar 1917 war der Baumluerin Evdokija Andrianova im Traum der Fundort der Ikone erschienen Nach langem Suchen wurde diese schlieszliglich am 215 Maumlrz im Keller der Himmelfahrtskirche von Kolomenskoe entdeckt Siehe Aleksandr N Kazakevič bdquosbquoV podvale chrama pojavilasrsquo ikona Bogomaterilsquo Dokumenty Centralrsquonogo istoričeskogo

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 15

Himmelskoumlnigin mit den Zeichen ihrer Regentschaft im kaiserlichen Purpur mit Krone Szepter und Reichsapfel Das Bild der bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo (Bogo-materrsquo Deržavnaja) erwies sich sogleich als wundertaumltig und zog zahlreiche Pil-ger an Kopien verbreiteten seine Verehrung im ganzen Land Bis heute gilt es vielen als ein Zeichen dass Russlands Schutz vor dem Ansturm des Antichrist vom Zaren auf die Gottesmutter uumlbergegangen ist und sie die autokratische Macht bis zur Wiederherstellung der Monarchie bewahren wird44 Zum 70 Jahrestag des Sieges lieszlig der Izborsker Klub eine Variante der beruumlhmten Ikone anfertigen Sie zeigt die bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo zusammen mit Stalin und seinen Marschaumll-len Fuumlr Aleksandr Prochanov ist Stalin der Katechon der von Gott gesandte Fuumlhrer des Sowjetvolks das durch den Opfertod seiner Soumlhne im bdquogeheiligtenldquo Groszligen Vaterlaumlndischen Krieg ebenso wie einst Christus die Macht der Houmllle be-siegt und die Menschheit erloumlst habe45

lthttpwwwizborsk-clubruarh2015_04_Blokpdfgt

In bdquohistoriosophischerldquo Sicht bildet die Ermordung des Zaren und seiner Familie das zentrale sinnstiftende Ereignis der Geschichte Russlands im 20 Jahrhundert Alles darauf folgende Ungluumlck und Leiden die Verfolgung der Christen Hunger und Terror der Tod von Millionen Menschen werden aufgefasst als Strafe Gottes fuumlr den Abfall des russischen Volkes vom Glauben und fuumlr den judasgleichen

archiva Moskvy o Deržavnoj ikone Božiej Materildquo in Otečestvennye archivy 1 (2004) lthttpricolororghistorykasvyatyniik_derggt

44 Vgl Grigorij Nikolaev bdquoĖschatologičeskij triptichldquo in Ėschatologičeskij sbornik 358ndash396 hier 376f Bagdasarjan bdquoApokalipsis ndash segodnja 441f

45 Aleksandr Prochanov bdquoMističeskij stalinizmldquo in Izborskij klub Russkie strategii 4 (28) 2015 78ndash81 auch lthttpwwwizborsk-clubruarh2015_04_Blokpdfgt

16 Michael Hagemeister

bdquoVerratldquo an seinem Herrscher Wie Jesus sich dem Willen des goumlttlichen Vaters unterworfen hat und auf Golgatha fuumlr die Suumlnden der Welt gestorben ist so habe der Zar in Ekaterinburg (dem bdquorussischen Golgathaldquo) sein Leben als bdquoSuumlhneopferldquo dargebracht fuumlr die Suumlnden ganz Russlands46 Erst wenn das russische Volk sein Land von den Idolen und Symbolen der Gottlosigkeit reinige den Ideen der De-mokratie und politischen Gleichheit abschwoumlre seine kollektive Schuld bereue und Buszlige tue fuumlr das bdquoschrecklichste und unheilvollste Verbrechen des 20 Jahr-hundertsldquo werde der Zar zuruumlckkehren und Russland seine einstige Groumlszlige wie-dererlangen47

Einer der vehementesten und einflussreichsten Propagandisten der Selbst-charismatisierung Russlands war in den Jahren nach dem Ende der Sowjetunion Metropolit Ioann (Ivan Snyčev 1927ndash1995) von St Petersburg und Ladoga Mit-glied des Heiligen Synods und dritthoumlchster Kirchenhierarch des Landes In einer Vielzahl von Buumlchern Aufsaumltzen und Interviews beschwor Ioann die universale Mission des Dritten Rom als des bdquoletzten Hortes des wahren Glaubensldquo im Kampf gegen den Antichrist und seine Verbuumlndeten das bdquoVolk der Gesetzlosigkeitldquo48 Zu den apokalyptischen Feinden Christi zaumlhlte er die bdquoglobalen Maumlchte hinter den Kulissenldquo (mirovaja zakulisa) das internationale Freimaurertum die bdquotransnatio-nale Finanzoligarchieldquo die Anhaumlnger des Zionismus und Marxismus sowie Israel die USA und deren westeuropaumlische Satelliten49 Wiedergeboren im Geist der Or-thodoxie sei das Dritte Rom der irdische Sockel auf dem der Thron Gottes ruhen werde ndash ihm entgegen stehe der Dritte Tempel der Thron des Antichrist50

Hesychasmus als Kulturscheide ndash Kritik der Renaissance

Als entscheidende Waffe in dieser heilsgeschichtlichen Auseinandersetzung wird in juumlngster Zeit von antiwestlichen Intellektuellen und Kirchenkreisen der soge-nannte Hesychasmus in Stellung gebracht Urspruumlnglich handelt es sich dabei um

46 Das Schicksal des letzten Zaren wurde in der antibolschewistisch-antisemitischen Polemik

schon fruumlh mit der Passion Christi verglichen oder gleichgesetzt Eindrucksvolle Beispiele aus juumlngerer Zeit bieten die patriotischen Lieder der prominenten Saumlngerin Žanna Bičev-skaja oder die Filme Iskupitelrsquonaja žertva (1992) und Russkaja Golgofa (2000) Siehe auch Papkova The Orthodox Church 63f 222

47 Marija Achmetova Konec sveta v odnoj otdelrsquono vzjatoj strane Religioznye soobščestva postsovetskoj Rossii i ich ėschatologičeskij mif Moskva 2010 245ndash260

48 Vgl Rossman Russian Intellectual Antisemitism 221ndash225 Hagemeister bdquoDas Dritte Romldquo 476

49 Metropolit Ioann (Snyčev) bdquoToržestvo pravoslavijaldquo in ders Bitva za Rossiju Sankt-Peterburg 1993 28ndash35 In seinem Bestreben Russland als Opfer jahrhundertealter Ver-schwoumlrungen finsterer antichristlicher Maumlchte darzustellen griff Ioann immer wieder auch auf die Protokolle der Weisen von Zion zuruumlck

50 Metropolit Ioann (Snyčev) Samoderžavie ducha Očerki russkogo samosoznanija Sankt-Peterburg 1994 7

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 17

eine individuelle psychosomatische Gebets- und Meditationstechnik des byzanti-nischen und slavischen Moumlnchtums deren Anfaumlnge bis auf die Wuumlstenvaumlter zu-ruumlckreichen Durch die unablaumlssige konzentrierte Wiederholung des sogenannten bdquoJesusgebetsldquo ndash der Anrufung des rettenden Namens Jesu Christi ndash im Rhythmus des Herzschlags (deshalb auch bdquoHerzensgebetldquo) eine Uumlbung die als bdquogeistiges Tunldquo (πρᾶξις νοερά russ umnoe delanie) bezeichnet wird kann der Asket der die innere Ruhe (ἡσυχία) und Leidenschaftslosigkeit (ἀπάθεια) erreicht hat zur ekstatischen Schau (θεωρία) der Herrlichkeit Gottes in Lichtvisionen gelangen51

Die mit dem bdquoJesusgebetldquo verbundenen mystischen Erfahrungen fuumlhrten im 14 Jahrhundert zu einer hochspekulativen theologischen Deutung und Systemati-sierung durch den Athosmoumlnch (spaumlter Erzbischof von Thessalonike) Gregorios Palamas (129697minus1359) und seine Anhaumlnger im sogenannten bdquoHesychasmus-streitldquo Dabei ging es ndash stark vereinfacht ndash um die Frage inwiefern bestimmte sinnliche Erfahrungen beim Gebet wie das Schauen von Licht aber auch die Empfindung von Waumlrme und Wohlgeruch als Begegnung mit der Realitaumlt Gottes aufzufassen seien (und nicht als Pseudovisionen also als Einbildungen oder gar Inspirationen daumlmonischer Maumlchte) Dahinter steht das alte theologische Problem der Erkennbarkeit oder sinnlichen Erfahrbarkeit Gottes der Kommunikation zwi-schen Immanenz und Transzendenz aber auch der Gefahr der Verfuumlgung uumlber das Goumlttliche (extrem im Gotteszwang durch Beschwoumlrung)

Palamas loumlst die Frage indem er in Anlehnung an neuplatonische Vorstel-lungen das unzugaumlngliche ewige bdquoWesenldquo (οὐσία) Gottes von seiner in der ge-schaffenen Welt d h in Raum und Zeit mitteilbaren ungeschaffenen bdquoWirkkraftldquo oder bdquoEnergieldquo (ἐνέργεια) unterscheidet nicht aber trennt52 Diese Energien bdquodie der dreieinige Gott ausstrahlt und die zu seinem Wesen gehoumlren wie die Strahlen zur Sonne oder das Kraftfeld zum Magnetenldquo53 kann der Asket der den Stufen-prozess von bdquoReinigungldquo (κάθαρσις) bdquoErleuchtungldquo (φωτισμός) und bdquoVergoumlttli-chungldquo (θέωσις) durchlaumluft durch die Gnade Gottes sinnlich erfahren Als houmlch-stes mystisches Erlebnis im Zusammenwirken (συνεργία) aller menschlichen En-ergien mit der goumlttlichen Energie gilt die Schau des ungeschaffenen Lichtes wie sie den Juumlngern Jesu bei dessen Verklaumlrung auf dem Berg Tabor (μεταμόρφωσις

51 Ich folge hier zum Teil meinen Ausfuumlhrungen in Michael Hagemeister bdquoImjaslavie ndash imja-

dejstvie Namensmystik und Namensmagie in Russland (1900ndash1930)ldquo in Tatjana Petzer [ua] (Hgg) Namen Benennung ndash Verehrung ndash Wirkung Positionen der europaumlischen Moderne Berlin 2009 77ndash98 hier 79ndash81 88ndash90 Zum Hesychasmus liegt eine umfangrei-che Literatur vor Das Nachschlagewerk von Sergej Choružij (Hg) Isichazm annotiro-vannaja bibliografija Moskva 2004 umfasst mehr als 10000 Titel in 20 Sprachen

52 Die Unterscheidung von Gottes unerkennbarem Wesen und seinen wahrnehmbaren Wirk-kraumlften reicht bis auf Philon von Alexandria (gest ca 40 n Chr) zuruumlck Siehe Fairy v Lilienfeld bdquoHesychasmusldquo in Theologische Realenzyklopaumldie Bd 15 BerlinNew York 1986 282ndash289 ndash bdquoEnergieldquo ist Synonym fuumlr jeden bdquoAustrittldquo Gottes aus seinem Wesen Die bdquoSaumlttigungldquo mit goumlttlicher Energie erklaumlrt beispielsweise auch die gnadenreiche Heil-wirkung die von den Gebeinen der Heiligen selbst nach deren Tod ausgeht

53 Ebd 284

18 Michael Hagemeister

τοῦ Χριστοῦ Mt 171minus13) zuteil geworden war54 Fuumlr den endzeitlich gestimm-ten Palamas war diese Schau eine Vorwegnahme der Parusie der Vereinigung des Geschaffenen und des Ungeschaffenen und des kuumlnftigen Reiches Gottes somit bdquorealisierte Eschatologieldquo55

Der Glaube an die Wahrnehmbarkeit des ungeschaffenen ewigen Lichtes als Ausfluss der Energien Gottes stieszlig jedoch auf Widerspruch Palamasrsquo promi-nentester Gegner war der aus Kalabrien stammende Moumlnch Barlaam (ca 1290ndash1348) der in der Tradition der abendlaumlndischen rationalistischen Scholastik die Unterscheidung des transzendenten unzugaumlnglichen Wesens Gottes und der da-von untrennbaren Energien die aber ad extra wirken und sich dem Menschen mitteilen als haumlretisch verwarf und auf der absoluten Unerkennbarkeit Gottes be-stand Rom lehnte denn auch die Energienlehre des Palamas aufs schaumlrfste ab Dagegen erkannte die byzantinische Kirche sie 1341 und 1351 als Dogma an Seitdem gilt der palamitische Hesychasmus als ein Spezifikum der Orthodoxie und dient gerade heute wieder der polemischen Abgrenzung gegenuumlber dem Wes-ten56

Fuumlr die bereits genannten Philosophen Pavel Florenskij und Aleksej Losev charakterisiert das Bekenntnis zum Hesychasmus den Kulturtypus des christli-chen Mittelalters der sich in idealer Weise in Byzanz und in der Moskauer Rusrsquo ausgepraumlgt habe und in diametralem Gegensatz zur sogenannten bdquoRenaissance-Kulturldquo des Westens stehe Merkmale jener integralen Kultur des christlichen Ostens seien Gemeinschaftlichkeit (sobornostrsquo) Geistigkeit (duchovnostrsquo) Ob-jektivitaumlt Konkretheit Ganzheit (celrsquonostrsquo) und Ganzheitlichkeit (celostnostrsquo) synthetische Schau und Realismus57 waumlhrend die westliche Moderne seit der Re-naissance gepraumlgt sei durch Subjektivismus Relativismus szientifische Ratio-nalitaumlt (bdquoEntzauberung der Weltldquo) Materialismus Liberalismus Individualismus

54 Siehe Sergej Choružij bdquoSvet Plotinov i svet Favora mistika sveta v neoplatonizme i isi-

chazmeldquo in Aleksej Lidov (Hg) Ierotopija Ognja i Sveta v kulrsquoture vizantijskogo mira Moskva 2013 37ndash44 Zur Terminologie des Hesychasmus ders bdquoAnalitičeskij slovarʼ isi-chastskoj antropologiildquo in ders K fenomenologii askezy Moskva 1998 22ndash186

55 Peter Kawerau Das Christentum des Ostens Stuttgart [ua] 1972 131 56 Siehe zB die Arbeiten des Moskauer Theologen Igorʼ Ėkonomcev (Archimandrit Ioann)

bes bdquoIsichazm i vostočnoevropejskoe Vozroždenieldquo in Bogoslovskie trudy 29 (1989) 167ndash196 erweiterte Fassung bdquoDer Hesychasmus und die Renaissance in Osteuropaldquo in Karl Christian Felmy (Hg) Tausend Jahre Christentum in Russland Zum Millennium der Taufe der Kiever Rusrsquo Goumlttingen 1988 731ndash771 ndash Im 19 Jahrhundert erlebte der Hesy-chasmus im Zuge der Wiederbelebung mystischer Froumlmmigkeit durch Paisij Veličkovskij (1722ndash1794) eine Bluumlte im russischen Starzentum Dabei handelt es sich auch ndash aumlhnlich wie beim Pietismus ndash um eine Reaktion auf die Einfluumlsse der westlichen Aufklaumlrung Siehe die Beitraumlge in Adalberto Mainardi (Hg) Paisij lo starec Atti del III Convegno ecumenico internazionale di spiritualitagrave russa Bose 20ndash23 settembre 1995 Magnano 1997

57 Die Uumlberwindung der Trennung des erkennenden Subjekts vom Objekt der Erkenntnis (Descartes Locke Kant) durch das spekulative intuitive Erfassen des Wesens (der Ideen des Absoluten) als des eigentlich Realen hat die russische Philosophie des 20 Jahrhunderts bdquolebendiges Wissenldquo (živoe znanie) bdquoIdeal-Realismusldquo (ideal-realizm) oder bdquointuitiven Realismusldquo (intuitivnyj realizm) genannt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 19

Abstraktheit Zersplitterung und Atomisierung58 Der Sieg des Nominalismus im mittelalterlichen Universalienstreit und die Feier des autonomen Individuums in Renaissance Humanismus und Aufklaumlrung markieren in dieser katastrophischen Perspektive den Zerfall der goumlttlichen Ordnung des Universums und der Sakralitaumlt von Hierarchie und Herrschaft und damit den bdquoSuumlndenfallldquo der abendlaumlndischen Kultur die im Anthropozentrismus der satanischen Hybris einer bdquoSelbstvergot-tungldquo des Menschen (čelovekobožie)59 zugleich gipfele und scheitere60

Am Anfang dieser verhaumlngnisvollen Spaltung standen die Annahme der pa-lamitischen Lehre durch die Ostkirche und die Ablehnung dieser Lehre im Westen durch den bdquoRenaissance-Menschenldquo (vozroždenec) Barlaam den Lehrer Boccac-cios und Petrarcas61 Mit aller Schaumlrfe formulierte Losev diesen Gegensatz bdquo[hellip] entweder ist das Taborlicht untrennbar vom Wesen Gottes und ist deshalb Gott selbst (obwohl Gott selbst nicht [das] Licht ist) ndash dann ist die Orthodoxie gerettet oder das Licht ist vom Wesen Gottes trennbar und darum geschaffen ndash dann be-ginnen die apokalyptischen Kraumlmpfe des Renaissance-Westensldquo62 Indem sie Bar-laam einen bdquozugereisten Kalabrierldquo und seine Anhaumlnger mit dem Bann belegte habe die Orthodoxe Kirche so Losev die damals heraufziehende Renaissance

58 Siehe zB Pavel Florenskij bdquoAvtoreferat (192526)ldquo in Voprosy filosofii 1988 12 113ndash

116 dt Pavel Florenski bdquoAutorreferatldquo in ders Leben und Denken hg von Fritz und Sieglinde Mierau Bd 1 Ostfildern 1995 32ndash38 Aleksej Losev Dialektika mifa (1930) Moskva 2001 137ndash138 dt Die Dialektik des Mythos Hamburg 1994 109 ndash Die wertende Entgegensetzung von mittelalterlicher und Renaissance-Kultur (bzw der Typen bdquoobjekti-verldquo und bdquosubjektiverldquo Kulturen) findet sich durchgaumlngig im Werk Florenskijs und Losevs Siehe zuletzt Oksana SedychJulija Grišatova bdquoRusskij Renessans o Renessanseldquo in Vo-prosy filosofii 2015 6 111ndash121

59 bdquoSatan war der erste Revolutionaumlrldquo zitiert Losev einen (apokryphen) Ausspruch des Hl Serafim von Sarov Aleksej Losev bdquoDopolnenie k sbquoDialektike mifalsquo (novyj fragment)ldquo in AF Losev tvorčestvo tradicii interpretacii Moskva 2014 397ndash411 hier 401

60 So degradiere ndash um nur ein Beispiel fuumlr das Scheitern der Renaissance zu geben ndash das heliozentrische Weltbild eines Kopernikus und Giordano Bruno den Menschen zum Be-wohner eines bdquonichtigen Sandkornsldquo im unendlichen Weltraum SedychGrišatova bdquoRuss-kij Renessansldquo 114 Florenskij suchte denn auch in seiner Schrift Mnimosti v geometrii (1922) das geozentrische Weltbild des Mittelalters zu rehabilitieren Zum griechisch-or-thodoxen Antikopernikanismus Vasilios Makrides Die religioumlse Kritik am kopernikani-schen Weltbild in Griechenland zwischen 1794 und 1821 Aspekte griechisch-orthodoxer Apologetik angesichts naturwissenschaftlicher Fortschritte Frankfurt aM [ua] 1995

61 Mitunter wurde Barlaam sogar als Agent einer groszligangelegten antiorthodoxen Verschwouml-rung des bdquoPapismusldquo denunziert Siehe Ėkonomcev bdquoIsichazmldquo 59 vgl ders bdquoDer Hesy-chasmusldquo 736 ndash Eine Kontrastierung des weltlichen Humanisten Petrarca und des Hesy-chasten Palamas unternahm Losevs Schuumller und Sekretaumlr Vladimir Bibichin lthttpwww philologyruliterature3bibikhin-90htmgt

62 Aleksej Losev Očerki antičnogo simvolizma i mifologii Moskva 1930 856 Auch Ėko-nomcev spricht von den bdquoschreienden Widerspruumlchen und Grimassen der westlichen Re-naissance deren geistiger Vater Barlaam wurdeldquo Ėkonomcev bdquoIsichazmldquo 63 (in der deut-schen Version ist von bdquohimmelschreienden Gegensaumltzenldquo und bdquoscheuszliglichen Grimassenldquo die Rede Ėkonomcev bdquoDer Hesychasmusldquo 746)

20 Michael Hagemeister

insgesamt verdammt (anafematstvovala) der alle westlichen Voumllker verfallen sei-en und wahrscheinlich bis ans Ende ihrer Tage verfallen blieben63

Bis zuletzt verteidigte Losev ein mit Orden des Sowjetstaates ausgezeich-neter Philosoph der 1929 von Archimandrit David (Muchranov 1847ndash1930) ei-nem Fuumlhrer der hesychastischen bdquoNamensverehrerldquo (imjaslavcy)64 heimlich zum Moumlnch geweiht worden war die Lehre des Palamas als einen Grundpfeiler der Orthodoxie65 Gleichzeitig hielt er an seiner schroffen Ablehnung des bdquoRenaissan-ce-Westensldquo fest dessen Geschichte insgesamt nichts anderes sei als bdquoeine libera-le Kritik des Mittelaltersldquo 1978 stellte Losev in seiner umfangreichen Studie zur Aumlsthetik der Renaissance der bdquoganzheitlichen Kulturldquo (celostnaja kulrsquotura) des Mittelalters die zerrissene Kultur der Renaissance gegenuumlber die auf der Verabso-lutierung und bdquotitanischen Verherrlichungldquo des isolierten Subjekts und der bdquoAbge-trenntheit vom lebendigen Seinldquo (otryv ot živogo bytija) beruhe66 In einem Ge-spraumlch mit dem Schriftsteller Viktor Erofeev das 1985 veroumlffentlicht wurde de-nunzierte Losev den Typus des bdquoRenaissance-Menschenldquo der sich selbst vergoumltt-liche und deshalb dem Nihilismus und Satanismus verfalle bdquoIndem die Renais-sance das Subjekt zum Absolutum erhob oumlffnete sie den Weg fuumlr den Triumph des Subjektivismus in den folgenden Jahrhunderten In diesem Sinne stellt der gesamte Westen fuumlr mich eine Sackgasse des Denkens darldquo67 Damit geriet der Philosoph einerseits in scharfen Gegensatz zum sowjetischen Selbstverstaumlndnis das sich als Erbe und Vollender gerade jener bdquoprogressivenldquo Prozesse und huma-nistischen Traditionen sah die von der europaumlischen Renaissance ausgegangen

63 Losev Očerki 849 856 64 Zur Bewegung des imjaslavie die zu Beginn des 20 Jahrhunderts auf dem Athos entstand

und in Florenskij und Losev prominente Unterstuumltzer fand liegt inzwischen eine reiche Literatur vor Siehe die juumlngste Veroumlffentlichung Antoine Niviegravere Les glorificateurs du nom Une querelle theacuteologique parmi les moines russes du mont Athos (1907ndash1914) Genegraveve 2016

65 Siehe Valentina Postovalova bdquoAfonskij spor ob Imeni Božiem v filosofsko-bogoslovskom osmyslenii AF Losevaldquo in AF Losev 95ndash106 bes 105f

66 Aleksej Losev Ėstetika Vozroždenija Moskva 21982 (11978) 45 61 137 und passim Losevs Modernekritik erinnert an Heidegger und dessen Begriff der bdquoSeinsvergessenheitldquo Wie fuumlr Heidegger so war auch fuumlr Losev (und Florenskij) der Agent der verhassten Moder-ne ein bdquorechnendesldquo und bdquowurzellosesldquo mythisches Judentum Zu Losevs metaphysischem Antisemitismus (bdquodas satanische Wesen des Judentumsldquo) siehe zuletzt mit zahlreichen Belegen Natalrsquoja Boneckaja Duch Serebrjanogo veka (fenomenologija ėpochi) Moskva Sankt-Peterburg 2016 688ndash693

67 Aleksej Losev bdquoV poiskach smyslaldquo in Voprosy literatury 1985 10 205ndash231 hier 229 Zu Losevs Kritik der bdquoRenaissance-Kulturldquo des Westens ausfuumlhrlich Annett Jubara Die Philosophie des Mythos von Aleksej Losev im Kontext bdquoRussischer Philosophieldquo Wiesba-den 2000 bes 131ndash154 Siehe auch Naftalij Prat bdquoAleksej Losev und der Totalitarismusldquo in Leonid Luks (Hg) Das Christentum und die totalitaumlren Herausforderungen des 20 Jahrhunderts Koumlln [ua] 2002 103ndash114 bes 108f

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 21

waren (augenfaumlllig etwa in der Architektur der 1930er bis 50er Jahre)68 Anderer-seits erwies sich der orthodoxe Moumlnch damit auch als Apologet des Sowjetregi-mes bedroht die Autonomie des Individuums doch den Wesenskern einer jeden Herrschaft die das Wahrheitsmonopol fuumlr sich beansprucht

Die Ablehnung der modernen bdquokopernikanischen Weltldquo (Hans Blumen-berg) durchzieht das gesamte philosophische Werk Losevs und Florenskijs dazu gehoumlren die Ablehnung des heliozentrischen Weltbildes die Polemik gegen Kants kritischen Idealismus (die bdquokopernikanische Wendeldquo in der Philosophie) die Ab-lehnung der Zentralperspektive in der Kunst die Ablehnung des nominalistischen Rationalismus und schlieszliglich die Ablehnung der saumlkularen und demokratischen Gesellschaftsordnung zugunsten einer bdquoVerkirchlichungldquo (ocerkovlenie) aller Be-reiche der Gesellschaft und des Staates in Gestalt einer theokratischen Synarchie Florenskij der sich als einen mittelalterlichen Menschen charakterisierte69 ndash Ni-kolaj Berdjaev selbst Verkuumlnder eines religioumls-integralen bdquoNeuen Mittelaltersldquo nannte ihn einen bdquoraffinierten Reaktionaumlrldquo ndash70 war uumlberzeugt dass die bdquoentseelte Renaissance-Zivilisationldquo sich erschoumlpft habe und eine neue ganzheitlich-objekti-ve Kultur anbrechen werde71 Vorbild dieser bdquoKultur des anderen Typusldquo werde Russland sein bdquoerste Keimeldquo seien bereits zu erkennen Seine Zeit begriff Floren-skij bdquoan den Wasserscheiden des Denkensldquo und er sah seine Lebensaufgabe darin bdquoWege zu bahnen zu einer kuumlnftigen ganzheitlichen Weltanschauungldquo72

68 Losevs Renaissance-Kritik (va in Ėstetika Vozroždenija) wurde deshalb auch als ver-

schleierte Kritik am Sowjetsystem verstanden Siehe Annett Jubara bdquoAleksej Losevs Philosophie des Mythos als Kritik an der Sowjetischen Moderneldquo in Studies in East Euro-pean Thought 56 (2004) 211ndash224 Aus dem Kreis der Schuumller Losevs gingen seit den 1960er Jahren zahlreiche dissidentische russische Nationalisten hervor Nikolaj Mitrochin Russkaja partija Dviženie russkich nacionalistov v SSSR 1953ndash1985 Moskva 2003 288f Zur Kritik der Renaissance-Zivilisation siehe auch Vladimir Bibichin Novyj renessans Moskva 1998 bes 131ndash155

69 Siehe Florenskij bdquoAvtoreferatldquo Noch im Maumlrz 1933 nach seiner Verhaftung erklaumlrte Flo-renskij gegenuumlber den Ermittlungsbeamten bdquoIch Pavel Aleksandrovič Florenskij [hellip] bin dem Charakter meiner politischen Anschauungen nach ein Romantiker des Mittelalters un-gefaumlhr des 14 Jahrhundertsldquo Vitalij Šentalinskij bdquoUdel veličijaldquo in Ogonek 1990 45 23ndash27 hier 26

70 Nikolaj Berdjaev Samopoznanie (Opyt filosofskoj avtobiografii) Moskva 1991 161 Sie-he Nikolaj Berdjaev Novoe srednevekovrsquoe Berlin 1924 dt Nikolaus Berdjajew Das Neue Mittelalter Darmstadt 1927

71 Siehe Michael Hagemeister bdquoWiederverzauberung der Welt ndash Pavel Florenskijs Neues Mittelalterldquo in Norbert Franz [ua] (Hgg) Pavel Florenskij ndash Tradition und Moderne Beitraumlge zum Internationalen Symposium an der Universitaumlt Potsdam 5 bis 9 April 2000 Frankfurt aM [ua] 2001 21ndash41 Zu Florenskijs Kritik an Renaissance und Humanismus (bdquoder Humanismus entsprang der Kabbalaldquo) siehe auch Ilona Svetlikova bdquoOb ideologii sbquoobratnoj perspektivylsquo Pavla Florenskogoldquo in Russkaja intellektualʼnaja revoljucija 1910ndash1930-ch godov Moskva 2016 123ndash139 zu den Uumlbereinstimmungen mit Heidegger siehe Viktor Arslanov Postmodernizm i russkij bdquotretij putrsquoldquo tertium datur rossijskoj kulrsquotury XX veka Moskva 2007 472ndash499

72 Florenskij bdquoAvtoreferatldquo 114

22 Michael Hagemeister

In juumlngster Zeit hat das wiedererwachte Interesse an der eigenen spirituellen Tradition und ihren byzantinischen Wurzeln ndash oftmals verbunden mit dem Bestre-ben sich vom bdquosaumlkularen Westenldquo und der bdquowestlichen Moderneldquo abzugrenzen ndash zu einer Wiederbelebung des palamitischen Hesychasmus (neopalamizm) und der ndash davon zu unterscheidenden ndash bdquoNamensverehrungldquo (imjaslavie) gefuumlhrt73 Be-reits in den 1970er Jahren war John Meyendorffs klassische Studie St Greacutegoire Palamas et la mystique orthodoxe (Paris 1959) ins Russische uumlbersetzt worden und kursierte in der Sowjetunion in Samizdat-Ausgaben im Milieu religioumls-philo-sophischer Dissidenten Heute wird die Wiederbelebung des Hesychasmus auch durch den patriotischen Kult um Serafim von Sarov (Prochor Mošnin 1759ndash1833) befoumlrdert einen Wundertaumlter und Apokalyptiker der im postsowjetischen Russland zu einem der meistverehrten Heiligen avanciert ist74 In einer in viele Sprachen uumlbersetzten und millionenfach verbreiteten Schrift schildert sein Schuuml-ler Nikolaj Motovilov (1809ndash1879) die Verklaumlrung Serafims im ungeschaffenen Licht des Heiligen Geistes die sich angeblich im November 1831 auf einer einsa-men verschneiten Waldlichtung ereignet hat75

73 Dies gilt nicht nur fuumlr Russland auch auf Vertreter der angelsaumlchsischen bdquoRadical Ortho-

doxyldquo die das Projekt einer von modern-saumlkularem Denken nicht korrumpierten Theologie verfolgen uumlben Hesychasmus und russische Sophiologie starke Faszination aus Siehe die Beitraumlge in Adrian PabstChristoph Schneider (Hgg) Encounter Between Eastern Ortho-doxy and Radical Orthodoxy Transfiguring the World Through the Word Farnham 2009 Zur Wiederbelebung des imjaslavie im post-sowjetischen Russland siehe Scott M Ken-worthy bdquoDebating the Theology of the Name in Post-Soviet Russia Metropolitan Ilarion Alfeev and Sergei Khoruzhiildquo in Katya Tolstaya (Hg) Orthodox Paradoxes Hetero-geneities and Complexities in Contemporary Russian Orthodoxy LeidenBoston 2014 250ndash264 Siehe auch Loren Grahams Bericht uumlber diskrete Zusammenkuumlnfte der imjaslav-cy im Kellergeschoss der Moskauer Tatrsquojana-Kirche in den fruumlhen 2000er Jahren Loren GrahamJean-Michel Kantor Naming Infinity A True Story of Religious Mysticism and Mathematical Creativity Cambridge MassLondon 2009 1ndash5

74 Fuumlr die Anhaumlnger der Doktrin einer bdquoAtomaren Orthodoxieldquo (atomnoe pravoslavie) ist Se-rafim auch der Schutzheilige der russischen Atombombe wurde doch Sarov der Ort seines Wirkens 1946 unter dem Namen Arzamas-16 zur streng geheimen Nuklearstadt in der Wissenschaftler unter ihnen Andrej Sacharov am Bau der sowjetischen Atom- und Was-serstoffbomben arbeiteten Patriotische Russen deuten dies als Zeichen dass bdquoim Hause unseres Vaters Serafimldquo mit dessen Segen der nukleare bdquoSchild zum Schutz der Heimatldquo geschmiedet worden sei Pavel V Florenskij bdquoNeobchodimostrsquo našej atomnoj bombyldquo in Naš sovremennik 1997 4 219ndash221 Bei dem Verfasser handelt es sich um einen Enkel des beruumlhmten Philosophen Siehe auch lthttpsruwikipediaorgwiki Атомное_правосла виеgt

75 Die Schrift deren Authentizitaumlt umstritten ist wurde bekannt unter dem Titel bdquoGespraumlch uumlber das Ziel des christlichen Lebensldquo (Beseda o celi christianskoj žizni) Erstmals veroumlf-fentlicht wurde das bdquoGespraumlchldquo 1903 von Sergej Nilus (1862ndash1929) dem Herausgeber und Kommentator der Protokolle der Weisen von Zion Siehe Michael Hagemeister bdquoIl proble-ma della genesi del sbquoColloquio con Motovilovlsquoldquo in Adalberto Mainardi (Hg) San Sera-fim Da Sarov a Diveevo Atti del IV Convegno ecumenico internazionale di spiritualitagrave russa Bose 18ndash20 settembre 1996 Magnano 1998 157ndash174 Bis heute gibt es keine kriti-sche Ausgabe dieses zentralen Textes russischer Geistigkeit

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 23

Von der Wiederbelebung des Hesychasmus zeugt auch das groszligangelegte Projekt einer bdquosynergetischen Anthropologieldquo (sinergijnaja antropologija) des Mathematikers Physikers und religioumlsen Philosophen Sergej Choružij Prakti-sches Ziel das seit 2005 durch ein eigenes Institut in Moskau verfolgt wird ist die psychosomatisch-holistische Selbsttransformation des Menschen die auf unmittelbarer (mystisch-energetischer) Erfahrung bzw Einwirkung des ontolo-gisch Anderen (Goumlttlichen) beruht sowie die Uumlberwindung der Subjekt-Objekt-Trennung der modernen westlichen Philosophie die Choružij fuumlr den von ihm als krisenhaft und katastrophisch beschriebenen Zustand der westlichen Moderne verantwortlich macht Im Unterschied zu orthodoxen Fundamentalisten und Anti-Westlern sucht Choružij indes die asketischen Praktiken des Hesychasmus mit modernen und postmodernen westlichen Anthropologien (Kierkegaard Scheler Heidegger und insbesondere Foucaults technique oder practique de soi) in Bezie-hung zu setzen76

bdquoPolitischer Hesychasmusldquo

Es duumlrfte deutlich geworden sein dass Hesychasmus nicht nur eine weltabge-wandte mystisch-asketische bdquogeistige Praxisldquo bezeichnet sondern auch als Kampfbegriff gegen die saumlkulare Kultur des bdquoWestensldquo und der bdquowestlichen Mo-derneldquo dient Dies gilt vor allem fuumlr das Konzept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo (političeskij isichazm)

In den russischen Diskurs wurde dieses Konzept um die Mitte der 1960er Jahre von dem Leningrader Mediaumlvisten und Byzantinisten Gelian Prochorov ein-gefuumlhrt77 Seiner Hauptthese zufolge wurde der Hesychasmus nachdem er aus den Klosterzellen herausgetreten war und eine philosophisch-theologische

76 Siehe Sergej Choružij Očerki sinergijnoj antropologii Moskva Inst Sinergijnoj antropo-

logii Inst filosofii teologii i istorii Sv Fomy 2005 ders (Hg) Fonarrsquo Diogena Proekt sinergijnoj antropologii v sovremennom gumanitarnom kontekste Moskva 2010 ders bdquoDie mystische Verwandlung des Menschen Uumlber den Hesychasmus als Raum der Philo-sophieldquo in Fuge Journal fuumlr Religion amp Moderne 7 (2010) 72ndash99 Siehe auch die Web-site lthttpsynergia-isarugt Kristina Stoeckl bdquoA New Anthropology Sergej S Khoru-žijrsquos Search for an alternative to the Cartesian Subject in sbquoOčerki sinergijnoj antropologiilsquoldquo in Studies in East European Thought 59 (2007) 237ndash245

77 Gelian Prochorov bdquoĖtničeskaja integracija v Vostočnoj Evrope v XIV-m veke Ot isichastskich sporov do Kulikovskoj bitvyldquo in Doklady otdelenija ėtnografii 2 (196265) Leningrad 1966 81ndash110 ders bdquoIsichazm i obščestvennaja myslʼ v Vostočnoj Evrope v XIV vldquo in Literaturnye svjazi drevnich slavjan (Trudy otdela drevnerusskoj literatury 23) Leningrad 1968 86ndash108 ders bdquoKulʼturnoe svoeobrazie ėpochi kulikovskoj bitvyldquo in Kulikovskaja bitva i podldquoem nacionalrsquonogo samopoznanija (Trudy otdela drevne-russkoj literatury 34) Leningrad 1979 3ndash17 ndash Prochorov gehoumlrte bereits zu Sowjetzeiten ins Lager der (neo-)slavophilen Anti-Westler er war eng befreundet mit dem bdquoEurasierldquo und Antisemiten Lev Gumilev (1912ndash1992) und uumlbernahm von diesem das Konzept der bdquoEthnogeneseldquo

24 Michael Hagemeister

Grundlegung erfahren hatte am Ende des 14 Jahrhunderts zu einem entscheiden-den politischen und kulturellen Faktor nicht nur in Byzanz sondern in ganz Ost-europa und lieferte unter anderem das ideologische Fundament zur Konsolidie-rung der nachmongolischen Rusʼ Im Streit zwischen dem bdquorationalistischen Hu-manismus und dem kontemplativen Hesychasmus [hellip] entschied Byzanz uumlber sein geistiges Schicksal Das Land blieb bis zuletzt mittelalterlich Den Hesy-chasten gelang es zu Wortfuumlhrern der oumlffentlichen Meinung in Byzanz zu werden die letzte schoumlpferische Synthese seiner traditionellen Kultur zu entwickeln und eine breite kulturelle und gesellschaftliche Bewegung in Gang zu setzen die zu einer Erneuerung des Mittelalters und zu einer Wiederbelebung der Orthodoxie im ganzen oumlstlichen Europa fuumlhrteldquo78

Im Anschluss an das von seinem Lehrer Dmitrij Lichačev entwickelte Kon-zept einer bdquoVorrenaissanceldquo (Predvozroždenie)79 spricht Prochorov von einer bdquovorrenaissancelichen Gegenreformationldquo (predvozroždenčeskaja kontrreforma-cija) und einer bdquoOrthodoxen Renaissanceldquo (Pravoslavnoe Vozroždenie)80 Ge-meint war damit dass die Palamiten (Hesychasten) den Sieg der Barlaamiten ver-hindern konnten und auf die Schriften der antiken Kirchenvaumlter zuruumlckgreifend ein mystisch-kontemplatives Aumlquivalent zum rationalistischen und saumlkularen Hu-manismus geschaffen haumltten Auf diese Weise habe der drohende Uumlbergang der byzantinischen und osteuropaumlischen christlich gepraumlgten Kultur von der bdquoVorre-naissanceldquo zu einer auf heidnisch-antiken Wurzeln beruhenden Renaissance ab-gewendet werden koumlnnen81 Auf die bdquoVorrenaissanceldquo sei ein bdquoNeues Mittelalterldquo gefolgt das in der bdquoHeiligen Rusʼldquo um die Wende zum 15 Jahrhundert seinen Houmlhepunkt erreicht habe Ihm verdanke Russland seine Groumlszlige und die russische Kultur ihre bdquoUniversalitaumltldquo und bdquoGeistigkeitldquo82

Bemerkenswert ist dass der sowjetische Wissenschaftler die beiden ideolo-gischen Lager mit traditionellen (neo-)slavophilen Wertungsoppositionen wie sie bereits bei Florenskij und Losev begegnet sind verbindet und dabei deutlich seine 78 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 4 79 Vor allem in seinem Buch Kulʼtura Rusi vremeni Andreja Rubleva i Epifanija Premudrogo

MoskvaLeningrad 1962 80 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 8 Siehe auch ders Nekogda ne narod a nyne narod

Božijhellip Drevnjaja Rusʼ kak istoriko-kulʼturnyj fenomen Sankt-Peterburg 2010 133ndash157 81 So auch Igorʼ Ėkonomcev bdquoDie osteuropaumlische sbquoVorrenaissancelsquo ist nicht die erste Stufe

zur saumlkularisierten Renaissance vom abendlaumlndischen Typ sondern ihre Antithese Der geistige und kulturelle Aufschwung in Osteuropa war die wahre volle und eindeutige Re-naissance die sich grundlegend von der westlichen Renaissance unterschied Sie haumltte sich niemals in eine Renaissance westlicher Praumlgung verwandeln koumlnnenldquo Ėkonomcev bdquoDer Hesychasmusldquo 764 vgl ders bdquoIsichazmldquo 69 Diese (osteuropaumlische) Renaissance so Ėkonomcev an anderer Stelle sei ungleich bdquoerhabener geistiger und reinerldquo gewesen als bdquodie westeuropaumlische Renaissance mit ihrer krankhaften Disharmonie zwischen Glauben und Vernunft Geist und Leib die trotz allem gespieltem Optimismus ein Gefuumlhl der Aus-weglosigkeit und Verzweiflung hinterlaumlsstldquo Igumen Ioann Ėkonomcev bdquoVizantinizm Kirillo-Mefodievo nasledie i kreščenie Rusildquo in ders Pravoslavie Vizantija Rossija Sbornik statej Moskva 1992 7ndash22 hier 18

82 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 9 15

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 25

Sympathie zeigt Die byzantinischen Humanisten werden von ihm als kalte Ratio-nalisten dargestellt die in der Hoffnung auf militaumlrische Unterstuumltzung durch den katholischen Westen im Kampf gegen die Osmanen bereit gewesen seien den eigenen Glauben zu opfern83 Die Hesychasten hingegen haumltten so Prochorov den Westen realistischer eingeschaumltzt und auf Hilfe von Seiten der orthodoxen Staaten gehofft Im entscheidenden Moment haumltten nicht die bdquoWestler-Huma-nistenldquo (zapadniki-gumanisty) mit ihren bdquokalten Uumlberlegungenldquo (cholodnymi rassuždenijami) beim Volk Gehoumlr gefunden sondern die Hesychasten mit ihren bdquoheiszligen Gebetenldquo (gorjačimi molitvami)84

Mit seiner Apologie eines bdquowiederbelebtenldquo Mittelalters und einer bdquoOrtho-doxen Renaissanceldquo die alle Bereiche des politischen gesellschaftlichen und kul-turellen Lebens gepraumlgt habe und deren Kern der Hesychasmus gewesen sei stieszlig Prochorov bei seinen sowjetischen Kollegen auf Kritik So sah Apollon Kuzmin im Palamismus eine desintegrative Erscheinung weshalb er Prochorovs positive Bewertung der Hesychasten bei der bdquoWiedergeburtldquo der Rusʼ zuruumlckwies85 Aumlhn-lich argumentierte Gennadij Litavrin Die Palamiten seien diejenigen gewesen die eine unrealistische Einschaumltzung der politischen Lage gehabt haumltten Sie haumltten die Bedrohung durch die Tuumlrken nicht erkannt und stattdessen die Illusion verbreitet die Feinde zum Christentum bekehren und zu neuen Untertanen ma-chen zu koumlnnen Der Palamismus sei eine bdquoIdeologie der Demutldquo und habe eine bdquounheilvolle Rolle in der Geschichte des Kampfes gegen die tuumlrkische Aggres-sionldquo gespielt86 Michail Sjuzjumov sprach sogar vom bdquoasozialen Charakter des Palamismusldquo der den aufkommenden humanistischen Tendenzen gegenuumlber feindlich gewesen und zur bdquoIdeologie der Reaktionldquo in Byzanz geworden sei87 Auf Ablehnung stieszlig Prochorov auch im Ausland Valerij Lepachin kritisierte den Begriff bdquopolitischer Hesychasmusldquo als unzulaumlssige Verbindung weltlicher und geistlicher Sphaumlren damit verliere der Hesychasmus seinen wesentlichen Sinn-gehalt88 Fuumlr den in Berkeley lehrenden Philologen Viktor Živov schlieszliglich war

83 Ebd 12 84 Ebd 13 ndash An anderer Stelle betont Prochorov den Gegensatz zwischen den abstrakten

bdquoausgedachtenldquo philosophischen Konstruktionen des europaumlischen Idealismus und der ganzheitlichen kontemplativ-spekulativen Welterfahrung der griechisch-byzantinischen Philosophie Prochorov bdquoĖtničeskaja integracijaldquo 90f An Florenskijs Renaissance-Kritik (etwa in Ikonostas 1922) erinnert auch Prochorovs Verweis auf den euklidischen Raum und den Perspektivismus der humanistischen Weltwahrnehmung mit seiner Illusion der Unendlichkeit Prochorov bdquoIsichazmldquo 94

85 Apollon Kuzmin bdquoCerkovʼ i svetskaja vlastʼ v ėpochu Kulikovskoj bitvyldquo in Voprosy naučnogo ateizma 37 (1988) 90ndash99

86 Gennadij Litavrin bdquoVizantija v period graždanskoj vojny i dviženija Zilotov (1341ndash1355 gg)ldquo in Sergej Skazkin (Hg) Istorija Vizantii Bd 3 Moskva 1967 135ndash160 hier 158

87 Michail Sjuzjumov bdquoFilosofija i bogoslovieldquo in ebd 234ndash256 hier 248f 88 Valerij Lepachin bdquoUmnoe delanie (o soderžanie i granicach ponjatija sbquoisichazmlsquo)ldquo in

Vestnik Russkogo Christianskogo Dviženija 164 1992 5ndash32 hier 23

26 Michael Hagemeister

bdquopolitischer Hesychasmusldquo bdquokonzeptuelles Unkraut [sornjak] das man so schnell wie moumlglich ausrottenldquo solle89

Fast ein halbes Jahrhundert nach ihrer ersten Veroumlffentlichung wurde Pro-chorovs Konzept eines bdquopolitischen Hesychasmusldquo von seinem Schuumller Vladimir Petrunin wieder aufgegriffen und aktualisiert In der 2009 erschienenen Monogra-phie bdquoDer politische Hesychasmus und seine Traditionen in der Sozialkonzeption des Moskauer Patriarchatsldquo90 stellt Petrunin das sogenannte bdquoNichtgehorsamkeits-prinzipldquo (princip nepovinovenija) wie es in den von der Moskauer Bischofssyno-de im August 2000 verabschiedeten bdquoGrundlagen der Sozialkonzeption der Rus-sischen Orthodoxen Kircheldquo formuliert worden ist91 in eine Tradition die er bis auf die bdquopolitischen Hesychastenldquo im Byzanz des 14 und 15 Jahrhunderts zu-ruumlckzufuumlhren sucht Immer wieder zieht Petrunin Parallelen zwischen dem spaumlten Byzanz und dem postsowjetischen Russland Hatten die Byzantiner den Hesy-chasmus als Reaktion auf den Humanismus des Westens hervorgebracht so diene heute die Sozialkonzeption der Abwehr des westlichen Saumlkularismus Liberalis-mus und Kapitalismus Damals wie heute stuumlnden der kirchliche Heilsauftrag und die Verteidigung des Glaubens uumlber den Interessen des Staates selbst ndash wie das Beispiel von Byzanz zeige ndash um den Preis seines Untergangs Ebenso wie die byzantinischen Hesychasten den mit dem Westen kollaborierenden Herrschern die Gefolgschaft im Kampf gegen die Osmanen verweigert haumltten da sie die bdquoReinheit ihres Glaubensldquo eher bdquounter einem tuumlrkischen Turban als unter der lateinischen Tiaraldquo gewahrt sahen92 rufe die Sozialkonzeption die Kirche heute dazu auf der Staatsmacht den Gehorsam zu verweigern sollte diese bdquodie ortho-doxen Glaumlubigen zum Abfall von Christus und Seiner Kirche sowie zu suumlndhaften

89 Viktor Živov bdquoVidenija sveta i problemy russkogo srednevekovogo isichazmaldquo in Lidov

(Hg) Ierotopija 350ndash367 hier 363 359 90 Vladimir Petrunin Političeskij isichazm i ego tradicii v socialʼnoj koncepcii Moskovskogo

Patriarchata Sankt-Peterburg 2009 91 Osnovy socialrsquonoj koncepcii Russkoj Pravoslavnoj Cerkvi III5 lthttpwwwpatriarchia

rudbtext141422htmlgt Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo wird von den meisten Inter-preten als ein bemerkenswertes Umdenken in der Kirchenpolitik angesehen hatte doch die Russische Orthodoxe Kirche unter Patriarch Sergij in einer prekaumlren Lage 1927 Loyalitaumlt gegenuumlber dem Sowjetstaat gefordert Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo war auch eine wichtige Voraussetzung fuumlr die Vereinigung der Auslandskirche mit dem Moskauer Pa-triarchat Zur Sozialkonzeption insgesamt Vasilios N Makrides bdquoDie politische Aufgabe der Kirche Bemerkungen anhand der Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kir-cheldquo in Irene DingelChristiane Tietz (Hgg) Die politische Aufgabe von Religion Per-spektiven der drei monotheistischen Religionen Goumlttingen 2011 219ndash243

92 Petrunin Političeskij isichazm 66f 120 Es handelt sich um eine zeitgenoumlssische Losung Siehe Halina Evert-Kappesowa bdquoLa tiare ou le turbanldquo in Byzantinoslavica 14 (1953) 245ndash257 ndash Auch Aleksandr Nevskij (1220ndash1263) zog eine Verstaumlndigung mit den Mongo-len einer Union mit Rom vor die ihm Papst Innozenz IV im Jahr 1248 angeboten hatte und wandte sich stattdessen gegen die bdquoLateinerldquo Heutige Anti-Westler feiern den Heili-gen der Russischen Orthodoxen Kirche deshalb auch als bdquoersten Eurasierldquo

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 27

und der Seele abtraumlglichen Taten noumltigenldquo93 Die Sozialkonzeption hat fuumlr Petru-nin nur einen moumlglichen Sinn Falls Russlands politische Elite sich weiterhin dem liberalen Wertekanon des Westens verschreibe und Russlands bdquoEigenartldquo (samo-bytnostʼ) als bdquoorthodoxe Zivilisationldquo bestreite94 muumlsse die Kirche ndash wie einst in Byzanz ndash dem Staat die Loyalitaumlt aufkuumlndigen und das Volk zum Widerstand auf-rufen

Es ist ganz offensichtlich dass die Prozesse der Globalisierung und Saumlkularisierung eng miteinander verbunden sind So wie einst die byzantinischen Hesychasten ist heute die Russische Kirche mit der westlichen Zivilisation konfrontiert die nach der Weltherrschaft trachtet war fruumlher der Katholizismus deren Grundlage so ist es jetzt der saumlkulare Humanismus [hellip] Waumlhrend sie [die westliche Welt MH] damals fuumlr die Hesychasten mit Rom gleichgesetzt wurde so verkoumlrpert heute das kosmopolitische New York den Westen Indem sie Liberalismus und Saumlkularisie-rung abwehrt tritt die Kirche auch gegen die politischen und wirtschaftlichen Hegemoniebestrebungen des Westens auf und stellt so ihr Bestreben unter Beweis die zivilisatorische Eigenstaumlndigkeit Russlands wieder herzustellen Wie schon vor 600 Jahren im Byzantinischen Imperium so ist auch heute in Russland allein die Kirche ein ernstzunehmender und gut organisierter Gegner des Westens und seiner saumlkularen Werte [hellip] Sollte Russland weiter den Weg der Saumlkularisierung be-schreiten so koumlnnte damit fuumlr die Kirche der gefaumlhrliche Praumlzedenzfall geschaffen werden in dem sie von ihrem Recht Gebrauch machen muumlsste das Volk zu zivilem Ungehorsam aufzurufen95

In seinem Vorwort nannte Prochorov das Buch seines Schuumllers eine bdquoWarnung an unseren Staat unsere saumlkulare Gesellschaft an uns alleldquo96 Wie das spaumlte Byzanz unter dem bdquoDruck aus dem Westenldquo gestanden habe ndash dem die Herrscher und die bdquoHumanistenldquo schlieszliglich nachgegeben haumltten ndash so laufe auch das postkommu-nistische Russland Gefahr dem bdquoDruck des Liberalismus und der Globalisierungldquo nachzugeben Allein die Orthodoxe Kirche habe sich damals wie heute als bdquoFes-tungldquo erwiesen faumlhig diesem bdquozersetzenden Einflussldquo Widerstand zu leisten97

Petrunins Buch das mit dem Segen von Metropolit Ilarion (Grigorij Al-feev)98 erschienen war stieszlig bei westlichen Forschern auf Skepsis und Ableh-nung So kritisierte Kristina Stoumlckl die unhistorische Interpretation und forcierte Aktualisierung der philosophischen theologischen und politischen Kontroversen des 14 Jahrhunderts sowie die einseitige konservative Interpretation der Sozial-konzeption Hesychasmus werde in dem Kirchendokument ebenso wenig erwaumlhnt

93 Osnovy socialrsquonoj koncepcii 94 Petrunin Političeskij isichazm 81 95 Ebd 122f 96 Ebd 5 97 Ebd 98 Zu jener Zeit Bischof von Wien und Oumlsterreich heute Leiter des Auszligenamtes des Moskau-

er Patriarchats und scharfer Kritiker des bdquomilitanten Saumlkularismusldquo des Westens Siehe auch lthttpazbykaruxristianstvo-pered-vyzovom-voinstvuyushhego-sekulyariz ma-2gt

28 Michael Hagemeister

wie der Untergang von Byzanz99 Klaus Buchenau warf Petrunin vor er bdquoverfor-m[e] und ideologisier[e] die urspruumlnglichen Motive des hesychastischen Moumlnch-tums bis zur Unkenntlichkeitldquo100 Und Viktor Živov der bereits Prochorovs Kon-zept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo als bdquoUnkrautldquo bezeichnet hatte sah in Petru-nins Buch ein Beispiel dafuumlr wie dieses sich bdquospontan und schaumldlichldquo ausbreite Die von Petrunin konstruierte bdquophantastische Genealogie des politischen Hesy-chasmusldquo beruhe so Živov auf einer bdquoMischung aus Einseitigkeit und Unwissen-heitldquo Weder sei der bdquotuumlrkische Turbanldquo fuumlr den Patriarchen attraktiv gewesen noch sei am Widerstand gegen die Union irgendetwas spezifisch bdquoHesychasti-schesldquo Petrunin habe ein bdquoPhantomldquo geschaffen dessen angebliche Verbindung mit der Sozialkonzeption man nicht weiter zu verfolgen brauche101

bdquoNeobyzantismusldquo Das Dritte Rom ndash der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo

Eine eigenwillige Interpretation des Hesychasmus und seine Wendung gegen den Westen stammen von Aleksandr Dugin dem Fuumlhrer der bdquoeurasischenldquo Bewegung und einflussreichsten Vordenker der Neuen Rechten in Russland Der polyglotte und belesene Autodidakt der nie eine akademische Ausbildung genossen hat war Gruumlnder der Partei der Nationalbolschewisten Berater des Vorsitzenden der Du-ma und des Generalstabs sowie von 2008 bis 2014 Professor fuumlr Soziologie an der renommierten Moskauer Lomonosov-Universitaumlt und Direktor des dortigen bdquoZentrums fuumlr Konservatismusstudienldquo Seit Anfang der 1990er Jahre verbreitet er mit graphomanem Eifer seine politischen und bdquometaphysischenldquo Botschaften in einer inzwischen kaum noch uumlberschaubaren Zahl von Publikationen102 und Web-Artikeln in mehreren Sprachen sowie durch spektakulaumlre Auftritte in staats-nahen Medien103 99 Kristina Stoumlckl bdquoPolitical Hesychasm Vladimir Petruninrsquos Neo-Byzantine Interpretation

of the Social Doctrine of the Russian Orthodox Churchldquo in Studies in East European Thought 62 (2010) 125ndash133

100 Klaus Buchenau Auf russischen Spuren Orthodoxe Antiwestler in Serbien 1850ndash1945 Wiesbaden 2011 480 Anm 2

101 Živov bdquoVidenija svetaldquo 364f ndash Von der Kritik offenbar unbeeindruckt verschaumlrfte Petru-nin noch seine Position So sprach er 2012 in einem Vortrag uumlber die gesellschaftliche und politische Wirkung der hesychastischen Gebetspraxis Nach dem Fall von Byzanz sei das bdquoJesusgebet faktisch zu einem sbquopolitischen Gebetlsquoldquo geworden das auf die bdquoVerwandlung [preobraženie] der orthodoxen Oumlkumeneldquo ausgerichtet gewesen sei und das bdquoPhaumlnomen der Heiligen Rusrsquoldquo hervorgebracht habe lthttpsynergia-isarup=8604gt

102 Zuletzt in der bislang fuumlnf Baumlnde umfassenden Reihe bdquoNoomachijaldquo (2014ndash2015) einer hochambitioumlsen letztlich aber manichaumlisch-schematischen Beschreibung der bdquoSuche nach dem Logosldquo in den ndash von Dugin essenzialistisch aufgefassten ndash bdquoWeltkulturenldquo

103 Auch die Literatur zu Dugin ist kaum noch uumlberschaubar Siehe zB Alexander Houmlllwerth Das sakrale eurasische Imperium des Aleksandr Dugin Eine Diskursanalyse zum post-sowjetischen russischen Rechtsextremismus Stuttgart 2007 Stefan Wiederkehr Die eurasische Bewegung Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwi-schenkriegszeit und im postsowjetischen Russland Koumlln [ua] 2007 227ndash261 Anton

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 29

Dugin deutet den Hesychasmus im Rahmen des sogenannten bdquointegralen Traditionalismusldquo einer antimodernen Denkrichtung die im ersten Drittel des 20 Jahrhunderts in Frankreich und Italien entstand und in Reneacute Gueacutenon (1886ndash1951) und Julius Evola (1898ndash1974) ihre bekanntesten (und auch fuumlr Dugin wichtigsten) Vertreter hat104 Ihre Lehre besagt dass alle Religionen ungeachtet ihrer histori-schen und regionalen Auspraumlgungen in ihrem esoterischen nur dem Eingeweih-ten zugaumlnglichen Kern eine gemeinsame urspruumlngliche Wahrheit teilen und als philosophia perennis tradieren das Wissen um die Goumlttlichkeit und den Zugang zu ihr Dieses sakrale und initiatorische Wissen sei im Verlauf der westlichen Mo-derne insbesondere durch die Aufklaumlrung verlorengegangen in traditionellen Gesellschaften (China Indien islamische Welt) jedoch bewahrt geblieben105

Auch die Orthodoxie so Dugin habe im Gegensatz zu Katholizismus und Protestantismus bdquodie Treue zum esoterischen Kernldquo bewahrt naumlmlich in ihrer mystischen Unterstroumlmung dem Hesychasmus106 In der Kanonisierung des Gre-gorios Palamas durch die Ostkirche bei gleichzeitiger Verdammung des Humanis-ten Barlaam sieht Dugin das Bekenntnis zum bdquognostisch-realistischen Geist der orthodoxen Esoterikldquo Ganz im Sinn des Traditionalismus deutet er die psycho-physische Uumlbung der Hesychasten das bdquogeistige Tunldquo als Verfahren der bdquoInitia-tionldquo und das Endziel der bdquoVerklaumlrungldquo und bdquoVergoumlttlichungldquo als bdquoalchemistische Verwandlung des Leibesldquo (alchimičeskoe preobraženie tela) Dadurch wuumlrden der bdquoDualismus von Geist und Materie Leib und Seeleldquo sowie die bdquoGrenzen der Individualitaumltldquo ndash charakteristisch fuumlr den bdquorein exoterischen Mystizismusldquo des Westens ndash aufgehoben107 Die bdquoTradition der hesychastischen Esoterikldquo sei die

Shekhovtsov bdquoThe Palingenetic Thrust of Russian Neo-Eurasianism Ideas of Rebirth in Aleksandr Duginrsquos Worldviewldquo in Totalitarian Movements and Political Religions 9 (2008) 491ndash506 Mark Sedgwick bdquoOccult Dissident Culture The Case of Aleksandr Du-ginldquo in Birgit Menzel [ua] (Hgg) The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimen-sions MuumlnchenBerlin 2012 273ndash292 Schmid Technologien der Seele 210ndash220

104 Aleksandr Dugin Filosofija tradicionalizma Moskva 2002 Zum Traditionalismus siehe das Standardwerk von Mark Sedgwick Against the Modern World Traditionalism and the Secret Intellectual History of the Twentieth Century OxfordNew York 2004 zu Dugin 221ndash237 Vgl auch Christopher DL Johnson The Globalization of the Jesus Prayer Con-testing Contemplation London New York 2010 70ndash73

105 Aumlhnliche Gedanken entwickelte Pavel Florenskij bereits 19081909 in seinem Vortrag bdquoObščečelovečeskie korni idealizmaldquo in dem er die bdquoEsoterikldquo der Philosophie Platons und seiner Nachfolger in der bdquoallgemeinmenschlichenldquo mystisch-magischen Weltauffas-sung der bdquoVolksseeleldquo wurzeln laumlsst

106 Das Folgende nach Aleksandr Dugin bdquoOboženie preestestvennejšeeldquo in Milyj angel 1 1991 56ndash59

107 Das Konzept der bdquoInitiationldquo und die Unterscheidung von bdquoesoterischldquo und bdquoexoterischldquo sind zentral fuumlr die Anhaumlnger des Traditionalismus siehe Sedgwick Against the Modern World 265 ndash Als Mitglied des okkultistischen und faschistischen Južinskij-Kreises machte Dugin in Moskaus bdquomystischem Untergrundldquo in den 1980er Jahren selbst Entgrenzugser-fahrungen mit Hilfe sexualmagischer Praktiken und bewusstseinserweiternder Drogen Bei einem Teil der orthodoxen Glaumlubigen stoumlszligt seine Esoterik denn auch auf Misstrauen und

30 Michael Hagemeister

bdquoSeele der russischen Orthodoxieldquo und habe in Serafim von Sarov ihren bdquoletzten leuchtendsten Vertreterldquo gefunden

Der Hesychasmus gehoumlre zum traditionellen Erbe von Byzanz das Russ-land angetreten habe als es zum Dritten Rom und zum Zentrum der orthodoxen Welt geworden sei bdquoWir sindldquo so Dugin bdquobyzantinisch in unserer Seele unseren Wurzeln und in unserer Identitaumltldquo108

Unser stabilstes Fundament ist Byzanz [hellip] Russland ist Byzanz [hellip] Unsere For-mel lautet Der Westen ist das Boumlse Byzanz das Gute Alles Schlechte das uumlber Byzanz geschrieben wurde ist eine Luumlge Das sind lediglich Winkelzuumlge im ideolo-gischen Kampf von Seiten des Westens [hellip] Jeder Russe muss wissen Byzanz ist das reine Gute Jeder der etwas anderes behauptet ist ein Feind [hellip] Wer Byzanz kritisiert ist ein Feind des russischen Volkes Das muss unser ehernes Prinzip sein [hellip] Byzanz ist der absolute Orientierungspunkt des russischen Projekts109

Damit sind Russlands Ort und Mission in der bdquohistoriosophischenldquo Deutung des Weltgeschehens bestimmt Nach Dugin wird die Geschichte der Menschheit be-herrscht vom bdquookkulten planetarischen Ringenldquo zweier antagonistischer Maumlchte dem bdquogroszligen Krieg der Kontinenteldquo Land gegen Meer Behemoth gegen Levia-than die organischen bodenstaumlndigen und traditionalistischen bdquoTellurokratienldquo des eurasischen Ostens gegen die wurzel- und seelenlosen materialistischen bdquoTha-lassokratienldquo des angloamerikanischen Westens das apokalyptische Tier aus dem Meer (Offb 13 1-10)110 Die USA als bdquoQuintessenz des Westensldquo und New York als moderne Hure Babylon (Offb 17 und 18) sind das Reich des Antichrist eine chimaumlrisch-antiorganische transplantierte Zivilisation die keine sakrale Tradi-tion besitze ihre Selbsterhebung zu bdquoGottes neuem Israelldquo und bdquoNeuem Zionldquo ndash gemaumlszlig der anglo-amerikanischen Interpretation der Substitutionslehre ndash deutet Dugin als besonders perfiden Taumluschungsversuch des bdquowestlichen Antichristldquo Das Jahr der Entdeckung Amerikas (1492 ist nach der altrussisch-byzantinischen

offene Ablehnung Fuumlr den Sektenexperten des Moskauer Patriarchats ist Dugin ein bdquoge-faumlhrlicher Feindldquo der die bdquoOrthodoxie in Kabbalistik umzuschmelzenldquo versuche Andrej Kuraev Cerkovrsquo v mire ljudej Moskva 2006 142

108 Aleksandr Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Tradition Duginrsquos Guidelineldquo lthttpswwwyoutubecomwatchv=m0RIa61eZDggt

109 Aleksandr Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo in ders Russkaja Veščrsquo Očerki nacionalrsquonoj filosofii Bd 1 Moskva 2001 69ndash76 hier 70ndash72 (Hervorhebungen im Original) Der Be-griff bdquoByzantismusldquo (vizantizm) ndash im Unterschied zum negativ konnotierten bdquoByzantinis-musldquo ndash als Bezeichnung eines dem europaumlischen entgegengesetzten Kulturtypus der auf den Prinzipien von Orthodoxie und Selbstherrschaft beruht geht auf den konservativen Philosophen Konstantin Leontrsquoev (1831ndash1891) und sein Buch Vizantizm i slavjanstvo (1875) zuruumlck

110 Auch fuumlr den von Dugin verehrten Heidegger waren die Seemaumlchte Groszligbritannien und Amerika nicht Teil der abendlaumlndischen Tradition sondern im Gegensatz zum restlichen Europa wurzellos und sinnleer Der Antagonismus von Land und Meer die kategorische Unterscheidung von Freund und Feind sowie das Konzept des Katechon gehen auf Carl Schmitt zuruumlck als dessen Schuumller Dugin sich bezeichnet Siehe auch Fn 41

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 31

Weltaumlra das Jahr 7000 nach dem chiliadischen Weltwochenschema also der sieb-te Tag der Schoumlpfung) verweise ebenso auf den Endzeitcharakter der bdquoNeuen Weltldquo wie die bdquosakrale Geographieldquo nach der das Paradies im Osten die Houmllle aber das bdquoLand des Todesldquo im Westen zu suchen seien111

Dem Antichrist entgegen stehe seit jeher der Katechon dessen bdquoletzter Hortldquo bis ans Ende der Zeit die Heilige Rusrsquo das Dritte Rom sei112 In der petrini-schen Epoche als die Hauptstadt in die bdquonoumlrdlichen Suumlmpfeldquo in die bdquoGespenster-stadtldquo Petersburg verlegt und das Patriarchat abgeschafft wurde haumltten allein die Altglaumlubigen den Geist von Byzanz den Katechon bewahrt zweihundert Jahre lang sei der Weg frei gewesen fuumlr das zerstoumlrerische Wirken des Antichrist Erst die sowjetische Periode habe eine bdquomystische Ruumlckkehr zum Byzantismusldquo be-deutet indem die Bolschewiki das heilige Moskau wieder zur Hauptstadt erklaumlr-ten das Patriarchat wiederherstellten die Ausbeuter als Klasse vernichteten und dem Westen auf allen Gebieten Widerstand boten Im bdquoroten Byzantismusldquo der Dritten Internationale sei der Katechon zuruumlckgekehrt113

Um seine Mission zur Erloumlsung der Menschheit auch kuumlnftig zu erfuumlllen muumlsse das Dritte Rom nach dem Zerfall der Sowjetunion114 nunmehr ein groszligkon-tinentales sakral fundiertes bdquoEurasisches Imperiumldquo errichten gegen den Erz-feind die materialistische universalistische alles nivellierende Zivilisation des Westens als der Verkoumlrperung des bdquoweltweiten Boumlsenldquo (mirovoe zlo) gegen Libe-ralismus Individualismus Globalismus Egalitarismus sowie die bdquomondialisti-scheldquo Konzeption der Menschenrechte115 Verbuumlndete im bevorstehenden apoka-lyptischen bdquoEndkampfldquo (von Dugin stets deutsch geschrieben) werden all jene sein die den Bezug zum bdquoSakralenldquo noch nicht verloren haben russische Altglaumlu-bige ultraorthodoxe antizionistische Juden europaumlische Traditionalisten sowie jene bdquoanti-atlantischenldquo islamistischen Fundamentalisten die in den USA den Dajjacircl den falschen Messias und Antichrist erkennen gegen den die Retter-gestalt des Mahdicirc zu Felde ziehen wird116 111 Aleksandr Dugin Absoljutnaja Rodina Puti Absoljuta Metafizika Blagoj Vesti Misterii

Evrazii Moskva 1999 645ndash670 112 Ebd 378ndash395 493ndash521 113 Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo 74ndash76 Siehe auch ders bdquoKatechon i revoljucijaldquo in ders

Tampliery proletariata Nacional-bolrsquoševizm i iniciacija Moskva 1997 52ndash59 ndash Die mes-sianische Identifizierung des Dritten Rom mit der Dritten Internationale reicht bis ins Gruumlndungsjahr der Komintern (1919) zuruumlck Beide so der slawophile Philosoph und An-haumlnger des imjaslavie Valerian Muravrsquoev (1885ndash1930) in einem Brief vom 6 Januar 1920 an Lev Trockij seien Ausdruck der Suche des russischen Volkes und der Intelligencija nach einem Reich der Wahrheit und Gerechtigkeit Valerian Muravrsquoev Sočinenija Bd 2 Moskva 2011 352f Weitere Belege bei Emanuel Sarkisyanz Russland und der Messianis-mus des Orients Tuumlbingen 1955 196 Mikhail Agursky Third Rome National Bolshevism in the USSR Boulder Co 1987

114 Damals sah ein Journalist bdquoauf den Ruinen des Imperiumsldquo das Dritte Rom in Gefahr zu einem Land der Dritten Welt zu werden Andrej Fadin bdquoTretij Rim v tretrsquoem mire Razmy-šlenija na ruinach imperiildquo in Nezavisimaja gazeta 1291991

115 [Aleksandr Dugin] bdquoLibo-my libo-ničtoldquo in Ėlementy 8 19961997 1ndash4 hier 2 116 [Aleksandr Dugin] bdquoIdeologija Mirovogo Pravitelrsquostvaldquo in Ėlementy 2 1992 1f

32 Michael Hagemeister

Das Dritte Rom als Zentrum des eurasischen bdquoEuro-Sowjetischen Imperiumsldquo Titelbild der von Aleksandr Dugin herausgegebenen Zeitschrift bdquoElemente Eurasische Rundschauldquo (1992) Dugins Werk mit seiner provokanten Mischung esoterischer antimoderner und antiwestlicher Motive findet besonders unter jungen Intellektuellen Anklang und Nachahmer so etwa bei dem promovierten Philosophen und selbstproklamierten bdquoorthodoxen Metaphysikerldquo Arkadij Maler einem vehementen Propagandisten einer bdquopolitischen Orthodoxieldquo (političeskoe Pravoslavie) und fuumlhrenden Ideolo-gen der bdquoneobyzantinischenldquo Doktrin Obwohl sich Maler von Dugin distan-ziert117 beschwoumlrt auch er die eschatologische bdquogeistige Mission des Dritten Romldquo die es von Byzanz geerbt habe und die in seiner bdquozentralen katechontischen Rolleldquo bestehe dem Kampf gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo des bdquogottlosen Wes-tensldquo118 Russische Politik koumlnne deshalb nicht anders als imperial sein und muumlsse ihren Einfluss auf den gesamten Planeten ausdehnen Wie Dugin sieht auch Maler die Bolschewiki in dieser Tradition als sie Moskau zur Hauptstadt des bdquoRoten

117 In den spaumlten 1990er Jahren gehoumlrte Maler der vaumlterlicherseits juumldischer Abstammung ist

zusammen mit Dugin und Ėduard Limonov zur Fuumlhrungsriege der Nationalbolschewisti-schen Partei und schrieb fuumlr die Parteizeitung Limonka sich selbst charakterisierte er als bdquorotbraunen Zionistenldquo Nach seiner Konversion zur Orthodoxie trennte er sich 1999 von Dugin und kritisierte dessen esoterischen Traditionalismus aus einer ultraorthodoxen Posi-tion Dugin wiederum warf Maler vor ihn zu plagiieren

118 Arkadij Maler Duchovnaja missija Tretrsquoego Rima Moskva 2005 bes 134ndash136 170ndash206 Siehe auch ders bdquoIdeologija Vizantizmaldquo in Severnij Katechon 1 (2005) 7ndash49 bdquoNeovi-zantizm kak novyj bolrsquošoj stilrsquoldquo in Aleksej Nilogov (Hg) Kto segodnja delaet filosofiju v Rossii Moskva 2007 110ndash124

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 33

Imperiumsldquo machten und dieses zur bdquoabsoluten Antithese des Westensldquo erklaumlrten zum bdquoTraumlger der planetarischen Mission der Befreiung der Welt aus den sbquoFesseln des Kapitalslsquoldquo119 Das Dritte Rom sei zeitweise in die Dritte Internationale trans-formiert worden ohne jedoch seine Mission als Katechon als aufhaltende Macht gegen das Reich des Boumlsen und Ausgangspunkt zur Errettung der Welt aufzuge-ben Die bdquoletzte Etappeldquo im Kampf gegen den Antichrist werde so Maler der bdquoeschatologische Krieg des Dritten Rom gegen das Dritte Karthagoldquo den bdquoAnti-katechonldquo sein die bdquoanglo-amerikanische [] atlantische Zivilisationldquo120 Zur Propagierung der katechontischen Mission Russlands gruumlndete Maler 1999 am Institut fuumlr Philosophie der Akademie der Wissenschaften in Moskau einen bdquoBy-zantistischen Klub Katechonldquo (Vizantistskij Klub Katechon) und 2005 das bdquoPhi-losophisch-politische Zentrum sbquoNoumlrdlicher Katechonlsquoldquo das einen gleichnamigen Almanach (Severnyj Katechon) herausgibt121

Apokalyptischer Ausblick

Die Formel vom Dritten Rom und die Figur des Katechon des Aufhalters des bdquoweltweiten Boumlsenldquo sind zu Markenzeichen russischer Anti-Westler und Ver-schwoumlrungstheoretiker und ihres schrillen Szenariums eines globalen apokalyp-tischen bdquoEndkampfesldquo gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo geworden122 Unter dem Titel bdquoDie russische Doktrin Die Staatsideologie der Epoche Putinsldquo verfasste in den Jahren 2005 und 2006 ein Kollektiv nationalpatriotischer Autoren ndash unter ih-nen der bdquoByzantistldquo Arkadij Maler ndash ein uumlber 1000 Seiten langes ultrakonservati-ves und antiwestliches Manifest das auch die Unterstuumltzung hoher kirchlicher Wuumlrdentraumlger fand123 In ihrem Entwurf einer bdquoorganischen weltanschaulichen Plattformldquo fuumlr das kuumlnftige Russland behandeln die Autoren ausfuumlhrlich die bdquohis-toriosophischeldquo Konzeption vom Dritten Rom und seine Mission als Katechon gegen das bdquoHeidentumldquo des Westens124 Gefordert wird die positive Identifikation

119 Maler Duchovnaja missija 182f 185 120 Ebd 177 ndash Als Mittel im ideologischen Kampf gegen den saumlkularen Westen fordert Maler

in Analogie zur katholischen Gegenreformation eine orthodoxe konservative bdquoGegenauf-klaumlrungldquo (Kontrprosveščenie) lthttpwwwkatehonruhtmltoppolitologiaideaotkritije _polit_pravoslavijahtmgt

121 Siehe die Website lthttpwwwkatehonrugt 122 Siehe zB Galina A Morozova Tretij Rim protiv novogo mirovogo porjadka Moskva

2009 Die Formel von Dritten Rom hat laumlngst auch Schriftsteller und Maler inspiriert und scheint auch werbewirksam zu sein bdquoDrittes Romldquo nennt sich ein Verlag ein Videospiel eine Bank ein Reisebuumlro und sogar ein Kasino in Jalta Ein Schoumlnheitswettbewerb in Mos-kau vergibt alljaumlhrlich den Titel einer bdquoMiss Drittes Romldquo Judith E Kalb Russiarsquos Rome Imperial Visions Messianic Dreams 1890ndash1940 Madison Wisconsin 2008 198f Zum Katechon siehe Maria Engstroumlm bdquoContemporary Russian Messianism and New Russian Foreign Policyldquo in Contemporary Security Policy 35 (2014) 3 356ndash379

123 Russkaja doktrina Gosudarstvennaja ideologija ėpochi Putina Moskva 2016 124 Ebd 68ndash72 116ndash120 und passim

34 Michael Hagemeister

mit der Geschichte Russlands und seinen Lichtgestalten dem Heiligen Serafim von Sarov dem bdquoeschatologischen Fuumlhrer des russischen Volkes am Ende der Zeitenldquo der bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo und Stalin der dem paulinischen Kate-chon gleich die bdquoGesetzlosigkeitldquo (bezzakonie) bekaumlmpft und das bdquoFundament fuumlr eine groszlige Zukunftldquo gelegt habe125

bdquoKatechonldquo nennt sich auch ein prominent besetzter Think tank den der Oligarch und Berater Putins Konstantin Malofeev im Jahr 2015 gegruumlndet hat126 Der Milliardaumlr der sein Vermoumlgen mit einer Investmentfirma auf den Cayman Inseln gemacht hat bezeichnet sich selbst als bdquoorthodoxen Monarchistenldquo127 Er unterstuumltzt die Separatisten in der Ostukraine und unterhaumllt vielfaumlltige Verbindun-gen zu europaumlischen Rechtspopulisten wie dem Front National der FPOuml Syriza und der Lega Nord Neben dem Forum bdquoKatechonldquo betreibt Malofeev auch einen Fernsehsender mit dem programmatischen Namen bdquoZargradldquo128 (Motto bdquoDas Licht Christi erleuchtet alleldquo) dessen Chefkommentator niemand anderes ist als Aleksandr Dugin129

bdquoKatechonldquo und bdquoZargradldquo propagieren den Kampf gegen die westliche Moderne mit Bezug auf das byzantinische Erbe Russlands Im November 2014 fand in der Moskauer Manege eine Konferenz bdquoMoskau ndash das Dritte Romldquo statt130 An ihr nahmen auszliger Dugin und Malofeev auch Archimandrit Tichon und Nata-lrsquoja Naročnickaja teil eine hochrangige Diplomatin Mitglied des Izborsker Klubs und Leiterin des Pariser bdquoInstituts fuumlr Demokratie und Kooperationldquo das die oumlf-fentliche Meinung im Westen im Sinne des Kremls beeinflussen soll Tichons Film bdquoDie Lehre von Byzanzldquo sei so Naročnickaja auch eine Warnung an den Westen der seine christlichen Werte verraten habe weshalb er den glaubens-festen Migranten und ihrer Verachtung hilflos ausgeliefert sei131

Im Oktober 2009 wurde Tichons Film in Athen vor ausverkauftem Saal aufgefuumlhrt Unter denen die dem Drehbuchautor Beifall spendeten war der Philo-soph und Theologe Christos Yannaras einer der Hauptvertreter der Neoorthodo-xie und scharfer Kritiker des Westens Wie ihre russischen Gesinnungsgenossen

125 Ebd 130f 153 142ndash145 126 Mit einem Auftritt im Internet in 9 Sprachen Siehe die deutsche Version unter lthttp

katehoncomdewer-sind-wirgt 127 lthttpsdewikipediaorgwikiKonstantin_Walerjewitsch_Malofejewgt 128 Carrsquograd ist der altrussische Name fuumlr Konstantinopel 129 Auch Dugin unterhaumllt seit mehr als 25 Jahren Kontakte zu ultrakonservativen traditiona-

listischen und faschistischen Gesinnungsgenossen in Westeuropa Siehe Vladimir Ivanov Alexander Dugin und die rechtsextremen Netzwerke Fakten und Hypothesen zu den inter-nationalen Verflechtungen der russischen Neuen Rechten Stuttgart 2007

130 lthttpwwwpravoslavieru75070htmlgt 131 lthttpwwwpravoslavieru7414htmlgt ndash Fuumlr Metropolit Ilarion (Alfeev) der sich dabei

auf Dugin beruft verwandeln sich die Laumlnder Westeuropas bereits in die bdquoSphaumlre des Anti-christldquo lthttpwwwpatriarchiarudbtext3065216htmlgt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 35

verherrlichen auch die griechischen Neoorthodoxen die byzantinische Vergan-genheit und sehen in der modernen saumlkularen Gesellschaft eine Bedrohung ihrer kulturellen Identitaumlt132 Gemeinsam suchen sie der Globalisierung mit einer bdquoby-zantinischen Internationaleldquo als bdquoorthodoxer Oumlkumeneldquo entgegenzuwirken einer letztlich sakral verstandenen Gemeinschaft deren Einfluss indes weit uumlber die kirchliche Sphaumlre hinausreichen und eine transnationale Vereinigung der ortho-doxen Welt von Serbien uumlber Syrien bis Georgien und Armenien unter Fuumlhrung Moskaus schaffen soll133 Als wichtiger symbolischer Schritt auf diesem Weg wurde der Besuch von Praumlsident Putin und Patriarch Kirill des Heiligen Berges Athos einer traditionellen Hochburg antiwestlicher Opposition im Mai 2016 ge-feiert Das weltliche und das geistliche Oberhaupt Russlands ndash die bdquoSymphonia der Maumlchteldquo ndash zeigten damit so Aleksandr Dugin ihr Bekenntnis zu Byzanz und seiner Rolle als Katechon Damit anerkenne bdquounsere Rusrsquo ihre historische Bestim-mung Wir sind bereit fuumlr die Endzeitldquo134

132 Ausfuumlhrlich dazu Daniel P Payne The Revival of Political Hesychasm in Contemporary

Orthodox Thought The Political Hesychasm of John Romanides and Christos Yannaras Lanham [ua] 2011 Siehe auch Vasilios N Makrides bdquoByzantium in Contemporary Greece The Neo-Orthodox Current of Ideasldquo in David RicksPaul Magdalino (Hgg) Byzantium and the Modern Greek Identity Aldershot 1998 141ndash153 Zum griechischen Neobyzantismus unter russischem Einfluss Aleksey Kamenskikh bdquoThe Image of the Second Rome through the Prism of the Thirdrdquo in Teresa Obolevich [ua] (Hgg) Russian Thought in Europe Reception Polemics Development Krakoacutew 2013 13ndash22 ndash Antimo-derne und antiwestliche Stroumlmungen in den vom orthodoxen Christentum gepraumlgten Kultu-ren haben der Religionswissenschaftler Makrides und der Slavist Uffelmann vor einigen Jahren als Desiderat der Forschung benannt Vasilios N MakridesDirk Uffelmann bdquoStudying Eastern Orthodox Anti-Westernism The Need for a Comparative Research Agendaldquo in Jonathan SuttonWil van den Bercken (Hgg) Orthodox Christianity and Contemporary Europe Leuven [ua] 2003 87ndash120 Seitdem haben Makrides und die Politikwissenschaftlerin Stoumlckl eine Reihe einschlaumlgiger Arbeiten vorgelegt in denen or-thodoxe Alternativen zu westlichen philosophischen und politischen Konzepten untersucht werden Vasilios N Makrides bdquoOrthodoxes Cristentum und Moderne ndash Inkompatibilitaumlt oder langfristige Anpassungldquo in Una Sancta 2011 1 15ndash30 ders bdquoOumlstliches orthodo-xes Christentum und Saumlkularitaumlt Ein Vergleich mit dem lateinischen Christentumldquo in Transit 47 (2015) 59ndash75 Kristina Stoumlckl bdquoModernity and its Critique in Twentieth Cen-tury Russian Orthodox Thoughtldquo in Studies in East European Thought 58 (2006) 243ndash269 dies Community after Totalitarianism The Russian Orthodox Intellectual Tradition and the Philosophical Discourse of Political Modernity Frankfurt aM [ua] 2008

133 Dazu gehoumlrt auch die Verwirklichung des jahrhundertealten Traums der Wiedererrichtung des Kreuzes auf der Hagia Sophia Siehe Egor Cholmogorov Russkij proekt restavracija buduščego Moskva 2005 283 Der Verfasser Mitglied des Expertenteams des Izborsker Klubs ist Begruumlnder der Doktrin der bdquoAtomaren Orthodoxieldquo siehe Fn 74

134 Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Traditionldquo

ZUM AUTOR

Michael Hagemeister geb 1951 in EllwangenJagst Studium der Slavistik Ge-schichte Germanistik und Philosophie in Basel und MarburgLahn Promotion mit einer Arbeit uumlber den russischen Philosophen Nikolaj Fedorov Wissenschaft-licher Mitarbeiter am Slawischen Seminar in Marburg Gastprofessor am Seminar fuumlr Komparatistik der Universitaumlt Innsbruck Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lotman-Institut fuumlr russische und sowjetische Kultur der Ruhr-Universitaumlt Bo-chum am Lehrstuhl fuumlr Geschichte Osteuropas der Europa-Universitaumlt Viadrina Frankfurt (Oder) an den Historischen Seminaren der Universitaumlten Basel Duumlssel-dorf und Bochum Vertretung der Professuren fuumlr Geschichte Osteuropas an der Ludwig-Maximilians Universitaumlt Muumlnchen und an der Europa-Universitaumlt Frank-furt (Oder)

Forschungen zur russischen Philosophie und Geistesgeschichte zum utopischen und apokalyptischen Denken in Russland zum russischen Rechtsextremismus und Antisemitismus sowie insbesondere zu den Protokollen der Weisen von Zion und ihrem Herausgeber Sergej Nilus Publikationen ua Die Neue Menschheit Biopolitische Utopien in Russland (hg mit Boris Groys) Frankfurt aM 2005 The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimensions (hg mit Birgit Menzel und Bernice Rosenthal) Muumlnchen 2012 Die Fiktion von der juumldischen Weltver-schwoumlrung Zu Text und Kontext der bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo (hg mit Eva Horn) Goumlttingen 2012 Die bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo vor Gericht Der Berner Prozess und die bdquoantisemitische Internationaleldquo in der Zwischen-kriegszeit Chronik Dokumente und Kommentare Zuumlrich (im Druck)

ERFURTER VORTRAumlGE ZUR KULTURGESCHICHTE DES ORTHODOXEN CHRISTENTUMS Reihenherausgeber Vasilios N Makrides

Heft 1 Thomas Bremer Konfrontation statt Oumlkumene Zur kirchlichen Situation in der Ukraine Erfurt 2001

Heft 2 Gerhard Podskalsky Zur Hermeneutik des theologischen Ost-West-

Gespraumlchs in historischer Perspektive Erfurt 2002 Heft 3 Karl Christian Felmy Warum und zu welchem Behufe treiben wir

Ostkirchenkunde Erfurt 2003 Heft 4 Wassilios Klein bdquoTatarenjoch ndash татарское игоldquo Beobachtungen zur

Wahrnehmung des Islam im eurasischen Raum Erfurt 2005 Heft 5 Stamatios D Gerogiorgakis Zeitphilosophie im Mittelalter Byzantinische

und lateinische Vorstellungen Erfurt 2006 Heft 6 Heinz Ohme Das Oumlkumenische Patriarchat von Konstantinopel und die

tuumlrkische Religionspolitik Erfurt 2007 Heft 7 Alexander Agadjanian Russian Orthodox Vision of Human Rights Recent

Documents and Their Significance Erfurt 2008 Heft 8 Christos Yannaras Wem gehoumlrt die griechische Antike Erfurt 2009 Heft 9 Joachim Willems Religions- und Ethikunterricht in Russland ndash Was

wollen Staat und Kirche Zur Einfuumlhrung des neuen Schulfaches bdquoGrundlagen der religioumlsen Kulturen und der weltlichen Ethikldquo Erfurt 2010

Heft 10 Chris Hann Eastern Christianity and Western Social Theory Erfurt 2011 Heft 11 Jennifer Wasmuth Akademische Theologie im zaristischen Russland in

ihrer Bedeutung fuumlr die neuere orthodoxe Theologie Erfurt 2012 Heft 12 Anna Briskina-Muumlller Auf der Suche nach der bdquoHesychialdquo Paisij

Veličkovskij (1722ndash1794) und sein Leben fuumlr die bdquoPhilokalieldquo Erfurt 2014

Heft 13 Vladimir Cvetković From ldquoMerciful Angelrdquo to ldquoFortress Europerdquo The

Perception of Europe and the West in Contemporary Serbian Orthodoxy Erfurt 2015

Heft 14 Stefan G Reichelt Lebenslinien Nikolaj A Berdjaev (1874ndash1948) und Sergij N Bulgakov (1871ndash1944) im Westen ndash Eine Wuumlrdigung Erfurt 2015

Heft 15 Michael Hagemeister Der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo ndash bdquoNeobyzantismusldquo

und bdquopolitischer Hesychasmusldquo im postsowjetischen Russland Erfurt 2016

Alle Hefte der vorliegenden Schriftenreihe koumlnnen unter folgendem Link kostenlos heruntergeladen werden URL httpswwwuni-erfurtdereligionswissenschaftprofessur-orthodoxes-christentumveroeffentlichungenerfurter-vortraege-zur-kulturgeschichte-des-orthodoxen-christentums

Page 13: Michael Hagemeister FINAL - uni-erfurt.de · doziert Tichon, während er das antike Kons tantinopel computeranimiert auferste- hen lässt. Das prosperierende Impe rium erregte freilich

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 13

russische bdquoGottestraumlgervolkldquo (narod-Bogonosec) uumlbergegangen die Orthodoxe Kirche wurde zum bdquoNeuen Israelldquo ihre heiligen Staumltten zum bdquoNeuen Jerusa-lemldquo38 Wenn Paulus davon spricht dass am Ende bdquoganz Israel errettetldquo werde (Roumlm 11 26) so sei damit die Kirche Jesu Christi gemeint zu der die Juden sich bekehren muumlssten39

bdquoMoskau ndash Drittes Romldquo Ikone (2011) Maler unbekannt lthttpwwwruniversrugalgallery-allphpSECTION_ID=7641ampELEMENT_ID=462777gt

Russlands Herrscher fungiert mithin als Katechon als jene hemmende aufhalten-de Macht von der im zweiten Brief des (Pseudo-)Paulus an die Thessalonicher die Rede ist

38 Siehe zB Michail Nazarov Voždju Tretrsquoego Rima K poznaniju russkoj idei v apokalipsi-

českoe vremja Moskva 2005 933f 945 ndash Fuumlr die Anhaumlnger der angloamerikanischen bdquoChristian Identityldquo sind hingegen die bdquoArierldquo bdquoGottes auserwaumlhltes Volkldquo und die Verei-nigten Staaten das bdquoNEW JerUSAlemldquo Martin Durham White Rage The Extreme-Right and American Politics London 2007 67

39 Eine fruumlhe heute wieder viel zitierte wertende Entgegensetzung von Judentum und (russi-schem) Christentum findet sich bereits in der um die Mitte des 11 Jahrhunderts verfassten bdquoRede uumlber das Gesetz und die Gnadeldquo (Slovo o zakone i blagodati) des Metropoliten Ila-rion

14 Michael Hagemeister

Zuerst muss der Abfall von Gott kommen und der Mensch der Gesetzlosigkeit offenbart werden der Sohn des Verderbens der Widersacher der sich erhebt uumlber alles was Gott heiszligt oder Heiligtum so dass er sich sogar in den Tempel Gottes setzt und sich fuumlr Gott ausgibt [] Denn das Geheimnis der Gesetzlosigkeit [τὸ μυστήριον τῆς ἀνομίας]40 ist schon wirksam nur muss erst der beseitigt werden der es bis jetzt noch aufhaumllt [ὁ κατέχων] und dann wird der Gesetzlose offenbart werden [hellip] (2 Thess 23-4 und 7-8)

Die durch bdquofeigen Verratldquo erzwungene Abdankung des Zaren im Maumlrz 1917 und seine Ermordung im Juli 1918 wurden denn auch als Erfuumlllung jener Prophetie verstanden dh als Beseitigung des Katechon damit der Weg frei werde fuumlr die Herrschaft des Antichrist41 Der Regizid wurde in dieser Sicht zu einem bdquoapoka-lyptischen Verbrechenldquo langfristig geplant und auf blutig-rituelle Weise ausge-fuumlhrt von den Agenten des Antichrist den Juden Fuumlr diese so der Historiker Mi-chail Nazarov war der von Gott erwaumlhlte und gesalbte apostelgleiche Herrscher des Dritten Rom der bdquokatechontischen orthodoxen Machtldquo objektiv der groumlszligte metaphysische Feind und seine Beseitigung mithin eine Tat bdquovon houmlchster mys-tisch-religioumlser Bedeutungldquo42

Viele Glaumlubige sind indes uumlberzeugt dass die Stelle des Katechon nicht vakant sei sondern von der Gottesmutter uumlbernommen wurde Als Beweis dafuumlr dient die wundersame Auffindung einer Ikone im Dorf Kolomenskoe bei Moskau an jenem Tag an dem Nikolaus II dem Thron entsagte43 Die Ikone zeigt die

40 Luther uumlbersetzt bdquoGeheimnis der Bosheitldquo in der mittelalterlichen Theologie als der Anti-

christ gedeutet der nach der Offenbarung des Johannes am Ende der Zeiten erscheint 41 Im Russischen wird die Rolle des bdquoSelbstherrschersldquo (samoderžec) als bdquoAufhalter Kate-

chonldquo (uderživajuščij) auch etymologisch deutlich russ deržatrsquo entspricht griech κατέ-χειν ndash Die mysterioumlse Figur des Katechon (im griechischen Text einmal Neutrum einmal Maskulinum) die das Endgericht und den Anbruch des Reiches Gottes verzoumlgert bietet sich ebenso wie der Antichrist und seine Trabanten seit jeher zu immer neuen Identifikatio-nen mit einzelnen Gestalten Gruppen oder politischen Maumlchten an So identifizierte Carl Schmitt (1888ndash1985) der bdquoApokalyptiker der Gegenrevolutionldquo (Jacob Taubes) Liberalis-mus Bolschewismus und Judentum mit dem Antichrist (oder seinen Agenten) und glaubte dendas Katechon unter anderem in der Diktatur Hitlers zu erkennen 1947 notierte er bdquoIch glaube an den Katechon er ist fuumlr mich die einzige Moumlglichkeit als Christ Geschichte zu verstehen und sinnvoll zu findenldquo Carl Schmitt Glossarium Aufzeichnungen aus den Jah-ren 1947 bis 1958 hg von Gerd Giesler und Martin Tielke Berlin 2015 47 Schmitt und seine politische Theologie werden in russischen Intellektuellenkreisen intensiv rezipiert

42 Nazarov Voždju 213ndash223 ders Tajna Rossii Istoriosofija XX veka 1999 695ndash699 ndash Die Ermordung der Zarenfamilie durch die Bolschewiki im Juli 1918 in Ekaterinburg wur-de und wird von russischen Nationalisten als juumldischer antichristlicher Ritualmord darge-stellt Extremistische Kirchenkreise forderten denn auch Nikolaus II und seine Familie als bdquovon Jidden Gemarterteldquo (ot židov umučennye) heiligzusprechen Dem wurde freilich von fuumlhrenden Vertretern des Moskauer Patriarchats widersprochen

43 Im Februar 1917 war der Baumluerin Evdokija Andrianova im Traum der Fundort der Ikone erschienen Nach langem Suchen wurde diese schlieszliglich am 215 Maumlrz im Keller der Himmelfahrtskirche von Kolomenskoe entdeckt Siehe Aleksandr N Kazakevič bdquosbquoV podvale chrama pojavilasrsquo ikona Bogomaterilsquo Dokumenty Centralrsquonogo istoričeskogo

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 15

Himmelskoumlnigin mit den Zeichen ihrer Regentschaft im kaiserlichen Purpur mit Krone Szepter und Reichsapfel Das Bild der bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo (Bogo-materrsquo Deržavnaja) erwies sich sogleich als wundertaumltig und zog zahlreiche Pil-ger an Kopien verbreiteten seine Verehrung im ganzen Land Bis heute gilt es vielen als ein Zeichen dass Russlands Schutz vor dem Ansturm des Antichrist vom Zaren auf die Gottesmutter uumlbergegangen ist und sie die autokratische Macht bis zur Wiederherstellung der Monarchie bewahren wird44 Zum 70 Jahrestag des Sieges lieszlig der Izborsker Klub eine Variante der beruumlhmten Ikone anfertigen Sie zeigt die bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo zusammen mit Stalin und seinen Marschaumll-len Fuumlr Aleksandr Prochanov ist Stalin der Katechon der von Gott gesandte Fuumlhrer des Sowjetvolks das durch den Opfertod seiner Soumlhne im bdquogeheiligtenldquo Groszligen Vaterlaumlndischen Krieg ebenso wie einst Christus die Macht der Houmllle be-siegt und die Menschheit erloumlst habe45

lthttpwwwizborsk-clubruarh2015_04_Blokpdfgt

In bdquohistoriosophischerldquo Sicht bildet die Ermordung des Zaren und seiner Familie das zentrale sinnstiftende Ereignis der Geschichte Russlands im 20 Jahrhundert Alles darauf folgende Ungluumlck und Leiden die Verfolgung der Christen Hunger und Terror der Tod von Millionen Menschen werden aufgefasst als Strafe Gottes fuumlr den Abfall des russischen Volkes vom Glauben und fuumlr den judasgleichen

archiva Moskvy o Deržavnoj ikone Božiej Materildquo in Otečestvennye archivy 1 (2004) lthttpricolororghistorykasvyatyniik_derggt

44 Vgl Grigorij Nikolaev bdquoĖschatologičeskij triptichldquo in Ėschatologičeskij sbornik 358ndash396 hier 376f Bagdasarjan bdquoApokalipsis ndash segodnja 441f

45 Aleksandr Prochanov bdquoMističeskij stalinizmldquo in Izborskij klub Russkie strategii 4 (28) 2015 78ndash81 auch lthttpwwwizborsk-clubruarh2015_04_Blokpdfgt

16 Michael Hagemeister

bdquoVerratldquo an seinem Herrscher Wie Jesus sich dem Willen des goumlttlichen Vaters unterworfen hat und auf Golgatha fuumlr die Suumlnden der Welt gestorben ist so habe der Zar in Ekaterinburg (dem bdquorussischen Golgathaldquo) sein Leben als bdquoSuumlhneopferldquo dargebracht fuumlr die Suumlnden ganz Russlands46 Erst wenn das russische Volk sein Land von den Idolen und Symbolen der Gottlosigkeit reinige den Ideen der De-mokratie und politischen Gleichheit abschwoumlre seine kollektive Schuld bereue und Buszlige tue fuumlr das bdquoschrecklichste und unheilvollste Verbrechen des 20 Jahr-hundertsldquo werde der Zar zuruumlckkehren und Russland seine einstige Groumlszlige wie-dererlangen47

Einer der vehementesten und einflussreichsten Propagandisten der Selbst-charismatisierung Russlands war in den Jahren nach dem Ende der Sowjetunion Metropolit Ioann (Ivan Snyčev 1927ndash1995) von St Petersburg und Ladoga Mit-glied des Heiligen Synods und dritthoumlchster Kirchenhierarch des Landes In einer Vielzahl von Buumlchern Aufsaumltzen und Interviews beschwor Ioann die universale Mission des Dritten Rom als des bdquoletzten Hortes des wahren Glaubensldquo im Kampf gegen den Antichrist und seine Verbuumlndeten das bdquoVolk der Gesetzlosigkeitldquo48 Zu den apokalyptischen Feinden Christi zaumlhlte er die bdquoglobalen Maumlchte hinter den Kulissenldquo (mirovaja zakulisa) das internationale Freimaurertum die bdquotransnatio-nale Finanzoligarchieldquo die Anhaumlnger des Zionismus und Marxismus sowie Israel die USA und deren westeuropaumlische Satelliten49 Wiedergeboren im Geist der Or-thodoxie sei das Dritte Rom der irdische Sockel auf dem der Thron Gottes ruhen werde ndash ihm entgegen stehe der Dritte Tempel der Thron des Antichrist50

Hesychasmus als Kulturscheide ndash Kritik der Renaissance

Als entscheidende Waffe in dieser heilsgeschichtlichen Auseinandersetzung wird in juumlngster Zeit von antiwestlichen Intellektuellen und Kirchenkreisen der soge-nannte Hesychasmus in Stellung gebracht Urspruumlnglich handelt es sich dabei um

46 Das Schicksal des letzten Zaren wurde in der antibolschewistisch-antisemitischen Polemik

schon fruumlh mit der Passion Christi verglichen oder gleichgesetzt Eindrucksvolle Beispiele aus juumlngerer Zeit bieten die patriotischen Lieder der prominenten Saumlngerin Žanna Bičev-skaja oder die Filme Iskupitelrsquonaja žertva (1992) und Russkaja Golgofa (2000) Siehe auch Papkova The Orthodox Church 63f 222

47 Marija Achmetova Konec sveta v odnoj otdelrsquono vzjatoj strane Religioznye soobščestva postsovetskoj Rossii i ich ėschatologičeskij mif Moskva 2010 245ndash260

48 Vgl Rossman Russian Intellectual Antisemitism 221ndash225 Hagemeister bdquoDas Dritte Romldquo 476

49 Metropolit Ioann (Snyčev) bdquoToržestvo pravoslavijaldquo in ders Bitva za Rossiju Sankt-Peterburg 1993 28ndash35 In seinem Bestreben Russland als Opfer jahrhundertealter Ver-schwoumlrungen finsterer antichristlicher Maumlchte darzustellen griff Ioann immer wieder auch auf die Protokolle der Weisen von Zion zuruumlck

50 Metropolit Ioann (Snyčev) Samoderžavie ducha Očerki russkogo samosoznanija Sankt-Peterburg 1994 7

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 17

eine individuelle psychosomatische Gebets- und Meditationstechnik des byzanti-nischen und slavischen Moumlnchtums deren Anfaumlnge bis auf die Wuumlstenvaumlter zu-ruumlckreichen Durch die unablaumlssige konzentrierte Wiederholung des sogenannten bdquoJesusgebetsldquo ndash der Anrufung des rettenden Namens Jesu Christi ndash im Rhythmus des Herzschlags (deshalb auch bdquoHerzensgebetldquo) eine Uumlbung die als bdquogeistiges Tunldquo (πρᾶξις νοερά russ umnoe delanie) bezeichnet wird kann der Asket der die innere Ruhe (ἡσυχία) und Leidenschaftslosigkeit (ἀπάθεια) erreicht hat zur ekstatischen Schau (θεωρία) der Herrlichkeit Gottes in Lichtvisionen gelangen51

Die mit dem bdquoJesusgebetldquo verbundenen mystischen Erfahrungen fuumlhrten im 14 Jahrhundert zu einer hochspekulativen theologischen Deutung und Systemati-sierung durch den Athosmoumlnch (spaumlter Erzbischof von Thessalonike) Gregorios Palamas (129697minus1359) und seine Anhaumlnger im sogenannten bdquoHesychasmus-streitldquo Dabei ging es ndash stark vereinfacht ndash um die Frage inwiefern bestimmte sinnliche Erfahrungen beim Gebet wie das Schauen von Licht aber auch die Empfindung von Waumlrme und Wohlgeruch als Begegnung mit der Realitaumlt Gottes aufzufassen seien (und nicht als Pseudovisionen also als Einbildungen oder gar Inspirationen daumlmonischer Maumlchte) Dahinter steht das alte theologische Problem der Erkennbarkeit oder sinnlichen Erfahrbarkeit Gottes der Kommunikation zwi-schen Immanenz und Transzendenz aber auch der Gefahr der Verfuumlgung uumlber das Goumlttliche (extrem im Gotteszwang durch Beschwoumlrung)

Palamas loumlst die Frage indem er in Anlehnung an neuplatonische Vorstel-lungen das unzugaumlngliche ewige bdquoWesenldquo (οὐσία) Gottes von seiner in der ge-schaffenen Welt d h in Raum und Zeit mitteilbaren ungeschaffenen bdquoWirkkraftldquo oder bdquoEnergieldquo (ἐνέργεια) unterscheidet nicht aber trennt52 Diese Energien bdquodie der dreieinige Gott ausstrahlt und die zu seinem Wesen gehoumlren wie die Strahlen zur Sonne oder das Kraftfeld zum Magnetenldquo53 kann der Asket der den Stufen-prozess von bdquoReinigungldquo (κάθαρσις) bdquoErleuchtungldquo (φωτισμός) und bdquoVergoumlttli-chungldquo (θέωσις) durchlaumluft durch die Gnade Gottes sinnlich erfahren Als houmlch-stes mystisches Erlebnis im Zusammenwirken (συνεργία) aller menschlichen En-ergien mit der goumlttlichen Energie gilt die Schau des ungeschaffenen Lichtes wie sie den Juumlngern Jesu bei dessen Verklaumlrung auf dem Berg Tabor (μεταμόρφωσις

51 Ich folge hier zum Teil meinen Ausfuumlhrungen in Michael Hagemeister bdquoImjaslavie ndash imja-

dejstvie Namensmystik und Namensmagie in Russland (1900ndash1930)ldquo in Tatjana Petzer [ua] (Hgg) Namen Benennung ndash Verehrung ndash Wirkung Positionen der europaumlischen Moderne Berlin 2009 77ndash98 hier 79ndash81 88ndash90 Zum Hesychasmus liegt eine umfangrei-che Literatur vor Das Nachschlagewerk von Sergej Choružij (Hg) Isichazm annotiro-vannaja bibliografija Moskva 2004 umfasst mehr als 10000 Titel in 20 Sprachen

52 Die Unterscheidung von Gottes unerkennbarem Wesen und seinen wahrnehmbaren Wirk-kraumlften reicht bis auf Philon von Alexandria (gest ca 40 n Chr) zuruumlck Siehe Fairy v Lilienfeld bdquoHesychasmusldquo in Theologische Realenzyklopaumldie Bd 15 BerlinNew York 1986 282ndash289 ndash bdquoEnergieldquo ist Synonym fuumlr jeden bdquoAustrittldquo Gottes aus seinem Wesen Die bdquoSaumlttigungldquo mit goumlttlicher Energie erklaumlrt beispielsweise auch die gnadenreiche Heil-wirkung die von den Gebeinen der Heiligen selbst nach deren Tod ausgeht

53 Ebd 284

18 Michael Hagemeister

τοῦ Χριστοῦ Mt 171minus13) zuteil geworden war54 Fuumlr den endzeitlich gestimm-ten Palamas war diese Schau eine Vorwegnahme der Parusie der Vereinigung des Geschaffenen und des Ungeschaffenen und des kuumlnftigen Reiches Gottes somit bdquorealisierte Eschatologieldquo55

Der Glaube an die Wahrnehmbarkeit des ungeschaffenen ewigen Lichtes als Ausfluss der Energien Gottes stieszlig jedoch auf Widerspruch Palamasrsquo promi-nentester Gegner war der aus Kalabrien stammende Moumlnch Barlaam (ca 1290ndash1348) der in der Tradition der abendlaumlndischen rationalistischen Scholastik die Unterscheidung des transzendenten unzugaumlnglichen Wesens Gottes und der da-von untrennbaren Energien die aber ad extra wirken und sich dem Menschen mitteilen als haumlretisch verwarf und auf der absoluten Unerkennbarkeit Gottes be-stand Rom lehnte denn auch die Energienlehre des Palamas aufs schaumlrfste ab Dagegen erkannte die byzantinische Kirche sie 1341 und 1351 als Dogma an Seitdem gilt der palamitische Hesychasmus als ein Spezifikum der Orthodoxie und dient gerade heute wieder der polemischen Abgrenzung gegenuumlber dem Wes-ten56

Fuumlr die bereits genannten Philosophen Pavel Florenskij und Aleksej Losev charakterisiert das Bekenntnis zum Hesychasmus den Kulturtypus des christli-chen Mittelalters der sich in idealer Weise in Byzanz und in der Moskauer Rusrsquo ausgepraumlgt habe und in diametralem Gegensatz zur sogenannten bdquoRenaissance-Kulturldquo des Westens stehe Merkmale jener integralen Kultur des christlichen Ostens seien Gemeinschaftlichkeit (sobornostrsquo) Geistigkeit (duchovnostrsquo) Ob-jektivitaumlt Konkretheit Ganzheit (celrsquonostrsquo) und Ganzheitlichkeit (celostnostrsquo) synthetische Schau und Realismus57 waumlhrend die westliche Moderne seit der Re-naissance gepraumlgt sei durch Subjektivismus Relativismus szientifische Ratio-nalitaumlt (bdquoEntzauberung der Weltldquo) Materialismus Liberalismus Individualismus

54 Siehe Sergej Choružij bdquoSvet Plotinov i svet Favora mistika sveta v neoplatonizme i isi-

chazmeldquo in Aleksej Lidov (Hg) Ierotopija Ognja i Sveta v kulrsquoture vizantijskogo mira Moskva 2013 37ndash44 Zur Terminologie des Hesychasmus ders bdquoAnalitičeskij slovarʼ isi-chastskoj antropologiildquo in ders K fenomenologii askezy Moskva 1998 22ndash186

55 Peter Kawerau Das Christentum des Ostens Stuttgart [ua] 1972 131 56 Siehe zB die Arbeiten des Moskauer Theologen Igorʼ Ėkonomcev (Archimandrit Ioann)

bes bdquoIsichazm i vostočnoevropejskoe Vozroždenieldquo in Bogoslovskie trudy 29 (1989) 167ndash196 erweiterte Fassung bdquoDer Hesychasmus und die Renaissance in Osteuropaldquo in Karl Christian Felmy (Hg) Tausend Jahre Christentum in Russland Zum Millennium der Taufe der Kiever Rusrsquo Goumlttingen 1988 731ndash771 ndash Im 19 Jahrhundert erlebte der Hesy-chasmus im Zuge der Wiederbelebung mystischer Froumlmmigkeit durch Paisij Veličkovskij (1722ndash1794) eine Bluumlte im russischen Starzentum Dabei handelt es sich auch ndash aumlhnlich wie beim Pietismus ndash um eine Reaktion auf die Einfluumlsse der westlichen Aufklaumlrung Siehe die Beitraumlge in Adalberto Mainardi (Hg) Paisij lo starec Atti del III Convegno ecumenico internazionale di spiritualitagrave russa Bose 20ndash23 settembre 1995 Magnano 1997

57 Die Uumlberwindung der Trennung des erkennenden Subjekts vom Objekt der Erkenntnis (Descartes Locke Kant) durch das spekulative intuitive Erfassen des Wesens (der Ideen des Absoluten) als des eigentlich Realen hat die russische Philosophie des 20 Jahrhunderts bdquolebendiges Wissenldquo (živoe znanie) bdquoIdeal-Realismusldquo (ideal-realizm) oder bdquointuitiven Realismusldquo (intuitivnyj realizm) genannt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 19

Abstraktheit Zersplitterung und Atomisierung58 Der Sieg des Nominalismus im mittelalterlichen Universalienstreit und die Feier des autonomen Individuums in Renaissance Humanismus und Aufklaumlrung markieren in dieser katastrophischen Perspektive den Zerfall der goumlttlichen Ordnung des Universums und der Sakralitaumlt von Hierarchie und Herrschaft und damit den bdquoSuumlndenfallldquo der abendlaumlndischen Kultur die im Anthropozentrismus der satanischen Hybris einer bdquoSelbstvergot-tungldquo des Menschen (čelovekobožie)59 zugleich gipfele und scheitere60

Am Anfang dieser verhaumlngnisvollen Spaltung standen die Annahme der pa-lamitischen Lehre durch die Ostkirche und die Ablehnung dieser Lehre im Westen durch den bdquoRenaissance-Menschenldquo (vozroždenec) Barlaam den Lehrer Boccac-cios und Petrarcas61 Mit aller Schaumlrfe formulierte Losev diesen Gegensatz bdquo[hellip] entweder ist das Taborlicht untrennbar vom Wesen Gottes und ist deshalb Gott selbst (obwohl Gott selbst nicht [das] Licht ist) ndash dann ist die Orthodoxie gerettet oder das Licht ist vom Wesen Gottes trennbar und darum geschaffen ndash dann be-ginnen die apokalyptischen Kraumlmpfe des Renaissance-Westensldquo62 Indem sie Bar-laam einen bdquozugereisten Kalabrierldquo und seine Anhaumlnger mit dem Bann belegte habe die Orthodoxe Kirche so Losev die damals heraufziehende Renaissance

58 Siehe zB Pavel Florenskij bdquoAvtoreferat (192526)ldquo in Voprosy filosofii 1988 12 113ndash

116 dt Pavel Florenski bdquoAutorreferatldquo in ders Leben und Denken hg von Fritz und Sieglinde Mierau Bd 1 Ostfildern 1995 32ndash38 Aleksej Losev Dialektika mifa (1930) Moskva 2001 137ndash138 dt Die Dialektik des Mythos Hamburg 1994 109 ndash Die wertende Entgegensetzung von mittelalterlicher und Renaissance-Kultur (bzw der Typen bdquoobjekti-verldquo und bdquosubjektiverldquo Kulturen) findet sich durchgaumlngig im Werk Florenskijs und Losevs Siehe zuletzt Oksana SedychJulija Grišatova bdquoRusskij Renessans o Renessanseldquo in Vo-prosy filosofii 2015 6 111ndash121

59 bdquoSatan war der erste Revolutionaumlrldquo zitiert Losev einen (apokryphen) Ausspruch des Hl Serafim von Sarov Aleksej Losev bdquoDopolnenie k sbquoDialektike mifalsquo (novyj fragment)ldquo in AF Losev tvorčestvo tradicii interpretacii Moskva 2014 397ndash411 hier 401

60 So degradiere ndash um nur ein Beispiel fuumlr das Scheitern der Renaissance zu geben ndash das heliozentrische Weltbild eines Kopernikus und Giordano Bruno den Menschen zum Be-wohner eines bdquonichtigen Sandkornsldquo im unendlichen Weltraum SedychGrišatova bdquoRuss-kij Renessansldquo 114 Florenskij suchte denn auch in seiner Schrift Mnimosti v geometrii (1922) das geozentrische Weltbild des Mittelalters zu rehabilitieren Zum griechisch-or-thodoxen Antikopernikanismus Vasilios Makrides Die religioumlse Kritik am kopernikani-schen Weltbild in Griechenland zwischen 1794 und 1821 Aspekte griechisch-orthodoxer Apologetik angesichts naturwissenschaftlicher Fortschritte Frankfurt aM [ua] 1995

61 Mitunter wurde Barlaam sogar als Agent einer groszligangelegten antiorthodoxen Verschwouml-rung des bdquoPapismusldquo denunziert Siehe Ėkonomcev bdquoIsichazmldquo 59 vgl ders bdquoDer Hesy-chasmusldquo 736 ndash Eine Kontrastierung des weltlichen Humanisten Petrarca und des Hesy-chasten Palamas unternahm Losevs Schuumller und Sekretaumlr Vladimir Bibichin lthttpwww philologyruliterature3bibikhin-90htmgt

62 Aleksej Losev Očerki antičnogo simvolizma i mifologii Moskva 1930 856 Auch Ėko-nomcev spricht von den bdquoschreienden Widerspruumlchen und Grimassen der westlichen Re-naissance deren geistiger Vater Barlaam wurdeldquo Ėkonomcev bdquoIsichazmldquo 63 (in der deut-schen Version ist von bdquohimmelschreienden Gegensaumltzenldquo und bdquoscheuszliglichen Grimassenldquo die Rede Ėkonomcev bdquoDer Hesychasmusldquo 746)

20 Michael Hagemeister

insgesamt verdammt (anafematstvovala) der alle westlichen Voumllker verfallen sei-en und wahrscheinlich bis ans Ende ihrer Tage verfallen blieben63

Bis zuletzt verteidigte Losev ein mit Orden des Sowjetstaates ausgezeich-neter Philosoph der 1929 von Archimandrit David (Muchranov 1847ndash1930) ei-nem Fuumlhrer der hesychastischen bdquoNamensverehrerldquo (imjaslavcy)64 heimlich zum Moumlnch geweiht worden war die Lehre des Palamas als einen Grundpfeiler der Orthodoxie65 Gleichzeitig hielt er an seiner schroffen Ablehnung des bdquoRenaissan-ce-Westensldquo fest dessen Geschichte insgesamt nichts anderes sei als bdquoeine libera-le Kritik des Mittelaltersldquo 1978 stellte Losev in seiner umfangreichen Studie zur Aumlsthetik der Renaissance der bdquoganzheitlichen Kulturldquo (celostnaja kulrsquotura) des Mittelalters die zerrissene Kultur der Renaissance gegenuumlber die auf der Verabso-lutierung und bdquotitanischen Verherrlichungldquo des isolierten Subjekts und der bdquoAbge-trenntheit vom lebendigen Seinldquo (otryv ot živogo bytija) beruhe66 In einem Ge-spraumlch mit dem Schriftsteller Viktor Erofeev das 1985 veroumlffentlicht wurde de-nunzierte Losev den Typus des bdquoRenaissance-Menschenldquo der sich selbst vergoumltt-liche und deshalb dem Nihilismus und Satanismus verfalle bdquoIndem die Renais-sance das Subjekt zum Absolutum erhob oumlffnete sie den Weg fuumlr den Triumph des Subjektivismus in den folgenden Jahrhunderten In diesem Sinne stellt der gesamte Westen fuumlr mich eine Sackgasse des Denkens darldquo67 Damit geriet der Philosoph einerseits in scharfen Gegensatz zum sowjetischen Selbstverstaumlndnis das sich als Erbe und Vollender gerade jener bdquoprogressivenldquo Prozesse und huma-nistischen Traditionen sah die von der europaumlischen Renaissance ausgegangen

63 Losev Očerki 849 856 64 Zur Bewegung des imjaslavie die zu Beginn des 20 Jahrhunderts auf dem Athos entstand

und in Florenskij und Losev prominente Unterstuumltzer fand liegt inzwischen eine reiche Literatur vor Siehe die juumlngste Veroumlffentlichung Antoine Niviegravere Les glorificateurs du nom Une querelle theacuteologique parmi les moines russes du mont Athos (1907ndash1914) Genegraveve 2016

65 Siehe Valentina Postovalova bdquoAfonskij spor ob Imeni Božiem v filosofsko-bogoslovskom osmyslenii AF Losevaldquo in AF Losev 95ndash106 bes 105f

66 Aleksej Losev Ėstetika Vozroždenija Moskva 21982 (11978) 45 61 137 und passim Losevs Modernekritik erinnert an Heidegger und dessen Begriff der bdquoSeinsvergessenheitldquo Wie fuumlr Heidegger so war auch fuumlr Losev (und Florenskij) der Agent der verhassten Moder-ne ein bdquorechnendesldquo und bdquowurzellosesldquo mythisches Judentum Zu Losevs metaphysischem Antisemitismus (bdquodas satanische Wesen des Judentumsldquo) siehe zuletzt mit zahlreichen Belegen Natalrsquoja Boneckaja Duch Serebrjanogo veka (fenomenologija ėpochi) Moskva Sankt-Peterburg 2016 688ndash693

67 Aleksej Losev bdquoV poiskach smyslaldquo in Voprosy literatury 1985 10 205ndash231 hier 229 Zu Losevs Kritik der bdquoRenaissance-Kulturldquo des Westens ausfuumlhrlich Annett Jubara Die Philosophie des Mythos von Aleksej Losev im Kontext bdquoRussischer Philosophieldquo Wiesba-den 2000 bes 131ndash154 Siehe auch Naftalij Prat bdquoAleksej Losev und der Totalitarismusldquo in Leonid Luks (Hg) Das Christentum und die totalitaumlren Herausforderungen des 20 Jahrhunderts Koumlln [ua] 2002 103ndash114 bes 108f

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 21

waren (augenfaumlllig etwa in der Architektur der 1930er bis 50er Jahre)68 Anderer-seits erwies sich der orthodoxe Moumlnch damit auch als Apologet des Sowjetregi-mes bedroht die Autonomie des Individuums doch den Wesenskern einer jeden Herrschaft die das Wahrheitsmonopol fuumlr sich beansprucht

Die Ablehnung der modernen bdquokopernikanischen Weltldquo (Hans Blumen-berg) durchzieht das gesamte philosophische Werk Losevs und Florenskijs dazu gehoumlren die Ablehnung des heliozentrischen Weltbildes die Polemik gegen Kants kritischen Idealismus (die bdquokopernikanische Wendeldquo in der Philosophie) die Ab-lehnung der Zentralperspektive in der Kunst die Ablehnung des nominalistischen Rationalismus und schlieszliglich die Ablehnung der saumlkularen und demokratischen Gesellschaftsordnung zugunsten einer bdquoVerkirchlichungldquo (ocerkovlenie) aller Be-reiche der Gesellschaft und des Staates in Gestalt einer theokratischen Synarchie Florenskij der sich als einen mittelalterlichen Menschen charakterisierte69 ndash Ni-kolaj Berdjaev selbst Verkuumlnder eines religioumls-integralen bdquoNeuen Mittelaltersldquo nannte ihn einen bdquoraffinierten Reaktionaumlrldquo ndash70 war uumlberzeugt dass die bdquoentseelte Renaissance-Zivilisationldquo sich erschoumlpft habe und eine neue ganzheitlich-objekti-ve Kultur anbrechen werde71 Vorbild dieser bdquoKultur des anderen Typusldquo werde Russland sein bdquoerste Keimeldquo seien bereits zu erkennen Seine Zeit begriff Floren-skij bdquoan den Wasserscheiden des Denkensldquo und er sah seine Lebensaufgabe darin bdquoWege zu bahnen zu einer kuumlnftigen ganzheitlichen Weltanschauungldquo72

68 Losevs Renaissance-Kritik (va in Ėstetika Vozroždenija) wurde deshalb auch als ver-

schleierte Kritik am Sowjetsystem verstanden Siehe Annett Jubara bdquoAleksej Losevs Philosophie des Mythos als Kritik an der Sowjetischen Moderneldquo in Studies in East Euro-pean Thought 56 (2004) 211ndash224 Aus dem Kreis der Schuumller Losevs gingen seit den 1960er Jahren zahlreiche dissidentische russische Nationalisten hervor Nikolaj Mitrochin Russkaja partija Dviženie russkich nacionalistov v SSSR 1953ndash1985 Moskva 2003 288f Zur Kritik der Renaissance-Zivilisation siehe auch Vladimir Bibichin Novyj renessans Moskva 1998 bes 131ndash155

69 Siehe Florenskij bdquoAvtoreferatldquo Noch im Maumlrz 1933 nach seiner Verhaftung erklaumlrte Flo-renskij gegenuumlber den Ermittlungsbeamten bdquoIch Pavel Aleksandrovič Florenskij [hellip] bin dem Charakter meiner politischen Anschauungen nach ein Romantiker des Mittelalters un-gefaumlhr des 14 Jahrhundertsldquo Vitalij Šentalinskij bdquoUdel veličijaldquo in Ogonek 1990 45 23ndash27 hier 26

70 Nikolaj Berdjaev Samopoznanie (Opyt filosofskoj avtobiografii) Moskva 1991 161 Sie-he Nikolaj Berdjaev Novoe srednevekovrsquoe Berlin 1924 dt Nikolaus Berdjajew Das Neue Mittelalter Darmstadt 1927

71 Siehe Michael Hagemeister bdquoWiederverzauberung der Welt ndash Pavel Florenskijs Neues Mittelalterldquo in Norbert Franz [ua] (Hgg) Pavel Florenskij ndash Tradition und Moderne Beitraumlge zum Internationalen Symposium an der Universitaumlt Potsdam 5 bis 9 April 2000 Frankfurt aM [ua] 2001 21ndash41 Zu Florenskijs Kritik an Renaissance und Humanismus (bdquoder Humanismus entsprang der Kabbalaldquo) siehe auch Ilona Svetlikova bdquoOb ideologii sbquoobratnoj perspektivylsquo Pavla Florenskogoldquo in Russkaja intellektualʼnaja revoljucija 1910ndash1930-ch godov Moskva 2016 123ndash139 zu den Uumlbereinstimmungen mit Heidegger siehe Viktor Arslanov Postmodernizm i russkij bdquotretij putrsquoldquo tertium datur rossijskoj kulrsquotury XX veka Moskva 2007 472ndash499

72 Florenskij bdquoAvtoreferatldquo 114

22 Michael Hagemeister

In juumlngster Zeit hat das wiedererwachte Interesse an der eigenen spirituellen Tradition und ihren byzantinischen Wurzeln ndash oftmals verbunden mit dem Bestre-ben sich vom bdquosaumlkularen Westenldquo und der bdquowestlichen Moderneldquo abzugrenzen ndash zu einer Wiederbelebung des palamitischen Hesychasmus (neopalamizm) und der ndash davon zu unterscheidenden ndash bdquoNamensverehrungldquo (imjaslavie) gefuumlhrt73 Be-reits in den 1970er Jahren war John Meyendorffs klassische Studie St Greacutegoire Palamas et la mystique orthodoxe (Paris 1959) ins Russische uumlbersetzt worden und kursierte in der Sowjetunion in Samizdat-Ausgaben im Milieu religioumls-philo-sophischer Dissidenten Heute wird die Wiederbelebung des Hesychasmus auch durch den patriotischen Kult um Serafim von Sarov (Prochor Mošnin 1759ndash1833) befoumlrdert einen Wundertaumlter und Apokalyptiker der im postsowjetischen Russland zu einem der meistverehrten Heiligen avanciert ist74 In einer in viele Sprachen uumlbersetzten und millionenfach verbreiteten Schrift schildert sein Schuuml-ler Nikolaj Motovilov (1809ndash1879) die Verklaumlrung Serafims im ungeschaffenen Licht des Heiligen Geistes die sich angeblich im November 1831 auf einer einsa-men verschneiten Waldlichtung ereignet hat75

73 Dies gilt nicht nur fuumlr Russland auch auf Vertreter der angelsaumlchsischen bdquoRadical Ortho-

doxyldquo die das Projekt einer von modern-saumlkularem Denken nicht korrumpierten Theologie verfolgen uumlben Hesychasmus und russische Sophiologie starke Faszination aus Siehe die Beitraumlge in Adrian PabstChristoph Schneider (Hgg) Encounter Between Eastern Ortho-doxy and Radical Orthodoxy Transfiguring the World Through the Word Farnham 2009 Zur Wiederbelebung des imjaslavie im post-sowjetischen Russland siehe Scott M Ken-worthy bdquoDebating the Theology of the Name in Post-Soviet Russia Metropolitan Ilarion Alfeev and Sergei Khoruzhiildquo in Katya Tolstaya (Hg) Orthodox Paradoxes Hetero-geneities and Complexities in Contemporary Russian Orthodoxy LeidenBoston 2014 250ndash264 Siehe auch Loren Grahams Bericht uumlber diskrete Zusammenkuumlnfte der imjaslav-cy im Kellergeschoss der Moskauer Tatrsquojana-Kirche in den fruumlhen 2000er Jahren Loren GrahamJean-Michel Kantor Naming Infinity A True Story of Religious Mysticism and Mathematical Creativity Cambridge MassLondon 2009 1ndash5

74 Fuumlr die Anhaumlnger der Doktrin einer bdquoAtomaren Orthodoxieldquo (atomnoe pravoslavie) ist Se-rafim auch der Schutzheilige der russischen Atombombe wurde doch Sarov der Ort seines Wirkens 1946 unter dem Namen Arzamas-16 zur streng geheimen Nuklearstadt in der Wissenschaftler unter ihnen Andrej Sacharov am Bau der sowjetischen Atom- und Was-serstoffbomben arbeiteten Patriotische Russen deuten dies als Zeichen dass bdquoim Hause unseres Vaters Serafimldquo mit dessen Segen der nukleare bdquoSchild zum Schutz der Heimatldquo geschmiedet worden sei Pavel V Florenskij bdquoNeobchodimostrsquo našej atomnoj bombyldquo in Naš sovremennik 1997 4 219ndash221 Bei dem Verfasser handelt es sich um einen Enkel des beruumlhmten Philosophen Siehe auch lthttpsruwikipediaorgwiki Атомное_правосла виеgt

75 Die Schrift deren Authentizitaumlt umstritten ist wurde bekannt unter dem Titel bdquoGespraumlch uumlber das Ziel des christlichen Lebensldquo (Beseda o celi christianskoj žizni) Erstmals veroumlf-fentlicht wurde das bdquoGespraumlchldquo 1903 von Sergej Nilus (1862ndash1929) dem Herausgeber und Kommentator der Protokolle der Weisen von Zion Siehe Michael Hagemeister bdquoIl proble-ma della genesi del sbquoColloquio con Motovilovlsquoldquo in Adalberto Mainardi (Hg) San Sera-fim Da Sarov a Diveevo Atti del IV Convegno ecumenico internazionale di spiritualitagrave russa Bose 18ndash20 settembre 1996 Magnano 1998 157ndash174 Bis heute gibt es keine kriti-sche Ausgabe dieses zentralen Textes russischer Geistigkeit

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 23

Von der Wiederbelebung des Hesychasmus zeugt auch das groszligangelegte Projekt einer bdquosynergetischen Anthropologieldquo (sinergijnaja antropologija) des Mathematikers Physikers und religioumlsen Philosophen Sergej Choružij Prakti-sches Ziel das seit 2005 durch ein eigenes Institut in Moskau verfolgt wird ist die psychosomatisch-holistische Selbsttransformation des Menschen die auf unmittelbarer (mystisch-energetischer) Erfahrung bzw Einwirkung des ontolo-gisch Anderen (Goumlttlichen) beruht sowie die Uumlberwindung der Subjekt-Objekt-Trennung der modernen westlichen Philosophie die Choružij fuumlr den von ihm als krisenhaft und katastrophisch beschriebenen Zustand der westlichen Moderne verantwortlich macht Im Unterschied zu orthodoxen Fundamentalisten und Anti-Westlern sucht Choružij indes die asketischen Praktiken des Hesychasmus mit modernen und postmodernen westlichen Anthropologien (Kierkegaard Scheler Heidegger und insbesondere Foucaults technique oder practique de soi) in Bezie-hung zu setzen76

bdquoPolitischer Hesychasmusldquo

Es duumlrfte deutlich geworden sein dass Hesychasmus nicht nur eine weltabge-wandte mystisch-asketische bdquogeistige Praxisldquo bezeichnet sondern auch als Kampfbegriff gegen die saumlkulare Kultur des bdquoWestensldquo und der bdquowestlichen Mo-derneldquo dient Dies gilt vor allem fuumlr das Konzept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo (političeskij isichazm)

In den russischen Diskurs wurde dieses Konzept um die Mitte der 1960er Jahre von dem Leningrader Mediaumlvisten und Byzantinisten Gelian Prochorov ein-gefuumlhrt77 Seiner Hauptthese zufolge wurde der Hesychasmus nachdem er aus den Klosterzellen herausgetreten war und eine philosophisch-theologische

76 Siehe Sergej Choružij Očerki sinergijnoj antropologii Moskva Inst Sinergijnoj antropo-

logii Inst filosofii teologii i istorii Sv Fomy 2005 ders (Hg) Fonarrsquo Diogena Proekt sinergijnoj antropologii v sovremennom gumanitarnom kontekste Moskva 2010 ders bdquoDie mystische Verwandlung des Menschen Uumlber den Hesychasmus als Raum der Philo-sophieldquo in Fuge Journal fuumlr Religion amp Moderne 7 (2010) 72ndash99 Siehe auch die Web-site lthttpsynergia-isarugt Kristina Stoeckl bdquoA New Anthropology Sergej S Khoru-žijrsquos Search for an alternative to the Cartesian Subject in sbquoOčerki sinergijnoj antropologiilsquoldquo in Studies in East European Thought 59 (2007) 237ndash245

77 Gelian Prochorov bdquoĖtničeskaja integracija v Vostočnoj Evrope v XIV-m veke Ot isichastskich sporov do Kulikovskoj bitvyldquo in Doklady otdelenija ėtnografii 2 (196265) Leningrad 1966 81ndash110 ders bdquoIsichazm i obščestvennaja myslʼ v Vostočnoj Evrope v XIV vldquo in Literaturnye svjazi drevnich slavjan (Trudy otdela drevnerusskoj literatury 23) Leningrad 1968 86ndash108 ders bdquoKulʼturnoe svoeobrazie ėpochi kulikovskoj bitvyldquo in Kulikovskaja bitva i podldquoem nacionalrsquonogo samopoznanija (Trudy otdela drevne-russkoj literatury 34) Leningrad 1979 3ndash17 ndash Prochorov gehoumlrte bereits zu Sowjetzeiten ins Lager der (neo-)slavophilen Anti-Westler er war eng befreundet mit dem bdquoEurasierldquo und Antisemiten Lev Gumilev (1912ndash1992) und uumlbernahm von diesem das Konzept der bdquoEthnogeneseldquo

24 Michael Hagemeister

Grundlegung erfahren hatte am Ende des 14 Jahrhunderts zu einem entscheiden-den politischen und kulturellen Faktor nicht nur in Byzanz sondern in ganz Ost-europa und lieferte unter anderem das ideologische Fundament zur Konsolidie-rung der nachmongolischen Rusʼ Im Streit zwischen dem bdquorationalistischen Hu-manismus und dem kontemplativen Hesychasmus [hellip] entschied Byzanz uumlber sein geistiges Schicksal Das Land blieb bis zuletzt mittelalterlich Den Hesy-chasten gelang es zu Wortfuumlhrern der oumlffentlichen Meinung in Byzanz zu werden die letzte schoumlpferische Synthese seiner traditionellen Kultur zu entwickeln und eine breite kulturelle und gesellschaftliche Bewegung in Gang zu setzen die zu einer Erneuerung des Mittelalters und zu einer Wiederbelebung der Orthodoxie im ganzen oumlstlichen Europa fuumlhrteldquo78

Im Anschluss an das von seinem Lehrer Dmitrij Lichačev entwickelte Kon-zept einer bdquoVorrenaissanceldquo (Predvozroždenie)79 spricht Prochorov von einer bdquovorrenaissancelichen Gegenreformationldquo (predvozroždenčeskaja kontrreforma-cija) und einer bdquoOrthodoxen Renaissanceldquo (Pravoslavnoe Vozroždenie)80 Ge-meint war damit dass die Palamiten (Hesychasten) den Sieg der Barlaamiten ver-hindern konnten und auf die Schriften der antiken Kirchenvaumlter zuruumlckgreifend ein mystisch-kontemplatives Aumlquivalent zum rationalistischen und saumlkularen Hu-manismus geschaffen haumltten Auf diese Weise habe der drohende Uumlbergang der byzantinischen und osteuropaumlischen christlich gepraumlgten Kultur von der bdquoVorre-naissanceldquo zu einer auf heidnisch-antiken Wurzeln beruhenden Renaissance ab-gewendet werden koumlnnen81 Auf die bdquoVorrenaissanceldquo sei ein bdquoNeues Mittelalterldquo gefolgt das in der bdquoHeiligen Rusʼldquo um die Wende zum 15 Jahrhundert seinen Houmlhepunkt erreicht habe Ihm verdanke Russland seine Groumlszlige und die russische Kultur ihre bdquoUniversalitaumltldquo und bdquoGeistigkeitldquo82

Bemerkenswert ist dass der sowjetische Wissenschaftler die beiden ideolo-gischen Lager mit traditionellen (neo-)slavophilen Wertungsoppositionen wie sie bereits bei Florenskij und Losev begegnet sind verbindet und dabei deutlich seine 78 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 4 79 Vor allem in seinem Buch Kulʼtura Rusi vremeni Andreja Rubleva i Epifanija Premudrogo

MoskvaLeningrad 1962 80 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 8 Siehe auch ders Nekogda ne narod a nyne narod

Božijhellip Drevnjaja Rusʼ kak istoriko-kulʼturnyj fenomen Sankt-Peterburg 2010 133ndash157 81 So auch Igorʼ Ėkonomcev bdquoDie osteuropaumlische sbquoVorrenaissancelsquo ist nicht die erste Stufe

zur saumlkularisierten Renaissance vom abendlaumlndischen Typ sondern ihre Antithese Der geistige und kulturelle Aufschwung in Osteuropa war die wahre volle und eindeutige Re-naissance die sich grundlegend von der westlichen Renaissance unterschied Sie haumltte sich niemals in eine Renaissance westlicher Praumlgung verwandeln koumlnnenldquo Ėkonomcev bdquoDer Hesychasmusldquo 764 vgl ders bdquoIsichazmldquo 69 Diese (osteuropaumlische) Renaissance so Ėkonomcev an anderer Stelle sei ungleich bdquoerhabener geistiger und reinerldquo gewesen als bdquodie westeuropaumlische Renaissance mit ihrer krankhaften Disharmonie zwischen Glauben und Vernunft Geist und Leib die trotz allem gespieltem Optimismus ein Gefuumlhl der Aus-weglosigkeit und Verzweiflung hinterlaumlsstldquo Igumen Ioann Ėkonomcev bdquoVizantinizm Kirillo-Mefodievo nasledie i kreščenie Rusildquo in ders Pravoslavie Vizantija Rossija Sbornik statej Moskva 1992 7ndash22 hier 18

82 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 9 15

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 25

Sympathie zeigt Die byzantinischen Humanisten werden von ihm als kalte Ratio-nalisten dargestellt die in der Hoffnung auf militaumlrische Unterstuumltzung durch den katholischen Westen im Kampf gegen die Osmanen bereit gewesen seien den eigenen Glauben zu opfern83 Die Hesychasten hingegen haumltten so Prochorov den Westen realistischer eingeschaumltzt und auf Hilfe von Seiten der orthodoxen Staaten gehofft Im entscheidenden Moment haumltten nicht die bdquoWestler-Huma-nistenldquo (zapadniki-gumanisty) mit ihren bdquokalten Uumlberlegungenldquo (cholodnymi rassuždenijami) beim Volk Gehoumlr gefunden sondern die Hesychasten mit ihren bdquoheiszligen Gebetenldquo (gorjačimi molitvami)84

Mit seiner Apologie eines bdquowiederbelebtenldquo Mittelalters und einer bdquoOrtho-doxen Renaissanceldquo die alle Bereiche des politischen gesellschaftlichen und kul-turellen Lebens gepraumlgt habe und deren Kern der Hesychasmus gewesen sei stieszlig Prochorov bei seinen sowjetischen Kollegen auf Kritik So sah Apollon Kuzmin im Palamismus eine desintegrative Erscheinung weshalb er Prochorovs positive Bewertung der Hesychasten bei der bdquoWiedergeburtldquo der Rusʼ zuruumlckwies85 Aumlhn-lich argumentierte Gennadij Litavrin Die Palamiten seien diejenigen gewesen die eine unrealistische Einschaumltzung der politischen Lage gehabt haumltten Sie haumltten die Bedrohung durch die Tuumlrken nicht erkannt und stattdessen die Illusion verbreitet die Feinde zum Christentum bekehren und zu neuen Untertanen ma-chen zu koumlnnen Der Palamismus sei eine bdquoIdeologie der Demutldquo und habe eine bdquounheilvolle Rolle in der Geschichte des Kampfes gegen die tuumlrkische Aggres-sionldquo gespielt86 Michail Sjuzjumov sprach sogar vom bdquoasozialen Charakter des Palamismusldquo der den aufkommenden humanistischen Tendenzen gegenuumlber feindlich gewesen und zur bdquoIdeologie der Reaktionldquo in Byzanz geworden sei87 Auf Ablehnung stieszlig Prochorov auch im Ausland Valerij Lepachin kritisierte den Begriff bdquopolitischer Hesychasmusldquo als unzulaumlssige Verbindung weltlicher und geistlicher Sphaumlren damit verliere der Hesychasmus seinen wesentlichen Sinn-gehalt88 Fuumlr den in Berkeley lehrenden Philologen Viktor Živov schlieszliglich war

83 Ebd 12 84 Ebd 13 ndash An anderer Stelle betont Prochorov den Gegensatz zwischen den abstrakten

bdquoausgedachtenldquo philosophischen Konstruktionen des europaumlischen Idealismus und der ganzheitlichen kontemplativ-spekulativen Welterfahrung der griechisch-byzantinischen Philosophie Prochorov bdquoĖtničeskaja integracijaldquo 90f An Florenskijs Renaissance-Kritik (etwa in Ikonostas 1922) erinnert auch Prochorovs Verweis auf den euklidischen Raum und den Perspektivismus der humanistischen Weltwahrnehmung mit seiner Illusion der Unendlichkeit Prochorov bdquoIsichazmldquo 94

85 Apollon Kuzmin bdquoCerkovʼ i svetskaja vlastʼ v ėpochu Kulikovskoj bitvyldquo in Voprosy naučnogo ateizma 37 (1988) 90ndash99

86 Gennadij Litavrin bdquoVizantija v period graždanskoj vojny i dviženija Zilotov (1341ndash1355 gg)ldquo in Sergej Skazkin (Hg) Istorija Vizantii Bd 3 Moskva 1967 135ndash160 hier 158

87 Michail Sjuzjumov bdquoFilosofija i bogoslovieldquo in ebd 234ndash256 hier 248f 88 Valerij Lepachin bdquoUmnoe delanie (o soderžanie i granicach ponjatija sbquoisichazmlsquo)ldquo in

Vestnik Russkogo Christianskogo Dviženija 164 1992 5ndash32 hier 23

26 Michael Hagemeister

bdquopolitischer Hesychasmusldquo bdquokonzeptuelles Unkraut [sornjak] das man so schnell wie moumlglich ausrottenldquo solle89

Fast ein halbes Jahrhundert nach ihrer ersten Veroumlffentlichung wurde Pro-chorovs Konzept eines bdquopolitischen Hesychasmusldquo von seinem Schuumller Vladimir Petrunin wieder aufgegriffen und aktualisiert In der 2009 erschienenen Monogra-phie bdquoDer politische Hesychasmus und seine Traditionen in der Sozialkonzeption des Moskauer Patriarchatsldquo90 stellt Petrunin das sogenannte bdquoNichtgehorsamkeits-prinzipldquo (princip nepovinovenija) wie es in den von der Moskauer Bischofssyno-de im August 2000 verabschiedeten bdquoGrundlagen der Sozialkonzeption der Rus-sischen Orthodoxen Kircheldquo formuliert worden ist91 in eine Tradition die er bis auf die bdquopolitischen Hesychastenldquo im Byzanz des 14 und 15 Jahrhunderts zu-ruumlckzufuumlhren sucht Immer wieder zieht Petrunin Parallelen zwischen dem spaumlten Byzanz und dem postsowjetischen Russland Hatten die Byzantiner den Hesy-chasmus als Reaktion auf den Humanismus des Westens hervorgebracht so diene heute die Sozialkonzeption der Abwehr des westlichen Saumlkularismus Liberalis-mus und Kapitalismus Damals wie heute stuumlnden der kirchliche Heilsauftrag und die Verteidigung des Glaubens uumlber den Interessen des Staates selbst ndash wie das Beispiel von Byzanz zeige ndash um den Preis seines Untergangs Ebenso wie die byzantinischen Hesychasten den mit dem Westen kollaborierenden Herrschern die Gefolgschaft im Kampf gegen die Osmanen verweigert haumltten da sie die bdquoReinheit ihres Glaubensldquo eher bdquounter einem tuumlrkischen Turban als unter der lateinischen Tiaraldquo gewahrt sahen92 rufe die Sozialkonzeption die Kirche heute dazu auf der Staatsmacht den Gehorsam zu verweigern sollte diese bdquodie ortho-doxen Glaumlubigen zum Abfall von Christus und Seiner Kirche sowie zu suumlndhaften

89 Viktor Živov bdquoVidenija sveta i problemy russkogo srednevekovogo isichazmaldquo in Lidov

(Hg) Ierotopija 350ndash367 hier 363 359 90 Vladimir Petrunin Političeskij isichazm i ego tradicii v socialʼnoj koncepcii Moskovskogo

Patriarchata Sankt-Peterburg 2009 91 Osnovy socialrsquonoj koncepcii Russkoj Pravoslavnoj Cerkvi III5 lthttpwwwpatriarchia

rudbtext141422htmlgt Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo wird von den meisten Inter-preten als ein bemerkenswertes Umdenken in der Kirchenpolitik angesehen hatte doch die Russische Orthodoxe Kirche unter Patriarch Sergij in einer prekaumlren Lage 1927 Loyalitaumlt gegenuumlber dem Sowjetstaat gefordert Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo war auch eine wichtige Voraussetzung fuumlr die Vereinigung der Auslandskirche mit dem Moskauer Pa-triarchat Zur Sozialkonzeption insgesamt Vasilios N Makrides bdquoDie politische Aufgabe der Kirche Bemerkungen anhand der Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kir-cheldquo in Irene DingelChristiane Tietz (Hgg) Die politische Aufgabe von Religion Per-spektiven der drei monotheistischen Religionen Goumlttingen 2011 219ndash243

92 Petrunin Političeskij isichazm 66f 120 Es handelt sich um eine zeitgenoumlssische Losung Siehe Halina Evert-Kappesowa bdquoLa tiare ou le turbanldquo in Byzantinoslavica 14 (1953) 245ndash257 ndash Auch Aleksandr Nevskij (1220ndash1263) zog eine Verstaumlndigung mit den Mongo-len einer Union mit Rom vor die ihm Papst Innozenz IV im Jahr 1248 angeboten hatte und wandte sich stattdessen gegen die bdquoLateinerldquo Heutige Anti-Westler feiern den Heili-gen der Russischen Orthodoxen Kirche deshalb auch als bdquoersten Eurasierldquo

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 27

und der Seele abtraumlglichen Taten noumltigenldquo93 Die Sozialkonzeption hat fuumlr Petru-nin nur einen moumlglichen Sinn Falls Russlands politische Elite sich weiterhin dem liberalen Wertekanon des Westens verschreibe und Russlands bdquoEigenartldquo (samo-bytnostʼ) als bdquoorthodoxe Zivilisationldquo bestreite94 muumlsse die Kirche ndash wie einst in Byzanz ndash dem Staat die Loyalitaumlt aufkuumlndigen und das Volk zum Widerstand auf-rufen

Es ist ganz offensichtlich dass die Prozesse der Globalisierung und Saumlkularisierung eng miteinander verbunden sind So wie einst die byzantinischen Hesychasten ist heute die Russische Kirche mit der westlichen Zivilisation konfrontiert die nach der Weltherrschaft trachtet war fruumlher der Katholizismus deren Grundlage so ist es jetzt der saumlkulare Humanismus [hellip] Waumlhrend sie [die westliche Welt MH] damals fuumlr die Hesychasten mit Rom gleichgesetzt wurde so verkoumlrpert heute das kosmopolitische New York den Westen Indem sie Liberalismus und Saumlkularisie-rung abwehrt tritt die Kirche auch gegen die politischen und wirtschaftlichen Hegemoniebestrebungen des Westens auf und stellt so ihr Bestreben unter Beweis die zivilisatorische Eigenstaumlndigkeit Russlands wieder herzustellen Wie schon vor 600 Jahren im Byzantinischen Imperium so ist auch heute in Russland allein die Kirche ein ernstzunehmender und gut organisierter Gegner des Westens und seiner saumlkularen Werte [hellip] Sollte Russland weiter den Weg der Saumlkularisierung be-schreiten so koumlnnte damit fuumlr die Kirche der gefaumlhrliche Praumlzedenzfall geschaffen werden in dem sie von ihrem Recht Gebrauch machen muumlsste das Volk zu zivilem Ungehorsam aufzurufen95

In seinem Vorwort nannte Prochorov das Buch seines Schuumllers eine bdquoWarnung an unseren Staat unsere saumlkulare Gesellschaft an uns alleldquo96 Wie das spaumlte Byzanz unter dem bdquoDruck aus dem Westenldquo gestanden habe ndash dem die Herrscher und die bdquoHumanistenldquo schlieszliglich nachgegeben haumltten ndash so laufe auch das postkommu-nistische Russland Gefahr dem bdquoDruck des Liberalismus und der Globalisierungldquo nachzugeben Allein die Orthodoxe Kirche habe sich damals wie heute als bdquoFes-tungldquo erwiesen faumlhig diesem bdquozersetzenden Einflussldquo Widerstand zu leisten97

Petrunins Buch das mit dem Segen von Metropolit Ilarion (Grigorij Al-feev)98 erschienen war stieszlig bei westlichen Forschern auf Skepsis und Ableh-nung So kritisierte Kristina Stoumlckl die unhistorische Interpretation und forcierte Aktualisierung der philosophischen theologischen und politischen Kontroversen des 14 Jahrhunderts sowie die einseitige konservative Interpretation der Sozial-konzeption Hesychasmus werde in dem Kirchendokument ebenso wenig erwaumlhnt

93 Osnovy socialrsquonoj koncepcii 94 Petrunin Političeskij isichazm 81 95 Ebd 122f 96 Ebd 5 97 Ebd 98 Zu jener Zeit Bischof von Wien und Oumlsterreich heute Leiter des Auszligenamtes des Moskau-

er Patriarchats und scharfer Kritiker des bdquomilitanten Saumlkularismusldquo des Westens Siehe auch lthttpazbykaruxristianstvo-pered-vyzovom-voinstvuyushhego-sekulyariz ma-2gt

28 Michael Hagemeister

wie der Untergang von Byzanz99 Klaus Buchenau warf Petrunin vor er bdquoverfor-m[e] und ideologisier[e] die urspruumlnglichen Motive des hesychastischen Moumlnch-tums bis zur Unkenntlichkeitldquo100 Und Viktor Živov der bereits Prochorovs Kon-zept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo als bdquoUnkrautldquo bezeichnet hatte sah in Petru-nins Buch ein Beispiel dafuumlr wie dieses sich bdquospontan und schaumldlichldquo ausbreite Die von Petrunin konstruierte bdquophantastische Genealogie des politischen Hesy-chasmusldquo beruhe so Živov auf einer bdquoMischung aus Einseitigkeit und Unwissen-heitldquo Weder sei der bdquotuumlrkische Turbanldquo fuumlr den Patriarchen attraktiv gewesen noch sei am Widerstand gegen die Union irgendetwas spezifisch bdquoHesychasti-schesldquo Petrunin habe ein bdquoPhantomldquo geschaffen dessen angebliche Verbindung mit der Sozialkonzeption man nicht weiter zu verfolgen brauche101

bdquoNeobyzantismusldquo Das Dritte Rom ndash der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo

Eine eigenwillige Interpretation des Hesychasmus und seine Wendung gegen den Westen stammen von Aleksandr Dugin dem Fuumlhrer der bdquoeurasischenldquo Bewegung und einflussreichsten Vordenker der Neuen Rechten in Russland Der polyglotte und belesene Autodidakt der nie eine akademische Ausbildung genossen hat war Gruumlnder der Partei der Nationalbolschewisten Berater des Vorsitzenden der Du-ma und des Generalstabs sowie von 2008 bis 2014 Professor fuumlr Soziologie an der renommierten Moskauer Lomonosov-Universitaumlt und Direktor des dortigen bdquoZentrums fuumlr Konservatismusstudienldquo Seit Anfang der 1990er Jahre verbreitet er mit graphomanem Eifer seine politischen und bdquometaphysischenldquo Botschaften in einer inzwischen kaum noch uumlberschaubaren Zahl von Publikationen102 und Web-Artikeln in mehreren Sprachen sowie durch spektakulaumlre Auftritte in staats-nahen Medien103 99 Kristina Stoumlckl bdquoPolitical Hesychasm Vladimir Petruninrsquos Neo-Byzantine Interpretation

of the Social Doctrine of the Russian Orthodox Churchldquo in Studies in East European Thought 62 (2010) 125ndash133

100 Klaus Buchenau Auf russischen Spuren Orthodoxe Antiwestler in Serbien 1850ndash1945 Wiesbaden 2011 480 Anm 2

101 Živov bdquoVidenija svetaldquo 364f ndash Von der Kritik offenbar unbeeindruckt verschaumlrfte Petru-nin noch seine Position So sprach er 2012 in einem Vortrag uumlber die gesellschaftliche und politische Wirkung der hesychastischen Gebetspraxis Nach dem Fall von Byzanz sei das bdquoJesusgebet faktisch zu einem sbquopolitischen Gebetlsquoldquo geworden das auf die bdquoVerwandlung [preobraženie] der orthodoxen Oumlkumeneldquo ausgerichtet gewesen sei und das bdquoPhaumlnomen der Heiligen Rusrsquoldquo hervorgebracht habe lthttpsynergia-isarup=8604gt

102 Zuletzt in der bislang fuumlnf Baumlnde umfassenden Reihe bdquoNoomachijaldquo (2014ndash2015) einer hochambitioumlsen letztlich aber manichaumlisch-schematischen Beschreibung der bdquoSuche nach dem Logosldquo in den ndash von Dugin essenzialistisch aufgefassten ndash bdquoWeltkulturenldquo

103 Auch die Literatur zu Dugin ist kaum noch uumlberschaubar Siehe zB Alexander Houmlllwerth Das sakrale eurasische Imperium des Aleksandr Dugin Eine Diskursanalyse zum post-sowjetischen russischen Rechtsextremismus Stuttgart 2007 Stefan Wiederkehr Die eurasische Bewegung Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwi-schenkriegszeit und im postsowjetischen Russland Koumlln [ua] 2007 227ndash261 Anton

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 29

Dugin deutet den Hesychasmus im Rahmen des sogenannten bdquointegralen Traditionalismusldquo einer antimodernen Denkrichtung die im ersten Drittel des 20 Jahrhunderts in Frankreich und Italien entstand und in Reneacute Gueacutenon (1886ndash1951) und Julius Evola (1898ndash1974) ihre bekanntesten (und auch fuumlr Dugin wichtigsten) Vertreter hat104 Ihre Lehre besagt dass alle Religionen ungeachtet ihrer histori-schen und regionalen Auspraumlgungen in ihrem esoterischen nur dem Eingeweih-ten zugaumlnglichen Kern eine gemeinsame urspruumlngliche Wahrheit teilen und als philosophia perennis tradieren das Wissen um die Goumlttlichkeit und den Zugang zu ihr Dieses sakrale und initiatorische Wissen sei im Verlauf der westlichen Mo-derne insbesondere durch die Aufklaumlrung verlorengegangen in traditionellen Gesellschaften (China Indien islamische Welt) jedoch bewahrt geblieben105

Auch die Orthodoxie so Dugin habe im Gegensatz zu Katholizismus und Protestantismus bdquodie Treue zum esoterischen Kernldquo bewahrt naumlmlich in ihrer mystischen Unterstroumlmung dem Hesychasmus106 In der Kanonisierung des Gre-gorios Palamas durch die Ostkirche bei gleichzeitiger Verdammung des Humanis-ten Barlaam sieht Dugin das Bekenntnis zum bdquognostisch-realistischen Geist der orthodoxen Esoterikldquo Ganz im Sinn des Traditionalismus deutet er die psycho-physische Uumlbung der Hesychasten das bdquogeistige Tunldquo als Verfahren der bdquoInitia-tionldquo und das Endziel der bdquoVerklaumlrungldquo und bdquoVergoumlttlichungldquo als bdquoalchemistische Verwandlung des Leibesldquo (alchimičeskoe preobraženie tela) Dadurch wuumlrden der bdquoDualismus von Geist und Materie Leib und Seeleldquo sowie die bdquoGrenzen der Individualitaumltldquo ndash charakteristisch fuumlr den bdquorein exoterischen Mystizismusldquo des Westens ndash aufgehoben107 Die bdquoTradition der hesychastischen Esoterikldquo sei die

Shekhovtsov bdquoThe Palingenetic Thrust of Russian Neo-Eurasianism Ideas of Rebirth in Aleksandr Duginrsquos Worldviewldquo in Totalitarian Movements and Political Religions 9 (2008) 491ndash506 Mark Sedgwick bdquoOccult Dissident Culture The Case of Aleksandr Du-ginldquo in Birgit Menzel [ua] (Hgg) The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimen-sions MuumlnchenBerlin 2012 273ndash292 Schmid Technologien der Seele 210ndash220

104 Aleksandr Dugin Filosofija tradicionalizma Moskva 2002 Zum Traditionalismus siehe das Standardwerk von Mark Sedgwick Against the Modern World Traditionalism and the Secret Intellectual History of the Twentieth Century OxfordNew York 2004 zu Dugin 221ndash237 Vgl auch Christopher DL Johnson The Globalization of the Jesus Prayer Con-testing Contemplation London New York 2010 70ndash73

105 Aumlhnliche Gedanken entwickelte Pavel Florenskij bereits 19081909 in seinem Vortrag bdquoObščečelovečeskie korni idealizmaldquo in dem er die bdquoEsoterikldquo der Philosophie Platons und seiner Nachfolger in der bdquoallgemeinmenschlichenldquo mystisch-magischen Weltauffas-sung der bdquoVolksseeleldquo wurzeln laumlsst

106 Das Folgende nach Aleksandr Dugin bdquoOboženie preestestvennejšeeldquo in Milyj angel 1 1991 56ndash59

107 Das Konzept der bdquoInitiationldquo und die Unterscheidung von bdquoesoterischldquo und bdquoexoterischldquo sind zentral fuumlr die Anhaumlnger des Traditionalismus siehe Sedgwick Against the Modern World 265 ndash Als Mitglied des okkultistischen und faschistischen Južinskij-Kreises machte Dugin in Moskaus bdquomystischem Untergrundldquo in den 1980er Jahren selbst Entgrenzugser-fahrungen mit Hilfe sexualmagischer Praktiken und bewusstseinserweiternder Drogen Bei einem Teil der orthodoxen Glaumlubigen stoumlszligt seine Esoterik denn auch auf Misstrauen und

30 Michael Hagemeister

bdquoSeele der russischen Orthodoxieldquo und habe in Serafim von Sarov ihren bdquoletzten leuchtendsten Vertreterldquo gefunden

Der Hesychasmus gehoumlre zum traditionellen Erbe von Byzanz das Russ-land angetreten habe als es zum Dritten Rom und zum Zentrum der orthodoxen Welt geworden sei bdquoWir sindldquo so Dugin bdquobyzantinisch in unserer Seele unseren Wurzeln und in unserer Identitaumltldquo108

Unser stabilstes Fundament ist Byzanz [hellip] Russland ist Byzanz [hellip] Unsere For-mel lautet Der Westen ist das Boumlse Byzanz das Gute Alles Schlechte das uumlber Byzanz geschrieben wurde ist eine Luumlge Das sind lediglich Winkelzuumlge im ideolo-gischen Kampf von Seiten des Westens [hellip] Jeder Russe muss wissen Byzanz ist das reine Gute Jeder der etwas anderes behauptet ist ein Feind [hellip] Wer Byzanz kritisiert ist ein Feind des russischen Volkes Das muss unser ehernes Prinzip sein [hellip] Byzanz ist der absolute Orientierungspunkt des russischen Projekts109

Damit sind Russlands Ort und Mission in der bdquohistoriosophischenldquo Deutung des Weltgeschehens bestimmt Nach Dugin wird die Geschichte der Menschheit be-herrscht vom bdquookkulten planetarischen Ringenldquo zweier antagonistischer Maumlchte dem bdquogroszligen Krieg der Kontinenteldquo Land gegen Meer Behemoth gegen Levia-than die organischen bodenstaumlndigen und traditionalistischen bdquoTellurokratienldquo des eurasischen Ostens gegen die wurzel- und seelenlosen materialistischen bdquoTha-lassokratienldquo des angloamerikanischen Westens das apokalyptische Tier aus dem Meer (Offb 13 1-10)110 Die USA als bdquoQuintessenz des Westensldquo und New York als moderne Hure Babylon (Offb 17 und 18) sind das Reich des Antichrist eine chimaumlrisch-antiorganische transplantierte Zivilisation die keine sakrale Tradi-tion besitze ihre Selbsterhebung zu bdquoGottes neuem Israelldquo und bdquoNeuem Zionldquo ndash gemaumlszlig der anglo-amerikanischen Interpretation der Substitutionslehre ndash deutet Dugin als besonders perfiden Taumluschungsversuch des bdquowestlichen Antichristldquo Das Jahr der Entdeckung Amerikas (1492 ist nach der altrussisch-byzantinischen

offene Ablehnung Fuumlr den Sektenexperten des Moskauer Patriarchats ist Dugin ein bdquoge-faumlhrlicher Feindldquo der die bdquoOrthodoxie in Kabbalistik umzuschmelzenldquo versuche Andrej Kuraev Cerkovrsquo v mire ljudej Moskva 2006 142

108 Aleksandr Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Tradition Duginrsquos Guidelineldquo lthttpswwwyoutubecomwatchv=m0RIa61eZDggt

109 Aleksandr Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo in ders Russkaja Veščrsquo Očerki nacionalrsquonoj filosofii Bd 1 Moskva 2001 69ndash76 hier 70ndash72 (Hervorhebungen im Original) Der Be-griff bdquoByzantismusldquo (vizantizm) ndash im Unterschied zum negativ konnotierten bdquoByzantinis-musldquo ndash als Bezeichnung eines dem europaumlischen entgegengesetzten Kulturtypus der auf den Prinzipien von Orthodoxie und Selbstherrschaft beruht geht auf den konservativen Philosophen Konstantin Leontrsquoev (1831ndash1891) und sein Buch Vizantizm i slavjanstvo (1875) zuruumlck

110 Auch fuumlr den von Dugin verehrten Heidegger waren die Seemaumlchte Groszligbritannien und Amerika nicht Teil der abendlaumlndischen Tradition sondern im Gegensatz zum restlichen Europa wurzellos und sinnleer Der Antagonismus von Land und Meer die kategorische Unterscheidung von Freund und Feind sowie das Konzept des Katechon gehen auf Carl Schmitt zuruumlck als dessen Schuumller Dugin sich bezeichnet Siehe auch Fn 41

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 31

Weltaumlra das Jahr 7000 nach dem chiliadischen Weltwochenschema also der sieb-te Tag der Schoumlpfung) verweise ebenso auf den Endzeitcharakter der bdquoNeuen Weltldquo wie die bdquosakrale Geographieldquo nach der das Paradies im Osten die Houmllle aber das bdquoLand des Todesldquo im Westen zu suchen seien111

Dem Antichrist entgegen stehe seit jeher der Katechon dessen bdquoletzter Hortldquo bis ans Ende der Zeit die Heilige Rusrsquo das Dritte Rom sei112 In der petrini-schen Epoche als die Hauptstadt in die bdquonoumlrdlichen Suumlmpfeldquo in die bdquoGespenster-stadtldquo Petersburg verlegt und das Patriarchat abgeschafft wurde haumltten allein die Altglaumlubigen den Geist von Byzanz den Katechon bewahrt zweihundert Jahre lang sei der Weg frei gewesen fuumlr das zerstoumlrerische Wirken des Antichrist Erst die sowjetische Periode habe eine bdquomystische Ruumlckkehr zum Byzantismusldquo be-deutet indem die Bolschewiki das heilige Moskau wieder zur Hauptstadt erklaumlr-ten das Patriarchat wiederherstellten die Ausbeuter als Klasse vernichteten und dem Westen auf allen Gebieten Widerstand boten Im bdquoroten Byzantismusldquo der Dritten Internationale sei der Katechon zuruumlckgekehrt113

Um seine Mission zur Erloumlsung der Menschheit auch kuumlnftig zu erfuumlllen muumlsse das Dritte Rom nach dem Zerfall der Sowjetunion114 nunmehr ein groszligkon-tinentales sakral fundiertes bdquoEurasisches Imperiumldquo errichten gegen den Erz-feind die materialistische universalistische alles nivellierende Zivilisation des Westens als der Verkoumlrperung des bdquoweltweiten Boumlsenldquo (mirovoe zlo) gegen Libe-ralismus Individualismus Globalismus Egalitarismus sowie die bdquomondialisti-scheldquo Konzeption der Menschenrechte115 Verbuumlndete im bevorstehenden apoka-lyptischen bdquoEndkampfldquo (von Dugin stets deutsch geschrieben) werden all jene sein die den Bezug zum bdquoSakralenldquo noch nicht verloren haben russische Altglaumlu-bige ultraorthodoxe antizionistische Juden europaumlische Traditionalisten sowie jene bdquoanti-atlantischenldquo islamistischen Fundamentalisten die in den USA den Dajjacircl den falschen Messias und Antichrist erkennen gegen den die Retter-gestalt des Mahdicirc zu Felde ziehen wird116 111 Aleksandr Dugin Absoljutnaja Rodina Puti Absoljuta Metafizika Blagoj Vesti Misterii

Evrazii Moskva 1999 645ndash670 112 Ebd 378ndash395 493ndash521 113 Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo 74ndash76 Siehe auch ders bdquoKatechon i revoljucijaldquo in ders

Tampliery proletariata Nacional-bolrsquoševizm i iniciacija Moskva 1997 52ndash59 ndash Die mes-sianische Identifizierung des Dritten Rom mit der Dritten Internationale reicht bis ins Gruumlndungsjahr der Komintern (1919) zuruumlck Beide so der slawophile Philosoph und An-haumlnger des imjaslavie Valerian Muravrsquoev (1885ndash1930) in einem Brief vom 6 Januar 1920 an Lev Trockij seien Ausdruck der Suche des russischen Volkes und der Intelligencija nach einem Reich der Wahrheit und Gerechtigkeit Valerian Muravrsquoev Sočinenija Bd 2 Moskva 2011 352f Weitere Belege bei Emanuel Sarkisyanz Russland und der Messianis-mus des Orients Tuumlbingen 1955 196 Mikhail Agursky Third Rome National Bolshevism in the USSR Boulder Co 1987

114 Damals sah ein Journalist bdquoauf den Ruinen des Imperiumsldquo das Dritte Rom in Gefahr zu einem Land der Dritten Welt zu werden Andrej Fadin bdquoTretij Rim v tretrsquoem mire Razmy-šlenija na ruinach imperiildquo in Nezavisimaja gazeta 1291991

115 [Aleksandr Dugin] bdquoLibo-my libo-ničtoldquo in Ėlementy 8 19961997 1ndash4 hier 2 116 [Aleksandr Dugin] bdquoIdeologija Mirovogo Pravitelrsquostvaldquo in Ėlementy 2 1992 1f

32 Michael Hagemeister

Das Dritte Rom als Zentrum des eurasischen bdquoEuro-Sowjetischen Imperiumsldquo Titelbild der von Aleksandr Dugin herausgegebenen Zeitschrift bdquoElemente Eurasische Rundschauldquo (1992) Dugins Werk mit seiner provokanten Mischung esoterischer antimoderner und antiwestlicher Motive findet besonders unter jungen Intellektuellen Anklang und Nachahmer so etwa bei dem promovierten Philosophen und selbstproklamierten bdquoorthodoxen Metaphysikerldquo Arkadij Maler einem vehementen Propagandisten einer bdquopolitischen Orthodoxieldquo (političeskoe Pravoslavie) und fuumlhrenden Ideolo-gen der bdquoneobyzantinischenldquo Doktrin Obwohl sich Maler von Dugin distan-ziert117 beschwoumlrt auch er die eschatologische bdquogeistige Mission des Dritten Romldquo die es von Byzanz geerbt habe und die in seiner bdquozentralen katechontischen Rolleldquo bestehe dem Kampf gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo des bdquogottlosen Wes-tensldquo118 Russische Politik koumlnne deshalb nicht anders als imperial sein und muumlsse ihren Einfluss auf den gesamten Planeten ausdehnen Wie Dugin sieht auch Maler die Bolschewiki in dieser Tradition als sie Moskau zur Hauptstadt des bdquoRoten

117 In den spaumlten 1990er Jahren gehoumlrte Maler der vaumlterlicherseits juumldischer Abstammung ist

zusammen mit Dugin und Ėduard Limonov zur Fuumlhrungsriege der Nationalbolschewisti-schen Partei und schrieb fuumlr die Parteizeitung Limonka sich selbst charakterisierte er als bdquorotbraunen Zionistenldquo Nach seiner Konversion zur Orthodoxie trennte er sich 1999 von Dugin und kritisierte dessen esoterischen Traditionalismus aus einer ultraorthodoxen Posi-tion Dugin wiederum warf Maler vor ihn zu plagiieren

118 Arkadij Maler Duchovnaja missija Tretrsquoego Rima Moskva 2005 bes 134ndash136 170ndash206 Siehe auch ders bdquoIdeologija Vizantizmaldquo in Severnij Katechon 1 (2005) 7ndash49 bdquoNeovi-zantizm kak novyj bolrsquošoj stilrsquoldquo in Aleksej Nilogov (Hg) Kto segodnja delaet filosofiju v Rossii Moskva 2007 110ndash124

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 33

Imperiumsldquo machten und dieses zur bdquoabsoluten Antithese des Westensldquo erklaumlrten zum bdquoTraumlger der planetarischen Mission der Befreiung der Welt aus den sbquoFesseln des Kapitalslsquoldquo119 Das Dritte Rom sei zeitweise in die Dritte Internationale trans-formiert worden ohne jedoch seine Mission als Katechon als aufhaltende Macht gegen das Reich des Boumlsen und Ausgangspunkt zur Errettung der Welt aufzuge-ben Die bdquoletzte Etappeldquo im Kampf gegen den Antichrist werde so Maler der bdquoeschatologische Krieg des Dritten Rom gegen das Dritte Karthagoldquo den bdquoAnti-katechonldquo sein die bdquoanglo-amerikanische [] atlantische Zivilisationldquo120 Zur Propagierung der katechontischen Mission Russlands gruumlndete Maler 1999 am Institut fuumlr Philosophie der Akademie der Wissenschaften in Moskau einen bdquoBy-zantistischen Klub Katechonldquo (Vizantistskij Klub Katechon) und 2005 das bdquoPhi-losophisch-politische Zentrum sbquoNoumlrdlicher Katechonlsquoldquo das einen gleichnamigen Almanach (Severnyj Katechon) herausgibt121

Apokalyptischer Ausblick

Die Formel vom Dritten Rom und die Figur des Katechon des Aufhalters des bdquoweltweiten Boumlsenldquo sind zu Markenzeichen russischer Anti-Westler und Ver-schwoumlrungstheoretiker und ihres schrillen Szenariums eines globalen apokalyp-tischen bdquoEndkampfesldquo gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo geworden122 Unter dem Titel bdquoDie russische Doktrin Die Staatsideologie der Epoche Putinsldquo verfasste in den Jahren 2005 und 2006 ein Kollektiv nationalpatriotischer Autoren ndash unter ih-nen der bdquoByzantistldquo Arkadij Maler ndash ein uumlber 1000 Seiten langes ultrakonservati-ves und antiwestliches Manifest das auch die Unterstuumltzung hoher kirchlicher Wuumlrdentraumlger fand123 In ihrem Entwurf einer bdquoorganischen weltanschaulichen Plattformldquo fuumlr das kuumlnftige Russland behandeln die Autoren ausfuumlhrlich die bdquohis-toriosophischeldquo Konzeption vom Dritten Rom und seine Mission als Katechon gegen das bdquoHeidentumldquo des Westens124 Gefordert wird die positive Identifikation

119 Maler Duchovnaja missija 182f 185 120 Ebd 177 ndash Als Mittel im ideologischen Kampf gegen den saumlkularen Westen fordert Maler

in Analogie zur katholischen Gegenreformation eine orthodoxe konservative bdquoGegenauf-klaumlrungldquo (Kontrprosveščenie) lthttpwwwkatehonruhtmltoppolitologiaideaotkritije _polit_pravoslavijahtmgt

121 Siehe die Website lthttpwwwkatehonrugt 122 Siehe zB Galina A Morozova Tretij Rim protiv novogo mirovogo porjadka Moskva

2009 Die Formel von Dritten Rom hat laumlngst auch Schriftsteller und Maler inspiriert und scheint auch werbewirksam zu sein bdquoDrittes Romldquo nennt sich ein Verlag ein Videospiel eine Bank ein Reisebuumlro und sogar ein Kasino in Jalta Ein Schoumlnheitswettbewerb in Mos-kau vergibt alljaumlhrlich den Titel einer bdquoMiss Drittes Romldquo Judith E Kalb Russiarsquos Rome Imperial Visions Messianic Dreams 1890ndash1940 Madison Wisconsin 2008 198f Zum Katechon siehe Maria Engstroumlm bdquoContemporary Russian Messianism and New Russian Foreign Policyldquo in Contemporary Security Policy 35 (2014) 3 356ndash379

123 Russkaja doktrina Gosudarstvennaja ideologija ėpochi Putina Moskva 2016 124 Ebd 68ndash72 116ndash120 und passim

34 Michael Hagemeister

mit der Geschichte Russlands und seinen Lichtgestalten dem Heiligen Serafim von Sarov dem bdquoeschatologischen Fuumlhrer des russischen Volkes am Ende der Zeitenldquo der bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo und Stalin der dem paulinischen Kate-chon gleich die bdquoGesetzlosigkeitldquo (bezzakonie) bekaumlmpft und das bdquoFundament fuumlr eine groszlige Zukunftldquo gelegt habe125

bdquoKatechonldquo nennt sich auch ein prominent besetzter Think tank den der Oligarch und Berater Putins Konstantin Malofeev im Jahr 2015 gegruumlndet hat126 Der Milliardaumlr der sein Vermoumlgen mit einer Investmentfirma auf den Cayman Inseln gemacht hat bezeichnet sich selbst als bdquoorthodoxen Monarchistenldquo127 Er unterstuumltzt die Separatisten in der Ostukraine und unterhaumllt vielfaumlltige Verbindun-gen zu europaumlischen Rechtspopulisten wie dem Front National der FPOuml Syriza und der Lega Nord Neben dem Forum bdquoKatechonldquo betreibt Malofeev auch einen Fernsehsender mit dem programmatischen Namen bdquoZargradldquo128 (Motto bdquoDas Licht Christi erleuchtet alleldquo) dessen Chefkommentator niemand anderes ist als Aleksandr Dugin129

bdquoKatechonldquo und bdquoZargradldquo propagieren den Kampf gegen die westliche Moderne mit Bezug auf das byzantinische Erbe Russlands Im November 2014 fand in der Moskauer Manege eine Konferenz bdquoMoskau ndash das Dritte Romldquo statt130 An ihr nahmen auszliger Dugin und Malofeev auch Archimandrit Tichon und Nata-lrsquoja Naročnickaja teil eine hochrangige Diplomatin Mitglied des Izborsker Klubs und Leiterin des Pariser bdquoInstituts fuumlr Demokratie und Kooperationldquo das die oumlf-fentliche Meinung im Westen im Sinne des Kremls beeinflussen soll Tichons Film bdquoDie Lehre von Byzanzldquo sei so Naročnickaja auch eine Warnung an den Westen der seine christlichen Werte verraten habe weshalb er den glaubens-festen Migranten und ihrer Verachtung hilflos ausgeliefert sei131

Im Oktober 2009 wurde Tichons Film in Athen vor ausverkauftem Saal aufgefuumlhrt Unter denen die dem Drehbuchautor Beifall spendeten war der Philo-soph und Theologe Christos Yannaras einer der Hauptvertreter der Neoorthodo-xie und scharfer Kritiker des Westens Wie ihre russischen Gesinnungsgenossen

125 Ebd 130f 153 142ndash145 126 Mit einem Auftritt im Internet in 9 Sprachen Siehe die deutsche Version unter lthttp

katehoncomdewer-sind-wirgt 127 lthttpsdewikipediaorgwikiKonstantin_Walerjewitsch_Malofejewgt 128 Carrsquograd ist der altrussische Name fuumlr Konstantinopel 129 Auch Dugin unterhaumllt seit mehr als 25 Jahren Kontakte zu ultrakonservativen traditiona-

listischen und faschistischen Gesinnungsgenossen in Westeuropa Siehe Vladimir Ivanov Alexander Dugin und die rechtsextremen Netzwerke Fakten und Hypothesen zu den inter-nationalen Verflechtungen der russischen Neuen Rechten Stuttgart 2007

130 lthttpwwwpravoslavieru75070htmlgt 131 lthttpwwwpravoslavieru7414htmlgt ndash Fuumlr Metropolit Ilarion (Alfeev) der sich dabei

auf Dugin beruft verwandeln sich die Laumlnder Westeuropas bereits in die bdquoSphaumlre des Anti-christldquo lthttpwwwpatriarchiarudbtext3065216htmlgt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 35

verherrlichen auch die griechischen Neoorthodoxen die byzantinische Vergan-genheit und sehen in der modernen saumlkularen Gesellschaft eine Bedrohung ihrer kulturellen Identitaumlt132 Gemeinsam suchen sie der Globalisierung mit einer bdquoby-zantinischen Internationaleldquo als bdquoorthodoxer Oumlkumeneldquo entgegenzuwirken einer letztlich sakral verstandenen Gemeinschaft deren Einfluss indes weit uumlber die kirchliche Sphaumlre hinausreichen und eine transnationale Vereinigung der ortho-doxen Welt von Serbien uumlber Syrien bis Georgien und Armenien unter Fuumlhrung Moskaus schaffen soll133 Als wichtiger symbolischer Schritt auf diesem Weg wurde der Besuch von Praumlsident Putin und Patriarch Kirill des Heiligen Berges Athos einer traditionellen Hochburg antiwestlicher Opposition im Mai 2016 ge-feiert Das weltliche und das geistliche Oberhaupt Russlands ndash die bdquoSymphonia der Maumlchteldquo ndash zeigten damit so Aleksandr Dugin ihr Bekenntnis zu Byzanz und seiner Rolle als Katechon Damit anerkenne bdquounsere Rusrsquo ihre historische Bestim-mung Wir sind bereit fuumlr die Endzeitldquo134

132 Ausfuumlhrlich dazu Daniel P Payne The Revival of Political Hesychasm in Contemporary

Orthodox Thought The Political Hesychasm of John Romanides and Christos Yannaras Lanham [ua] 2011 Siehe auch Vasilios N Makrides bdquoByzantium in Contemporary Greece The Neo-Orthodox Current of Ideasldquo in David RicksPaul Magdalino (Hgg) Byzantium and the Modern Greek Identity Aldershot 1998 141ndash153 Zum griechischen Neobyzantismus unter russischem Einfluss Aleksey Kamenskikh bdquoThe Image of the Second Rome through the Prism of the Thirdrdquo in Teresa Obolevich [ua] (Hgg) Russian Thought in Europe Reception Polemics Development Krakoacutew 2013 13ndash22 ndash Antimo-derne und antiwestliche Stroumlmungen in den vom orthodoxen Christentum gepraumlgten Kultu-ren haben der Religionswissenschaftler Makrides und der Slavist Uffelmann vor einigen Jahren als Desiderat der Forschung benannt Vasilios N MakridesDirk Uffelmann bdquoStudying Eastern Orthodox Anti-Westernism The Need for a Comparative Research Agendaldquo in Jonathan SuttonWil van den Bercken (Hgg) Orthodox Christianity and Contemporary Europe Leuven [ua] 2003 87ndash120 Seitdem haben Makrides und die Politikwissenschaftlerin Stoumlckl eine Reihe einschlaumlgiger Arbeiten vorgelegt in denen or-thodoxe Alternativen zu westlichen philosophischen und politischen Konzepten untersucht werden Vasilios N Makrides bdquoOrthodoxes Cristentum und Moderne ndash Inkompatibilitaumlt oder langfristige Anpassungldquo in Una Sancta 2011 1 15ndash30 ders bdquoOumlstliches orthodo-xes Christentum und Saumlkularitaumlt Ein Vergleich mit dem lateinischen Christentumldquo in Transit 47 (2015) 59ndash75 Kristina Stoumlckl bdquoModernity and its Critique in Twentieth Cen-tury Russian Orthodox Thoughtldquo in Studies in East European Thought 58 (2006) 243ndash269 dies Community after Totalitarianism The Russian Orthodox Intellectual Tradition and the Philosophical Discourse of Political Modernity Frankfurt aM [ua] 2008

133 Dazu gehoumlrt auch die Verwirklichung des jahrhundertealten Traums der Wiedererrichtung des Kreuzes auf der Hagia Sophia Siehe Egor Cholmogorov Russkij proekt restavracija buduščego Moskva 2005 283 Der Verfasser Mitglied des Expertenteams des Izborsker Klubs ist Begruumlnder der Doktrin der bdquoAtomaren Orthodoxieldquo siehe Fn 74

134 Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Traditionldquo

ZUM AUTOR

Michael Hagemeister geb 1951 in EllwangenJagst Studium der Slavistik Ge-schichte Germanistik und Philosophie in Basel und MarburgLahn Promotion mit einer Arbeit uumlber den russischen Philosophen Nikolaj Fedorov Wissenschaft-licher Mitarbeiter am Slawischen Seminar in Marburg Gastprofessor am Seminar fuumlr Komparatistik der Universitaumlt Innsbruck Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lotman-Institut fuumlr russische und sowjetische Kultur der Ruhr-Universitaumlt Bo-chum am Lehrstuhl fuumlr Geschichte Osteuropas der Europa-Universitaumlt Viadrina Frankfurt (Oder) an den Historischen Seminaren der Universitaumlten Basel Duumlssel-dorf und Bochum Vertretung der Professuren fuumlr Geschichte Osteuropas an der Ludwig-Maximilians Universitaumlt Muumlnchen und an der Europa-Universitaumlt Frank-furt (Oder)

Forschungen zur russischen Philosophie und Geistesgeschichte zum utopischen und apokalyptischen Denken in Russland zum russischen Rechtsextremismus und Antisemitismus sowie insbesondere zu den Protokollen der Weisen von Zion und ihrem Herausgeber Sergej Nilus Publikationen ua Die Neue Menschheit Biopolitische Utopien in Russland (hg mit Boris Groys) Frankfurt aM 2005 The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimensions (hg mit Birgit Menzel und Bernice Rosenthal) Muumlnchen 2012 Die Fiktion von der juumldischen Weltver-schwoumlrung Zu Text und Kontext der bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo (hg mit Eva Horn) Goumlttingen 2012 Die bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo vor Gericht Der Berner Prozess und die bdquoantisemitische Internationaleldquo in der Zwischen-kriegszeit Chronik Dokumente und Kommentare Zuumlrich (im Druck)

ERFURTER VORTRAumlGE ZUR KULTURGESCHICHTE DES ORTHODOXEN CHRISTENTUMS Reihenherausgeber Vasilios N Makrides

Heft 1 Thomas Bremer Konfrontation statt Oumlkumene Zur kirchlichen Situation in der Ukraine Erfurt 2001

Heft 2 Gerhard Podskalsky Zur Hermeneutik des theologischen Ost-West-

Gespraumlchs in historischer Perspektive Erfurt 2002 Heft 3 Karl Christian Felmy Warum und zu welchem Behufe treiben wir

Ostkirchenkunde Erfurt 2003 Heft 4 Wassilios Klein bdquoTatarenjoch ndash татарское игоldquo Beobachtungen zur

Wahrnehmung des Islam im eurasischen Raum Erfurt 2005 Heft 5 Stamatios D Gerogiorgakis Zeitphilosophie im Mittelalter Byzantinische

und lateinische Vorstellungen Erfurt 2006 Heft 6 Heinz Ohme Das Oumlkumenische Patriarchat von Konstantinopel und die

tuumlrkische Religionspolitik Erfurt 2007 Heft 7 Alexander Agadjanian Russian Orthodox Vision of Human Rights Recent

Documents and Their Significance Erfurt 2008 Heft 8 Christos Yannaras Wem gehoumlrt die griechische Antike Erfurt 2009 Heft 9 Joachim Willems Religions- und Ethikunterricht in Russland ndash Was

wollen Staat und Kirche Zur Einfuumlhrung des neuen Schulfaches bdquoGrundlagen der religioumlsen Kulturen und der weltlichen Ethikldquo Erfurt 2010

Heft 10 Chris Hann Eastern Christianity and Western Social Theory Erfurt 2011 Heft 11 Jennifer Wasmuth Akademische Theologie im zaristischen Russland in

ihrer Bedeutung fuumlr die neuere orthodoxe Theologie Erfurt 2012 Heft 12 Anna Briskina-Muumlller Auf der Suche nach der bdquoHesychialdquo Paisij

Veličkovskij (1722ndash1794) und sein Leben fuumlr die bdquoPhilokalieldquo Erfurt 2014

Heft 13 Vladimir Cvetković From ldquoMerciful Angelrdquo to ldquoFortress Europerdquo The

Perception of Europe and the West in Contemporary Serbian Orthodoxy Erfurt 2015

Heft 14 Stefan G Reichelt Lebenslinien Nikolaj A Berdjaev (1874ndash1948) und Sergij N Bulgakov (1871ndash1944) im Westen ndash Eine Wuumlrdigung Erfurt 2015

Heft 15 Michael Hagemeister Der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo ndash bdquoNeobyzantismusldquo

und bdquopolitischer Hesychasmusldquo im postsowjetischen Russland Erfurt 2016

Alle Hefte der vorliegenden Schriftenreihe koumlnnen unter folgendem Link kostenlos heruntergeladen werden URL httpswwwuni-erfurtdereligionswissenschaftprofessur-orthodoxes-christentumveroeffentlichungenerfurter-vortraege-zur-kulturgeschichte-des-orthodoxen-christentums

Page 14: Michael Hagemeister FINAL - uni-erfurt.de · doziert Tichon, während er das antike Kons tantinopel computeranimiert auferste- hen lässt. Das prosperierende Impe rium erregte freilich

14 Michael Hagemeister

Zuerst muss der Abfall von Gott kommen und der Mensch der Gesetzlosigkeit offenbart werden der Sohn des Verderbens der Widersacher der sich erhebt uumlber alles was Gott heiszligt oder Heiligtum so dass er sich sogar in den Tempel Gottes setzt und sich fuumlr Gott ausgibt [] Denn das Geheimnis der Gesetzlosigkeit [τὸ μυστήριον τῆς ἀνομίας]40 ist schon wirksam nur muss erst der beseitigt werden der es bis jetzt noch aufhaumllt [ὁ κατέχων] und dann wird der Gesetzlose offenbart werden [hellip] (2 Thess 23-4 und 7-8)

Die durch bdquofeigen Verratldquo erzwungene Abdankung des Zaren im Maumlrz 1917 und seine Ermordung im Juli 1918 wurden denn auch als Erfuumlllung jener Prophetie verstanden dh als Beseitigung des Katechon damit der Weg frei werde fuumlr die Herrschaft des Antichrist41 Der Regizid wurde in dieser Sicht zu einem bdquoapoka-lyptischen Verbrechenldquo langfristig geplant und auf blutig-rituelle Weise ausge-fuumlhrt von den Agenten des Antichrist den Juden Fuumlr diese so der Historiker Mi-chail Nazarov war der von Gott erwaumlhlte und gesalbte apostelgleiche Herrscher des Dritten Rom der bdquokatechontischen orthodoxen Machtldquo objektiv der groumlszligte metaphysische Feind und seine Beseitigung mithin eine Tat bdquovon houmlchster mys-tisch-religioumlser Bedeutungldquo42

Viele Glaumlubige sind indes uumlberzeugt dass die Stelle des Katechon nicht vakant sei sondern von der Gottesmutter uumlbernommen wurde Als Beweis dafuumlr dient die wundersame Auffindung einer Ikone im Dorf Kolomenskoe bei Moskau an jenem Tag an dem Nikolaus II dem Thron entsagte43 Die Ikone zeigt die

40 Luther uumlbersetzt bdquoGeheimnis der Bosheitldquo in der mittelalterlichen Theologie als der Anti-

christ gedeutet der nach der Offenbarung des Johannes am Ende der Zeiten erscheint 41 Im Russischen wird die Rolle des bdquoSelbstherrschersldquo (samoderžec) als bdquoAufhalter Kate-

chonldquo (uderživajuščij) auch etymologisch deutlich russ deržatrsquo entspricht griech κατέ-χειν ndash Die mysterioumlse Figur des Katechon (im griechischen Text einmal Neutrum einmal Maskulinum) die das Endgericht und den Anbruch des Reiches Gottes verzoumlgert bietet sich ebenso wie der Antichrist und seine Trabanten seit jeher zu immer neuen Identifikatio-nen mit einzelnen Gestalten Gruppen oder politischen Maumlchten an So identifizierte Carl Schmitt (1888ndash1985) der bdquoApokalyptiker der Gegenrevolutionldquo (Jacob Taubes) Liberalis-mus Bolschewismus und Judentum mit dem Antichrist (oder seinen Agenten) und glaubte dendas Katechon unter anderem in der Diktatur Hitlers zu erkennen 1947 notierte er bdquoIch glaube an den Katechon er ist fuumlr mich die einzige Moumlglichkeit als Christ Geschichte zu verstehen und sinnvoll zu findenldquo Carl Schmitt Glossarium Aufzeichnungen aus den Jah-ren 1947 bis 1958 hg von Gerd Giesler und Martin Tielke Berlin 2015 47 Schmitt und seine politische Theologie werden in russischen Intellektuellenkreisen intensiv rezipiert

42 Nazarov Voždju 213ndash223 ders Tajna Rossii Istoriosofija XX veka 1999 695ndash699 ndash Die Ermordung der Zarenfamilie durch die Bolschewiki im Juli 1918 in Ekaterinburg wur-de und wird von russischen Nationalisten als juumldischer antichristlicher Ritualmord darge-stellt Extremistische Kirchenkreise forderten denn auch Nikolaus II und seine Familie als bdquovon Jidden Gemarterteldquo (ot židov umučennye) heiligzusprechen Dem wurde freilich von fuumlhrenden Vertretern des Moskauer Patriarchats widersprochen

43 Im Februar 1917 war der Baumluerin Evdokija Andrianova im Traum der Fundort der Ikone erschienen Nach langem Suchen wurde diese schlieszliglich am 215 Maumlrz im Keller der Himmelfahrtskirche von Kolomenskoe entdeckt Siehe Aleksandr N Kazakevič bdquosbquoV podvale chrama pojavilasrsquo ikona Bogomaterilsquo Dokumenty Centralrsquonogo istoričeskogo

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 15

Himmelskoumlnigin mit den Zeichen ihrer Regentschaft im kaiserlichen Purpur mit Krone Szepter und Reichsapfel Das Bild der bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo (Bogo-materrsquo Deržavnaja) erwies sich sogleich als wundertaumltig und zog zahlreiche Pil-ger an Kopien verbreiteten seine Verehrung im ganzen Land Bis heute gilt es vielen als ein Zeichen dass Russlands Schutz vor dem Ansturm des Antichrist vom Zaren auf die Gottesmutter uumlbergegangen ist und sie die autokratische Macht bis zur Wiederherstellung der Monarchie bewahren wird44 Zum 70 Jahrestag des Sieges lieszlig der Izborsker Klub eine Variante der beruumlhmten Ikone anfertigen Sie zeigt die bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo zusammen mit Stalin und seinen Marschaumll-len Fuumlr Aleksandr Prochanov ist Stalin der Katechon der von Gott gesandte Fuumlhrer des Sowjetvolks das durch den Opfertod seiner Soumlhne im bdquogeheiligtenldquo Groszligen Vaterlaumlndischen Krieg ebenso wie einst Christus die Macht der Houmllle be-siegt und die Menschheit erloumlst habe45

lthttpwwwizborsk-clubruarh2015_04_Blokpdfgt

In bdquohistoriosophischerldquo Sicht bildet die Ermordung des Zaren und seiner Familie das zentrale sinnstiftende Ereignis der Geschichte Russlands im 20 Jahrhundert Alles darauf folgende Ungluumlck und Leiden die Verfolgung der Christen Hunger und Terror der Tod von Millionen Menschen werden aufgefasst als Strafe Gottes fuumlr den Abfall des russischen Volkes vom Glauben und fuumlr den judasgleichen

archiva Moskvy o Deržavnoj ikone Božiej Materildquo in Otečestvennye archivy 1 (2004) lthttpricolororghistorykasvyatyniik_derggt

44 Vgl Grigorij Nikolaev bdquoĖschatologičeskij triptichldquo in Ėschatologičeskij sbornik 358ndash396 hier 376f Bagdasarjan bdquoApokalipsis ndash segodnja 441f

45 Aleksandr Prochanov bdquoMističeskij stalinizmldquo in Izborskij klub Russkie strategii 4 (28) 2015 78ndash81 auch lthttpwwwizborsk-clubruarh2015_04_Blokpdfgt

16 Michael Hagemeister

bdquoVerratldquo an seinem Herrscher Wie Jesus sich dem Willen des goumlttlichen Vaters unterworfen hat und auf Golgatha fuumlr die Suumlnden der Welt gestorben ist so habe der Zar in Ekaterinburg (dem bdquorussischen Golgathaldquo) sein Leben als bdquoSuumlhneopferldquo dargebracht fuumlr die Suumlnden ganz Russlands46 Erst wenn das russische Volk sein Land von den Idolen und Symbolen der Gottlosigkeit reinige den Ideen der De-mokratie und politischen Gleichheit abschwoumlre seine kollektive Schuld bereue und Buszlige tue fuumlr das bdquoschrecklichste und unheilvollste Verbrechen des 20 Jahr-hundertsldquo werde der Zar zuruumlckkehren und Russland seine einstige Groumlszlige wie-dererlangen47

Einer der vehementesten und einflussreichsten Propagandisten der Selbst-charismatisierung Russlands war in den Jahren nach dem Ende der Sowjetunion Metropolit Ioann (Ivan Snyčev 1927ndash1995) von St Petersburg und Ladoga Mit-glied des Heiligen Synods und dritthoumlchster Kirchenhierarch des Landes In einer Vielzahl von Buumlchern Aufsaumltzen und Interviews beschwor Ioann die universale Mission des Dritten Rom als des bdquoletzten Hortes des wahren Glaubensldquo im Kampf gegen den Antichrist und seine Verbuumlndeten das bdquoVolk der Gesetzlosigkeitldquo48 Zu den apokalyptischen Feinden Christi zaumlhlte er die bdquoglobalen Maumlchte hinter den Kulissenldquo (mirovaja zakulisa) das internationale Freimaurertum die bdquotransnatio-nale Finanzoligarchieldquo die Anhaumlnger des Zionismus und Marxismus sowie Israel die USA und deren westeuropaumlische Satelliten49 Wiedergeboren im Geist der Or-thodoxie sei das Dritte Rom der irdische Sockel auf dem der Thron Gottes ruhen werde ndash ihm entgegen stehe der Dritte Tempel der Thron des Antichrist50

Hesychasmus als Kulturscheide ndash Kritik der Renaissance

Als entscheidende Waffe in dieser heilsgeschichtlichen Auseinandersetzung wird in juumlngster Zeit von antiwestlichen Intellektuellen und Kirchenkreisen der soge-nannte Hesychasmus in Stellung gebracht Urspruumlnglich handelt es sich dabei um

46 Das Schicksal des letzten Zaren wurde in der antibolschewistisch-antisemitischen Polemik

schon fruumlh mit der Passion Christi verglichen oder gleichgesetzt Eindrucksvolle Beispiele aus juumlngerer Zeit bieten die patriotischen Lieder der prominenten Saumlngerin Žanna Bičev-skaja oder die Filme Iskupitelrsquonaja žertva (1992) und Russkaja Golgofa (2000) Siehe auch Papkova The Orthodox Church 63f 222

47 Marija Achmetova Konec sveta v odnoj otdelrsquono vzjatoj strane Religioznye soobščestva postsovetskoj Rossii i ich ėschatologičeskij mif Moskva 2010 245ndash260

48 Vgl Rossman Russian Intellectual Antisemitism 221ndash225 Hagemeister bdquoDas Dritte Romldquo 476

49 Metropolit Ioann (Snyčev) bdquoToržestvo pravoslavijaldquo in ders Bitva za Rossiju Sankt-Peterburg 1993 28ndash35 In seinem Bestreben Russland als Opfer jahrhundertealter Ver-schwoumlrungen finsterer antichristlicher Maumlchte darzustellen griff Ioann immer wieder auch auf die Protokolle der Weisen von Zion zuruumlck

50 Metropolit Ioann (Snyčev) Samoderžavie ducha Očerki russkogo samosoznanija Sankt-Peterburg 1994 7

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 17

eine individuelle psychosomatische Gebets- und Meditationstechnik des byzanti-nischen und slavischen Moumlnchtums deren Anfaumlnge bis auf die Wuumlstenvaumlter zu-ruumlckreichen Durch die unablaumlssige konzentrierte Wiederholung des sogenannten bdquoJesusgebetsldquo ndash der Anrufung des rettenden Namens Jesu Christi ndash im Rhythmus des Herzschlags (deshalb auch bdquoHerzensgebetldquo) eine Uumlbung die als bdquogeistiges Tunldquo (πρᾶξις νοερά russ umnoe delanie) bezeichnet wird kann der Asket der die innere Ruhe (ἡσυχία) und Leidenschaftslosigkeit (ἀπάθεια) erreicht hat zur ekstatischen Schau (θεωρία) der Herrlichkeit Gottes in Lichtvisionen gelangen51

Die mit dem bdquoJesusgebetldquo verbundenen mystischen Erfahrungen fuumlhrten im 14 Jahrhundert zu einer hochspekulativen theologischen Deutung und Systemati-sierung durch den Athosmoumlnch (spaumlter Erzbischof von Thessalonike) Gregorios Palamas (129697minus1359) und seine Anhaumlnger im sogenannten bdquoHesychasmus-streitldquo Dabei ging es ndash stark vereinfacht ndash um die Frage inwiefern bestimmte sinnliche Erfahrungen beim Gebet wie das Schauen von Licht aber auch die Empfindung von Waumlrme und Wohlgeruch als Begegnung mit der Realitaumlt Gottes aufzufassen seien (und nicht als Pseudovisionen also als Einbildungen oder gar Inspirationen daumlmonischer Maumlchte) Dahinter steht das alte theologische Problem der Erkennbarkeit oder sinnlichen Erfahrbarkeit Gottes der Kommunikation zwi-schen Immanenz und Transzendenz aber auch der Gefahr der Verfuumlgung uumlber das Goumlttliche (extrem im Gotteszwang durch Beschwoumlrung)

Palamas loumlst die Frage indem er in Anlehnung an neuplatonische Vorstel-lungen das unzugaumlngliche ewige bdquoWesenldquo (οὐσία) Gottes von seiner in der ge-schaffenen Welt d h in Raum und Zeit mitteilbaren ungeschaffenen bdquoWirkkraftldquo oder bdquoEnergieldquo (ἐνέργεια) unterscheidet nicht aber trennt52 Diese Energien bdquodie der dreieinige Gott ausstrahlt und die zu seinem Wesen gehoumlren wie die Strahlen zur Sonne oder das Kraftfeld zum Magnetenldquo53 kann der Asket der den Stufen-prozess von bdquoReinigungldquo (κάθαρσις) bdquoErleuchtungldquo (φωτισμός) und bdquoVergoumlttli-chungldquo (θέωσις) durchlaumluft durch die Gnade Gottes sinnlich erfahren Als houmlch-stes mystisches Erlebnis im Zusammenwirken (συνεργία) aller menschlichen En-ergien mit der goumlttlichen Energie gilt die Schau des ungeschaffenen Lichtes wie sie den Juumlngern Jesu bei dessen Verklaumlrung auf dem Berg Tabor (μεταμόρφωσις

51 Ich folge hier zum Teil meinen Ausfuumlhrungen in Michael Hagemeister bdquoImjaslavie ndash imja-

dejstvie Namensmystik und Namensmagie in Russland (1900ndash1930)ldquo in Tatjana Petzer [ua] (Hgg) Namen Benennung ndash Verehrung ndash Wirkung Positionen der europaumlischen Moderne Berlin 2009 77ndash98 hier 79ndash81 88ndash90 Zum Hesychasmus liegt eine umfangrei-che Literatur vor Das Nachschlagewerk von Sergej Choružij (Hg) Isichazm annotiro-vannaja bibliografija Moskva 2004 umfasst mehr als 10000 Titel in 20 Sprachen

52 Die Unterscheidung von Gottes unerkennbarem Wesen und seinen wahrnehmbaren Wirk-kraumlften reicht bis auf Philon von Alexandria (gest ca 40 n Chr) zuruumlck Siehe Fairy v Lilienfeld bdquoHesychasmusldquo in Theologische Realenzyklopaumldie Bd 15 BerlinNew York 1986 282ndash289 ndash bdquoEnergieldquo ist Synonym fuumlr jeden bdquoAustrittldquo Gottes aus seinem Wesen Die bdquoSaumlttigungldquo mit goumlttlicher Energie erklaumlrt beispielsweise auch die gnadenreiche Heil-wirkung die von den Gebeinen der Heiligen selbst nach deren Tod ausgeht

53 Ebd 284

18 Michael Hagemeister

τοῦ Χριστοῦ Mt 171minus13) zuteil geworden war54 Fuumlr den endzeitlich gestimm-ten Palamas war diese Schau eine Vorwegnahme der Parusie der Vereinigung des Geschaffenen und des Ungeschaffenen und des kuumlnftigen Reiches Gottes somit bdquorealisierte Eschatologieldquo55

Der Glaube an die Wahrnehmbarkeit des ungeschaffenen ewigen Lichtes als Ausfluss der Energien Gottes stieszlig jedoch auf Widerspruch Palamasrsquo promi-nentester Gegner war der aus Kalabrien stammende Moumlnch Barlaam (ca 1290ndash1348) der in der Tradition der abendlaumlndischen rationalistischen Scholastik die Unterscheidung des transzendenten unzugaumlnglichen Wesens Gottes und der da-von untrennbaren Energien die aber ad extra wirken und sich dem Menschen mitteilen als haumlretisch verwarf und auf der absoluten Unerkennbarkeit Gottes be-stand Rom lehnte denn auch die Energienlehre des Palamas aufs schaumlrfste ab Dagegen erkannte die byzantinische Kirche sie 1341 und 1351 als Dogma an Seitdem gilt der palamitische Hesychasmus als ein Spezifikum der Orthodoxie und dient gerade heute wieder der polemischen Abgrenzung gegenuumlber dem Wes-ten56

Fuumlr die bereits genannten Philosophen Pavel Florenskij und Aleksej Losev charakterisiert das Bekenntnis zum Hesychasmus den Kulturtypus des christli-chen Mittelalters der sich in idealer Weise in Byzanz und in der Moskauer Rusrsquo ausgepraumlgt habe und in diametralem Gegensatz zur sogenannten bdquoRenaissance-Kulturldquo des Westens stehe Merkmale jener integralen Kultur des christlichen Ostens seien Gemeinschaftlichkeit (sobornostrsquo) Geistigkeit (duchovnostrsquo) Ob-jektivitaumlt Konkretheit Ganzheit (celrsquonostrsquo) und Ganzheitlichkeit (celostnostrsquo) synthetische Schau und Realismus57 waumlhrend die westliche Moderne seit der Re-naissance gepraumlgt sei durch Subjektivismus Relativismus szientifische Ratio-nalitaumlt (bdquoEntzauberung der Weltldquo) Materialismus Liberalismus Individualismus

54 Siehe Sergej Choružij bdquoSvet Plotinov i svet Favora mistika sveta v neoplatonizme i isi-

chazmeldquo in Aleksej Lidov (Hg) Ierotopija Ognja i Sveta v kulrsquoture vizantijskogo mira Moskva 2013 37ndash44 Zur Terminologie des Hesychasmus ders bdquoAnalitičeskij slovarʼ isi-chastskoj antropologiildquo in ders K fenomenologii askezy Moskva 1998 22ndash186

55 Peter Kawerau Das Christentum des Ostens Stuttgart [ua] 1972 131 56 Siehe zB die Arbeiten des Moskauer Theologen Igorʼ Ėkonomcev (Archimandrit Ioann)

bes bdquoIsichazm i vostočnoevropejskoe Vozroždenieldquo in Bogoslovskie trudy 29 (1989) 167ndash196 erweiterte Fassung bdquoDer Hesychasmus und die Renaissance in Osteuropaldquo in Karl Christian Felmy (Hg) Tausend Jahre Christentum in Russland Zum Millennium der Taufe der Kiever Rusrsquo Goumlttingen 1988 731ndash771 ndash Im 19 Jahrhundert erlebte der Hesy-chasmus im Zuge der Wiederbelebung mystischer Froumlmmigkeit durch Paisij Veličkovskij (1722ndash1794) eine Bluumlte im russischen Starzentum Dabei handelt es sich auch ndash aumlhnlich wie beim Pietismus ndash um eine Reaktion auf die Einfluumlsse der westlichen Aufklaumlrung Siehe die Beitraumlge in Adalberto Mainardi (Hg) Paisij lo starec Atti del III Convegno ecumenico internazionale di spiritualitagrave russa Bose 20ndash23 settembre 1995 Magnano 1997

57 Die Uumlberwindung der Trennung des erkennenden Subjekts vom Objekt der Erkenntnis (Descartes Locke Kant) durch das spekulative intuitive Erfassen des Wesens (der Ideen des Absoluten) als des eigentlich Realen hat die russische Philosophie des 20 Jahrhunderts bdquolebendiges Wissenldquo (živoe znanie) bdquoIdeal-Realismusldquo (ideal-realizm) oder bdquointuitiven Realismusldquo (intuitivnyj realizm) genannt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 19

Abstraktheit Zersplitterung und Atomisierung58 Der Sieg des Nominalismus im mittelalterlichen Universalienstreit und die Feier des autonomen Individuums in Renaissance Humanismus und Aufklaumlrung markieren in dieser katastrophischen Perspektive den Zerfall der goumlttlichen Ordnung des Universums und der Sakralitaumlt von Hierarchie und Herrschaft und damit den bdquoSuumlndenfallldquo der abendlaumlndischen Kultur die im Anthropozentrismus der satanischen Hybris einer bdquoSelbstvergot-tungldquo des Menschen (čelovekobožie)59 zugleich gipfele und scheitere60

Am Anfang dieser verhaumlngnisvollen Spaltung standen die Annahme der pa-lamitischen Lehre durch die Ostkirche und die Ablehnung dieser Lehre im Westen durch den bdquoRenaissance-Menschenldquo (vozroždenec) Barlaam den Lehrer Boccac-cios und Petrarcas61 Mit aller Schaumlrfe formulierte Losev diesen Gegensatz bdquo[hellip] entweder ist das Taborlicht untrennbar vom Wesen Gottes und ist deshalb Gott selbst (obwohl Gott selbst nicht [das] Licht ist) ndash dann ist die Orthodoxie gerettet oder das Licht ist vom Wesen Gottes trennbar und darum geschaffen ndash dann be-ginnen die apokalyptischen Kraumlmpfe des Renaissance-Westensldquo62 Indem sie Bar-laam einen bdquozugereisten Kalabrierldquo und seine Anhaumlnger mit dem Bann belegte habe die Orthodoxe Kirche so Losev die damals heraufziehende Renaissance

58 Siehe zB Pavel Florenskij bdquoAvtoreferat (192526)ldquo in Voprosy filosofii 1988 12 113ndash

116 dt Pavel Florenski bdquoAutorreferatldquo in ders Leben und Denken hg von Fritz und Sieglinde Mierau Bd 1 Ostfildern 1995 32ndash38 Aleksej Losev Dialektika mifa (1930) Moskva 2001 137ndash138 dt Die Dialektik des Mythos Hamburg 1994 109 ndash Die wertende Entgegensetzung von mittelalterlicher und Renaissance-Kultur (bzw der Typen bdquoobjekti-verldquo und bdquosubjektiverldquo Kulturen) findet sich durchgaumlngig im Werk Florenskijs und Losevs Siehe zuletzt Oksana SedychJulija Grišatova bdquoRusskij Renessans o Renessanseldquo in Vo-prosy filosofii 2015 6 111ndash121

59 bdquoSatan war der erste Revolutionaumlrldquo zitiert Losev einen (apokryphen) Ausspruch des Hl Serafim von Sarov Aleksej Losev bdquoDopolnenie k sbquoDialektike mifalsquo (novyj fragment)ldquo in AF Losev tvorčestvo tradicii interpretacii Moskva 2014 397ndash411 hier 401

60 So degradiere ndash um nur ein Beispiel fuumlr das Scheitern der Renaissance zu geben ndash das heliozentrische Weltbild eines Kopernikus und Giordano Bruno den Menschen zum Be-wohner eines bdquonichtigen Sandkornsldquo im unendlichen Weltraum SedychGrišatova bdquoRuss-kij Renessansldquo 114 Florenskij suchte denn auch in seiner Schrift Mnimosti v geometrii (1922) das geozentrische Weltbild des Mittelalters zu rehabilitieren Zum griechisch-or-thodoxen Antikopernikanismus Vasilios Makrides Die religioumlse Kritik am kopernikani-schen Weltbild in Griechenland zwischen 1794 und 1821 Aspekte griechisch-orthodoxer Apologetik angesichts naturwissenschaftlicher Fortschritte Frankfurt aM [ua] 1995

61 Mitunter wurde Barlaam sogar als Agent einer groszligangelegten antiorthodoxen Verschwouml-rung des bdquoPapismusldquo denunziert Siehe Ėkonomcev bdquoIsichazmldquo 59 vgl ders bdquoDer Hesy-chasmusldquo 736 ndash Eine Kontrastierung des weltlichen Humanisten Petrarca und des Hesy-chasten Palamas unternahm Losevs Schuumller und Sekretaumlr Vladimir Bibichin lthttpwww philologyruliterature3bibikhin-90htmgt

62 Aleksej Losev Očerki antičnogo simvolizma i mifologii Moskva 1930 856 Auch Ėko-nomcev spricht von den bdquoschreienden Widerspruumlchen und Grimassen der westlichen Re-naissance deren geistiger Vater Barlaam wurdeldquo Ėkonomcev bdquoIsichazmldquo 63 (in der deut-schen Version ist von bdquohimmelschreienden Gegensaumltzenldquo und bdquoscheuszliglichen Grimassenldquo die Rede Ėkonomcev bdquoDer Hesychasmusldquo 746)

20 Michael Hagemeister

insgesamt verdammt (anafematstvovala) der alle westlichen Voumllker verfallen sei-en und wahrscheinlich bis ans Ende ihrer Tage verfallen blieben63

Bis zuletzt verteidigte Losev ein mit Orden des Sowjetstaates ausgezeich-neter Philosoph der 1929 von Archimandrit David (Muchranov 1847ndash1930) ei-nem Fuumlhrer der hesychastischen bdquoNamensverehrerldquo (imjaslavcy)64 heimlich zum Moumlnch geweiht worden war die Lehre des Palamas als einen Grundpfeiler der Orthodoxie65 Gleichzeitig hielt er an seiner schroffen Ablehnung des bdquoRenaissan-ce-Westensldquo fest dessen Geschichte insgesamt nichts anderes sei als bdquoeine libera-le Kritik des Mittelaltersldquo 1978 stellte Losev in seiner umfangreichen Studie zur Aumlsthetik der Renaissance der bdquoganzheitlichen Kulturldquo (celostnaja kulrsquotura) des Mittelalters die zerrissene Kultur der Renaissance gegenuumlber die auf der Verabso-lutierung und bdquotitanischen Verherrlichungldquo des isolierten Subjekts und der bdquoAbge-trenntheit vom lebendigen Seinldquo (otryv ot živogo bytija) beruhe66 In einem Ge-spraumlch mit dem Schriftsteller Viktor Erofeev das 1985 veroumlffentlicht wurde de-nunzierte Losev den Typus des bdquoRenaissance-Menschenldquo der sich selbst vergoumltt-liche und deshalb dem Nihilismus und Satanismus verfalle bdquoIndem die Renais-sance das Subjekt zum Absolutum erhob oumlffnete sie den Weg fuumlr den Triumph des Subjektivismus in den folgenden Jahrhunderten In diesem Sinne stellt der gesamte Westen fuumlr mich eine Sackgasse des Denkens darldquo67 Damit geriet der Philosoph einerseits in scharfen Gegensatz zum sowjetischen Selbstverstaumlndnis das sich als Erbe und Vollender gerade jener bdquoprogressivenldquo Prozesse und huma-nistischen Traditionen sah die von der europaumlischen Renaissance ausgegangen

63 Losev Očerki 849 856 64 Zur Bewegung des imjaslavie die zu Beginn des 20 Jahrhunderts auf dem Athos entstand

und in Florenskij und Losev prominente Unterstuumltzer fand liegt inzwischen eine reiche Literatur vor Siehe die juumlngste Veroumlffentlichung Antoine Niviegravere Les glorificateurs du nom Une querelle theacuteologique parmi les moines russes du mont Athos (1907ndash1914) Genegraveve 2016

65 Siehe Valentina Postovalova bdquoAfonskij spor ob Imeni Božiem v filosofsko-bogoslovskom osmyslenii AF Losevaldquo in AF Losev 95ndash106 bes 105f

66 Aleksej Losev Ėstetika Vozroždenija Moskva 21982 (11978) 45 61 137 und passim Losevs Modernekritik erinnert an Heidegger und dessen Begriff der bdquoSeinsvergessenheitldquo Wie fuumlr Heidegger so war auch fuumlr Losev (und Florenskij) der Agent der verhassten Moder-ne ein bdquorechnendesldquo und bdquowurzellosesldquo mythisches Judentum Zu Losevs metaphysischem Antisemitismus (bdquodas satanische Wesen des Judentumsldquo) siehe zuletzt mit zahlreichen Belegen Natalrsquoja Boneckaja Duch Serebrjanogo veka (fenomenologija ėpochi) Moskva Sankt-Peterburg 2016 688ndash693

67 Aleksej Losev bdquoV poiskach smyslaldquo in Voprosy literatury 1985 10 205ndash231 hier 229 Zu Losevs Kritik der bdquoRenaissance-Kulturldquo des Westens ausfuumlhrlich Annett Jubara Die Philosophie des Mythos von Aleksej Losev im Kontext bdquoRussischer Philosophieldquo Wiesba-den 2000 bes 131ndash154 Siehe auch Naftalij Prat bdquoAleksej Losev und der Totalitarismusldquo in Leonid Luks (Hg) Das Christentum und die totalitaumlren Herausforderungen des 20 Jahrhunderts Koumlln [ua] 2002 103ndash114 bes 108f

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 21

waren (augenfaumlllig etwa in der Architektur der 1930er bis 50er Jahre)68 Anderer-seits erwies sich der orthodoxe Moumlnch damit auch als Apologet des Sowjetregi-mes bedroht die Autonomie des Individuums doch den Wesenskern einer jeden Herrschaft die das Wahrheitsmonopol fuumlr sich beansprucht

Die Ablehnung der modernen bdquokopernikanischen Weltldquo (Hans Blumen-berg) durchzieht das gesamte philosophische Werk Losevs und Florenskijs dazu gehoumlren die Ablehnung des heliozentrischen Weltbildes die Polemik gegen Kants kritischen Idealismus (die bdquokopernikanische Wendeldquo in der Philosophie) die Ab-lehnung der Zentralperspektive in der Kunst die Ablehnung des nominalistischen Rationalismus und schlieszliglich die Ablehnung der saumlkularen und demokratischen Gesellschaftsordnung zugunsten einer bdquoVerkirchlichungldquo (ocerkovlenie) aller Be-reiche der Gesellschaft und des Staates in Gestalt einer theokratischen Synarchie Florenskij der sich als einen mittelalterlichen Menschen charakterisierte69 ndash Ni-kolaj Berdjaev selbst Verkuumlnder eines religioumls-integralen bdquoNeuen Mittelaltersldquo nannte ihn einen bdquoraffinierten Reaktionaumlrldquo ndash70 war uumlberzeugt dass die bdquoentseelte Renaissance-Zivilisationldquo sich erschoumlpft habe und eine neue ganzheitlich-objekti-ve Kultur anbrechen werde71 Vorbild dieser bdquoKultur des anderen Typusldquo werde Russland sein bdquoerste Keimeldquo seien bereits zu erkennen Seine Zeit begriff Floren-skij bdquoan den Wasserscheiden des Denkensldquo und er sah seine Lebensaufgabe darin bdquoWege zu bahnen zu einer kuumlnftigen ganzheitlichen Weltanschauungldquo72

68 Losevs Renaissance-Kritik (va in Ėstetika Vozroždenija) wurde deshalb auch als ver-

schleierte Kritik am Sowjetsystem verstanden Siehe Annett Jubara bdquoAleksej Losevs Philosophie des Mythos als Kritik an der Sowjetischen Moderneldquo in Studies in East Euro-pean Thought 56 (2004) 211ndash224 Aus dem Kreis der Schuumller Losevs gingen seit den 1960er Jahren zahlreiche dissidentische russische Nationalisten hervor Nikolaj Mitrochin Russkaja partija Dviženie russkich nacionalistov v SSSR 1953ndash1985 Moskva 2003 288f Zur Kritik der Renaissance-Zivilisation siehe auch Vladimir Bibichin Novyj renessans Moskva 1998 bes 131ndash155

69 Siehe Florenskij bdquoAvtoreferatldquo Noch im Maumlrz 1933 nach seiner Verhaftung erklaumlrte Flo-renskij gegenuumlber den Ermittlungsbeamten bdquoIch Pavel Aleksandrovič Florenskij [hellip] bin dem Charakter meiner politischen Anschauungen nach ein Romantiker des Mittelalters un-gefaumlhr des 14 Jahrhundertsldquo Vitalij Šentalinskij bdquoUdel veličijaldquo in Ogonek 1990 45 23ndash27 hier 26

70 Nikolaj Berdjaev Samopoznanie (Opyt filosofskoj avtobiografii) Moskva 1991 161 Sie-he Nikolaj Berdjaev Novoe srednevekovrsquoe Berlin 1924 dt Nikolaus Berdjajew Das Neue Mittelalter Darmstadt 1927

71 Siehe Michael Hagemeister bdquoWiederverzauberung der Welt ndash Pavel Florenskijs Neues Mittelalterldquo in Norbert Franz [ua] (Hgg) Pavel Florenskij ndash Tradition und Moderne Beitraumlge zum Internationalen Symposium an der Universitaumlt Potsdam 5 bis 9 April 2000 Frankfurt aM [ua] 2001 21ndash41 Zu Florenskijs Kritik an Renaissance und Humanismus (bdquoder Humanismus entsprang der Kabbalaldquo) siehe auch Ilona Svetlikova bdquoOb ideologii sbquoobratnoj perspektivylsquo Pavla Florenskogoldquo in Russkaja intellektualʼnaja revoljucija 1910ndash1930-ch godov Moskva 2016 123ndash139 zu den Uumlbereinstimmungen mit Heidegger siehe Viktor Arslanov Postmodernizm i russkij bdquotretij putrsquoldquo tertium datur rossijskoj kulrsquotury XX veka Moskva 2007 472ndash499

72 Florenskij bdquoAvtoreferatldquo 114

22 Michael Hagemeister

In juumlngster Zeit hat das wiedererwachte Interesse an der eigenen spirituellen Tradition und ihren byzantinischen Wurzeln ndash oftmals verbunden mit dem Bestre-ben sich vom bdquosaumlkularen Westenldquo und der bdquowestlichen Moderneldquo abzugrenzen ndash zu einer Wiederbelebung des palamitischen Hesychasmus (neopalamizm) und der ndash davon zu unterscheidenden ndash bdquoNamensverehrungldquo (imjaslavie) gefuumlhrt73 Be-reits in den 1970er Jahren war John Meyendorffs klassische Studie St Greacutegoire Palamas et la mystique orthodoxe (Paris 1959) ins Russische uumlbersetzt worden und kursierte in der Sowjetunion in Samizdat-Ausgaben im Milieu religioumls-philo-sophischer Dissidenten Heute wird die Wiederbelebung des Hesychasmus auch durch den patriotischen Kult um Serafim von Sarov (Prochor Mošnin 1759ndash1833) befoumlrdert einen Wundertaumlter und Apokalyptiker der im postsowjetischen Russland zu einem der meistverehrten Heiligen avanciert ist74 In einer in viele Sprachen uumlbersetzten und millionenfach verbreiteten Schrift schildert sein Schuuml-ler Nikolaj Motovilov (1809ndash1879) die Verklaumlrung Serafims im ungeschaffenen Licht des Heiligen Geistes die sich angeblich im November 1831 auf einer einsa-men verschneiten Waldlichtung ereignet hat75

73 Dies gilt nicht nur fuumlr Russland auch auf Vertreter der angelsaumlchsischen bdquoRadical Ortho-

doxyldquo die das Projekt einer von modern-saumlkularem Denken nicht korrumpierten Theologie verfolgen uumlben Hesychasmus und russische Sophiologie starke Faszination aus Siehe die Beitraumlge in Adrian PabstChristoph Schneider (Hgg) Encounter Between Eastern Ortho-doxy and Radical Orthodoxy Transfiguring the World Through the Word Farnham 2009 Zur Wiederbelebung des imjaslavie im post-sowjetischen Russland siehe Scott M Ken-worthy bdquoDebating the Theology of the Name in Post-Soviet Russia Metropolitan Ilarion Alfeev and Sergei Khoruzhiildquo in Katya Tolstaya (Hg) Orthodox Paradoxes Hetero-geneities and Complexities in Contemporary Russian Orthodoxy LeidenBoston 2014 250ndash264 Siehe auch Loren Grahams Bericht uumlber diskrete Zusammenkuumlnfte der imjaslav-cy im Kellergeschoss der Moskauer Tatrsquojana-Kirche in den fruumlhen 2000er Jahren Loren GrahamJean-Michel Kantor Naming Infinity A True Story of Religious Mysticism and Mathematical Creativity Cambridge MassLondon 2009 1ndash5

74 Fuumlr die Anhaumlnger der Doktrin einer bdquoAtomaren Orthodoxieldquo (atomnoe pravoslavie) ist Se-rafim auch der Schutzheilige der russischen Atombombe wurde doch Sarov der Ort seines Wirkens 1946 unter dem Namen Arzamas-16 zur streng geheimen Nuklearstadt in der Wissenschaftler unter ihnen Andrej Sacharov am Bau der sowjetischen Atom- und Was-serstoffbomben arbeiteten Patriotische Russen deuten dies als Zeichen dass bdquoim Hause unseres Vaters Serafimldquo mit dessen Segen der nukleare bdquoSchild zum Schutz der Heimatldquo geschmiedet worden sei Pavel V Florenskij bdquoNeobchodimostrsquo našej atomnoj bombyldquo in Naš sovremennik 1997 4 219ndash221 Bei dem Verfasser handelt es sich um einen Enkel des beruumlhmten Philosophen Siehe auch lthttpsruwikipediaorgwiki Атомное_правосла виеgt

75 Die Schrift deren Authentizitaumlt umstritten ist wurde bekannt unter dem Titel bdquoGespraumlch uumlber das Ziel des christlichen Lebensldquo (Beseda o celi christianskoj žizni) Erstmals veroumlf-fentlicht wurde das bdquoGespraumlchldquo 1903 von Sergej Nilus (1862ndash1929) dem Herausgeber und Kommentator der Protokolle der Weisen von Zion Siehe Michael Hagemeister bdquoIl proble-ma della genesi del sbquoColloquio con Motovilovlsquoldquo in Adalberto Mainardi (Hg) San Sera-fim Da Sarov a Diveevo Atti del IV Convegno ecumenico internazionale di spiritualitagrave russa Bose 18ndash20 settembre 1996 Magnano 1998 157ndash174 Bis heute gibt es keine kriti-sche Ausgabe dieses zentralen Textes russischer Geistigkeit

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 23

Von der Wiederbelebung des Hesychasmus zeugt auch das groszligangelegte Projekt einer bdquosynergetischen Anthropologieldquo (sinergijnaja antropologija) des Mathematikers Physikers und religioumlsen Philosophen Sergej Choružij Prakti-sches Ziel das seit 2005 durch ein eigenes Institut in Moskau verfolgt wird ist die psychosomatisch-holistische Selbsttransformation des Menschen die auf unmittelbarer (mystisch-energetischer) Erfahrung bzw Einwirkung des ontolo-gisch Anderen (Goumlttlichen) beruht sowie die Uumlberwindung der Subjekt-Objekt-Trennung der modernen westlichen Philosophie die Choružij fuumlr den von ihm als krisenhaft und katastrophisch beschriebenen Zustand der westlichen Moderne verantwortlich macht Im Unterschied zu orthodoxen Fundamentalisten und Anti-Westlern sucht Choružij indes die asketischen Praktiken des Hesychasmus mit modernen und postmodernen westlichen Anthropologien (Kierkegaard Scheler Heidegger und insbesondere Foucaults technique oder practique de soi) in Bezie-hung zu setzen76

bdquoPolitischer Hesychasmusldquo

Es duumlrfte deutlich geworden sein dass Hesychasmus nicht nur eine weltabge-wandte mystisch-asketische bdquogeistige Praxisldquo bezeichnet sondern auch als Kampfbegriff gegen die saumlkulare Kultur des bdquoWestensldquo und der bdquowestlichen Mo-derneldquo dient Dies gilt vor allem fuumlr das Konzept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo (političeskij isichazm)

In den russischen Diskurs wurde dieses Konzept um die Mitte der 1960er Jahre von dem Leningrader Mediaumlvisten und Byzantinisten Gelian Prochorov ein-gefuumlhrt77 Seiner Hauptthese zufolge wurde der Hesychasmus nachdem er aus den Klosterzellen herausgetreten war und eine philosophisch-theologische

76 Siehe Sergej Choružij Očerki sinergijnoj antropologii Moskva Inst Sinergijnoj antropo-

logii Inst filosofii teologii i istorii Sv Fomy 2005 ders (Hg) Fonarrsquo Diogena Proekt sinergijnoj antropologii v sovremennom gumanitarnom kontekste Moskva 2010 ders bdquoDie mystische Verwandlung des Menschen Uumlber den Hesychasmus als Raum der Philo-sophieldquo in Fuge Journal fuumlr Religion amp Moderne 7 (2010) 72ndash99 Siehe auch die Web-site lthttpsynergia-isarugt Kristina Stoeckl bdquoA New Anthropology Sergej S Khoru-žijrsquos Search for an alternative to the Cartesian Subject in sbquoOčerki sinergijnoj antropologiilsquoldquo in Studies in East European Thought 59 (2007) 237ndash245

77 Gelian Prochorov bdquoĖtničeskaja integracija v Vostočnoj Evrope v XIV-m veke Ot isichastskich sporov do Kulikovskoj bitvyldquo in Doklady otdelenija ėtnografii 2 (196265) Leningrad 1966 81ndash110 ders bdquoIsichazm i obščestvennaja myslʼ v Vostočnoj Evrope v XIV vldquo in Literaturnye svjazi drevnich slavjan (Trudy otdela drevnerusskoj literatury 23) Leningrad 1968 86ndash108 ders bdquoKulʼturnoe svoeobrazie ėpochi kulikovskoj bitvyldquo in Kulikovskaja bitva i podldquoem nacionalrsquonogo samopoznanija (Trudy otdela drevne-russkoj literatury 34) Leningrad 1979 3ndash17 ndash Prochorov gehoumlrte bereits zu Sowjetzeiten ins Lager der (neo-)slavophilen Anti-Westler er war eng befreundet mit dem bdquoEurasierldquo und Antisemiten Lev Gumilev (1912ndash1992) und uumlbernahm von diesem das Konzept der bdquoEthnogeneseldquo

24 Michael Hagemeister

Grundlegung erfahren hatte am Ende des 14 Jahrhunderts zu einem entscheiden-den politischen und kulturellen Faktor nicht nur in Byzanz sondern in ganz Ost-europa und lieferte unter anderem das ideologische Fundament zur Konsolidie-rung der nachmongolischen Rusʼ Im Streit zwischen dem bdquorationalistischen Hu-manismus und dem kontemplativen Hesychasmus [hellip] entschied Byzanz uumlber sein geistiges Schicksal Das Land blieb bis zuletzt mittelalterlich Den Hesy-chasten gelang es zu Wortfuumlhrern der oumlffentlichen Meinung in Byzanz zu werden die letzte schoumlpferische Synthese seiner traditionellen Kultur zu entwickeln und eine breite kulturelle und gesellschaftliche Bewegung in Gang zu setzen die zu einer Erneuerung des Mittelalters und zu einer Wiederbelebung der Orthodoxie im ganzen oumlstlichen Europa fuumlhrteldquo78

Im Anschluss an das von seinem Lehrer Dmitrij Lichačev entwickelte Kon-zept einer bdquoVorrenaissanceldquo (Predvozroždenie)79 spricht Prochorov von einer bdquovorrenaissancelichen Gegenreformationldquo (predvozroždenčeskaja kontrreforma-cija) und einer bdquoOrthodoxen Renaissanceldquo (Pravoslavnoe Vozroždenie)80 Ge-meint war damit dass die Palamiten (Hesychasten) den Sieg der Barlaamiten ver-hindern konnten und auf die Schriften der antiken Kirchenvaumlter zuruumlckgreifend ein mystisch-kontemplatives Aumlquivalent zum rationalistischen und saumlkularen Hu-manismus geschaffen haumltten Auf diese Weise habe der drohende Uumlbergang der byzantinischen und osteuropaumlischen christlich gepraumlgten Kultur von der bdquoVorre-naissanceldquo zu einer auf heidnisch-antiken Wurzeln beruhenden Renaissance ab-gewendet werden koumlnnen81 Auf die bdquoVorrenaissanceldquo sei ein bdquoNeues Mittelalterldquo gefolgt das in der bdquoHeiligen Rusʼldquo um die Wende zum 15 Jahrhundert seinen Houmlhepunkt erreicht habe Ihm verdanke Russland seine Groumlszlige und die russische Kultur ihre bdquoUniversalitaumltldquo und bdquoGeistigkeitldquo82

Bemerkenswert ist dass der sowjetische Wissenschaftler die beiden ideolo-gischen Lager mit traditionellen (neo-)slavophilen Wertungsoppositionen wie sie bereits bei Florenskij und Losev begegnet sind verbindet und dabei deutlich seine 78 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 4 79 Vor allem in seinem Buch Kulʼtura Rusi vremeni Andreja Rubleva i Epifanija Premudrogo

MoskvaLeningrad 1962 80 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 8 Siehe auch ders Nekogda ne narod a nyne narod

Božijhellip Drevnjaja Rusʼ kak istoriko-kulʼturnyj fenomen Sankt-Peterburg 2010 133ndash157 81 So auch Igorʼ Ėkonomcev bdquoDie osteuropaumlische sbquoVorrenaissancelsquo ist nicht die erste Stufe

zur saumlkularisierten Renaissance vom abendlaumlndischen Typ sondern ihre Antithese Der geistige und kulturelle Aufschwung in Osteuropa war die wahre volle und eindeutige Re-naissance die sich grundlegend von der westlichen Renaissance unterschied Sie haumltte sich niemals in eine Renaissance westlicher Praumlgung verwandeln koumlnnenldquo Ėkonomcev bdquoDer Hesychasmusldquo 764 vgl ders bdquoIsichazmldquo 69 Diese (osteuropaumlische) Renaissance so Ėkonomcev an anderer Stelle sei ungleich bdquoerhabener geistiger und reinerldquo gewesen als bdquodie westeuropaumlische Renaissance mit ihrer krankhaften Disharmonie zwischen Glauben und Vernunft Geist und Leib die trotz allem gespieltem Optimismus ein Gefuumlhl der Aus-weglosigkeit und Verzweiflung hinterlaumlsstldquo Igumen Ioann Ėkonomcev bdquoVizantinizm Kirillo-Mefodievo nasledie i kreščenie Rusildquo in ders Pravoslavie Vizantija Rossija Sbornik statej Moskva 1992 7ndash22 hier 18

82 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 9 15

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 25

Sympathie zeigt Die byzantinischen Humanisten werden von ihm als kalte Ratio-nalisten dargestellt die in der Hoffnung auf militaumlrische Unterstuumltzung durch den katholischen Westen im Kampf gegen die Osmanen bereit gewesen seien den eigenen Glauben zu opfern83 Die Hesychasten hingegen haumltten so Prochorov den Westen realistischer eingeschaumltzt und auf Hilfe von Seiten der orthodoxen Staaten gehofft Im entscheidenden Moment haumltten nicht die bdquoWestler-Huma-nistenldquo (zapadniki-gumanisty) mit ihren bdquokalten Uumlberlegungenldquo (cholodnymi rassuždenijami) beim Volk Gehoumlr gefunden sondern die Hesychasten mit ihren bdquoheiszligen Gebetenldquo (gorjačimi molitvami)84

Mit seiner Apologie eines bdquowiederbelebtenldquo Mittelalters und einer bdquoOrtho-doxen Renaissanceldquo die alle Bereiche des politischen gesellschaftlichen und kul-turellen Lebens gepraumlgt habe und deren Kern der Hesychasmus gewesen sei stieszlig Prochorov bei seinen sowjetischen Kollegen auf Kritik So sah Apollon Kuzmin im Palamismus eine desintegrative Erscheinung weshalb er Prochorovs positive Bewertung der Hesychasten bei der bdquoWiedergeburtldquo der Rusʼ zuruumlckwies85 Aumlhn-lich argumentierte Gennadij Litavrin Die Palamiten seien diejenigen gewesen die eine unrealistische Einschaumltzung der politischen Lage gehabt haumltten Sie haumltten die Bedrohung durch die Tuumlrken nicht erkannt und stattdessen die Illusion verbreitet die Feinde zum Christentum bekehren und zu neuen Untertanen ma-chen zu koumlnnen Der Palamismus sei eine bdquoIdeologie der Demutldquo und habe eine bdquounheilvolle Rolle in der Geschichte des Kampfes gegen die tuumlrkische Aggres-sionldquo gespielt86 Michail Sjuzjumov sprach sogar vom bdquoasozialen Charakter des Palamismusldquo der den aufkommenden humanistischen Tendenzen gegenuumlber feindlich gewesen und zur bdquoIdeologie der Reaktionldquo in Byzanz geworden sei87 Auf Ablehnung stieszlig Prochorov auch im Ausland Valerij Lepachin kritisierte den Begriff bdquopolitischer Hesychasmusldquo als unzulaumlssige Verbindung weltlicher und geistlicher Sphaumlren damit verliere der Hesychasmus seinen wesentlichen Sinn-gehalt88 Fuumlr den in Berkeley lehrenden Philologen Viktor Živov schlieszliglich war

83 Ebd 12 84 Ebd 13 ndash An anderer Stelle betont Prochorov den Gegensatz zwischen den abstrakten

bdquoausgedachtenldquo philosophischen Konstruktionen des europaumlischen Idealismus und der ganzheitlichen kontemplativ-spekulativen Welterfahrung der griechisch-byzantinischen Philosophie Prochorov bdquoĖtničeskaja integracijaldquo 90f An Florenskijs Renaissance-Kritik (etwa in Ikonostas 1922) erinnert auch Prochorovs Verweis auf den euklidischen Raum und den Perspektivismus der humanistischen Weltwahrnehmung mit seiner Illusion der Unendlichkeit Prochorov bdquoIsichazmldquo 94

85 Apollon Kuzmin bdquoCerkovʼ i svetskaja vlastʼ v ėpochu Kulikovskoj bitvyldquo in Voprosy naučnogo ateizma 37 (1988) 90ndash99

86 Gennadij Litavrin bdquoVizantija v period graždanskoj vojny i dviženija Zilotov (1341ndash1355 gg)ldquo in Sergej Skazkin (Hg) Istorija Vizantii Bd 3 Moskva 1967 135ndash160 hier 158

87 Michail Sjuzjumov bdquoFilosofija i bogoslovieldquo in ebd 234ndash256 hier 248f 88 Valerij Lepachin bdquoUmnoe delanie (o soderžanie i granicach ponjatija sbquoisichazmlsquo)ldquo in

Vestnik Russkogo Christianskogo Dviženija 164 1992 5ndash32 hier 23

26 Michael Hagemeister

bdquopolitischer Hesychasmusldquo bdquokonzeptuelles Unkraut [sornjak] das man so schnell wie moumlglich ausrottenldquo solle89

Fast ein halbes Jahrhundert nach ihrer ersten Veroumlffentlichung wurde Pro-chorovs Konzept eines bdquopolitischen Hesychasmusldquo von seinem Schuumller Vladimir Petrunin wieder aufgegriffen und aktualisiert In der 2009 erschienenen Monogra-phie bdquoDer politische Hesychasmus und seine Traditionen in der Sozialkonzeption des Moskauer Patriarchatsldquo90 stellt Petrunin das sogenannte bdquoNichtgehorsamkeits-prinzipldquo (princip nepovinovenija) wie es in den von der Moskauer Bischofssyno-de im August 2000 verabschiedeten bdquoGrundlagen der Sozialkonzeption der Rus-sischen Orthodoxen Kircheldquo formuliert worden ist91 in eine Tradition die er bis auf die bdquopolitischen Hesychastenldquo im Byzanz des 14 und 15 Jahrhunderts zu-ruumlckzufuumlhren sucht Immer wieder zieht Petrunin Parallelen zwischen dem spaumlten Byzanz und dem postsowjetischen Russland Hatten die Byzantiner den Hesy-chasmus als Reaktion auf den Humanismus des Westens hervorgebracht so diene heute die Sozialkonzeption der Abwehr des westlichen Saumlkularismus Liberalis-mus und Kapitalismus Damals wie heute stuumlnden der kirchliche Heilsauftrag und die Verteidigung des Glaubens uumlber den Interessen des Staates selbst ndash wie das Beispiel von Byzanz zeige ndash um den Preis seines Untergangs Ebenso wie die byzantinischen Hesychasten den mit dem Westen kollaborierenden Herrschern die Gefolgschaft im Kampf gegen die Osmanen verweigert haumltten da sie die bdquoReinheit ihres Glaubensldquo eher bdquounter einem tuumlrkischen Turban als unter der lateinischen Tiaraldquo gewahrt sahen92 rufe die Sozialkonzeption die Kirche heute dazu auf der Staatsmacht den Gehorsam zu verweigern sollte diese bdquodie ortho-doxen Glaumlubigen zum Abfall von Christus und Seiner Kirche sowie zu suumlndhaften

89 Viktor Živov bdquoVidenija sveta i problemy russkogo srednevekovogo isichazmaldquo in Lidov

(Hg) Ierotopija 350ndash367 hier 363 359 90 Vladimir Petrunin Političeskij isichazm i ego tradicii v socialʼnoj koncepcii Moskovskogo

Patriarchata Sankt-Peterburg 2009 91 Osnovy socialrsquonoj koncepcii Russkoj Pravoslavnoj Cerkvi III5 lthttpwwwpatriarchia

rudbtext141422htmlgt Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo wird von den meisten Inter-preten als ein bemerkenswertes Umdenken in der Kirchenpolitik angesehen hatte doch die Russische Orthodoxe Kirche unter Patriarch Sergij in einer prekaumlren Lage 1927 Loyalitaumlt gegenuumlber dem Sowjetstaat gefordert Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo war auch eine wichtige Voraussetzung fuumlr die Vereinigung der Auslandskirche mit dem Moskauer Pa-triarchat Zur Sozialkonzeption insgesamt Vasilios N Makrides bdquoDie politische Aufgabe der Kirche Bemerkungen anhand der Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kir-cheldquo in Irene DingelChristiane Tietz (Hgg) Die politische Aufgabe von Religion Per-spektiven der drei monotheistischen Religionen Goumlttingen 2011 219ndash243

92 Petrunin Političeskij isichazm 66f 120 Es handelt sich um eine zeitgenoumlssische Losung Siehe Halina Evert-Kappesowa bdquoLa tiare ou le turbanldquo in Byzantinoslavica 14 (1953) 245ndash257 ndash Auch Aleksandr Nevskij (1220ndash1263) zog eine Verstaumlndigung mit den Mongo-len einer Union mit Rom vor die ihm Papst Innozenz IV im Jahr 1248 angeboten hatte und wandte sich stattdessen gegen die bdquoLateinerldquo Heutige Anti-Westler feiern den Heili-gen der Russischen Orthodoxen Kirche deshalb auch als bdquoersten Eurasierldquo

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 27

und der Seele abtraumlglichen Taten noumltigenldquo93 Die Sozialkonzeption hat fuumlr Petru-nin nur einen moumlglichen Sinn Falls Russlands politische Elite sich weiterhin dem liberalen Wertekanon des Westens verschreibe und Russlands bdquoEigenartldquo (samo-bytnostʼ) als bdquoorthodoxe Zivilisationldquo bestreite94 muumlsse die Kirche ndash wie einst in Byzanz ndash dem Staat die Loyalitaumlt aufkuumlndigen und das Volk zum Widerstand auf-rufen

Es ist ganz offensichtlich dass die Prozesse der Globalisierung und Saumlkularisierung eng miteinander verbunden sind So wie einst die byzantinischen Hesychasten ist heute die Russische Kirche mit der westlichen Zivilisation konfrontiert die nach der Weltherrschaft trachtet war fruumlher der Katholizismus deren Grundlage so ist es jetzt der saumlkulare Humanismus [hellip] Waumlhrend sie [die westliche Welt MH] damals fuumlr die Hesychasten mit Rom gleichgesetzt wurde so verkoumlrpert heute das kosmopolitische New York den Westen Indem sie Liberalismus und Saumlkularisie-rung abwehrt tritt die Kirche auch gegen die politischen und wirtschaftlichen Hegemoniebestrebungen des Westens auf und stellt so ihr Bestreben unter Beweis die zivilisatorische Eigenstaumlndigkeit Russlands wieder herzustellen Wie schon vor 600 Jahren im Byzantinischen Imperium so ist auch heute in Russland allein die Kirche ein ernstzunehmender und gut organisierter Gegner des Westens und seiner saumlkularen Werte [hellip] Sollte Russland weiter den Weg der Saumlkularisierung be-schreiten so koumlnnte damit fuumlr die Kirche der gefaumlhrliche Praumlzedenzfall geschaffen werden in dem sie von ihrem Recht Gebrauch machen muumlsste das Volk zu zivilem Ungehorsam aufzurufen95

In seinem Vorwort nannte Prochorov das Buch seines Schuumllers eine bdquoWarnung an unseren Staat unsere saumlkulare Gesellschaft an uns alleldquo96 Wie das spaumlte Byzanz unter dem bdquoDruck aus dem Westenldquo gestanden habe ndash dem die Herrscher und die bdquoHumanistenldquo schlieszliglich nachgegeben haumltten ndash so laufe auch das postkommu-nistische Russland Gefahr dem bdquoDruck des Liberalismus und der Globalisierungldquo nachzugeben Allein die Orthodoxe Kirche habe sich damals wie heute als bdquoFes-tungldquo erwiesen faumlhig diesem bdquozersetzenden Einflussldquo Widerstand zu leisten97

Petrunins Buch das mit dem Segen von Metropolit Ilarion (Grigorij Al-feev)98 erschienen war stieszlig bei westlichen Forschern auf Skepsis und Ableh-nung So kritisierte Kristina Stoumlckl die unhistorische Interpretation und forcierte Aktualisierung der philosophischen theologischen und politischen Kontroversen des 14 Jahrhunderts sowie die einseitige konservative Interpretation der Sozial-konzeption Hesychasmus werde in dem Kirchendokument ebenso wenig erwaumlhnt

93 Osnovy socialrsquonoj koncepcii 94 Petrunin Političeskij isichazm 81 95 Ebd 122f 96 Ebd 5 97 Ebd 98 Zu jener Zeit Bischof von Wien und Oumlsterreich heute Leiter des Auszligenamtes des Moskau-

er Patriarchats und scharfer Kritiker des bdquomilitanten Saumlkularismusldquo des Westens Siehe auch lthttpazbykaruxristianstvo-pered-vyzovom-voinstvuyushhego-sekulyariz ma-2gt

28 Michael Hagemeister

wie der Untergang von Byzanz99 Klaus Buchenau warf Petrunin vor er bdquoverfor-m[e] und ideologisier[e] die urspruumlnglichen Motive des hesychastischen Moumlnch-tums bis zur Unkenntlichkeitldquo100 Und Viktor Živov der bereits Prochorovs Kon-zept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo als bdquoUnkrautldquo bezeichnet hatte sah in Petru-nins Buch ein Beispiel dafuumlr wie dieses sich bdquospontan und schaumldlichldquo ausbreite Die von Petrunin konstruierte bdquophantastische Genealogie des politischen Hesy-chasmusldquo beruhe so Živov auf einer bdquoMischung aus Einseitigkeit und Unwissen-heitldquo Weder sei der bdquotuumlrkische Turbanldquo fuumlr den Patriarchen attraktiv gewesen noch sei am Widerstand gegen die Union irgendetwas spezifisch bdquoHesychasti-schesldquo Petrunin habe ein bdquoPhantomldquo geschaffen dessen angebliche Verbindung mit der Sozialkonzeption man nicht weiter zu verfolgen brauche101

bdquoNeobyzantismusldquo Das Dritte Rom ndash der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo

Eine eigenwillige Interpretation des Hesychasmus und seine Wendung gegen den Westen stammen von Aleksandr Dugin dem Fuumlhrer der bdquoeurasischenldquo Bewegung und einflussreichsten Vordenker der Neuen Rechten in Russland Der polyglotte und belesene Autodidakt der nie eine akademische Ausbildung genossen hat war Gruumlnder der Partei der Nationalbolschewisten Berater des Vorsitzenden der Du-ma und des Generalstabs sowie von 2008 bis 2014 Professor fuumlr Soziologie an der renommierten Moskauer Lomonosov-Universitaumlt und Direktor des dortigen bdquoZentrums fuumlr Konservatismusstudienldquo Seit Anfang der 1990er Jahre verbreitet er mit graphomanem Eifer seine politischen und bdquometaphysischenldquo Botschaften in einer inzwischen kaum noch uumlberschaubaren Zahl von Publikationen102 und Web-Artikeln in mehreren Sprachen sowie durch spektakulaumlre Auftritte in staats-nahen Medien103 99 Kristina Stoumlckl bdquoPolitical Hesychasm Vladimir Petruninrsquos Neo-Byzantine Interpretation

of the Social Doctrine of the Russian Orthodox Churchldquo in Studies in East European Thought 62 (2010) 125ndash133

100 Klaus Buchenau Auf russischen Spuren Orthodoxe Antiwestler in Serbien 1850ndash1945 Wiesbaden 2011 480 Anm 2

101 Živov bdquoVidenija svetaldquo 364f ndash Von der Kritik offenbar unbeeindruckt verschaumlrfte Petru-nin noch seine Position So sprach er 2012 in einem Vortrag uumlber die gesellschaftliche und politische Wirkung der hesychastischen Gebetspraxis Nach dem Fall von Byzanz sei das bdquoJesusgebet faktisch zu einem sbquopolitischen Gebetlsquoldquo geworden das auf die bdquoVerwandlung [preobraženie] der orthodoxen Oumlkumeneldquo ausgerichtet gewesen sei und das bdquoPhaumlnomen der Heiligen Rusrsquoldquo hervorgebracht habe lthttpsynergia-isarup=8604gt

102 Zuletzt in der bislang fuumlnf Baumlnde umfassenden Reihe bdquoNoomachijaldquo (2014ndash2015) einer hochambitioumlsen letztlich aber manichaumlisch-schematischen Beschreibung der bdquoSuche nach dem Logosldquo in den ndash von Dugin essenzialistisch aufgefassten ndash bdquoWeltkulturenldquo

103 Auch die Literatur zu Dugin ist kaum noch uumlberschaubar Siehe zB Alexander Houmlllwerth Das sakrale eurasische Imperium des Aleksandr Dugin Eine Diskursanalyse zum post-sowjetischen russischen Rechtsextremismus Stuttgart 2007 Stefan Wiederkehr Die eurasische Bewegung Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwi-schenkriegszeit und im postsowjetischen Russland Koumlln [ua] 2007 227ndash261 Anton

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 29

Dugin deutet den Hesychasmus im Rahmen des sogenannten bdquointegralen Traditionalismusldquo einer antimodernen Denkrichtung die im ersten Drittel des 20 Jahrhunderts in Frankreich und Italien entstand und in Reneacute Gueacutenon (1886ndash1951) und Julius Evola (1898ndash1974) ihre bekanntesten (und auch fuumlr Dugin wichtigsten) Vertreter hat104 Ihre Lehre besagt dass alle Religionen ungeachtet ihrer histori-schen und regionalen Auspraumlgungen in ihrem esoterischen nur dem Eingeweih-ten zugaumlnglichen Kern eine gemeinsame urspruumlngliche Wahrheit teilen und als philosophia perennis tradieren das Wissen um die Goumlttlichkeit und den Zugang zu ihr Dieses sakrale und initiatorische Wissen sei im Verlauf der westlichen Mo-derne insbesondere durch die Aufklaumlrung verlorengegangen in traditionellen Gesellschaften (China Indien islamische Welt) jedoch bewahrt geblieben105

Auch die Orthodoxie so Dugin habe im Gegensatz zu Katholizismus und Protestantismus bdquodie Treue zum esoterischen Kernldquo bewahrt naumlmlich in ihrer mystischen Unterstroumlmung dem Hesychasmus106 In der Kanonisierung des Gre-gorios Palamas durch die Ostkirche bei gleichzeitiger Verdammung des Humanis-ten Barlaam sieht Dugin das Bekenntnis zum bdquognostisch-realistischen Geist der orthodoxen Esoterikldquo Ganz im Sinn des Traditionalismus deutet er die psycho-physische Uumlbung der Hesychasten das bdquogeistige Tunldquo als Verfahren der bdquoInitia-tionldquo und das Endziel der bdquoVerklaumlrungldquo und bdquoVergoumlttlichungldquo als bdquoalchemistische Verwandlung des Leibesldquo (alchimičeskoe preobraženie tela) Dadurch wuumlrden der bdquoDualismus von Geist und Materie Leib und Seeleldquo sowie die bdquoGrenzen der Individualitaumltldquo ndash charakteristisch fuumlr den bdquorein exoterischen Mystizismusldquo des Westens ndash aufgehoben107 Die bdquoTradition der hesychastischen Esoterikldquo sei die

Shekhovtsov bdquoThe Palingenetic Thrust of Russian Neo-Eurasianism Ideas of Rebirth in Aleksandr Duginrsquos Worldviewldquo in Totalitarian Movements and Political Religions 9 (2008) 491ndash506 Mark Sedgwick bdquoOccult Dissident Culture The Case of Aleksandr Du-ginldquo in Birgit Menzel [ua] (Hgg) The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimen-sions MuumlnchenBerlin 2012 273ndash292 Schmid Technologien der Seele 210ndash220

104 Aleksandr Dugin Filosofija tradicionalizma Moskva 2002 Zum Traditionalismus siehe das Standardwerk von Mark Sedgwick Against the Modern World Traditionalism and the Secret Intellectual History of the Twentieth Century OxfordNew York 2004 zu Dugin 221ndash237 Vgl auch Christopher DL Johnson The Globalization of the Jesus Prayer Con-testing Contemplation London New York 2010 70ndash73

105 Aumlhnliche Gedanken entwickelte Pavel Florenskij bereits 19081909 in seinem Vortrag bdquoObščečelovečeskie korni idealizmaldquo in dem er die bdquoEsoterikldquo der Philosophie Platons und seiner Nachfolger in der bdquoallgemeinmenschlichenldquo mystisch-magischen Weltauffas-sung der bdquoVolksseeleldquo wurzeln laumlsst

106 Das Folgende nach Aleksandr Dugin bdquoOboženie preestestvennejšeeldquo in Milyj angel 1 1991 56ndash59

107 Das Konzept der bdquoInitiationldquo und die Unterscheidung von bdquoesoterischldquo und bdquoexoterischldquo sind zentral fuumlr die Anhaumlnger des Traditionalismus siehe Sedgwick Against the Modern World 265 ndash Als Mitglied des okkultistischen und faschistischen Južinskij-Kreises machte Dugin in Moskaus bdquomystischem Untergrundldquo in den 1980er Jahren selbst Entgrenzugser-fahrungen mit Hilfe sexualmagischer Praktiken und bewusstseinserweiternder Drogen Bei einem Teil der orthodoxen Glaumlubigen stoumlszligt seine Esoterik denn auch auf Misstrauen und

30 Michael Hagemeister

bdquoSeele der russischen Orthodoxieldquo und habe in Serafim von Sarov ihren bdquoletzten leuchtendsten Vertreterldquo gefunden

Der Hesychasmus gehoumlre zum traditionellen Erbe von Byzanz das Russ-land angetreten habe als es zum Dritten Rom und zum Zentrum der orthodoxen Welt geworden sei bdquoWir sindldquo so Dugin bdquobyzantinisch in unserer Seele unseren Wurzeln und in unserer Identitaumltldquo108

Unser stabilstes Fundament ist Byzanz [hellip] Russland ist Byzanz [hellip] Unsere For-mel lautet Der Westen ist das Boumlse Byzanz das Gute Alles Schlechte das uumlber Byzanz geschrieben wurde ist eine Luumlge Das sind lediglich Winkelzuumlge im ideolo-gischen Kampf von Seiten des Westens [hellip] Jeder Russe muss wissen Byzanz ist das reine Gute Jeder der etwas anderes behauptet ist ein Feind [hellip] Wer Byzanz kritisiert ist ein Feind des russischen Volkes Das muss unser ehernes Prinzip sein [hellip] Byzanz ist der absolute Orientierungspunkt des russischen Projekts109

Damit sind Russlands Ort und Mission in der bdquohistoriosophischenldquo Deutung des Weltgeschehens bestimmt Nach Dugin wird die Geschichte der Menschheit be-herrscht vom bdquookkulten planetarischen Ringenldquo zweier antagonistischer Maumlchte dem bdquogroszligen Krieg der Kontinenteldquo Land gegen Meer Behemoth gegen Levia-than die organischen bodenstaumlndigen und traditionalistischen bdquoTellurokratienldquo des eurasischen Ostens gegen die wurzel- und seelenlosen materialistischen bdquoTha-lassokratienldquo des angloamerikanischen Westens das apokalyptische Tier aus dem Meer (Offb 13 1-10)110 Die USA als bdquoQuintessenz des Westensldquo und New York als moderne Hure Babylon (Offb 17 und 18) sind das Reich des Antichrist eine chimaumlrisch-antiorganische transplantierte Zivilisation die keine sakrale Tradi-tion besitze ihre Selbsterhebung zu bdquoGottes neuem Israelldquo und bdquoNeuem Zionldquo ndash gemaumlszlig der anglo-amerikanischen Interpretation der Substitutionslehre ndash deutet Dugin als besonders perfiden Taumluschungsversuch des bdquowestlichen Antichristldquo Das Jahr der Entdeckung Amerikas (1492 ist nach der altrussisch-byzantinischen

offene Ablehnung Fuumlr den Sektenexperten des Moskauer Patriarchats ist Dugin ein bdquoge-faumlhrlicher Feindldquo der die bdquoOrthodoxie in Kabbalistik umzuschmelzenldquo versuche Andrej Kuraev Cerkovrsquo v mire ljudej Moskva 2006 142

108 Aleksandr Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Tradition Duginrsquos Guidelineldquo lthttpswwwyoutubecomwatchv=m0RIa61eZDggt

109 Aleksandr Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo in ders Russkaja Veščrsquo Očerki nacionalrsquonoj filosofii Bd 1 Moskva 2001 69ndash76 hier 70ndash72 (Hervorhebungen im Original) Der Be-griff bdquoByzantismusldquo (vizantizm) ndash im Unterschied zum negativ konnotierten bdquoByzantinis-musldquo ndash als Bezeichnung eines dem europaumlischen entgegengesetzten Kulturtypus der auf den Prinzipien von Orthodoxie und Selbstherrschaft beruht geht auf den konservativen Philosophen Konstantin Leontrsquoev (1831ndash1891) und sein Buch Vizantizm i slavjanstvo (1875) zuruumlck

110 Auch fuumlr den von Dugin verehrten Heidegger waren die Seemaumlchte Groszligbritannien und Amerika nicht Teil der abendlaumlndischen Tradition sondern im Gegensatz zum restlichen Europa wurzellos und sinnleer Der Antagonismus von Land und Meer die kategorische Unterscheidung von Freund und Feind sowie das Konzept des Katechon gehen auf Carl Schmitt zuruumlck als dessen Schuumller Dugin sich bezeichnet Siehe auch Fn 41

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 31

Weltaumlra das Jahr 7000 nach dem chiliadischen Weltwochenschema also der sieb-te Tag der Schoumlpfung) verweise ebenso auf den Endzeitcharakter der bdquoNeuen Weltldquo wie die bdquosakrale Geographieldquo nach der das Paradies im Osten die Houmllle aber das bdquoLand des Todesldquo im Westen zu suchen seien111

Dem Antichrist entgegen stehe seit jeher der Katechon dessen bdquoletzter Hortldquo bis ans Ende der Zeit die Heilige Rusrsquo das Dritte Rom sei112 In der petrini-schen Epoche als die Hauptstadt in die bdquonoumlrdlichen Suumlmpfeldquo in die bdquoGespenster-stadtldquo Petersburg verlegt und das Patriarchat abgeschafft wurde haumltten allein die Altglaumlubigen den Geist von Byzanz den Katechon bewahrt zweihundert Jahre lang sei der Weg frei gewesen fuumlr das zerstoumlrerische Wirken des Antichrist Erst die sowjetische Periode habe eine bdquomystische Ruumlckkehr zum Byzantismusldquo be-deutet indem die Bolschewiki das heilige Moskau wieder zur Hauptstadt erklaumlr-ten das Patriarchat wiederherstellten die Ausbeuter als Klasse vernichteten und dem Westen auf allen Gebieten Widerstand boten Im bdquoroten Byzantismusldquo der Dritten Internationale sei der Katechon zuruumlckgekehrt113

Um seine Mission zur Erloumlsung der Menschheit auch kuumlnftig zu erfuumlllen muumlsse das Dritte Rom nach dem Zerfall der Sowjetunion114 nunmehr ein groszligkon-tinentales sakral fundiertes bdquoEurasisches Imperiumldquo errichten gegen den Erz-feind die materialistische universalistische alles nivellierende Zivilisation des Westens als der Verkoumlrperung des bdquoweltweiten Boumlsenldquo (mirovoe zlo) gegen Libe-ralismus Individualismus Globalismus Egalitarismus sowie die bdquomondialisti-scheldquo Konzeption der Menschenrechte115 Verbuumlndete im bevorstehenden apoka-lyptischen bdquoEndkampfldquo (von Dugin stets deutsch geschrieben) werden all jene sein die den Bezug zum bdquoSakralenldquo noch nicht verloren haben russische Altglaumlu-bige ultraorthodoxe antizionistische Juden europaumlische Traditionalisten sowie jene bdquoanti-atlantischenldquo islamistischen Fundamentalisten die in den USA den Dajjacircl den falschen Messias und Antichrist erkennen gegen den die Retter-gestalt des Mahdicirc zu Felde ziehen wird116 111 Aleksandr Dugin Absoljutnaja Rodina Puti Absoljuta Metafizika Blagoj Vesti Misterii

Evrazii Moskva 1999 645ndash670 112 Ebd 378ndash395 493ndash521 113 Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo 74ndash76 Siehe auch ders bdquoKatechon i revoljucijaldquo in ders

Tampliery proletariata Nacional-bolrsquoševizm i iniciacija Moskva 1997 52ndash59 ndash Die mes-sianische Identifizierung des Dritten Rom mit der Dritten Internationale reicht bis ins Gruumlndungsjahr der Komintern (1919) zuruumlck Beide so der slawophile Philosoph und An-haumlnger des imjaslavie Valerian Muravrsquoev (1885ndash1930) in einem Brief vom 6 Januar 1920 an Lev Trockij seien Ausdruck der Suche des russischen Volkes und der Intelligencija nach einem Reich der Wahrheit und Gerechtigkeit Valerian Muravrsquoev Sočinenija Bd 2 Moskva 2011 352f Weitere Belege bei Emanuel Sarkisyanz Russland und der Messianis-mus des Orients Tuumlbingen 1955 196 Mikhail Agursky Third Rome National Bolshevism in the USSR Boulder Co 1987

114 Damals sah ein Journalist bdquoauf den Ruinen des Imperiumsldquo das Dritte Rom in Gefahr zu einem Land der Dritten Welt zu werden Andrej Fadin bdquoTretij Rim v tretrsquoem mire Razmy-šlenija na ruinach imperiildquo in Nezavisimaja gazeta 1291991

115 [Aleksandr Dugin] bdquoLibo-my libo-ničtoldquo in Ėlementy 8 19961997 1ndash4 hier 2 116 [Aleksandr Dugin] bdquoIdeologija Mirovogo Pravitelrsquostvaldquo in Ėlementy 2 1992 1f

32 Michael Hagemeister

Das Dritte Rom als Zentrum des eurasischen bdquoEuro-Sowjetischen Imperiumsldquo Titelbild der von Aleksandr Dugin herausgegebenen Zeitschrift bdquoElemente Eurasische Rundschauldquo (1992) Dugins Werk mit seiner provokanten Mischung esoterischer antimoderner und antiwestlicher Motive findet besonders unter jungen Intellektuellen Anklang und Nachahmer so etwa bei dem promovierten Philosophen und selbstproklamierten bdquoorthodoxen Metaphysikerldquo Arkadij Maler einem vehementen Propagandisten einer bdquopolitischen Orthodoxieldquo (političeskoe Pravoslavie) und fuumlhrenden Ideolo-gen der bdquoneobyzantinischenldquo Doktrin Obwohl sich Maler von Dugin distan-ziert117 beschwoumlrt auch er die eschatologische bdquogeistige Mission des Dritten Romldquo die es von Byzanz geerbt habe und die in seiner bdquozentralen katechontischen Rolleldquo bestehe dem Kampf gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo des bdquogottlosen Wes-tensldquo118 Russische Politik koumlnne deshalb nicht anders als imperial sein und muumlsse ihren Einfluss auf den gesamten Planeten ausdehnen Wie Dugin sieht auch Maler die Bolschewiki in dieser Tradition als sie Moskau zur Hauptstadt des bdquoRoten

117 In den spaumlten 1990er Jahren gehoumlrte Maler der vaumlterlicherseits juumldischer Abstammung ist

zusammen mit Dugin und Ėduard Limonov zur Fuumlhrungsriege der Nationalbolschewisti-schen Partei und schrieb fuumlr die Parteizeitung Limonka sich selbst charakterisierte er als bdquorotbraunen Zionistenldquo Nach seiner Konversion zur Orthodoxie trennte er sich 1999 von Dugin und kritisierte dessen esoterischen Traditionalismus aus einer ultraorthodoxen Posi-tion Dugin wiederum warf Maler vor ihn zu plagiieren

118 Arkadij Maler Duchovnaja missija Tretrsquoego Rima Moskva 2005 bes 134ndash136 170ndash206 Siehe auch ders bdquoIdeologija Vizantizmaldquo in Severnij Katechon 1 (2005) 7ndash49 bdquoNeovi-zantizm kak novyj bolrsquošoj stilrsquoldquo in Aleksej Nilogov (Hg) Kto segodnja delaet filosofiju v Rossii Moskva 2007 110ndash124

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 33

Imperiumsldquo machten und dieses zur bdquoabsoluten Antithese des Westensldquo erklaumlrten zum bdquoTraumlger der planetarischen Mission der Befreiung der Welt aus den sbquoFesseln des Kapitalslsquoldquo119 Das Dritte Rom sei zeitweise in die Dritte Internationale trans-formiert worden ohne jedoch seine Mission als Katechon als aufhaltende Macht gegen das Reich des Boumlsen und Ausgangspunkt zur Errettung der Welt aufzuge-ben Die bdquoletzte Etappeldquo im Kampf gegen den Antichrist werde so Maler der bdquoeschatologische Krieg des Dritten Rom gegen das Dritte Karthagoldquo den bdquoAnti-katechonldquo sein die bdquoanglo-amerikanische [] atlantische Zivilisationldquo120 Zur Propagierung der katechontischen Mission Russlands gruumlndete Maler 1999 am Institut fuumlr Philosophie der Akademie der Wissenschaften in Moskau einen bdquoBy-zantistischen Klub Katechonldquo (Vizantistskij Klub Katechon) und 2005 das bdquoPhi-losophisch-politische Zentrum sbquoNoumlrdlicher Katechonlsquoldquo das einen gleichnamigen Almanach (Severnyj Katechon) herausgibt121

Apokalyptischer Ausblick

Die Formel vom Dritten Rom und die Figur des Katechon des Aufhalters des bdquoweltweiten Boumlsenldquo sind zu Markenzeichen russischer Anti-Westler und Ver-schwoumlrungstheoretiker und ihres schrillen Szenariums eines globalen apokalyp-tischen bdquoEndkampfesldquo gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo geworden122 Unter dem Titel bdquoDie russische Doktrin Die Staatsideologie der Epoche Putinsldquo verfasste in den Jahren 2005 und 2006 ein Kollektiv nationalpatriotischer Autoren ndash unter ih-nen der bdquoByzantistldquo Arkadij Maler ndash ein uumlber 1000 Seiten langes ultrakonservati-ves und antiwestliches Manifest das auch die Unterstuumltzung hoher kirchlicher Wuumlrdentraumlger fand123 In ihrem Entwurf einer bdquoorganischen weltanschaulichen Plattformldquo fuumlr das kuumlnftige Russland behandeln die Autoren ausfuumlhrlich die bdquohis-toriosophischeldquo Konzeption vom Dritten Rom und seine Mission als Katechon gegen das bdquoHeidentumldquo des Westens124 Gefordert wird die positive Identifikation

119 Maler Duchovnaja missija 182f 185 120 Ebd 177 ndash Als Mittel im ideologischen Kampf gegen den saumlkularen Westen fordert Maler

in Analogie zur katholischen Gegenreformation eine orthodoxe konservative bdquoGegenauf-klaumlrungldquo (Kontrprosveščenie) lthttpwwwkatehonruhtmltoppolitologiaideaotkritije _polit_pravoslavijahtmgt

121 Siehe die Website lthttpwwwkatehonrugt 122 Siehe zB Galina A Morozova Tretij Rim protiv novogo mirovogo porjadka Moskva

2009 Die Formel von Dritten Rom hat laumlngst auch Schriftsteller und Maler inspiriert und scheint auch werbewirksam zu sein bdquoDrittes Romldquo nennt sich ein Verlag ein Videospiel eine Bank ein Reisebuumlro und sogar ein Kasino in Jalta Ein Schoumlnheitswettbewerb in Mos-kau vergibt alljaumlhrlich den Titel einer bdquoMiss Drittes Romldquo Judith E Kalb Russiarsquos Rome Imperial Visions Messianic Dreams 1890ndash1940 Madison Wisconsin 2008 198f Zum Katechon siehe Maria Engstroumlm bdquoContemporary Russian Messianism and New Russian Foreign Policyldquo in Contemporary Security Policy 35 (2014) 3 356ndash379

123 Russkaja doktrina Gosudarstvennaja ideologija ėpochi Putina Moskva 2016 124 Ebd 68ndash72 116ndash120 und passim

34 Michael Hagemeister

mit der Geschichte Russlands und seinen Lichtgestalten dem Heiligen Serafim von Sarov dem bdquoeschatologischen Fuumlhrer des russischen Volkes am Ende der Zeitenldquo der bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo und Stalin der dem paulinischen Kate-chon gleich die bdquoGesetzlosigkeitldquo (bezzakonie) bekaumlmpft und das bdquoFundament fuumlr eine groszlige Zukunftldquo gelegt habe125

bdquoKatechonldquo nennt sich auch ein prominent besetzter Think tank den der Oligarch und Berater Putins Konstantin Malofeev im Jahr 2015 gegruumlndet hat126 Der Milliardaumlr der sein Vermoumlgen mit einer Investmentfirma auf den Cayman Inseln gemacht hat bezeichnet sich selbst als bdquoorthodoxen Monarchistenldquo127 Er unterstuumltzt die Separatisten in der Ostukraine und unterhaumllt vielfaumlltige Verbindun-gen zu europaumlischen Rechtspopulisten wie dem Front National der FPOuml Syriza und der Lega Nord Neben dem Forum bdquoKatechonldquo betreibt Malofeev auch einen Fernsehsender mit dem programmatischen Namen bdquoZargradldquo128 (Motto bdquoDas Licht Christi erleuchtet alleldquo) dessen Chefkommentator niemand anderes ist als Aleksandr Dugin129

bdquoKatechonldquo und bdquoZargradldquo propagieren den Kampf gegen die westliche Moderne mit Bezug auf das byzantinische Erbe Russlands Im November 2014 fand in der Moskauer Manege eine Konferenz bdquoMoskau ndash das Dritte Romldquo statt130 An ihr nahmen auszliger Dugin und Malofeev auch Archimandrit Tichon und Nata-lrsquoja Naročnickaja teil eine hochrangige Diplomatin Mitglied des Izborsker Klubs und Leiterin des Pariser bdquoInstituts fuumlr Demokratie und Kooperationldquo das die oumlf-fentliche Meinung im Westen im Sinne des Kremls beeinflussen soll Tichons Film bdquoDie Lehre von Byzanzldquo sei so Naročnickaja auch eine Warnung an den Westen der seine christlichen Werte verraten habe weshalb er den glaubens-festen Migranten und ihrer Verachtung hilflos ausgeliefert sei131

Im Oktober 2009 wurde Tichons Film in Athen vor ausverkauftem Saal aufgefuumlhrt Unter denen die dem Drehbuchautor Beifall spendeten war der Philo-soph und Theologe Christos Yannaras einer der Hauptvertreter der Neoorthodo-xie und scharfer Kritiker des Westens Wie ihre russischen Gesinnungsgenossen

125 Ebd 130f 153 142ndash145 126 Mit einem Auftritt im Internet in 9 Sprachen Siehe die deutsche Version unter lthttp

katehoncomdewer-sind-wirgt 127 lthttpsdewikipediaorgwikiKonstantin_Walerjewitsch_Malofejewgt 128 Carrsquograd ist der altrussische Name fuumlr Konstantinopel 129 Auch Dugin unterhaumllt seit mehr als 25 Jahren Kontakte zu ultrakonservativen traditiona-

listischen und faschistischen Gesinnungsgenossen in Westeuropa Siehe Vladimir Ivanov Alexander Dugin und die rechtsextremen Netzwerke Fakten und Hypothesen zu den inter-nationalen Verflechtungen der russischen Neuen Rechten Stuttgart 2007

130 lthttpwwwpravoslavieru75070htmlgt 131 lthttpwwwpravoslavieru7414htmlgt ndash Fuumlr Metropolit Ilarion (Alfeev) der sich dabei

auf Dugin beruft verwandeln sich die Laumlnder Westeuropas bereits in die bdquoSphaumlre des Anti-christldquo lthttpwwwpatriarchiarudbtext3065216htmlgt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 35

verherrlichen auch die griechischen Neoorthodoxen die byzantinische Vergan-genheit und sehen in der modernen saumlkularen Gesellschaft eine Bedrohung ihrer kulturellen Identitaumlt132 Gemeinsam suchen sie der Globalisierung mit einer bdquoby-zantinischen Internationaleldquo als bdquoorthodoxer Oumlkumeneldquo entgegenzuwirken einer letztlich sakral verstandenen Gemeinschaft deren Einfluss indes weit uumlber die kirchliche Sphaumlre hinausreichen und eine transnationale Vereinigung der ortho-doxen Welt von Serbien uumlber Syrien bis Georgien und Armenien unter Fuumlhrung Moskaus schaffen soll133 Als wichtiger symbolischer Schritt auf diesem Weg wurde der Besuch von Praumlsident Putin und Patriarch Kirill des Heiligen Berges Athos einer traditionellen Hochburg antiwestlicher Opposition im Mai 2016 ge-feiert Das weltliche und das geistliche Oberhaupt Russlands ndash die bdquoSymphonia der Maumlchteldquo ndash zeigten damit so Aleksandr Dugin ihr Bekenntnis zu Byzanz und seiner Rolle als Katechon Damit anerkenne bdquounsere Rusrsquo ihre historische Bestim-mung Wir sind bereit fuumlr die Endzeitldquo134

132 Ausfuumlhrlich dazu Daniel P Payne The Revival of Political Hesychasm in Contemporary

Orthodox Thought The Political Hesychasm of John Romanides and Christos Yannaras Lanham [ua] 2011 Siehe auch Vasilios N Makrides bdquoByzantium in Contemporary Greece The Neo-Orthodox Current of Ideasldquo in David RicksPaul Magdalino (Hgg) Byzantium and the Modern Greek Identity Aldershot 1998 141ndash153 Zum griechischen Neobyzantismus unter russischem Einfluss Aleksey Kamenskikh bdquoThe Image of the Second Rome through the Prism of the Thirdrdquo in Teresa Obolevich [ua] (Hgg) Russian Thought in Europe Reception Polemics Development Krakoacutew 2013 13ndash22 ndash Antimo-derne und antiwestliche Stroumlmungen in den vom orthodoxen Christentum gepraumlgten Kultu-ren haben der Religionswissenschaftler Makrides und der Slavist Uffelmann vor einigen Jahren als Desiderat der Forschung benannt Vasilios N MakridesDirk Uffelmann bdquoStudying Eastern Orthodox Anti-Westernism The Need for a Comparative Research Agendaldquo in Jonathan SuttonWil van den Bercken (Hgg) Orthodox Christianity and Contemporary Europe Leuven [ua] 2003 87ndash120 Seitdem haben Makrides und die Politikwissenschaftlerin Stoumlckl eine Reihe einschlaumlgiger Arbeiten vorgelegt in denen or-thodoxe Alternativen zu westlichen philosophischen und politischen Konzepten untersucht werden Vasilios N Makrides bdquoOrthodoxes Cristentum und Moderne ndash Inkompatibilitaumlt oder langfristige Anpassungldquo in Una Sancta 2011 1 15ndash30 ders bdquoOumlstliches orthodo-xes Christentum und Saumlkularitaumlt Ein Vergleich mit dem lateinischen Christentumldquo in Transit 47 (2015) 59ndash75 Kristina Stoumlckl bdquoModernity and its Critique in Twentieth Cen-tury Russian Orthodox Thoughtldquo in Studies in East European Thought 58 (2006) 243ndash269 dies Community after Totalitarianism The Russian Orthodox Intellectual Tradition and the Philosophical Discourse of Political Modernity Frankfurt aM [ua] 2008

133 Dazu gehoumlrt auch die Verwirklichung des jahrhundertealten Traums der Wiedererrichtung des Kreuzes auf der Hagia Sophia Siehe Egor Cholmogorov Russkij proekt restavracija buduščego Moskva 2005 283 Der Verfasser Mitglied des Expertenteams des Izborsker Klubs ist Begruumlnder der Doktrin der bdquoAtomaren Orthodoxieldquo siehe Fn 74

134 Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Traditionldquo

ZUM AUTOR

Michael Hagemeister geb 1951 in EllwangenJagst Studium der Slavistik Ge-schichte Germanistik und Philosophie in Basel und MarburgLahn Promotion mit einer Arbeit uumlber den russischen Philosophen Nikolaj Fedorov Wissenschaft-licher Mitarbeiter am Slawischen Seminar in Marburg Gastprofessor am Seminar fuumlr Komparatistik der Universitaumlt Innsbruck Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lotman-Institut fuumlr russische und sowjetische Kultur der Ruhr-Universitaumlt Bo-chum am Lehrstuhl fuumlr Geschichte Osteuropas der Europa-Universitaumlt Viadrina Frankfurt (Oder) an den Historischen Seminaren der Universitaumlten Basel Duumlssel-dorf und Bochum Vertretung der Professuren fuumlr Geschichte Osteuropas an der Ludwig-Maximilians Universitaumlt Muumlnchen und an der Europa-Universitaumlt Frank-furt (Oder)

Forschungen zur russischen Philosophie und Geistesgeschichte zum utopischen und apokalyptischen Denken in Russland zum russischen Rechtsextremismus und Antisemitismus sowie insbesondere zu den Protokollen der Weisen von Zion und ihrem Herausgeber Sergej Nilus Publikationen ua Die Neue Menschheit Biopolitische Utopien in Russland (hg mit Boris Groys) Frankfurt aM 2005 The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimensions (hg mit Birgit Menzel und Bernice Rosenthal) Muumlnchen 2012 Die Fiktion von der juumldischen Weltver-schwoumlrung Zu Text und Kontext der bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo (hg mit Eva Horn) Goumlttingen 2012 Die bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo vor Gericht Der Berner Prozess und die bdquoantisemitische Internationaleldquo in der Zwischen-kriegszeit Chronik Dokumente und Kommentare Zuumlrich (im Druck)

ERFURTER VORTRAumlGE ZUR KULTURGESCHICHTE DES ORTHODOXEN CHRISTENTUMS Reihenherausgeber Vasilios N Makrides

Heft 1 Thomas Bremer Konfrontation statt Oumlkumene Zur kirchlichen Situation in der Ukraine Erfurt 2001

Heft 2 Gerhard Podskalsky Zur Hermeneutik des theologischen Ost-West-

Gespraumlchs in historischer Perspektive Erfurt 2002 Heft 3 Karl Christian Felmy Warum und zu welchem Behufe treiben wir

Ostkirchenkunde Erfurt 2003 Heft 4 Wassilios Klein bdquoTatarenjoch ndash татарское игоldquo Beobachtungen zur

Wahrnehmung des Islam im eurasischen Raum Erfurt 2005 Heft 5 Stamatios D Gerogiorgakis Zeitphilosophie im Mittelalter Byzantinische

und lateinische Vorstellungen Erfurt 2006 Heft 6 Heinz Ohme Das Oumlkumenische Patriarchat von Konstantinopel und die

tuumlrkische Religionspolitik Erfurt 2007 Heft 7 Alexander Agadjanian Russian Orthodox Vision of Human Rights Recent

Documents and Their Significance Erfurt 2008 Heft 8 Christos Yannaras Wem gehoumlrt die griechische Antike Erfurt 2009 Heft 9 Joachim Willems Religions- und Ethikunterricht in Russland ndash Was

wollen Staat und Kirche Zur Einfuumlhrung des neuen Schulfaches bdquoGrundlagen der religioumlsen Kulturen und der weltlichen Ethikldquo Erfurt 2010

Heft 10 Chris Hann Eastern Christianity and Western Social Theory Erfurt 2011 Heft 11 Jennifer Wasmuth Akademische Theologie im zaristischen Russland in

ihrer Bedeutung fuumlr die neuere orthodoxe Theologie Erfurt 2012 Heft 12 Anna Briskina-Muumlller Auf der Suche nach der bdquoHesychialdquo Paisij

Veličkovskij (1722ndash1794) und sein Leben fuumlr die bdquoPhilokalieldquo Erfurt 2014

Heft 13 Vladimir Cvetković From ldquoMerciful Angelrdquo to ldquoFortress Europerdquo The

Perception of Europe and the West in Contemporary Serbian Orthodoxy Erfurt 2015

Heft 14 Stefan G Reichelt Lebenslinien Nikolaj A Berdjaev (1874ndash1948) und Sergij N Bulgakov (1871ndash1944) im Westen ndash Eine Wuumlrdigung Erfurt 2015

Heft 15 Michael Hagemeister Der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo ndash bdquoNeobyzantismusldquo

und bdquopolitischer Hesychasmusldquo im postsowjetischen Russland Erfurt 2016

Alle Hefte der vorliegenden Schriftenreihe koumlnnen unter folgendem Link kostenlos heruntergeladen werden URL httpswwwuni-erfurtdereligionswissenschaftprofessur-orthodoxes-christentumveroeffentlichungenerfurter-vortraege-zur-kulturgeschichte-des-orthodoxen-christentums

Page 15: Michael Hagemeister FINAL - uni-erfurt.de · doziert Tichon, während er das antike Kons tantinopel computeranimiert auferste- hen lässt. Das prosperierende Impe rium erregte freilich

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 15

Himmelskoumlnigin mit den Zeichen ihrer Regentschaft im kaiserlichen Purpur mit Krone Szepter und Reichsapfel Das Bild der bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo (Bogo-materrsquo Deržavnaja) erwies sich sogleich als wundertaumltig und zog zahlreiche Pil-ger an Kopien verbreiteten seine Verehrung im ganzen Land Bis heute gilt es vielen als ein Zeichen dass Russlands Schutz vor dem Ansturm des Antichrist vom Zaren auf die Gottesmutter uumlbergegangen ist und sie die autokratische Macht bis zur Wiederherstellung der Monarchie bewahren wird44 Zum 70 Jahrestag des Sieges lieszlig der Izborsker Klub eine Variante der beruumlhmten Ikone anfertigen Sie zeigt die bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo zusammen mit Stalin und seinen Marschaumll-len Fuumlr Aleksandr Prochanov ist Stalin der Katechon der von Gott gesandte Fuumlhrer des Sowjetvolks das durch den Opfertod seiner Soumlhne im bdquogeheiligtenldquo Groszligen Vaterlaumlndischen Krieg ebenso wie einst Christus die Macht der Houmllle be-siegt und die Menschheit erloumlst habe45

lthttpwwwizborsk-clubruarh2015_04_Blokpdfgt

In bdquohistoriosophischerldquo Sicht bildet die Ermordung des Zaren und seiner Familie das zentrale sinnstiftende Ereignis der Geschichte Russlands im 20 Jahrhundert Alles darauf folgende Ungluumlck und Leiden die Verfolgung der Christen Hunger und Terror der Tod von Millionen Menschen werden aufgefasst als Strafe Gottes fuumlr den Abfall des russischen Volkes vom Glauben und fuumlr den judasgleichen

archiva Moskvy o Deržavnoj ikone Božiej Materildquo in Otečestvennye archivy 1 (2004) lthttpricolororghistorykasvyatyniik_derggt

44 Vgl Grigorij Nikolaev bdquoĖschatologičeskij triptichldquo in Ėschatologičeskij sbornik 358ndash396 hier 376f Bagdasarjan bdquoApokalipsis ndash segodnja 441f

45 Aleksandr Prochanov bdquoMističeskij stalinizmldquo in Izborskij klub Russkie strategii 4 (28) 2015 78ndash81 auch lthttpwwwizborsk-clubruarh2015_04_Blokpdfgt

16 Michael Hagemeister

bdquoVerratldquo an seinem Herrscher Wie Jesus sich dem Willen des goumlttlichen Vaters unterworfen hat und auf Golgatha fuumlr die Suumlnden der Welt gestorben ist so habe der Zar in Ekaterinburg (dem bdquorussischen Golgathaldquo) sein Leben als bdquoSuumlhneopferldquo dargebracht fuumlr die Suumlnden ganz Russlands46 Erst wenn das russische Volk sein Land von den Idolen und Symbolen der Gottlosigkeit reinige den Ideen der De-mokratie und politischen Gleichheit abschwoumlre seine kollektive Schuld bereue und Buszlige tue fuumlr das bdquoschrecklichste und unheilvollste Verbrechen des 20 Jahr-hundertsldquo werde der Zar zuruumlckkehren und Russland seine einstige Groumlszlige wie-dererlangen47

Einer der vehementesten und einflussreichsten Propagandisten der Selbst-charismatisierung Russlands war in den Jahren nach dem Ende der Sowjetunion Metropolit Ioann (Ivan Snyčev 1927ndash1995) von St Petersburg und Ladoga Mit-glied des Heiligen Synods und dritthoumlchster Kirchenhierarch des Landes In einer Vielzahl von Buumlchern Aufsaumltzen und Interviews beschwor Ioann die universale Mission des Dritten Rom als des bdquoletzten Hortes des wahren Glaubensldquo im Kampf gegen den Antichrist und seine Verbuumlndeten das bdquoVolk der Gesetzlosigkeitldquo48 Zu den apokalyptischen Feinden Christi zaumlhlte er die bdquoglobalen Maumlchte hinter den Kulissenldquo (mirovaja zakulisa) das internationale Freimaurertum die bdquotransnatio-nale Finanzoligarchieldquo die Anhaumlnger des Zionismus und Marxismus sowie Israel die USA und deren westeuropaumlische Satelliten49 Wiedergeboren im Geist der Or-thodoxie sei das Dritte Rom der irdische Sockel auf dem der Thron Gottes ruhen werde ndash ihm entgegen stehe der Dritte Tempel der Thron des Antichrist50

Hesychasmus als Kulturscheide ndash Kritik der Renaissance

Als entscheidende Waffe in dieser heilsgeschichtlichen Auseinandersetzung wird in juumlngster Zeit von antiwestlichen Intellektuellen und Kirchenkreisen der soge-nannte Hesychasmus in Stellung gebracht Urspruumlnglich handelt es sich dabei um

46 Das Schicksal des letzten Zaren wurde in der antibolschewistisch-antisemitischen Polemik

schon fruumlh mit der Passion Christi verglichen oder gleichgesetzt Eindrucksvolle Beispiele aus juumlngerer Zeit bieten die patriotischen Lieder der prominenten Saumlngerin Žanna Bičev-skaja oder die Filme Iskupitelrsquonaja žertva (1992) und Russkaja Golgofa (2000) Siehe auch Papkova The Orthodox Church 63f 222

47 Marija Achmetova Konec sveta v odnoj otdelrsquono vzjatoj strane Religioznye soobščestva postsovetskoj Rossii i ich ėschatologičeskij mif Moskva 2010 245ndash260

48 Vgl Rossman Russian Intellectual Antisemitism 221ndash225 Hagemeister bdquoDas Dritte Romldquo 476

49 Metropolit Ioann (Snyčev) bdquoToržestvo pravoslavijaldquo in ders Bitva za Rossiju Sankt-Peterburg 1993 28ndash35 In seinem Bestreben Russland als Opfer jahrhundertealter Ver-schwoumlrungen finsterer antichristlicher Maumlchte darzustellen griff Ioann immer wieder auch auf die Protokolle der Weisen von Zion zuruumlck

50 Metropolit Ioann (Snyčev) Samoderžavie ducha Očerki russkogo samosoznanija Sankt-Peterburg 1994 7

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 17

eine individuelle psychosomatische Gebets- und Meditationstechnik des byzanti-nischen und slavischen Moumlnchtums deren Anfaumlnge bis auf die Wuumlstenvaumlter zu-ruumlckreichen Durch die unablaumlssige konzentrierte Wiederholung des sogenannten bdquoJesusgebetsldquo ndash der Anrufung des rettenden Namens Jesu Christi ndash im Rhythmus des Herzschlags (deshalb auch bdquoHerzensgebetldquo) eine Uumlbung die als bdquogeistiges Tunldquo (πρᾶξις νοερά russ umnoe delanie) bezeichnet wird kann der Asket der die innere Ruhe (ἡσυχία) und Leidenschaftslosigkeit (ἀπάθεια) erreicht hat zur ekstatischen Schau (θεωρία) der Herrlichkeit Gottes in Lichtvisionen gelangen51

Die mit dem bdquoJesusgebetldquo verbundenen mystischen Erfahrungen fuumlhrten im 14 Jahrhundert zu einer hochspekulativen theologischen Deutung und Systemati-sierung durch den Athosmoumlnch (spaumlter Erzbischof von Thessalonike) Gregorios Palamas (129697minus1359) und seine Anhaumlnger im sogenannten bdquoHesychasmus-streitldquo Dabei ging es ndash stark vereinfacht ndash um die Frage inwiefern bestimmte sinnliche Erfahrungen beim Gebet wie das Schauen von Licht aber auch die Empfindung von Waumlrme und Wohlgeruch als Begegnung mit der Realitaumlt Gottes aufzufassen seien (und nicht als Pseudovisionen also als Einbildungen oder gar Inspirationen daumlmonischer Maumlchte) Dahinter steht das alte theologische Problem der Erkennbarkeit oder sinnlichen Erfahrbarkeit Gottes der Kommunikation zwi-schen Immanenz und Transzendenz aber auch der Gefahr der Verfuumlgung uumlber das Goumlttliche (extrem im Gotteszwang durch Beschwoumlrung)

Palamas loumlst die Frage indem er in Anlehnung an neuplatonische Vorstel-lungen das unzugaumlngliche ewige bdquoWesenldquo (οὐσία) Gottes von seiner in der ge-schaffenen Welt d h in Raum und Zeit mitteilbaren ungeschaffenen bdquoWirkkraftldquo oder bdquoEnergieldquo (ἐνέργεια) unterscheidet nicht aber trennt52 Diese Energien bdquodie der dreieinige Gott ausstrahlt und die zu seinem Wesen gehoumlren wie die Strahlen zur Sonne oder das Kraftfeld zum Magnetenldquo53 kann der Asket der den Stufen-prozess von bdquoReinigungldquo (κάθαρσις) bdquoErleuchtungldquo (φωτισμός) und bdquoVergoumlttli-chungldquo (θέωσις) durchlaumluft durch die Gnade Gottes sinnlich erfahren Als houmlch-stes mystisches Erlebnis im Zusammenwirken (συνεργία) aller menschlichen En-ergien mit der goumlttlichen Energie gilt die Schau des ungeschaffenen Lichtes wie sie den Juumlngern Jesu bei dessen Verklaumlrung auf dem Berg Tabor (μεταμόρφωσις

51 Ich folge hier zum Teil meinen Ausfuumlhrungen in Michael Hagemeister bdquoImjaslavie ndash imja-

dejstvie Namensmystik und Namensmagie in Russland (1900ndash1930)ldquo in Tatjana Petzer [ua] (Hgg) Namen Benennung ndash Verehrung ndash Wirkung Positionen der europaumlischen Moderne Berlin 2009 77ndash98 hier 79ndash81 88ndash90 Zum Hesychasmus liegt eine umfangrei-che Literatur vor Das Nachschlagewerk von Sergej Choružij (Hg) Isichazm annotiro-vannaja bibliografija Moskva 2004 umfasst mehr als 10000 Titel in 20 Sprachen

52 Die Unterscheidung von Gottes unerkennbarem Wesen und seinen wahrnehmbaren Wirk-kraumlften reicht bis auf Philon von Alexandria (gest ca 40 n Chr) zuruumlck Siehe Fairy v Lilienfeld bdquoHesychasmusldquo in Theologische Realenzyklopaumldie Bd 15 BerlinNew York 1986 282ndash289 ndash bdquoEnergieldquo ist Synonym fuumlr jeden bdquoAustrittldquo Gottes aus seinem Wesen Die bdquoSaumlttigungldquo mit goumlttlicher Energie erklaumlrt beispielsweise auch die gnadenreiche Heil-wirkung die von den Gebeinen der Heiligen selbst nach deren Tod ausgeht

53 Ebd 284

18 Michael Hagemeister

τοῦ Χριστοῦ Mt 171minus13) zuteil geworden war54 Fuumlr den endzeitlich gestimm-ten Palamas war diese Schau eine Vorwegnahme der Parusie der Vereinigung des Geschaffenen und des Ungeschaffenen und des kuumlnftigen Reiches Gottes somit bdquorealisierte Eschatologieldquo55

Der Glaube an die Wahrnehmbarkeit des ungeschaffenen ewigen Lichtes als Ausfluss der Energien Gottes stieszlig jedoch auf Widerspruch Palamasrsquo promi-nentester Gegner war der aus Kalabrien stammende Moumlnch Barlaam (ca 1290ndash1348) der in der Tradition der abendlaumlndischen rationalistischen Scholastik die Unterscheidung des transzendenten unzugaumlnglichen Wesens Gottes und der da-von untrennbaren Energien die aber ad extra wirken und sich dem Menschen mitteilen als haumlretisch verwarf und auf der absoluten Unerkennbarkeit Gottes be-stand Rom lehnte denn auch die Energienlehre des Palamas aufs schaumlrfste ab Dagegen erkannte die byzantinische Kirche sie 1341 und 1351 als Dogma an Seitdem gilt der palamitische Hesychasmus als ein Spezifikum der Orthodoxie und dient gerade heute wieder der polemischen Abgrenzung gegenuumlber dem Wes-ten56

Fuumlr die bereits genannten Philosophen Pavel Florenskij und Aleksej Losev charakterisiert das Bekenntnis zum Hesychasmus den Kulturtypus des christli-chen Mittelalters der sich in idealer Weise in Byzanz und in der Moskauer Rusrsquo ausgepraumlgt habe und in diametralem Gegensatz zur sogenannten bdquoRenaissance-Kulturldquo des Westens stehe Merkmale jener integralen Kultur des christlichen Ostens seien Gemeinschaftlichkeit (sobornostrsquo) Geistigkeit (duchovnostrsquo) Ob-jektivitaumlt Konkretheit Ganzheit (celrsquonostrsquo) und Ganzheitlichkeit (celostnostrsquo) synthetische Schau und Realismus57 waumlhrend die westliche Moderne seit der Re-naissance gepraumlgt sei durch Subjektivismus Relativismus szientifische Ratio-nalitaumlt (bdquoEntzauberung der Weltldquo) Materialismus Liberalismus Individualismus

54 Siehe Sergej Choružij bdquoSvet Plotinov i svet Favora mistika sveta v neoplatonizme i isi-

chazmeldquo in Aleksej Lidov (Hg) Ierotopija Ognja i Sveta v kulrsquoture vizantijskogo mira Moskva 2013 37ndash44 Zur Terminologie des Hesychasmus ders bdquoAnalitičeskij slovarʼ isi-chastskoj antropologiildquo in ders K fenomenologii askezy Moskva 1998 22ndash186

55 Peter Kawerau Das Christentum des Ostens Stuttgart [ua] 1972 131 56 Siehe zB die Arbeiten des Moskauer Theologen Igorʼ Ėkonomcev (Archimandrit Ioann)

bes bdquoIsichazm i vostočnoevropejskoe Vozroždenieldquo in Bogoslovskie trudy 29 (1989) 167ndash196 erweiterte Fassung bdquoDer Hesychasmus und die Renaissance in Osteuropaldquo in Karl Christian Felmy (Hg) Tausend Jahre Christentum in Russland Zum Millennium der Taufe der Kiever Rusrsquo Goumlttingen 1988 731ndash771 ndash Im 19 Jahrhundert erlebte der Hesy-chasmus im Zuge der Wiederbelebung mystischer Froumlmmigkeit durch Paisij Veličkovskij (1722ndash1794) eine Bluumlte im russischen Starzentum Dabei handelt es sich auch ndash aumlhnlich wie beim Pietismus ndash um eine Reaktion auf die Einfluumlsse der westlichen Aufklaumlrung Siehe die Beitraumlge in Adalberto Mainardi (Hg) Paisij lo starec Atti del III Convegno ecumenico internazionale di spiritualitagrave russa Bose 20ndash23 settembre 1995 Magnano 1997

57 Die Uumlberwindung der Trennung des erkennenden Subjekts vom Objekt der Erkenntnis (Descartes Locke Kant) durch das spekulative intuitive Erfassen des Wesens (der Ideen des Absoluten) als des eigentlich Realen hat die russische Philosophie des 20 Jahrhunderts bdquolebendiges Wissenldquo (živoe znanie) bdquoIdeal-Realismusldquo (ideal-realizm) oder bdquointuitiven Realismusldquo (intuitivnyj realizm) genannt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 19

Abstraktheit Zersplitterung und Atomisierung58 Der Sieg des Nominalismus im mittelalterlichen Universalienstreit und die Feier des autonomen Individuums in Renaissance Humanismus und Aufklaumlrung markieren in dieser katastrophischen Perspektive den Zerfall der goumlttlichen Ordnung des Universums und der Sakralitaumlt von Hierarchie und Herrschaft und damit den bdquoSuumlndenfallldquo der abendlaumlndischen Kultur die im Anthropozentrismus der satanischen Hybris einer bdquoSelbstvergot-tungldquo des Menschen (čelovekobožie)59 zugleich gipfele und scheitere60

Am Anfang dieser verhaumlngnisvollen Spaltung standen die Annahme der pa-lamitischen Lehre durch die Ostkirche und die Ablehnung dieser Lehre im Westen durch den bdquoRenaissance-Menschenldquo (vozroždenec) Barlaam den Lehrer Boccac-cios und Petrarcas61 Mit aller Schaumlrfe formulierte Losev diesen Gegensatz bdquo[hellip] entweder ist das Taborlicht untrennbar vom Wesen Gottes und ist deshalb Gott selbst (obwohl Gott selbst nicht [das] Licht ist) ndash dann ist die Orthodoxie gerettet oder das Licht ist vom Wesen Gottes trennbar und darum geschaffen ndash dann be-ginnen die apokalyptischen Kraumlmpfe des Renaissance-Westensldquo62 Indem sie Bar-laam einen bdquozugereisten Kalabrierldquo und seine Anhaumlnger mit dem Bann belegte habe die Orthodoxe Kirche so Losev die damals heraufziehende Renaissance

58 Siehe zB Pavel Florenskij bdquoAvtoreferat (192526)ldquo in Voprosy filosofii 1988 12 113ndash

116 dt Pavel Florenski bdquoAutorreferatldquo in ders Leben und Denken hg von Fritz und Sieglinde Mierau Bd 1 Ostfildern 1995 32ndash38 Aleksej Losev Dialektika mifa (1930) Moskva 2001 137ndash138 dt Die Dialektik des Mythos Hamburg 1994 109 ndash Die wertende Entgegensetzung von mittelalterlicher und Renaissance-Kultur (bzw der Typen bdquoobjekti-verldquo und bdquosubjektiverldquo Kulturen) findet sich durchgaumlngig im Werk Florenskijs und Losevs Siehe zuletzt Oksana SedychJulija Grišatova bdquoRusskij Renessans o Renessanseldquo in Vo-prosy filosofii 2015 6 111ndash121

59 bdquoSatan war der erste Revolutionaumlrldquo zitiert Losev einen (apokryphen) Ausspruch des Hl Serafim von Sarov Aleksej Losev bdquoDopolnenie k sbquoDialektike mifalsquo (novyj fragment)ldquo in AF Losev tvorčestvo tradicii interpretacii Moskva 2014 397ndash411 hier 401

60 So degradiere ndash um nur ein Beispiel fuumlr das Scheitern der Renaissance zu geben ndash das heliozentrische Weltbild eines Kopernikus und Giordano Bruno den Menschen zum Be-wohner eines bdquonichtigen Sandkornsldquo im unendlichen Weltraum SedychGrišatova bdquoRuss-kij Renessansldquo 114 Florenskij suchte denn auch in seiner Schrift Mnimosti v geometrii (1922) das geozentrische Weltbild des Mittelalters zu rehabilitieren Zum griechisch-or-thodoxen Antikopernikanismus Vasilios Makrides Die religioumlse Kritik am kopernikani-schen Weltbild in Griechenland zwischen 1794 und 1821 Aspekte griechisch-orthodoxer Apologetik angesichts naturwissenschaftlicher Fortschritte Frankfurt aM [ua] 1995

61 Mitunter wurde Barlaam sogar als Agent einer groszligangelegten antiorthodoxen Verschwouml-rung des bdquoPapismusldquo denunziert Siehe Ėkonomcev bdquoIsichazmldquo 59 vgl ders bdquoDer Hesy-chasmusldquo 736 ndash Eine Kontrastierung des weltlichen Humanisten Petrarca und des Hesy-chasten Palamas unternahm Losevs Schuumller und Sekretaumlr Vladimir Bibichin lthttpwww philologyruliterature3bibikhin-90htmgt

62 Aleksej Losev Očerki antičnogo simvolizma i mifologii Moskva 1930 856 Auch Ėko-nomcev spricht von den bdquoschreienden Widerspruumlchen und Grimassen der westlichen Re-naissance deren geistiger Vater Barlaam wurdeldquo Ėkonomcev bdquoIsichazmldquo 63 (in der deut-schen Version ist von bdquohimmelschreienden Gegensaumltzenldquo und bdquoscheuszliglichen Grimassenldquo die Rede Ėkonomcev bdquoDer Hesychasmusldquo 746)

20 Michael Hagemeister

insgesamt verdammt (anafematstvovala) der alle westlichen Voumllker verfallen sei-en und wahrscheinlich bis ans Ende ihrer Tage verfallen blieben63

Bis zuletzt verteidigte Losev ein mit Orden des Sowjetstaates ausgezeich-neter Philosoph der 1929 von Archimandrit David (Muchranov 1847ndash1930) ei-nem Fuumlhrer der hesychastischen bdquoNamensverehrerldquo (imjaslavcy)64 heimlich zum Moumlnch geweiht worden war die Lehre des Palamas als einen Grundpfeiler der Orthodoxie65 Gleichzeitig hielt er an seiner schroffen Ablehnung des bdquoRenaissan-ce-Westensldquo fest dessen Geschichte insgesamt nichts anderes sei als bdquoeine libera-le Kritik des Mittelaltersldquo 1978 stellte Losev in seiner umfangreichen Studie zur Aumlsthetik der Renaissance der bdquoganzheitlichen Kulturldquo (celostnaja kulrsquotura) des Mittelalters die zerrissene Kultur der Renaissance gegenuumlber die auf der Verabso-lutierung und bdquotitanischen Verherrlichungldquo des isolierten Subjekts und der bdquoAbge-trenntheit vom lebendigen Seinldquo (otryv ot živogo bytija) beruhe66 In einem Ge-spraumlch mit dem Schriftsteller Viktor Erofeev das 1985 veroumlffentlicht wurde de-nunzierte Losev den Typus des bdquoRenaissance-Menschenldquo der sich selbst vergoumltt-liche und deshalb dem Nihilismus und Satanismus verfalle bdquoIndem die Renais-sance das Subjekt zum Absolutum erhob oumlffnete sie den Weg fuumlr den Triumph des Subjektivismus in den folgenden Jahrhunderten In diesem Sinne stellt der gesamte Westen fuumlr mich eine Sackgasse des Denkens darldquo67 Damit geriet der Philosoph einerseits in scharfen Gegensatz zum sowjetischen Selbstverstaumlndnis das sich als Erbe und Vollender gerade jener bdquoprogressivenldquo Prozesse und huma-nistischen Traditionen sah die von der europaumlischen Renaissance ausgegangen

63 Losev Očerki 849 856 64 Zur Bewegung des imjaslavie die zu Beginn des 20 Jahrhunderts auf dem Athos entstand

und in Florenskij und Losev prominente Unterstuumltzer fand liegt inzwischen eine reiche Literatur vor Siehe die juumlngste Veroumlffentlichung Antoine Niviegravere Les glorificateurs du nom Une querelle theacuteologique parmi les moines russes du mont Athos (1907ndash1914) Genegraveve 2016

65 Siehe Valentina Postovalova bdquoAfonskij spor ob Imeni Božiem v filosofsko-bogoslovskom osmyslenii AF Losevaldquo in AF Losev 95ndash106 bes 105f

66 Aleksej Losev Ėstetika Vozroždenija Moskva 21982 (11978) 45 61 137 und passim Losevs Modernekritik erinnert an Heidegger und dessen Begriff der bdquoSeinsvergessenheitldquo Wie fuumlr Heidegger so war auch fuumlr Losev (und Florenskij) der Agent der verhassten Moder-ne ein bdquorechnendesldquo und bdquowurzellosesldquo mythisches Judentum Zu Losevs metaphysischem Antisemitismus (bdquodas satanische Wesen des Judentumsldquo) siehe zuletzt mit zahlreichen Belegen Natalrsquoja Boneckaja Duch Serebrjanogo veka (fenomenologija ėpochi) Moskva Sankt-Peterburg 2016 688ndash693

67 Aleksej Losev bdquoV poiskach smyslaldquo in Voprosy literatury 1985 10 205ndash231 hier 229 Zu Losevs Kritik der bdquoRenaissance-Kulturldquo des Westens ausfuumlhrlich Annett Jubara Die Philosophie des Mythos von Aleksej Losev im Kontext bdquoRussischer Philosophieldquo Wiesba-den 2000 bes 131ndash154 Siehe auch Naftalij Prat bdquoAleksej Losev und der Totalitarismusldquo in Leonid Luks (Hg) Das Christentum und die totalitaumlren Herausforderungen des 20 Jahrhunderts Koumlln [ua] 2002 103ndash114 bes 108f

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 21

waren (augenfaumlllig etwa in der Architektur der 1930er bis 50er Jahre)68 Anderer-seits erwies sich der orthodoxe Moumlnch damit auch als Apologet des Sowjetregi-mes bedroht die Autonomie des Individuums doch den Wesenskern einer jeden Herrschaft die das Wahrheitsmonopol fuumlr sich beansprucht

Die Ablehnung der modernen bdquokopernikanischen Weltldquo (Hans Blumen-berg) durchzieht das gesamte philosophische Werk Losevs und Florenskijs dazu gehoumlren die Ablehnung des heliozentrischen Weltbildes die Polemik gegen Kants kritischen Idealismus (die bdquokopernikanische Wendeldquo in der Philosophie) die Ab-lehnung der Zentralperspektive in der Kunst die Ablehnung des nominalistischen Rationalismus und schlieszliglich die Ablehnung der saumlkularen und demokratischen Gesellschaftsordnung zugunsten einer bdquoVerkirchlichungldquo (ocerkovlenie) aller Be-reiche der Gesellschaft und des Staates in Gestalt einer theokratischen Synarchie Florenskij der sich als einen mittelalterlichen Menschen charakterisierte69 ndash Ni-kolaj Berdjaev selbst Verkuumlnder eines religioumls-integralen bdquoNeuen Mittelaltersldquo nannte ihn einen bdquoraffinierten Reaktionaumlrldquo ndash70 war uumlberzeugt dass die bdquoentseelte Renaissance-Zivilisationldquo sich erschoumlpft habe und eine neue ganzheitlich-objekti-ve Kultur anbrechen werde71 Vorbild dieser bdquoKultur des anderen Typusldquo werde Russland sein bdquoerste Keimeldquo seien bereits zu erkennen Seine Zeit begriff Floren-skij bdquoan den Wasserscheiden des Denkensldquo und er sah seine Lebensaufgabe darin bdquoWege zu bahnen zu einer kuumlnftigen ganzheitlichen Weltanschauungldquo72

68 Losevs Renaissance-Kritik (va in Ėstetika Vozroždenija) wurde deshalb auch als ver-

schleierte Kritik am Sowjetsystem verstanden Siehe Annett Jubara bdquoAleksej Losevs Philosophie des Mythos als Kritik an der Sowjetischen Moderneldquo in Studies in East Euro-pean Thought 56 (2004) 211ndash224 Aus dem Kreis der Schuumller Losevs gingen seit den 1960er Jahren zahlreiche dissidentische russische Nationalisten hervor Nikolaj Mitrochin Russkaja partija Dviženie russkich nacionalistov v SSSR 1953ndash1985 Moskva 2003 288f Zur Kritik der Renaissance-Zivilisation siehe auch Vladimir Bibichin Novyj renessans Moskva 1998 bes 131ndash155

69 Siehe Florenskij bdquoAvtoreferatldquo Noch im Maumlrz 1933 nach seiner Verhaftung erklaumlrte Flo-renskij gegenuumlber den Ermittlungsbeamten bdquoIch Pavel Aleksandrovič Florenskij [hellip] bin dem Charakter meiner politischen Anschauungen nach ein Romantiker des Mittelalters un-gefaumlhr des 14 Jahrhundertsldquo Vitalij Šentalinskij bdquoUdel veličijaldquo in Ogonek 1990 45 23ndash27 hier 26

70 Nikolaj Berdjaev Samopoznanie (Opyt filosofskoj avtobiografii) Moskva 1991 161 Sie-he Nikolaj Berdjaev Novoe srednevekovrsquoe Berlin 1924 dt Nikolaus Berdjajew Das Neue Mittelalter Darmstadt 1927

71 Siehe Michael Hagemeister bdquoWiederverzauberung der Welt ndash Pavel Florenskijs Neues Mittelalterldquo in Norbert Franz [ua] (Hgg) Pavel Florenskij ndash Tradition und Moderne Beitraumlge zum Internationalen Symposium an der Universitaumlt Potsdam 5 bis 9 April 2000 Frankfurt aM [ua] 2001 21ndash41 Zu Florenskijs Kritik an Renaissance und Humanismus (bdquoder Humanismus entsprang der Kabbalaldquo) siehe auch Ilona Svetlikova bdquoOb ideologii sbquoobratnoj perspektivylsquo Pavla Florenskogoldquo in Russkaja intellektualʼnaja revoljucija 1910ndash1930-ch godov Moskva 2016 123ndash139 zu den Uumlbereinstimmungen mit Heidegger siehe Viktor Arslanov Postmodernizm i russkij bdquotretij putrsquoldquo tertium datur rossijskoj kulrsquotury XX veka Moskva 2007 472ndash499

72 Florenskij bdquoAvtoreferatldquo 114

22 Michael Hagemeister

In juumlngster Zeit hat das wiedererwachte Interesse an der eigenen spirituellen Tradition und ihren byzantinischen Wurzeln ndash oftmals verbunden mit dem Bestre-ben sich vom bdquosaumlkularen Westenldquo und der bdquowestlichen Moderneldquo abzugrenzen ndash zu einer Wiederbelebung des palamitischen Hesychasmus (neopalamizm) und der ndash davon zu unterscheidenden ndash bdquoNamensverehrungldquo (imjaslavie) gefuumlhrt73 Be-reits in den 1970er Jahren war John Meyendorffs klassische Studie St Greacutegoire Palamas et la mystique orthodoxe (Paris 1959) ins Russische uumlbersetzt worden und kursierte in der Sowjetunion in Samizdat-Ausgaben im Milieu religioumls-philo-sophischer Dissidenten Heute wird die Wiederbelebung des Hesychasmus auch durch den patriotischen Kult um Serafim von Sarov (Prochor Mošnin 1759ndash1833) befoumlrdert einen Wundertaumlter und Apokalyptiker der im postsowjetischen Russland zu einem der meistverehrten Heiligen avanciert ist74 In einer in viele Sprachen uumlbersetzten und millionenfach verbreiteten Schrift schildert sein Schuuml-ler Nikolaj Motovilov (1809ndash1879) die Verklaumlrung Serafims im ungeschaffenen Licht des Heiligen Geistes die sich angeblich im November 1831 auf einer einsa-men verschneiten Waldlichtung ereignet hat75

73 Dies gilt nicht nur fuumlr Russland auch auf Vertreter der angelsaumlchsischen bdquoRadical Ortho-

doxyldquo die das Projekt einer von modern-saumlkularem Denken nicht korrumpierten Theologie verfolgen uumlben Hesychasmus und russische Sophiologie starke Faszination aus Siehe die Beitraumlge in Adrian PabstChristoph Schneider (Hgg) Encounter Between Eastern Ortho-doxy and Radical Orthodoxy Transfiguring the World Through the Word Farnham 2009 Zur Wiederbelebung des imjaslavie im post-sowjetischen Russland siehe Scott M Ken-worthy bdquoDebating the Theology of the Name in Post-Soviet Russia Metropolitan Ilarion Alfeev and Sergei Khoruzhiildquo in Katya Tolstaya (Hg) Orthodox Paradoxes Hetero-geneities and Complexities in Contemporary Russian Orthodoxy LeidenBoston 2014 250ndash264 Siehe auch Loren Grahams Bericht uumlber diskrete Zusammenkuumlnfte der imjaslav-cy im Kellergeschoss der Moskauer Tatrsquojana-Kirche in den fruumlhen 2000er Jahren Loren GrahamJean-Michel Kantor Naming Infinity A True Story of Religious Mysticism and Mathematical Creativity Cambridge MassLondon 2009 1ndash5

74 Fuumlr die Anhaumlnger der Doktrin einer bdquoAtomaren Orthodoxieldquo (atomnoe pravoslavie) ist Se-rafim auch der Schutzheilige der russischen Atombombe wurde doch Sarov der Ort seines Wirkens 1946 unter dem Namen Arzamas-16 zur streng geheimen Nuklearstadt in der Wissenschaftler unter ihnen Andrej Sacharov am Bau der sowjetischen Atom- und Was-serstoffbomben arbeiteten Patriotische Russen deuten dies als Zeichen dass bdquoim Hause unseres Vaters Serafimldquo mit dessen Segen der nukleare bdquoSchild zum Schutz der Heimatldquo geschmiedet worden sei Pavel V Florenskij bdquoNeobchodimostrsquo našej atomnoj bombyldquo in Naš sovremennik 1997 4 219ndash221 Bei dem Verfasser handelt es sich um einen Enkel des beruumlhmten Philosophen Siehe auch lthttpsruwikipediaorgwiki Атомное_правосла виеgt

75 Die Schrift deren Authentizitaumlt umstritten ist wurde bekannt unter dem Titel bdquoGespraumlch uumlber das Ziel des christlichen Lebensldquo (Beseda o celi christianskoj žizni) Erstmals veroumlf-fentlicht wurde das bdquoGespraumlchldquo 1903 von Sergej Nilus (1862ndash1929) dem Herausgeber und Kommentator der Protokolle der Weisen von Zion Siehe Michael Hagemeister bdquoIl proble-ma della genesi del sbquoColloquio con Motovilovlsquoldquo in Adalberto Mainardi (Hg) San Sera-fim Da Sarov a Diveevo Atti del IV Convegno ecumenico internazionale di spiritualitagrave russa Bose 18ndash20 settembre 1996 Magnano 1998 157ndash174 Bis heute gibt es keine kriti-sche Ausgabe dieses zentralen Textes russischer Geistigkeit

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 23

Von der Wiederbelebung des Hesychasmus zeugt auch das groszligangelegte Projekt einer bdquosynergetischen Anthropologieldquo (sinergijnaja antropologija) des Mathematikers Physikers und religioumlsen Philosophen Sergej Choružij Prakti-sches Ziel das seit 2005 durch ein eigenes Institut in Moskau verfolgt wird ist die psychosomatisch-holistische Selbsttransformation des Menschen die auf unmittelbarer (mystisch-energetischer) Erfahrung bzw Einwirkung des ontolo-gisch Anderen (Goumlttlichen) beruht sowie die Uumlberwindung der Subjekt-Objekt-Trennung der modernen westlichen Philosophie die Choružij fuumlr den von ihm als krisenhaft und katastrophisch beschriebenen Zustand der westlichen Moderne verantwortlich macht Im Unterschied zu orthodoxen Fundamentalisten und Anti-Westlern sucht Choružij indes die asketischen Praktiken des Hesychasmus mit modernen und postmodernen westlichen Anthropologien (Kierkegaard Scheler Heidegger und insbesondere Foucaults technique oder practique de soi) in Bezie-hung zu setzen76

bdquoPolitischer Hesychasmusldquo

Es duumlrfte deutlich geworden sein dass Hesychasmus nicht nur eine weltabge-wandte mystisch-asketische bdquogeistige Praxisldquo bezeichnet sondern auch als Kampfbegriff gegen die saumlkulare Kultur des bdquoWestensldquo und der bdquowestlichen Mo-derneldquo dient Dies gilt vor allem fuumlr das Konzept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo (političeskij isichazm)

In den russischen Diskurs wurde dieses Konzept um die Mitte der 1960er Jahre von dem Leningrader Mediaumlvisten und Byzantinisten Gelian Prochorov ein-gefuumlhrt77 Seiner Hauptthese zufolge wurde der Hesychasmus nachdem er aus den Klosterzellen herausgetreten war und eine philosophisch-theologische

76 Siehe Sergej Choružij Očerki sinergijnoj antropologii Moskva Inst Sinergijnoj antropo-

logii Inst filosofii teologii i istorii Sv Fomy 2005 ders (Hg) Fonarrsquo Diogena Proekt sinergijnoj antropologii v sovremennom gumanitarnom kontekste Moskva 2010 ders bdquoDie mystische Verwandlung des Menschen Uumlber den Hesychasmus als Raum der Philo-sophieldquo in Fuge Journal fuumlr Religion amp Moderne 7 (2010) 72ndash99 Siehe auch die Web-site lthttpsynergia-isarugt Kristina Stoeckl bdquoA New Anthropology Sergej S Khoru-žijrsquos Search for an alternative to the Cartesian Subject in sbquoOčerki sinergijnoj antropologiilsquoldquo in Studies in East European Thought 59 (2007) 237ndash245

77 Gelian Prochorov bdquoĖtničeskaja integracija v Vostočnoj Evrope v XIV-m veke Ot isichastskich sporov do Kulikovskoj bitvyldquo in Doklady otdelenija ėtnografii 2 (196265) Leningrad 1966 81ndash110 ders bdquoIsichazm i obščestvennaja myslʼ v Vostočnoj Evrope v XIV vldquo in Literaturnye svjazi drevnich slavjan (Trudy otdela drevnerusskoj literatury 23) Leningrad 1968 86ndash108 ders bdquoKulʼturnoe svoeobrazie ėpochi kulikovskoj bitvyldquo in Kulikovskaja bitva i podldquoem nacionalrsquonogo samopoznanija (Trudy otdela drevne-russkoj literatury 34) Leningrad 1979 3ndash17 ndash Prochorov gehoumlrte bereits zu Sowjetzeiten ins Lager der (neo-)slavophilen Anti-Westler er war eng befreundet mit dem bdquoEurasierldquo und Antisemiten Lev Gumilev (1912ndash1992) und uumlbernahm von diesem das Konzept der bdquoEthnogeneseldquo

24 Michael Hagemeister

Grundlegung erfahren hatte am Ende des 14 Jahrhunderts zu einem entscheiden-den politischen und kulturellen Faktor nicht nur in Byzanz sondern in ganz Ost-europa und lieferte unter anderem das ideologische Fundament zur Konsolidie-rung der nachmongolischen Rusʼ Im Streit zwischen dem bdquorationalistischen Hu-manismus und dem kontemplativen Hesychasmus [hellip] entschied Byzanz uumlber sein geistiges Schicksal Das Land blieb bis zuletzt mittelalterlich Den Hesy-chasten gelang es zu Wortfuumlhrern der oumlffentlichen Meinung in Byzanz zu werden die letzte schoumlpferische Synthese seiner traditionellen Kultur zu entwickeln und eine breite kulturelle und gesellschaftliche Bewegung in Gang zu setzen die zu einer Erneuerung des Mittelalters und zu einer Wiederbelebung der Orthodoxie im ganzen oumlstlichen Europa fuumlhrteldquo78

Im Anschluss an das von seinem Lehrer Dmitrij Lichačev entwickelte Kon-zept einer bdquoVorrenaissanceldquo (Predvozroždenie)79 spricht Prochorov von einer bdquovorrenaissancelichen Gegenreformationldquo (predvozroždenčeskaja kontrreforma-cija) und einer bdquoOrthodoxen Renaissanceldquo (Pravoslavnoe Vozroždenie)80 Ge-meint war damit dass die Palamiten (Hesychasten) den Sieg der Barlaamiten ver-hindern konnten und auf die Schriften der antiken Kirchenvaumlter zuruumlckgreifend ein mystisch-kontemplatives Aumlquivalent zum rationalistischen und saumlkularen Hu-manismus geschaffen haumltten Auf diese Weise habe der drohende Uumlbergang der byzantinischen und osteuropaumlischen christlich gepraumlgten Kultur von der bdquoVorre-naissanceldquo zu einer auf heidnisch-antiken Wurzeln beruhenden Renaissance ab-gewendet werden koumlnnen81 Auf die bdquoVorrenaissanceldquo sei ein bdquoNeues Mittelalterldquo gefolgt das in der bdquoHeiligen Rusʼldquo um die Wende zum 15 Jahrhundert seinen Houmlhepunkt erreicht habe Ihm verdanke Russland seine Groumlszlige und die russische Kultur ihre bdquoUniversalitaumltldquo und bdquoGeistigkeitldquo82

Bemerkenswert ist dass der sowjetische Wissenschaftler die beiden ideolo-gischen Lager mit traditionellen (neo-)slavophilen Wertungsoppositionen wie sie bereits bei Florenskij und Losev begegnet sind verbindet und dabei deutlich seine 78 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 4 79 Vor allem in seinem Buch Kulʼtura Rusi vremeni Andreja Rubleva i Epifanija Premudrogo

MoskvaLeningrad 1962 80 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 8 Siehe auch ders Nekogda ne narod a nyne narod

Božijhellip Drevnjaja Rusʼ kak istoriko-kulʼturnyj fenomen Sankt-Peterburg 2010 133ndash157 81 So auch Igorʼ Ėkonomcev bdquoDie osteuropaumlische sbquoVorrenaissancelsquo ist nicht die erste Stufe

zur saumlkularisierten Renaissance vom abendlaumlndischen Typ sondern ihre Antithese Der geistige und kulturelle Aufschwung in Osteuropa war die wahre volle und eindeutige Re-naissance die sich grundlegend von der westlichen Renaissance unterschied Sie haumltte sich niemals in eine Renaissance westlicher Praumlgung verwandeln koumlnnenldquo Ėkonomcev bdquoDer Hesychasmusldquo 764 vgl ders bdquoIsichazmldquo 69 Diese (osteuropaumlische) Renaissance so Ėkonomcev an anderer Stelle sei ungleich bdquoerhabener geistiger und reinerldquo gewesen als bdquodie westeuropaumlische Renaissance mit ihrer krankhaften Disharmonie zwischen Glauben und Vernunft Geist und Leib die trotz allem gespieltem Optimismus ein Gefuumlhl der Aus-weglosigkeit und Verzweiflung hinterlaumlsstldquo Igumen Ioann Ėkonomcev bdquoVizantinizm Kirillo-Mefodievo nasledie i kreščenie Rusildquo in ders Pravoslavie Vizantija Rossija Sbornik statej Moskva 1992 7ndash22 hier 18

82 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 9 15

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 25

Sympathie zeigt Die byzantinischen Humanisten werden von ihm als kalte Ratio-nalisten dargestellt die in der Hoffnung auf militaumlrische Unterstuumltzung durch den katholischen Westen im Kampf gegen die Osmanen bereit gewesen seien den eigenen Glauben zu opfern83 Die Hesychasten hingegen haumltten so Prochorov den Westen realistischer eingeschaumltzt und auf Hilfe von Seiten der orthodoxen Staaten gehofft Im entscheidenden Moment haumltten nicht die bdquoWestler-Huma-nistenldquo (zapadniki-gumanisty) mit ihren bdquokalten Uumlberlegungenldquo (cholodnymi rassuždenijami) beim Volk Gehoumlr gefunden sondern die Hesychasten mit ihren bdquoheiszligen Gebetenldquo (gorjačimi molitvami)84

Mit seiner Apologie eines bdquowiederbelebtenldquo Mittelalters und einer bdquoOrtho-doxen Renaissanceldquo die alle Bereiche des politischen gesellschaftlichen und kul-turellen Lebens gepraumlgt habe und deren Kern der Hesychasmus gewesen sei stieszlig Prochorov bei seinen sowjetischen Kollegen auf Kritik So sah Apollon Kuzmin im Palamismus eine desintegrative Erscheinung weshalb er Prochorovs positive Bewertung der Hesychasten bei der bdquoWiedergeburtldquo der Rusʼ zuruumlckwies85 Aumlhn-lich argumentierte Gennadij Litavrin Die Palamiten seien diejenigen gewesen die eine unrealistische Einschaumltzung der politischen Lage gehabt haumltten Sie haumltten die Bedrohung durch die Tuumlrken nicht erkannt und stattdessen die Illusion verbreitet die Feinde zum Christentum bekehren und zu neuen Untertanen ma-chen zu koumlnnen Der Palamismus sei eine bdquoIdeologie der Demutldquo und habe eine bdquounheilvolle Rolle in der Geschichte des Kampfes gegen die tuumlrkische Aggres-sionldquo gespielt86 Michail Sjuzjumov sprach sogar vom bdquoasozialen Charakter des Palamismusldquo der den aufkommenden humanistischen Tendenzen gegenuumlber feindlich gewesen und zur bdquoIdeologie der Reaktionldquo in Byzanz geworden sei87 Auf Ablehnung stieszlig Prochorov auch im Ausland Valerij Lepachin kritisierte den Begriff bdquopolitischer Hesychasmusldquo als unzulaumlssige Verbindung weltlicher und geistlicher Sphaumlren damit verliere der Hesychasmus seinen wesentlichen Sinn-gehalt88 Fuumlr den in Berkeley lehrenden Philologen Viktor Živov schlieszliglich war

83 Ebd 12 84 Ebd 13 ndash An anderer Stelle betont Prochorov den Gegensatz zwischen den abstrakten

bdquoausgedachtenldquo philosophischen Konstruktionen des europaumlischen Idealismus und der ganzheitlichen kontemplativ-spekulativen Welterfahrung der griechisch-byzantinischen Philosophie Prochorov bdquoĖtničeskaja integracijaldquo 90f An Florenskijs Renaissance-Kritik (etwa in Ikonostas 1922) erinnert auch Prochorovs Verweis auf den euklidischen Raum und den Perspektivismus der humanistischen Weltwahrnehmung mit seiner Illusion der Unendlichkeit Prochorov bdquoIsichazmldquo 94

85 Apollon Kuzmin bdquoCerkovʼ i svetskaja vlastʼ v ėpochu Kulikovskoj bitvyldquo in Voprosy naučnogo ateizma 37 (1988) 90ndash99

86 Gennadij Litavrin bdquoVizantija v period graždanskoj vojny i dviženija Zilotov (1341ndash1355 gg)ldquo in Sergej Skazkin (Hg) Istorija Vizantii Bd 3 Moskva 1967 135ndash160 hier 158

87 Michail Sjuzjumov bdquoFilosofija i bogoslovieldquo in ebd 234ndash256 hier 248f 88 Valerij Lepachin bdquoUmnoe delanie (o soderžanie i granicach ponjatija sbquoisichazmlsquo)ldquo in

Vestnik Russkogo Christianskogo Dviženija 164 1992 5ndash32 hier 23

26 Michael Hagemeister

bdquopolitischer Hesychasmusldquo bdquokonzeptuelles Unkraut [sornjak] das man so schnell wie moumlglich ausrottenldquo solle89

Fast ein halbes Jahrhundert nach ihrer ersten Veroumlffentlichung wurde Pro-chorovs Konzept eines bdquopolitischen Hesychasmusldquo von seinem Schuumller Vladimir Petrunin wieder aufgegriffen und aktualisiert In der 2009 erschienenen Monogra-phie bdquoDer politische Hesychasmus und seine Traditionen in der Sozialkonzeption des Moskauer Patriarchatsldquo90 stellt Petrunin das sogenannte bdquoNichtgehorsamkeits-prinzipldquo (princip nepovinovenija) wie es in den von der Moskauer Bischofssyno-de im August 2000 verabschiedeten bdquoGrundlagen der Sozialkonzeption der Rus-sischen Orthodoxen Kircheldquo formuliert worden ist91 in eine Tradition die er bis auf die bdquopolitischen Hesychastenldquo im Byzanz des 14 und 15 Jahrhunderts zu-ruumlckzufuumlhren sucht Immer wieder zieht Petrunin Parallelen zwischen dem spaumlten Byzanz und dem postsowjetischen Russland Hatten die Byzantiner den Hesy-chasmus als Reaktion auf den Humanismus des Westens hervorgebracht so diene heute die Sozialkonzeption der Abwehr des westlichen Saumlkularismus Liberalis-mus und Kapitalismus Damals wie heute stuumlnden der kirchliche Heilsauftrag und die Verteidigung des Glaubens uumlber den Interessen des Staates selbst ndash wie das Beispiel von Byzanz zeige ndash um den Preis seines Untergangs Ebenso wie die byzantinischen Hesychasten den mit dem Westen kollaborierenden Herrschern die Gefolgschaft im Kampf gegen die Osmanen verweigert haumltten da sie die bdquoReinheit ihres Glaubensldquo eher bdquounter einem tuumlrkischen Turban als unter der lateinischen Tiaraldquo gewahrt sahen92 rufe die Sozialkonzeption die Kirche heute dazu auf der Staatsmacht den Gehorsam zu verweigern sollte diese bdquodie ortho-doxen Glaumlubigen zum Abfall von Christus und Seiner Kirche sowie zu suumlndhaften

89 Viktor Živov bdquoVidenija sveta i problemy russkogo srednevekovogo isichazmaldquo in Lidov

(Hg) Ierotopija 350ndash367 hier 363 359 90 Vladimir Petrunin Političeskij isichazm i ego tradicii v socialʼnoj koncepcii Moskovskogo

Patriarchata Sankt-Peterburg 2009 91 Osnovy socialrsquonoj koncepcii Russkoj Pravoslavnoj Cerkvi III5 lthttpwwwpatriarchia

rudbtext141422htmlgt Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo wird von den meisten Inter-preten als ein bemerkenswertes Umdenken in der Kirchenpolitik angesehen hatte doch die Russische Orthodoxe Kirche unter Patriarch Sergij in einer prekaumlren Lage 1927 Loyalitaumlt gegenuumlber dem Sowjetstaat gefordert Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo war auch eine wichtige Voraussetzung fuumlr die Vereinigung der Auslandskirche mit dem Moskauer Pa-triarchat Zur Sozialkonzeption insgesamt Vasilios N Makrides bdquoDie politische Aufgabe der Kirche Bemerkungen anhand der Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kir-cheldquo in Irene DingelChristiane Tietz (Hgg) Die politische Aufgabe von Religion Per-spektiven der drei monotheistischen Religionen Goumlttingen 2011 219ndash243

92 Petrunin Političeskij isichazm 66f 120 Es handelt sich um eine zeitgenoumlssische Losung Siehe Halina Evert-Kappesowa bdquoLa tiare ou le turbanldquo in Byzantinoslavica 14 (1953) 245ndash257 ndash Auch Aleksandr Nevskij (1220ndash1263) zog eine Verstaumlndigung mit den Mongo-len einer Union mit Rom vor die ihm Papst Innozenz IV im Jahr 1248 angeboten hatte und wandte sich stattdessen gegen die bdquoLateinerldquo Heutige Anti-Westler feiern den Heili-gen der Russischen Orthodoxen Kirche deshalb auch als bdquoersten Eurasierldquo

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 27

und der Seele abtraumlglichen Taten noumltigenldquo93 Die Sozialkonzeption hat fuumlr Petru-nin nur einen moumlglichen Sinn Falls Russlands politische Elite sich weiterhin dem liberalen Wertekanon des Westens verschreibe und Russlands bdquoEigenartldquo (samo-bytnostʼ) als bdquoorthodoxe Zivilisationldquo bestreite94 muumlsse die Kirche ndash wie einst in Byzanz ndash dem Staat die Loyalitaumlt aufkuumlndigen und das Volk zum Widerstand auf-rufen

Es ist ganz offensichtlich dass die Prozesse der Globalisierung und Saumlkularisierung eng miteinander verbunden sind So wie einst die byzantinischen Hesychasten ist heute die Russische Kirche mit der westlichen Zivilisation konfrontiert die nach der Weltherrschaft trachtet war fruumlher der Katholizismus deren Grundlage so ist es jetzt der saumlkulare Humanismus [hellip] Waumlhrend sie [die westliche Welt MH] damals fuumlr die Hesychasten mit Rom gleichgesetzt wurde so verkoumlrpert heute das kosmopolitische New York den Westen Indem sie Liberalismus und Saumlkularisie-rung abwehrt tritt die Kirche auch gegen die politischen und wirtschaftlichen Hegemoniebestrebungen des Westens auf und stellt so ihr Bestreben unter Beweis die zivilisatorische Eigenstaumlndigkeit Russlands wieder herzustellen Wie schon vor 600 Jahren im Byzantinischen Imperium so ist auch heute in Russland allein die Kirche ein ernstzunehmender und gut organisierter Gegner des Westens und seiner saumlkularen Werte [hellip] Sollte Russland weiter den Weg der Saumlkularisierung be-schreiten so koumlnnte damit fuumlr die Kirche der gefaumlhrliche Praumlzedenzfall geschaffen werden in dem sie von ihrem Recht Gebrauch machen muumlsste das Volk zu zivilem Ungehorsam aufzurufen95

In seinem Vorwort nannte Prochorov das Buch seines Schuumllers eine bdquoWarnung an unseren Staat unsere saumlkulare Gesellschaft an uns alleldquo96 Wie das spaumlte Byzanz unter dem bdquoDruck aus dem Westenldquo gestanden habe ndash dem die Herrscher und die bdquoHumanistenldquo schlieszliglich nachgegeben haumltten ndash so laufe auch das postkommu-nistische Russland Gefahr dem bdquoDruck des Liberalismus und der Globalisierungldquo nachzugeben Allein die Orthodoxe Kirche habe sich damals wie heute als bdquoFes-tungldquo erwiesen faumlhig diesem bdquozersetzenden Einflussldquo Widerstand zu leisten97

Petrunins Buch das mit dem Segen von Metropolit Ilarion (Grigorij Al-feev)98 erschienen war stieszlig bei westlichen Forschern auf Skepsis und Ableh-nung So kritisierte Kristina Stoumlckl die unhistorische Interpretation und forcierte Aktualisierung der philosophischen theologischen und politischen Kontroversen des 14 Jahrhunderts sowie die einseitige konservative Interpretation der Sozial-konzeption Hesychasmus werde in dem Kirchendokument ebenso wenig erwaumlhnt

93 Osnovy socialrsquonoj koncepcii 94 Petrunin Političeskij isichazm 81 95 Ebd 122f 96 Ebd 5 97 Ebd 98 Zu jener Zeit Bischof von Wien und Oumlsterreich heute Leiter des Auszligenamtes des Moskau-

er Patriarchats und scharfer Kritiker des bdquomilitanten Saumlkularismusldquo des Westens Siehe auch lthttpazbykaruxristianstvo-pered-vyzovom-voinstvuyushhego-sekulyariz ma-2gt

28 Michael Hagemeister

wie der Untergang von Byzanz99 Klaus Buchenau warf Petrunin vor er bdquoverfor-m[e] und ideologisier[e] die urspruumlnglichen Motive des hesychastischen Moumlnch-tums bis zur Unkenntlichkeitldquo100 Und Viktor Živov der bereits Prochorovs Kon-zept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo als bdquoUnkrautldquo bezeichnet hatte sah in Petru-nins Buch ein Beispiel dafuumlr wie dieses sich bdquospontan und schaumldlichldquo ausbreite Die von Petrunin konstruierte bdquophantastische Genealogie des politischen Hesy-chasmusldquo beruhe so Živov auf einer bdquoMischung aus Einseitigkeit und Unwissen-heitldquo Weder sei der bdquotuumlrkische Turbanldquo fuumlr den Patriarchen attraktiv gewesen noch sei am Widerstand gegen die Union irgendetwas spezifisch bdquoHesychasti-schesldquo Petrunin habe ein bdquoPhantomldquo geschaffen dessen angebliche Verbindung mit der Sozialkonzeption man nicht weiter zu verfolgen brauche101

bdquoNeobyzantismusldquo Das Dritte Rom ndash der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo

Eine eigenwillige Interpretation des Hesychasmus und seine Wendung gegen den Westen stammen von Aleksandr Dugin dem Fuumlhrer der bdquoeurasischenldquo Bewegung und einflussreichsten Vordenker der Neuen Rechten in Russland Der polyglotte und belesene Autodidakt der nie eine akademische Ausbildung genossen hat war Gruumlnder der Partei der Nationalbolschewisten Berater des Vorsitzenden der Du-ma und des Generalstabs sowie von 2008 bis 2014 Professor fuumlr Soziologie an der renommierten Moskauer Lomonosov-Universitaumlt und Direktor des dortigen bdquoZentrums fuumlr Konservatismusstudienldquo Seit Anfang der 1990er Jahre verbreitet er mit graphomanem Eifer seine politischen und bdquometaphysischenldquo Botschaften in einer inzwischen kaum noch uumlberschaubaren Zahl von Publikationen102 und Web-Artikeln in mehreren Sprachen sowie durch spektakulaumlre Auftritte in staats-nahen Medien103 99 Kristina Stoumlckl bdquoPolitical Hesychasm Vladimir Petruninrsquos Neo-Byzantine Interpretation

of the Social Doctrine of the Russian Orthodox Churchldquo in Studies in East European Thought 62 (2010) 125ndash133

100 Klaus Buchenau Auf russischen Spuren Orthodoxe Antiwestler in Serbien 1850ndash1945 Wiesbaden 2011 480 Anm 2

101 Živov bdquoVidenija svetaldquo 364f ndash Von der Kritik offenbar unbeeindruckt verschaumlrfte Petru-nin noch seine Position So sprach er 2012 in einem Vortrag uumlber die gesellschaftliche und politische Wirkung der hesychastischen Gebetspraxis Nach dem Fall von Byzanz sei das bdquoJesusgebet faktisch zu einem sbquopolitischen Gebetlsquoldquo geworden das auf die bdquoVerwandlung [preobraženie] der orthodoxen Oumlkumeneldquo ausgerichtet gewesen sei und das bdquoPhaumlnomen der Heiligen Rusrsquoldquo hervorgebracht habe lthttpsynergia-isarup=8604gt

102 Zuletzt in der bislang fuumlnf Baumlnde umfassenden Reihe bdquoNoomachijaldquo (2014ndash2015) einer hochambitioumlsen letztlich aber manichaumlisch-schematischen Beschreibung der bdquoSuche nach dem Logosldquo in den ndash von Dugin essenzialistisch aufgefassten ndash bdquoWeltkulturenldquo

103 Auch die Literatur zu Dugin ist kaum noch uumlberschaubar Siehe zB Alexander Houmlllwerth Das sakrale eurasische Imperium des Aleksandr Dugin Eine Diskursanalyse zum post-sowjetischen russischen Rechtsextremismus Stuttgart 2007 Stefan Wiederkehr Die eurasische Bewegung Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwi-schenkriegszeit und im postsowjetischen Russland Koumlln [ua] 2007 227ndash261 Anton

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 29

Dugin deutet den Hesychasmus im Rahmen des sogenannten bdquointegralen Traditionalismusldquo einer antimodernen Denkrichtung die im ersten Drittel des 20 Jahrhunderts in Frankreich und Italien entstand und in Reneacute Gueacutenon (1886ndash1951) und Julius Evola (1898ndash1974) ihre bekanntesten (und auch fuumlr Dugin wichtigsten) Vertreter hat104 Ihre Lehre besagt dass alle Religionen ungeachtet ihrer histori-schen und regionalen Auspraumlgungen in ihrem esoterischen nur dem Eingeweih-ten zugaumlnglichen Kern eine gemeinsame urspruumlngliche Wahrheit teilen und als philosophia perennis tradieren das Wissen um die Goumlttlichkeit und den Zugang zu ihr Dieses sakrale und initiatorische Wissen sei im Verlauf der westlichen Mo-derne insbesondere durch die Aufklaumlrung verlorengegangen in traditionellen Gesellschaften (China Indien islamische Welt) jedoch bewahrt geblieben105

Auch die Orthodoxie so Dugin habe im Gegensatz zu Katholizismus und Protestantismus bdquodie Treue zum esoterischen Kernldquo bewahrt naumlmlich in ihrer mystischen Unterstroumlmung dem Hesychasmus106 In der Kanonisierung des Gre-gorios Palamas durch die Ostkirche bei gleichzeitiger Verdammung des Humanis-ten Barlaam sieht Dugin das Bekenntnis zum bdquognostisch-realistischen Geist der orthodoxen Esoterikldquo Ganz im Sinn des Traditionalismus deutet er die psycho-physische Uumlbung der Hesychasten das bdquogeistige Tunldquo als Verfahren der bdquoInitia-tionldquo und das Endziel der bdquoVerklaumlrungldquo und bdquoVergoumlttlichungldquo als bdquoalchemistische Verwandlung des Leibesldquo (alchimičeskoe preobraženie tela) Dadurch wuumlrden der bdquoDualismus von Geist und Materie Leib und Seeleldquo sowie die bdquoGrenzen der Individualitaumltldquo ndash charakteristisch fuumlr den bdquorein exoterischen Mystizismusldquo des Westens ndash aufgehoben107 Die bdquoTradition der hesychastischen Esoterikldquo sei die

Shekhovtsov bdquoThe Palingenetic Thrust of Russian Neo-Eurasianism Ideas of Rebirth in Aleksandr Duginrsquos Worldviewldquo in Totalitarian Movements and Political Religions 9 (2008) 491ndash506 Mark Sedgwick bdquoOccult Dissident Culture The Case of Aleksandr Du-ginldquo in Birgit Menzel [ua] (Hgg) The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimen-sions MuumlnchenBerlin 2012 273ndash292 Schmid Technologien der Seele 210ndash220

104 Aleksandr Dugin Filosofija tradicionalizma Moskva 2002 Zum Traditionalismus siehe das Standardwerk von Mark Sedgwick Against the Modern World Traditionalism and the Secret Intellectual History of the Twentieth Century OxfordNew York 2004 zu Dugin 221ndash237 Vgl auch Christopher DL Johnson The Globalization of the Jesus Prayer Con-testing Contemplation London New York 2010 70ndash73

105 Aumlhnliche Gedanken entwickelte Pavel Florenskij bereits 19081909 in seinem Vortrag bdquoObščečelovečeskie korni idealizmaldquo in dem er die bdquoEsoterikldquo der Philosophie Platons und seiner Nachfolger in der bdquoallgemeinmenschlichenldquo mystisch-magischen Weltauffas-sung der bdquoVolksseeleldquo wurzeln laumlsst

106 Das Folgende nach Aleksandr Dugin bdquoOboženie preestestvennejšeeldquo in Milyj angel 1 1991 56ndash59

107 Das Konzept der bdquoInitiationldquo und die Unterscheidung von bdquoesoterischldquo und bdquoexoterischldquo sind zentral fuumlr die Anhaumlnger des Traditionalismus siehe Sedgwick Against the Modern World 265 ndash Als Mitglied des okkultistischen und faschistischen Južinskij-Kreises machte Dugin in Moskaus bdquomystischem Untergrundldquo in den 1980er Jahren selbst Entgrenzugser-fahrungen mit Hilfe sexualmagischer Praktiken und bewusstseinserweiternder Drogen Bei einem Teil der orthodoxen Glaumlubigen stoumlszligt seine Esoterik denn auch auf Misstrauen und

30 Michael Hagemeister

bdquoSeele der russischen Orthodoxieldquo und habe in Serafim von Sarov ihren bdquoletzten leuchtendsten Vertreterldquo gefunden

Der Hesychasmus gehoumlre zum traditionellen Erbe von Byzanz das Russ-land angetreten habe als es zum Dritten Rom und zum Zentrum der orthodoxen Welt geworden sei bdquoWir sindldquo so Dugin bdquobyzantinisch in unserer Seele unseren Wurzeln und in unserer Identitaumltldquo108

Unser stabilstes Fundament ist Byzanz [hellip] Russland ist Byzanz [hellip] Unsere For-mel lautet Der Westen ist das Boumlse Byzanz das Gute Alles Schlechte das uumlber Byzanz geschrieben wurde ist eine Luumlge Das sind lediglich Winkelzuumlge im ideolo-gischen Kampf von Seiten des Westens [hellip] Jeder Russe muss wissen Byzanz ist das reine Gute Jeder der etwas anderes behauptet ist ein Feind [hellip] Wer Byzanz kritisiert ist ein Feind des russischen Volkes Das muss unser ehernes Prinzip sein [hellip] Byzanz ist der absolute Orientierungspunkt des russischen Projekts109

Damit sind Russlands Ort und Mission in der bdquohistoriosophischenldquo Deutung des Weltgeschehens bestimmt Nach Dugin wird die Geschichte der Menschheit be-herrscht vom bdquookkulten planetarischen Ringenldquo zweier antagonistischer Maumlchte dem bdquogroszligen Krieg der Kontinenteldquo Land gegen Meer Behemoth gegen Levia-than die organischen bodenstaumlndigen und traditionalistischen bdquoTellurokratienldquo des eurasischen Ostens gegen die wurzel- und seelenlosen materialistischen bdquoTha-lassokratienldquo des angloamerikanischen Westens das apokalyptische Tier aus dem Meer (Offb 13 1-10)110 Die USA als bdquoQuintessenz des Westensldquo und New York als moderne Hure Babylon (Offb 17 und 18) sind das Reich des Antichrist eine chimaumlrisch-antiorganische transplantierte Zivilisation die keine sakrale Tradi-tion besitze ihre Selbsterhebung zu bdquoGottes neuem Israelldquo und bdquoNeuem Zionldquo ndash gemaumlszlig der anglo-amerikanischen Interpretation der Substitutionslehre ndash deutet Dugin als besonders perfiden Taumluschungsversuch des bdquowestlichen Antichristldquo Das Jahr der Entdeckung Amerikas (1492 ist nach der altrussisch-byzantinischen

offene Ablehnung Fuumlr den Sektenexperten des Moskauer Patriarchats ist Dugin ein bdquoge-faumlhrlicher Feindldquo der die bdquoOrthodoxie in Kabbalistik umzuschmelzenldquo versuche Andrej Kuraev Cerkovrsquo v mire ljudej Moskva 2006 142

108 Aleksandr Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Tradition Duginrsquos Guidelineldquo lthttpswwwyoutubecomwatchv=m0RIa61eZDggt

109 Aleksandr Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo in ders Russkaja Veščrsquo Očerki nacionalrsquonoj filosofii Bd 1 Moskva 2001 69ndash76 hier 70ndash72 (Hervorhebungen im Original) Der Be-griff bdquoByzantismusldquo (vizantizm) ndash im Unterschied zum negativ konnotierten bdquoByzantinis-musldquo ndash als Bezeichnung eines dem europaumlischen entgegengesetzten Kulturtypus der auf den Prinzipien von Orthodoxie und Selbstherrschaft beruht geht auf den konservativen Philosophen Konstantin Leontrsquoev (1831ndash1891) und sein Buch Vizantizm i slavjanstvo (1875) zuruumlck

110 Auch fuumlr den von Dugin verehrten Heidegger waren die Seemaumlchte Groszligbritannien und Amerika nicht Teil der abendlaumlndischen Tradition sondern im Gegensatz zum restlichen Europa wurzellos und sinnleer Der Antagonismus von Land und Meer die kategorische Unterscheidung von Freund und Feind sowie das Konzept des Katechon gehen auf Carl Schmitt zuruumlck als dessen Schuumller Dugin sich bezeichnet Siehe auch Fn 41

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 31

Weltaumlra das Jahr 7000 nach dem chiliadischen Weltwochenschema also der sieb-te Tag der Schoumlpfung) verweise ebenso auf den Endzeitcharakter der bdquoNeuen Weltldquo wie die bdquosakrale Geographieldquo nach der das Paradies im Osten die Houmllle aber das bdquoLand des Todesldquo im Westen zu suchen seien111

Dem Antichrist entgegen stehe seit jeher der Katechon dessen bdquoletzter Hortldquo bis ans Ende der Zeit die Heilige Rusrsquo das Dritte Rom sei112 In der petrini-schen Epoche als die Hauptstadt in die bdquonoumlrdlichen Suumlmpfeldquo in die bdquoGespenster-stadtldquo Petersburg verlegt und das Patriarchat abgeschafft wurde haumltten allein die Altglaumlubigen den Geist von Byzanz den Katechon bewahrt zweihundert Jahre lang sei der Weg frei gewesen fuumlr das zerstoumlrerische Wirken des Antichrist Erst die sowjetische Periode habe eine bdquomystische Ruumlckkehr zum Byzantismusldquo be-deutet indem die Bolschewiki das heilige Moskau wieder zur Hauptstadt erklaumlr-ten das Patriarchat wiederherstellten die Ausbeuter als Klasse vernichteten und dem Westen auf allen Gebieten Widerstand boten Im bdquoroten Byzantismusldquo der Dritten Internationale sei der Katechon zuruumlckgekehrt113

Um seine Mission zur Erloumlsung der Menschheit auch kuumlnftig zu erfuumlllen muumlsse das Dritte Rom nach dem Zerfall der Sowjetunion114 nunmehr ein groszligkon-tinentales sakral fundiertes bdquoEurasisches Imperiumldquo errichten gegen den Erz-feind die materialistische universalistische alles nivellierende Zivilisation des Westens als der Verkoumlrperung des bdquoweltweiten Boumlsenldquo (mirovoe zlo) gegen Libe-ralismus Individualismus Globalismus Egalitarismus sowie die bdquomondialisti-scheldquo Konzeption der Menschenrechte115 Verbuumlndete im bevorstehenden apoka-lyptischen bdquoEndkampfldquo (von Dugin stets deutsch geschrieben) werden all jene sein die den Bezug zum bdquoSakralenldquo noch nicht verloren haben russische Altglaumlu-bige ultraorthodoxe antizionistische Juden europaumlische Traditionalisten sowie jene bdquoanti-atlantischenldquo islamistischen Fundamentalisten die in den USA den Dajjacircl den falschen Messias und Antichrist erkennen gegen den die Retter-gestalt des Mahdicirc zu Felde ziehen wird116 111 Aleksandr Dugin Absoljutnaja Rodina Puti Absoljuta Metafizika Blagoj Vesti Misterii

Evrazii Moskva 1999 645ndash670 112 Ebd 378ndash395 493ndash521 113 Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo 74ndash76 Siehe auch ders bdquoKatechon i revoljucijaldquo in ders

Tampliery proletariata Nacional-bolrsquoševizm i iniciacija Moskva 1997 52ndash59 ndash Die mes-sianische Identifizierung des Dritten Rom mit der Dritten Internationale reicht bis ins Gruumlndungsjahr der Komintern (1919) zuruumlck Beide so der slawophile Philosoph und An-haumlnger des imjaslavie Valerian Muravrsquoev (1885ndash1930) in einem Brief vom 6 Januar 1920 an Lev Trockij seien Ausdruck der Suche des russischen Volkes und der Intelligencija nach einem Reich der Wahrheit und Gerechtigkeit Valerian Muravrsquoev Sočinenija Bd 2 Moskva 2011 352f Weitere Belege bei Emanuel Sarkisyanz Russland und der Messianis-mus des Orients Tuumlbingen 1955 196 Mikhail Agursky Third Rome National Bolshevism in the USSR Boulder Co 1987

114 Damals sah ein Journalist bdquoauf den Ruinen des Imperiumsldquo das Dritte Rom in Gefahr zu einem Land der Dritten Welt zu werden Andrej Fadin bdquoTretij Rim v tretrsquoem mire Razmy-šlenija na ruinach imperiildquo in Nezavisimaja gazeta 1291991

115 [Aleksandr Dugin] bdquoLibo-my libo-ničtoldquo in Ėlementy 8 19961997 1ndash4 hier 2 116 [Aleksandr Dugin] bdquoIdeologija Mirovogo Pravitelrsquostvaldquo in Ėlementy 2 1992 1f

32 Michael Hagemeister

Das Dritte Rom als Zentrum des eurasischen bdquoEuro-Sowjetischen Imperiumsldquo Titelbild der von Aleksandr Dugin herausgegebenen Zeitschrift bdquoElemente Eurasische Rundschauldquo (1992) Dugins Werk mit seiner provokanten Mischung esoterischer antimoderner und antiwestlicher Motive findet besonders unter jungen Intellektuellen Anklang und Nachahmer so etwa bei dem promovierten Philosophen und selbstproklamierten bdquoorthodoxen Metaphysikerldquo Arkadij Maler einem vehementen Propagandisten einer bdquopolitischen Orthodoxieldquo (političeskoe Pravoslavie) und fuumlhrenden Ideolo-gen der bdquoneobyzantinischenldquo Doktrin Obwohl sich Maler von Dugin distan-ziert117 beschwoumlrt auch er die eschatologische bdquogeistige Mission des Dritten Romldquo die es von Byzanz geerbt habe und die in seiner bdquozentralen katechontischen Rolleldquo bestehe dem Kampf gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo des bdquogottlosen Wes-tensldquo118 Russische Politik koumlnne deshalb nicht anders als imperial sein und muumlsse ihren Einfluss auf den gesamten Planeten ausdehnen Wie Dugin sieht auch Maler die Bolschewiki in dieser Tradition als sie Moskau zur Hauptstadt des bdquoRoten

117 In den spaumlten 1990er Jahren gehoumlrte Maler der vaumlterlicherseits juumldischer Abstammung ist

zusammen mit Dugin und Ėduard Limonov zur Fuumlhrungsriege der Nationalbolschewisti-schen Partei und schrieb fuumlr die Parteizeitung Limonka sich selbst charakterisierte er als bdquorotbraunen Zionistenldquo Nach seiner Konversion zur Orthodoxie trennte er sich 1999 von Dugin und kritisierte dessen esoterischen Traditionalismus aus einer ultraorthodoxen Posi-tion Dugin wiederum warf Maler vor ihn zu plagiieren

118 Arkadij Maler Duchovnaja missija Tretrsquoego Rima Moskva 2005 bes 134ndash136 170ndash206 Siehe auch ders bdquoIdeologija Vizantizmaldquo in Severnij Katechon 1 (2005) 7ndash49 bdquoNeovi-zantizm kak novyj bolrsquošoj stilrsquoldquo in Aleksej Nilogov (Hg) Kto segodnja delaet filosofiju v Rossii Moskva 2007 110ndash124

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 33

Imperiumsldquo machten und dieses zur bdquoabsoluten Antithese des Westensldquo erklaumlrten zum bdquoTraumlger der planetarischen Mission der Befreiung der Welt aus den sbquoFesseln des Kapitalslsquoldquo119 Das Dritte Rom sei zeitweise in die Dritte Internationale trans-formiert worden ohne jedoch seine Mission als Katechon als aufhaltende Macht gegen das Reich des Boumlsen und Ausgangspunkt zur Errettung der Welt aufzuge-ben Die bdquoletzte Etappeldquo im Kampf gegen den Antichrist werde so Maler der bdquoeschatologische Krieg des Dritten Rom gegen das Dritte Karthagoldquo den bdquoAnti-katechonldquo sein die bdquoanglo-amerikanische [] atlantische Zivilisationldquo120 Zur Propagierung der katechontischen Mission Russlands gruumlndete Maler 1999 am Institut fuumlr Philosophie der Akademie der Wissenschaften in Moskau einen bdquoBy-zantistischen Klub Katechonldquo (Vizantistskij Klub Katechon) und 2005 das bdquoPhi-losophisch-politische Zentrum sbquoNoumlrdlicher Katechonlsquoldquo das einen gleichnamigen Almanach (Severnyj Katechon) herausgibt121

Apokalyptischer Ausblick

Die Formel vom Dritten Rom und die Figur des Katechon des Aufhalters des bdquoweltweiten Boumlsenldquo sind zu Markenzeichen russischer Anti-Westler und Ver-schwoumlrungstheoretiker und ihres schrillen Szenariums eines globalen apokalyp-tischen bdquoEndkampfesldquo gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo geworden122 Unter dem Titel bdquoDie russische Doktrin Die Staatsideologie der Epoche Putinsldquo verfasste in den Jahren 2005 und 2006 ein Kollektiv nationalpatriotischer Autoren ndash unter ih-nen der bdquoByzantistldquo Arkadij Maler ndash ein uumlber 1000 Seiten langes ultrakonservati-ves und antiwestliches Manifest das auch die Unterstuumltzung hoher kirchlicher Wuumlrdentraumlger fand123 In ihrem Entwurf einer bdquoorganischen weltanschaulichen Plattformldquo fuumlr das kuumlnftige Russland behandeln die Autoren ausfuumlhrlich die bdquohis-toriosophischeldquo Konzeption vom Dritten Rom und seine Mission als Katechon gegen das bdquoHeidentumldquo des Westens124 Gefordert wird die positive Identifikation

119 Maler Duchovnaja missija 182f 185 120 Ebd 177 ndash Als Mittel im ideologischen Kampf gegen den saumlkularen Westen fordert Maler

in Analogie zur katholischen Gegenreformation eine orthodoxe konservative bdquoGegenauf-klaumlrungldquo (Kontrprosveščenie) lthttpwwwkatehonruhtmltoppolitologiaideaotkritije _polit_pravoslavijahtmgt

121 Siehe die Website lthttpwwwkatehonrugt 122 Siehe zB Galina A Morozova Tretij Rim protiv novogo mirovogo porjadka Moskva

2009 Die Formel von Dritten Rom hat laumlngst auch Schriftsteller und Maler inspiriert und scheint auch werbewirksam zu sein bdquoDrittes Romldquo nennt sich ein Verlag ein Videospiel eine Bank ein Reisebuumlro und sogar ein Kasino in Jalta Ein Schoumlnheitswettbewerb in Mos-kau vergibt alljaumlhrlich den Titel einer bdquoMiss Drittes Romldquo Judith E Kalb Russiarsquos Rome Imperial Visions Messianic Dreams 1890ndash1940 Madison Wisconsin 2008 198f Zum Katechon siehe Maria Engstroumlm bdquoContemporary Russian Messianism and New Russian Foreign Policyldquo in Contemporary Security Policy 35 (2014) 3 356ndash379

123 Russkaja doktrina Gosudarstvennaja ideologija ėpochi Putina Moskva 2016 124 Ebd 68ndash72 116ndash120 und passim

34 Michael Hagemeister

mit der Geschichte Russlands und seinen Lichtgestalten dem Heiligen Serafim von Sarov dem bdquoeschatologischen Fuumlhrer des russischen Volkes am Ende der Zeitenldquo der bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo und Stalin der dem paulinischen Kate-chon gleich die bdquoGesetzlosigkeitldquo (bezzakonie) bekaumlmpft und das bdquoFundament fuumlr eine groszlige Zukunftldquo gelegt habe125

bdquoKatechonldquo nennt sich auch ein prominent besetzter Think tank den der Oligarch und Berater Putins Konstantin Malofeev im Jahr 2015 gegruumlndet hat126 Der Milliardaumlr der sein Vermoumlgen mit einer Investmentfirma auf den Cayman Inseln gemacht hat bezeichnet sich selbst als bdquoorthodoxen Monarchistenldquo127 Er unterstuumltzt die Separatisten in der Ostukraine und unterhaumllt vielfaumlltige Verbindun-gen zu europaumlischen Rechtspopulisten wie dem Front National der FPOuml Syriza und der Lega Nord Neben dem Forum bdquoKatechonldquo betreibt Malofeev auch einen Fernsehsender mit dem programmatischen Namen bdquoZargradldquo128 (Motto bdquoDas Licht Christi erleuchtet alleldquo) dessen Chefkommentator niemand anderes ist als Aleksandr Dugin129

bdquoKatechonldquo und bdquoZargradldquo propagieren den Kampf gegen die westliche Moderne mit Bezug auf das byzantinische Erbe Russlands Im November 2014 fand in der Moskauer Manege eine Konferenz bdquoMoskau ndash das Dritte Romldquo statt130 An ihr nahmen auszliger Dugin und Malofeev auch Archimandrit Tichon und Nata-lrsquoja Naročnickaja teil eine hochrangige Diplomatin Mitglied des Izborsker Klubs und Leiterin des Pariser bdquoInstituts fuumlr Demokratie und Kooperationldquo das die oumlf-fentliche Meinung im Westen im Sinne des Kremls beeinflussen soll Tichons Film bdquoDie Lehre von Byzanzldquo sei so Naročnickaja auch eine Warnung an den Westen der seine christlichen Werte verraten habe weshalb er den glaubens-festen Migranten und ihrer Verachtung hilflos ausgeliefert sei131

Im Oktober 2009 wurde Tichons Film in Athen vor ausverkauftem Saal aufgefuumlhrt Unter denen die dem Drehbuchautor Beifall spendeten war der Philo-soph und Theologe Christos Yannaras einer der Hauptvertreter der Neoorthodo-xie und scharfer Kritiker des Westens Wie ihre russischen Gesinnungsgenossen

125 Ebd 130f 153 142ndash145 126 Mit einem Auftritt im Internet in 9 Sprachen Siehe die deutsche Version unter lthttp

katehoncomdewer-sind-wirgt 127 lthttpsdewikipediaorgwikiKonstantin_Walerjewitsch_Malofejewgt 128 Carrsquograd ist der altrussische Name fuumlr Konstantinopel 129 Auch Dugin unterhaumllt seit mehr als 25 Jahren Kontakte zu ultrakonservativen traditiona-

listischen und faschistischen Gesinnungsgenossen in Westeuropa Siehe Vladimir Ivanov Alexander Dugin und die rechtsextremen Netzwerke Fakten und Hypothesen zu den inter-nationalen Verflechtungen der russischen Neuen Rechten Stuttgart 2007

130 lthttpwwwpravoslavieru75070htmlgt 131 lthttpwwwpravoslavieru7414htmlgt ndash Fuumlr Metropolit Ilarion (Alfeev) der sich dabei

auf Dugin beruft verwandeln sich die Laumlnder Westeuropas bereits in die bdquoSphaumlre des Anti-christldquo lthttpwwwpatriarchiarudbtext3065216htmlgt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 35

verherrlichen auch die griechischen Neoorthodoxen die byzantinische Vergan-genheit und sehen in der modernen saumlkularen Gesellschaft eine Bedrohung ihrer kulturellen Identitaumlt132 Gemeinsam suchen sie der Globalisierung mit einer bdquoby-zantinischen Internationaleldquo als bdquoorthodoxer Oumlkumeneldquo entgegenzuwirken einer letztlich sakral verstandenen Gemeinschaft deren Einfluss indes weit uumlber die kirchliche Sphaumlre hinausreichen und eine transnationale Vereinigung der ortho-doxen Welt von Serbien uumlber Syrien bis Georgien und Armenien unter Fuumlhrung Moskaus schaffen soll133 Als wichtiger symbolischer Schritt auf diesem Weg wurde der Besuch von Praumlsident Putin und Patriarch Kirill des Heiligen Berges Athos einer traditionellen Hochburg antiwestlicher Opposition im Mai 2016 ge-feiert Das weltliche und das geistliche Oberhaupt Russlands ndash die bdquoSymphonia der Maumlchteldquo ndash zeigten damit so Aleksandr Dugin ihr Bekenntnis zu Byzanz und seiner Rolle als Katechon Damit anerkenne bdquounsere Rusrsquo ihre historische Bestim-mung Wir sind bereit fuumlr die Endzeitldquo134

132 Ausfuumlhrlich dazu Daniel P Payne The Revival of Political Hesychasm in Contemporary

Orthodox Thought The Political Hesychasm of John Romanides and Christos Yannaras Lanham [ua] 2011 Siehe auch Vasilios N Makrides bdquoByzantium in Contemporary Greece The Neo-Orthodox Current of Ideasldquo in David RicksPaul Magdalino (Hgg) Byzantium and the Modern Greek Identity Aldershot 1998 141ndash153 Zum griechischen Neobyzantismus unter russischem Einfluss Aleksey Kamenskikh bdquoThe Image of the Second Rome through the Prism of the Thirdrdquo in Teresa Obolevich [ua] (Hgg) Russian Thought in Europe Reception Polemics Development Krakoacutew 2013 13ndash22 ndash Antimo-derne und antiwestliche Stroumlmungen in den vom orthodoxen Christentum gepraumlgten Kultu-ren haben der Religionswissenschaftler Makrides und der Slavist Uffelmann vor einigen Jahren als Desiderat der Forschung benannt Vasilios N MakridesDirk Uffelmann bdquoStudying Eastern Orthodox Anti-Westernism The Need for a Comparative Research Agendaldquo in Jonathan SuttonWil van den Bercken (Hgg) Orthodox Christianity and Contemporary Europe Leuven [ua] 2003 87ndash120 Seitdem haben Makrides und die Politikwissenschaftlerin Stoumlckl eine Reihe einschlaumlgiger Arbeiten vorgelegt in denen or-thodoxe Alternativen zu westlichen philosophischen und politischen Konzepten untersucht werden Vasilios N Makrides bdquoOrthodoxes Cristentum und Moderne ndash Inkompatibilitaumlt oder langfristige Anpassungldquo in Una Sancta 2011 1 15ndash30 ders bdquoOumlstliches orthodo-xes Christentum und Saumlkularitaumlt Ein Vergleich mit dem lateinischen Christentumldquo in Transit 47 (2015) 59ndash75 Kristina Stoumlckl bdquoModernity and its Critique in Twentieth Cen-tury Russian Orthodox Thoughtldquo in Studies in East European Thought 58 (2006) 243ndash269 dies Community after Totalitarianism The Russian Orthodox Intellectual Tradition and the Philosophical Discourse of Political Modernity Frankfurt aM [ua] 2008

133 Dazu gehoumlrt auch die Verwirklichung des jahrhundertealten Traums der Wiedererrichtung des Kreuzes auf der Hagia Sophia Siehe Egor Cholmogorov Russkij proekt restavracija buduščego Moskva 2005 283 Der Verfasser Mitglied des Expertenteams des Izborsker Klubs ist Begruumlnder der Doktrin der bdquoAtomaren Orthodoxieldquo siehe Fn 74

134 Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Traditionldquo

ZUM AUTOR

Michael Hagemeister geb 1951 in EllwangenJagst Studium der Slavistik Ge-schichte Germanistik und Philosophie in Basel und MarburgLahn Promotion mit einer Arbeit uumlber den russischen Philosophen Nikolaj Fedorov Wissenschaft-licher Mitarbeiter am Slawischen Seminar in Marburg Gastprofessor am Seminar fuumlr Komparatistik der Universitaumlt Innsbruck Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lotman-Institut fuumlr russische und sowjetische Kultur der Ruhr-Universitaumlt Bo-chum am Lehrstuhl fuumlr Geschichte Osteuropas der Europa-Universitaumlt Viadrina Frankfurt (Oder) an den Historischen Seminaren der Universitaumlten Basel Duumlssel-dorf und Bochum Vertretung der Professuren fuumlr Geschichte Osteuropas an der Ludwig-Maximilians Universitaumlt Muumlnchen und an der Europa-Universitaumlt Frank-furt (Oder)

Forschungen zur russischen Philosophie und Geistesgeschichte zum utopischen und apokalyptischen Denken in Russland zum russischen Rechtsextremismus und Antisemitismus sowie insbesondere zu den Protokollen der Weisen von Zion und ihrem Herausgeber Sergej Nilus Publikationen ua Die Neue Menschheit Biopolitische Utopien in Russland (hg mit Boris Groys) Frankfurt aM 2005 The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimensions (hg mit Birgit Menzel und Bernice Rosenthal) Muumlnchen 2012 Die Fiktion von der juumldischen Weltver-schwoumlrung Zu Text und Kontext der bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo (hg mit Eva Horn) Goumlttingen 2012 Die bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo vor Gericht Der Berner Prozess und die bdquoantisemitische Internationaleldquo in der Zwischen-kriegszeit Chronik Dokumente und Kommentare Zuumlrich (im Druck)

ERFURTER VORTRAumlGE ZUR KULTURGESCHICHTE DES ORTHODOXEN CHRISTENTUMS Reihenherausgeber Vasilios N Makrides

Heft 1 Thomas Bremer Konfrontation statt Oumlkumene Zur kirchlichen Situation in der Ukraine Erfurt 2001

Heft 2 Gerhard Podskalsky Zur Hermeneutik des theologischen Ost-West-

Gespraumlchs in historischer Perspektive Erfurt 2002 Heft 3 Karl Christian Felmy Warum und zu welchem Behufe treiben wir

Ostkirchenkunde Erfurt 2003 Heft 4 Wassilios Klein bdquoTatarenjoch ndash татарское игоldquo Beobachtungen zur

Wahrnehmung des Islam im eurasischen Raum Erfurt 2005 Heft 5 Stamatios D Gerogiorgakis Zeitphilosophie im Mittelalter Byzantinische

und lateinische Vorstellungen Erfurt 2006 Heft 6 Heinz Ohme Das Oumlkumenische Patriarchat von Konstantinopel und die

tuumlrkische Religionspolitik Erfurt 2007 Heft 7 Alexander Agadjanian Russian Orthodox Vision of Human Rights Recent

Documents and Their Significance Erfurt 2008 Heft 8 Christos Yannaras Wem gehoumlrt die griechische Antike Erfurt 2009 Heft 9 Joachim Willems Religions- und Ethikunterricht in Russland ndash Was

wollen Staat und Kirche Zur Einfuumlhrung des neuen Schulfaches bdquoGrundlagen der religioumlsen Kulturen und der weltlichen Ethikldquo Erfurt 2010

Heft 10 Chris Hann Eastern Christianity and Western Social Theory Erfurt 2011 Heft 11 Jennifer Wasmuth Akademische Theologie im zaristischen Russland in

ihrer Bedeutung fuumlr die neuere orthodoxe Theologie Erfurt 2012 Heft 12 Anna Briskina-Muumlller Auf der Suche nach der bdquoHesychialdquo Paisij

Veličkovskij (1722ndash1794) und sein Leben fuumlr die bdquoPhilokalieldquo Erfurt 2014

Heft 13 Vladimir Cvetković From ldquoMerciful Angelrdquo to ldquoFortress Europerdquo The

Perception of Europe and the West in Contemporary Serbian Orthodoxy Erfurt 2015

Heft 14 Stefan G Reichelt Lebenslinien Nikolaj A Berdjaev (1874ndash1948) und Sergij N Bulgakov (1871ndash1944) im Westen ndash Eine Wuumlrdigung Erfurt 2015

Heft 15 Michael Hagemeister Der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo ndash bdquoNeobyzantismusldquo

und bdquopolitischer Hesychasmusldquo im postsowjetischen Russland Erfurt 2016

Alle Hefte der vorliegenden Schriftenreihe koumlnnen unter folgendem Link kostenlos heruntergeladen werden URL httpswwwuni-erfurtdereligionswissenschaftprofessur-orthodoxes-christentumveroeffentlichungenerfurter-vortraege-zur-kulturgeschichte-des-orthodoxen-christentums

Page 16: Michael Hagemeister FINAL - uni-erfurt.de · doziert Tichon, während er das antike Kons tantinopel computeranimiert auferste- hen lässt. Das prosperierende Impe rium erregte freilich

16 Michael Hagemeister

bdquoVerratldquo an seinem Herrscher Wie Jesus sich dem Willen des goumlttlichen Vaters unterworfen hat und auf Golgatha fuumlr die Suumlnden der Welt gestorben ist so habe der Zar in Ekaterinburg (dem bdquorussischen Golgathaldquo) sein Leben als bdquoSuumlhneopferldquo dargebracht fuumlr die Suumlnden ganz Russlands46 Erst wenn das russische Volk sein Land von den Idolen und Symbolen der Gottlosigkeit reinige den Ideen der De-mokratie und politischen Gleichheit abschwoumlre seine kollektive Schuld bereue und Buszlige tue fuumlr das bdquoschrecklichste und unheilvollste Verbrechen des 20 Jahr-hundertsldquo werde der Zar zuruumlckkehren und Russland seine einstige Groumlszlige wie-dererlangen47

Einer der vehementesten und einflussreichsten Propagandisten der Selbst-charismatisierung Russlands war in den Jahren nach dem Ende der Sowjetunion Metropolit Ioann (Ivan Snyčev 1927ndash1995) von St Petersburg und Ladoga Mit-glied des Heiligen Synods und dritthoumlchster Kirchenhierarch des Landes In einer Vielzahl von Buumlchern Aufsaumltzen und Interviews beschwor Ioann die universale Mission des Dritten Rom als des bdquoletzten Hortes des wahren Glaubensldquo im Kampf gegen den Antichrist und seine Verbuumlndeten das bdquoVolk der Gesetzlosigkeitldquo48 Zu den apokalyptischen Feinden Christi zaumlhlte er die bdquoglobalen Maumlchte hinter den Kulissenldquo (mirovaja zakulisa) das internationale Freimaurertum die bdquotransnatio-nale Finanzoligarchieldquo die Anhaumlnger des Zionismus und Marxismus sowie Israel die USA und deren westeuropaumlische Satelliten49 Wiedergeboren im Geist der Or-thodoxie sei das Dritte Rom der irdische Sockel auf dem der Thron Gottes ruhen werde ndash ihm entgegen stehe der Dritte Tempel der Thron des Antichrist50

Hesychasmus als Kulturscheide ndash Kritik der Renaissance

Als entscheidende Waffe in dieser heilsgeschichtlichen Auseinandersetzung wird in juumlngster Zeit von antiwestlichen Intellektuellen und Kirchenkreisen der soge-nannte Hesychasmus in Stellung gebracht Urspruumlnglich handelt es sich dabei um

46 Das Schicksal des letzten Zaren wurde in der antibolschewistisch-antisemitischen Polemik

schon fruumlh mit der Passion Christi verglichen oder gleichgesetzt Eindrucksvolle Beispiele aus juumlngerer Zeit bieten die patriotischen Lieder der prominenten Saumlngerin Žanna Bičev-skaja oder die Filme Iskupitelrsquonaja žertva (1992) und Russkaja Golgofa (2000) Siehe auch Papkova The Orthodox Church 63f 222

47 Marija Achmetova Konec sveta v odnoj otdelrsquono vzjatoj strane Religioznye soobščestva postsovetskoj Rossii i ich ėschatologičeskij mif Moskva 2010 245ndash260

48 Vgl Rossman Russian Intellectual Antisemitism 221ndash225 Hagemeister bdquoDas Dritte Romldquo 476

49 Metropolit Ioann (Snyčev) bdquoToržestvo pravoslavijaldquo in ders Bitva za Rossiju Sankt-Peterburg 1993 28ndash35 In seinem Bestreben Russland als Opfer jahrhundertealter Ver-schwoumlrungen finsterer antichristlicher Maumlchte darzustellen griff Ioann immer wieder auch auf die Protokolle der Weisen von Zion zuruumlck

50 Metropolit Ioann (Snyčev) Samoderžavie ducha Očerki russkogo samosoznanija Sankt-Peterburg 1994 7

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 17

eine individuelle psychosomatische Gebets- und Meditationstechnik des byzanti-nischen und slavischen Moumlnchtums deren Anfaumlnge bis auf die Wuumlstenvaumlter zu-ruumlckreichen Durch die unablaumlssige konzentrierte Wiederholung des sogenannten bdquoJesusgebetsldquo ndash der Anrufung des rettenden Namens Jesu Christi ndash im Rhythmus des Herzschlags (deshalb auch bdquoHerzensgebetldquo) eine Uumlbung die als bdquogeistiges Tunldquo (πρᾶξις νοερά russ umnoe delanie) bezeichnet wird kann der Asket der die innere Ruhe (ἡσυχία) und Leidenschaftslosigkeit (ἀπάθεια) erreicht hat zur ekstatischen Schau (θεωρία) der Herrlichkeit Gottes in Lichtvisionen gelangen51

Die mit dem bdquoJesusgebetldquo verbundenen mystischen Erfahrungen fuumlhrten im 14 Jahrhundert zu einer hochspekulativen theologischen Deutung und Systemati-sierung durch den Athosmoumlnch (spaumlter Erzbischof von Thessalonike) Gregorios Palamas (129697minus1359) und seine Anhaumlnger im sogenannten bdquoHesychasmus-streitldquo Dabei ging es ndash stark vereinfacht ndash um die Frage inwiefern bestimmte sinnliche Erfahrungen beim Gebet wie das Schauen von Licht aber auch die Empfindung von Waumlrme und Wohlgeruch als Begegnung mit der Realitaumlt Gottes aufzufassen seien (und nicht als Pseudovisionen also als Einbildungen oder gar Inspirationen daumlmonischer Maumlchte) Dahinter steht das alte theologische Problem der Erkennbarkeit oder sinnlichen Erfahrbarkeit Gottes der Kommunikation zwi-schen Immanenz und Transzendenz aber auch der Gefahr der Verfuumlgung uumlber das Goumlttliche (extrem im Gotteszwang durch Beschwoumlrung)

Palamas loumlst die Frage indem er in Anlehnung an neuplatonische Vorstel-lungen das unzugaumlngliche ewige bdquoWesenldquo (οὐσία) Gottes von seiner in der ge-schaffenen Welt d h in Raum und Zeit mitteilbaren ungeschaffenen bdquoWirkkraftldquo oder bdquoEnergieldquo (ἐνέργεια) unterscheidet nicht aber trennt52 Diese Energien bdquodie der dreieinige Gott ausstrahlt und die zu seinem Wesen gehoumlren wie die Strahlen zur Sonne oder das Kraftfeld zum Magnetenldquo53 kann der Asket der den Stufen-prozess von bdquoReinigungldquo (κάθαρσις) bdquoErleuchtungldquo (φωτισμός) und bdquoVergoumlttli-chungldquo (θέωσις) durchlaumluft durch die Gnade Gottes sinnlich erfahren Als houmlch-stes mystisches Erlebnis im Zusammenwirken (συνεργία) aller menschlichen En-ergien mit der goumlttlichen Energie gilt die Schau des ungeschaffenen Lichtes wie sie den Juumlngern Jesu bei dessen Verklaumlrung auf dem Berg Tabor (μεταμόρφωσις

51 Ich folge hier zum Teil meinen Ausfuumlhrungen in Michael Hagemeister bdquoImjaslavie ndash imja-

dejstvie Namensmystik und Namensmagie in Russland (1900ndash1930)ldquo in Tatjana Petzer [ua] (Hgg) Namen Benennung ndash Verehrung ndash Wirkung Positionen der europaumlischen Moderne Berlin 2009 77ndash98 hier 79ndash81 88ndash90 Zum Hesychasmus liegt eine umfangrei-che Literatur vor Das Nachschlagewerk von Sergej Choružij (Hg) Isichazm annotiro-vannaja bibliografija Moskva 2004 umfasst mehr als 10000 Titel in 20 Sprachen

52 Die Unterscheidung von Gottes unerkennbarem Wesen und seinen wahrnehmbaren Wirk-kraumlften reicht bis auf Philon von Alexandria (gest ca 40 n Chr) zuruumlck Siehe Fairy v Lilienfeld bdquoHesychasmusldquo in Theologische Realenzyklopaumldie Bd 15 BerlinNew York 1986 282ndash289 ndash bdquoEnergieldquo ist Synonym fuumlr jeden bdquoAustrittldquo Gottes aus seinem Wesen Die bdquoSaumlttigungldquo mit goumlttlicher Energie erklaumlrt beispielsweise auch die gnadenreiche Heil-wirkung die von den Gebeinen der Heiligen selbst nach deren Tod ausgeht

53 Ebd 284

18 Michael Hagemeister

τοῦ Χριστοῦ Mt 171minus13) zuteil geworden war54 Fuumlr den endzeitlich gestimm-ten Palamas war diese Schau eine Vorwegnahme der Parusie der Vereinigung des Geschaffenen und des Ungeschaffenen und des kuumlnftigen Reiches Gottes somit bdquorealisierte Eschatologieldquo55

Der Glaube an die Wahrnehmbarkeit des ungeschaffenen ewigen Lichtes als Ausfluss der Energien Gottes stieszlig jedoch auf Widerspruch Palamasrsquo promi-nentester Gegner war der aus Kalabrien stammende Moumlnch Barlaam (ca 1290ndash1348) der in der Tradition der abendlaumlndischen rationalistischen Scholastik die Unterscheidung des transzendenten unzugaumlnglichen Wesens Gottes und der da-von untrennbaren Energien die aber ad extra wirken und sich dem Menschen mitteilen als haumlretisch verwarf und auf der absoluten Unerkennbarkeit Gottes be-stand Rom lehnte denn auch die Energienlehre des Palamas aufs schaumlrfste ab Dagegen erkannte die byzantinische Kirche sie 1341 und 1351 als Dogma an Seitdem gilt der palamitische Hesychasmus als ein Spezifikum der Orthodoxie und dient gerade heute wieder der polemischen Abgrenzung gegenuumlber dem Wes-ten56

Fuumlr die bereits genannten Philosophen Pavel Florenskij und Aleksej Losev charakterisiert das Bekenntnis zum Hesychasmus den Kulturtypus des christli-chen Mittelalters der sich in idealer Weise in Byzanz und in der Moskauer Rusrsquo ausgepraumlgt habe und in diametralem Gegensatz zur sogenannten bdquoRenaissance-Kulturldquo des Westens stehe Merkmale jener integralen Kultur des christlichen Ostens seien Gemeinschaftlichkeit (sobornostrsquo) Geistigkeit (duchovnostrsquo) Ob-jektivitaumlt Konkretheit Ganzheit (celrsquonostrsquo) und Ganzheitlichkeit (celostnostrsquo) synthetische Schau und Realismus57 waumlhrend die westliche Moderne seit der Re-naissance gepraumlgt sei durch Subjektivismus Relativismus szientifische Ratio-nalitaumlt (bdquoEntzauberung der Weltldquo) Materialismus Liberalismus Individualismus

54 Siehe Sergej Choružij bdquoSvet Plotinov i svet Favora mistika sveta v neoplatonizme i isi-

chazmeldquo in Aleksej Lidov (Hg) Ierotopija Ognja i Sveta v kulrsquoture vizantijskogo mira Moskva 2013 37ndash44 Zur Terminologie des Hesychasmus ders bdquoAnalitičeskij slovarʼ isi-chastskoj antropologiildquo in ders K fenomenologii askezy Moskva 1998 22ndash186

55 Peter Kawerau Das Christentum des Ostens Stuttgart [ua] 1972 131 56 Siehe zB die Arbeiten des Moskauer Theologen Igorʼ Ėkonomcev (Archimandrit Ioann)

bes bdquoIsichazm i vostočnoevropejskoe Vozroždenieldquo in Bogoslovskie trudy 29 (1989) 167ndash196 erweiterte Fassung bdquoDer Hesychasmus und die Renaissance in Osteuropaldquo in Karl Christian Felmy (Hg) Tausend Jahre Christentum in Russland Zum Millennium der Taufe der Kiever Rusrsquo Goumlttingen 1988 731ndash771 ndash Im 19 Jahrhundert erlebte der Hesy-chasmus im Zuge der Wiederbelebung mystischer Froumlmmigkeit durch Paisij Veličkovskij (1722ndash1794) eine Bluumlte im russischen Starzentum Dabei handelt es sich auch ndash aumlhnlich wie beim Pietismus ndash um eine Reaktion auf die Einfluumlsse der westlichen Aufklaumlrung Siehe die Beitraumlge in Adalberto Mainardi (Hg) Paisij lo starec Atti del III Convegno ecumenico internazionale di spiritualitagrave russa Bose 20ndash23 settembre 1995 Magnano 1997

57 Die Uumlberwindung der Trennung des erkennenden Subjekts vom Objekt der Erkenntnis (Descartes Locke Kant) durch das spekulative intuitive Erfassen des Wesens (der Ideen des Absoluten) als des eigentlich Realen hat die russische Philosophie des 20 Jahrhunderts bdquolebendiges Wissenldquo (živoe znanie) bdquoIdeal-Realismusldquo (ideal-realizm) oder bdquointuitiven Realismusldquo (intuitivnyj realizm) genannt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 19

Abstraktheit Zersplitterung und Atomisierung58 Der Sieg des Nominalismus im mittelalterlichen Universalienstreit und die Feier des autonomen Individuums in Renaissance Humanismus und Aufklaumlrung markieren in dieser katastrophischen Perspektive den Zerfall der goumlttlichen Ordnung des Universums und der Sakralitaumlt von Hierarchie und Herrschaft und damit den bdquoSuumlndenfallldquo der abendlaumlndischen Kultur die im Anthropozentrismus der satanischen Hybris einer bdquoSelbstvergot-tungldquo des Menschen (čelovekobožie)59 zugleich gipfele und scheitere60

Am Anfang dieser verhaumlngnisvollen Spaltung standen die Annahme der pa-lamitischen Lehre durch die Ostkirche und die Ablehnung dieser Lehre im Westen durch den bdquoRenaissance-Menschenldquo (vozroždenec) Barlaam den Lehrer Boccac-cios und Petrarcas61 Mit aller Schaumlrfe formulierte Losev diesen Gegensatz bdquo[hellip] entweder ist das Taborlicht untrennbar vom Wesen Gottes und ist deshalb Gott selbst (obwohl Gott selbst nicht [das] Licht ist) ndash dann ist die Orthodoxie gerettet oder das Licht ist vom Wesen Gottes trennbar und darum geschaffen ndash dann be-ginnen die apokalyptischen Kraumlmpfe des Renaissance-Westensldquo62 Indem sie Bar-laam einen bdquozugereisten Kalabrierldquo und seine Anhaumlnger mit dem Bann belegte habe die Orthodoxe Kirche so Losev die damals heraufziehende Renaissance

58 Siehe zB Pavel Florenskij bdquoAvtoreferat (192526)ldquo in Voprosy filosofii 1988 12 113ndash

116 dt Pavel Florenski bdquoAutorreferatldquo in ders Leben und Denken hg von Fritz und Sieglinde Mierau Bd 1 Ostfildern 1995 32ndash38 Aleksej Losev Dialektika mifa (1930) Moskva 2001 137ndash138 dt Die Dialektik des Mythos Hamburg 1994 109 ndash Die wertende Entgegensetzung von mittelalterlicher und Renaissance-Kultur (bzw der Typen bdquoobjekti-verldquo und bdquosubjektiverldquo Kulturen) findet sich durchgaumlngig im Werk Florenskijs und Losevs Siehe zuletzt Oksana SedychJulija Grišatova bdquoRusskij Renessans o Renessanseldquo in Vo-prosy filosofii 2015 6 111ndash121

59 bdquoSatan war der erste Revolutionaumlrldquo zitiert Losev einen (apokryphen) Ausspruch des Hl Serafim von Sarov Aleksej Losev bdquoDopolnenie k sbquoDialektike mifalsquo (novyj fragment)ldquo in AF Losev tvorčestvo tradicii interpretacii Moskva 2014 397ndash411 hier 401

60 So degradiere ndash um nur ein Beispiel fuumlr das Scheitern der Renaissance zu geben ndash das heliozentrische Weltbild eines Kopernikus und Giordano Bruno den Menschen zum Be-wohner eines bdquonichtigen Sandkornsldquo im unendlichen Weltraum SedychGrišatova bdquoRuss-kij Renessansldquo 114 Florenskij suchte denn auch in seiner Schrift Mnimosti v geometrii (1922) das geozentrische Weltbild des Mittelalters zu rehabilitieren Zum griechisch-or-thodoxen Antikopernikanismus Vasilios Makrides Die religioumlse Kritik am kopernikani-schen Weltbild in Griechenland zwischen 1794 und 1821 Aspekte griechisch-orthodoxer Apologetik angesichts naturwissenschaftlicher Fortschritte Frankfurt aM [ua] 1995

61 Mitunter wurde Barlaam sogar als Agent einer groszligangelegten antiorthodoxen Verschwouml-rung des bdquoPapismusldquo denunziert Siehe Ėkonomcev bdquoIsichazmldquo 59 vgl ders bdquoDer Hesy-chasmusldquo 736 ndash Eine Kontrastierung des weltlichen Humanisten Petrarca und des Hesy-chasten Palamas unternahm Losevs Schuumller und Sekretaumlr Vladimir Bibichin lthttpwww philologyruliterature3bibikhin-90htmgt

62 Aleksej Losev Očerki antičnogo simvolizma i mifologii Moskva 1930 856 Auch Ėko-nomcev spricht von den bdquoschreienden Widerspruumlchen und Grimassen der westlichen Re-naissance deren geistiger Vater Barlaam wurdeldquo Ėkonomcev bdquoIsichazmldquo 63 (in der deut-schen Version ist von bdquohimmelschreienden Gegensaumltzenldquo und bdquoscheuszliglichen Grimassenldquo die Rede Ėkonomcev bdquoDer Hesychasmusldquo 746)

20 Michael Hagemeister

insgesamt verdammt (anafematstvovala) der alle westlichen Voumllker verfallen sei-en und wahrscheinlich bis ans Ende ihrer Tage verfallen blieben63

Bis zuletzt verteidigte Losev ein mit Orden des Sowjetstaates ausgezeich-neter Philosoph der 1929 von Archimandrit David (Muchranov 1847ndash1930) ei-nem Fuumlhrer der hesychastischen bdquoNamensverehrerldquo (imjaslavcy)64 heimlich zum Moumlnch geweiht worden war die Lehre des Palamas als einen Grundpfeiler der Orthodoxie65 Gleichzeitig hielt er an seiner schroffen Ablehnung des bdquoRenaissan-ce-Westensldquo fest dessen Geschichte insgesamt nichts anderes sei als bdquoeine libera-le Kritik des Mittelaltersldquo 1978 stellte Losev in seiner umfangreichen Studie zur Aumlsthetik der Renaissance der bdquoganzheitlichen Kulturldquo (celostnaja kulrsquotura) des Mittelalters die zerrissene Kultur der Renaissance gegenuumlber die auf der Verabso-lutierung und bdquotitanischen Verherrlichungldquo des isolierten Subjekts und der bdquoAbge-trenntheit vom lebendigen Seinldquo (otryv ot živogo bytija) beruhe66 In einem Ge-spraumlch mit dem Schriftsteller Viktor Erofeev das 1985 veroumlffentlicht wurde de-nunzierte Losev den Typus des bdquoRenaissance-Menschenldquo der sich selbst vergoumltt-liche und deshalb dem Nihilismus und Satanismus verfalle bdquoIndem die Renais-sance das Subjekt zum Absolutum erhob oumlffnete sie den Weg fuumlr den Triumph des Subjektivismus in den folgenden Jahrhunderten In diesem Sinne stellt der gesamte Westen fuumlr mich eine Sackgasse des Denkens darldquo67 Damit geriet der Philosoph einerseits in scharfen Gegensatz zum sowjetischen Selbstverstaumlndnis das sich als Erbe und Vollender gerade jener bdquoprogressivenldquo Prozesse und huma-nistischen Traditionen sah die von der europaumlischen Renaissance ausgegangen

63 Losev Očerki 849 856 64 Zur Bewegung des imjaslavie die zu Beginn des 20 Jahrhunderts auf dem Athos entstand

und in Florenskij und Losev prominente Unterstuumltzer fand liegt inzwischen eine reiche Literatur vor Siehe die juumlngste Veroumlffentlichung Antoine Niviegravere Les glorificateurs du nom Une querelle theacuteologique parmi les moines russes du mont Athos (1907ndash1914) Genegraveve 2016

65 Siehe Valentina Postovalova bdquoAfonskij spor ob Imeni Božiem v filosofsko-bogoslovskom osmyslenii AF Losevaldquo in AF Losev 95ndash106 bes 105f

66 Aleksej Losev Ėstetika Vozroždenija Moskva 21982 (11978) 45 61 137 und passim Losevs Modernekritik erinnert an Heidegger und dessen Begriff der bdquoSeinsvergessenheitldquo Wie fuumlr Heidegger so war auch fuumlr Losev (und Florenskij) der Agent der verhassten Moder-ne ein bdquorechnendesldquo und bdquowurzellosesldquo mythisches Judentum Zu Losevs metaphysischem Antisemitismus (bdquodas satanische Wesen des Judentumsldquo) siehe zuletzt mit zahlreichen Belegen Natalrsquoja Boneckaja Duch Serebrjanogo veka (fenomenologija ėpochi) Moskva Sankt-Peterburg 2016 688ndash693

67 Aleksej Losev bdquoV poiskach smyslaldquo in Voprosy literatury 1985 10 205ndash231 hier 229 Zu Losevs Kritik der bdquoRenaissance-Kulturldquo des Westens ausfuumlhrlich Annett Jubara Die Philosophie des Mythos von Aleksej Losev im Kontext bdquoRussischer Philosophieldquo Wiesba-den 2000 bes 131ndash154 Siehe auch Naftalij Prat bdquoAleksej Losev und der Totalitarismusldquo in Leonid Luks (Hg) Das Christentum und die totalitaumlren Herausforderungen des 20 Jahrhunderts Koumlln [ua] 2002 103ndash114 bes 108f

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 21

waren (augenfaumlllig etwa in der Architektur der 1930er bis 50er Jahre)68 Anderer-seits erwies sich der orthodoxe Moumlnch damit auch als Apologet des Sowjetregi-mes bedroht die Autonomie des Individuums doch den Wesenskern einer jeden Herrschaft die das Wahrheitsmonopol fuumlr sich beansprucht

Die Ablehnung der modernen bdquokopernikanischen Weltldquo (Hans Blumen-berg) durchzieht das gesamte philosophische Werk Losevs und Florenskijs dazu gehoumlren die Ablehnung des heliozentrischen Weltbildes die Polemik gegen Kants kritischen Idealismus (die bdquokopernikanische Wendeldquo in der Philosophie) die Ab-lehnung der Zentralperspektive in der Kunst die Ablehnung des nominalistischen Rationalismus und schlieszliglich die Ablehnung der saumlkularen und demokratischen Gesellschaftsordnung zugunsten einer bdquoVerkirchlichungldquo (ocerkovlenie) aller Be-reiche der Gesellschaft und des Staates in Gestalt einer theokratischen Synarchie Florenskij der sich als einen mittelalterlichen Menschen charakterisierte69 ndash Ni-kolaj Berdjaev selbst Verkuumlnder eines religioumls-integralen bdquoNeuen Mittelaltersldquo nannte ihn einen bdquoraffinierten Reaktionaumlrldquo ndash70 war uumlberzeugt dass die bdquoentseelte Renaissance-Zivilisationldquo sich erschoumlpft habe und eine neue ganzheitlich-objekti-ve Kultur anbrechen werde71 Vorbild dieser bdquoKultur des anderen Typusldquo werde Russland sein bdquoerste Keimeldquo seien bereits zu erkennen Seine Zeit begriff Floren-skij bdquoan den Wasserscheiden des Denkensldquo und er sah seine Lebensaufgabe darin bdquoWege zu bahnen zu einer kuumlnftigen ganzheitlichen Weltanschauungldquo72

68 Losevs Renaissance-Kritik (va in Ėstetika Vozroždenija) wurde deshalb auch als ver-

schleierte Kritik am Sowjetsystem verstanden Siehe Annett Jubara bdquoAleksej Losevs Philosophie des Mythos als Kritik an der Sowjetischen Moderneldquo in Studies in East Euro-pean Thought 56 (2004) 211ndash224 Aus dem Kreis der Schuumller Losevs gingen seit den 1960er Jahren zahlreiche dissidentische russische Nationalisten hervor Nikolaj Mitrochin Russkaja partija Dviženie russkich nacionalistov v SSSR 1953ndash1985 Moskva 2003 288f Zur Kritik der Renaissance-Zivilisation siehe auch Vladimir Bibichin Novyj renessans Moskva 1998 bes 131ndash155

69 Siehe Florenskij bdquoAvtoreferatldquo Noch im Maumlrz 1933 nach seiner Verhaftung erklaumlrte Flo-renskij gegenuumlber den Ermittlungsbeamten bdquoIch Pavel Aleksandrovič Florenskij [hellip] bin dem Charakter meiner politischen Anschauungen nach ein Romantiker des Mittelalters un-gefaumlhr des 14 Jahrhundertsldquo Vitalij Šentalinskij bdquoUdel veličijaldquo in Ogonek 1990 45 23ndash27 hier 26

70 Nikolaj Berdjaev Samopoznanie (Opyt filosofskoj avtobiografii) Moskva 1991 161 Sie-he Nikolaj Berdjaev Novoe srednevekovrsquoe Berlin 1924 dt Nikolaus Berdjajew Das Neue Mittelalter Darmstadt 1927

71 Siehe Michael Hagemeister bdquoWiederverzauberung der Welt ndash Pavel Florenskijs Neues Mittelalterldquo in Norbert Franz [ua] (Hgg) Pavel Florenskij ndash Tradition und Moderne Beitraumlge zum Internationalen Symposium an der Universitaumlt Potsdam 5 bis 9 April 2000 Frankfurt aM [ua] 2001 21ndash41 Zu Florenskijs Kritik an Renaissance und Humanismus (bdquoder Humanismus entsprang der Kabbalaldquo) siehe auch Ilona Svetlikova bdquoOb ideologii sbquoobratnoj perspektivylsquo Pavla Florenskogoldquo in Russkaja intellektualʼnaja revoljucija 1910ndash1930-ch godov Moskva 2016 123ndash139 zu den Uumlbereinstimmungen mit Heidegger siehe Viktor Arslanov Postmodernizm i russkij bdquotretij putrsquoldquo tertium datur rossijskoj kulrsquotury XX veka Moskva 2007 472ndash499

72 Florenskij bdquoAvtoreferatldquo 114

22 Michael Hagemeister

In juumlngster Zeit hat das wiedererwachte Interesse an der eigenen spirituellen Tradition und ihren byzantinischen Wurzeln ndash oftmals verbunden mit dem Bestre-ben sich vom bdquosaumlkularen Westenldquo und der bdquowestlichen Moderneldquo abzugrenzen ndash zu einer Wiederbelebung des palamitischen Hesychasmus (neopalamizm) und der ndash davon zu unterscheidenden ndash bdquoNamensverehrungldquo (imjaslavie) gefuumlhrt73 Be-reits in den 1970er Jahren war John Meyendorffs klassische Studie St Greacutegoire Palamas et la mystique orthodoxe (Paris 1959) ins Russische uumlbersetzt worden und kursierte in der Sowjetunion in Samizdat-Ausgaben im Milieu religioumls-philo-sophischer Dissidenten Heute wird die Wiederbelebung des Hesychasmus auch durch den patriotischen Kult um Serafim von Sarov (Prochor Mošnin 1759ndash1833) befoumlrdert einen Wundertaumlter und Apokalyptiker der im postsowjetischen Russland zu einem der meistverehrten Heiligen avanciert ist74 In einer in viele Sprachen uumlbersetzten und millionenfach verbreiteten Schrift schildert sein Schuuml-ler Nikolaj Motovilov (1809ndash1879) die Verklaumlrung Serafims im ungeschaffenen Licht des Heiligen Geistes die sich angeblich im November 1831 auf einer einsa-men verschneiten Waldlichtung ereignet hat75

73 Dies gilt nicht nur fuumlr Russland auch auf Vertreter der angelsaumlchsischen bdquoRadical Ortho-

doxyldquo die das Projekt einer von modern-saumlkularem Denken nicht korrumpierten Theologie verfolgen uumlben Hesychasmus und russische Sophiologie starke Faszination aus Siehe die Beitraumlge in Adrian PabstChristoph Schneider (Hgg) Encounter Between Eastern Ortho-doxy and Radical Orthodoxy Transfiguring the World Through the Word Farnham 2009 Zur Wiederbelebung des imjaslavie im post-sowjetischen Russland siehe Scott M Ken-worthy bdquoDebating the Theology of the Name in Post-Soviet Russia Metropolitan Ilarion Alfeev and Sergei Khoruzhiildquo in Katya Tolstaya (Hg) Orthodox Paradoxes Hetero-geneities and Complexities in Contemporary Russian Orthodoxy LeidenBoston 2014 250ndash264 Siehe auch Loren Grahams Bericht uumlber diskrete Zusammenkuumlnfte der imjaslav-cy im Kellergeschoss der Moskauer Tatrsquojana-Kirche in den fruumlhen 2000er Jahren Loren GrahamJean-Michel Kantor Naming Infinity A True Story of Religious Mysticism and Mathematical Creativity Cambridge MassLondon 2009 1ndash5

74 Fuumlr die Anhaumlnger der Doktrin einer bdquoAtomaren Orthodoxieldquo (atomnoe pravoslavie) ist Se-rafim auch der Schutzheilige der russischen Atombombe wurde doch Sarov der Ort seines Wirkens 1946 unter dem Namen Arzamas-16 zur streng geheimen Nuklearstadt in der Wissenschaftler unter ihnen Andrej Sacharov am Bau der sowjetischen Atom- und Was-serstoffbomben arbeiteten Patriotische Russen deuten dies als Zeichen dass bdquoim Hause unseres Vaters Serafimldquo mit dessen Segen der nukleare bdquoSchild zum Schutz der Heimatldquo geschmiedet worden sei Pavel V Florenskij bdquoNeobchodimostrsquo našej atomnoj bombyldquo in Naš sovremennik 1997 4 219ndash221 Bei dem Verfasser handelt es sich um einen Enkel des beruumlhmten Philosophen Siehe auch lthttpsruwikipediaorgwiki Атомное_правосла виеgt

75 Die Schrift deren Authentizitaumlt umstritten ist wurde bekannt unter dem Titel bdquoGespraumlch uumlber das Ziel des christlichen Lebensldquo (Beseda o celi christianskoj žizni) Erstmals veroumlf-fentlicht wurde das bdquoGespraumlchldquo 1903 von Sergej Nilus (1862ndash1929) dem Herausgeber und Kommentator der Protokolle der Weisen von Zion Siehe Michael Hagemeister bdquoIl proble-ma della genesi del sbquoColloquio con Motovilovlsquoldquo in Adalberto Mainardi (Hg) San Sera-fim Da Sarov a Diveevo Atti del IV Convegno ecumenico internazionale di spiritualitagrave russa Bose 18ndash20 settembre 1996 Magnano 1998 157ndash174 Bis heute gibt es keine kriti-sche Ausgabe dieses zentralen Textes russischer Geistigkeit

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 23

Von der Wiederbelebung des Hesychasmus zeugt auch das groszligangelegte Projekt einer bdquosynergetischen Anthropologieldquo (sinergijnaja antropologija) des Mathematikers Physikers und religioumlsen Philosophen Sergej Choružij Prakti-sches Ziel das seit 2005 durch ein eigenes Institut in Moskau verfolgt wird ist die psychosomatisch-holistische Selbsttransformation des Menschen die auf unmittelbarer (mystisch-energetischer) Erfahrung bzw Einwirkung des ontolo-gisch Anderen (Goumlttlichen) beruht sowie die Uumlberwindung der Subjekt-Objekt-Trennung der modernen westlichen Philosophie die Choružij fuumlr den von ihm als krisenhaft und katastrophisch beschriebenen Zustand der westlichen Moderne verantwortlich macht Im Unterschied zu orthodoxen Fundamentalisten und Anti-Westlern sucht Choružij indes die asketischen Praktiken des Hesychasmus mit modernen und postmodernen westlichen Anthropologien (Kierkegaard Scheler Heidegger und insbesondere Foucaults technique oder practique de soi) in Bezie-hung zu setzen76

bdquoPolitischer Hesychasmusldquo

Es duumlrfte deutlich geworden sein dass Hesychasmus nicht nur eine weltabge-wandte mystisch-asketische bdquogeistige Praxisldquo bezeichnet sondern auch als Kampfbegriff gegen die saumlkulare Kultur des bdquoWestensldquo und der bdquowestlichen Mo-derneldquo dient Dies gilt vor allem fuumlr das Konzept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo (političeskij isichazm)

In den russischen Diskurs wurde dieses Konzept um die Mitte der 1960er Jahre von dem Leningrader Mediaumlvisten und Byzantinisten Gelian Prochorov ein-gefuumlhrt77 Seiner Hauptthese zufolge wurde der Hesychasmus nachdem er aus den Klosterzellen herausgetreten war und eine philosophisch-theologische

76 Siehe Sergej Choružij Očerki sinergijnoj antropologii Moskva Inst Sinergijnoj antropo-

logii Inst filosofii teologii i istorii Sv Fomy 2005 ders (Hg) Fonarrsquo Diogena Proekt sinergijnoj antropologii v sovremennom gumanitarnom kontekste Moskva 2010 ders bdquoDie mystische Verwandlung des Menschen Uumlber den Hesychasmus als Raum der Philo-sophieldquo in Fuge Journal fuumlr Religion amp Moderne 7 (2010) 72ndash99 Siehe auch die Web-site lthttpsynergia-isarugt Kristina Stoeckl bdquoA New Anthropology Sergej S Khoru-žijrsquos Search for an alternative to the Cartesian Subject in sbquoOčerki sinergijnoj antropologiilsquoldquo in Studies in East European Thought 59 (2007) 237ndash245

77 Gelian Prochorov bdquoĖtničeskaja integracija v Vostočnoj Evrope v XIV-m veke Ot isichastskich sporov do Kulikovskoj bitvyldquo in Doklady otdelenija ėtnografii 2 (196265) Leningrad 1966 81ndash110 ders bdquoIsichazm i obščestvennaja myslʼ v Vostočnoj Evrope v XIV vldquo in Literaturnye svjazi drevnich slavjan (Trudy otdela drevnerusskoj literatury 23) Leningrad 1968 86ndash108 ders bdquoKulʼturnoe svoeobrazie ėpochi kulikovskoj bitvyldquo in Kulikovskaja bitva i podldquoem nacionalrsquonogo samopoznanija (Trudy otdela drevne-russkoj literatury 34) Leningrad 1979 3ndash17 ndash Prochorov gehoumlrte bereits zu Sowjetzeiten ins Lager der (neo-)slavophilen Anti-Westler er war eng befreundet mit dem bdquoEurasierldquo und Antisemiten Lev Gumilev (1912ndash1992) und uumlbernahm von diesem das Konzept der bdquoEthnogeneseldquo

24 Michael Hagemeister

Grundlegung erfahren hatte am Ende des 14 Jahrhunderts zu einem entscheiden-den politischen und kulturellen Faktor nicht nur in Byzanz sondern in ganz Ost-europa und lieferte unter anderem das ideologische Fundament zur Konsolidie-rung der nachmongolischen Rusʼ Im Streit zwischen dem bdquorationalistischen Hu-manismus und dem kontemplativen Hesychasmus [hellip] entschied Byzanz uumlber sein geistiges Schicksal Das Land blieb bis zuletzt mittelalterlich Den Hesy-chasten gelang es zu Wortfuumlhrern der oumlffentlichen Meinung in Byzanz zu werden die letzte schoumlpferische Synthese seiner traditionellen Kultur zu entwickeln und eine breite kulturelle und gesellschaftliche Bewegung in Gang zu setzen die zu einer Erneuerung des Mittelalters und zu einer Wiederbelebung der Orthodoxie im ganzen oumlstlichen Europa fuumlhrteldquo78

Im Anschluss an das von seinem Lehrer Dmitrij Lichačev entwickelte Kon-zept einer bdquoVorrenaissanceldquo (Predvozroždenie)79 spricht Prochorov von einer bdquovorrenaissancelichen Gegenreformationldquo (predvozroždenčeskaja kontrreforma-cija) und einer bdquoOrthodoxen Renaissanceldquo (Pravoslavnoe Vozroždenie)80 Ge-meint war damit dass die Palamiten (Hesychasten) den Sieg der Barlaamiten ver-hindern konnten und auf die Schriften der antiken Kirchenvaumlter zuruumlckgreifend ein mystisch-kontemplatives Aumlquivalent zum rationalistischen und saumlkularen Hu-manismus geschaffen haumltten Auf diese Weise habe der drohende Uumlbergang der byzantinischen und osteuropaumlischen christlich gepraumlgten Kultur von der bdquoVorre-naissanceldquo zu einer auf heidnisch-antiken Wurzeln beruhenden Renaissance ab-gewendet werden koumlnnen81 Auf die bdquoVorrenaissanceldquo sei ein bdquoNeues Mittelalterldquo gefolgt das in der bdquoHeiligen Rusʼldquo um die Wende zum 15 Jahrhundert seinen Houmlhepunkt erreicht habe Ihm verdanke Russland seine Groumlszlige und die russische Kultur ihre bdquoUniversalitaumltldquo und bdquoGeistigkeitldquo82

Bemerkenswert ist dass der sowjetische Wissenschaftler die beiden ideolo-gischen Lager mit traditionellen (neo-)slavophilen Wertungsoppositionen wie sie bereits bei Florenskij und Losev begegnet sind verbindet und dabei deutlich seine 78 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 4 79 Vor allem in seinem Buch Kulʼtura Rusi vremeni Andreja Rubleva i Epifanija Premudrogo

MoskvaLeningrad 1962 80 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 8 Siehe auch ders Nekogda ne narod a nyne narod

Božijhellip Drevnjaja Rusʼ kak istoriko-kulʼturnyj fenomen Sankt-Peterburg 2010 133ndash157 81 So auch Igorʼ Ėkonomcev bdquoDie osteuropaumlische sbquoVorrenaissancelsquo ist nicht die erste Stufe

zur saumlkularisierten Renaissance vom abendlaumlndischen Typ sondern ihre Antithese Der geistige und kulturelle Aufschwung in Osteuropa war die wahre volle und eindeutige Re-naissance die sich grundlegend von der westlichen Renaissance unterschied Sie haumltte sich niemals in eine Renaissance westlicher Praumlgung verwandeln koumlnnenldquo Ėkonomcev bdquoDer Hesychasmusldquo 764 vgl ders bdquoIsichazmldquo 69 Diese (osteuropaumlische) Renaissance so Ėkonomcev an anderer Stelle sei ungleich bdquoerhabener geistiger und reinerldquo gewesen als bdquodie westeuropaumlische Renaissance mit ihrer krankhaften Disharmonie zwischen Glauben und Vernunft Geist und Leib die trotz allem gespieltem Optimismus ein Gefuumlhl der Aus-weglosigkeit und Verzweiflung hinterlaumlsstldquo Igumen Ioann Ėkonomcev bdquoVizantinizm Kirillo-Mefodievo nasledie i kreščenie Rusildquo in ders Pravoslavie Vizantija Rossija Sbornik statej Moskva 1992 7ndash22 hier 18

82 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 9 15

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 25

Sympathie zeigt Die byzantinischen Humanisten werden von ihm als kalte Ratio-nalisten dargestellt die in der Hoffnung auf militaumlrische Unterstuumltzung durch den katholischen Westen im Kampf gegen die Osmanen bereit gewesen seien den eigenen Glauben zu opfern83 Die Hesychasten hingegen haumltten so Prochorov den Westen realistischer eingeschaumltzt und auf Hilfe von Seiten der orthodoxen Staaten gehofft Im entscheidenden Moment haumltten nicht die bdquoWestler-Huma-nistenldquo (zapadniki-gumanisty) mit ihren bdquokalten Uumlberlegungenldquo (cholodnymi rassuždenijami) beim Volk Gehoumlr gefunden sondern die Hesychasten mit ihren bdquoheiszligen Gebetenldquo (gorjačimi molitvami)84

Mit seiner Apologie eines bdquowiederbelebtenldquo Mittelalters und einer bdquoOrtho-doxen Renaissanceldquo die alle Bereiche des politischen gesellschaftlichen und kul-turellen Lebens gepraumlgt habe und deren Kern der Hesychasmus gewesen sei stieszlig Prochorov bei seinen sowjetischen Kollegen auf Kritik So sah Apollon Kuzmin im Palamismus eine desintegrative Erscheinung weshalb er Prochorovs positive Bewertung der Hesychasten bei der bdquoWiedergeburtldquo der Rusʼ zuruumlckwies85 Aumlhn-lich argumentierte Gennadij Litavrin Die Palamiten seien diejenigen gewesen die eine unrealistische Einschaumltzung der politischen Lage gehabt haumltten Sie haumltten die Bedrohung durch die Tuumlrken nicht erkannt und stattdessen die Illusion verbreitet die Feinde zum Christentum bekehren und zu neuen Untertanen ma-chen zu koumlnnen Der Palamismus sei eine bdquoIdeologie der Demutldquo und habe eine bdquounheilvolle Rolle in der Geschichte des Kampfes gegen die tuumlrkische Aggres-sionldquo gespielt86 Michail Sjuzjumov sprach sogar vom bdquoasozialen Charakter des Palamismusldquo der den aufkommenden humanistischen Tendenzen gegenuumlber feindlich gewesen und zur bdquoIdeologie der Reaktionldquo in Byzanz geworden sei87 Auf Ablehnung stieszlig Prochorov auch im Ausland Valerij Lepachin kritisierte den Begriff bdquopolitischer Hesychasmusldquo als unzulaumlssige Verbindung weltlicher und geistlicher Sphaumlren damit verliere der Hesychasmus seinen wesentlichen Sinn-gehalt88 Fuumlr den in Berkeley lehrenden Philologen Viktor Živov schlieszliglich war

83 Ebd 12 84 Ebd 13 ndash An anderer Stelle betont Prochorov den Gegensatz zwischen den abstrakten

bdquoausgedachtenldquo philosophischen Konstruktionen des europaumlischen Idealismus und der ganzheitlichen kontemplativ-spekulativen Welterfahrung der griechisch-byzantinischen Philosophie Prochorov bdquoĖtničeskaja integracijaldquo 90f An Florenskijs Renaissance-Kritik (etwa in Ikonostas 1922) erinnert auch Prochorovs Verweis auf den euklidischen Raum und den Perspektivismus der humanistischen Weltwahrnehmung mit seiner Illusion der Unendlichkeit Prochorov bdquoIsichazmldquo 94

85 Apollon Kuzmin bdquoCerkovʼ i svetskaja vlastʼ v ėpochu Kulikovskoj bitvyldquo in Voprosy naučnogo ateizma 37 (1988) 90ndash99

86 Gennadij Litavrin bdquoVizantija v period graždanskoj vojny i dviženija Zilotov (1341ndash1355 gg)ldquo in Sergej Skazkin (Hg) Istorija Vizantii Bd 3 Moskva 1967 135ndash160 hier 158

87 Michail Sjuzjumov bdquoFilosofija i bogoslovieldquo in ebd 234ndash256 hier 248f 88 Valerij Lepachin bdquoUmnoe delanie (o soderžanie i granicach ponjatija sbquoisichazmlsquo)ldquo in

Vestnik Russkogo Christianskogo Dviženija 164 1992 5ndash32 hier 23

26 Michael Hagemeister

bdquopolitischer Hesychasmusldquo bdquokonzeptuelles Unkraut [sornjak] das man so schnell wie moumlglich ausrottenldquo solle89

Fast ein halbes Jahrhundert nach ihrer ersten Veroumlffentlichung wurde Pro-chorovs Konzept eines bdquopolitischen Hesychasmusldquo von seinem Schuumller Vladimir Petrunin wieder aufgegriffen und aktualisiert In der 2009 erschienenen Monogra-phie bdquoDer politische Hesychasmus und seine Traditionen in der Sozialkonzeption des Moskauer Patriarchatsldquo90 stellt Petrunin das sogenannte bdquoNichtgehorsamkeits-prinzipldquo (princip nepovinovenija) wie es in den von der Moskauer Bischofssyno-de im August 2000 verabschiedeten bdquoGrundlagen der Sozialkonzeption der Rus-sischen Orthodoxen Kircheldquo formuliert worden ist91 in eine Tradition die er bis auf die bdquopolitischen Hesychastenldquo im Byzanz des 14 und 15 Jahrhunderts zu-ruumlckzufuumlhren sucht Immer wieder zieht Petrunin Parallelen zwischen dem spaumlten Byzanz und dem postsowjetischen Russland Hatten die Byzantiner den Hesy-chasmus als Reaktion auf den Humanismus des Westens hervorgebracht so diene heute die Sozialkonzeption der Abwehr des westlichen Saumlkularismus Liberalis-mus und Kapitalismus Damals wie heute stuumlnden der kirchliche Heilsauftrag und die Verteidigung des Glaubens uumlber den Interessen des Staates selbst ndash wie das Beispiel von Byzanz zeige ndash um den Preis seines Untergangs Ebenso wie die byzantinischen Hesychasten den mit dem Westen kollaborierenden Herrschern die Gefolgschaft im Kampf gegen die Osmanen verweigert haumltten da sie die bdquoReinheit ihres Glaubensldquo eher bdquounter einem tuumlrkischen Turban als unter der lateinischen Tiaraldquo gewahrt sahen92 rufe die Sozialkonzeption die Kirche heute dazu auf der Staatsmacht den Gehorsam zu verweigern sollte diese bdquodie ortho-doxen Glaumlubigen zum Abfall von Christus und Seiner Kirche sowie zu suumlndhaften

89 Viktor Živov bdquoVidenija sveta i problemy russkogo srednevekovogo isichazmaldquo in Lidov

(Hg) Ierotopija 350ndash367 hier 363 359 90 Vladimir Petrunin Političeskij isichazm i ego tradicii v socialʼnoj koncepcii Moskovskogo

Patriarchata Sankt-Peterburg 2009 91 Osnovy socialrsquonoj koncepcii Russkoj Pravoslavnoj Cerkvi III5 lthttpwwwpatriarchia

rudbtext141422htmlgt Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo wird von den meisten Inter-preten als ein bemerkenswertes Umdenken in der Kirchenpolitik angesehen hatte doch die Russische Orthodoxe Kirche unter Patriarch Sergij in einer prekaumlren Lage 1927 Loyalitaumlt gegenuumlber dem Sowjetstaat gefordert Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo war auch eine wichtige Voraussetzung fuumlr die Vereinigung der Auslandskirche mit dem Moskauer Pa-triarchat Zur Sozialkonzeption insgesamt Vasilios N Makrides bdquoDie politische Aufgabe der Kirche Bemerkungen anhand der Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kir-cheldquo in Irene DingelChristiane Tietz (Hgg) Die politische Aufgabe von Religion Per-spektiven der drei monotheistischen Religionen Goumlttingen 2011 219ndash243

92 Petrunin Političeskij isichazm 66f 120 Es handelt sich um eine zeitgenoumlssische Losung Siehe Halina Evert-Kappesowa bdquoLa tiare ou le turbanldquo in Byzantinoslavica 14 (1953) 245ndash257 ndash Auch Aleksandr Nevskij (1220ndash1263) zog eine Verstaumlndigung mit den Mongo-len einer Union mit Rom vor die ihm Papst Innozenz IV im Jahr 1248 angeboten hatte und wandte sich stattdessen gegen die bdquoLateinerldquo Heutige Anti-Westler feiern den Heili-gen der Russischen Orthodoxen Kirche deshalb auch als bdquoersten Eurasierldquo

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 27

und der Seele abtraumlglichen Taten noumltigenldquo93 Die Sozialkonzeption hat fuumlr Petru-nin nur einen moumlglichen Sinn Falls Russlands politische Elite sich weiterhin dem liberalen Wertekanon des Westens verschreibe und Russlands bdquoEigenartldquo (samo-bytnostʼ) als bdquoorthodoxe Zivilisationldquo bestreite94 muumlsse die Kirche ndash wie einst in Byzanz ndash dem Staat die Loyalitaumlt aufkuumlndigen und das Volk zum Widerstand auf-rufen

Es ist ganz offensichtlich dass die Prozesse der Globalisierung und Saumlkularisierung eng miteinander verbunden sind So wie einst die byzantinischen Hesychasten ist heute die Russische Kirche mit der westlichen Zivilisation konfrontiert die nach der Weltherrschaft trachtet war fruumlher der Katholizismus deren Grundlage so ist es jetzt der saumlkulare Humanismus [hellip] Waumlhrend sie [die westliche Welt MH] damals fuumlr die Hesychasten mit Rom gleichgesetzt wurde so verkoumlrpert heute das kosmopolitische New York den Westen Indem sie Liberalismus und Saumlkularisie-rung abwehrt tritt die Kirche auch gegen die politischen und wirtschaftlichen Hegemoniebestrebungen des Westens auf und stellt so ihr Bestreben unter Beweis die zivilisatorische Eigenstaumlndigkeit Russlands wieder herzustellen Wie schon vor 600 Jahren im Byzantinischen Imperium so ist auch heute in Russland allein die Kirche ein ernstzunehmender und gut organisierter Gegner des Westens und seiner saumlkularen Werte [hellip] Sollte Russland weiter den Weg der Saumlkularisierung be-schreiten so koumlnnte damit fuumlr die Kirche der gefaumlhrliche Praumlzedenzfall geschaffen werden in dem sie von ihrem Recht Gebrauch machen muumlsste das Volk zu zivilem Ungehorsam aufzurufen95

In seinem Vorwort nannte Prochorov das Buch seines Schuumllers eine bdquoWarnung an unseren Staat unsere saumlkulare Gesellschaft an uns alleldquo96 Wie das spaumlte Byzanz unter dem bdquoDruck aus dem Westenldquo gestanden habe ndash dem die Herrscher und die bdquoHumanistenldquo schlieszliglich nachgegeben haumltten ndash so laufe auch das postkommu-nistische Russland Gefahr dem bdquoDruck des Liberalismus und der Globalisierungldquo nachzugeben Allein die Orthodoxe Kirche habe sich damals wie heute als bdquoFes-tungldquo erwiesen faumlhig diesem bdquozersetzenden Einflussldquo Widerstand zu leisten97

Petrunins Buch das mit dem Segen von Metropolit Ilarion (Grigorij Al-feev)98 erschienen war stieszlig bei westlichen Forschern auf Skepsis und Ableh-nung So kritisierte Kristina Stoumlckl die unhistorische Interpretation und forcierte Aktualisierung der philosophischen theologischen und politischen Kontroversen des 14 Jahrhunderts sowie die einseitige konservative Interpretation der Sozial-konzeption Hesychasmus werde in dem Kirchendokument ebenso wenig erwaumlhnt

93 Osnovy socialrsquonoj koncepcii 94 Petrunin Političeskij isichazm 81 95 Ebd 122f 96 Ebd 5 97 Ebd 98 Zu jener Zeit Bischof von Wien und Oumlsterreich heute Leiter des Auszligenamtes des Moskau-

er Patriarchats und scharfer Kritiker des bdquomilitanten Saumlkularismusldquo des Westens Siehe auch lthttpazbykaruxristianstvo-pered-vyzovom-voinstvuyushhego-sekulyariz ma-2gt

28 Michael Hagemeister

wie der Untergang von Byzanz99 Klaus Buchenau warf Petrunin vor er bdquoverfor-m[e] und ideologisier[e] die urspruumlnglichen Motive des hesychastischen Moumlnch-tums bis zur Unkenntlichkeitldquo100 Und Viktor Živov der bereits Prochorovs Kon-zept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo als bdquoUnkrautldquo bezeichnet hatte sah in Petru-nins Buch ein Beispiel dafuumlr wie dieses sich bdquospontan und schaumldlichldquo ausbreite Die von Petrunin konstruierte bdquophantastische Genealogie des politischen Hesy-chasmusldquo beruhe so Živov auf einer bdquoMischung aus Einseitigkeit und Unwissen-heitldquo Weder sei der bdquotuumlrkische Turbanldquo fuumlr den Patriarchen attraktiv gewesen noch sei am Widerstand gegen die Union irgendetwas spezifisch bdquoHesychasti-schesldquo Petrunin habe ein bdquoPhantomldquo geschaffen dessen angebliche Verbindung mit der Sozialkonzeption man nicht weiter zu verfolgen brauche101

bdquoNeobyzantismusldquo Das Dritte Rom ndash der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo

Eine eigenwillige Interpretation des Hesychasmus und seine Wendung gegen den Westen stammen von Aleksandr Dugin dem Fuumlhrer der bdquoeurasischenldquo Bewegung und einflussreichsten Vordenker der Neuen Rechten in Russland Der polyglotte und belesene Autodidakt der nie eine akademische Ausbildung genossen hat war Gruumlnder der Partei der Nationalbolschewisten Berater des Vorsitzenden der Du-ma und des Generalstabs sowie von 2008 bis 2014 Professor fuumlr Soziologie an der renommierten Moskauer Lomonosov-Universitaumlt und Direktor des dortigen bdquoZentrums fuumlr Konservatismusstudienldquo Seit Anfang der 1990er Jahre verbreitet er mit graphomanem Eifer seine politischen und bdquometaphysischenldquo Botschaften in einer inzwischen kaum noch uumlberschaubaren Zahl von Publikationen102 und Web-Artikeln in mehreren Sprachen sowie durch spektakulaumlre Auftritte in staats-nahen Medien103 99 Kristina Stoumlckl bdquoPolitical Hesychasm Vladimir Petruninrsquos Neo-Byzantine Interpretation

of the Social Doctrine of the Russian Orthodox Churchldquo in Studies in East European Thought 62 (2010) 125ndash133

100 Klaus Buchenau Auf russischen Spuren Orthodoxe Antiwestler in Serbien 1850ndash1945 Wiesbaden 2011 480 Anm 2

101 Živov bdquoVidenija svetaldquo 364f ndash Von der Kritik offenbar unbeeindruckt verschaumlrfte Petru-nin noch seine Position So sprach er 2012 in einem Vortrag uumlber die gesellschaftliche und politische Wirkung der hesychastischen Gebetspraxis Nach dem Fall von Byzanz sei das bdquoJesusgebet faktisch zu einem sbquopolitischen Gebetlsquoldquo geworden das auf die bdquoVerwandlung [preobraženie] der orthodoxen Oumlkumeneldquo ausgerichtet gewesen sei und das bdquoPhaumlnomen der Heiligen Rusrsquoldquo hervorgebracht habe lthttpsynergia-isarup=8604gt

102 Zuletzt in der bislang fuumlnf Baumlnde umfassenden Reihe bdquoNoomachijaldquo (2014ndash2015) einer hochambitioumlsen letztlich aber manichaumlisch-schematischen Beschreibung der bdquoSuche nach dem Logosldquo in den ndash von Dugin essenzialistisch aufgefassten ndash bdquoWeltkulturenldquo

103 Auch die Literatur zu Dugin ist kaum noch uumlberschaubar Siehe zB Alexander Houmlllwerth Das sakrale eurasische Imperium des Aleksandr Dugin Eine Diskursanalyse zum post-sowjetischen russischen Rechtsextremismus Stuttgart 2007 Stefan Wiederkehr Die eurasische Bewegung Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwi-schenkriegszeit und im postsowjetischen Russland Koumlln [ua] 2007 227ndash261 Anton

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 29

Dugin deutet den Hesychasmus im Rahmen des sogenannten bdquointegralen Traditionalismusldquo einer antimodernen Denkrichtung die im ersten Drittel des 20 Jahrhunderts in Frankreich und Italien entstand und in Reneacute Gueacutenon (1886ndash1951) und Julius Evola (1898ndash1974) ihre bekanntesten (und auch fuumlr Dugin wichtigsten) Vertreter hat104 Ihre Lehre besagt dass alle Religionen ungeachtet ihrer histori-schen und regionalen Auspraumlgungen in ihrem esoterischen nur dem Eingeweih-ten zugaumlnglichen Kern eine gemeinsame urspruumlngliche Wahrheit teilen und als philosophia perennis tradieren das Wissen um die Goumlttlichkeit und den Zugang zu ihr Dieses sakrale und initiatorische Wissen sei im Verlauf der westlichen Mo-derne insbesondere durch die Aufklaumlrung verlorengegangen in traditionellen Gesellschaften (China Indien islamische Welt) jedoch bewahrt geblieben105

Auch die Orthodoxie so Dugin habe im Gegensatz zu Katholizismus und Protestantismus bdquodie Treue zum esoterischen Kernldquo bewahrt naumlmlich in ihrer mystischen Unterstroumlmung dem Hesychasmus106 In der Kanonisierung des Gre-gorios Palamas durch die Ostkirche bei gleichzeitiger Verdammung des Humanis-ten Barlaam sieht Dugin das Bekenntnis zum bdquognostisch-realistischen Geist der orthodoxen Esoterikldquo Ganz im Sinn des Traditionalismus deutet er die psycho-physische Uumlbung der Hesychasten das bdquogeistige Tunldquo als Verfahren der bdquoInitia-tionldquo und das Endziel der bdquoVerklaumlrungldquo und bdquoVergoumlttlichungldquo als bdquoalchemistische Verwandlung des Leibesldquo (alchimičeskoe preobraženie tela) Dadurch wuumlrden der bdquoDualismus von Geist und Materie Leib und Seeleldquo sowie die bdquoGrenzen der Individualitaumltldquo ndash charakteristisch fuumlr den bdquorein exoterischen Mystizismusldquo des Westens ndash aufgehoben107 Die bdquoTradition der hesychastischen Esoterikldquo sei die

Shekhovtsov bdquoThe Palingenetic Thrust of Russian Neo-Eurasianism Ideas of Rebirth in Aleksandr Duginrsquos Worldviewldquo in Totalitarian Movements and Political Religions 9 (2008) 491ndash506 Mark Sedgwick bdquoOccult Dissident Culture The Case of Aleksandr Du-ginldquo in Birgit Menzel [ua] (Hgg) The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimen-sions MuumlnchenBerlin 2012 273ndash292 Schmid Technologien der Seele 210ndash220

104 Aleksandr Dugin Filosofija tradicionalizma Moskva 2002 Zum Traditionalismus siehe das Standardwerk von Mark Sedgwick Against the Modern World Traditionalism and the Secret Intellectual History of the Twentieth Century OxfordNew York 2004 zu Dugin 221ndash237 Vgl auch Christopher DL Johnson The Globalization of the Jesus Prayer Con-testing Contemplation London New York 2010 70ndash73

105 Aumlhnliche Gedanken entwickelte Pavel Florenskij bereits 19081909 in seinem Vortrag bdquoObščečelovečeskie korni idealizmaldquo in dem er die bdquoEsoterikldquo der Philosophie Platons und seiner Nachfolger in der bdquoallgemeinmenschlichenldquo mystisch-magischen Weltauffas-sung der bdquoVolksseeleldquo wurzeln laumlsst

106 Das Folgende nach Aleksandr Dugin bdquoOboženie preestestvennejšeeldquo in Milyj angel 1 1991 56ndash59

107 Das Konzept der bdquoInitiationldquo und die Unterscheidung von bdquoesoterischldquo und bdquoexoterischldquo sind zentral fuumlr die Anhaumlnger des Traditionalismus siehe Sedgwick Against the Modern World 265 ndash Als Mitglied des okkultistischen und faschistischen Južinskij-Kreises machte Dugin in Moskaus bdquomystischem Untergrundldquo in den 1980er Jahren selbst Entgrenzugser-fahrungen mit Hilfe sexualmagischer Praktiken und bewusstseinserweiternder Drogen Bei einem Teil der orthodoxen Glaumlubigen stoumlszligt seine Esoterik denn auch auf Misstrauen und

30 Michael Hagemeister

bdquoSeele der russischen Orthodoxieldquo und habe in Serafim von Sarov ihren bdquoletzten leuchtendsten Vertreterldquo gefunden

Der Hesychasmus gehoumlre zum traditionellen Erbe von Byzanz das Russ-land angetreten habe als es zum Dritten Rom und zum Zentrum der orthodoxen Welt geworden sei bdquoWir sindldquo so Dugin bdquobyzantinisch in unserer Seele unseren Wurzeln und in unserer Identitaumltldquo108

Unser stabilstes Fundament ist Byzanz [hellip] Russland ist Byzanz [hellip] Unsere For-mel lautet Der Westen ist das Boumlse Byzanz das Gute Alles Schlechte das uumlber Byzanz geschrieben wurde ist eine Luumlge Das sind lediglich Winkelzuumlge im ideolo-gischen Kampf von Seiten des Westens [hellip] Jeder Russe muss wissen Byzanz ist das reine Gute Jeder der etwas anderes behauptet ist ein Feind [hellip] Wer Byzanz kritisiert ist ein Feind des russischen Volkes Das muss unser ehernes Prinzip sein [hellip] Byzanz ist der absolute Orientierungspunkt des russischen Projekts109

Damit sind Russlands Ort und Mission in der bdquohistoriosophischenldquo Deutung des Weltgeschehens bestimmt Nach Dugin wird die Geschichte der Menschheit be-herrscht vom bdquookkulten planetarischen Ringenldquo zweier antagonistischer Maumlchte dem bdquogroszligen Krieg der Kontinenteldquo Land gegen Meer Behemoth gegen Levia-than die organischen bodenstaumlndigen und traditionalistischen bdquoTellurokratienldquo des eurasischen Ostens gegen die wurzel- und seelenlosen materialistischen bdquoTha-lassokratienldquo des angloamerikanischen Westens das apokalyptische Tier aus dem Meer (Offb 13 1-10)110 Die USA als bdquoQuintessenz des Westensldquo und New York als moderne Hure Babylon (Offb 17 und 18) sind das Reich des Antichrist eine chimaumlrisch-antiorganische transplantierte Zivilisation die keine sakrale Tradi-tion besitze ihre Selbsterhebung zu bdquoGottes neuem Israelldquo und bdquoNeuem Zionldquo ndash gemaumlszlig der anglo-amerikanischen Interpretation der Substitutionslehre ndash deutet Dugin als besonders perfiden Taumluschungsversuch des bdquowestlichen Antichristldquo Das Jahr der Entdeckung Amerikas (1492 ist nach der altrussisch-byzantinischen

offene Ablehnung Fuumlr den Sektenexperten des Moskauer Patriarchats ist Dugin ein bdquoge-faumlhrlicher Feindldquo der die bdquoOrthodoxie in Kabbalistik umzuschmelzenldquo versuche Andrej Kuraev Cerkovrsquo v mire ljudej Moskva 2006 142

108 Aleksandr Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Tradition Duginrsquos Guidelineldquo lthttpswwwyoutubecomwatchv=m0RIa61eZDggt

109 Aleksandr Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo in ders Russkaja Veščrsquo Očerki nacionalrsquonoj filosofii Bd 1 Moskva 2001 69ndash76 hier 70ndash72 (Hervorhebungen im Original) Der Be-griff bdquoByzantismusldquo (vizantizm) ndash im Unterschied zum negativ konnotierten bdquoByzantinis-musldquo ndash als Bezeichnung eines dem europaumlischen entgegengesetzten Kulturtypus der auf den Prinzipien von Orthodoxie und Selbstherrschaft beruht geht auf den konservativen Philosophen Konstantin Leontrsquoev (1831ndash1891) und sein Buch Vizantizm i slavjanstvo (1875) zuruumlck

110 Auch fuumlr den von Dugin verehrten Heidegger waren die Seemaumlchte Groszligbritannien und Amerika nicht Teil der abendlaumlndischen Tradition sondern im Gegensatz zum restlichen Europa wurzellos und sinnleer Der Antagonismus von Land und Meer die kategorische Unterscheidung von Freund und Feind sowie das Konzept des Katechon gehen auf Carl Schmitt zuruumlck als dessen Schuumller Dugin sich bezeichnet Siehe auch Fn 41

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 31

Weltaumlra das Jahr 7000 nach dem chiliadischen Weltwochenschema also der sieb-te Tag der Schoumlpfung) verweise ebenso auf den Endzeitcharakter der bdquoNeuen Weltldquo wie die bdquosakrale Geographieldquo nach der das Paradies im Osten die Houmllle aber das bdquoLand des Todesldquo im Westen zu suchen seien111

Dem Antichrist entgegen stehe seit jeher der Katechon dessen bdquoletzter Hortldquo bis ans Ende der Zeit die Heilige Rusrsquo das Dritte Rom sei112 In der petrini-schen Epoche als die Hauptstadt in die bdquonoumlrdlichen Suumlmpfeldquo in die bdquoGespenster-stadtldquo Petersburg verlegt und das Patriarchat abgeschafft wurde haumltten allein die Altglaumlubigen den Geist von Byzanz den Katechon bewahrt zweihundert Jahre lang sei der Weg frei gewesen fuumlr das zerstoumlrerische Wirken des Antichrist Erst die sowjetische Periode habe eine bdquomystische Ruumlckkehr zum Byzantismusldquo be-deutet indem die Bolschewiki das heilige Moskau wieder zur Hauptstadt erklaumlr-ten das Patriarchat wiederherstellten die Ausbeuter als Klasse vernichteten und dem Westen auf allen Gebieten Widerstand boten Im bdquoroten Byzantismusldquo der Dritten Internationale sei der Katechon zuruumlckgekehrt113

Um seine Mission zur Erloumlsung der Menschheit auch kuumlnftig zu erfuumlllen muumlsse das Dritte Rom nach dem Zerfall der Sowjetunion114 nunmehr ein groszligkon-tinentales sakral fundiertes bdquoEurasisches Imperiumldquo errichten gegen den Erz-feind die materialistische universalistische alles nivellierende Zivilisation des Westens als der Verkoumlrperung des bdquoweltweiten Boumlsenldquo (mirovoe zlo) gegen Libe-ralismus Individualismus Globalismus Egalitarismus sowie die bdquomondialisti-scheldquo Konzeption der Menschenrechte115 Verbuumlndete im bevorstehenden apoka-lyptischen bdquoEndkampfldquo (von Dugin stets deutsch geschrieben) werden all jene sein die den Bezug zum bdquoSakralenldquo noch nicht verloren haben russische Altglaumlu-bige ultraorthodoxe antizionistische Juden europaumlische Traditionalisten sowie jene bdquoanti-atlantischenldquo islamistischen Fundamentalisten die in den USA den Dajjacircl den falschen Messias und Antichrist erkennen gegen den die Retter-gestalt des Mahdicirc zu Felde ziehen wird116 111 Aleksandr Dugin Absoljutnaja Rodina Puti Absoljuta Metafizika Blagoj Vesti Misterii

Evrazii Moskva 1999 645ndash670 112 Ebd 378ndash395 493ndash521 113 Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo 74ndash76 Siehe auch ders bdquoKatechon i revoljucijaldquo in ders

Tampliery proletariata Nacional-bolrsquoševizm i iniciacija Moskva 1997 52ndash59 ndash Die mes-sianische Identifizierung des Dritten Rom mit der Dritten Internationale reicht bis ins Gruumlndungsjahr der Komintern (1919) zuruumlck Beide so der slawophile Philosoph und An-haumlnger des imjaslavie Valerian Muravrsquoev (1885ndash1930) in einem Brief vom 6 Januar 1920 an Lev Trockij seien Ausdruck der Suche des russischen Volkes und der Intelligencija nach einem Reich der Wahrheit und Gerechtigkeit Valerian Muravrsquoev Sočinenija Bd 2 Moskva 2011 352f Weitere Belege bei Emanuel Sarkisyanz Russland und der Messianis-mus des Orients Tuumlbingen 1955 196 Mikhail Agursky Third Rome National Bolshevism in the USSR Boulder Co 1987

114 Damals sah ein Journalist bdquoauf den Ruinen des Imperiumsldquo das Dritte Rom in Gefahr zu einem Land der Dritten Welt zu werden Andrej Fadin bdquoTretij Rim v tretrsquoem mire Razmy-šlenija na ruinach imperiildquo in Nezavisimaja gazeta 1291991

115 [Aleksandr Dugin] bdquoLibo-my libo-ničtoldquo in Ėlementy 8 19961997 1ndash4 hier 2 116 [Aleksandr Dugin] bdquoIdeologija Mirovogo Pravitelrsquostvaldquo in Ėlementy 2 1992 1f

32 Michael Hagemeister

Das Dritte Rom als Zentrum des eurasischen bdquoEuro-Sowjetischen Imperiumsldquo Titelbild der von Aleksandr Dugin herausgegebenen Zeitschrift bdquoElemente Eurasische Rundschauldquo (1992) Dugins Werk mit seiner provokanten Mischung esoterischer antimoderner und antiwestlicher Motive findet besonders unter jungen Intellektuellen Anklang und Nachahmer so etwa bei dem promovierten Philosophen und selbstproklamierten bdquoorthodoxen Metaphysikerldquo Arkadij Maler einem vehementen Propagandisten einer bdquopolitischen Orthodoxieldquo (političeskoe Pravoslavie) und fuumlhrenden Ideolo-gen der bdquoneobyzantinischenldquo Doktrin Obwohl sich Maler von Dugin distan-ziert117 beschwoumlrt auch er die eschatologische bdquogeistige Mission des Dritten Romldquo die es von Byzanz geerbt habe und die in seiner bdquozentralen katechontischen Rolleldquo bestehe dem Kampf gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo des bdquogottlosen Wes-tensldquo118 Russische Politik koumlnne deshalb nicht anders als imperial sein und muumlsse ihren Einfluss auf den gesamten Planeten ausdehnen Wie Dugin sieht auch Maler die Bolschewiki in dieser Tradition als sie Moskau zur Hauptstadt des bdquoRoten

117 In den spaumlten 1990er Jahren gehoumlrte Maler der vaumlterlicherseits juumldischer Abstammung ist

zusammen mit Dugin und Ėduard Limonov zur Fuumlhrungsriege der Nationalbolschewisti-schen Partei und schrieb fuumlr die Parteizeitung Limonka sich selbst charakterisierte er als bdquorotbraunen Zionistenldquo Nach seiner Konversion zur Orthodoxie trennte er sich 1999 von Dugin und kritisierte dessen esoterischen Traditionalismus aus einer ultraorthodoxen Posi-tion Dugin wiederum warf Maler vor ihn zu plagiieren

118 Arkadij Maler Duchovnaja missija Tretrsquoego Rima Moskva 2005 bes 134ndash136 170ndash206 Siehe auch ders bdquoIdeologija Vizantizmaldquo in Severnij Katechon 1 (2005) 7ndash49 bdquoNeovi-zantizm kak novyj bolrsquošoj stilrsquoldquo in Aleksej Nilogov (Hg) Kto segodnja delaet filosofiju v Rossii Moskva 2007 110ndash124

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 33

Imperiumsldquo machten und dieses zur bdquoabsoluten Antithese des Westensldquo erklaumlrten zum bdquoTraumlger der planetarischen Mission der Befreiung der Welt aus den sbquoFesseln des Kapitalslsquoldquo119 Das Dritte Rom sei zeitweise in die Dritte Internationale trans-formiert worden ohne jedoch seine Mission als Katechon als aufhaltende Macht gegen das Reich des Boumlsen und Ausgangspunkt zur Errettung der Welt aufzuge-ben Die bdquoletzte Etappeldquo im Kampf gegen den Antichrist werde so Maler der bdquoeschatologische Krieg des Dritten Rom gegen das Dritte Karthagoldquo den bdquoAnti-katechonldquo sein die bdquoanglo-amerikanische [] atlantische Zivilisationldquo120 Zur Propagierung der katechontischen Mission Russlands gruumlndete Maler 1999 am Institut fuumlr Philosophie der Akademie der Wissenschaften in Moskau einen bdquoBy-zantistischen Klub Katechonldquo (Vizantistskij Klub Katechon) und 2005 das bdquoPhi-losophisch-politische Zentrum sbquoNoumlrdlicher Katechonlsquoldquo das einen gleichnamigen Almanach (Severnyj Katechon) herausgibt121

Apokalyptischer Ausblick

Die Formel vom Dritten Rom und die Figur des Katechon des Aufhalters des bdquoweltweiten Boumlsenldquo sind zu Markenzeichen russischer Anti-Westler und Ver-schwoumlrungstheoretiker und ihres schrillen Szenariums eines globalen apokalyp-tischen bdquoEndkampfesldquo gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo geworden122 Unter dem Titel bdquoDie russische Doktrin Die Staatsideologie der Epoche Putinsldquo verfasste in den Jahren 2005 und 2006 ein Kollektiv nationalpatriotischer Autoren ndash unter ih-nen der bdquoByzantistldquo Arkadij Maler ndash ein uumlber 1000 Seiten langes ultrakonservati-ves und antiwestliches Manifest das auch die Unterstuumltzung hoher kirchlicher Wuumlrdentraumlger fand123 In ihrem Entwurf einer bdquoorganischen weltanschaulichen Plattformldquo fuumlr das kuumlnftige Russland behandeln die Autoren ausfuumlhrlich die bdquohis-toriosophischeldquo Konzeption vom Dritten Rom und seine Mission als Katechon gegen das bdquoHeidentumldquo des Westens124 Gefordert wird die positive Identifikation

119 Maler Duchovnaja missija 182f 185 120 Ebd 177 ndash Als Mittel im ideologischen Kampf gegen den saumlkularen Westen fordert Maler

in Analogie zur katholischen Gegenreformation eine orthodoxe konservative bdquoGegenauf-klaumlrungldquo (Kontrprosveščenie) lthttpwwwkatehonruhtmltoppolitologiaideaotkritije _polit_pravoslavijahtmgt

121 Siehe die Website lthttpwwwkatehonrugt 122 Siehe zB Galina A Morozova Tretij Rim protiv novogo mirovogo porjadka Moskva

2009 Die Formel von Dritten Rom hat laumlngst auch Schriftsteller und Maler inspiriert und scheint auch werbewirksam zu sein bdquoDrittes Romldquo nennt sich ein Verlag ein Videospiel eine Bank ein Reisebuumlro und sogar ein Kasino in Jalta Ein Schoumlnheitswettbewerb in Mos-kau vergibt alljaumlhrlich den Titel einer bdquoMiss Drittes Romldquo Judith E Kalb Russiarsquos Rome Imperial Visions Messianic Dreams 1890ndash1940 Madison Wisconsin 2008 198f Zum Katechon siehe Maria Engstroumlm bdquoContemporary Russian Messianism and New Russian Foreign Policyldquo in Contemporary Security Policy 35 (2014) 3 356ndash379

123 Russkaja doktrina Gosudarstvennaja ideologija ėpochi Putina Moskva 2016 124 Ebd 68ndash72 116ndash120 und passim

34 Michael Hagemeister

mit der Geschichte Russlands und seinen Lichtgestalten dem Heiligen Serafim von Sarov dem bdquoeschatologischen Fuumlhrer des russischen Volkes am Ende der Zeitenldquo der bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo und Stalin der dem paulinischen Kate-chon gleich die bdquoGesetzlosigkeitldquo (bezzakonie) bekaumlmpft und das bdquoFundament fuumlr eine groszlige Zukunftldquo gelegt habe125

bdquoKatechonldquo nennt sich auch ein prominent besetzter Think tank den der Oligarch und Berater Putins Konstantin Malofeev im Jahr 2015 gegruumlndet hat126 Der Milliardaumlr der sein Vermoumlgen mit einer Investmentfirma auf den Cayman Inseln gemacht hat bezeichnet sich selbst als bdquoorthodoxen Monarchistenldquo127 Er unterstuumltzt die Separatisten in der Ostukraine und unterhaumllt vielfaumlltige Verbindun-gen zu europaumlischen Rechtspopulisten wie dem Front National der FPOuml Syriza und der Lega Nord Neben dem Forum bdquoKatechonldquo betreibt Malofeev auch einen Fernsehsender mit dem programmatischen Namen bdquoZargradldquo128 (Motto bdquoDas Licht Christi erleuchtet alleldquo) dessen Chefkommentator niemand anderes ist als Aleksandr Dugin129

bdquoKatechonldquo und bdquoZargradldquo propagieren den Kampf gegen die westliche Moderne mit Bezug auf das byzantinische Erbe Russlands Im November 2014 fand in der Moskauer Manege eine Konferenz bdquoMoskau ndash das Dritte Romldquo statt130 An ihr nahmen auszliger Dugin und Malofeev auch Archimandrit Tichon und Nata-lrsquoja Naročnickaja teil eine hochrangige Diplomatin Mitglied des Izborsker Klubs und Leiterin des Pariser bdquoInstituts fuumlr Demokratie und Kooperationldquo das die oumlf-fentliche Meinung im Westen im Sinne des Kremls beeinflussen soll Tichons Film bdquoDie Lehre von Byzanzldquo sei so Naročnickaja auch eine Warnung an den Westen der seine christlichen Werte verraten habe weshalb er den glaubens-festen Migranten und ihrer Verachtung hilflos ausgeliefert sei131

Im Oktober 2009 wurde Tichons Film in Athen vor ausverkauftem Saal aufgefuumlhrt Unter denen die dem Drehbuchautor Beifall spendeten war der Philo-soph und Theologe Christos Yannaras einer der Hauptvertreter der Neoorthodo-xie und scharfer Kritiker des Westens Wie ihre russischen Gesinnungsgenossen

125 Ebd 130f 153 142ndash145 126 Mit einem Auftritt im Internet in 9 Sprachen Siehe die deutsche Version unter lthttp

katehoncomdewer-sind-wirgt 127 lthttpsdewikipediaorgwikiKonstantin_Walerjewitsch_Malofejewgt 128 Carrsquograd ist der altrussische Name fuumlr Konstantinopel 129 Auch Dugin unterhaumllt seit mehr als 25 Jahren Kontakte zu ultrakonservativen traditiona-

listischen und faschistischen Gesinnungsgenossen in Westeuropa Siehe Vladimir Ivanov Alexander Dugin und die rechtsextremen Netzwerke Fakten und Hypothesen zu den inter-nationalen Verflechtungen der russischen Neuen Rechten Stuttgart 2007

130 lthttpwwwpravoslavieru75070htmlgt 131 lthttpwwwpravoslavieru7414htmlgt ndash Fuumlr Metropolit Ilarion (Alfeev) der sich dabei

auf Dugin beruft verwandeln sich die Laumlnder Westeuropas bereits in die bdquoSphaumlre des Anti-christldquo lthttpwwwpatriarchiarudbtext3065216htmlgt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 35

verherrlichen auch die griechischen Neoorthodoxen die byzantinische Vergan-genheit und sehen in der modernen saumlkularen Gesellschaft eine Bedrohung ihrer kulturellen Identitaumlt132 Gemeinsam suchen sie der Globalisierung mit einer bdquoby-zantinischen Internationaleldquo als bdquoorthodoxer Oumlkumeneldquo entgegenzuwirken einer letztlich sakral verstandenen Gemeinschaft deren Einfluss indes weit uumlber die kirchliche Sphaumlre hinausreichen und eine transnationale Vereinigung der ortho-doxen Welt von Serbien uumlber Syrien bis Georgien und Armenien unter Fuumlhrung Moskaus schaffen soll133 Als wichtiger symbolischer Schritt auf diesem Weg wurde der Besuch von Praumlsident Putin und Patriarch Kirill des Heiligen Berges Athos einer traditionellen Hochburg antiwestlicher Opposition im Mai 2016 ge-feiert Das weltliche und das geistliche Oberhaupt Russlands ndash die bdquoSymphonia der Maumlchteldquo ndash zeigten damit so Aleksandr Dugin ihr Bekenntnis zu Byzanz und seiner Rolle als Katechon Damit anerkenne bdquounsere Rusrsquo ihre historische Bestim-mung Wir sind bereit fuumlr die Endzeitldquo134

132 Ausfuumlhrlich dazu Daniel P Payne The Revival of Political Hesychasm in Contemporary

Orthodox Thought The Political Hesychasm of John Romanides and Christos Yannaras Lanham [ua] 2011 Siehe auch Vasilios N Makrides bdquoByzantium in Contemporary Greece The Neo-Orthodox Current of Ideasldquo in David RicksPaul Magdalino (Hgg) Byzantium and the Modern Greek Identity Aldershot 1998 141ndash153 Zum griechischen Neobyzantismus unter russischem Einfluss Aleksey Kamenskikh bdquoThe Image of the Second Rome through the Prism of the Thirdrdquo in Teresa Obolevich [ua] (Hgg) Russian Thought in Europe Reception Polemics Development Krakoacutew 2013 13ndash22 ndash Antimo-derne und antiwestliche Stroumlmungen in den vom orthodoxen Christentum gepraumlgten Kultu-ren haben der Religionswissenschaftler Makrides und der Slavist Uffelmann vor einigen Jahren als Desiderat der Forschung benannt Vasilios N MakridesDirk Uffelmann bdquoStudying Eastern Orthodox Anti-Westernism The Need for a Comparative Research Agendaldquo in Jonathan SuttonWil van den Bercken (Hgg) Orthodox Christianity and Contemporary Europe Leuven [ua] 2003 87ndash120 Seitdem haben Makrides und die Politikwissenschaftlerin Stoumlckl eine Reihe einschlaumlgiger Arbeiten vorgelegt in denen or-thodoxe Alternativen zu westlichen philosophischen und politischen Konzepten untersucht werden Vasilios N Makrides bdquoOrthodoxes Cristentum und Moderne ndash Inkompatibilitaumlt oder langfristige Anpassungldquo in Una Sancta 2011 1 15ndash30 ders bdquoOumlstliches orthodo-xes Christentum und Saumlkularitaumlt Ein Vergleich mit dem lateinischen Christentumldquo in Transit 47 (2015) 59ndash75 Kristina Stoumlckl bdquoModernity and its Critique in Twentieth Cen-tury Russian Orthodox Thoughtldquo in Studies in East European Thought 58 (2006) 243ndash269 dies Community after Totalitarianism The Russian Orthodox Intellectual Tradition and the Philosophical Discourse of Political Modernity Frankfurt aM [ua] 2008

133 Dazu gehoumlrt auch die Verwirklichung des jahrhundertealten Traums der Wiedererrichtung des Kreuzes auf der Hagia Sophia Siehe Egor Cholmogorov Russkij proekt restavracija buduščego Moskva 2005 283 Der Verfasser Mitglied des Expertenteams des Izborsker Klubs ist Begruumlnder der Doktrin der bdquoAtomaren Orthodoxieldquo siehe Fn 74

134 Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Traditionldquo

ZUM AUTOR

Michael Hagemeister geb 1951 in EllwangenJagst Studium der Slavistik Ge-schichte Germanistik und Philosophie in Basel und MarburgLahn Promotion mit einer Arbeit uumlber den russischen Philosophen Nikolaj Fedorov Wissenschaft-licher Mitarbeiter am Slawischen Seminar in Marburg Gastprofessor am Seminar fuumlr Komparatistik der Universitaumlt Innsbruck Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lotman-Institut fuumlr russische und sowjetische Kultur der Ruhr-Universitaumlt Bo-chum am Lehrstuhl fuumlr Geschichte Osteuropas der Europa-Universitaumlt Viadrina Frankfurt (Oder) an den Historischen Seminaren der Universitaumlten Basel Duumlssel-dorf und Bochum Vertretung der Professuren fuumlr Geschichte Osteuropas an der Ludwig-Maximilians Universitaumlt Muumlnchen und an der Europa-Universitaumlt Frank-furt (Oder)

Forschungen zur russischen Philosophie und Geistesgeschichte zum utopischen und apokalyptischen Denken in Russland zum russischen Rechtsextremismus und Antisemitismus sowie insbesondere zu den Protokollen der Weisen von Zion und ihrem Herausgeber Sergej Nilus Publikationen ua Die Neue Menschheit Biopolitische Utopien in Russland (hg mit Boris Groys) Frankfurt aM 2005 The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimensions (hg mit Birgit Menzel und Bernice Rosenthal) Muumlnchen 2012 Die Fiktion von der juumldischen Weltver-schwoumlrung Zu Text und Kontext der bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo (hg mit Eva Horn) Goumlttingen 2012 Die bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo vor Gericht Der Berner Prozess und die bdquoantisemitische Internationaleldquo in der Zwischen-kriegszeit Chronik Dokumente und Kommentare Zuumlrich (im Druck)

ERFURTER VORTRAumlGE ZUR KULTURGESCHICHTE DES ORTHODOXEN CHRISTENTUMS Reihenherausgeber Vasilios N Makrides

Heft 1 Thomas Bremer Konfrontation statt Oumlkumene Zur kirchlichen Situation in der Ukraine Erfurt 2001

Heft 2 Gerhard Podskalsky Zur Hermeneutik des theologischen Ost-West-

Gespraumlchs in historischer Perspektive Erfurt 2002 Heft 3 Karl Christian Felmy Warum und zu welchem Behufe treiben wir

Ostkirchenkunde Erfurt 2003 Heft 4 Wassilios Klein bdquoTatarenjoch ndash татарское игоldquo Beobachtungen zur

Wahrnehmung des Islam im eurasischen Raum Erfurt 2005 Heft 5 Stamatios D Gerogiorgakis Zeitphilosophie im Mittelalter Byzantinische

und lateinische Vorstellungen Erfurt 2006 Heft 6 Heinz Ohme Das Oumlkumenische Patriarchat von Konstantinopel und die

tuumlrkische Religionspolitik Erfurt 2007 Heft 7 Alexander Agadjanian Russian Orthodox Vision of Human Rights Recent

Documents and Their Significance Erfurt 2008 Heft 8 Christos Yannaras Wem gehoumlrt die griechische Antike Erfurt 2009 Heft 9 Joachim Willems Religions- und Ethikunterricht in Russland ndash Was

wollen Staat und Kirche Zur Einfuumlhrung des neuen Schulfaches bdquoGrundlagen der religioumlsen Kulturen und der weltlichen Ethikldquo Erfurt 2010

Heft 10 Chris Hann Eastern Christianity and Western Social Theory Erfurt 2011 Heft 11 Jennifer Wasmuth Akademische Theologie im zaristischen Russland in

ihrer Bedeutung fuumlr die neuere orthodoxe Theologie Erfurt 2012 Heft 12 Anna Briskina-Muumlller Auf der Suche nach der bdquoHesychialdquo Paisij

Veličkovskij (1722ndash1794) und sein Leben fuumlr die bdquoPhilokalieldquo Erfurt 2014

Heft 13 Vladimir Cvetković From ldquoMerciful Angelrdquo to ldquoFortress Europerdquo The

Perception of Europe and the West in Contemporary Serbian Orthodoxy Erfurt 2015

Heft 14 Stefan G Reichelt Lebenslinien Nikolaj A Berdjaev (1874ndash1948) und Sergij N Bulgakov (1871ndash1944) im Westen ndash Eine Wuumlrdigung Erfurt 2015

Heft 15 Michael Hagemeister Der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo ndash bdquoNeobyzantismusldquo

und bdquopolitischer Hesychasmusldquo im postsowjetischen Russland Erfurt 2016

Alle Hefte der vorliegenden Schriftenreihe koumlnnen unter folgendem Link kostenlos heruntergeladen werden URL httpswwwuni-erfurtdereligionswissenschaftprofessur-orthodoxes-christentumveroeffentlichungenerfurter-vortraege-zur-kulturgeschichte-des-orthodoxen-christentums

Page 17: Michael Hagemeister FINAL - uni-erfurt.de · doziert Tichon, während er das antike Kons tantinopel computeranimiert auferste- hen lässt. Das prosperierende Impe rium erregte freilich

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 17

eine individuelle psychosomatische Gebets- und Meditationstechnik des byzanti-nischen und slavischen Moumlnchtums deren Anfaumlnge bis auf die Wuumlstenvaumlter zu-ruumlckreichen Durch die unablaumlssige konzentrierte Wiederholung des sogenannten bdquoJesusgebetsldquo ndash der Anrufung des rettenden Namens Jesu Christi ndash im Rhythmus des Herzschlags (deshalb auch bdquoHerzensgebetldquo) eine Uumlbung die als bdquogeistiges Tunldquo (πρᾶξις νοερά russ umnoe delanie) bezeichnet wird kann der Asket der die innere Ruhe (ἡσυχία) und Leidenschaftslosigkeit (ἀπάθεια) erreicht hat zur ekstatischen Schau (θεωρία) der Herrlichkeit Gottes in Lichtvisionen gelangen51

Die mit dem bdquoJesusgebetldquo verbundenen mystischen Erfahrungen fuumlhrten im 14 Jahrhundert zu einer hochspekulativen theologischen Deutung und Systemati-sierung durch den Athosmoumlnch (spaumlter Erzbischof von Thessalonike) Gregorios Palamas (129697minus1359) und seine Anhaumlnger im sogenannten bdquoHesychasmus-streitldquo Dabei ging es ndash stark vereinfacht ndash um die Frage inwiefern bestimmte sinnliche Erfahrungen beim Gebet wie das Schauen von Licht aber auch die Empfindung von Waumlrme und Wohlgeruch als Begegnung mit der Realitaumlt Gottes aufzufassen seien (und nicht als Pseudovisionen also als Einbildungen oder gar Inspirationen daumlmonischer Maumlchte) Dahinter steht das alte theologische Problem der Erkennbarkeit oder sinnlichen Erfahrbarkeit Gottes der Kommunikation zwi-schen Immanenz und Transzendenz aber auch der Gefahr der Verfuumlgung uumlber das Goumlttliche (extrem im Gotteszwang durch Beschwoumlrung)

Palamas loumlst die Frage indem er in Anlehnung an neuplatonische Vorstel-lungen das unzugaumlngliche ewige bdquoWesenldquo (οὐσία) Gottes von seiner in der ge-schaffenen Welt d h in Raum und Zeit mitteilbaren ungeschaffenen bdquoWirkkraftldquo oder bdquoEnergieldquo (ἐνέργεια) unterscheidet nicht aber trennt52 Diese Energien bdquodie der dreieinige Gott ausstrahlt und die zu seinem Wesen gehoumlren wie die Strahlen zur Sonne oder das Kraftfeld zum Magnetenldquo53 kann der Asket der den Stufen-prozess von bdquoReinigungldquo (κάθαρσις) bdquoErleuchtungldquo (φωτισμός) und bdquoVergoumlttli-chungldquo (θέωσις) durchlaumluft durch die Gnade Gottes sinnlich erfahren Als houmlch-stes mystisches Erlebnis im Zusammenwirken (συνεργία) aller menschlichen En-ergien mit der goumlttlichen Energie gilt die Schau des ungeschaffenen Lichtes wie sie den Juumlngern Jesu bei dessen Verklaumlrung auf dem Berg Tabor (μεταμόρφωσις

51 Ich folge hier zum Teil meinen Ausfuumlhrungen in Michael Hagemeister bdquoImjaslavie ndash imja-

dejstvie Namensmystik und Namensmagie in Russland (1900ndash1930)ldquo in Tatjana Petzer [ua] (Hgg) Namen Benennung ndash Verehrung ndash Wirkung Positionen der europaumlischen Moderne Berlin 2009 77ndash98 hier 79ndash81 88ndash90 Zum Hesychasmus liegt eine umfangrei-che Literatur vor Das Nachschlagewerk von Sergej Choružij (Hg) Isichazm annotiro-vannaja bibliografija Moskva 2004 umfasst mehr als 10000 Titel in 20 Sprachen

52 Die Unterscheidung von Gottes unerkennbarem Wesen und seinen wahrnehmbaren Wirk-kraumlften reicht bis auf Philon von Alexandria (gest ca 40 n Chr) zuruumlck Siehe Fairy v Lilienfeld bdquoHesychasmusldquo in Theologische Realenzyklopaumldie Bd 15 BerlinNew York 1986 282ndash289 ndash bdquoEnergieldquo ist Synonym fuumlr jeden bdquoAustrittldquo Gottes aus seinem Wesen Die bdquoSaumlttigungldquo mit goumlttlicher Energie erklaumlrt beispielsweise auch die gnadenreiche Heil-wirkung die von den Gebeinen der Heiligen selbst nach deren Tod ausgeht

53 Ebd 284

18 Michael Hagemeister

τοῦ Χριστοῦ Mt 171minus13) zuteil geworden war54 Fuumlr den endzeitlich gestimm-ten Palamas war diese Schau eine Vorwegnahme der Parusie der Vereinigung des Geschaffenen und des Ungeschaffenen und des kuumlnftigen Reiches Gottes somit bdquorealisierte Eschatologieldquo55

Der Glaube an die Wahrnehmbarkeit des ungeschaffenen ewigen Lichtes als Ausfluss der Energien Gottes stieszlig jedoch auf Widerspruch Palamasrsquo promi-nentester Gegner war der aus Kalabrien stammende Moumlnch Barlaam (ca 1290ndash1348) der in der Tradition der abendlaumlndischen rationalistischen Scholastik die Unterscheidung des transzendenten unzugaumlnglichen Wesens Gottes und der da-von untrennbaren Energien die aber ad extra wirken und sich dem Menschen mitteilen als haumlretisch verwarf und auf der absoluten Unerkennbarkeit Gottes be-stand Rom lehnte denn auch die Energienlehre des Palamas aufs schaumlrfste ab Dagegen erkannte die byzantinische Kirche sie 1341 und 1351 als Dogma an Seitdem gilt der palamitische Hesychasmus als ein Spezifikum der Orthodoxie und dient gerade heute wieder der polemischen Abgrenzung gegenuumlber dem Wes-ten56

Fuumlr die bereits genannten Philosophen Pavel Florenskij und Aleksej Losev charakterisiert das Bekenntnis zum Hesychasmus den Kulturtypus des christli-chen Mittelalters der sich in idealer Weise in Byzanz und in der Moskauer Rusrsquo ausgepraumlgt habe und in diametralem Gegensatz zur sogenannten bdquoRenaissance-Kulturldquo des Westens stehe Merkmale jener integralen Kultur des christlichen Ostens seien Gemeinschaftlichkeit (sobornostrsquo) Geistigkeit (duchovnostrsquo) Ob-jektivitaumlt Konkretheit Ganzheit (celrsquonostrsquo) und Ganzheitlichkeit (celostnostrsquo) synthetische Schau und Realismus57 waumlhrend die westliche Moderne seit der Re-naissance gepraumlgt sei durch Subjektivismus Relativismus szientifische Ratio-nalitaumlt (bdquoEntzauberung der Weltldquo) Materialismus Liberalismus Individualismus

54 Siehe Sergej Choružij bdquoSvet Plotinov i svet Favora mistika sveta v neoplatonizme i isi-

chazmeldquo in Aleksej Lidov (Hg) Ierotopija Ognja i Sveta v kulrsquoture vizantijskogo mira Moskva 2013 37ndash44 Zur Terminologie des Hesychasmus ders bdquoAnalitičeskij slovarʼ isi-chastskoj antropologiildquo in ders K fenomenologii askezy Moskva 1998 22ndash186

55 Peter Kawerau Das Christentum des Ostens Stuttgart [ua] 1972 131 56 Siehe zB die Arbeiten des Moskauer Theologen Igorʼ Ėkonomcev (Archimandrit Ioann)

bes bdquoIsichazm i vostočnoevropejskoe Vozroždenieldquo in Bogoslovskie trudy 29 (1989) 167ndash196 erweiterte Fassung bdquoDer Hesychasmus und die Renaissance in Osteuropaldquo in Karl Christian Felmy (Hg) Tausend Jahre Christentum in Russland Zum Millennium der Taufe der Kiever Rusrsquo Goumlttingen 1988 731ndash771 ndash Im 19 Jahrhundert erlebte der Hesy-chasmus im Zuge der Wiederbelebung mystischer Froumlmmigkeit durch Paisij Veličkovskij (1722ndash1794) eine Bluumlte im russischen Starzentum Dabei handelt es sich auch ndash aumlhnlich wie beim Pietismus ndash um eine Reaktion auf die Einfluumlsse der westlichen Aufklaumlrung Siehe die Beitraumlge in Adalberto Mainardi (Hg) Paisij lo starec Atti del III Convegno ecumenico internazionale di spiritualitagrave russa Bose 20ndash23 settembre 1995 Magnano 1997

57 Die Uumlberwindung der Trennung des erkennenden Subjekts vom Objekt der Erkenntnis (Descartes Locke Kant) durch das spekulative intuitive Erfassen des Wesens (der Ideen des Absoluten) als des eigentlich Realen hat die russische Philosophie des 20 Jahrhunderts bdquolebendiges Wissenldquo (živoe znanie) bdquoIdeal-Realismusldquo (ideal-realizm) oder bdquointuitiven Realismusldquo (intuitivnyj realizm) genannt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 19

Abstraktheit Zersplitterung und Atomisierung58 Der Sieg des Nominalismus im mittelalterlichen Universalienstreit und die Feier des autonomen Individuums in Renaissance Humanismus und Aufklaumlrung markieren in dieser katastrophischen Perspektive den Zerfall der goumlttlichen Ordnung des Universums und der Sakralitaumlt von Hierarchie und Herrschaft und damit den bdquoSuumlndenfallldquo der abendlaumlndischen Kultur die im Anthropozentrismus der satanischen Hybris einer bdquoSelbstvergot-tungldquo des Menschen (čelovekobožie)59 zugleich gipfele und scheitere60

Am Anfang dieser verhaumlngnisvollen Spaltung standen die Annahme der pa-lamitischen Lehre durch die Ostkirche und die Ablehnung dieser Lehre im Westen durch den bdquoRenaissance-Menschenldquo (vozroždenec) Barlaam den Lehrer Boccac-cios und Petrarcas61 Mit aller Schaumlrfe formulierte Losev diesen Gegensatz bdquo[hellip] entweder ist das Taborlicht untrennbar vom Wesen Gottes und ist deshalb Gott selbst (obwohl Gott selbst nicht [das] Licht ist) ndash dann ist die Orthodoxie gerettet oder das Licht ist vom Wesen Gottes trennbar und darum geschaffen ndash dann be-ginnen die apokalyptischen Kraumlmpfe des Renaissance-Westensldquo62 Indem sie Bar-laam einen bdquozugereisten Kalabrierldquo und seine Anhaumlnger mit dem Bann belegte habe die Orthodoxe Kirche so Losev die damals heraufziehende Renaissance

58 Siehe zB Pavel Florenskij bdquoAvtoreferat (192526)ldquo in Voprosy filosofii 1988 12 113ndash

116 dt Pavel Florenski bdquoAutorreferatldquo in ders Leben und Denken hg von Fritz und Sieglinde Mierau Bd 1 Ostfildern 1995 32ndash38 Aleksej Losev Dialektika mifa (1930) Moskva 2001 137ndash138 dt Die Dialektik des Mythos Hamburg 1994 109 ndash Die wertende Entgegensetzung von mittelalterlicher und Renaissance-Kultur (bzw der Typen bdquoobjekti-verldquo und bdquosubjektiverldquo Kulturen) findet sich durchgaumlngig im Werk Florenskijs und Losevs Siehe zuletzt Oksana SedychJulija Grišatova bdquoRusskij Renessans o Renessanseldquo in Vo-prosy filosofii 2015 6 111ndash121

59 bdquoSatan war der erste Revolutionaumlrldquo zitiert Losev einen (apokryphen) Ausspruch des Hl Serafim von Sarov Aleksej Losev bdquoDopolnenie k sbquoDialektike mifalsquo (novyj fragment)ldquo in AF Losev tvorčestvo tradicii interpretacii Moskva 2014 397ndash411 hier 401

60 So degradiere ndash um nur ein Beispiel fuumlr das Scheitern der Renaissance zu geben ndash das heliozentrische Weltbild eines Kopernikus und Giordano Bruno den Menschen zum Be-wohner eines bdquonichtigen Sandkornsldquo im unendlichen Weltraum SedychGrišatova bdquoRuss-kij Renessansldquo 114 Florenskij suchte denn auch in seiner Schrift Mnimosti v geometrii (1922) das geozentrische Weltbild des Mittelalters zu rehabilitieren Zum griechisch-or-thodoxen Antikopernikanismus Vasilios Makrides Die religioumlse Kritik am kopernikani-schen Weltbild in Griechenland zwischen 1794 und 1821 Aspekte griechisch-orthodoxer Apologetik angesichts naturwissenschaftlicher Fortschritte Frankfurt aM [ua] 1995

61 Mitunter wurde Barlaam sogar als Agent einer groszligangelegten antiorthodoxen Verschwouml-rung des bdquoPapismusldquo denunziert Siehe Ėkonomcev bdquoIsichazmldquo 59 vgl ders bdquoDer Hesy-chasmusldquo 736 ndash Eine Kontrastierung des weltlichen Humanisten Petrarca und des Hesy-chasten Palamas unternahm Losevs Schuumller und Sekretaumlr Vladimir Bibichin lthttpwww philologyruliterature3bibikhin-90htmgt

62 Aleksej Losev Očerki antičnogo simvolizma i mifologii Moskva 1930 856 Auch Ėko-nomcev spricht von den bdquoschreienden Widerspruumlchen und Grimassen der westlichen Re-naissance deren geistiger Vater Barlaam wurdeldquo Ėkonomcev bdquoIsichazmldquo 63 (in der deut-schen Version ist von bdquohimmelschreienden Gegensaumltzenldquo und bdquoscheuszliglichen Grimassenldquo die Rede Ėkonomcev bdquoDer Hesychasmusldquo 746)

20 Michael Hagemeister

insgesamt verdammt (anafematstvovala) der alle westlichen Voumllker verfallen sei-en und wahrscheinlich bis ans Ende ihrer Tage verfallen blieben63

Bis zuletzt verteidigte Losev ein mit Orden des Sowjetstaates ausgezeich-neter Philosoph der 1929 von Archimandrit David (Muchranov 1847ndash1930) ei-nem Fuumlhrer der hesychastischen bdquoNamensverehrerldquo (imjaslavcy)64 heimlich zum Moumlnch geweiht worden war die Lehre des Palamas als einen Grundpfeiler der Orthodoxie65 Gleichzeitig hielt er an seiner schroffen Ablehnung des bdquoRenaissan-ce-Westensldquo fest dessen Geschichte insgesamt nichts anderes sei als bdquoeine libera-le Kritik des Mittelaltersldquo 1978 stellte Losev in seiner umfangreichen Studie zur Aumlsthetik der Renaissance der bdquoganzheitlichen Kulturldquo (celostnaja kulrsquotura) des Mittelalters die zerrissene Kultur der Renaissance gegenuumlber die auf der Verabso-lutierung und bdquotitanischen Verherrlichungldquo des isolierten Subjekts und der bdquoAbge-trenntheit vom lebendigen Seinldquo (otryv ot živogo bytija) beruhe66 In einem Ge-spraumlch mit dem Schriftsteller Viktor Erofeev das 1985 veroumlffentlicht wurde de-nunzierte Losev den Typus des bdquoRenaissance-Menschenldquo der sich selbst vergoumltt-liche und deshalb dem Nihilismus und Satanismus verfalle bdquoIndem die Renais-sance das Subjekt zum Absolutum erhob oumlffnete sie den Weg fuumlr den Triumph des Subjektivismus in den folgenden Jahrhunderten In diesem Sinne stellt der gesamte Westen fuumlr mich eine Sackgasse des Denkens darldquo67 Damit geriet der Philosoph einerseits in scharfen Gegensatz zum sowjetischen Selbstverstaumlndnis das sich als Erbe und Vollender gerade jener bdquoprogressivenldquo Prozesse und huma-nistischen Traditionen sah die von der europaumlischen Renaissance ausgegangen

63 Losev Očerki 849 856 64 Zur Bewegung des imjaslavie die zu Beginn des 20 Jahrhunderts auf dem Athos entstand

und in Florenskij und Losev prominente Unterstuumltzer fand liegt inzwischen eine reiche Literatur vor Siehe die juumlngste Veroumlffentlichung Antoine Niviegravere Les glorificateurs du nom Une querelle theacuteologique parmi les moines russes du mont Athos (1907ndash1914) Genegraveve 2016

65 Siehe Valentina Postovalova bdquoAfonskij spor ob Imeni Božiem v filosofsko-bogoslovskom osmyslenii AF Losevaldquo in AF Losev 95ndash106 bes 105f

66 Aleksej Losev Ėstetika Vozroždenija Moskva 21982 (11978) 45 61 137 und passim Losevs Modernekritik erinnert an Heidegger und dessen Begriff der bdquoSeinsvergessenheitldquo Wie fuumlr Heidegger so war auch fuumlr Losev (und Florenskij) der Agent der verhassten Moder-ne ein bdquorechnendesldquo und bdquowurzellosesldquo mythisches Judentum Zu Losevs metaphysischem Antisemitismus (bdquodas satanische Wesen des Judentumsldquo) siehe zuletzt mit zahlreichen Belegen Natalrsquoja Boneckaja Duch Serebrjanogo veka (fenomenologija ėpochi) Moskva Sankt-Peterburg 2016 688ndash693

67 Aleksej Losev bdquoV poiskach smyslaldquo in Voprosy literatury 1985 10 205ndash231 hier 229 Zu Losevs Kritik der bdquoRenaissance-Kulturldquo des Westens ausfuumlhrlich Annett Jubara Die Philosophie des Mythos von Aleksej Losev im Kontext bdquoRussischer Philosophieldquo Wiesba-den 2000 bes 131ndash154 Siehe auch Naftalij Prat bdquoAleksej Losev und der Totalitarismusldquo in Leonid Luks (Hg) Das Christentum und die totalitaumlren Herausforderungen des 20 Jahrhunderts Koumlln [ua] 2002 103ndash114 bes 108f

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 21

waren (augenfaumlllig etwa in der Architektur der 1930er bis 50er Jahre)68 Anderer-seits erwies sich der orthodoxe Moumlnch damit auch als Apologet des Sowjetregi-mes bedroht die Autonomie des Individuums doch den Wesenskern einer jeden Herrschaft die das Wahrheitsmonopol fuumlr sich beansprucht

Die Ablehnung der modernen bdquokopernikanischen Weltldquo (Hans Blumen-berg) durchzieht das gesamte philosophische Werk Losevs und Florenskijs dazu gehoumlren die Ablehnung des heliozentrischen Weltbildes die Polemik gegen Kants kritischen Idealismus (die bdquokopernikanische Wendeldquo in der Philosophie) die Ab-lehnung der Zentralperspektive in der Kunst die Ablehnung des nominalistischen Rationalismus und schlieszliglich die Ablehnung der saumlkularen und demokratischen Gesellschaftsordnung zugunsten einer bdquoVerkirchlichungldquo (ocerkovlenie) aller Be-reiche der Gesellschaft und des Staates in Gestalt einer theokratischen Synarchie Florenskij der sich als einen mittelalterlichen Menschen charakterisierte69 ndash Ni-kolaj Berdjaev selbst Verkuumlnder eines religioumls-integralen bdquoNeuen Mittelaltersldquo nannte ihn einen bdquoraffinierten Reaktionaumlrldquo ndash70 war uumlberzeugt dass die bdquoentseelte Renaissance-Zivilisationldquo sich erschoumlpft habe und eine neue ganzheitlich-objekti-ve Kultur anbrechen werde71 Vorbild dieser bdquoKultur des anderen Typusldquo werde Russland sein bdquoerste Keimeldquo seien bereits zu erkennen Seine Zeit begriff Floren-skij bdquoan den Wasserscheiden des Denkensldquo und er sah seine Lebensaufgabe darin bdquoWege zu bahnen zu einer kuumlnftigen ganzheitlichen Weltanschauungldquo72

68 Losevs Renaissance-Kritik (va in Ėstetika Vozroždenija) wurde deshalb auch als ver-

schleierte Kritik am Sowjetsystem verstanden Siehe Annett Jubara bdquoAleksej Losevs Philosophie des Mythos als Kritik an der Sowjetischen Moderneldquo in Studies in East Euro-pean Thought 56 (2004) 211ndash224 Aus dem Kreis der Schuumller Losevs gingen seit den 1960er Jahren zahlreiche dissidentische russische Nationalisten hervor Nikolaj Mitrochin Russkaja partija Dviženie russkich nacionalistov v SSSR 1953ndash1985 Moskva 2003 288f Zur Kritik der Renaissance-Zivilisation siehe auch Vladimir Bibichin Novyj renessans Moskva 1998 bes 131ndash155

69 Siehe Florenskij bdquoAvtoreferatldquo Noch im Maumlrz 1933 nach seiner Verhaftung erklaumlrte Flo-renskij gegenuumlber den Ermittlungsbeamten bdquoIch Pavel Aleksandrovič Florenskij [hellip] bin dem Charakter meiner politischen Anschauungen nach ein Romantiker des Mittelalters un-gefaumlhr des 14 Jahrhundertsldquo Vitalij Šentalinskij bdquoUdel veličijaldquo in Ogonek 1990 45 23ndash27 hier 26

70 Nikolaj Berdjaev Samopoznanie (Opyt filosofskoj avtobiografii) Moskva 1991 161 Sie-he Nikolaj Berdjaev Novoe srednevekovrsquoe Berlin 1924 dt Nikolaus Berdjajew Das Neue Mittelalter Darmstadt 1927

71 Siehe Michael Hagemeister bdquoWiederverzauberung der Welt ndash Pavel Florenskijs Neues Mittelalterldquo in Norbert Franz [ua] (Hgg) Pavel Florenskij ndash Tradition und Moderne Beitraumlge zum Internationalen Symposium an der Universitaumlt Potsdam 5 bis 9 April 2000 Frankfurt aM [ua] 2001 21ndash41 Zu Florenskijs Kritik an Renaissance und Humanismus (bdquoder Humanismus entsprang der Kabbalaldquo) siehe auch Ilona Svetlikova bdquoOb ideologii sbquoobratnoj perspektivylsquo Pavla Florenskogoldquo in Russkaja intellektualʼnaja revoljucija 1910ndash1930-ch godov Moskva 2016 123ndash139 zu den Uumlbereinstimmungen mit Heidegger siehe Viktor Arslanov Postmodernizm i russkij bdquotretij putrsquoldquo tertium datur rossijskoj kulrsquotury XX veka Moskva 2007 472ndash499

72 Florenskij bdquoAvtoreferatldquo 114

22 Michael Hagemeister

In juumlngster Zeit hat das wiedererwachte Interesse an der eigenen spirituellen Tradition und ihren byzantinischen Wurzeln ndash oftmals verbunden mit dem Bestre-ben sich vom bdquosaumlkularen Westenldquo und der bdquowestlichen Moderneldquo abzugrenzen ndash zu einer Wiederbelebung des palamitischen Hesychasmus (neopalamizm) und der ndash davon zu unterscheidenden ndash bdquoNamensverehrungldquo (imjaslavie) gefuumlhrt73 Be-reits in den 1970er Jahren war John Meyendorffs klassische Studie St Greacutegoire Palamas et la mystique orthodoxe (Paris 1959) ins Russische uumlbersetzt worden und kursierte in der Sowjetunion in Samizdat-Ausgaben im Milieu religioumls-philo-sophischer Dissidenten Heute wird die Wiederbelebung des Hesychasmus auch durch den patriotischen Kult um Serafim von Sarov (Prochor Mošnin 1759ndash1833) befoumlrdert einen Wundertaumlter und Apokalyptiker der im postsowjetischen Russland zu einem der meistverehrten Heiligen avanciert ist74 In einer in viele Sprachen uumlbersetzten und millionenfach verbreiteten Schrift schildert sein Schuuml-ler Nikolaj Motovilov (1809ndash1879) die Verklaumlrung Serafims im ungeschaffenen Licht des Heiligen Geistes die sich angeblich im November 1831 auf einer einsa-men verschneiten Waldlichtung ereignet hat75

73 Dies gilt nicht nur fuumlr Russland auch auf Vertreter der angelsaumlchsischen bdquoRadical Ortho-

doxyldquo die das Projekt einer von modern-saumlkularem Denken nicht korrumpierten Theologie verfolgen uumlben Hesychasmus und russische Sophiologie starke Faszination aus Siehe die Beitraumlge in Adrian PabstChristoph Schneider (Hgg) Encounter Between Eastern Ortho-doxy and Radical Orthodoxy Transfiguring the World Through the Word Farnham 2009 Zur Wiederbelebung des imjaslavie im post-sowjetischen Russland siehe Scott M Ken-worthy bdquoDebating the Theology of the Name in Post-Soviet Russia Metropolitan Ilarion Alfeev and Sergei Khoruzhiildquo in Katya Tolstaya (Hg) Orthodox Paradoxes Hetero-geneities and Complexities in Contemporary Russian Orthodoxy LeidenBoston 2014 250ndash264 Siehe auch Loren Grahams Bericht uumlber diskrete Zusammenkuumlnfte der imjaslav-cy im Kellergeschoss der Moskauer Tatrsquojana-Kirche in den fruumlhen 2000er Jahren Loren GrahamJean-Michel Kantor Naming Infinity A True Story of Religious Mysticism and Mathematical Creativity Cambridge MassLondon 2009 1ndash5

74 Fuumlr die Anhaumlnger der Doktrin einer bdquoAtomaren Orthodoxieldquo (atomnoe pravoslavie) ist Se-rafim auch der Schutzheilige der russischen Atombombe wurde doch Sarov der Ort seines Wirkens 1946 unter dem Namen Arzamas-16 zur streng geheimen Nuklearstadt in der Wissenschaftler unter ihnen Andrej Sacharov am Bau der sowjetischen Atom- und Was-serstoffbomben arbeiteten Patriotische Russen deuten dies als Zeichen dass bdquoim Hause unseres Vaters Serafimldquo mit dessen Segen der nukleare bdquoSchild zum Schutz der Heimatldquo geschmiedet worden sei Pavel V Florenskij bdquoNeobchodimostrsquo našej atomnoj bombyldquo in Naš sovremennik 1997 4 219ndash221 Bei dem Verfasser handelt es sich um einen Enkel des beruumlhmten Philosophen Siehe auch lthttpsruwikipediaorgwiki Атомное_правосла виеgt

75 Die Schrift deren Authentizitaumlt umstritten ist wurde bekannt unter dem Titel bdquoGespraumlch uumlber das Ziel des christlichen Lebensldquo (Beseda o celi christianskoj žizni) Erstmals veroumlf-fentlicht wurde das bdquoGespraumlchldquo 1903 von Sergej Nilus (1862ndash1929) dem Herausgeber und Kommentator der Protokolle der Weisen von Zion Siehe Michael Hagemeister bdquoIl proble-ma della genesi del sbquoColloquio con Motovilovlsquoldquo in Adalberto Mainardi (Hg) San Sera-fim Da Sarov a Diveevo Atti del IV Convegno ecumenico internazionale di spiritualitagrave russa Bose 18ndash20 settembre 1996 Magnano 1998 157ndash174 Bis heute gibt es keine kriti-sche Ausgabe dieses zentralen Textes russischer Geistigkeit

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 23

Von der Wiederbelebung des Hesychasmus zeugt auch das groszligangelegte Projekt einer bdquosynergetischen Anthropologieldquo (sinergijnaja antropologija) des Mathematikers Physikers und religioumlsen Philosophen Sergej Choružij Prakti-sches Ziel das seit 2005 durch ein eigenes Institut in Moskau verfolgt wird ist die psychosomatisch-holistische Selbsttransformation des Menschen die auf unmittelbarer (mystisch-energetischer) Erfahrung bzw Einwirkung des ontolo-gisch Anderen (Goumlttlichen) beruht sowie die Uumlberwindung der Subjekt-Objekt-Trennung der modernen westlichen Philosophie die Choružij fuumlr den von ihm als krisenhaft und katastrophisch beschriebenen Zustand der westlichen Moderne verantwortlich macht Im Unterschied zu orthodoxen Fundamentalisten und Anti-Westlern sucht Choružij indes die asketischen Praktiken des Hesychasmus mit modernen und postmodernen westlichen Anthropologien (Kierkegaard Scheler Heidegger und insbesondere Foucaults technique oder practique de soi) in Bezie-hung zu setzen76

bdquoPolitischer Hesychasmusldquo

Es duumlrfte deutlich geworden sein dass Hesychasmus nicht nur eine weltabge-wandte mystisch-asketische bdquogeistige Praxisldquo bezeichnet sondern auch als Kampfbegriff gegen die saumlkulare Kultur des bdquoWestensldquo und der bdquowestlichen Mo-derneldquo dient Dies gilt vor allem fuumlr das Konzept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo (političeskij isichazm)

In den russischen Diskurs wurde dieses Konzept um die Mitte der 1960er Jahre von dem Leningrader Mediaumlvisten und Byzantinisten Gelian Prochorov ein-gefuumlhrt77 Seiner Hauptthese zufolge wurde der Hesychasmus nachdem er aus den Klosterzellen herausgetreten war und eine philosophisch-theologische

76 Siehe Sergej Choružij Očerki sinergijnoj antropologii Moskva Inst Sinergijnoj antropo-

logii Inst filosofii teologii i istorii Sv Fomy 2005 ders (Hg) Fonarrsquo Diogena Proekt sinergijnoj antropologii v sovremennom gumanitarnom kontekste Moskva 2010 ders bdquoDie mystische Verwandlung des Menschen Uumlber den Hesychasmus als Raum der Philo-sophieldquo in Fuge Journal fuumlr Religion amp Moderne 7 (2010) 72ndash99 Siehe auch die Web-site lthttpsynergia-isarugt Kristina Stoeckl bdquoA New Anthropology Sergej S Khoru-žijrsquos Search for an alternative to the Cartesian Subject in sbquoOčerki sinergijnoj antropologiilsquoldquo in Studies in East European Thought 59 (2007) 237ndash245

77 Gelian Prochorov bdquoĖtničeskaja integracija v Vostočnoj Evrope v XIV-m veke Ot isichastskich sporov do Kulikovskoj bitvyldquo in Doklady otdelenija ėtnografii 2 (196265) Leningrad 1966 81ndash110 ders bdquoIsichazm i obščestvennaja myslʼ v Vostočnoj Evrope v XIV vldquo in Literaturnye svjazi drevnich slavjan (Trudy otdela drevnerusskoj literatury 23) Leningrad 1968 86ndash108 ders bdquoKulʼturnoe svoeobrazie ėpochi kulikovskoj bitvyldquo in Kulikovskaja bitva i podldquoem nacionalrsquonogo samopoznanija (Trudy otdela drevne-russkoj literatury 34) Leningrad 1979 3ndash17 ndash Prochorov gehoumlrte bereits zu Sowjetzeiten ins Lager der (neo-)slavophilen Anti-Westler er war eng befreundet mit dem bdquoEurasierldquo und Antisemiten Lev Gumilev (1912ndash1992) und uumlbernahm von diesem das Konzept der bdquoEthnogeneseldquo

24 Michael Hagemeister

Grundlegung erfahren hatte am Ende des 14 Jahrhunderts zu einem entscheiden-den politischen und kulturellen Faktor nicht nur in Byzanz sondern in ganz Ost-europa und lieferte unter anderem das ideologische Fundament zur Konsolidie-rung der nachmongolischen Rusʼ Im Streit zwischen dem bdquorationalistischen Hu-manismus und dem kontemplativen Hesychasmus [hellip] entschied Byzanz uumlber sein geistiges Schicksal Das Land blieb bis zuletzt mittelalterlich Den Hesy-chasten gelang es zu Wortfuumlhrern der oumlffentlichen Meinung in Byzanz zu werden die letzte schoumlpferische Synthese seiner traditionellen Kultur zu entwickeln und eine breite kulturelle und gesellschaftliche Bewegung in Gang zu setzen die zu einer Erneuerung des Mittelalters und zu einer Wiederbelebung der Orthodoxie im ganzen oumlstlichen Europa fuumlhrteldquo78

Im Anschluss an das von seinem Lehrer Dmitrij Lichačev entwickelte Kon-zept einer bdquoVorrenaissanceldquo (Predvozroždenie)79 spricht Prochorov von einer bdquovorrenaissancelichen Gegenreformationldquo (predvozroždenčeskaja kontrreforma-cija) und einer bdquoOrthodoxen Renaissanceldquo (Pravoslavnoe Vozroždenie)80 Ge-meint war damit dass die Palamiten (Hesychasten) den Sieg der Barlaamiten ver-hindern konnten und auf die Schriften der antiken Kirchenvaumlter zuruumlckgreifend ein mystisch-kontemplatives Aumlquivalent zum rationalistischen und saumlkularen Hu-manismus geschaffen haumltten Auf diese Weise habe der drohende Uumlbergang der byzantinischen und osteuropaumlischen christlich gepraumlgten Kultur von der bdquoVorre-naissanceldquo zu einer auf heidnisch-antiken Wurzeln beruhenden Renaissance ab-gewendet werden koumlnnen81 Auf die bdquoVorrenaissanceldquo sei ein bdquoNeues Mittelalterldquo gefolgt das in der bdquoHeiligen Rusʼldquo um die Wende zum 15 Jahrhundert seinen Houmlhepunkt erreicht habe Ihm verdanke Russland seine Groumlszlige und die russische Kultur ihre bdquoUniversalitaumltldquo und bdquoGeistigkeitldquo82

Bemerkenswert ist dass der sowjetische Wissenschaftler die beiden ideolo-gischen Lager mit traditionellen (neo-)slavophilen Wertungsoppositionen wie sie bereits bei Florenskij und Losev begegnet sind verbindet und dabei deutlich seine 78 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 4 79 Vor allem in seinem Buch Kulʼtura Rusi vremeni Andreja Rubleva i Epifanija Premudrogo

MoskvaLeningrad 1962 80 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 8 Siehe auch ders Nekogda ne narod a nyne narod

Božijhellip Drevnjaja Rusʼ kak istoriko-kulʼturnyj fenomen Sankt-Peterburg 2010 133ndash157 81 So auch Igorʼ Ėkonomcev bdquoDie osteuropaumlische sbquoVorrenaissancelsquo ist nicht die erste Stufe

zur saumlkularisierten Renaissance vom abendlaumlndischen Typ sondern ihre Antithese Der geistige und kulturelle Aufschwung in Osteuropa war die wahre volle und eindeutige Re-naissance die sich grundlegend von der westlichen Renaissance unterschied Sie haumltte sich niemals in eine Renaissance westlicher Praumlgung verwandeln koumlnnenldquo Ėkonomcev bdquoDer Hesychasmusldquo 764 vgl ders bdquoIsichazmldquo 69 Diese (osteuropaumlische) Renaissance so Ėkonomcev an anderer Stelle sei ungleich bdquoerhabener geistiger und reinerldquo gewesen als bdquodie westeuropaumlische Renaissance mit ihrer krankhaften Disharmonie zwischen Glauben und Vernunft Geist und Leib die trotz allem gespieltem Optimismus ein Gefuumlhl der Aus-weglosigkeit und Verzweiflung hinterlaumlsstldquo Igumen Ioann Ėkonomcev bdquoVizantinizm Kirillo-Mefodievo nasledie i kreščenie Rusildquo in ders Pravoslavie Vizantija Rossija Sbornik statej Moskva 1992 7ndash22 hier 18

82 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 9 15

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 25

Sympathie zeigt Die byzantinischen Humanisten werden von ihm als kalte Ratio-nalisten dargestellt die in der Hoffnung auf militaumlrische Unterstuumltzung durch den katholischen Westen im Kampf gegen die Osmanen bereit gewesen seien den eigenen Glauben zu opfern83 Die Hesychasten hingegen haumltten so Prochorov den Westen realistischer eingeschaumltzt und auf Hilfe von Seiten der orthodoxen Staaten gehofft Im entscheidenden Moment haumltten nicht die bdquoWestler-Huma-nistenldquo (zapadniki-gumanisty) mit ihren bdquokalten Uumlberlegungenldquo (cholodnymi rassuždenijami) beim Volk Gehoumlr gefunden sondern die Hesychasten mit ihren bdquoheiszligen Gebetenldquo (gorjačimi molitvami)84

Mit seiner Apologie eines bdquowiederbelebtenldquo Mittelalters und einer bdquoOrtho-doxen Renaissanceldquo die alle Bereiche des politischen gesellschaftlichen und kul-turellen Lebens gepraumlgt habe und deren Kern der Hesychasmus gewesen sei stieszlig Prochorov bei seinen sowjetischen Kollegen auf Kritik So sah Apollon Kuzmin im Palamismus eine desintegrative Erscheinung weshalb er Prochorovs positive Bewertung der Hesychasten bei der bdquoWiedergeburtldquo der Rusʼ zuruumlckwies85 Aumlhn-lich argumentierte Gennadij Litavrin Die Palamiten seien diejenigen gewesen die eine unrealistische Einschaumltzung der politischen Lage gehabt haumltten Sie haumltten die Bedrohung durch die Tuumlrken nicht erkannt und stattdessen die Illusion verbreitet die Feinde zum Christentum bekehren und zu neuen Untertanen ma-chen zu koumlnnen Der Palamismus sei eine bdquoIdeologie der Demutldquo und habe eine bdquounheilvolle Rolle in der Geschichte des Kampfes gegen die tuumlrkische Aggres-sionldquo gespielt86 Michail Sjuzjumov sprach sogar vom bdquoasozialen Charakter des Palamismusldquo der den aufkommenden humanistischen Tendenzen gegenuumlber feindlich gewesen und zur bdquoIdeologie der Reaktionldquo in Byzanz geworden sei87 Auf Ablehnung stieszlig Prochorov auch im Ausland Valerij Lepachin kritisierte den Begriff bdquopolitischer Hesychasmusldquo als unzulaumlssige Verbindung weltlicher und geistlicher Sphaumlren damit verliere der Hesychasmus seinen wesentlichen Sinn-gehalt88 Fuumlr den in Berkeley lehrenden Philologen Viktor Živov schlieszliglich war

83 Ebd 12 84 Ebd 13 ndash An anderer Stelle betont Prochorov den Gegensatz zwischen den abstrakten

bdquoausgedachtenldquo philosophischen Konstruktionen des europaumlischen Idealismus und der ganzheitlichen kontemplativ-spekulativen Welterfahrung der griechisch-byzantinischen Philosophie Prochorov bdquoĖtničeskaja integracijaldquo 90f An Florenskijs Renaissance-Kritik (etwa in Ikonostas 1922) erinnert auch Prochorovs Verweis auf den euklidischen Raum und den Perspektivismus der humanistischen Weltwahrnehmung mit seiner Illusion der Unendlichkeit Prochorov bdquoIsichazmldquo 94

85 Apollon Kuzmin bdquoCerkovʼ i svetskaja vlastʼ v ėpochu Kulikovskoj bitvyldquo in Voprosy naučnogo ateizma 37 (1988) 90ndash99

86 Gennadij Litavrin bdquoVizantija v period graždanskoj vojny i dviženija Zilotov (1341ndash1355 gg)ldquo in Sergej Skazkin (Hg) Istorija Vizantii Bd 3 Moskva 1967 135ndash160 hier 158

87 Michail Sjuzjumov bdquoFilosofija i bogoslovieldquo in ebd 234ndash256 hier 248f 88 Valerij Lepachin bdquoUmnoe delanie (o soderžanie i granicach ponjatija sbquoisichazmlsquo)ldquo in

Vestnik Russkogo Christianskogo Dviženija 164 1992 5ndash32 hier 23

26 Michael Hagemeister

bdquopolitischer Hesychasmusldquo bdquokonzeptuelles Unkraut [sornjak] das man so schnell wie moumlglich ausrottenldquo solle89

Fast ein halbes Jahrhundert nach ihrer ersten Veroumlffentlichung wurde Pro-chorovs Konzept eines bdquopolitischen Hesychasmusldquo von seinem Schuumller Vladimir Petrunin wieder aufgegriffen und aktualisiert In der 2009 erschienenen Monogra-phie bdquoDer politische Hesychasmus und seine Traditionen in der Sozialkonzeption des Moskauer Patriarchatsldquo90 stellt Petrunin das sogenannte bdquoNichtgehorsamkeits-prinzipldquo (princip nepovinovenija) wie es in den von der Moskauer Bischofssyno-de im August 2000 verabschiedeten bdquoGrundlagen der Sozialkonzeption der Rus-sischen Orthodoxen Kircheldquo formuliert worden ist91 in eine Tradition die er bis auf die bdquopolitischen Hesychastenldquo im Byzanz des 14 und 15 Jahrhunderts zu-ruumlckzufuumlhren sucht Immer wieder zieht Petrunin Parallelen zwischen dem spaumlten Byzanz und dem postsowjetischen Russland Hatten die Byzantiner den Hesy-chasmus als Reaktion auf den Humanismus des Westens hervorgebracht so diene heute die Sozialkonzeption der Abwehr des westlichen Saumlkularismus Liberalis-mus und Kapitalismus Damals wie heute stuumlnden der kirchliche Heilsauftrag und die Verteidigung des Glaubens uumlber den Interessen des Staates selbst ndash wie das Beispiel von Byzanz zeige ndash um den Preis seines Untergangs Ebenso wie die byzantinischen Hesychasten den mit dem Westen kollaborierenden Herrschern die Gefolgschaft im Kampf gegen die Osmanen verweigert haumltten da sie die bdquoReinheit ihres Glaubensldquo eher bdquounter einem tuumlrkischen Turban als unter der lateinischen Tiaraldquo gewahrt sahen92 rufe die Sozialkonzeption die Kirche heute dazu auf der Staatsmacht den Gehorsam zu verweigern sollte diese bdquodie ortho-doxen Glaumlubigen zum Abfall von Christus und Seiner Kirche sowie zu suumlndhaften

89 Viktor Živov bdquoVidenija sveta i problemy russkogo srednevekovogo isichazmaldquo in Lidov

(Hg) Ierotopija 350ndash367 hier 363 359 90 Vladimir Petrunin Političeskij isichazm i ego tradicii v socialʼnoj koncepcii Moskovskogo

Patriarchata Sankt-Peterburg 2009 91 Osnovy socialrsquonoj koncepcii Russkoj Pravoslavnoj Cerkvi III5 lthttpwwwpatriarchia

rudbtext141422htmlgt Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo wird von den meisten Inter-preten als ein bemerkenswertes Umdenken in der Kirchenpolitik angesehen hatte doch die Russische Orthodoxe Kirche unter Patriarch Sergij in einer prekaumlren Lage 1927 Loyalitaumlt gegenuumlber dem Sowjetstaat gefordert Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo war auch eine wichtige Voraussetzung fuumlr die Vereinigung der Auslandskirche mit dem Moskauer Pa-triarchat Zur Sozialkonzeption insgesamt Vasilios N Makrides bdquoDie politische Aufgabe der Kirche Bemerkungen anhand der Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kir-cheldquo in Irene DingelChristiane Tietz (Hgg) Die politische Aufgabe von Religion Per-spektiven der drei monotheistischen Religionen Goumlttingen 2011 219ndash243

92 Petrunin Političeskij isichazm 66f 120 Es handelt sich um eine zeitgenoumlssische Losung Siehe Halina Evert-Kappesowa bdquoLa tiare ou le turbanldquo in Byzantinoslavica 14 (1953) 245ndash257 ndash Auch Aleksandr Nevskij (1220ndash1263) zog eine Verstaumlndigung mit den Mongo-len einer Union mit Rom vor die ihm Papst Innozenz IV im Jahr 1248 angeboten hatte und wandte sich stattdessen gegen die bdquoLateinerldquo Heutige Anti-Westler feiern den Heili-gen der Russischen Orthodoxen Kirche deshalb auch als bdquoersten Eurasierldquo

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 27

und der Seele abtraumlglichen Taten noumltigenldquo93 Die Sozialkonzeption hat fuumlr Petru-nin nur einen moumlglichen Sinn Falls Russlands politische Elite sich weiterhin dem liberalen Wertekanon des Westens verschreibe und Russlands bdquoEigenartldquo (samo-bytnostʼ) als bdquoorthodoxe Zivilisationldquo bestreite94 muumlsse die Kirche ndash wie einst in Byzanz ndash dem Staat die Loyalitaumlt aufkuumlndigen und das Volk zum Widerstand auf-rufen

Es ist ganz offensichtlich dass die Prozesse der Globalisierung und Saumlkularisierung eng miteinander verbunden sind So wie einst die byzantinischen Hesychasten ist heute die Russische Kirche mit der westlichen Zivilisation konfrontiert die nach der Weltherrschaft trachtet war fruumlher der Katholizismus deren Grundlage so ist es jetzt der saumlkulare Humanismus [hellip] Waumlhrend sie [die westliche Welt MH] damals fuumlr die Hesychasten mit Rom gleichgesetzt wurde so verkoumlrpert heute das kosmopolitische New York den Westen Indem sie Liberalismus und Saumlkularisie-rung abwehrt tritt die Kirche auch gegen die politischen und wirtschaftlichen Hegemoniebestrebungen des Westens auf und stellt so ihr Bestreben unter Beweis die zivilisatorische Eigenstaumlndigkeit Russlands wieder herzustellen Wie schon vor 600 Jahren im Byzantinischen Imperium so ist auch heute in Russland allein die Kirche ein ernstzunehmender und gut organisierter Gegner des Westens und seiner saumlkularen Werte [hellip] Sollte Russland weiter den Weg der Saumlkularisierung be-schreiten so koumlnnte damit fuumlr die Kirche der gefaumlhrliche Praumlzedenzfall geschaffen werden in dem sie von ihrem Recht Gebrauch machen muumlsste das Volk zu zivilem Ungehorsam aufzurufen95

In seinem Vorwort nannte Prochorov das Buch seines Schuumllers eine bdquoWarnung an unseren Staat unsere saumlkulare Gesellschaft an uns alleldquo96 Wie das spaumlte Byzanz unter dem bdquoDruck aus dem Westenldquo gestanden habe ndash dem die Herrscher und die bdquoHumanistenldquo schlieszliglich nachgegeben haumltten ndash so laufe auch das postkommu-nistische Russland Gefahr dem bdquoDruck des Liberalismus und der Globalisierungldquo nachzugeben Allein die Orthodoxe Kirche habe sich damals wie heute als bdquoFes-tungldquo erwiesen faumlhig diesem bdquozersetzenden Einflussldquo Widerstand zu leisten97

Petrunins Buch das mit dem Segen von Metropolit Ilarion (Grigorij Al-feev)98 erschienen war stieszlig bei westlichen Forschern auf Skepsis und Ableh-nung So kritisierte Kristina Stoumlckl die unhistorische Interpretation und forcierte Aktualisierung der philosophischen theologischen und politischen Kontroversen des 14 Jahrhunderts sowie die einseitige konservative Interpretation der Sozial-konzeption Hesychasmus werde in dem Kirchendokument ebenso wenig erwaumlhnt

93 Osnovy socialrsquonoj koncepcii 94 Petrunin Političeskij isichazm 81 95 Ebd 122f 96 Ebd 5 97 Ebd 98 Zu jener Zeit Bischof von Wien und Oumlsterreich heute Leiter des Auszligenamtes des Moskau-

er Patriarchats und scharfer Kritiker des bdquomilitanten Saumlkularismusldquo des Westens Siehe auch lthttpazbykaruxristianstvo-pered-vyzovom-voinstvuyushhego-sekulyariz ma-2gt

28 Michael Hagemeister

wie der Untergang von Byzanz99 Klaus Buchenau warf Petrunin vor er bdquoverfor-m[e] und ideologisier[e] die urspruumlnglichen Motive des hesychastischen Moumlnch-tums bis zur Unkenntlichkeitldquo100 Und Viktor Živov der bereits Prochorovs Kon-zept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo als bdquoUnkrautldquo bezeichnet hatte sah in Petru-nins Buch ein Beispiel dafuumlr wie dieses sich bdquospontan und schaumldlichldquo ausbreite Die von Petrunin konstruierte bdquophantastische Genealogie des politischen Hesy-chasmusldquo beruhe so Živov auf einer bdquoMischung aus Einseitigkeit und Unwissen-heitldquo Weder sei der bdquotuumlrkische Turbanldquo fuumlr den Patriarchen attraktiv gewesen noch sei am Widerstand gegen die Union irgendetwas spezifisch bdquoHesychasti-schesldquo Petrunin habe ein bdquoPhantomldquo geschaffen dessen angebliche Verbindung mit der Sozialkonzeption man nicht weiter zu verfolgen brauche101

bdquoNeobyzantismusldquo Das Dritte Rom ndash der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo

Eine eigenwillige Interpretation des Hesychasmus und seine Wendung gegen den Westen stammen von Aleksandr Dugin dem Fuumlhrer der bdquoeurasischenldquo Bewegung und einflussreichsten Vordenker der Neuen Rechten in Russland Der polyglotte und belesene Autodidakt der nie eine akademische Ausbildung genossen hat war Gruumlnder der Partei der Nationalbolschewisten Berater des Vorsitzenden der Du-ma und des Generalstabs sowie von 2008 bis 2014 Professor fuumlr Soziologie an der renommierten Moskauer Lomonosov-Universitaumlt und Direktor des dortigen bdquoZentrums fuumlr Konservatismusstudienldquo Seit Anfang der 1990er Jahre verbreitet er mit graphomanem Eifer seine politischen und bdquometaphysischenldquo Botschaften in einer inzwischen kaum noch uumlberschaubaren Zahl von Publikationen102 und Web-Artikeln in mehreren Sprachen sowie durch spektakulaumlre Auftritte in staats-nahen Medien103 99 Kristina Stoumlckl bdquoPolitical Hesychasm Vladimir Petruninrsquos Neo-Byzantine Interpretation

of the Social Doctrine of the Russian Orthodox Churchldquo in Studies in East European Thought 62 (2010) 125ndash133

100 Klaus Buchenau Auf russischen Spuren Orthodoxe Antiwestler in Serbien 1850ndash1945 Wiesbaden 2011 480 Anm 2

101 Živov bdquoVidenija svetaldquo 364f ndash Von der Kritik offenbar unbeeindruckt verschaumlrfte Petru-nin noch seine Position So sprach er 2012 in einem Vortrag uumlber die gesellschaftliche und politische Wirkung der hesychastischen Gebetspraxis Nach dem Fall von Byzanz sei das bdquoJesusgebet faktisch zu einem sbquopolitischen Gebetlsquoldquo geworden das auf die bdquoVerwandlung [preobraženie] der orthodoxen Oumlkumeneldquo ausgerichtet gewesen sei und das bdquoPhaumlnomen der Heiligen Rusrsquoldquo hervorgebracht habe lthttpsynergia-isarup=8604gt

102 Zuletzt in der bislang fuumlnf Baumlnde umfassenden Reihe bdquoNoomachijaldquo (2014ndash2015) einer hochambitioumlsen letztlich aber manichaumlisch-schematischen Beschreibung der bdquoSuche nach dem Logosldquo in den ndash von Dugin essenzialistisch aufgefassten ndash bdquoWeltkulturenldquo

103 Auch die Literatur zu Dugin ist kaum noch uumlberschaubar Siehe zB Alexander Houmlllwerth Das sakrale eurasische Imperium des Aleksandr Dugin Eine Diskursanalyse zum post-sowjetischen russischen Rechtsextremismus Stuttgart 2007 Stefan Wiederkehr Die eurasische Bewegung Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwi-schenkriegszeit und im postsowjetischen Russland Koumlln [ua] 2007 227ndash261 Anton

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 29

Dugin deutet den Hesychasmus im Rahmen des sogenannten bdquointegralen Traditionalismusldquo einer antimodernen Denkrichtung die im ersten Drittel des 20 Jahrhunderts in Frankreich und Italien entstand und in Reneacute Gueacutenon (1886ndash1951) und Julius Evola (1898ndash1974) ihre bekanntesten (und auch fuumlr Dugin wichtigsten) Vertreter hat104 Ihre Lehre besagt dass alle Religionen ungeachtet ihrer histori-schen und regionalen Auspraumlgungen in ihrem esoterischen nur dem Eingeweih-ten zugaumlnglichen Kern eine gemeinsame urspruumlngliche Wahrheit teilen und als philosophia perennis tradieren das Wissen um die Goumlttlichkeit und den Zugang zu ihr Dieses sakrale und initiatorische Wissen sei im Verlauf der westlichen Mo-derne insbesondere durch die Aufklaumlrung verlorengegangen in traditionellen Gesellschaften (China Indien islamische Welt) jedoch bewahrt geblieben105

Auch die Orthodoxie so Dugin habe im Gegensatz zu Katholizismus und Protestantismus bdquodie Treue zum esoterischen Kernldquo bewahrt naumlmlich in ihrer mystischen Unterstroumlmung dem Hesychasmus106 In der Kanonisierung des Gre-gorios Palamas durch die Ostkirche bei gleichzeitiger Verdammung des Humanis-ten Barlaam sieht Dugin das Bekenntnis zum bdquognostisch-realistischen Geist der orthodoxen Esoterikldquo Ganz im Sinn des Traditionalismus deutet er die psycho-physische Uumlbung der Hesychasten das bdquogeistige Tunldquo als Verfahren der bdquoInitia-tionldquo und das Endziel der bdquoVerklaumlrungldquo und bdquoVergoumlttlichungldquo als bdquoalchemistische Verwandlung des Leibesldquo (alchimičeskoe preobraženie tela) Dadurch wuumlrden der bdquoDualismus von Geist und Materie Leib und Seeleldquo sowie die bdquoGrenzen der Individualitaumltldquo ndash charakteristisch fuumlr den bdquorein exoterischen Mystizismusldquo des Westens ndash aufgehoben107 Die bdquoTradition der hesychastischen Esoterikldquo sei die

Shekhovtsov bdquoThe Palingenetic Thrust of Russian Neo-Eurasianism Ideas of Rebirth in Aleksandr Duginrsquos Worldviewldquo in Totalitarian Movements and Political Religions 9 (2008) 491ndash506 Mark Sedgwick bdquoOccult Dissident Culture The Case of Aleksandr Du-ginldquo in Birgit Menzel [ua] (Hgg) The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimen-sions MuumlnchenBerlin 2012 273ndash292 Schmid Technologien der Seele 210ndash220

104 Aleksandr Dugin Filosofija tradicionalizma Moskva 2002 Zum Traditionalismus siehe das Standardwerk von Mark Sedgwick Against the Modern World Traditionalism and the Secret Intellectual History of the Twentieth Century OxfordNew York 2004 zu Dugin 221ndash237 Vgl auch Christopher DL Johnson The Globalization of the Jesus Prayer Con-testing Contemplation London New York 2010 70ndash73

105 Aumlhnliche Gedanken entwickelte Pavel Florenskij bereits 19081909 in seinem Vortrag bdquoObščečelovečeskie korni idealizmaldquo in dem er die bdquoEsoterikldquo der Philosophie Platons und seiner Nachfolger in der bdquoallgemeinmenschlichenldquo mystisch-magischen Weltauffas-sung der bdquoVolksseeleldquo wurzeln laumlsst

106 Das Folgende nach Aleksandr Dugin bdquoOboženie preestestvennejšeeldquo in Milyj angel 1 1991 56ndash59

107 Das Konzept der bdquoInitiationldquo und die Unterscheidung von bdquoesoterischldquo und bdquoexoterischldquo sind zentral fuumlr die Anhaumlnger des Traditionalismus siehe Sedgwick Against the Modern World 265 ndash Als Mitglied des okkultistischen und faschistischen Južinskij-Kreises machte Dugin in Moskaus bdquomystischem Untergrundldquo in den 1980er Jahren selbst Entgrenzugser-fahrungen mit Hilfe sexualmagischer Praktiken und bewusstseinserweiternder Drogen Bei einem Teil der orthodoxen Glaumlubigen stoumlszligt seine Esoterik denn auch auf Misstrauen und

30 Michael Hagemeister

bdquoSeele der russischen Orthodoxieldquo und habe in Serafim von Sarov ihren bdquoletzten leuchtendsten Vertreterldquo gefunden

Der Hesychasmus gehoumlre zum traditionellen Erbe von Byzanz das Russ-land angetreten habe als es zum Dritten Rom und zum Zentrum der orthodoxen Welt geworden sei bdquoWir sindldquo so Dugin bdquobyzantinisch in unserer Seele unseren Wurzeln und in unserer Identitaumltldquo108

Unser stabilstes Fundament ist Byzanz [hellip] Russland ist Byzanz [hellip] Unsere For-mel lautet Der Westen ist das Boumlse Byzanz das Gute Alles Schlechte das uumlber Byzanz geschrieben wurde ist eine Luumlge Das sind lediglich Winkelzuumlge im ideolo-gischen Kampf von Seiten des Westens [hellip] Jeder Russe muss wissen Byzanz ist das reine Gute Jeder der etwas anderes behauptet ist ein Feind [hellip] Wer Byzanz kritisiert ist ein Feind des russischen Volkes Das muss unser ehernes Prinzip sein [hellip] Byzanz ist der absolute Orientierungspunkt des russischen Projekts109

Damit sind Russlands Ort und Mission in der bdquohistoriosophischenldquo Deutung des Weltgeschehens bestimmt Nach Dugin wird die Geschichte der Menschheit be-herrscht vom bdquookkulten planetarischen Ringenldquo zweier antagonistischer Maumlchte dem bdquogroszligen Krieg der Kontinenteldquo Land gegen Meer Behemoth gegen Levia-than die organischen bodenstaumlndigen und traditionalistischen bdquoTellurokratienldquo des eurasischen Ostens gegen die wurzel- und seelenlosen materialistischen bdquoTha-lassokratienldquo des angloamerikanischen Westens das apokalyptische Tier aus dem Meer (Offb 13 1-10)110 Die USA als bdquoQuintessenz des Westensldquo und New York als moderne Hure Babylon (Offb 17 und 18) sind das Reich des Antichrist eine chimaumlrisch-antiorganische transplantierte Zivilisation die keine sakrale Tradi-tion besitze ihre Selbsterhebung zu bdquoGottes neuem Israelldquo und bdquoNeuem Zionldquo ndash gemaumlszlig der anglo-amerikanischen Interpretation der Substitutionslehre ndash deutet Dugin als besonders perfiden Taumluschungsversuch des bdquowestlichen Antichristldquo Das Jahr der Entdeckung Amerikas (1492 ist nach der altrussisch-byzantinischen

offene Ablehnung Fuumlr den Sektenexperten des Moskauer Patriarchats ist Dugin ein bdquoge-faumlhrlicher Feindldquo der die bdquoOrthodoxie in Kabbalistik umzuschmelzenldquo versuche Andrej Kuraev Cerkovrsquo v mire ljudej Moskva 2006 142

108 Aleksandr Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Tradition Duginrsquos Guidelineldquo lthttpswwwyoutubecomwatchv=m0RIa61eZDggt

109 Aleksandr Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo in ders Russkaja Veščrsquo Očerki nacionalrsquonoj filosofii Bd 1 Moskva 2001 69ndash76 hier 70ndash72 (Hervorhebungen im Original) Der Be-griff bdquoByzantismusldquo (vizantizm) ndash im Unterschied zum negativ konnotierten bdquoByzantinis-musldquo ndash als Bezeichnung eines dem europaumlischen entgegengesetzten Kulturtypus der auf den Prinzipien von Orthodoxie und Selbstherrschaft beruht geht auf den konservativen Philosophen Konstantin Leontrsquoev (1831ndash1891) und sein Buch Vizantizm i slavjanstvo (1875) zuruumlck

110 Auch fuumlr den von Dugin verehrten Heidegger waren die Seemaumlchte Groszligbritannien und Amerika nicht Teil der abendlaumlndischen Tradition sondern im Gegensatz zum restlichen Europa wurzellos und sinnleer Der Antagonismus von Land und Meer die kategorische Unterscheidung von Freund und Feind sowie das Konzept des Katechon gehen auf Carl Schmitt zuruumlck als dessen Schuumller Dugin sich bezeichnet Siehe auch Fn 41

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 31

Weltaumlra das Jahr 7000 nach dem chiliadischen Weltwochenschema also der sieb-te Tag der Schoumlpfung) verweise ebenso auf den Endzeitcharakter der bdquoNeuen Weltldquo wie die bdquosakrale Geographieldquo nach der das Paradies im Osten die Houmllle aber das bdquoLand des Todesldquo im Westen zu suchen seien111

Dem Antichrist entgegen stehe seit jeher der Katechon dessen bdquoletzter Hortldquo bis ans Ende der Zeit die Heilige Rusrsquo das Dritte Rom sei112 In der petrini-schen Epoche als die Hauptstadt in die bdquonoumlrdlichen Suumlmpfeldquo in die bdquoGespenster-stadtldquo Petersburg verlegt und das Patriarchat abgeschafft wurde haumltten allein die Altglaumlubigen den Geist von Byzanz den Katechon bewahrt zweihundert Jahre lang sei der Weg frei gewesen fuumlr das zerstoumlrerische Wirken des Antichrist Erst die sowjetische Periode habe eine bdquomystische Ruumlckkehr zum Byzantismusldquo be-deutet indem die Bolschewiki das heilige Moskau wieder zur Hauptstadt erklaumlr-ten das Patriarchat wiederherstellten die Ausbeuter als Klasse vernichteten und dem Westen auf allen Gebieten Widerstand boten Im bdquoroten Byzantismusldquo der Dritten Internationale sei der Katechon zuruumlckgekehrt113

Um seine Mission zur Erloumlsung der Menschheit auch kuumlnftig zu erfuumlllen muumlsse das Dritte Rom nach dem Zerfall der Sowjetunion114 nunmehr ein groszligkon-tinentales sakral fundiertes bdquoEurasisches Imperiumldquo errichten gegen den Erz-feind die materialistische universalistische alles nivellierende Zivilisation des Westens als der Verkoumlrperung des bdquoweltweiten Boumlsenldquo (mirovoe zlo) gegen Libe-ralismus Individualismus Globalismus Egalitarismus sowie die bdquomondialisti-scheldquo Konzeption der Menschenrechte115 Verbuumlndete im bevorstehenden apoka-lyptischen bdquoEndkampfldquo (von Dugin stets deutsch geschrieben) werden all jene sein die den Bezug zum bdquoSakralenldquo noch nicht verloren haben russische Altglaumlu-bige ultraorthodoxe antizionistische Juden europaumlische Traditionalisten sowie jene bdquoanti-atlantischenldquo islamistischen Fundamentalisten die in den USA den Dajjacircl den falschen Messias und Antichrist erkennen gegen den die Retter-gestalt des Mahdicirc zu Felde ziehen wird116 111 Aleksandr Dugin Absoljutnaja Rodina Puti Absoljuta Metafizika Blagoj Vesti Misterii

Evrazii Moskva 1999 645ndash670 112 Ebd 378ndash395 493ndash521 113 Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo 74ndash76 Siehe auch ders bdquoKatechon i revoljucijaldquo in ders

Tampliery proletariata Nacional-bolrsquoševizm i iniciacija Moskva 1997 52ndash59 ndash Die mes-sianische Identifizierung des Dritten Rom mit der Dritten Internationale reicht bis ins Gruumlndungsjahr der Komintern (1919) zuruumlck Beide so der slawophile Philosoph und An-haumlnger des imjaslavie Valerian Muravrsquoev (1885ndash1930) in einem Brief vom 6 Januar 1920 an Lev Trockij seien Ausdruck der Suche des russischen Volkes und der Intelligencija nach einem Reich der Wahrheit und Gerechtigkeit Valerian Muravrsquoev Sočinenija Bd 2 Moskva 2011 352f Weitere Belege bei Emanuel Sarkisyanz Russland und der Messianis-mus des Orients Tuumlbingen 1955 196 Mikhail Agursky Third Rome National Bolshevism in the USSR Boulder Co 1987

114 Damals sah ein Journalist bdquoauf den Ruinen des Imperiumsldquo das Dritte Rom in Gefahr zu einem Land der Dritten Welt zu werden Andrej Fadin bdquoTretij Rim v tretrsquoem mire Razmy-šlenija na ruinach imperiildquo in Nezavisimaja gazeta 1291991

115 [Aleksandr Dugin] bdquoLibo-my libo-ničtoldquo in Ėlementy 8 19961997 1ndash4 hier 2 116 [Aleksandr Dugin] bdquoIdeologija Mirovogo Pravitelrsquostvaldquo in Ėlementy 2 1992 1f

32 Michael Hagemeister

Das Dritte Rom als Zentrum des eurasischen bdquoEuro-Sowjetischen Imperiumsldquo Titelbild der von Aleksandr Dugin herausgegebenen Zeitschrift bdquoElemente Eurasische Rundschauldquo (1992) Dugins Werk mit seiner provokanten Mischung esoterischer antimoderner und antiwestlicher Motive findet besonders unter jungen Intellektuellen Anklang und Nachahmer so etwa bei dem promovierten Philosophen und selbstproklamierten bdquoorthodoxen Metaphysikerldquo Arkadij Maler einem vehementen Propagandisten einer bdquopolitischen Orthodoxieldquo (političeskoe Pravoslavie) und fuumlhrenden Ideolo-gen der bdquoneobyzantinischenldquo Doktrin Obwohl sich Maler von Dugin distan-ziert117 beschwoumlrt auch er die eschatologische bdquogeistige Mission des Dritten Romldquo die es von Byzanz geerbt habe und die in seiner bdquozentralen katechontischen Rolleldquo bestehe dem Kampf gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo des bdquogottlosen Wes-tensldquo118 Russische Politik koumlnne deshalb nicht anders als imperial sein und muumlsse ihren Einfluss auf den gesamten Planeten ausdehnen Wie Dugin sieht auch Maler die Bolschewiki in dieser Tradition als sie Moskau zur Hauptstadt des bdquoRoten

117 In den spaumlten 1990er Jahren gehoumlrte Maler der vaumlterlicherseits juumldischer Abstammung ist

zusammen mit Dugin und Ėduard Limonov zur Fuumlhrungsriege der Nationalbolschewisti-schen Partei und schrieb fuumlr die Parteizeitung Limonka sich selbst charakterisierte er als bdquorotbraunen Zionistenldquo Nach seiner Konversion zur Orthodoxie trennte er sich 1999 von Dugin und kritisierte dessen esoterischen Traditionalismus aus einer ultraorthodoxen Posi-tion Dugin wiederum warf Maler vor ihn zu plagiieren

118 Arkadij Maler Duchovnaja missija Tretrsquoego Rima Moskva 2005 bes 134ndash136 170ndash206 Siehe auch ders bdquoIdeologija Vizantizmaldquo in Severnij Katechon 1 (2005) 7ndash49 bdquoNeovi-zantizm kak novyj bolrsquošoj stilrsquoldquo in Aleksej Nilogov (Hg) Kto segodnja delaet filosofiju v Rossii Moskva 2007 110ndash124

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 33

Imperiumsldquo machten und dieses zur bdquoabsoluten Antithese des Westensldquo erklaumlrten zum bdquoTraumlger der planetarischen Mission der Befreiung der Welt aus den sbquoFesseln des Kapitalslsquoldquo119 Das Dritte Rom sei zeitweise in die Dritte Internationale trans-formiert worden ohne jedoch seine Mission als Katechon als aufhaltende Macht gegen das Reich des Boumlsen und Ausgangspunkt zur Errettung der Welt aufzuge-ben Die bdquoletzte Etappeldquo im Kampf gegen den Antichrist werde so Maler der bdquoeschatologische Krieg des Dritten Rom gegen das Dritte Karthagoldquo den bdquoAnti-katechonldquo sein die bdquoanglo-amerikanische [] atlantische Zivilisationldquo120 Zur Propagierung der katechontischen Mission Russlands gruumlndete Maler 1999 am Institut fuumlr Philosophie der Akademie der Wissenschaften in Moskau einen bdquoBy-zantistischen Klub Katechonldquo (Vizantistskij Klub Katechon) und 2005 das bdquoPhi-losophisch-politische Zentrum sbquoNoumlrdlicher Katechonlsquoldquo das einen gleichnamigen Almanach (Severnyj Katechon) herausgibt121

Apokalyptischer Ausblick

Die Formel vom Dritten Rom und die Figur des Katechon des Aufhalters des bdquoweltweiten Boumlsenldquo sind zu Markenzeichen russischer Anti-Westler und Ver-schwoumlrungstheoretiker und ihres schrillen Szenariums eines globalen apokalyp-tischen bdquoEndkampfesldquo gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo geworden122 Unter dem Titel bdquoDie russische Doktrin Die Staatsideologie der Epoche Putinsldquo verfasste in den Jahren 2005 und 2006 ein Kollektiv nationalpatriotischer Autoren ndash unter ih-nen der bdquoByzantistldquo Arkadij Maler ndash ein uumlber 1000 Seiten langes ultrakonservati-ves und antiwestliches Manifest das auch die Unterstuumltzung hoher kirchlicher Wuumlrdentraumlger fand123 In ihrem Entwurf einer bdquoorganischen weltanschaulichen Plattformldquo fuumlr das kuumlnftige Russland behandeln die Autoren ausfuumlhrlich die bdquohis-toriosophischeldquo Konzeption vom Dritten Rom und seine Mission als Katechon gegen das bdquoHeidentumldquo des Westens124 Gefordert wird die positive Identifikation

119 Maler Duchovnaja missija 182f 185 120 Ebd 177 ndash Als Mittel im ideologischen Kampf gegen den saumlkularen Westen fordert Maler

in Analogie zur katholischen Gegenreformation eine orthodoxe konservative bdquoGegenauf-klaumlrungldquo (Kontrprosveščenie) lthttpwwwkatehonruhtmltoppolitologiaideaotkritije _polit_pravoslavijahtmgt

121 Siehe die Website lthttpwwwkatehonrugt 122 Siehe zB Galina A Morozova Tretij Rim protiv novogo mirovogo porjadka Moskva

2009 Die Formel von Dritten Rom hat laumlngst auch Schriftsteller und Maler inspiriert und scheint auch werbewirksam zu sein bdquoDrittes Romldquo nennt sich ein Verlag ein Videospiel eine Bank ein Reisebuumlro und sogar ein Kasino in Jalta Ein Schoumlnheitswettbewerb in Mos-kau vergibt alljaumlhrlich den Titel einer bdquoMiss Drittes Romldquo Judith E Kalb Russiarsquos Rome Imperial Visions Messianic Dreams 1890ndash1940 Madison Wisconsin 2008 198f Zum Katechon siehe Maria Engstroumlm bdquoContemporary Russian Messianism and New Russian Foreign Policyldquo in Contemporary Security Policy 35 (2014) 3 356ndash379

123 Russkaja doktrina Gosudarstvennaja ideologija ėpochi Putina Moskva 2016 124 Ebd 68ndash72 116ndash120 und passim

34 Michael Hagemeister

mit der Geschichte Russlands und seinen Lichtgestalten dem Heiligen Serafim von Sarov dem bdquoeschatologischen Fuumlhrer des russischen Volkes am Ende der Zeitenldquo der bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo und Stalin der dem paulinischen Kate-chon gleich die bdquoGesetzlosigkeitldquo (bezzakonie) bekaumlmpft und das bdquoFundament fuumlr eine groszlige Zukunftldquo gelegt habe125

bdquoKatechonldquo nennt sich auch ein prominent besetzter Think tank den der Oligarch und Berater Putins Konstantin Malofeev im Jahr 2015 gegruumlndet hat126 Der Milliardaumlr der sein Vermoumlgen mit einer Investmentfirma auf den Cayman Inseln gemacht hat bezeichnet sich selbst als bdquoorthodoxen Monarchistenldquo127 Er unterstuumltzt die Separatisten in der Ostukraine und unterhaumllt vielfaumlltige Verbindun-gen zu europaumlischen Rechtspopulisten wie dem Front National der FPOuml Syriza und der Lega Nord Neben dem Forum bdquoKatechonldquo betreibt Malofeev auch einen Fernsehsender mit dem programmatischen Namen bdquoZargradldquo128 (Motto bdquoDas Licht Christi erleuchtet alleldquo) dessen Chefkommentator niemand anderes ist als Aleksandr Dugin129

bdquoKatechonldquo und bdquoZargradldquo propagieren den Kampf gegen die westliche Moderne mit Bezug auf das byzantinische Erbe Russlands Im November 2014 fand in der Moskauer Manege eine Konferenz bdquoMoskau ndash das Dritte Romldquo statt130 An ihr nahmen auszliger Dugin und Malofeev auch Archimandrit Tichon und Nata-lrsquoja Naročnickaja teil eine hochrangige Diplomatin Mitglied des Izborsker Klubs und Leiterin des Pariser bdquoInstituts fuumlr Demokratie und Kooperationldquo das die oumlf-fentliche Meinung im Westen im Sinne des Kremls beeinflussen soll Tichons Film bdquoDie Lehre von Byzanzldquo sei so Naročnickaja auch eine Warnung an den Westen der seine christlichen Werte verraten habe weshalb er den glaubens-festen Migranten und ihrer Verachtung hilflos ausgeliefert sei131

Im Oktober 2009 wurde Tichons Film in Athen vor ausverkauftem Saal aufgefuumlhrt Unter denen die dem Drehbuchautor Beifall spendeten war der Philo-soph und Theologe Christos Yannaras einer der Hauptvertreter der Neoorthodo-xie und scharfer Kritiker des Westens Wie ihre russischen Gesinnungsgenossen

125 Ebd 130f 153 142ndash145 126 Mit einem Auftritt im Internet in 9 Sprachen Siehe die deutsche Version unter lthttp

katehoncomdewer-sind-wirgt 127 lthttpsdewikipediaorgwikiKonstantin_Walerjewitsch_Malofejewgt 128 Carrsquograd ist der altrussische Name fuumlr Konstantinopel 129 Auch Dugin unterhaumllt seit mehr als 25 Jahren Kontakte zu ultrakonservativen traditiona-

listischen und faschistischen Gesinnungsgenossen in Westeuropa Siehe Vladimir Ivanov Alexander Dugin und die rechtsextremen Netzwerke Fakten und Hypothesen zu den inter-nationalen Verflechtungen der russischen Neuen Rechten Stuttgart 2007

130 lthttpwwwpravoslavieru75070htmlgt 131 lthttpwwwpravoslavieru7414htmlgt ndash Fuumlr Metropolit Ilarion (Alfeev) der sich dabei

auf Dugin beruft verwandeln sich die Laumlnder Westeuropas bereits in die bdquoSphaumlre des Anti-christldquo lthttpwwwpatriarchiarudbtext3065216htmlgt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 35

verherrlichen auch die griechischen Neoorthodoxen die byzantinische Vergan-genheit und sehen in der modernen saumlkularen Gesellschaft eine Bedrohung ihrer kulturellen Identitaumlt132 Gemeinsam suchen sie der Globalisierung mit einer bdquoby-zantinischen Internationaleldquo als bdquoorthodoxer Oumlkumeneldquo entgegenzuwirken einer letztlich sakral verstandenen Gemeinschaft deren Einfluss indes weit uumlber die kirchliche Sphaumlre hinausreichen und eine transnationale Vereinigung der ortho-doxen Welt von Serbien uumlber Syrien bis Georgien und Armenien unter Fuumlhrung Moskaus schaffen soll133 Als wichtiger symbolischer Schritt auf diesem Weg wurde der Besuch von Praumlsident Putin und Patriarch Kirill des Heiligen Berges Athos einer traditionellen Hochburg antiwestlicher Opposition im Mai 2016 ge-feiert Das weltliche und das geistliche Oberhaupt Russlands ndash die bdquoSymphonia der Maumlchteldquo ndash zeigten damit so Aleksandr Dugin ihr Bekenntnis zu Byzanz und seiner Rolle als Katechon Damit anerkenne bdquounsere Rusrsquo ihre historische Bestim-mung Wir sind bereit fuumlr die Endzeitldquo134

132 Ausfuumlhrlich dazu Daniel P Payne The Revival of Political Hesychasm in Contemporary

Orthodox Thought The Political Hesychasm of John Romanides and Christos Yannaras Lanham [ua] 2011 Siehe auch Vasilios N Makrides bdquoByzantium in Contemporary Greece The Neo-Orthodox Current of Ideasldquo in David RicksPaul Magdalino (Hgg) Byzantium and the Modern Greek Identity Aldershot 1998 141ndash153 Zum griechischen Neobyzantismus unter russischem Einfluss Aleksey Kamenskikh bdquoThe Image of the Second Rome through the Prism of the Thirdrdquo in Teresa Obolevich [ua] (Hgg) Russian Thought in Europe Reception Polemics Development Krakoacutew 2013 13ndash22 ndash Antimo-derne und antiwestliche Stroumlmungen in den vom orthodoxen Christentum gepraumlgten Kultu-ren haben der Religionswissenschaftler Makrides und der Slavist Uffelmann vor einigen Jahren als Desiderat der Forschung benannt Vasilios N MakridesDirk Uffelmann bdquoStudying Eastern Orthodox Anti-Westernism The Need for a Comparative Research Agendaldquo in Jonathan SuttonWil van den Bercken (Hgg) Orthodox Christianity and Contemporary Europe Leuven [ua] 2003 87ndash120 Seitdem haben Makrides und die Politikwissenschaftlerin Stoumlckl eine Reihe einschlaumlgiger Arbeiten vorgelegt in denen or-thodoxe Alternativen zu westlichen philosophischen und politischen Konzepten untersucht werden Vasilios N Makrides bdquoOrthodoxes Cristentum und Moderne ndash Inkompatibilitaumlt oder langfristige Anpassungldquo in Una Sancta 2011 1 15ndash30 ders bdquoOumlstliches orthodo-xes Christentum und Saumlkularitaumlt Ein Vergleich mit dem lateinischen Christentumldquo in Transit 47 (2015) 59ndash75 Kristina Stoumlckl bdquoModernity and its Critique in Twentieth Cen-tury Russian Orthodox Thoughtldquo in Studies in East European Thought 58 (2006) 243ndash269 dies Community after Totalitarianism The Russian Orthodox Intellectual Tradition and the Philosophical Discourse of Political Modernity Frankfurt aM [ua] 2008

133 Dazu gehoumlrt auch die Verwirklichung des jahrhundertealten Traums der Wiedererrichtung des Kreuzes auf der Hagia Sophia Siehe Egor Cholmogorov Russkij proekt restavracija buduščego Moskva 2005 283 Der Verfasser Mitglied des Expertenteams des Izborsker Klubs ist Begruumlnder der Doktrin der bdquoAtomaren Orthodoxieldquo siehe Fn 74

134 Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Traditionldquo

ZUM AUTOR

Michael Hagemeister geb 1951 in EllwangenJagst Studium der Slavistik Ge-schichte Germanistik und Philosophie in Basel und MarburgLahn Promotion mit einer Arbeit uumlber den russischen Philosophen Nikolaj Fedorov Wissenschaft-licher Mitarbeiter am Slawischen Seminar in Marburg Gastprofessor am Seminar fuumlr Komparatistik der Universitaumlt Innsbruck Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lotman-Institut fuumlr russische und sowjetische Kultur der Ruhr-Universitaumlt Bo-chum am Lehrstuhl fuumlr Geschichte Osteuropas der Europa-Universitaumlt Viadrina Frankfurt (Oder) an den Historischen Seminaren der Universitaumlten Basel Duumlssel-dorf und Bochum Vertretung der Professuren fuumlr Geschichte Osteuropas an der Ludwig-Maximilians Universitaumlt Muumlnchen und an der Europa-Universitaumlt Frank-furt (Oder)

Forschungen zur russischen Philosophie und Geistesgeschichte zum utopischen und apokalyptischen Denken in Russland zum russischen Rechtsextremismus und Antisemitismus sowie insbesondere zu den Protokollen der Weisen von Zion und ihrem Herausgeber Sergej Nilus Publikationen ua Die Neue Menschheit Biopolitische Utopien in Russland (hg mit Boris Groys) Frankfurt aM 2005 The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimensions (hg mit Birgit Menzel und Bernice Rosenthal) Muumlnchen 2012 Die Fiktion von der juumldischen Weltver-schwoumlrung Zu Text und Kontext der bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo (hg mit Eva Horn) Goumlttingen 2012 Die bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo vor Gericht Der Berner Prozess und die bdquoantisemitische Internationaleldquo in der Zwischen-kriegszeit Chronik Dokumente und Kommentare Zuumlrich (im Druck)

ERFURTER VORTRAumlGE ZUR KULTURGESCHICHTE DES ORTHODOXEN CHRISTENTUMS Reihenherausgeber Vasilios N Makrides

Heft 1 Thomas Bremer Konfrontation statt Oumlkumene Zur kirchlichen Situation in der Ukraine Erfurt 2001

Heft 2 Gerhard Podskalsky Zur Hermeneutik des theologischen Ost-West-

Gespraumlchs in historischer Perspektive Erfurt 2002 Heft 3 Karl Christian Felmy Warum und zu welchem Behufe treiben wir

Ostkirchenkunde Erfurt 2003 Heft 4 Wassilios Klein bdquoTatarenjoch ndash татарское игоldquo Beobachtungen zur

Wahrnehmung des Islam im eurasischen Raum Erfurt 2005 Heft 5 Stamatios D Gerogiorgakis Zeitphilosophie im Mittelalter Byzantinische

und lateinische Vorstellungen Erfurt 2006 Heft 6 Heinz Ohme Das Oumlkumenische Patriarchat von Konstantinopel und die

tuumlrkische Religionspolitik Erfurt 2007 Heft 7 Alexander Agadjanian Russian Orthodox Vision of Human Rights Recent

Documents and Their Significance Erfurt 2008 Heft 8 Christos Yannaras Wem gehoumlrt die griechische Antike Erfurt 2009 Heft 9 Joachim Willems Religions- und Ethikunterricht in Russland ndash Was

wollen Staat und Kirche Zur Einfuumlhrung des neuen Schulfaches bdquoGrundlagen der religioumlsen Kulturen und der weltlichen Ethikldquo Erfurt 2010

Heft 10 Chris Hann Eastern Christianity and Western Social Theory Erfurt 2011 Heft 11 Jennifer Wasmuth Akademische Theologie im zaristischen Russland in

ihrer Bedeutung fuumlr die neuere orthodoxe Theologie Erfurt 2012 Heft 12 Anna Briskina-Muumlller Auf der Suche nach der bdquoHesychialdquo Paisij

Veličkovskij (1722ndash1794) und sein Leben fuumlr die bdquoPhilokalieldquo Erfurt 2014

Heft 13 Vladimir Cvetković From ldquoMerciful Angelrdquo to ldquoFortress Europerdquo The

Perception of Europe and the West in Contemporary Serbian Orthodoxy Erfurt 2015

Heft 14 Stefan G Reichelt Lebenslinien Nikolaj A Berdjaev (1874ndash1948) und Sergij N Bulgakov (1871ndash1944) im Westen ndash Eine Wuumlrdigung Erfurt 2015

Heft 15 Michael Hagemeister Der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo ndash bdquoNeobyzantismusldquo

und bdquopolitischer Hesychasmusldquo im postsowjetischen Russland Erfurt 2016

Alle Hefte der vorliegenden Schriftenreihe koumlnnen unter folgendem Link kostenlos heruntergeladen werden URL httpswwwuni-erfurtdereligionswissenschaftprofessur-orthodoxes-christentumveroeffentlichungenerfurter-vortraege-zur-kulturgeschichte-des-orthodoxen-christentums

Page 18: Michael Hagemeister FINAL - uni-erfurt.de · doziert Tichon, während er das antike Kons tantinopel computeranimiert auferste- hen lässt. Das prosperierende Impe rium erregte freilich

18 Michael Hagemeister

τοῦ Χριστοῦ Mt 171minus13) zuteil geworden war54 Fuumlr den endzeitlich gestimm-ten Palamas war diese Schau eine Vorwegnahme der Parusie der Vereinigung des Geschaffenen und des Ungeschaffenen und des kuumlnftigen Reiches Gottes somit bdquorealisierte Eschatologieldquo55

Der Glaube an die Wahrnehmbarkeit des ungeschaffenen ewigen Lichtes als Ausfluss der Energien Gottes stieszlig jedoch auf Widerspruch Palamasrsquo promi-nentester Gegner war der aus Kalabrien stammende Moumlnch Barlaam (ca 1290ndash1348) der in der Tradition der abendlaumlndischen rationalistischen Scholastik die Unterscheidung des transzendenten unzugaumlnglichen Wesens Gottes und der da-von untrennbaren Energien die aber ad extra wirken und sich dem Menschen mitteilen als haumlretisch verwarf und auf der absoluten Unerkennbarkeit Gottes be-stand Rom lehnte denn auch die Energienlehre des Palamas aufs schaumlrfste ab Dagegen erkannte die byzantinische Kirche sie 1341 und 1351 als Dogma an Seitdem gilt der palamitische Hesychasmus als ein Spezifikum der Orthodoxie und dient gerade heute wieder der polemischen Abgrenzung gegenuumlber dem Wes-ten56

Fuumlr die bereits genannten Philosophen Pavel Florenskij und Aleksej Losev charakterisiert das Bekenntnis zum Hesychasmus den Kulturtypus des christli-chen Mittelalters der sich in idealer Weise in Byzanz und in der Moskauer Rusrsquo ausgepraumlgt habe und in diametralem Gegensatz zur sogenannten bdquoRenaissance-Kulturldquo des Westens stehe Merkmale jener integralen Kultur des christlichen Ostens seien Gemeinschaftlichkeit (sobornostrsquo) Geistigkeit (duchovnostrsquo) Ob-jektivitaumlt Konkretheit Ganzheit (celrsquonostrsquo) und Ganzheitlichkeit (celostnostrsquo) synthetische Schau und Realismus57 waumlhrend die westliche Moderne seit der Re-naissance gepraumlgt sei durch Subjektivismus Relativismus szientifische Ratio-nalitaumlt (bdquoEntzauberung der Weltldquo) Materialismus Liberalismus Individualismus

54 Siehe Sergej Choružij bdquoSvet Plotinov i svet Favora mistika sveta v neoplatonizme i isi-

chazmeldquo in Aleksej Lidov (Hg) Ierotopija Ognja i Sveta v kulrsquoture vizantijskogo mira Moskva 2013 37ndash44 Zur Terminologie des Hesychasmus ders bdquoAnalitičeskij slovarʼ isi-chastskoj antropologiildquo in ders K fenomenologii askezy Moskva 1998 22ndash186

55 Peter Kawerau Das Christentum des Ostens Stuttgart [ua] 1972 131 56 Siehe zB die Arbeiten des Moskauer Theologen Igorʼ Ėkonomcev (Archimandrit Ioann)

bes bdquoIsichazm i vostočnoevropejskoe Vozroždenieldquo in Bogoslovskie trudy 29 (1989) 167ndash196 erweiterte Fassung bdquoDer Hesychasmus und die Renaissance in Osteuropaldquo in Karl Christian Felmy (Hg) Tausend Jahre Christentum in Russland Zum Millennium der Taufe der Kiever Rusrsquo Goumlttingen 1988 731ndash771 ndash Im 19 Jahrhundert erlebte der Hesy-chasmus im Zuge der Wiederbelebung mystischer Froumlmmigkeit durch Paisij Veličkovskij (1722ndash1794) eine Bluumlte im russischen Starzentum Dabei handelt es sich auch ndash aumlhnlich wie beim Pietismus ndash um eine Reaktion auf die Einfluumlsse der westlichen Aufklaumlrung Siehe die Beitraumlge in Adalberto Mainardi (Hg) Paisij lo starec Atti del III Convegno ecumenico internazionale di spiritualitagrave russa Bose 20ndash23 settembre 1995 Magnano 1997

57 Die Uumlberwindung der Trennung des erkennenden Subjekts vom Objekt der Erkenntnis (Descartes Locke Kant) durch das spekulative intuitive Erfassen des Wesens (der Ideen des Absoluten) als des eigentlich Realen hat die russische Philosophie des 20 Jahrhunderts bdquolebendiges Wissenldquo (živoe znanie) bdquoIdeal-Realismusldquo (ideal-realizm) oder bdquointuitiven Realismusldquo (intuitivnyj realizm) genannt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 19

Abstraktheit Zersplitterung und Atomisierung58 Der Sieg des Nominalismus im mittelalterlichen Universalienstreit und die Feier des autonomen Individuums in Renaissance Humanismus und Aufklaumlrung markieren in dieser katastrophischen Perspektive den Zerfall der goumlttlichen Ordnung des Universums und der Sakralitaumlt von Hierarchie und Herrschaft und damit den bdquoSuumlndenfallldquo der abendlaumlndischen Kultur die im Anthropozentrismus der satanischen Hybris einer bdquoSelbstvergot-tungldquo des Menschen (čelovekobožie)59 zugleich gipfele und scheitere60

Am Anfang dieser verhaumlngnisvollen Spaltung standen die Annahme der pa-lamitischen Lehre durch die Ostkirche und die Ablehnung dieser Lehre im Westen durch den bdquoRenaissance-Menschenldquo (vozroždenec) Barlaam den Lehrer Boccac-cios und Petrarcas61 Mit aller Schaumlrfe formulierte Losev diesen Gegensatz bdquo[hellip] entweder ist das Taborlicht untrennbar vom Wesen Gottes und ist deshalb Gott selbst (obwohl Gott selbst nicht [das] Licht ist) ndash dann ist die Orthodoxie gerettet oder das Licht ist vom Wesen Gottes trennbar und darum geschaffen ndash dann be-ginnen die apokalyptischen Kraumlmpfe des Renaissance-Westensldquo62 Indem sie Bar-laam einen bdquozugereisten Kalabrierldquo und seine Anhaumlnger mit dem Bann belegte habe die Orthodoxe Kirche so Losev die damals heraufziehende Renaissance

58 Siehe zB Pavel Florenskij bdquoAvtoreferat (192526)ldquo in Voprosy filosofii 1988 12 113ndash

116 dt Pavel Florenski bdquoAutorreferatldquo in ders Leben und Denken hg von Fritz und Sieglinde Mierau Bd 1 Ostfildern 1995 32ndash38 Aleksej Losev Dialektika mifa (1930) Moskva 2001 137ndash138 dt Die Dialektik des Mythos Hamburg 1994 109 ndash Die wertende Entgegensetzung von mittelalterlicher und Renaissance-Kultur (bzw der Typen bdquoobjekti-verldquo und bdquosubjektiverldquo Kulturen) findet sich durchgaumlngig im Werk Florenskijs und Losevs Siehe zuletzt Oksana SedychJulija Grišatova bdquoRusskij Renessans o Renessanseldquo in Vo-prosy filosofii 2015 6 111ndash121

59 bdquoSatan war der erste Revolutionaumlrldquo zitiert Losev einen (apokryphen) Ausspruch des Hl Serafim von Sarov Aleksej Losev bdquoDopolnenie k sbquoDialektike mifalsquo (novyj fragment)ldquo in AF Losev tvorčestvo tradicii interpretacii Moskva 2014 397ndash411 hier 401

60 So degradiere ndash um nur ein Beispiel fuumlr das Scheitern der Renaissance zu geben ndash das heliozentrische Weltbild eines Kopernikus und Giordano Bruno den Menschen zum Be-wohner eines bdquonichtigen Sandkornsldquo im unendlichen Weltraum SedychGrišatova bdquoRuss-kij Renessansldquo 114 Florenskij suchte denn auch in seiner Schrift Mnimosti v geometrii (1922) das geozentrische Weltbild des Mittelalters zu rehabilitieren Zum griechisch-or-thodoxen Antikopernikanismus Vasilios Makrides Die religioumlse Kritik am kopernikani-schen Weltbild in Griechenland zwischen 1794 und 1821 Aspekte griechisch-orthodoxer Apologetik angesichts naturwissenschaftlicher Fortschritte Frankfurt aM [ua] 1995

61 Mitunter wurde Barlaam sogar als Agent einer groszligangelegten antiorthodoxen Verschwouml-rung des bdquoPapismusldquo denunziert Siehe Ėkonomcev bdquoIsichazmldquo 59 vgl ders bdquoDer Hesy-chasmusldquo 736 ndash Eine Kontrastierung des weltlichen Humanisten Petrarca und des Hesy-chasten Palamas unternahm Losevs Schuumller und Sekretaumlr Vladimir Bibichin lthttpwww philologyruliterature3bibikhin-90htmgt

62 Aleksej Losev Očerki antičnogo simvolizma i mifologii Moskva 1930 856 Auch Ėko-nomcev spricht von den bdquoschreienden Widerspruumlchen und Grimassen der westlichen Re-naissance deren geistiger Vater Barlaam wurdeldquo Ėkonomcev bdquoIsichazmldquo 63 (in der deut-schen Version ist von bdquohimmelschreienden Gegensaumltzenldquo und bdquoscheuszliglichen Grimassenldquo die Rede Ėkonomcev bdquoDer Hesychasmusldquo 746)

20 Michael Hagemeister

insgesamt verdammt (anafematstvovala) der alle westlichen Voumllker verfallen sei-en und wahrscheinlich bis ans Ende ihrer Tage verfallen blieben63

Bis zuletzt verteidigte Losev ein mit Orden des Sowjetstaates ausgezeich-neter Philosoph der 1929 von Archimandrit David (Muchranov 1847ndash1930) ei-nem Fuumlhrer der hesychastischen bdquoNamensverehrerldquo (imjaslavcy)64 heimlich zum Moumlnch geweiht worden war die Lehre des Palamas als einen Grundpfeiler der Orthodoxie65 Gleichzeitig hielt er an seiner schroffen Ablehnung des bdquoRenaissan-ce-Westensldquo fest dessen Geschichte insgesamt nichts anderes sei als bdquoeine libera-le Kritik des Mittelaltersldquo 1978 stellte Losev in seiner umfangreichen Studie zur Aumlsthetik der Renaissance der bdquoganzheitlichen Kulturldquo (celostnaja kulrsquotura) des Mittelalters die zerrissene Kultur der Renaissance gegenuumlber die auf der Verabso-lutierung und bdquotitanischen Verherrlichungldquo des isolierten Subjekts und der bdquoAbge-trenntheit vom lebendigen Seinldquo (otryv ot živogo bytija) beruhe66 In einem Ge-spraumlch mit dem Schriftsteller Viktor Erofeev das 1985 veroumlffentlicht wurde de-nunzierte Losev den Typus des bdquoRenaissance-Menschenldquo der sich selbst vergoumltt-liche und deshalb dem Nihilismus und Satanismus verfalle bdquoIndem die Renais-sance das Subjekt zum Absolutum erhob oumlffnete sie den Weg fuumlr den Triumph des Subjektivismus in den folgenden Jahrhunderten In diesem Sinne stellt der gesamte Westen fuumlr mich eine Sackgasse des Denkens darldquo67 Damit geriet der Philosoph einerseits in scharfen Gegensatz zum sowjetischen Selbstverstaumlndnis das sich als Erbe und Vollender gerade jener bdquoprogressivenldquo Prozesse und huma-nistischen Traditionen sah die von der europaumlischen Renaissance ausgegangen

63 Losev Očerki 849 856 64 Zur Bewegung des imjaslavie die zu Beginn des 20 Jahrhunderts auf dem Athos entstand

und in Florenskij und Losev prominente Unterstuumltzer fand liegt inzwischen eine reiche Literatur vor Siehe die juumlngste Veroumlffentlichung Antoine Niviegravere Les glorificateurs du nom Une querelle theacuteologique parmi les moines russes du mont Athos (1907ndash1914) Genegraveve 2016

65 Siehe Valentina Postovalova bdquoAfonskij spor ob Imeni Božiem v filosofsko-bogoslovskom osmyslenii AF Losevaldquo in AF Losev 95ndash106 bes 105f

66 Aleksej Losev Ėstetika Vozroždenija Moskva 21982 (11978) 45 61 137 und passim Losevs Modernekritik erinnert an Heidegger und dessen Begriff der bdquoSeinsvergessenheitldquo Wie fuumlr Heidegger so war auch fuumlr Losev (und Florenskij) der Agent der verhassten Moder-ne ein bdquorechnendesldquo und bdquowurzellosesldquo mythisches Judentum Zu Losevs metaphysischem Antisemitismus (bdquodas satanische Wesen des Judentumsldquo) siehe zuletzt mit zahlreichen Belegen Natalrsquoja Boneckaja Duch Serebrjanogo veka (fenomenologija ėpochi) Moskva Sankt-Peterburg 2016 688ndash693

67 Aleksej Losev bdquoV poiskach smyslaldquo in Voprosy literatury 1985 10 205ndash231 hier 229 Zu Losevs Kritik der bdquoRenaissance-Kulturldquo des Westens ausfuumlhrlich Annett Jubara Die Philosophie des Mythos von Aleksej Losev im Kontext bdquoRussischer Philosophieldquo Wiesba-den 2000 bes 131ndash154 Siehe auch Naftalij Prat bdquoAleksej Losev und der Totalitarismusldquo in Leonid Luks (Hg) Das Christentum und die totalitaumlren Herausforderungen des 20 Jahrhunderts Koumlln [ua] 2002 103ndash114 bes 108f

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 21

waren (augenfaumlllig etwa in der Architektur der 1930er bis 50er Jahre)68 Anderer-seits erwies sich der orthodoxe Moumlnch damit auch als Apologet des Sowjetregi-mes bedroht die Autonomie des Individuums doch den Wesenskern einer jeden Herrschaft die das Wahrheitsmonopol fuumlr sich beansprucht

Die Ablehnung der modernen bdquokopernikanischen Weltldquo (Hans Blumen-berg) durchzieht das gesamte philosophische Werk Losevs und Florenskijs dazu gehoumlren die Ablehnung des heliozentrischen Weltbildes die Polemik gegen Kants kritischen Idealismus (die bdquokopernikanische Wendeldquo in der Philosophie) die Ab-lehnung der Zentralperspektive in der Kunst die Ablehnung des nominalistischen Rationalismus und schlieszliglich die Ablehnung der saumlkularen und demokratischen Gesellschaftsordnung zugunsten einer bdquoVerkirchlichungldquo (ocerkovlenie) aller Be-reiche der Gesellschaft und des Staates in Gestalt einer theokratischen Synarchie Florenskij der sich als einen mittelalterlichen Menschen charakterisierte69 ndash Ni-kolaj Berdjaev selbst Verkuumlnder eines religioumls-integralen bdquoNeuen Mittelaltersldquo nannte ihn einen bdquoraffinierten Reaktionaumlrldquo ndash70 war uumlberzeugt dass die bdquoentseelte Renaissance-Zivilisationldquo sich erschoumlpft habe und eine neue ganzheitlich-objekti-ve Kultur anbrechen werde71 Vorbild dieser bdquoKultur des anderen Typusldquo werde Russland sein bdquoerste Keimeldquo seien bereits zu erkennen Seine Zeit begriff Floren-skij bdquoan den Wasserscheiden des Denkensldquo und er sah seine Lebensaufgabe darin bdquoWege zu bahnen zu einer kuumlnftigen ganzheitlichen Weltanschauungldquo72

68 Losevs Renaissance-Kritik (va in Ėstetika Vozroždenija) wurde deshalb auch als ver-

schleierte Kritik am Sowjetsystem verstanden Siehe Annett Jubara bdquoAleksej Losevs Philosophie des Mythos als Kritik an der Sowjetischen Moderneldquo in Studies in East Euro-pean Thought 56 (2004) 211ndash224 Aus dem Kreis der Schuumller Losevs gingen seit den 1960er Jahren zahlreiche dissidentische russische Nationalisten hervor Nikolaj Mitrochin Russkaja partija Dviženie russkich nacionalistov v SSSR 1953ndash1985 Moskva 2003 288f Zur Kritik der Renaissance-Zivilisation siehe auch Vladimir Bibichin Novyj renessans Moskva 1998 bes 131ndash155

69 Siehe Florenskij bdquoAvtoreferatldquo Noch im Maumlrz 1933 nach seiner Verhaftung erklaumlrte Flo-renskij gegenuumlber den Ermittlungsbeamten bdquoIch Pavel Aleksandrovič Florenskij [hellip] bin dem Charakter meiner politischen Anschauungen nach ein Romantiker des Mittelalters un-gefaumlhr des 14 Jahrhundertsldquo Vitalij Šentalinskij bdquoUdel veličijaldquo in Ogonek 1990 45 23ndash27 hier 26

70 Nikolaj Berdjaev Samopoznanie (Opyt filosofskoj avtobiografii) Moskva 1991 161 Sie-he Nikolaj Berdjaev Novoe srednevekovrsquoe Berlin 1924 dt Nikolaus Berdjajew Das Neue Mittelalter Darmstadt 1927

71 Siehe Michael Hagemeister bdquoWiederverzauberung der Welt ndash Pavel Florenskijs Neues Mittelalterldquo in Norbert Franz [ua] (Hgg) Pavel Florenskij ndash Tradition und Moderne Beitraumlge zum Internationalen Symposium an der Universitaumlt Potsdam 5 bis 9 April 2000 Frankfurt aM [ua] 2001 21ndash41 Zu Florenskijs Kritik an Renaissance und Humanismus (bdquoder Humanismus entsprang der Kabbalaldquo) siehe auch Ilona Svetlikova bdquoOb ideologii sbquoobratnoj perspektivylsquo Pavla Florenskogoldquo in Russkaja intellektualʼnaja revoljucija 1910ndash1930-ch godov Moskva 2016 123ndash139 zu den Uumlbereinstimmungen mit Heidegger siehe Viktor Arslanov Postmodernizm i russkij bdquotretij putrsquoldquo tertium datur rossijskoj kulrsquotury XX veka Moskva 2007 472ndash499

72 Florenskij bdquoAvtoreferatldquo 114

22 Michael Hagemeister

In juumlngster Zeit hat das wiedererwachte Interesse an der eigenen spirituellen Tradition und ihren byzantinischen Wurzeln ndash oftmals verbunden mit dem Bestre-ben sich vom bdquosaumlkularen Westenldquo und der bdquowestlichen Moderneldquo abzugrenzen ndash zu einer Wiederbelebung des palamitischen Hesychasmus (neopalamizm) und der ndash davon zu unterscheidenden ndash bdquoNamensverehrungldquo (imjaslavie) gefuumlhrt73 Be-reits in den 1970er Jahren war John Meyendorffs klassische Studie St Greacutegoire Palamas et la mystique orthodoxe (Paris 1959) ins Russische uumlbersetzt worden und kursierte in der Sowjetunion in Samizdat-Ausgaben im Milieu religioumls-philo-sophischer Dissidenten Heute wird die Wiederbelebung des Hesychasmus auch durch den patriotischen Kult um Serafim von Sarov (Prochor Mošnin 1759ndash1833) befoumlrdert einen Wundertaumlter und Apokalyptiker der im postsowjetischen Russland zu einem der meistverehrten Heiligen avanciert ist74 In einer in viele Sprachen uumlbersetzten und millionenfach verbreiteten Schrift schildert sein Schuuml-ler Nikolaj Motovilov (1809ndash1879) die Verklaumlrung Serafims im ungeschaffenen Licht des Heiligen Geistes die sich angeblich im November 1831 auf einer einsa-men verschneiten Waldlichtung ereignet hat75

73 Dies gilt nicht nur fuumlr Russland auch auf Vertreter der angelsaumlchsischen bdquoRadical Ortho-

doxyldquo die das Projekt einer von modern-saumlkularem Denken nicht korrumpierten Theologie verfolgen uumlben Hesychasmus und russische Sophiologie starke Faszination aus Siehe die Beitraumlge in Adrian PabstChristoph Schneider (Hgg) Encounter Between Eastern Ortho-doxy and Radical Orthodoxy Transfiguring the World Through the Word Farnham 2009 Zur Wiederbelebung des imjaslavie im post-sowjetischen Russland siehe Scott M Ken-worthy bdquoDebating the Theology of the Name in Post-Soviet Russia Metropolitan Ilarion Alfeev and Sergei Khoruzhiildquo in Katya Tolstaya (Hg) Orthodox Paradoxes Hetero-geneities and Complexities in Contemporary Russian Orthodoxy LeidenBoston 2014 250ndash264 Siehe auch Loren Grahams Bericht uumlber diskrete Zusammenkuumlnfte der imjaslav-cy im Kellergeschoss der Moskauer Tatrsquojana-Kirche in den fruumlhen 2000er Jahren Loren GrahamJean-Michel Kantor Naming Infinity A True Story of Religious Mysticism and Mathematical Creativity Cambridge MassLondon 2009 1ndash5

74 Fuumlr die Anhaumlnger der Doktrin einer bdquoAtomaren Orthodoxieldquo (atomnoe pravoslavie) ist Se-rafim auch der Schutzheilige der russischen Atombombe wurde doch Sarov der Ort seines Wirkens 1946 unter dem Namen Arzamas-16 zur streng geheimen Nuklearstadt in der Wissenschaftler unter ihnen Andrej Sacharov am Bau der sowjetischen Atom- und Was-serstoffbomben arbeiteten Patriotische Russen deuten dies als Zeichen dass bdquoim Hause unseres Vaters Serafimldquo mit dessen Segen der nukleare bdquoSchild zum Schutz der Heimatldquo geschmiedet worden sei Pavel V Florenskij bdquoNeobchodimostrsquo našej atomnoj bombyldquo in Naš sovremennik 1997 4 219ndash221 Bei dem Verfasser handelt es sich um einen Enkel des beruumlhmten Philosophen Siehe auch lthttpsruwikipediaorgwiki Атомное_правосла виеgt

75 Die Schrift deren Authentizitaumlt umstritten ist wurde bekannt unter dem Titel bdquoGespraumlch uumlber das Ziel des christlichen Lebensldquo (Beseda o celi christianskoj žizni) Erstmals veroumlf-fentlicht wurde das bdquoGespraumlchldquo 1903 von Sergej Nilus (1862ndash1929) dem Herausgeber und Kommentator der Protokolle der Weisen von Zion Siehe Michael Hagemeister bdquoIl proble-ma della genesi del sbquoColloquio con Motovilovlsquoldquo in Adalberto Mainardi (Hg) San Sera-fim Da Sarov a Diveevo Atti del IV Convegno ecumenico internazionale di spiritualitagrave russa Bose 18ndash20 settembre 1996 Magnano 1998 157ndash174 Bis heute gibt es keine kriti-sche Ausgabe dieses zentralen Textes russischer Geistigkeit

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 23

Von der Wiederbelebung des Hesychasmus zeugt auch das groszligangelegte Projekt einer bdquosynergetischen Anthropologieldquo (sinergijnaja antropologija) des Mathematikers Physikers und religioumlsen Philosophen Sergej Choružij Prakti-sches Ziel das seit 2005 durch ein eigenes Institut in Moskau verfolgt wird ist die psychosomatisch-holistische Selbsttransformation des Menschen die auf unmittelbarer (mystisch-energetischer) Erfahrung bzw Einwirkung des ontolo-gisch Anderen (Goumlttlichen) beruht sowie die Uumlberwindung der Subjekt-Objekt-Trennung der modernen westlichen Philosophie die Choružij fuumlr den von ihm als krisenhaft und katastrophisch beschriebenen Zustand der westlichen Moderne verantwortlich macht Im Unterschied zu orthodoxen Fundamentalisten und Anti-Westlern sucht Choružij indes die asketischen Praktiken des Hesychasmus mit modernen und postmodernen westlichen Anthropologien (Kierkegaard Scheler Heidegger und insbesondere Foucaults technique oder practique de soi) in Bezie-hung zu setzen76

bdquoPolitischer Hesychasmusldquo

Es duumlrfte deutlich geworden sein dass Hesychasmus nicht nur eine weltabge-wandte mystisch-asketische bdquogeistige Praxisldquo bezeichnet sondern auch als Kampfbegriff gegen die saumlkulare Kultur des bdquoWestensldquo und der bdquowestlichen Mo-derneldquo dient Dies gilt vor allem fuumlr das Konzept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo (političeskij isichazm)

In den russischen Diskurs wurde dieses Konzept um die Mitte der 1960er Jahre von dem Leningrader Mediaumlvisten und Byzantinisten Gelian Prochorov ein-gefuumlhrt77 Seiner Hauptthese zufolge wurde der Hesychasmus nachdem er aus den Klosterzellen herausgetreten war und eine philosophisch-theologische

76 Siehe Sergej Choružij Očerki sinergijnoj antropologii Moskva Inst Sinergijnoj antropo-

logii Inst filosofii teologii i istorii Sv Fomy 2005 ders (Hg) Fonarrsquo Diogena Proekt sinergijnoj antropologii v sovremennom gumanitarnom kontekste Moskva 2010 ders bdquoDie mystische Verwandlung des Menschen Uumlber den Hesychasmus als Raum der Philo-sophieldquo in Fuge Journal fuumlr Religion amp Moderne 7 (2010) 72ndash99 Siehe auch die Web-site lthttpsynergia-isarugt Kristina Stoeckl bdquoA New Anthropology Sergej S Khoru-žijrsquos Search for an alternative to the Cartesian Subject in sbquoOčerki sinergijnoj antropologiilsquoldquo in Studies in East European Thought 59 (2007) 237ndash245

77 Gelian Prochorov bdquoĖtničeskaja integracija v Vostočnoj Evrope v XIV-m veke Ot isichastskich sporov do Kulikovskoj bitvyldquo in Doklady otdelenija ėtnografii 2 (196265) Leningrad 1966 81ndash110 ders bdquoIsichazm i obščestvennaja myslʼ v Vostočnoj Evrope v XIV vldquo in Literaturnye svjazi drevnich slavjan (Trudy otdela drevnerusskoj literatury 23) Leningrad 1968 86ndash108 ders bdquoKulʼturnoe svoeobrazie ėpochi kulikovskoj bitvyldquo in Kulikovskaja bitva i podldquoem nacionalrsquonogo samopoznanija (Trudy otdela drevne-russkoj literatury 34) Leningrad 1979 3ndash17 ndash Prochorov gehoumlrte bereits zu Sowjetzeiten ins Lager der (neo-)slavophilen Anti-Westler er war eng befreundet mit dem bdquoEurasierldquo und Antisemiten Lev Gumilev (1912ndash1992) und uumlbernahm von diesem das Konzept der bdquoEthnogeneseldquo

24 Michael Hagemeister

Grundlegung erfahren hatte am Ende des 14 Jahrhunderts zu einem entscheiden-den politischen und kulturellen Faktor nicht nur in Byzanz sondern in ganz Ost-europa und lieferte unter anderem das ideologische Fundament zur Konsolidie-rung der nachmongolischen Rusʼ Im Streit zwischen dem bdquorationalistischen Hu-manismus und dem kontemplativen Hesychasmus [hellip] entschied Byzanz uumlber sein geistiges Schicksal Das Land blieb bis zuletzt mittelalterlich Den Hesy-chasten gelang es zu Wortfuumlhrern der oumlffentlichen Meinung in Byzanz zu werden die letzte schoumlpferische Synthese seiner traditionellen Kultur zu entwickeln und eine breite kulturelle und gesellschaftliche Bewegung in Gang zu setzen die zu einer Erneuerung des Mittelalters und zu einer Wiederbelebung der Orthodoxie im ganzen oumlstlichen Europa fuumlhrteldquo78

Im Anschluss an das von seinem Lehrer Dmitrij Lichačev entwickelte Kon-zept einer bdquoVorrenaissanceldquo (Predvozroždenie)79 spricht Prochorov von einer bdquovorrenaissancelichen Gegenreformationldquo (predvozroždenčeskaja kontrreforma-cija) und einer bdquoOrthodoxen Renaissanceldquo (Pravoslavnoe Vozroždenie)80 Ge-meint war damit dass die Palamiten (Hesychasten) den Sieg der Barlaamiten ver-hindern konnten und auf die Schriften der antiken Kirchenvaumlter zuruumlckgreifend ein mystisch-kontemplatives Aumlquivalent zum rationalistischen und saumlkularen Hu-manismus geschaffen haumltten Auf diese Weise habe der drohende Uumlbergang der byzantinischen und osteuropaumlischen christlich gepraumlgten Kultur von der bdquoVorre-naissanceldquo zu einer auf heidnisch-antiken Wurzeln beruhenden Renaissance ab-gewendet werden koumlnnen81 Auf die bdquoVorrenaissanceldquo sei ein bdquoNeues Mittelalterldquo gefolgt das in der bdquoHeiligen Rusʼldquo um die Wende zum 15 Jahrhundert seinen Houmlhepunkt erreicht habe Ihm verdanke Russland seine Groumlszlige und die russische Kultur ihre bdquoUniversalitaumltldquo und bdquoGeistigkeitldquo82

Bemerkenswert ist dass der sowjetische Wissenschaftler die beiden ideolo-gischen Lager mit traditionellen (neo-)slavophilen Wertungsoppositionen wie sie bereits bei Florenskij und Losev begegnet sind verbindet und dabei deutlich seine 78 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 4 79 Vor allem in seinem Buch Kulʼtura Rusi vremeni Andreja Rubleva i Epifanija Premudrogo

MoskvaLeningrad 1962 80 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 8 Siehe auch ders Nekogda ne narod a nyne narod

Božijhellip Drevnjaja Rusʼ kak istoriko-kulʼturnyj fenomen Sankt-Peterburg 2010 133ndash157 81 So auch Igorʼ Ėkonomcev bdquoDie osteuropaumlische sbquoVorrenaissancelsquo ist nicht die erste Stufe

zur saumlkularisierten Renaissance vom abendlaumlndischen Typ sondern ihre Antithese Der geistige und kulturelle Aufschwung in Osteuropa war die wahre volle und eindeutige Re-naissance die sich grundlegend von der westlichen Renaissance unterschied Sie haumltte sich niemals in eine Renaissance westlicher Praumlgung verwandeln koumlnnenldquo Ėkonomcev bdquoDer Hesychasmusldquo 764 vgl ders bdquoIsichazmldquo 69 Diese (osteuropaumlische) Renaissance so Ėkonomcev an anderer Stelle sei ungleich bdquoerhabener geistiger und reinerldquo gewesen als bdquodie westeuropaumlische Renaissance mit ihrer krankhaften Disharmonie zwischen Glauben und Vernunft Geist und Leib die trotz allem gespieltem Optimismus ein Gefuumlhl der Aus-weglosigkeit und Verzweiflung hinterlaumlsstldquo Igumen Ioann Ėkonomcev bdquoVizantinizm Kirillo-Mefodievo nasledie i kreščenie Rusildquo in ders Pravoslavie Vizantija Rossija Sbornik statej Moskva 1992 7ndash22 hier 18

82 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 9 15

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 25

Sympathie zeigt Die byzantinischen Humanisten werden von ihm als kalte Ratio-nalisten dargestellt die in der Hoffnung auf militaumlrische Unterstuumltzung durch den katholischen Westen im Kampf gegen die Osmanen bereit gewesen seien den eigenen Glauben zu opfern83 Die Hesychasten hingegen haumltten so Prochorov den Westen realistischer eingeschaumltzt und auf Hilfe von Seiten der orthodoxen Staaten gehofft Im entscheidenden Moment haumltten nicht die bdquoWestler-Huma-nistenldquo (zapadniki-gumanisty) mit ihren bdquokalten Uumlberlegungenldquo (cholodnymi rassuždenijami) beim Volk Gehoumlr gefunden sondern die Hesychasten mit ihren bdquoheiszligen Gebetenldquo (gorjačimi molitvami)84

Mit seiner Apologie eines bdquowiederbelebtenldquo Mittelalters und einer bdquoOrtho-doxen Renaissanceldquo die alle Bereiche des politischen gesellschaftlichen und kul-turellen Lebens gepraumlgt habe und deren Kern der Hesychasmus gewesen sei stieszlig Prochorov bei seinen sowjetischen Kollegen auf Kritik So sah Apollon Kuzmin im Palamismus eine desintegrative Erscheinung weshalb er Prochorovs positive Bewertung der Hesychasten bei der bdquoWiedergeburtldquo der Rusʼ zuruumlckwies85 Aumlhn-lich argumentierte Gennadij Litavrin Die Palamiten seien diejenigen gewesen die eine unrealistische Einschaumltzung der politischen Lage gehabt haumltten Sie haumltten die Bedrohung durch die Tuumlrken nicht erkannt und stattdessen die Illusion verbreitet die Feinde zum Christentum bekehren und zu neuen Untertanen ma-chen zu koumlnnen Der Palamismus sei eine bdquoIdeologie der Demutldquo und habe eine bdquounheilvolle Rolle in der Geschichte des Kampfes gegen die tuumlrkische Aggres-sionldquo gespielt86 Michail Sjuzjumov sprach sogar vom bdquoasozialen Charakter des Palamismusldquo der den aufkommenden humanistischen Tendenzen gegenuumlber feindlich gewesen und zur bdquoIdeologie der Reaktionldquo in Byzanz geworden sei87 Auf Ablehnung stieszlig Prochorov auch im Ausland Valerij Lepachin kritisierte den Begriff bdquopolitischer Hesychasmusldquo als unzulaumlssige Verbindung weltlicher und geistlicher Sphaumlren damit verliere der Hesychasmus seinen wesentlichen Sinn-gehalt88 Fuumlr den in Berkeley lehrenden Philologen Viktor Živov schlieszliglich war

83 Ebd 12 84 Ebd 13 ndash An anderer Stelle betont Prochorov den Gegensatz zwischen den abstrakten

bdquoausgedachtenldquo philosophischen Konstruktionen des europaumlischen Idealismus und der ganzheitlichen kontemplativ-spekulativen Welterfahrung der griechisch-byzantinischen Philosophie Prochorov bdquoĖtničeskaja integracijaldquo 90f An Florenskijs Renaissance-Kritik (etwa in Ikonostas 1922) erinnert auch Prochorovs Verweis auf den euklidischen Raum und den Perspektivismus der humanistischen Weltwahrnehmung mit seiner Illusion der Unendlichkeit Prochorov bdquoIsichazmldquo 94

85 Apollon Kuzmin bdquoCerkovʼ i svetskaja vlastʼ v ėpochu Kulikovskoj bitvyldquo in Voprosy naučnogo ateizma 37 (1988) 90ndash99

86 Gennadij Litavrin bdquoVizantija v period graždanskoj vojny i dviženija Zilotov (1341ndash1355 gg)ldquo in Sergej Skazkin (Hg) Istorija Vizantii Bd 3 Moskva 1967 135ndash160 hier 158

87 Michail Sjuzjumov bdquoFilosofija i bogoslovieldquo in ebd 234ndash256 hier 248f 88 Valerij Lepachin bdquoUmnoe delanie (o soderžanie i granicach ponjatija sbquoisichazmlsquo)ldquo in

Vestnik Russkogo Christianskogo Dviženija 164 1992 5ndash32 hier 23

26 Michael Hagemeister

bdquopolitischer Hesychasmusldquo bdquokonzeptuelles Unkraut [sornjak] das man so schnell wie moumlglich ausrottenldquo solle89

Fast ein halbes Jahrhundert nach ihrer ersten Veroumlffentlichung wurde Pro-chorovs Konzept eines bdquopolitischen Hesychasmusldquo von seinem Schuumller Vladimir Petrunin wieder aufgegriffen und aktualisiert In der 2009 erschienenen Monogra-phie bdquoDer politische Hesychasmus und seine Traditionen in der Sozialkonzeption des Moskauer Patriarchatsldquo90 stellt Petrunin das sogenannte bdquoNichtgehorsamkeits-prinzipldquo (princip nepovinovenija) wie es in den von der Moskauer Bischofssyno-de im August 2000 verabschiedeten bdquoGrundlagen der Sozialkonzeption der Rus-sischen Orthodoxen Kircheldquo formuliert worden ist91 in eine Tradition die er bis auf die bdquopolitischen Hesychastenldquo im Byzanz des 14 und 15 Jahrhunderts zu-ruumlckzufuumlhren sucht Immer wieder zieht Petrunin Parallelen zwischen dem spaumlten Byzanz und dem postsowjetischen Russland Hatten die Byzantiner den Hesy-chasmus als Reaktion auf den Humanismus des Westens hervorgebracht so diene heute die Sozialkonzeption der Abwehr des westlichen Saumlkularismus Liberalis-mus und Kapitalismus Damals wie heute stuumlnden der kirchliche Heilsauftrag und die Verteidigung des Glaubens uumlber den Interessen des Staates selbst ndash wie das Beispiel von Byzanz zeige ndash um den Preis seines Untergangs Ebenso wie die byzantinischen Hesychasten den mit dem Westen kollaborierenden Herrschern die Gefolgschaft im Kampf gegen die Osmanen verweigert haumltten da sie die bdquoReinheit ihres Glaubensldquo eher bdquounter einem tuumlrkischen Turban als unter der lateinischen Tiaraldquo gewahrt sahen92 rufe die Sozialkonzeption die Kirche heute dazu auf der Staatsmacht den Gehorsam zu verweigern sollte diese bdquodie ortho-doxen Glaumlubigen zum Abfall von Christus und Seiner Kirche sowie zu suumlndhaften

89 Viktor Živov bdquoVidenija sveta i problemy russkogo srednevekovogo isichazmaldquo in Lidov

(Hg) Ierotopija 350ndash367 hier 363 359 90 Vladimir Petrunin Političeskij isichazm i ego tradicii v socialʼnoj koncepcii Moskovskogo

Patriarchata Sankt-Peterburg 2009 91 Osnovy socialrsquonoj koncepcii Russkoj Pravoslavnoj Cerkvi III5 lthttpwwwpatriarchia

rudbtext141422htmlgt Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo wird von den meisten Inter-preten als ein bemerkenswertes Umdenken in der Kirchenpolitik angesehen hatte doch die Russische Orthodoxe Kirche unter Patriarch Sergij in einer prekaumlren Lage 1927 Loyalitaumlt gegenuumlber dem Sowjetstaat gefordert Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo war auch eine wichtige Voraussetzung fuumlr die Vereinigung der Auslandskirche mit dem Moskauer Pa-triarchat Zur Sozialkonzeption insgesamt Vasilios N Makrides bdquoDie politische Aufgabe der Kirche Bemerkungen anhand der Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kir-cheldquo in Irene DingelChristiane Tietz (Hgg) Die politische Aufgabe von Religion Per-spektiven der drei monotheistischen Religionen Goumlttingen 2011 219ndash243

92 Petrunin Političeskij isichazm 66f 120 Es handelt sich um eine zeitgenoumlssische Losung Siehe Halina Evert-Kappesowa bdquoLa tiare ou le turbanldquo in Byzantinoslavica 14 (1953) 245ndash257 ndash Auch Aleksandr Nevskij (1220ndash1263) zog eine Verstaumlndigung mit den Mongo-len einer Union mit Rom vor die ihm Papst Innozenz IV im Jahr 1248 angeboten hatte und wandte sich stattdessen gegen die bdquoLateinerldquo Heutige Anti-Westler feiern den Heili-gen der Russischen Orthodoxen Kirche deshalb auch als bdquoersten Eurasierldquo

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 27

und der Seele abtraumlglichen Taten noumltigenldquo93 Die Sozialkonzeption hat fuumlr Petru-nin nur einen moumlglichen Sinn Falls Russlands politische Elite sich weiterhin dem liberalen Wertekanon des Westens verschreibe und Russlands bdquoEigenartldquo (samo-bytnostʼ) als bdquoorthodoxe Zivilisationldquo bestreite94 muumlsse die Kirche ndash wie einst in Byzanz ndash dem Staat die Loyalitaumlt aufkuumlndigen und das Volk zum Widerstand auf-rufen

Es ist ganz offensichtlich dass die Prozesse der Globalisierung und Saumlkularisierung eng miteinander verbunden sind So wie einst die byzantinischen Hesychasten ist heute die Russische Kirche mit der westlichen Zivilisation konfrontiert die nach der Weltherrschaft trachtet war fruumlher der Katholizismus deren Grundlage so ist es jetzt der saumlkulare Humanismus [hellip] Waumlhrend sie [die westliche Welt MH] damals fuumlr die Hesychasten mit Rom gleichgesetzt wurde so verkoumlrpert heute das kosmopolitische New York den Westen Indem sie Liberalismus und Saumlkularisie-rung abwehrt tritt die Kirche auch gegen die politischen und wirtschaftlichen Hegemoniebestrebungen des Westens auf und stellt so ihr Bestreben unter Beweis die zivilisatorische Eigenstaumlndigkeit Russlands wieder herzustellen Wie schon vor 600 Jahren im Byzantinischen Imperium so ist auch heute in Russland allein die Kirche ein ernstzunehmender und gut organisierter Gegner des Westens und seiner saumlkularen Werte [hellip] Sollte Russland weiter den Weg der Saumlkularisierung be-schreiten so koumlnnte damit fuumlr die Kirche der gefaumlhrliche Praumlzedenzfall geschaffen werden in dem sie von ihrem Recht Gebrauch machen muumlsste das Volk zu zivilem Ungehorsam aufzurufen95

In seinem Vorwort nannte Prochorov das Buch seines Schuumllers eine bdquoWarnung an unseren Staat unsere saumlkulare Gesellschaft an uns alleldquo96 Wie das spaumlte Byzanz unter dem bdquoDruck aus dem Westenldquo gestanden habe ndash dem die Herrscher und die bdquoHumanistenldquo schlieszliglich nachgegeben haumltten ndash so laufe auch das postkommu-nistische Russland Gefahr dem bdquoDruck des Liberalismus und der Globalisierungldquo nachzugeben Allein die Orthodoxe Kirche habe sich damals wie heute als bdquoFes-tungldquo erwiesen faumlhig diesem bdquozersetzenden Einflussldquo Widerstand zu leisten97

Petrunins Buch das mit dem Segen von Metropolit Ilarion (Grigorij Al-feev)98 erschienen war stieszlig bei westlichen Forschern auf Skepsis und Ableh-nung So kritisierte Kristina Stoumlckl die unhistorische Interpretation und forcierte Aktualisierung der philosophischen theologischen und politischen Kontroversen des 14 Jahrhunderts sowie die einseitige konservative Interpretation der Sozial-konzeption Hesychasmus werde in dem Kirchendokument ebenso wenig erwaumlhnt

93 Osnovy socialrsquonoj koncepcii 94 Petrunin Političeskij isichazm 81 95 Ebd 122f 96 Ebd 5 97 Ebd 98 Zu jener Zeit Bischof von Wien und Oumlsterreich heute Leiter des Auszligenamtes des Moskau-

er Patriarchats und scharfer Kritiker des bdquomilitanten Saumlkularismusldquo des Westens Siehe auch lthttpazbykaruxristianstvo-pered-vyzovom-voinstvuyushhego-sekulyariz ma-2gt

28 Michael Hagemeister

wie der Untergang von Byzanz99 Klaus Buchenau warf Petrunin vor er bdquoverfor-m[e] und ideologisier[e] die urspruumlnglichen Motive des hesychastischen Moumlnch-tums bis zur Unkenntlichkeitldquo100 Und Viktor Živov der bereits Prochorovs Kon-zept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo als bdquoUnkrautldquo bezeichnet hatte sah in Petru-nins Buch ein Beispiel dafuumlr wie dieses sich bdquospontan und schaumldlichldquo ausbreite Die von Petrunin konstruierte bdquophantastische Genealogie des politischen Hesy-chasmusldquo beruhe so Živov auf einer bdquoMischung aus Einseitigkeit und Unwissen-heitldquo Weder sei der bdquotuumlrkische Turbanldquo fuumlr den Patriarchen attraktiv gewesen noch sei am Widerstand gegen die Union irgendetwas spezifisch bdquoHesychasti-schesldquo Petrunin habe ein bdquoPhantomldquo geschaffen dessen angebliche Verbindung mit der Sozialkonzeption man nicht weiter zu verfolgen brauche101

bdquoNeobyzantismusldquo Das Dritte Rom ndash der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo

Eine eigenwillige Interpretation des Hesychasmus und seine Wendung gegen den Westen stammen von Aleksandr Dugin dem Fuumlhrer der bdquoeurasischenldquo Bewegung und einflussreichsten Vordenker der Neuen Rechten in Russland Der polyglotte und belesene Autodidakt der nie eine akademische Ausbildung genossen hat war Gruumlnder der Partei der Nationalbolschewisten Berater des Vorsitzenden der Du-ma und des Generalstabs sowie von 2008 bis 2014 Professor fuumlr Soziologie an der renommierten Moskauer Lomonosov-Universitaumlt und Direktor des dortigen bdquoZentrums fuumlr Konservatismusstudienldquo Seit Anfang der 1990er Jahre verbreitet er mit graphomanem Eifer seine politischen und bdquometaphysischenldquo Botschaften in einer inzwischen kaum noch uumlberschaubaren Zahl von Publikationen102 und Web-Artikeln in mehreren Sprachen sowie durch spektakulaumlre Auftritte in staats-nahen Medien103 99 Kristina Stoumlckl bdquoPolitical Hesychasm Vladimir Petruninrsquos Neo-Byzantine Interpretation

of the Social Doctrine of the Russian Orthodox Churchldquo in Studies in East European Thought 62 (2010) 125ndash133

100 Klaus Buchenau Auf russischen Spuren Orthodoxe Antiwestler in Serbien 1850ndash1945 Wiesbaden 2011 480 Anm 2

101 Živov bdquoVidenija svetaldquo 364f ndash Von der Kritik offenbar unbeeindruckt verschaumlrfte Petru-nin noch seine Position So sprach er 2012 in einem Vortrag uumlber die gesellschaftliche und politische Wirkung der hesychastischen Gebetspraxis Nach dem Fall von Byzanz sei das bdquoJesusgebet faktisch zu einem sbquopolitischen Gebetlsquoldquo geworden das auf die bdquoVerwandlung [preobraženie] der orthodoxen Oumlkumeneldquo ausgerichtet gewesen sei und das bdquoPhaumlnomen der Heiligen Rusrsquoldquo hervorgebracht habe lthttpsynergia-isarup=8604gt

102 Zuletzt in der bislang fuumlnf Baumlnde umfassenden Reihe bdquoNoomachijaldquo (2014ndash2015) einer hochambitioumlsen letztlich aber manichaumlisch-schematischen Beschreibung der bdquoSuche nach dem Logosldquo in den ndash von Dugin essenzialistisch aufgefassten ndash bdquoWeltkulturenldquo

103 Auch die Literatur zu Dugin ist kaum noch uumlberschaubar Siehe zB Alexander Houmlllwerth Das sakrale eurasische Imperium des Aleksandr Dugin Eine Diskursanalyse zum post-sowjetischen russischen Rechtsextremismus Stuttgart 2007 Stefan Wiederkehr Die eurasische Bewegung Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwi-schenkriegszeit und im postsowjetischen Russland Koumlln [ua] 2007 227ndash261 Anton

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 29

Dugin deutet den Hesychasmus im Rahmen des sogenannten bdquointegralen Traditionalismusldquo einer antimodernen Denkrichtung die im ersten Drittel des 20 Jahrhunderts in Frankreich und Italien entstand und in Reneacute Gueacutenon (1886ndash1951) und Julius Evola (1898ndash1974) ihre bekanntesten (und auch fuumlr Dugin wichtigsten) Vertreter hat104 Ihre Lehre besagt dass alle Religionen ungeachtet ihrer histori-schen und regionalen Auspraumlgungen in ihrem esoterischen nur dem Eingeweih-ten zugaumlnglichen Kern eine gemeinsame urspruumlngliche Wahrheit teilen und als philosophia perennis tradieren das Wissen um die Goumlttlichkeit und den Zugang zu ihr Dieses sakrale und initiatorische Wissen sei im Verlauf der westlichen Mo-derne insbesondere durch die Aufklaumlrung verlorengegangen in traditionellen Gesellschaften (China Indien islamische Welt) jedoch bewahrt geblieben105

Auch die Orthodoxie so Dugin habe im Gegensatz zu Katholizismus und Protestantismus bdquodie Treue zum esoterischen Kernldquo bewahrt naumlmlich in ihrer mystischen Unterstroumlmung dem Hesychasmus106 In der Kanonisierung des Gre-gorios Palamas durch die Ostkirche bei gleichzeitiger Verdammung des Humanis-ten Barlaam sieht Dugin das Bekenntnis zum bdquognostisch-realistischen Geist der orthodoxen Esoterikldquo Ganz im Sinn des Traditionalismus deutet er die psycho-physische Uumlbung der Hesychasten das bdquogeistige Tunldquo als Verfahren der bdquoInitia-tionldquo und das Endziel der bdquoVerklaumlrungldquo und bdquoVergoumlttlichungldquo als bdquoalchemistische Verwandlung des Leibesldquo (alchimičeskoe preobraženie tela) Dadurch wuumlrden der bdquoDualismus von Geist und Materie Leib und Seeleldquo sowie die bdquoGrenzen der Individualitaumltldquo ndash charakteristisch fuumlr den bdquorein exoterischen Mystizismusldquo des Westens ndash aufgehoben107 Die bdquoTradition der hesychastischen Esoterikldquo sei die

Shekhovtsov bdquoThe Palingenetic Thrust of Russian Neo-Eurasianism Ideas of Rebirth in Aleksandr Duginrsquos Worldviewldquo in Totalitarian Movements and Political Religions 9 (2008) 491ndash506 Mark Sedgwick bdquoOccult Dissident Culture The Case of Aleksandr Du-ginldquo in Birgit Menzel [ua] (Hgg) The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimen-sions MuumlnchenBerlin 2012 273ndash292 Schmid Technologien der Seele 210ndash220

104 Aleksandr Dugin Filosofija tradicionalizma Moskva 2002 Zum Traditionalismus siehe das Standardwerk von Mark Sedgwick Against the Modern World Traditionalism and the Secret Intellectual History of the Twentieth Century OxfordNew York 2004 zu Dugin 221ndash237 Vgl auch Christopher DL Johnson The Globalization of the Jesus Prayer Con-testing Contemplation London New York 2010 70ndash73

105 Aumlhnliche Gedanken entwickelte Pavel Florenskij bereits 19081909 in seinem Vortrag bdquoObščečelovečeskie korni idealizmaldquo in dem er die bdquoEsoterikldquo der Philosophie Platons und seiner Nachfolger in der bdquoallgemeinmenschlichenldquo mystisch-magischen Weltauffas-sung der bdquoVolksseeleldquo wurzeln laumlsst

106 Das Folgende nach Aleksandr Dugin bdquoOboženie preestestvennejšeeldquo in Milyj angel 1 1991 56ndash59

107 Das Konzept der bdquoInitiationldquo und die Unterscheidung von bdquoesoterischldquo und bdquoexoterischldquo sind zentral fuumlr die Anhaumlnger des Traditionalismus siehe Sedgwick Against the Modern World 265 ndash Als Mitglied des okkultistischen und faschistischen Južinskij-Kreises machte Dugin in Moskaus bdquomystischem Untergrundldquo in den 1980er Jahren selbst Entgrenzugser-fahrungen mit Hilfe sexualmagischer Praktiken und bewusstseinserweiternder Drogen Bei einem Teil der orthodoxen Glaumlubigen stoumlszligt seine Esoterik denn auch auf Misstrauen und

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bdquoSeele der russischen Orthodoxieldquo und habe in Serafim von Sarov ihren bdquoletzten leuchtendsten Vertreterldquo gefunden

Der Hesychasmus gehoumlre zum traditionellen Erbe von Byzanz das Russ-land angetreten habe als es zum Dritten Rom und zum Zentrum der orthodoxen Welt geworden sei bdquoWir sindldquo so Dugin bdquobyzantinisch in unserer Seele unseren Wurzeln und in unserer Identitaumltldquo108

Unser stabilstes Fundament ist Byzanz [hellip] Russland ist Byzanz [hellip] Unsere For-mel lautet Der Westen ist das Boumlse Byzanz das Gute Alles Schlechte das uumlber Byzanz geschrieben wurde ist eine Luumlge Das sind lediglich Winkelzuumlge im ideolo-gischen Kampf von Seiten des Westens [hellip] Jeder Russe muss wissen Byzanz ist das reine Gute Jeder der etwas anderes behauptet ist ein Feind [hellip] Wer Byzanz kritisiert ist ein Feind des russischen Volkes Das muss unser ehernes Prinzip sein [hellip] Byzanz ist der absolute Orientierungspunkt des russischen Projekts109

Damit sind Russlands Ort und Mission in der bdquohistoriosophischenldquo Deutung des Weltgeschehens bestimmt Nach Dugin wird die Geschichte der Menschheit be-herrscht vom bdquookkulten planetarischen Ringenldquo zweier antagonistischer Maumlchte dem bdquogroszligen Krieg der Kontinenteldquo Land gegen Meer Behemoth gegen Levia-than die organischen bodenstaumlndigen und traditionalistischen bdquoTellurokratienldquo des eurasischen Ostens gegen die wurzel- und seelenlosen materialistischen bdquoTha-lassokratienldquo des angloamerikanischen Westens das apokalyptische Tier aus dem Meer (Offb 13 1-10)110 Die USA als bdquoQuintessenz des Westensldquo und New York als moderne Hure Babylon (Offb 17 und 18) sind das Reich des Antichrist eine chimaumlrisch-antiorganische transplantierte Zivilisation die keine sakrale Tradi-tion besitze ihre Selbsterhebung zu bdquoGottes neuem Israelldquo und bdquoNeuem Zionldquo ndash gemaumlszlig der anglo-amerikanischen Interpretation der Substitutionslehre ndash deutet Dugin als besonders perfiden Taumluschungsversuch des bdquowestlichen Antichristldquo Das Jahr der Entdeckung Amerikas (1492 ist nach der altrussisch-byzantinischen

offene Ablehnung Fuumlr den Sektenexperten des Moskauer Patriarchats ist Dugin ein bdquoge-faumlhrlicher Feindldquo der die bdquoOrthodoxie in Kabbalistik umzuschmelzenldquo versuche Andrej Kuraev Cerkovrsquo v mire ljudej Moskva 2006 142

108 Aleksandr Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Tradition Duginrsquos Guidelineldquo lthttpswwwyoutubecomwatchv=m0RIa61eZDggt

109 Aleksandr Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo in ders Russkaja Veščrsquo Očerki nacionalrsquonoj filosofii Bd 1 Moskva 2001 69ndash76 hier 70ndash72 (Hervorhebungen im Original) Der Be-griff bdquoByzantismusldquo (vizantizm) ndash im Unterschied zum negativ konnotierten bdquoByzantinis-musldquo ndash als Bezeichnung eines dem europaumlischen entgegengesetzten Kulturtypus der auf den Prinzipien von Orthodoxie und Selbstherrschaft beruht geht auf den konservativen Philosophen Konstantin Leontrsquoev (1831ndash1891) und sein Buch Vizantizm i slavjanstvo (1875) zuruumlck

110 Auch fuumlr den von Dugin verehrten Heidegger waren die Seemaumlchte Groszligbritannien und Amerika nicht Teil der abendlaumlndischen Tradition sondern im Gegensatz zum restlichen Europa wurzellos und sinnleer Der Antagonismus von Land und Meer die kategorische Unterscheidung von Freund und Feind sowie das Konzept des Katechon gehen auf Carl Schmitt zuruumlck als dessen Schuumller Dugin sich bezeichnet Siehe auch Fn 41

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 31

Weltaumlra das Jahr 7000 nach dem chiliadischen Weltwochenschema also der sieb-te Tag der Schoumlpfung) verweise ebenso auf den Endzeitcharakter der bdquoNeuen Weltldquo wie die bdquosakrale Geographieldquo nach der das Paradies im Osten die Houmllle aber das bdquoLand des Todesldquo im Westen zu suchen seien111

Dem Antichrist entgegen stehe seit jeher der Katechon dessen bdquoletzter Hortldquo bis ans Ende der Zeit die Heilige Rusrsquo das Dritte Rom sei112 In der petrini-schen Epoche als die Hauptstadt in die bdquonoumlrdlichen Suumlmpfeldquo in die bdquoGespenster-stadtldquo Petersburg verlegt und das Patriarchat abgeschafft wurde haumltten allein die Altglaumlubigen den Geist von Byzanz den Katechon bewahrt zweihundert Jahre lang sei der Weg frei gewesen fuumlr das zerstoumlrerische Wirken des Antichrist Erst die sowjetische Periode habe eine bdquomystische Ruumlckkehr zum Byzantismusldquo be-deutet indem die Bolschewiki das heilige Moskau wieder zur Hauptstadt erklaumlr-ten das Patriarchat wiederherstellten die Ausbeuter als Klasse vernichteten und dem Westen auf allen Gebieten Widerstand boten Im bdquoroten Byzantismusldquo der Dritten Internationale sei der Katechon zuruumlckgekehrt113

Um seine Mission zur Erloumlsung der Menschheit auch kuumlnftig zu erfuumlllen muumlsse das Dritte Rom nach dem Zerfall der Sowjetunion114 nunmehr ein groszligkon-tinentales sakral fundiertes bdquoEurasisches Imperiumldquo errichten gegen den Erz-feind die materialistische universalistische alles nivellierende Zivilisation des Westens als der Verkoumlrperung des bdquoweltweiten Boumlsenldquo (mirovoe zlo) gegen Libe-ralismus Individualismus Globalismus Egalitarismus sowie die bdquomondialisti-scheldquo Konzeption der Menschenrechte115 Verbuumlndete im bevorstehenden apoka-lyptischen bdquoEndkampfldquo (von Dugin stets deutsch geschrieben) werden all jene sein die den Bezug zum bdquoSakralenldquo noch nicht verloren haben russische Altglaumlu-bige ultraorthodoxe antizionistische Juden europaumlische Traditionalisten sowie jene bdquoanti-atlantischenldquo islamistischen Fundamentalisten die in den USA den Dajjacircl den falschen Messias und Antichrist erkennen gegen den die Retter-gestalt des Mahdicirc zu Felde ziehen wird116 111 Aleksandr Dugin Absoljutnaja Rodina Puti Absoljuta Metafizika Blagoj Vesti Misterii

Evrazii Moskva 1999 645ndash670 112 Ebd 378ndash395 493ndash521 113 Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo 74ndash76 Siehe auch ders bdquoKatechon i revoljucijaldquo in ders

Tampliery proletariata Nacional-bolrsquoševizm i iniciacija Moskva 1997 52ndash59 ndash Die mes-sianische Identifizierung des Dritten Rom mit der Dritten Internationale reicht bis ins Gruumlndungsjahr der Komintern (1919) zuruumlck Beide so der slawophile Philosoph und An-haumlnger des imjaslavie Valerian Muravrsquoev (1885ndash1930) in einem Brief vom 6 Januar 1920 an Lev Trockij seien Ausdruck der Suche des russischen Volkes und der Intelligencija nach einem Reich der Wahrheit und Gerechtigkeit Valerian Muravrsquoev Sočinenija Bd 2 Moskva 2011 352f Weitere Belege bei Emanuel Sarkisyanz Russland und der Messianis-mus des Orients Tuumlbingen 1955 196 Mikhail Agursky Third Rome National Bolshevism in the USSR Boulder Co 1987

114 Damals sah ein Journalist bdquoauf den Ruinen des Imperiumsldquo das Dritte Rom in Gefahr zu einem Land der Dritten Welt zu werden Andrej Fadin bdquoTretij Rim v tretrsquoem mire Razmy-šlenija na ruinach imperiildquo in Nezavisimaja gazeta 1291991

115 [Aleksandr Dugin] bdquoLibo-my libo-ničtoldquo in Ėlementy 8 19961997 1ndash4 hier 2 116 [Aleksandr Dugin] bdquoIdeologija Mirovogo Pravitelrsquostvaldquo in Ėlementy 2 1992 1f

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Das Dritte Rom als Zentrum des eurasischen bdquoEuro-Sowjetischen Imperiumsldquo Titelbild der von Aleksandr Dugin herausgegebenen Zeitschrift bdquoElemente Eurasische Rundschauldquo (1992) Dugins Werk mit seiner provokanten Mischung esoterischer antimoderner und antiwestlicher Motive findet besonders unter jungen Intellektuellen Anklang und Nachahmer so etwa bei dem promovierten Philosophen und selbstproklamierten bdquoorthodoxen Metaphysikerldquo Arkadij Maler einem vehementen Propagandisten einer bdquopolitischen Orthodoxieldquo (političeskoe Pravoslavie) und fuumlhrenden Ideolo-gen der bdquoneobyzantinischenldquo Doktrin Obwohl sich Maler von Dugin distan-ziert117 beschwoumlrt auch er die eschatologische bdquogeistige Mission des Dritten Romldquo die es von Byzanz geerbt habe und die in seiner bdquozentralen katechontischen Rolleldquo bestehe dem Kampf gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo des bdquogottlosen Wes-tensldquo118 Russische Politik koumlnne deshalb nicht anders als imperial sein und muumlsse ihren Einfluss auf den gesamten Planeten ausdehnen Wie Dugin sieht auch Maler die Bolschewiki in dieser Tradition als sie Moskau zur Hauptstadt des bdquoRoten

117 In den spaumlten 1990er Jahren gehoumlrte Maler der vaumlterlicherseits juumldischer Abstammung ist

zusammen mit Dugin und Ėduard Limonov zur Fuumlhrungsriege der Nationalbolschewisti-schen Partei und schrieb fuumlr die Parteizeitung Limonka sich selbst charakterisierte er als bdquorotbraunen Zionistenldquo Nach seiner Konversion zur Orthodoxie trennte er sich 1999 von Dugin und kritisierte dessen esoterischen Traditionalismus aus einer ultraorthodoxen Posi-tion Dugin wiederum warf Maler vor ihn zu plagiieren

118 Arkadij Maler Duchovnaja missija Tretrsquoego Rima Moskva 2005 bes 134ndash136 170ndash206 Siehe auch ders bdquoIdeologija Vizantizmaldquo in Severnij Katechon 1 (2005) 7ndash49 bdquoNeovi-zantizm kak novyj bolrsquošoj stilrsquoldquo in Aleksej Nilogov (Hg) Kto segodnja delaet filosofiju v Rossii Moskva 2007 110ndash124

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 33

Imperiumsldquo machten und dieses zur bdquoabsoluten Antithese des Westensldquo erklaumlrten zum bdquoTraumlger der planetarischen Mission der Befreiung der Welt aus den sbquoFesseln des Kapitalslsquoldquo119 Das Dritte Rom sei zeitweise in die Dritte Internationale trans-formiert worden ohne jedoch seine Mission als Katechon als aufhaltende Macht gegen das Reich des Boumlsen und Ausgangspunkt zur Errettung der Welt aufzuge-ben Die bdquoletzte Etappeldquo im Kampf gegen den Antichrist werde so Maler der bdquoeschatologische Krieg des Dritten Rom gegen das Dritte Karthagoldquo den bdquoAnti-katechonldquo sein die bdquoanglo-amerikanische [] atlantische Zivilisationldquo120 Zur Propagierung der katechontischen Mission Russlands gruumlndete Maler 1999 am Institut fuumlr Philosophie der Akademie der Wissenschaften in Moskau einen bdquoBy-zantistischen Klub Katechonldquo (Vizantistskij Klub Katechon) und 2005 das bdquoPhi-losophisch-politische Zentrum sbquoNoumlrdlicher Katechonlsquoldquo das einen gleichnamigen Almanach (Severnyj Katechon) herausgibt121

Apokalyptischer Ausblick

Die Formel vom Dritten Rom und die Figur des Katechon des Aufhalters des bdquoweltweiten Boumlsenldquo sind zu Markenzeichen russischer Anti-Westler und Ver-schwoumlrungstheoretiker und ihres schrillen Szenariums eines globalen apokalyp-tischen bdquoEndkampfesldquo gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo geworden122 Unter dem Titel bdquoDie russische Doktrin Die Staatsideologie der Epoche Putinsldquo verfasste in den Jahren 2005 und 2006 ein Kollektiv nationalpatriotischer Autoren ndash unter ih-nen der bdquoByzantistldquo Arkadij Maler ndash ein uumlber 1000 Seiten langes ultrakonservati-ves und antiwestliches Manifest das auch die Unterstuumltzung hoher kirchlicher Wuumlrdentraumlger fand123 In ihrem Entwurf einer bdquoorganischen weltanschaulichen Plattformldquo fuumlr das kuumlnftige Russland behandeln die Autoren ausfuumlhrlich die bdquohis-toriosophischeldquo Konzeption vom Dritten Rom und seine Mission als Katechon gegen das bdquoHeidentumldquo des Westens124 Gefordert wird die positive Identifikation

119 Maler Duchovnaja missija 182f 185 120 Ebd 177 ndash Als Mittel im ideologischen Kampf gegen den saumlkularen Westen fordert Maler

in Analogie zur katholischen Gegenreformation eine orthodoxe konservative bdquoGegenauf-klaumlrungldquo (Kontrprosveščenie) lthttpwwwkatehonruhtmltoppolitologiaideaotkritije _polit_pravoslavijahtmgt

121 Siehe die Website lthttpwwwkatehonrugt 122 Siehe zB Galina A Morozova Tretij Rim protiv novogo mirovogo porjadka Moskva

2009 Die Formel von Dritten Rom hat laumlngst auch Schriftsteller und Maler inspiriert und scheint auch werbewirksam zu sein bdquoDrittes Romldquo nennt sich ein Verlag ein Videospiel eine Bank ein Reisebuumlro und sogar ein Kasino in Jalta Ein Schoumlnheitswettbewerb in Mos-kau vergibt alljaumlhrlich den Titel einer bdquoMiss Drittes Romldquo Judith E Kalb Russiarsquos Rome Imperial Visions Messianic Dreams 1890ndash1940 Madison Wisconsin 2008 198f Zum Katechon siehe Maria Engstroumlm bdquoContemporary Russian Messianism and New Russian Foreign Policyldquo in Contemporary Security Policy 35 (2014) 3 356ndash379

123 Russkaja doktrina Gosudarstvennaja ideologija ėpochi Putina Moskva 2016 124 Ebd 68ndash72 116ndash120 und passim

34 Michael Hagemeister

mit der Geschichte Russlands und seinen Lichtgestalten dem Heiligen Serafim von Sarov dem bdquoeschatologischen Fuumlhrer des russischen Volkes am Ende der Zeitenldquo der bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo und Stalin der dem paulinischen Kate-chon gleich die bdquoGesetzlosigkeitldquo (bezzakonie) bekaumlmpft und das bdquoFundament fuumlr eine groszlige Zukunftldquo gelegt habe125

bdquoKatechonldquo nennt sich auch ein prominent besetzter Think tank den der Oligarch und Berater Putins Konstantin Malofeev im Jahr 2015 gegruumlndet hat126 Der Milliardaumlr der sein Vermoumlgen mit einer Investmentfirma auf den Cayman Inseln gemacht hat bezeichnet sich selbst als bdquoorthodoxen Monarchistenldquo127 Er unterstuumltzt die Separatisten in der Ostukraine und unterhaumllt vielfaumlltige Verbindun-gen zu europaumlischen Rechtspopulisten wie dem Front National der FPOuml Syriza und der Lega Nord Neben dem Forum bdquoKatechonldquo betreibt Malofeev auch einen Fernsehsender mit dem programmatischen Namen bdquoZargradldquo128 (Motto bdquoDas Licht Christi erleuchtet alleldquo) dessen Chefkommentator niemand anderes ist als Aleksandr Dugin129

bdquoKatechonldquo und bdquoZargradldquo propagieren den Kampf gegen die westliche Moderne mit Bezug auf das byzantinische Erbe Russlands Im November 2014 fand in der Moskauer Manege eine Konferenz bdquoMoskau ndash das Dritte Romldquo statt130 An ihr nahmen auszliger Dugin und Malofeev auch Archimandrit Tichon und Nata-lrsquoja Naročnickaja teil eine hochrangige Diplomatin Mitglied des Izborsker Klubs und Leiterin des Pariser bdquoInstituts fuumlr Demokratie und Kooperationldquo das die oumlf-fentliche Meinung im Westen im Sinne des Kremls beeinflussen soll Tichons Film bdquoDie Lehre von Byzanzldquo sei so Naročnickaja auch eine Warnung an den Westen der seine christlichen Werte verraten habe weshalb er den glaubens-festen Migranten und ihrer Verachtung hilflos ausgeliefert sei131

Im Oktober 2009 wurde Tichons Film in Athen vor ausverkauftem Saal aufgefuumlhrt Unter denen die dem Drehbuchautor Beifall spendeten war der Philo-soph und Theologe Christos Yannaras einer der Hauptvertreter der Neoorthodo-xie und scharfer Kritiker des Westens Wie ihre russischen Gesinnungsgenossen

125 Ebd 130f 153 142ndash145 126 Mit einem Auftritt im Internet in 9 Sprachen Siehe die deutsche Version unter lthttp

katehoncomdewer-sind-wirgt 127 lthttpsdewikipediaorgwikiKonstantin_Walerjewitsch_Malofejewgt 128 Carrsquograd ist der altrussische Name fuumlr Konstantinopel 129 Auch Dugin unterhaumllt seit mehr als 25 Jahren Kontakte zu ultrakonservativen traditiona-

listischen und faschistischen Gesinnungsgenossen in Westeuropa Siehe Vladimir Ivanov Alexander Dugin und die rechtsextremen Netzwerke Fakten und Hypothesen zu den inter-nationalen Verflechtungen der russischen Neuen Rechten Stuttgart 2007

130 lthttpwwwpravoslavieru75070htmlgt 131 lthttpwwwpravoslavieru7414htmlgt ndash Fuumlr Metropolit Ilarion (Alfeev) der sich dabei

auf Dugin beruft verwandeln sich die Laumlnder Westeuropas bereits in die bdquoSphaumlre des Anti-christldquo lthttpwwwpatriarchiarudbtext3065216htmlgt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 35

verherrlichen auch die griechischen Neoorthodoxen die byzantinische Vergan-genheit und sehen in der modernen saumlkularen Gesellschaft eine Bedrohung ihrer kulturellen Identitaumlt132 Gemeinsam suchen sie der Globalisierung mit einer bdquoby-zantinischen Internationaleldquo als bdquoorthodoxer Oumlkumeneldquo entgegenzuwirken einer letztlich sakral verstandenen Gemeinschaft deren Einfluss indes weit uumlber die kirchliche Sphaumlre hinausreichen und eine transnationale Vereinigung der ortho-doxen Welt von Serbien uumlber Syrien bis Georgien und Armenien unter Fuumlhrung Moskaus schaffen soll133 Als wichtiger symbolischer Schritt auf diesem Weg wurde der Besuch von Praumlsident Putin und Patriarch Kirill des Heiligen Berges Athos einer traditionellen Hochburg antiwestlicher Opposition im Mai 2016 ge-feiert Das weltliche und das geistliche Oberhaupt Russlands ndash die bdquoSymphonia der Maumlchteldquo ndash zeigten damit so Aleksandr Dugin ihr Bekenntnis zu Byzanz und seiner Rolle als Katechon Damit anerkenne bdquounsere Rusrsquo ihre historische Bestim-mung Wir sind bereit fuumlr die Endzeitldquo134

132 Ausfuumlhrlich dazu Daniel P Payne The Revival of Political Hesychasm in Contemporary

Orthodox Thought The Political Hesychasm of John Romanides and Christos Yannaras Lanham [ua] 2011 Siehe auch Vasilios N Makrides bdquoByzantium in Contemporary Greece The Neo-Orthodox Current of Ideasldquo in David RicksPaul Magdalino (Hgg) Byzantium and the Modern Greek Identity Aldershot 1998 141ndash153 Zum griechischen Neobyzantismus unter russischem Einfluss Aleksey Kamenskikh bdquoThe Image of the Second Rome through the Prism of the Thirdrdquo in Teresa Obolevich [ua] (Hgg) Russian Thought in Europe Reception Polemics Development Krakoacutew 2013 13ndash22 ndash Antimo-derne und antiwestliche Stroumlmungen in den vom orthodoxen Christentum gepraumlgten Kultu-ren haben der Religionswissenschaftler Makrides und der Slavist Uffelmann vor einigen Jahren als Desiderat der Forschung benannt Vasilios N MakridesDirk Uffelmann bdquoStudying Eastern Orthodox Anti-Westernism The Need for a Comparative Research Agendaldquo in Jonathan SuttonWil van den Bercken (Hgg) Orthodox Christianity and Contemporary Europe Leuven [ua] 2003 87ndash120 Seitdem haben Makrides und die Politikwissenschaftlerin Stoumlckl eine Reihe einschlaumlgiger Arbeiten vorgelegt in denen or-thodoxe Alternativen zu westlichen philosophischen und politischen Konzepten untersucht werden Vasilios N Makrides bdquoOrthodoxes Cristentum und Moderne ndash Inkompatibilitaumlt oder langfristige Anpassungldquo in Una Sancta 2011 1 15ndash30 ders bdquoOumlstliches orthodo-xes Christentum und Saumlkularitaumlt Ein Vergleich mit dem lateinischen Christentumldquo in Transit 47 (2015) 59ndash75 Kristina Stoumlckl bdquoModernity and its Critique in Twentieth Cen-tury Russian Orthodox Thoughtldquo in Studies in East European Thought 58 (2006) 243ndash269 dies Community after Totalitarianism The Russian Orthodox Intellectual Tradition and the Philosophical Discourse of Political Modernity Frankfurt aM [ua] 2008

133 Dazu gehoumlrt auch die Verwirklichung des jahrhundertealten Traums der Wiedererrichtung des Kreuzes auf der Hagia Sophia Siehe Egor Cholmogorov Russkij proekt restavracija buduščego Moskva 2005 283 Der Verfasser Mitglied des Expertenteams des Izborsker Klubs ist Begruumlnder der Doktrin der bdquoAtomaren Orthodoxieldquo siehe Fn 74

134 Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Traditionldquo

ZUM AUTOR

Michael Hagemeister geb 1951 in EllwangenJagst Studium der Slavistik Ge-schichte Germanistik und Philosophie in Basel und MarburgLahn Promotion mit einer Arbeit uumlber den russischen Philosophen Nikolaj Fedorov Wissenschaft-licher Mitarbeiter am Slawischen Seminar in Marburg Gastprofessor am Seminar fuumlr Komparatistik der Universitaumlt Innsbruck Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lotman-Institut fuumlr russische und sowjetische Kultur der Ruhr-Universitaumlt Bo-chum am Lehrstuhl fuumlr Geschichte Osteuropas der Europa-Universitaumlt Viadrina Frankfurt (Oder) an den Historischen Seminaren der Universitaumlten Basel Duumlssel-dorf und Bochum Vertretung der Professuren fuumlr Geschichte Osteuropas an der Ludwig-Maximilians Universitaumlt Muumlnchen und an der Europa-Universitaumlt Frank-furt (Oder)

Forschungen zur russischen Philosophie und Geistesgeschichte zum utopischen und apokalyptischen Denken in Russland zum russischen Rechtsextremismus und Antisemitismus sowie insbesondere zu den Protokollen der Weisen von Zion und ihrem Herausgeber Sergej Nilus Publikationen ua Die Neue Menschheit Biopolitische Utopien in Russland (hg mit Boris Groys) Frankfurt aM 2005 The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimensions (hg mit Birgit Menzel und Bernice Rosenthal) Muumlnchen 2012 Die Fiktion von der juumldischen Weltver-schwoumlrung Zu Text und Kontext der bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo (hg mit Eva Horn) Goumlttingen 2012 Die bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo vor Gericht Der Berner Prozess und die bdquoantisemitische Internationaleldquo in der Zwischen-kriegszeit Chronik Dokumente und Kommentare Zuumlrich (im Druck)

ERFURTER VORTRAumlGE ZUR KULTURGESCHICHTE DES ORTHODOXEN CHRISTENTUMS Reihenherausgeber Vasilios N Makrides

Heft 1 Thomas Bremer Konfrontation statt Oumlkumene Zur kirchlichen Situation in der Ukraine Erfurt 2001

Heft 2 Gerhard Podskalsky Zur Hermeneutik des theologischen Ost-West-

Gespraumlchs in historischer Perspektive Erfurt 2002 Heft 3 Karl Christian Felmy Warum und zu welchem Behufe treiben wir

Ostkirchenkunde Erfurt 2003 Heft 4 Wassilios Klein bdquoTatarenjoch ndash татарское игоldquo Beobachtungen zur

Wahrnehmung des Islam im eurasischen Raum Erfurt 2005 Heft 5 Stamatios D Gerogiorgakis Zeitphilosophie im Mittelalter Byzantinische

und lateinische Vorstellungen Erfurt 2006 Heft 6 Heinz Ohme Das Oumlkumenische Patriarchat von Konstantinopel und die

tuumlrkische Religionspolitik Erfurt 2007 Heft 7 Alexander Agadjanian Russian Orthodox Vision of Human Rights Recent

Documents and Their Significance Erfurt 2008 Heft 8 Christos Yannaras Wem gehoumlrt die griechische Antike Erfurt 2009 Heft 9 Joachim Willems Religions- und Ethikunterricht in Russland ndash Was

wollen Staat und Kirche Zur Einfuumlhrung des neuen Schulfaches bdquoGrundlagen der religioumlsen Kulturen und der weltlichen Ethikldquo Erfurt 2010

Heft 10 Chris Hann Eastern Christianity and Western Social Theory Erfurt 2011 Heft 11 Jennifer Wasmuth Akademische Theologie im zaristischen Russland in

ihrer Bedeutung fuumlr die neuere orthodoxe Theologie Erfurt 2012 Heft 12 Anna Briskina-Muumlller Auf der Suche nach der bdquoHesychialdquo Paisij

Veličkovskij (1722ndash1794) und sein Leben fuumlr die bdquoPhilokalieldquo Erfurt 2014

Heft 13 Vladimir Cvetković From ldquoMerciful Angelrdquo to ldquoFortress Europerdquo The

Perception of Europe and the West in Contemporary Serbian Orthodoxy Erfurt 2015

Heft 14 Stefan G Reichelt Lebenslinien Nikolaj A Berdjaev (1874ndash1948) und Sergij N Bulgakov (1871ndash1944) im Westen ndash Eine Wuumlrdigung Erfurt 2015

Heft 15 Michael Hagemeister Der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo ndash bdquoNeobyzantismusldquo

und bdquopolitischer Hesychasmusldquo im postsowjetischen Russland Erfurt 2016

Alle Hefte der vorliegenden Schriftenreihe koumlnnen unter folgendem Link kostenlos heruntergeladen werden URL httpswwwuni-erfurtdereligionswissenschaftprofessur-orthodoxes-christentumveroeffentlichungenerfurter-vortraege-zur-kulturgeschichte-des-orthodoxen-christentums

Page 19: Michael Hagemeister FINAL - uni-erfurt.de · doziert Tichon, während er das antike Kons tantinopel computeranimiert auferste- hen lässt. Das prosperierende Impe rium erregte freilich

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 19

Abstraktheit Zersplitterung und Atomisierung58 Der Sieg des Nominalismus im mittelalterlichen Universalienstreit und die Feier des autonomen Individuums in Renaissance Humanismus und Aufklaumlrung markieren in dieser katastrophischen Perspektive den Zerfall der goumlttlichen Ordnung des Universums und der Sakralitaumlt von Hierarchie und Herrschaft und damit den bdquoSuumlndenfallldquo der abendlaumlndischen Kultur die im Anthropozentrismus der satanischen Hybris einer bdquoSelbstvergot-tungldquo des Menschen (čelovekobožie)59 zugleich gipfele und scheitere60

Am Anfang dieser verhaumlngnisvollen Spaltung standen die Annahme der pa-lamitischen Lehre durch die Ostkirche und die Ablehnung dieser Lehre im Westen durch den bdquoRenaissance-Menschenldquo (vozroždenec) Barlaam den Lehrer Boccac-cios und Petrarcas61 Mit aller Schaumlrfe formulierte Losev diesen Gegensatz bdquo[hellip] entweder ist das Taborlicht untrennbar vom Wesen Gottes und ist deshalb Gott selbst (obwohl Gott selbst nicht [das] Licht ist) ndash dann ist die Orthodoxie gerettet oder das Licht ist vom Wesen Gottes trennbar und darum geschaffen ndash dann be-ginnen die apokalyptischen Kraumlmpfe des Renaissance-Westensldquo62 Indem sie Bar-laam einen bdquozugereisten Kalabrierldquo und seine Anhaumlnger mit dem Bann belegte habe die Orthodoxe Kirche so Losev die damals heraufziehende Renaissance

58 Siehe zB Pavel Florenskij bdquoAvtoreferat (192526)ldquo in Voprosy filosofii 1988 12 113ndash

116 dt Pavel Florenski bdquoAutorreferatldquo in ders Leben und Denken hg von Fritz und Sieglinde Mierau Bd 1 Ostfildern 1995 32ndash38 Aleksej Losev Dialektika mifa (1930) Moskva 2001 137ndash138 dt Die Dialektik des Mythos Hamburg 1994 109 ndash Die wertende Entgegensetzung von mittelalterlicher und Renaissance-Kultur (bzw der Typen bdquoobjekti-verldquo und bdquosubjektiverldquo Kulturen) findet sich durchgaumlngig im Werk Florenskijs und Losevs Siehe zuletzt Oksana SedychJulija Grišatova bdquoRusskij Renessans o Renessanseldquo in Vo-prosy filosofii 2015 6 111ndash121

59 bdquoSatan war der erste Revolutionaumlrldquo zitiert Losev einen (apokryphen) Ausspruch des Hl Serafim von Sarov Aleksej Losev bdquoDopolnenie k sbquoDialektike mifalsquo (novyj fragment)ldquo in AF Losev tvorčestvo tradicii interpretacii Moskva 2014 397ndash411 hier 401

60 So degradiere ndash um nur ein Beispiel fuumlr das Scheitern der Renaissance zu geben ndash das heliozentrische Weltbild eines Kopernikus und Giordano Bruno den Menschen zum Be-wohner eines bdquonichtigen Sandkornsldquo im unendlichen Weltraum SedychGrišatova bdquoRuss-kij Renessansldquo 114 Florenskij suchte denn auch in seiner Schrift Mnimosti v geometrii (1922) das geozentrische Weltbild des Mittelalters zu rehabilitieren Zum griechisch-or-thodoxen Antikopernikanismus Vasilios Makrides Die religioumlse Kritik am kopernikani-schen Weltbild in Griechenland zwischen 1794 und 1821 Aspekte griechisch-orthodoxer Apologetik angesichts naturwissenschaftlicher Fortschritte Frankfurt aM [ua] 1995

61 Mitunter wurde Barlaam sogar als Agent einer groszligangelegten antiorthodoxen Verschwouml-rung des bdquoPapismusldquo denunziert Siehe Ėkonomcev bdquoIsichazmldquo 59 vgl ders bdquoDer Hesy-chasmusldquo 736 ndash Eine Kontrastierung des weltlichen Humanisten Petrarca und des Hesy-chasten Palamas unternahm Losevs Schuumller und Sekretaumlr Vladimir Bibichin lthttpwww philologyruliterature3bibikhin-90htmgt

62 Aleksej Losev Očerki antičnogo simvolizma i mifologii Moskva 1930 856 Auch Ėko-nomcev spricht von den bdquoschreienden Widerspruumlchen und Grimassen der westlichen Re-naissance deren geistiger Vater Barlaam wurdeldquo Ėkonomcev bdquoIsichazmldquo 63 (in der deut-schen Version ist von bdquohimmelschreienden Gegensaumltzenldquo und bdquoscheuszliglichen Grimassenldquo die Rede Ėkonomcev bdquoDer Hesychasmusldquo 746)

20 Michael Hagemeister

insgesamt verdammt (anafematstvovala) der alle westlichen Voumllker verfallen sei-en und wahrscheinlich bis ans Ende ihrer Tage verfallen blieben63

Bis zuletzt verteidigte Losev ein mit Orden des Sowjetstaates ausgezeich-neter Philosoph der 1929 von Archimandrit David (Muchranov 1847ndash1930) ei-nem Fuumlhrer der hesychastischen bdquoNamensverehrerldquo (imjaslavcy)64 heimlich zum Moumlnch geweiht worden war die Lehre des Palamas als einen Grundpfeiler der Orthodoxie65 Gleichzeitig hielt er an seiner schroffen Ablehnung des bdquoRenaissan-ce-Westensldquo fest dessen Geschichte insgesamt nichts anderes sei als bdquoeine libera-le Kritik des Mittelaltersldquo 1978 stellte Losev in seiner umfangreichen Studie zur Aumlsthetik der Renaissance der bdquoganzheitlichen Kulturldquo (celostnaja kulrsquotura) des Mittelalters die zerrissene Kultur der Renaissance gegenuumlber die auf der Verabso-lutierung und bdquotitanischen Verherrlichungldquo des isolierten Subjekts und der bdquoAbge-trenntheit vom lebendigen Seinldquo (otryv ot živogo bytija) beruhe66 In einem Ge-spraumlch mit dem Schriftsteller Viktor Erofeev das 1985 veroumlffentlicht wurde de-nunzierte Losev den Typus des bdquoRenaissance-Menschenldquo der sich selbst vergoumltt-liche und deshalb dem Nihilismus und Satanismus verfalle bdquoIndem die Renais-sance das Subjekt zum Absolutum erhob oumlffnete sie den Weg fuumlr den Triumph des Subjektivismus in den folgenden Jahrhunderten In diesem Sinne stellt der gesamte Westen fuumlr mich eine Sackgasse des Denkens darldquo67 Damit geriet der Philosoph einerseits in scharfen Gegensatz zum sowjetischen Selbstverstaumlndnis das sich als Erbe und Vollender gerade jener bdquoprogressivenldquo Prozesse und huma-nistischen Traditionen sah die von der europaumlischen Renaissance ausgegangen

63 Losev Očerki 849 856 64 Zur Bewegung des imjaslavie die zu Beginn des 20 Jahrhunderts auf dem Athos entstand

und in Florenskij und Losev prominente Unterstuumltzer fand liegt inzwischen eine reiche Literatur vor Siehe die juumlngste Veroumlffentlichung Antoine Niviegravere Les glorificateurs du nom Une querelle theacuteologique parmi les moines russes du mont Athos (1907ndash1914) Genegraveve 2016

65 Siehe Valentina Postovalova bdquoAfonskij spor ob Imeni Božiem v filosofsko-bogoslovskom osmyslenii AF Losevaldquo in AF Losev 95ndash106 bes 105f

66 Aleksej Losev Ėstetika Vozroždenija Moskva 21982 (11978) 45 61 137 und passim Losevs Modernekritik erinnert an Heidegger und dessen Begriff der bdquoSeinsvergessenheitldquo Wie fuumlr Heidegger so war auch fuumlr Losev (und Florenskij) der Agent der verhassten Moder-ne ein bdquorechnendesldquo und bdquowurzellosesldquo mythisches Judentum Zu Losevs metaphysischem Antisemitismus (bdquodas satanische Wesen des Judentumsldquo) siehe zuletzt mit zahlreichen Belegen Natalrsquoja Boneckaja Duch Serebrjanogo veka (fenomenologija ėpochi) Moskva Sankt-Peterburg 2016 688ndash693

67 Aleksej Losev bdquoV poiskach smyslaldquo in Voprosy literatury 1985 10 205ndash231 hier 229 Zu Losevs Kritik der bdquoRenaissance-Kulturldquo des Westens ausfuumlhrlich Annett Jubara Die Philosophie des Mythos von Aleksej Losev im Kontext bdquoRussischer Philosophieldquo Wiesba-den 2000 bes 131ndash154 Siehe auch Naftalij Prat bdquoAleksej Losev und der Totalitarismusldquo in Leonid Luks (Hg) Das Christentum und die totalitaumlren Herausforderungen des 20 Jahrhunderts Koumlln [ua] 2002 103ndash114 bes 108f

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 21

waren (augenfaumlllig etwa in der Architektur der 1930er bis 50er Jahre)68 Anderer-seits erwies sich der orthodoxe Moumlnch damit auch als Apologet des Sowjetregi-mes bedroht die Autonomie des Individuums doch den Wesenskern einer jeden Herrschaft die das Wahrheitsmonopol fuumlr sich beansprucht

Die Ablehnung der modernen bdquokopernikanischen Weltldquo (Hans Blumen-berg) durchzieht das gesamte philosophische Werk Losevs und Florenskijs dazu gehoumlren die Ablehnung des heliozentrischen Weltbildes die Polemik gegen Kants kritischen Idealismus (die bdquokopernikanische Wendeldquo in der Philosophie) die Ab-lehnung der Zentralperspektive in der Kunst die Ablehnung des nominalistischen Rationalismus und schlieszliglich die Ablehnung der saumlkularen und demokratischen Gesellschaftsordnung zugunsten einer bdquoVerkirchlichungldquo (ocerkovlenie) aller Be-reiche der Gesellschaft und des Staates in Gestalt einer theokratischen Synarchie Florenskij der sich als einen mittelalterlichen Menschen charakterisierte69 ndash Ni-kolaj Berdjaev selbst Verkuumlnder eines religioumls-integralen bdquoNeuen Mittelaltersldquo nannte ihn einen bdquoraffinierten Reaktionaumlrldquo ndash70 war uumlberzeugt dass die bdquoentseelte Renaissance-Zivilisationldquo sich erschoumlpft habe und eine neue ganzheitlich-objekti-ve Kultur anbrechen werde71 Vorbild dieser bdquoKultur des anderen Typusldquo werde Russland sein bdquoerste Keimeldquo seien bereits zu erkennen Seine Zeit begriff Floren-skij bdquoan den Wasserscheiden des Denkensldquo und er sah seine Lebensaufgabe darin bdquoWege zu bahnen zu einer kuumlnftigen ganzheitlichen Weltanschauungldquo72

68 Losevs Renaissance-Kritik (va in Ėstetika Vozroždenija) wurde deshalb auch als ver-

schleierte Kritik am Sowjetsystem verstanden Siehe Annett Jubara bdquoAleksej Losevs Philosophie des Mythos als Kritik an der Sowjetischen Moderneldquo in Studies in East Euro-pean Thought 56 (2004) 211ndash224 Aus dem Kreis der Schuumller Losevs gingen seit den 1960er Jahren zahlreiche dissidentische russische Nationalisten hervor Nikolaj Mitrochin Russkaja partija Dviženie russkich nacionalistov v SSSR 1953ndash1985 Moskva 2003 288f Zur Kritik der Renaissance-Zivilisation siehe auch Vladimir Bibichin Novyj renessans Moskva 1998 bes 131ndash155

69 Siehe Florenskij bdquoAvtoreferatldquo Noch im Maumlrz 1933 nach seiner Verhaftung erklaumlrte Flo-renskij gegenuumlber den Ermittlungsbeamten bdquoIch Pavel Aleksandrovič Florenskij [hellip] bin dem Charakter meiner politischen Anschauungen nach ein Romantiker des Mittelalters un-gefaumlhr des 14 Jahrhundertsldquo Vitalij Šentalinskij bdquoUdel veličijaldquo in Ogonek 1990 45 23ndash27 hier 26

70 Nikolaj Berdjaev Samopoznanie (Opyt filosofskoj avtobiografii) Moskva 1991 161 Sie-he Nikolaj Berdjaev Novoe srednevekovrsquoe Berlin 1924 dt Nikolaus Berdjajew Das Neue Mittelalter Darmstadt 1927

71 Siehe Michael Hagemeister bdquoWiederverzauberung der Welt ndash Pavel Florenskijs Neues Mittelalterldquo in Norbert Franz [ua] (Hgg) Pavel Florenskij ndash Tradition und Moderne Beitraumlge zum Internationalen Symposium an der Universitaumlt Potsdam 5 bis 9 April 2000 Frankfurt aM [ua] 2001 21ndash41 Zu Florenskijs Kritik an Renaissance und Humanismus (bdquoder Humanismus entsprang der Kabbalaldquo) siehe auch Ilona Svetlikova bdquoOb ideologii sbquoobratnoj perspektivylsquo Pavla Florenskogoldquo in Russkaja intellektualʼnaja revoljucija 1910ndash1930-ch godov Moskva 2016 123ndash139 zu den Uumlbereinstimmungen mit Heidegger siehe Viktor Arslanov Postmodernizm i russkij bdquotretij putrsquoldquo tertium datur rossijskoj kulrsquotury XX veka Moskva 2007 472ndash499

72 Florenskij bdquoAvtoreferatldquo 114

22 Michael Hagemeister

In juumlngster Zeit hat das wiedererwachte Interesse an der eigenen spirituellen Tradition und ihren byzantinischen Wurzeln ndash oftmals verbunden mit dem Bestre-ben sich vom bdquosaumlkularen Westenldquo und der bdquowestlichen Moderneldquo abzugrenzen ndash zu einer Wiederbelebung des palamitischen Hesychasmus (neopalamizm) und der ndash davon zu unterscheidenden ndash bdquoNamensverehrungldquo (imjaslavie) gefuumlhrt73 Be-reits in den 1970er Jahren war John Meyendorffs klassische Studie St Greacutegoire Palamas et la mystique orthodoxe (Paris 1959) ins Russische uumlbersetzt worden und kursierte in der Sowjetunion in Samizdat-Ausgaben im Milieu religioumls-philo-sophischer Dissidenten Heute wird die Wiederbelebung des Hesychasmus auch durch den patriotischen Kult um Serafim von Sarov (Prochor Mošnin 1759ndash1833) befoumlrdert einen Wundertaumlter und Apokalyptiker der im postsowjetischen Russland zu einem der meistverehrten Heiligen avanciert ist74 In einer in viele Sprachen uumlbersetzten und millionenfach verbreiteten Schrift schildert sein Schuuml-ler Nikolaj Motovilov (1809ndash1879) die Verklaumlrung Serafims im ungeschaffenen Licht des Heiligen Geistes die sich angeblich im November 1831 auf einer einsa-men verschneiten Waldlichtung ereignet hat75

73 Dies gilt nicht nur fuumlr Russland auch auf Vertreter der angelsaumlchsischen bdquoRadical Ortho-

doxyldquo die das Projekt einer von modern-saumlkularem Denken nicht korrumpierten Theologie verfolgen uumlben Hesychasmus und russische Sophiologie starke Faszination aus Siehe die Beitraumlge in Adrian PabstChristoph Schneider (Hgg) Encounter Between Eastern Ortho-doxy and Radical Orthodoxy Transfiguring the World Through the Word Farnham 2009 Zur Wiederbelebung des imjaslavie im post-sowjetischen Russland siehe Scott M Ken-worthy bdquoDebating the Theology of the Name in Post-Soviet Russia Metropolitan Ilarion Alfeev and Sergei Khoruzhiildquo in Katya Tolstaya (Hg) Orthodox Paradoxes Hetero-geneities and Complexities in Contemporary Russian Orthodoxy LeidenBoston 2014 250ndash264 Siehe auch Loren Grahams Bericht uumlber diskrete Zusammenkuumlnfte der imjaslav-cy im Kellergeschoss der Moskauer Tatrsquojana-Kirche in den fruumlhen 2000er Jahren Loren GrahamJean-Michel Kantor Naming Infinity A True Story of Religious Mysticism and Mathematical Creativity Cambridge MassLondon 2009 1ndash5

74 Fuumlr die Anhaumlnger der Doktrin einer bdquoAtomaren Orthodoxieldquo (atomnoe pravoslavie) ist Se-rafim auch der Schutzheilige der russischen Atombombe wurde doch Sarov der Ort seines Wirkens 1946 unter dem Namen Arzamas-16 zur streng geheimen Nuklearstadt in der Wissenschaftler unter ihnen Andrej Sacharov am Bau der sowjetischen Atom- und Was-serstoffbomben arbeiteten Patriotische Russen deuten dies als Zeichen dass bdquoim Hause unseres Vaters Serafimldquo mit dessen Segen der nukleare bdquoSchild zum Schutz der Heimatldquo geschmiedet worden sei Pavel V Florenskij bdquoNeobchodimostrsquo našej atomnoj bombyldquo in Naš sovremennik 1997 4 219ndash221 Bei dem Verfasser handelt es sich um einen Enkel des beruumlhmten Philosophen Siehe auch lthttpsruwikipediaorgwiki Атомное_правосла виеgt

75 Die Schrift deren Authentizitaumlt umstritten ist wurde bekannt unter dem Titel bdquoGespraumlch uumlber das Ziel des christlichen Lebensldquo (Beseda o celi christianskoj žizni) Erstmals veroumlf-fentlicht wurde das bdquoGespraumlchldquo 1903 von Sergej Nilus (1862ndash1929) dem Herausgeber und Kommentator der Protokolle der Weisen von Zion Siehe Michael Hagemeister bdquoIl proble-ma della genesi del sbquoColloquio con Motovilovlsquoldquo in Adalberto Mainardi (Hg) San Sera-fim Da Sarov a Diveevo Atti del IV Convegno ecumenico internazionale di spiritualitagrave russa Bose 18ndash20 settembre 1996 Magnano 1998 157ndash174 Bis heute gibt es keine kriti-sche Ausgabe dieses zentralen Textes russischer Geistigkeit

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 23

Von der Wiederbelebung des Hesychasmus zeugt auch das groszligangelegte Projekt einer bdquosynergetischen Anthropologieldquo (sinergijnaja antropologija) des Mathematikers Physikers und religioumlsen Philosophen Sergej Choružij Prakti-sches Ziel das seit 2005 durch ein eigenes Institut in Moskau verfolgt wird ist die psychosomatisch-holistische Selbsttransformation des Menschen die auf unmittelbarer (mystisch-energetischer) Erfahrung bzw Einwirkung des ontolo-gisch Anderen (Goumlttlichen) beruht sowie die Uumlberwindung der Subjekt-Objekt-Trennung der modernen westlichen Philosophie die Choružij fuumlr den von ihm als krisenhaft und katastrophisch beschriebenen Zustand der westlichen Moderne verantwortlich macht Im Unterschied zu orthodoxen Fundamentalisten und Anti-Westlern sucht Choružij indes die asketischen Praktiken des Hesychasmus mit modernen und postmodernen westlichen Anthropologien (Kierkegaard Scheler Heidegger und insbesondere Foucaults technique oder practique de soi) in Bezie-hung zu setzen76

bdquoPolitischer Hesychasmusldquo

Es duumlrfte deutlich geworden sein dass Hesychasmus nicht nur eine weltabge-wandte mystisch-asketische bdquogeistige Praxisldquo bezeichnet sondern auch als Kampfbegriff gegen die saumlkulare Kultur des bdquoWestensldquo und der bdquowestlichen Mo-derneldquo dient Dies gilt vor allem fuumlr das Konzept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo (političeskij isichazm)

In den russischen Diskurs wurde dieses Konzept um die Mitte der 1960er Jahre von dem Leningrader Mediaumlvisten und Byzantinisten Gelian Prochorov ein-gefuumlhrt77 Seiner Hauptthese zufolge wurde der Hesychasmus nachdem er aus den Klosterzellen herausgetreten war und eine philosophisch-theologische

76 Siehe Sergej Choružij Očerki sinergijnoj antropologii Moskva Inst Sinergijnoj antropo-

logii Inst filosofii teologii i istorii Sv Fomy 2005 ders (Hg) Fonarrsquo Diogena Proekt sinergijnoj antropologii v sovremennom gumanitarnom kontekste Moskva 2010 ders bdquoDie mystische Verwandlung des Menschen Uumlber den Hesychasmus als Raum der Philo-sophieldquo in Fuge Journal fuumlr Religion amp Moderne 7 (2010) 72ndash99 Siehe auch die Web-site lthttpsynergia-isarugt Kristina Stoeckl bdquoA New Anthropology Sergej S Khoru-žijrsquos Search for an alternative to the Cartesian Subject in sbquoOčerki sinergijnoj antropologiilsquoldquo in Studies in East European Thought 59 (2007) 237ndash245

77 Gelian Prochorov bdquoĖtničeskaja integracija v Vostočnoj Evrope v XIV-m veke Ot isichastskich sporov do Kulikovskoj bitvyldquo in Doklady otdelenija ėtnografii 2 (196265) Leningrad 1966 81ndash110 ders bdquoIsichazm i obščestvennaja myslʼ v Vostočnoj Evrope v XIV vldquo in Literaturnye svjazi drevnich slavjan (Trudy otdela drevnerusskoj literatury 23) Leningrad 1968 86ndash108 ders bdquoKulʼturnoe svoeobrazie ėpochi kulikovskoj bitvyldquo in Kulikovskaja bitva i podldquoem nacionalrsquonogo samopoznanija (Trudy otdela drevne-russkoj literatury 34) Leningrad 1979 3ndash17 ndash Prochorov gehoumlrte bereits zu Sowjetzeiten ins Lager der (neo-)slavophilen Anti-Westler er war eng befreundet mit dem bdquoEurasierldquo und Antisemiten Lev Gumilev (1912ndash1992) und uumlbernahm von diesem das Konzept der bdquoEthnogeneseldquo

24 Michael Hagemeister

Grundlegung erfahren hatte am Ende des 14 Jahrhunderts zu einem entscheiden-den politischen und kulturellen Faktor nicht nur in Byzanz sondern in ganz Ost-europa und lieferte unter anderem das ideologische Fundament zur Konsolidie-rung der nachmongolischen Rusʼ Im Streit zwischen dem bdquorationalistischen Hu-manismus und dem kontemplativen Hesychasmus [hellip] entschied Byzanz uumlber sein geistiges Schicksal Das Land blieb bis zuletzt mittelalterlich Den Hesy-chasten gelang es zu Wortfuumlhrern der oumlffentlichen Meinung in Byzanz zu werden die letzte schoumlpferische Synthese seiner traditionellen Kultur zu entwickeln und eine breite kulturelle und gesellschaftliche Bewegung in Gang zu setzen die zu einer Erneuerung des Mittelalters und zu einer Wiederbelebung der Orthodoxie im ganzen oumlstlichen Europa fuumlhrteldquo78

Im Anschluss an das von seinem Lehrer Dmitrij Lichačev entwickelte Kon-zept einer bdquoVorrenaissanceldquo (Predvozroždenie)79 spricht Prochorov von einer bdquovorrenaissancelichen Gegenreformationldquo (predvozroždenčeskaja kontrreforma-cija) und einer bdquoOrthodoxen Renaissanceldquo (Pravoslavnoe Vozroždenie)80 Ge-meint war damit dass die Palamiten (Hesychasten) den Sieg der Barlaamiten ver-hindern konnten und auf die Schriften der antiken Kirchenvaumlter zuruumlckgreifend ein mystisch-kontemplatives Aumlquivalent zum rationalistischen und saumlkularen Hu-manismus geschaffen haumltten Auf diese Weise habe der drohende Uumlbergang der byzantinischen und osteuropaumlischen christlich gepraumlgten Kultur von der bdquoVorre-naissanceldquo zu einer auf heidnisch-antiken Wurzeln beruhenden Renaissance ab-gewendet werden koumlnnen81 Auf die bdquoVorrenaissanceldquo sei ein bdquoNeues Mittelalterldquo gefolgt das in der bdquoHeiligen Rusʼldquo um die Wende zum 15 Jahrhundert seinen Houmlhepunkt erreicht habe Ihm verdanke Russland seine Groumlszlige und die russische Kultur ihre bdquoUniversalitaumltldquo und bdquoGeistigkeitldquo82

Bemerkenswert ist dass der sowjetische Wissenschaftler die beiden ideolo-gischen Lager mit traditionellen (neo-)slavophilen Wertungsoppositionen wie sie bereits bei Florenskij und Losev begegnet sind verbindet und dabei deutlich seine 78 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 4 79 Vor allem in seinem Buch Kulʼtura Rusi vremeni Andreja Rubleva i Epifanija Premudrogo

MoskvaLeningrad 1962 80 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 8 Siehe auch ders Nekogda ne narod a nyne narod

Božijhellip Drevnjaja Rusʼ kak istoriko-kulʼturnyj fenomen Sankt-Peterburg 2010 133ndash157 81 So auch Igorʼ Ėkonomcev bdquoDie osteuropaumlische sbquoVorrenaissancelsquo ist nicht die erste Stufe

zur saumlkularisierten Renaissance vom abendlaumlndischen Typ sondern ihre Antithese Der geistige und kulturelle Aufschwung in Osteuropa war die wahre volle und eindeutige Re-naissance die sich grundlegend von der westlichen Renaissance unterschied Sie haumltte sich niemals in eine Renaissance westlicher Praumlgung verwandeln koumlnnenldquo Ėkonomcev bdquoDer Hesychasmusldquo 764 vgl ders bdquoIsichazmldquo 69 Diese (osteuropaumlische) Renaissance so Ėkonomcev an anderer Stelle sei ungleich bdquoerhabener geistiger und reinerldquo gewesen als bdquodie westeuropaumlische Renaissance mit ihrer krankhaften Disharmonie zwischen Glauben und Vernunft Geist und Leib die trotz allem gespieltem Optimismus ein Gefuumlhl der Aus-weglosigkeit und Verzweiflung hinterlaumlsstldquo Igumen Ioann Ėkonomcev bdquoVizantinizm Kirillo-Mefodievo nasledie i kreščenie Rusildquo in ders Pravoslavie Vizantija Rossija Sbornik statej Moskva 1992 7ndash22 hier 18

82 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 9 15

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 25

Sympathie zeigt Die byzantinischen Humanisten werden von ihm als kalte Ratio-nalisten dargestellt die in der Hoffnung auf militaumlrische Unterstuumltzung durch den katholischen Westen im Kampf gegen die Osmanen bereit gewesen seien den eigenen Glauben zu opfern83 Die Hesychasten hingegen haumltten so Prochorov den Westen realistischer eingeschaumltzt und auf Hilfe von Seiten der orthodoxen Staaten gehofft Im entscheidenden Moment haumltten nicht die bdquoWestler-Huma-nistenldquo (zapadniki-gumanisty) mit ihren bdquokalten Uumlberlegungenldquo (cholodnymi rassuždenijami) beim Volk Gehoumlr gefunden sondern die Hesychasten mit ihren bdquoheiszligen Gebetenldquo (gorjačimi molitvami)84

Mit seiner Apologie eines bdquowiederbelebtenldquo Mittelalters und einer bdquoOrtho-doxen Renaissanceldquo die alle Bereiche des politischen gesellschaftlichen und kul-turellen Lebens gepraumlgt habe und deren Kern der Hesychasmus gewesen sei stieszlig Prochorov bei seinen sowjetischen Kollegen auf Kritik So sah Apollon Kuzmin im Palamismus eine desintegrative Erscheinung weshalb er Prochorovs positive Bewertung der Hesychasten bei der bdquoWiedergeburtldquo der Rusʼ zuruumlckwies85 Aumlhn-lich argumentierte Gennadij Litavrin Die Palamiten seien diejenigen gewesen die eine unrealistische Einschaumltzung der politischen Lage gehabt haumltten Sie haumltten die Bedrohung durch die Tuumlrken nicht erkannt und stattdessen die Illusion verbreitet die Feinde zum Christentum bekehren und zu neuen Untertanen ma-chen zu koumlnnen Der Palamismus sei eine bdquoIdeologie der Demutldquo und habe eine bdquounheilvolle Rolle in der Geschichte des Kampfes gegen die tuumlrkische Aggres-sionldquo gespielt86 Michail Sjuzjumov sprach sogar vom bdquoasozialen Charakter des Palamismusldquo der den aufkommenden humanistischen Tendenzen gegenuumlber feindlich gewesen und zur bdquoIdeologie der Reaktionldquo in Byzanz geworden sei87 Auf Ablehnung stieszlig Prochorov auch im Ausland Valerij Lepachin kritisierte den Begriff bdquopolitischer Hesychasmusldquo als unzulaumlssige Verbindung weltlicher und geistlicher Sphaumlren damit verliere der Hesychasmus seinen wesentlichen Sinn-gehalt88 Fuumlr den in Berkeley lehrenden Philologen Viktor Živov schlieszliglich war

83 Ebd 12 84 Ebd 13 ndash An anderer Stelle betont Prochorov den Gegensatz zwischen den abstrakten

bdquoausgedachtenldquo philosophischen Konstruktionen des europaumlischen Idealismus und der ganzheitlichen kontemplativ-spekulativen Welterfahrung der griechisch-byzantinischen Philosophie Prochorov bdquoĖtničeskaja integracijaldquo 90f An Florenskijs Renaissance-Kritik (etwa in Ikonostas 1922) erinnert auch Prochorovs Verweis auf den euklidischen Raum und den Perspektivismus der humanistischen Weltwahrnehmung mit seiner Illusion der Unendlichkeit Prochorov bdquoIsichazmldquo 94

85 Apollon Kuzmin bdquoCerkovʼ i svetskaja vlastʼ v ėpochu Kulikovskoj bitvyldquo in Voprosy naučnogo ateizma 37 (1988) 90ndash99

86 Gennadij Litavrin bdquoVizantija v period graždanskoj vojny i dviženija Zilotov (1341ndash1355 gg)ldquo in Sergej Skazkin (Hg) Istorija Vizantii Bd 3 Moskva 1967 135ndash160 hier 158

87 Michail Sjuzjumov bdquoFilosofija i bogoslovieldquo in ebd 234ndash256 hier 248f 88 Valerij Lepachin bdquoUmnoe delanie (o soderžanie i granicach ponjatija sbquoisichazmlsquo)ldquo in

Vestnik Russkogo Christianskogo Dviženija 164 1992 5ndash32 hier 23

26 Michael Hagemeister

bdquopolitischer Hesychasmusldquo bdquokonzeptuelles Unkraut [sornjak] das man so schnell wie moumlglich ausrottenldquo solle89

Fast ein halbes Jahrhundert nach ihrer ersten Veroumlffentlichung wurde Pro-chorovs Konzept eines bdquopolitischen Hesychasmusldquo von seinem Schuumller Vladimir Petrunin wieder aufgegriffen und aktualisiert In der 2009 erschienenen Monogra-phie bdquoDer politische Hesychasmus und seine Traditionen in der Sozialkonzeption des Moskauer Patriarchatsldquo90 stellt Petrunin das sogenannte bdquoNichtgehorsamkeits-prinzipldquo (princip nepovinovenija) wie es in den von der Moskauer Bischofssyno-de im August 2000 verabschiedeten bdquoGrundlagen der Sozialkonzeption der Rus-sischen Orthodoxen Kircheldquo formuliert worden ist91 in eine Tradition die er bis auf die bdquopolitischen Hesychastenldquo im Byzanz des 14 und 15 Jahrhunderts zu-ruumlckzufuumlhren sucht Immer wieder zieht Petrunin Parallelen zwischen dem spaumlten Byzanz und dem postsowjetischen Russland Hatten die Byzantiner den Hesy-chasmus als Reaktion auf den Humanismus des Westens hervorgebracht so diene heute die Sozialkonzeption der Abwehr des westlichen Saumlkularismus Liberalis-mus und Kapitalismus Damals wie heute stuumlnden der kirchliche Heilsauftrag und die Verteidigung des Glaubens uumlber den Interessen des Staates selbst ndash wie das Beispiel von Byzanz zeige ndash um den Preis seines Untergangs Ebenso wie die byzantinischen Hesychasten den mit dem Westen kollaborierenden Herrschern die Gefolgschaft im Kampf gegen die Osmanen verweigert haumltten da sie die bdquoReinheit ihres Glaubensldquo eher bdquounter einem tuumlrkischen Turban als unter der lateinischen Tiaraldquo gewahrt sahen92 rufe die Sozialkonzeption die Kirche heute dazu auf der Staatsmacht den Gehorsam zu verweigern sollte diese bdquodie ortho-doxen Glaumlubigen zum Abfall von Christus und Seiner Kirche sowie zu suumlndhaften

89 Viktor Živov bdquoVidenija sveta i problemy russkogo srednevekovogo isichazmaldquo in Lidov

(Hg) Ierotopija 350ndash367 hier 363 359 90 Vladimir Petrunin Političeskij isichazm i ego tradicii v socialʼnoj koncepcii Moskovskogo

Patriarchata Sankt-Peterburg 2009 91 Osnovy socialrsquonoj koncepcii Russkoj Pravoslavnoj Cerkvi III5 lthttpwwwpatriarchia

rudbtext141422htmlgt Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo wird von den meisten Inter-preten als ein bemerkenswertes Umdenken in der Kirchenpolitik angesehen hatte doch die Russische Orthodoxe Kirche unter Patriarch Sergij in einer prekaumlren Lage 1927 Loyalitaumlt gegenuumlber dem Sowjetstaat gefordert Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo war auch eine wichtige Voraussetzung fuumlr die Vereinigung der Auslandskirche mit dem Moskauer Pa-triarchat Zur Sozialkonzeption insgesamt Vasilios N Makrides bdquoDie politische Aufgabe der Kirche Bemerkungen anhand der Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kir-cheldquo in Irene DingelChristiane Tietz (Hgg) Die politische Aufgabe von Religion Per-spektiven der drei monotheistischen Religionen Goumlttingen 2011 219ndash243

92 Petrunin Političeskij isichazm 66f 120 Es handelt sich um eine zeitgenoumlssische Losung Siehe Halina Evert-Kappesowa bdquoLa tiare ou le turbanldquo in Byzantinoslavica 14 (1953) 245ndash257 ndash Auch Aleksandr Nevskij (1220ndash1263) zog eine Verstaumlndigung mit den Mongo-len einer Union mit Rom vor die ihm Papst Innozenz IV im Jahr 1248 angeboten hatte und wandte sich stattdessen gegen die bdquoLateinerldquo Heutige Anti-Westler feiern den Heili-gen der Russischen Orthodoxen Kirche deshalb auch als bdquoersten Eurasierldquo

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 27

und der Seele abtraumlglichen Taten noumltigenldquo93 Die Sozialkonzeption hat fuumlr Petru-nin nur einen moumlglichen Sinn Falls Russlands politische Elite sich weiterhin dem liberalen Wertekanon des Westens verschreibe und Russlands bdquoEigenartldquo (samo-bytnostʼ) als bdquoorthodoxe Zivilisationldquo bestreite94 muumlsse die Kirche ndash wie einst in Byzanz ndash dem Staat die Loyalitaumlt aufkuumlndigen und das Volk zum Widerstand auf-rufen

Es ist ganz offensichtlich dass die Prozesse der Globalisierung und Saumlkularisierung eng miteinander verbunden sind So wie einst die byzantinischen Hesychasten ist heute die Russische Kirche mit der westlichen Zivilisation konfrontiert die nach der Weltherrschaft trachtet war fruumlher der Katholizismus deren Grundlage so ist es jetzt der saumlkulare Humanismus [hellip] Waumlhrend sie [die westliche Welt MH] damals fuumlr die Hesychasten mit Rom gleichgesetzt wurde so verkoumlrpert heute das kosmopolitische New York den Westen Indem sie Liberalismus und Saumlkularisie-rung abwehrt tritt die Kirche auch gegen die politischen und wirtschaftlichen Hegemoniebestrebungen des Westens auf und stellt so ihr Bestreben unter Beweis die zivilisatorische Eigenstaumlndigkeit Russlands wieder herzustellen Wie schon vor 600 Jahren im Byzantinischen Imperium so ist auch heute in Russland allein die Kirche ein ernstzunehmender und gut organisierter Gegner des Westens und seiner saumlkularen Werte [hellip] Sollte Russland weiter den Weg der Saumlkularisierung be-schreiten so koumlnnte damit fuumlr die Kirche der gefaumlhrliche Praumlzedenzfall geschaffen werden in dem sie von ihrem Recht Gebrauch machen muumlsste das Volk zu zivilem Ungehorsam aufzurufen95

In seinem Vorwort nannte Prochorov das Buch seines Schuumllers eine bdquoWarnung an unseren Staat unsere saumlkulare Gesellschaft an uns alleldquo96 Wie das spaumlte Byzanz unter dem bdquoDruck aus dem Westenldquo gestanden habe ndash dem die Herrscher und die bdquoHumanistenldquo schlieszliglich nachgegeben haumltten ndash so laufe auch das postkommu-nistische Russland Gefahr dem bdquoDruck des Liberalismus und der Globalisierungldquo nachzugeben Allein die Orthodoxe Kirche habe sich damals wie heute als bdquoFes-tungldquo erwiesen faumlhig diesem bdquozersetzenden Einflussldquo Widerstand zu leisten97

Petrunins Buch das mit dem Segen von Metropolit Ilarion (Grigorij Al-feev)98 erschienen war stieszlig bei westlichen Forschern auf Skepsis und Ableh-nung So kritisierte Kristina Stoumlckl die unhistorische Interpretation und forcierte Aktualisierung der philosophischen theologischen und politischen Kontroversen des 14 Jahrhunderts sowie die einseitige konservative Interpretation der Sozial-konzeption Hesychasmus werde in dem Kirchendokument ebenso wenig erwaumlhnt

93 Osnovy socialrsquonoj koncepcii 94 Petrunin Političeskij isichazm 81 95 Ebd 122f 96 Ebd 5 97 Ebd 98 Zu jener Zeit Bischof von Wien und Oumlsterreich heute Leiter des Auszligenamtes des Moskau-

er Patriarchats und scharfer Kritiker des bdquomilitanten Saumlkularismusldquo des Westens Siehe auch lthttpazbykaruxristianstvo-pered-vyzovom-voinstvuyushhego-sekulyariz ma-2gt

28 Michael Hagemeister

wie der Untergang von Byzanz99 Klaus Buchenau warf Petrunin vor er bdquoverfor-m[e] und ideologisier[e] die urspruumlnglichen Motive des hesychastischen Moumlnch-tums bis zur Unkenntlichkeitldquo100 Und Viktor Živov der bereits Prochorovs Kon-zept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo als bdquoUnkrautldquo bezeichnet hatte sah in Petru-nins Buch ein Beispiel dafuumlr wie dieses sich bdquospontan und schaumldlichldquo ausbreite Die von Petrunin konstruierte bdquophantastische Genealogie des politischen Hesy-chasmusldquo beruhe so Živov auf einer bdquoMischung aus Einseitigkeit und Unwissen-heitldquo Weder sei der bdquotuumlrkische Turbanldquo fuumlr den Patriarchen attraktiv gewesen noch sei am Widerstand gegen die Union irgendetwas spezifisch bdquoHesychasti-schesldquo Petrunin habe ein bdquoPhantomldquo geschaffen dessen angebliche Verbindung mit der Sozialkonzeption man nicht weiter zu verfolgen brauche101

bdquoNeobyzantismusldquo Das Dritte Rom ndash der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo

Eine eigenwillige Interpretation des Hesychasmus und seine Wendung gegen den Westen stammen von Aleksandr Dugin dem Fuumlhrer der bdquoeurasischenldquo Bewegung und einflussreichsten Vordenker der Neuen Rechten in Russland Der polyglotte und belesene Autodidakt der nie eine akademische Ausbildung genossen hat war Gruumlnder der Partei der Nationalbolschewisten Berater des Vorsitzenden der Du-ma und des Generalstabs sowie von 2008 bis 2014 Professor fuumlr Soziologie an der renommierten Moskauer Lomonosov-Universitaumlt und Direktor des dortigen bdquoZentrums fuumlr Konservatismusstudienldquo Seit Anfang der 1990er Jahre verbreitet er mit graphomanem Eifer seine politischen und bdquometaphysischenldquo Botschaften in einer inzwischen kaum noch uumlberschaubaren Zahl von Publikationen102 und Web-Artikeln in mehreren Sprachen sowie durch spektakulaumlre Auftritte in staats-nahen Medien103 99 Kristina Stoumlckl bdquoPolitical Hesychasm Vladimir Petruninrsquos Neo-Byzantine Interpretation

of the Social Doctrine of the Russian Orthodox Churchldquo in Studies in East European Thought 62 (2010) 125ndash133

100 Klaus Buchenau Auf russischen Spuren Orthodoxe Antiwestler in Serbien 1850ndash1945 Wiesbaden 2011 480 Anm 2

101 Živov bdquoVidenija svetaldquo 364f ndash Von der Kritik offenbar unbeeindruckt verschaumlrfte Petru-nin noch seine Position So sprach er 2012 in einem Vortrag uumlber die gesellschaftliche und politische Wirkung der hesychastischen Gebetspraxis Nach dem Fall von Byzanz sei das bdquoJesusgebet faktisch zu einem sbquopolitischen Gebetlsquoldquo geworden das auf die bdquoVerwandlung [preobraženie] der orthodoxen Oumlkumeneldquo ausgerichtet gewesen sei und das bdquoPhaumlnomen der Heiligen Rusrsquoldquo hervorgebracht habe lthttpsynergia-isarup=8604gt

102 Zuletzt in der bislang fuumlnf Baumlnde umfassenden Reihe bdquoNoomachijaldquo (2014ndash2015) einer hochambitioumlsen letztlich aber manichaumlisch-schematischen Beschreibung der bdquoSuche nach dem Logosldquo in den ndash von Dugin essenzialistisch aufgefassten ndash bdquoWeltkulturenldquo

103 Auch die Literatur zu Dugin ist kaum noch uumlberschaubar Siehe zB Alexander Houmlllwerth Das sakrale eurasische Imperium des Aleksandr Dugin Eine Diskursanalyse zum post-sowjetischen russischen Rechtsextremismus Stuttgart 2007 Stefan Wiederkehr Die eurasische Bewegung Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwi-schenkriegszeit und im postsowjetischen Russland Koumlln [ua] 2007 227ndash261 Anton

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 29

Dugin deutet den Hesychasmus im Rahmen des sogenannten bdquointegralen Traditionalismusldquo einer antimodernen Denkrichtung die im ersten Drittel des 20 Jahrhunderts in Frankreich und Italien entstand und in Reneacute Gueacutenon (1886ndash1951) und Julius Evola (1898ndash1974) ihre bekanntesten (und auch fuumlr Dugin wichtigsten) Vertreter hat104 Ihre Lehre besagt dass alle Religionen ungeachtet ihrer histori-schen und regionalen Auspraumlgungen in ihrem esoterischen nur dem Eingeweih-ten zugaumlnglichen Kern eine gemeinsame urspruumlngliche Wahrheit teilen und als philosophia perennis tradieren das Wissen um die Goumlttlichkeit und den Zugang zu ihr Dieses sakrale und initiatorische Wissen sei im Verlauf der westlichen Mo-derne insbesondere durch die Aufklaumlrung verlorengegangen in traditionellen Gesellschaften (China Indien islamische Welt) jedoch bewahrt geblieben105

Auch die Orthodoxie so Dugin habe im Gegensatz zu Katholizismus und Protestantismus bdquodie Treue zum esoterischen Kernldquo bewahrt naumlmlich in ihrer mystischen Unterstroumlmung dem Hesychasmus106 In der Kanonisierung des Gre-gorios Palamas durch die Ostkirche bei gleichzeitiger Verdammung des Humanis-ten Barlaam sieht Dugin das Bekenntnis zum bdquognostisch-realistischen Geist der orthodoxen Esoterikldquo Ganz im Sinn des Traditionalismus deutet er die psycho-physische Uumlbung der Hesychasten das bdquogeistige Tunldquo als Verfahren der bdquoInitia-tionldquo und das Endziel der bdquoVerklaumlrungldquo und bdquoVergoumlttlichungldquo als bdquoalchemistische Verwandlung des Leibesldquo (alchimičeskoe preobraženie tela) Dadurch wuumlrden der bdquoDualismus von Geist und Materie Leib und Seeleldquo sowie die bdquoGrenzen der Individualitaumltldquo ndash charakteristisch fuumlr den bdquorein exoterischen Mystizismusldquo des Westens ndash aufgehoben107 Die bdquoTradition der hesychastischen Esoterikldquo sei die

Shekhovtsov bdquoThe Palingenetic Thrust of Russian Neo-Eurasianism Ideas of Rebirth in Aleksandr Duginrsquos Worldviewldquo in Totalitarian Movements and Political Religions 9 (2008) 491ndash506 Mark Sedgwick bdquoOccult Dissident Culture The Case of Aleksandr Du-ginldquo in Birgit Menzel [ua] (Hgg) The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimen-sions MuumlnchenBerlin 2012 273ndash292 Schmid Technologien der Seele 210ndash220

104 Aleksandr Dugin Filosofija tradicionalizma Moskva 2002 Zum Traditionalismus siehe das Standardwerk von Mark Sedgwick Against the Modern World Traditionalism and the Secret Intellectual History of the Twentieth Century OxfordNew York 2004 zu Dugin 221ndash237 Vgl auch Christopher DL Johnson The Globalization of the Jesus Prayer Con-testing Contemplation London New York 2010 70ndash73

105 Aumlhnliche Gedanken entwickelte Pavel Florenskij bereits 19081909 in seinem Vortrag bdquoObščečelovečeskie korni idealizmaldquo in dem er die bdquoEsoterikldquo der Philosophie Platons und seiner Nachfolger in der bdquoallgemeinmenschlichenldquo mystisch-magischen Weltauffas-sung der bdquoVolksseeleldquo wurzeln laumlsst

106 Das Folgende nach Aleksandr Dugin bdquoOboženie preestestvennejšeeldquo in Milyj angel 1 1991 56ndash59

107 Das Konzept der bdquoInitiationldquo und die Unterscheidung von bdquoesoterischldquo und bdquoexoterischldquo sind zentral fuumlr die Anhaumlnger des Traditionalismus siehe Sedgwick Against the Modern World 265 ndash Als Mitglied des okkultistischen und faschistischen Južinskij-Kreises machte Dugin in Moskaus bdquomystischem Untergrundldquo in den 1980er Jahren selbst Entgrenzugser-fahrungen mit Hilfe sexualmagischer Praktiken und bewusstseinserweiternder Drogen Bei einem Teil der orthodoxen Glaumlubigen stoumlszligt seine Esoterik denn auch auf Misstrauen und

30 Michael Hagemeister

bdquoSeele der russischen Orthodoxieldquo und habe in Serafim von Sarov ihren bdquoletzten leuchtendsten Vertreterldquo gefunden

Der Hesychasmus gehoumlre zum traditionellen Erbe von Byzanz das Russ-land angetreten habe als es zum Dritten Rom und zum Zentrum der orthodoxen Welt geworden sei bdquoWir sindldquo so Dugin bdquobyzantinisch in unserer Seele unseren Wurzeln und in unserer Identitaumltldquo108

Unser stabilstes Fundament ist Byzanz [hellip] Russland ist Byzanz [hellip] Unsere For-mel lautet Der Westen ist das Boumlse Byzanz das Gute Alles Schlechte das uumlber Byzanz geschrieben wurde ist eine Luumlge Das sind lediglich Winkelzuumlge im ideolo-gischen Kampf von Seiten des Westens [hellip] Jeder Russe muss wissen Byzanz ist das reine Gute Jeder der etwas anderes behauptet ist ein Feind [hellip] Wer Byzanz kritisiert ist ein Feind des russischen Volkes Das muss unser ehernes Prinzip sein [hellip] Byzanz ist der absolute Orientierungspunkt des russischen Projekts109

Damit sind Russlands Ort und Mission in der bdquohistoriosophischenldquo Deutung des Weltgeschehens bestimmt Nach Dugin wird die Geschichte der Menschheit be-herrscht vom bdquookkulten planetarischen Ringenldquo zweier antagonistischer Maumlchte dem bdquogroszligen Krieg der Kontinenteldquo Land gegen Meer Behemoth gegen Levia-than die organischen bodenstaumlndigen und traditionalistischen bdquoTellurokratienldquo des eurasischen Ostens gegen die wurzel- und seelenlosen materialistischen bdquoTha-lassokratienldquo des angloamerikanischen Westens das apokalyptische Tier aus dem Meer (Offb 13 1-10)110 Die USA als bdquoQuintessenz des Westensldquo und New York als moderne Hure Babylon (Offb 17 und 18) sind das Reich des Antichrist eine chimaumlrisch-antiorganische transplantierte Zivilisation die keine sakrale Tradi-tion besitze ihre Selbsterhebung zu bdquoGottes neuem Israelldquo und bdquoNeuem Zionldquo ndash gemaumlszlig der anglo-amerikanischen Interpretation der Substitutionslehre ndash deutet Dugin als besonders perfiden Taumluschungsversuch des bdquowestlichen Antichristldquo Das Jahr der Entdeckung Amerikas (1492 ist nach der altrussisch-byzantinischen

offene Ablehnung Fuumlr den Sektenexperten des Moskauer Patriarchats ist Dugin ein bdquoge-faumlhrlicher Feindldquo der die bdquoOrthodoxie in Kabbalistik umzuschmelzenldquo versuche Andrej Kuraev Cerkovrsquo v mire ljudej Moskva 2006 142

108 Aleksandr Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Tradition Duginrsquos Guidelineldquo lthttpswwwyoutubecomwatchv=m0RIa61eZDggt

109 Aleksandr Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo in ders Russkaja Veščrsquo Očerki nacionalrsquonoj filosofii Bd 1 Moskva 2001 69ndash76 hier 70ndash72 (Hervorhebungen im Original) Der Be-griff bdquoByzantismusldquo (vizantizm) ndash im Unterschied zum negativ konnotierten bdquoByzantinis-musldquo ndash als Bezeichnung eines dem europaumlischen entgegengesetzten Kulturtypus der auf den Prinzipien von Orthodoxie und Selbstherrschaft beruht geht auf den konservativen Philosophen Konstantin Leontrsquoev (1831ndash1891) und sein Buch Vizantizm i slavjanstvo (1875) zuruumlck

110 Auch fuumlr den von Dugin verehrten Heidegger waren die Seemaumlchte Groszligbritannien und Amerika nicht Teil der abendlaumlndischen Tradition sondern im Gegensatz zum restlichen Europa wurzellos und sinnleer Der Antagonismus von Land und Meer die kategorische Unterscheidung von Freund und Feind sowie das Konzept des Katechon gehen auf Carl Schmitt zuruumlck als dessen Schuumller Dugin sich bezeichnet Siehe auch Fn 41

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 31

Weltaumlra das Jahr 7000 nach dem chiliadischen Weltwochenschema also der sieb-te Tag der Schoumlpfung) verweise ebenso auf den Endzeitcharakter der bdquoNeuen Weltldquo wie die bdquosakrale Geographieldquo nach der das Paradies im Osten die Houmllle aber das bdquoLand des Todesldquo im Westen zu suchen seien111

Dem Antichrist entgegen stehe seit jeher der Katechon dessen bdquoletzter Hortldquo bis ans Ende der Zeit die Heilige Rusrsquo das Dritte Rom sei112 In der petrini-schen Epoche als die Hauptstadt in die bdquonoumlrdlichen Suumlmpfeldquo in die bdquoGespenster-stadtldquo Petersburg verlegt und das Patriarchat abgeschafft wurde haumltten allein die Altglaumlubigen den Geist von Byzanz den Katechon bewahrt zweihundert Jahre lang sei der Weg frei gewesen fuumlr das zerstoumlrerische Wirken des Antichrist Erst die sowjetische Periode habe eine bdquomystische Ruumlckkehr zum Byzantismusldquo be-deutet indem die Bolschewiki das heilige Moskau wieder zur Hauptstadt erklaumlr-ten das Patriarchat wiederherstellten die Ausbeuter als Klasse vernichteten und dem Westen auf allen Gebieten Widerstand boten Im bdquoroten Byzantismusldquo der Dritten Internationale sei der Katechon zuruumlckgekehrt113

Um seine Mission zur Erloumlsung der Menschheit auch kuumlnftig zu erfuumlllen muumlsse das Dritte Rom nach dem Zerfall der Sowjetunion114 nunmehr ein groszligkon-tinentales sakral fundiertes bdquoEurasisches Imperiumldquo errichten gegen den Erz-feind die materialistische universalistische alles nivellierende Zivilisation des Westens als der Verkoumlrperung des bdquoweltweiten Boumlsenldquo (mirovoe zlo) gegen Libe-ralismus Individualismus Globalismus Egalitarismus sowie die bdquomondialisti-scheldquo Konzeption der Menschenrechte115 Verbuumlndete im bevorstehenden apoka-lyptischen bdquoEndkampfldquo (von Dugin stets deutsch geschrieben) werden all jene sein die den Bezug zum bdquoSakralenldquo noch nicht verloren haben russische Altglaumlu-bige ultraorthodoxe antizionistische Juden europaumlische Traditionalisten sowie jene bdquoanti-atlantischenldquo islamistischen Fundamentalisten die in den USA den Dajjacircl den falschen Messias und Antichrist erkennen gegen den die Retter-gestalt des Mahdicirc zu Felde ziehen wird116 111 Aleksandr Dugin Absoljutnaja Rodina Puti Absoljuta Metafizika Blagoj Vesti Misterii

Evrazii Moskva 1999 645ndash670 112 Ebd 378ndash395 493ndash521 113 Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo 74ndash76 Siehe auch ders bdquoKatechon i revoljucijaldquo in ders

Tampliery proletariata Nacional-bolrsquoševizm i iniciacija Moskva 1997 52ndash59 ndash Die mes-sianische Identifizierung des Dritten Rom mit der Dritten Internationale reicht bis ins Gruumlndungsjahr der Komintern (1919) zuruumlck Beide so der slawophile Philosoph und An-haumlnger des imjaslavie Valerian Muravrsquoev (1885ndash1930) in einem Brief vom 6 Januar 1920 an Lev Trockij seien Ausdruck der Suche des russischen Volkes und der Intelligencija nach einem Reich der Wahrheit und Gerechtigkeit Valerian Muravrsquoev Sočinenija Bd 2 Moskva 2011 352f Weitere Belege bei Emanuel Sarkisyanz Russland und der Messianis-mus des Orients Tuumlbingen 1955 196 Mikhail Agursky Third Rome National Bolshevism in the USSR Boulder Co 1987

114 Damals sah ein Journalist bdquoauf den Ruinen des Imperiumsldquo das Dritte Rom in Gefahr zu einem Land der Dritten Welt zu werden Andrej Fadin bdquoTretij Rim v tretrsquoem mire Razmy-šlenija na ruinach imperiildquo in Nezavisimaja gazeta 1291991

115 [Aleksandr Dugin] bdquoLibo-my libo-ničtoldquo in Ėlementy 8 19961997 1ndash4 hier 2 116 [Aleksandr Dugin] bdquoIdeologija Mirovogo Pravitelrsquostvaldquo in Ėlementy 2 1992 1f

32 Michael Hagemeister

Das Dritte Rom als Zentrum des eurasischen bdquoEuro-Sowjetischen Imperiumsldquo Titelbild der von Aleksandr Dugin herausgegebenen Zeitschrift bdquoElemente Eurasische Rundschauldquo (1992) Dugins Werk mit seiner provokanten Mischung esoterischer antimoderner und antiwestlicher Motive findet besonders unter jungen Intellektuellen Anklang und Nachahmer so etwa bei dem promovierten Philosophen und selbstproklamierten bdquoorthodoxen Metaphysikerldquo Arkadij Maler einem vehementen Propagandisten einer bdquopolitischen Orthodoxieldquo (političeskoe Pravoslavie) und fuumlhrenden Ideolo-gen der bdquoneobyzantinischenldquo Doktrin Obwohl sich Maler von Dugin distan-ziert117 beschwoumlrt auch er die eschatologische bdquogeistige Mission des Dritten Romldquo die es von Byzanz geerbt habe und die in seiner bdquozentralen katechontischen Rolleldquo bestehe dem Kampf gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo des bdquogottlosen Wes-tensldquo118 Russische Politik koumlnne deshalb nicht anders als imperial sein und muumlsse ihren Einfluss auf den gesamten Planeten ausdehnen Wie Dugin sieht auch Maler die Bolschewiki in dieser Tradition als sie Moskau zur Hauptstadt des bdquoRoten

117 In den spaumlten 1990er Jahren gehoumlrte Maler der vaumlterlicherseits juumldischer Abstammung ist

zusammen mit Dugin und Ėduard Limonov zur Fuumlhrungsriege der Nationalbolschewisti-schen Partei und schrieb fuumlr die Parteizeitung Limonka sich selbst charakterisierte er als bdquorotbraunen Zionistenldquo Nach seiner Konversion zur Orthodoxie trennte er sich 1999 von Dugin und kritisierte dessen esoterischen Traditionalismus aus einer ultraorthodoxen Posi-tion Dugin wiederum warf Maler vor ihn zu plagiieren

118 Arkadij Maler Duchovnaja missija Tretrsquoego Rima Moskva 2005 bes 134ndash136 170ndash206 Siehe auch ders bdquoIdeologija Vizantizmaldquo in Severnij Katechon 1 (2005) 7ndash49 bdquoNeovi-zantizm kak novyj bolrsquošoj stilrsquoldquo in Aleksej Nilogov (Hg) Kto segodnja delaet filosofiju v Rossii Moskva 2007 110ndash124

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 33

Imperiumsldquo machten und dieses zur bdquoabsoluten Antithese des Westensldquo erklaumlrten zum bdquoTraumlger der planetarischen Mission der Befreiung der Welt aus den sbquoFesseln des Kapitalslsquoldquo119 Das Dritte Rom sei zeitweise in die Dritte Internationale trans-formiert worden ohne jedoch seine Mission als Katechon als aufhaltende Macht gegen das Reich des Boumlsen und Ausgangspunkt zur Errettung der Welt aufzuge-ben Die bdquoletzte Etappeldquo im Kampf gegen den Antichrist werde so Maler der bdquoeschatologische Krieg des Dritten Rom gegen das Dritte Karthagoldquo den bdquoAnti-katechonldquo sein die bdquoanglo-amerikanische [] atlantische Zivilisationldquo120 Zur Propagierung der katechontischen Mission Russlands gruumlndete Maler 1999 am Institut fuumlr Philosophie der Akademie der Wissenschaften in Moskau einen bdquoBy-zantistischen Klub Katechonldquo (Vizantistskij Klub Katechon) und 2005 das bdquoPhi-losophisch-politische Zentrum sbquoNoumlrdlicher Katechonlsquoldquo das einen gleichnamigen Almanach (Severnyj Katechon) herausgibt121

Apokalyptischer Ausblick

Die Formel vom Dritten Rom und die Figur des Katechon des Aufhalters des bdquoweltweiten Boumlsenldquo sind zu Markenzeichen russischer Anti-Westler und Ver-schwoumlrungstheoretiker und ihres schrillen Szenariums eines globalen apokalyp-tischen bdquoEndkampfesldquo gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo geworden122 Unter dem Titel bdquoDie russische Doktrin Die Staatsideologie der Epoche Putinsldquo verfasste in den Jahren 2005 und 2006 ein Kollektiv nationalpatriotischer Autoren ndash unter ih-nen der bdquoByzantistldquo Arkadij Maler ndash ein uumlber 1000 Seiten langes ultrakonservati-ves und antiwestliches Manifest das auch die Unterstuumltzung hoher kirchlicher Wuumlrdentraumlger fand123 In ihrem Entwurf einer bdquoorganischen weltanschaulichen Plattformldquo fuumlr das kuumlnftige Russland behandeln die Autoren ausfuumlhrlich die bdquohis-toriosophischeldquo Konzeption vom Dritten Rom und seine Mission als Katechon gegen das bdquoHeidentumldquo des Westens124 Gefordert wird die positive Identifikation

119 Maler Duchovnaja missija 182f 185 120 Ebd 177 ndash Als Mittel im ideologischen Kampf gegen den saumlkularen Westen fordert Maler

in Analogie zur katholischen Gegenreformation eine orthodoxe konservative bdquoGegenauf-klaumlrungldquo (Kontrprosveščenie) lthttpwwwkatehonruhtmltoppolitologiaideaotkritije _polit_pravoslavijahtmgt

121 Siehe die Website lthttpwwwkatehonrugt 122 Siehe zB Galina A Morozova Tretij Rim protiv novogo mirovogo porjadka Moskva

2009 Die Formel von Dritten Rom hat laumlngst auch Schriftsteller und Maler inspiriert und scheint auch werbewirksam zu sein bdquoDrittes Romldquo nennt sich ein Verlag ein Videospiel eine Bank ein Reisebuumlro und sogar ein Kasino in Jalta Ein Schoumlnheitswettbewerb in Mos-kau vergibt alljaumlhrlich den Titel einer bdquoMiss Drittes Romldquo Judith E Kalb Russiarsquos Rome Imperial Visions Messianic Dreams 1890ndash1940 Madison Wisconsin 2008 198f Zum Katechon siehe Maria Engstroumlm bdquoContemporary Russian Messianism and New Russian Foreign Policyldquo in Contemporary Security Policy 35 (2014) 3 356ndash379

123 Russkaja doktrina Gosudarstvennaja ideologija ėpochi Putina Moskva 2016 124 Ebd 68ndash72 116ndash120 und passim

34 Michael Hagemeister

mit der Geschichte Russlands und seinen Lichtgestalten dem Heiligen Serafim von Sarov dem bdquoeschatologischen Fuumlhrer des russischen Volkes am Ende der Zeitenldquo der bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo und Stalin der dem paulinischen Kate-chon gleich die bdquoGesetzlosigkeitldquo (bezzakonie) bekaumlmpft und das bdquoFundament fuumlr eine groszlige Zukunftldquo gelegt habe125

bdquoKatechonldquo nennt sich auch ein prominent besetzter Think tank den der Oligarch und Berater Putins Konstantin Malofeev im Jahr 2015 gegruumlndet hat126 Der Milliardaumlr der sein Vermoumlgen mit einer Investmentfirma auf den Cayman Inseln gemacht hat bezeichnet sich selbst als bdquoorthodoxen Monarchistenldquo127 Er unterstuumltzt die Separatisten in der Ostukraine und unterhaumllt vielfaumlltige Verbindun-gen zu europaumlischen Rechtspopulisten wie dem Front National der FPOuml Syriza und der Lega Nord Neben dem Forum bdquoKatechonldquo betreibt Malofeev auch einen Fernsehsender mit dem programmatischen Namen bdquoZargradldquo128 (Motto bdquoDas Licht Christi erleuchtet alleldquo) dessen Chefkommentator niemand anderes ist als Aleksandr Dugin129

bdquoKatechonldquo und bdquoZargradldquo propagieren den Kampf gegen die westliche Moderne mit Bezug auf das byzantinische Erbe Russlands Im November 2014 fand in der Moskauer Manege eine Konferenz bdquoMoskau ndash das Dritte Romldquo statt130 An ihr nahmen auszliger Dugin und Malofeev auch Archimandrit Tichon und Nata-lrsquoja Naročnickaja teil eine hochrangige Diplomatin Mitglied des Izborsker Klubs und Leiterin des Pariser bdquoInstituts fuumlr Demokratie und Kooperationldquo das die oumlf-fentliche Meinung im Westen im Sinne des Kremls beeinflussen soll Tichons Film bdquoDie Lehre von Byzanzldquo sei so Naročnickaja auch eine Warnung an den Westen der seine christlichen Werte verraten habe weshalb er den glaubens-festen Migranten und ihrer Verachtung hilflos ausgeliefert sei131

Im Oktober 2009 wurde Tichons Film in Athen vor ausverkauftem Saal aufgefuumlhrt Unter denen die dem Drehbuchautor Beifall spendeten war der Philo-soph und Theologe Christos Yannaras einer der Hauptvertreter der Neoorthodo-xie und scharfer Kritiker des Westens Wie ihre russischen Gesinnungsgenossen

125 Ebd 130f 153 142ndash145 126 Mit einem Auftritt im Internet in 9 Sprachen Siehe die deutsche Version unter lthttp

katehoncomdewer-sind-wirgt 127 lthttpsdewikipediaorgwikiKonstantin_Walerjewitsch_Malofejewgt 128 Carrsquograd ist der altrussische Name fuumlr Konstantinopel 129 Auch Dugin unterhaumllt seit mehr als 25 Jahren Kontakte zu ultrakonservativen traditiona-

listischen und faschistischen Gesinnungsgenossen in Westeuropa Siehe Vladimir Ivanov Alexander Dugin und die rechtsextremen Netzwerke Fakten und Hypothesen zu den inter-nationalen Verflechtungen der russischen Neuen Rechten Stuttgart 2007

130 lthttpwwwpravoslavieru75070htmlgt 131 lthttpwwwpravoslavieru7414htmlgt ndash Fuumlr Metropolit Ilarion (Alfeev) der sich dabei

auf Dugin beruft verwandeln sich die Laumlnder Westeuropas bereits in die bdquoSphaumlre des Anti-christldquo lthttpwwwpatriarchiarudbtext3065216htmlgt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 35

verherrlichen auch die griechischen Neoorthodoxen die byzantinische Vergan-genheit und sehen in der modernen saumlkularen Gesellschaft eine Bedrohung ihrer kulturellen Identitaumlt132 Gemeinsam suchen sie der Globalisierung mit einer bdquoby-zantinischen Internationaleldquo als bdquoorthodoxer Oumlkumeneldquo entgegenzuwirken einer letztlich sakral verstandenen Gemeinschaft deren Einfluss indes weit uumlber die kirchliche Sphaumlre hinausreichen und eine transnationale Vereinigung der ortho-doxen Welt von Serbien uumlber Syrien bis Georgien und Armenien unter Fuumlhrung Moskaus schaffen soll133 Als wichtiger symbolischer Schritt auf diesem Weg wurde der Besuch von Praumlsident Putin und Patriarch Kirill des Heiligen Berges Athos einer traditionellen Hochburg antiwestlicher Opposition im Mai 2016 ge-feiert Das weltliche und das geistliche Oberhaupt Russlands ndash die bdquoSymphonia der Maumlchteldquo ndash zeigten damit so Aleksandr Dugin ihr Bekenntnis zu Byzanz und seiner Rolle als Katechon Damit anerkenne bdquounsere Rusrsquo ihre historische Bestim-mung Wir sind bereit fuumlr die Endzeitldquo134

132 Ausfuumlhrlich dazu Daniel P Payne The Revival of Political Hesychasm in Contemporary

Orthodox Thought The Political Hesychasm of John Romanides and Christos Yannaras Lanham [ua] 2011 Siehe auch Vasilios N Makrides bdquoByzantium in Contemporary Greece The Neo-Orthodox Current of Ideasldquo in David RicksPaul Magdalino (Hgg) Byzantium and the Modern Greek Identity Aldershot 1998 141ndash153 Zum griechischen Neobyzantismus unter russischem Einfluss Aleksey Kamenskikh bdquoThe Image of the Second Rome through the Prism of the Thirdrdquo in Teresa Obolevich [ua] (Hgg) Russian Thought in Europe Reception Polemics Development Krakoacutew 2013 13ndash22 ndash Antimo-derne und antiwestliche Stroumlmungen in den vom orthodoxen Christentum gepraumlgten Kultu-ren haben der Religionswissenschaftler Makrides und der Slavist Uffelmann vor einigen Jahren als Desiderat der Forschung benannt Vasilios N MakridesDirk Uffelmann bdquoStudying Eastern Orthodox Anti-Westernism The Need for a Comparative Research Agendaldquo in Jonathan SuttonWil van den Bercken (Hgg) Orthodox Christianity and Contemporary Europe Leuven [ua] 2003 87ndash120 Seitdem haben Makrides und die Politikwissenschaftlerin Stoumlckl eine Reihe einschlaumlgiger Arbeiten vorgelegt in denen or-thodoxe Alternativen zu westlichen philosophischen und politischen Konzepten untersucht werden Vasilios N Makrides bdquoOrthodoxes Cristentum und Moderne ndash Inkompatibilitaumlt oder langfristige Anpassungldquo in Una Sancta 2011 1 15ndash30 ders bdquoOumlstliches orthodo-xes Christentum und Saumlkularitaumlt Ein Vergleich mit dem lateinischen Christentumldquo in Transit 47 (2015) 59ndash75 Kristina Stoumlckl bdquoModernity and its Critique in Twentieth Cen-tury Russian Orthodox Thoughtldquo in Studies in East European Thought 58 (2006) 243ndash269 dies Community after Totalitarianism The Russian Orthodox Intellectual Tradition and the Philosophical Discourse of Political Modernity Frankfurt aM [ua] 2008

133 Dazu gehoumlrt auch die Verwirklichung des jahrhundertealten Traums der Wiedererrichtung des Kreuzes auf der Hagia Sophia Siehe Egor Cholmogorov Russkij proekt restavracija buduščego Moskva 2005 283 Der Verfasser Mitglied des Expertenteams des Izborsker Klubs ist Begruumlnder der Doktrin der bdquoAtomaren Orthodoxieldquo siehe Fn 74

134 Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Traditionldquo

ZUM AUTOR

Michael Hagemeister geb 1951 in EllwangenJagst Studium der Slavistik Ge-schichte Germanistik und Philosophie in Basel und MarburgLahn Promotion mit einer Arbeit uumlber den russischen Philosophen Nikolaj Fedorov Wissenschaft-licher Mitarbeiter am Slawischen Seminar in Marburg Gastprofessor am Seminar fuumlr Komparatistik der Universitaumlt Innsbruck Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lotman-Institut fuumlr russische und sowjetische Kultur der Ruhr-Universitaumlt Bo-chum am Lehrstuhl fuumlr Geschichte Osteuropas der Europa-Universitaumlt Viadrina Frankfurt (Oder) an den Historischen Seminaren der Universitaumlten Basel Duumlssel-dorf und Bochum Vertretung der Professuren fuumlr Geschichte Osteuropas an der Ludwig-Maximilians Universitaumlt Muumlnchen und an der Europa-Universitaumlt Frank-furt (Oder)

Forschungen zur russischen Philosophie und Geistesgeschichte zum utopischen und apokalyptischen Denken in Russland zum russischen Rechtsextremismus und Antisemitismus sowie insbesondere zu den Protokollen der Weisen von Zion und ihrem Herausgeber Sergej Nilus Publikationen ua Die Neue Menschheit Biopolitische Utopien in Russland (hg mit Boris Groys) Frankfurt aM 2005 The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimensions (hg mit Birgit Menzel und Bernice Rosenthal) Muumlnchen 2012 Die Fiktion von der juumldischen Weltver-schwoumlrung Zu Text und Kontext der bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo (hg mit Eva Horn) Goumlttingen 2012 Die bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo vor Gericht Der Berner Prozess und die bdquoantisemitische Internationaleldquo in der Zwischen-kriegszeit Chronik Dokumente und Kommentare Zuumlrich (im Druck)

ERFURTER VORTRAumlGE ZUR KULTURGESCHICHTE DES ORTHODOXEN CHRISTENTUMS Reihenherausgeber Vasilios N Makrides

Heft 1 Thomas Bremer Konfrontation statt Oumlkumene Zur kirchlichen Situation in der Ukraine Erfurt 2001

Heft 2 Gerhard Podskalsky Zur Hermeneutik des theologischen Ost-West-

Gespraumlchs in historischer Perspektive Erfurt 2002 Heft 3 Karl Christian Felmy Warum und zu welchem Behufe treiben wir

Ostkirchenkunde Erfurt 2003 Heft 4 Wassilios Klein bdquoTatarenjoch ndash татарское игоldquo Beobachtungen zur

Wahrnehmung des Islam im eurasischen Raum Erfurt 2005 Heft 5 Stamatios D Gerogiorgakis Zeitphilosophie im Mittelalter Byzantinische

und lateinische Vorstellungen Erfurt 2006 Heft 6 Heinz Ohme Das Oumlkumenische Patriarchat von Konstantinopel und die

tuumlrkische Religionspolitik Erfurt 2007 Heft 7 Alexander Agadjanian Russian Orthodox Vision of Human Rights Recent

Documents and Their Significance Erfurt 2008 Heft 8 Christos Yannaras Wem gehoumlrt die griechische Antike Erfurt 2009 Heft 9 Joachim Willems Religions- und Ethikunterricht in Russland ndash Was

wollen Staat und Kirche Zur Einfuumlhrung des neuen Schulfaches bdquoGrundlagen der religioumlsen Kulturen und der weltlichen Ethikldquo Erfurt 2010

Heft 10 Chris Hann Eastern Christianity and Western Social Theory Erfurt 2011 Heft 11 Jennifer Wasmuth Akademische Theologie im zaristischen Russland in

ihrer Bedeutung fuumlr die neuere orthodoxe Theologie Erfurt 2012 Heft 12 Anna Briskina-Muumlller Auf der Suche nach der bdquoHesychialdquo Paisij

Veličkovskij (1722ndash1794) und sein Leben fuumlr die bdquoPhilokalieldquo Erfurt 2014

Heft 13 Vladimir Cvetković From ldquoMerciful Angelrdquo to ldquoFortress Europerdquo The

Perception of Europe and the West in Contemporary Serbian Orthodoxy Erfurt 2015

Heft 14 Stefan G Reichelt Lebenslinien Nikolaj A Berdjaev (1874ndash1948) und Sergij N Bulgakov (1871ndash1944) im Westen ndash Eine Wuumlrdigung Erfurt 2015

Heft 15 Michael Hagemeister Der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo ndash bdquoNeobyzantismusldquo

und bdquopolitischer Hesychasmusldquo im postsowjetischen Russland Erfurt 2016

Alle Hefte der vorliegenden Schriftenreihe koumlnnen unter folgendem Link kostenlos heruntergeladen werden URL httpswwwuni-erfurtdereligionswissenschaftprofessur-orthodoxes-christentumveroeffentlichungenerfurter-vortraege-zur-kulturgeschichte-des-orthodoxen-christentums

Page 20: Michael Hagemeister FINAL - uni-erfurt.de · doziert Tichon, während er das antike Kons tantinopel computeranimiert auferste- hen lässt. Das prosperierende Impe rium erregte freilich

20 Michael Hagemeister

insgesamt verdammt (anafematstvovala) der alle westlichen Voumllker verfallen sei-en und wahrscheinlich bis ans Ende ihrer Tage verfallen blieben63

Bis zuletzt verteidigte Losev ein mit Orden des Sowjetstaates ausgezeich-neter Philosoph der 1929 von Archimandrit David (Muchranov 1847ndash1930) ei-nem Fuumlhrer der hesychastischen bdquoNamensverehrerldquo (imjaslavcy)64 heimlich zum Moumlnch geweiht worden war die Lehre des Palamas als einen Grundpfeiler der Orthodoxie65 Gleichzeitig hielt er an seiner schroffen Ablehnung des bdquoRenaissan-ce-Westensldquo fest dessen Geschichte insgesamt nichts anderes sei als bdquoeine libera-le Kritik des Mittelaltersldquo 1978 stellte Losev in seiner umfangreichen Studie zur Aumlsthetik der Renaissance der bdquoganzheitlichen Kulturldquo (celostnaja kulrsquotura) des Mittelalters die zerrissene Kultur der Renaissance gegenuumlber die auf der Verabso-lutierung und bdquotitanischen Verherrlichungldquo des isolierten Subjekts und der bdquoAbge-trenntheit vom lebendigen Seinldquo (otryv ot živogo bytija) beruhe66 In einem Ge-spraumlch mit dem Schriftsteller Viktor Erofeev das 1985 veroumlffentlicht wurde de-nunzierte Losev den Typus des bdquoRenaissance-Menschenldquo der sich selbst vergoumltt-liche und deshalb dem Nihilismus und Satanismus verfalle bdquoIndem die Renais-sance das Subjekt zum Absolutum erhob oumlffnete sie den Weg fuumlr den Triumph des Subjektivismus in den folgenden Jahrhunderten In diesem Sinne stellt der gesamte Westen fuumlr mich eine Sackgasse des Denkens darldquo67 Damit geriet der Philosoph einerseits in scharfen Gegensatz zum sowjetischen Selbstverstaumlndnis das sich als Erbe und Vollender gerade jener bdquoprogressivenldquo Prozesse und huma-nistischen Traditionen sah die von der europaumlischen Renaissance ausgegangen

63 Losev Očerki 849 856 64 Zur Bewegung des imjaslavie die zu Beginn des 20 Jahrhunderts auf dem Athos entstand

und in Florenskij und Losev prominente Unterstuumltzer fand liegt inzwischen eine reiche Literatur vor Siehe die juumlngste Veroumlffentlichung Antoine Niviegravere Les glorificateurs du nom Une querelle theacuteologique parmi les moines russes du mont Athos (1907ndash1914) Genegraveve 2016

65 Siehe Valentina Postovalova bdquoAfonskij spor ob Imeni Božiem v filosofsko-bogoslovskom osmyslenii AF Losevaldquo in AF Losev 95ndash106 bes 105f

66 Aleksej Losev Ėstetika Vozroždenija Moskva 21982 (11978) 45 61 137 und passim Losevs Modernekritik erinnert an Heidegger und dessen Begriff der bdquoSeinsvergessenheitldquo Wie fuumlr Heidegger so war auch fuumlr Losev (und Florenskij) der Agent der verhassten Moder-ne ein bdquorechnendesldquo und bdquowurzellosesldquo mythisches Judentum Zu Losevs metaphysischem Antisemitismus (bdquodas satanische Wesen des Judentumsldquo) siehe zuletzt mit zahlreichen Belegen Natalrsquoja Boneckaja Duch Serebrjanogo veka (fenomenologija ėpochi) Moskva Sankt-Peterburg 2016 688ndash693

67 Aleksej Losev bdquoV poiskach smyslaldquo in Voprosy literatury 1985 10 205ndash231 hier 229 Zu Losevs Kritik der bdquoRenaissance-Kulturldquo des Westens ausfuumlhrlich Annett Jubara Die Philosophie des Mythos von Aleksej Losev im Kontext bdquoRussischer Philosophieldquo Wiesba-den 2000 bes 131ndash154 Siehe auch Naftalij Prat bdquoAleksej Losev und der Totalitarismusldquo in Leonid Luks (Hg) Das Christentum und die totalitaumlren Herausforderungen des 20 Jahrhunderts Koumlln [ua] 2002 103ndash114 bes 108f

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 21

waren (augenfaumlllig etwa in der Architektur der 1930er bis 50er Jahre)68 Anderer-seits erwies sich der orthodoxe Moumlnch damit auch als Apologet des Sowjetregi-mes bedroht die Autonomie des Individuums doch den Wesenskern einer jeden Herrschaft die das Wahrheitsmonopol fuumlr sich beansprucht

Die Ablehnung der modernen bdquokopernikanischen Weltldquo (Hans Blumen-berg) durchzieht das gesamte philosophische Werk Losevs und Florenskijs dazu gehoumlren die Ablehnung des heliozentrischen Weltbildes die Polemik gegen Kants kritischen Idealismus (die bdquokopernikanische Wendeldquo in der Philosophie) die Ab-lehnung der Zentralperspektive in der Kunst die Ablehnung des nominalistischen Rationalismus und schlieszliglich die Ablehnung der saumlkularen und demokratischen Gesellschaftsordnung zugunsten einer bdquoVerkirchlichungldquo (ocerkovlenie) aller Be-reiche der Gesellschaft und des Staates in Gestalt einer theokratischen Synarchie Florenskij der sich als einen mittelalterlichen Menschen charakterisierte69 ndash Ni-kolaj Berdjaev selbst Verkuumlnder eines religioumls-integralen bdquoNeuen Mittelaltersldquo nannte ihn einen bdquoraffinierten Reaktionaumlrldquo ndash70 war uumlberzeugt dass die bdquoentseelte Renaissance-Zivilisationldquo sich erschoumlpft habe und eine neue ganzheitlich-objekti-ve Kultur anbrechen werde71 Vorbild dieser bdquoKultur des anderen Typusldquo werde Russland sein bdquoerste Keimeldquo seien bereits zu erkennen Seine Zeit begriff Floren-skij bdquoan den Wasserscheiden des Denkensldquo und er sah seine Lebensaufgabe darin bdquoWege zu bahnen zu einer kuumlnftigen ganzheitlichen Weltanschauungldquo72

68 Losevs Renaissance-Kritik (va in Ėstetika Vozroždenija) wurde deshalb auch als ver-

schleierte Kritik am Sowjetsystem verstanden Siehe Annett Jubara bdquoAleksej Losevs Philosophie des Mythos als Kritik an der Sowjetischen Moderneldquo in Studies in East Euro-pean Thought 56 (2004) 211ndash224 Aus dem Kreis der Schuumller Losevs gingen seit den 1960er Jahren zahlreiche dissidentische russische Nationalisten hervor Nikolaj Mitrochin Russkaja partija Dviženie russkich nacionalistov v SSSR 1953ndash1985 Moskva 2003 288f Zur Kritik der Renaissance-Zivilisation siehe auch Vladimir Bibichin Novyj renessans Moskva 1998 bes 131ndash155

69 Siehe Florenskij bdquoAvtoreferatldquo Noch im Maumlrz 1933 nach seiner Verhaftung erklaumlrte Flo-renskij gegenuumlber den Ermittlungsbeamten bdquoIch Pavel Aleksandrovič Florenskij [hellip] bin dem Charakter meiner politischen Anschauungen nach ein Romantiker des Mittelalters un-gefaumlhr des 14 Jahrhundertsldquo Vitalij Šentalinskij bdquoUdel veličijaldquo in Ogonek 1990 45 23ndash27 hier 26

70 Nikolaj Berdjaev Samopoznanie (Opyt filosofskoj avtobiografii) Moskva 1991 161 Sie-he Nikolaj Berdjaev Novoe srednevekovrsquoe Berlin 1924 dt Nikolaus Berdjajew Das Neue Mittelalter Darmstadt 1927

71 Siehe Michael Hagemeister bdquoWiederverzauberung der Welt ndash Pavel Florenskijs Neues Mittelalterldquo in Norbert Franz [ua] (Hgg) Pavel Florenskij ndash Tradition und Moderne Beitraumlge zum Internationalen Symposium an der Universitaumlt Potsdam 5 bis 9 April 2000 Frankfurt aM [ua] 2001 21ndash41 Zu Florenskijs Kritik an Renaissance und Humanismus (bdquoder Humanismus entsprang der Kabbalaldquo) siehe auch Ilona Svetlikova bdquoOb ideologii sbquoobratnoj perspektivylsquo Pavla Florenskogoldquo in Russkaja intellektualʼnaja revoljucija 1910ndash1930-ch godov Moskva 2016 123ndash139 zu den Uumlbereinstimmungen mit Heidegger siehe Viktor Arslanov Postmodernizm i russkij bdquotretij putrsquoldquo tertium datur rossijskoj kulrsquotury XX veka Moskva 2007 472ndash499

72 Florenskij bdquoAvtoreferatldquo 114

22 Michael Hagemeister

In juumlngster Zeit hat das wiedererwachte Interesse an der eigenen spirituellen Tradition und ihren byzantinischen Wurzeln ndash oftmals verbunden mit dem Bestre-ben sich vom bdquosaumlkularen Westenldquo und der bdquowestlichen Moderneldquo abzugrenzen ndash zu einer Wiederbelebung des palamitischen Hesychasmus (neopalamizm) und der ndash davon zu unterscheidenden ndash bdquoNamensverehrungldquo (imjaslavie) gefuumlhrt73 Be-reits in den 1970er Jahren war John Meyendorffs klassische Studie St Greacutegoire Palamas et la mystique orthodoxe (Paris 1959) ins Russische uumlbersetzt worden und kursierte in der Sowjetunion in Samizdat-Ausgaben im Milieu religioumls-philo-sophischer Dissidenten Heute wird die Wiederbelebung des Hesychasmus auch durch den patriotischen Kult um Serafim von Sarov (Prochor Mošnin 1759ndash1833) befoumlrdert einen Wundertaumlter und Apokalyptiker der im postsowjetischen Russland zu einem der meistverehrten Heiligen avanciert ist74 In einer in viele Sprachen uumlbersetzten und millionenfach verbreiteten Schrift schildert sein Schuuml-ler Nikolaj Motovilov (1809ndash1879) die Verklaumlrung Serafims im ungeschaffenen Licht des Heiligen Geistes die sich angeblich im November 1831 auf einer einsa-men verschneiten Waldlichtung ereignet hat75

73 Dies gilt nicht nur fuumlr Russland auch auf Vertreter der angelsaumlchsischen bdquoRadical Ortho-

doxyldquo die das Projekt einer von modern-saumlkularem Denken nicht korrumpierten Theologie verfolgen uumlben Hesychasmus und russische Sophiologie starke Faszination aus Siehe die Beitraumlge in Adrian PabstChristoph Schneider (Hgg) Encounter Between Eastern Ortho-doxy and Radical Orthodoxy Transfiguring the World Through the Word Farnham 2009 Zur Wiederbelebung des imjaslavie im post-sowjetischen Russland siehe Scott M Ken-worthy bdquoDebating the Theology of the Name in Post-Soviet Russia Metropolitan Ilarion Alfeev and Sergei Khoruzhiildquo in Katya Tolstaya (Hg) Orthodox Paradoxes Hetero-geneities and Complexities in Contemporary Russian Orthodoxy LeidenBoston 2014 250ndash264 Siehe auch Loren Grahams Bericht uumlber diskrete Zusammenkuumlnfte der imjaslav-cy im Kellergeschoss der Moskauer Tatrsquojana-Kirche in den fruumlhen 2000er Jahren Loren GrahamJean-Michel Kantor Naming Infinity A True Story of Religious Mysticism and Mathematical Creativity Cambridge MassLondon 2009 1ndash5

74 Fuumlr die Anhaumlnger der Doktrin einer bdquoAtomaren Orthodoxieldquo (atomnoe pravoslavie) ist Se-rafim auch der Schutzheilige der russischen Atombombe wurde doch Sarov der Ort seines Wirkens 1946 unter dem Namen Arzamas-16 zur streng geheimen Nuklearstadt in der Wissenschaftler unter ihnen Andrej Sacharov am Bau der sowjetischen Atom- und Was-serstoffbomben arbeiteten Patriotische Russen deuten dies als Zeichen dass bdquoim Hause unseres Vaters Serafimldquo mit dessen Segen der nukleare bdquoSchild zum Schutz der Heimatldquo geschmiedet worden sei Pavel V Florenskij bdquoNeobchodimostrsquo našej atomnoj bombyldquo in Naš sovremennik 1997 4 219ndash221 Bei dem Verfasser handelt es sich um einen Enkel des beruumlhmten Philosophen Siehe auch lthttpsruwikipediaorgwiki Атомное_правосла виеgt

75 Die Schrift deren Authentizitaumlt umstritten ist wurde bekannt unter dem Titel bdquoGespraumlch uumlber das Ziel des christlichen Lebensldquo (Beseda o celi christianskoj žizni) Erstmals veroumlf-fentlicht wurde das bdquoGespraumlchldquo 1903 von Sergej Nilus (1862ndash1929) dem Herausgeber und Kommentator der Protokolle der Weisen von Zion Siehe Michael Hagemeister bdquoIl proble-ma della genesi del sbquoColloquio con Motovilovlsquoldquo in Adalberto Mainardi (Hg) San Sera-fim Da Sarov a Diveevo Atti del IV Convegno ecumenico internazionale di spiritualitagrave russa Bose 18ndash20 settembre 1996 Magnano 1998 157ndash174 Bis heute gibt es keine kriti-sche Ausgabe dieses zentralen Textes russischer Geistigkeit

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 23

Von der Wiederbelebung des Hesychasmus zeugt auch das groszligangelegte Projekt einer bdquosynergetischen Anthropologieldquo (sinergijnaja antropologija) des Mathematikers Physikers und religioumlsen Philosophen Sergej Choružij Prakti-sches Ziel das seit 2005 durch ein eigenes Institut in Moskau verfolgt wird ist die psychosomatisch-holistische Selbsttransformation des Menschen die auf unmittelbarer (mystisch-energetischer) Erfahrung bzw Einwirkung des ontolo-gisch Anderen (Goumlttlichen) beruht sowie die Uumlberwindung der Subjekt-Objekt-Trennung der modernen westlichen Philosophie die Choružij fuumlr den von ihm als krisenhaft und katastrophisch beschriebenen Zustand der westlichen Moderne verantwortlich macht Im Unterschied zu orthodoxen Fundamentalisten und Anti-Westlern sucht Choružij indes die asketischen Praktiken des Hesychasmus mit modernen und postmodernen westlichen Anthropologien (Kierkegaard Scheler Heidegger und insbesondere Foucaults technique oder practique de soi) in Bezie-hung zu setzen76

bdquoPolitischer Hesychasmusldquo

Es duumlrfte deutlich geworden sein dass Hesychasmus nicht nur eine weltabge-wandte mystisch-asketische bdquogeistige Praxisldquo bezeichnet sondern auch als Kampfbegriff gegen die saumlkulare Kultur des bdquoWestensldquo und der bdquowestlichen Mo-derneldquo dient Dies gilt vor allem fuumlr das Konzept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo (političeskij isichazm)

In den russischen Diskurs wurde dieses Konzept um die Mitte der 1960er Jahre von dem Leningrader Mediaumlvisten und Byzantinisten Gelian Prochorov ein-gefuumlhrt77 Seiner Hauptthese zufolge wurde der Hesychasmus nachdem er aus den Klosterzellen herausgetreten war und eine philosophisch-theologische

76 Siehe Sergej Choružij Očerki sinergijnoj antropologii Moskva Inst Sinergijnoj antropo-

logii Inst filosofii teologii i istorii Sv Fomy 2005 ders (Hg) Fonarrsquo Diogena Proekt sinergijnoj antropologii v sovremennom gumanitarnom kontekste Moskva 2010 ders bdquoDie mystische Verwandlung des Menschen Uumlber den Hesychasmus als Raum der Philo-sophieldquo in Fuge Journal fuumlr Religion amp Moderne 7 (2010) 72ndash99 Siehe auch die Web-site lthttpsynergia-isarugt Kristina Stoeckl bdquoA New Anthropology Sergej S Khoru-žijrsquos Search for an alternative to the Cartesian Subject in sbquoOčerki sinergijnoj antropologiilsquoldquo in Studies in East European Thought 59 (2007) 237ndash245

77 Gelian Prochorov bdquoĖtničeskaja integracija v Vostočnoj Evrope v XIV-m veke Ot isichastskich sporov do Kulikovskoj bitvyldquo in Doklady otdelenija ėtnografii 2 (196265) Leningrad 1966 81ndash110 ders bdquoIsichazm i obščestvennaja myslʼ v Vostočnoj Evrope v XIV vldquo in Literaturnye svjazi drevnich slavjan (Trudy otdela drevnerusskoj literatury 23) Leningrad 1968 86ndash108 ders bdquoKulʼturnoe svoeobrazie ėpochi kulikovskoj bitvyldquo in Kulikovskaja bitva i podldquoem nacionalrsquonogo samopoznanija (Trudy otdela drevne-russkoj literatury 34) Leningrad 1979 3ndash17 ndash Prochorov gehoumlrte bereits zu Sowjetzeiten ins Lager der (neo-)slavophilen Anti-Westler er war eng befreundet mit dem bdquoEurasierldquo und Antisemiten Lev Gumilev (1912ndash1992) und uumlbernahm von diesem das Konzept der bdquoEthnogeneseldquo

24 Michael Hagemeister

Grundlegung erfahren hatte am Ende des 14 Jahrhunderts zu einem entscheiden-den politischen und kulturellen Faktor nicht nur in Byzanz sondern in ganz Ost-europa und lieferte unter anderem das ideologische Fundament zur Konsolidie-rung der nachmongolischen Rusʼ Im Streit zwischen dem bdquorationalistischen Hu-manismus und dem kontemplativen Hesychasmus [hellip] entschied Byzanz uumlber sein geistiges Schicksal Das Land blieb bis zuletzt mittelalterlich Den Hesy-chasten gelang es zu Wortfuumlhrern der oumlffentlichen Meinung in Byzanz zu werden die letzte schoumlpferische Synthese seiner traditionellen Kultur zu entwickeln und eine breite kulturelle und gesellschaftliche Bewegung in Gang zu setzen die zu einer Erneuerung des Mittelalters und zu einer Wiederbelebung der Orthodoxie im ganzen oumlstlichen Europa fuumlhrteldquo78

Im Anschluss an das von seinem Lehrer Dmitrij Lichačev entwickelte Kon-zept einer bdquoVorrenaissanceldquo (Predvozroždenie)79 spricht Prochorov von einer bdquovorrenaissancelichen Gegenreformationldquo (predvozroždenčeskaja kontrreforma-cija) und einer bdquoOrthodoxen Renaissanceldquo (Pravoslavnoe Vozroždenie)80 Ge-meint war damit dass die Palamiten (Hesychasten) den Sieg der Barlaamiten ver-hindern konnten und auf die Schriften der antiken Kirchenvaumlter zuruumlckgreifend ein mystisch-kontemplatives Aumlquivalent zum rationalistischen und saumlkularen Hu-manismus geschaffen haumltten Auf diese Weise habe der drohende Uumlbergang der byzantinischen und osteuropaumlischen christlich gepraumlgten Kultur von der bdquoVorre-naissanceldquo zu einer auf heidnisch-antiken Wurzeln beruhenden Renaissance ab-gewendet werden koumlnnen81 Auf die bdquoVorrenaissanceldquo sei ein bdquoNeues Mittelalterldquo gefolgt das in der bdquoHeiligen Rusʼldquo um die Wende zum 15 Jahrhundert seinen Houmlhepunkt erreicht habe Ihm verdanke Russland seine Groumlszlige und die russische Kultur ihre bdquoUniversalitaumltldquo und bdquoGeistigkeitldquo82

Bemerkenswert ist dass der sowjetische Wissenschaftler die beiden ideolo-gischen Lager mit traditionellen (neo-)slavophilen Wertungsoppositionen wie sie bereits bei Florenskij und Losev begegnet sind verbindet und dabei deutlich seine 78 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 4 79 Vor allem in seinem Buch Kulʼtura Rusi vremeni Andreja Rubleva i Epifanija Premudrogo

MoskvaLeningrad 1962 80 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 8 Siehe auch ders Nekogda ne narod a nyne narod

Božijhellip Drevnjaja Rusʼ kak istoriko-kulʼturnyj fenomen Sankt-Peterburg 2010 133ndash157 81 So auch Igorʼ Ėkonomcev bdquoDie osteuropaumlische sbquoVorrenaissancelsquo ist nicht die erste Stufe

zur saumlkularisierten Renaissance vom abendlaumlndischen Typ sondern ihre Antithese Der geistige und kulturelle Aufschwung in Osteuropa war die wahre volle und eindeutige Re-naissance die sich grundlegend von der westlichen Renaissance unterschied Sie haumltte sich niemals in eine Renaissance westlicher Praumlgung verwandeln koumlnnenldquo Ėkonomcev bdquoDer Hesychasmusldquo 764 vgl ders bdquoIsichazmldquo 69 Diese (osteuropaumlische) Renaissance so Ėkonomcev an anderer Stelle sei ungleich bdquoerhabener geistiger und reinerldquo gewesen als bdquodie westeuropaumlische Renaissance mit ihrer krankhaften Disharmonie zwischen Glauben und Vernunft Geist und Leib die trotz allem gespieltem Optimismus ein Gefuumlhl der Aus-weglosigkeit und Verzweiflung hinterlaumlsstldquo Igumen Ioann Ėkonomcev bdquoVizantinizm Kirillo-Mefodievo nasledie i kreščenie Rusildquo in ders Pravoslavie Vizantija Rossija Sbornik statej Moskva 1992 7ndash22 hier 18

82 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 9 15

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 25

Sympathie zeigt Die byzantinischen Humanisten werden von ihm als kalte Ratio-nalisten dargestellt die in der Hoffnung auf militaumlrische Unterstuumltzung durch den katholischen Westen im Kampf gegen die Osmanen bereit gewesen seien den eigenen Glauben zu opfern83 Die Hesychasten hingegen haumltten so Prochorov den Westen realistischer eingeschaumltzt und auf Hilfe von Seiten der orthodoxen Staaten gehofft Im entscheidenden Moment haumltten nicht die bdquoWestler-Huma-nistenldquo (zapadniki-gumanisty) mit ihren bdquokalten Uumlberlegungenldquo (cholodnymi rassuždenijami) beim Volk Gehoumlr gefunden sondern die Hesychasten mit ihren bdquoheiszligen Gebetenldquo (gorjačimi molitvami)84

Mit seiner Apologie eines bdquowiederbelebtenldquo Mittelalters und einer bdquoOrtho-doxen Renaissanceldquo die alle Bereiche des politischen gesellschaftlichen und kul-turellen Lebens gepraumlgt habe und deren Kern der Hesychasmus gewesen sei stieszlig Prochorov bei seinen sowjetischen Kollegen auf Kritik So sah Apollon Kuzmin im Palamismus eine desintegrative Erscheinung weshalb er Prochorovs positive Bewertung der Hesychasten bei der bdquoWiedergeburtldquo der Rusʼ zuruumlckwies85 Aumlhn-lich argumentierte Gennadij Litavrin Die Palamiten seien diejenigen gewesen die eine unrealistische Einschaumltzung der politischen Lage gehabt haumltten Sie haumltten die Bedrohung durch die Tuumlrken nicht erkannt und stattdessen die Illusion verbreitet die Feinde zum Christentum bekehren und zu neuen Untertanen ma-chen zu koumlnnen Der Palamismus sei eine bdquoIdeologie der Demutldquo und habe eine bdquounheilvolle Rolle in der Geschichte des Kampfes gegen die tuumlrkische Aggres-sionldquo gespielt86 Michail Sjuzjumov sprach sogar vom bdquoasozialen Charakter des Palamismusldquo der den aufkommenden humanistischen Tendenzen gegenuumlber feindlich gewesen und zur bdquoIdeologie der Reaktionldquo in Byzanz geworden sei87 Auf Ablehnung stieszlig Prochorov auch im Ausland Valerij Lepachin kritisierte den Begriff bdquopolitischer Hesychasmusldquo als unzulaumlssige Verbindung weltlicher und geistlicher Sphaumlren damit verliere der Hesychasmus seinen wesentlichen Sinn-gehalt88 Fuumlr den in Berkeley lehrenden Philologen Viktor Živov schlieszliglich war

83 Ebd 12 84 Ebd 13 ndash An anderer Stelle betont Prochorov den Gegensatz zwischen den abstrakten

bdquoausgedachtenldquo philosophischen Konstruktionen des europaumlischen Idealismus und der ganzheitlichen kontemplativ-spekulativen Welterfahrung der griechisch-byzantinischen Philosophie Prochorov bdquoĖtničeskaja integracijaldquo 90f An Florenskijs Renaissance-Kritik (etwa in Ikonostas 1922) erinnert auch Prochorovs Verweis auf den euklidischen Raum und den Perspektivismus der humanistischen Weltwahrnehmung mit seiner Illusion der Unendlichkeit Prochorov bdquoIsichazmldquo 94

85 Apollon Kuzmin bdquoCerkovʼ i svetskaja vlastʼ v ėpochu Kulikovskoj bitvyldquo in Voprosy naučnogo ateizma 37 (1988) 90ndash99

86 Gennadij Litavrin bdquoVizantija v period graždanskoj vojny i dviženija Zilotov (1341ndash1355 gg)ldquo in Sergej Skazkin (Hg) Istorija Vizantii Bd 3 Moskva 1967 135ndash160 hier 158

87 Michail Sjuzjumov bdquoFilosofija i bogoslovieldquo in ebd 234ndash256 hier 248f 88 Valerij Lepachin bdquoUmnoe delanie (o soderžanie i granicach ponjatija sbquoisichazmlsquo)ldquo in

Vestnik Russkogo Christianskogo Dviženija 164 1992 5ndash32 hier 23

26 Michael Hagemeister

bdquopolitischer Hesychasmusldquo bdquokonzeptuelles Unkraut [sornjak] das man so schnell wie moumlglich ausrottenldquo solle89

Fast ein halbes Jahrhundert nach ihrer ersten Veroumlffentlichung wurde Pro-chorovs Konzept eines bdquopolitischen Hesychasmusldquo von seinem Schuumller Vladimir Petrunin wieder aufgegriffen und aktualisiert In der 2009 erschienenen Monogra-phie bdquoDer politische Hesychasmus und seine Traditionen in der Sozialkonzeption des Moskauer Patriarchatsldquo90 stellt Petrunin das sogenannte bdquoNichtgehorsamkeits-prinzipldquo (princip nepovinovenija) wie es in den von der Moskauer Bischofssyno-de im August 2000 verabschiedeten bdquoGrundlagen der Sozialkonzeption der Rus-sischen Orthodoxen Kircheldquo formuliert worden ist91 in eine Tradition die er bis auf die bdquopolitischen Hesychastenldquo im Byzanz des 14 und 15 Jahrhunderts zu-ruumlckzufuumlhren sucht Immer wieder zieht Petrunin Parallelen zwischen dem spaumlten Byzanz und dem postsowjetischen Russland Hatten die Byzantiner den Hesy-chasmus als Reaktion auf den Humanismus des Westens hervorgebracht so diene heute die Sozialkonzeption der Abwehr des westlichen Saumlkularismus Liberalis-mus und Kapitalismus Damals wie heute stuumlnden der kirchliche Heilsauftrag und die Verteidigung des Glaubens uumlber den Interessen des Staates selbst ndash wie das Beispiel von Byzanz zeige ndash um den Preis seines Untergangs Ebenso wie die byzantinischen Hesychasten den mit dem Westen kollaborierenden Herrschern die Gefolgschaft im Kampf gegen die Osmanen verweigert haumltten da sie die bdquoReinheit ihres Glaubensldquo eher bdquounter einem tuumlrkischen Turban als unter der lateinischen Tiaraldquo gewahrt sahen92 rufe die Sozialkonzeption die Kirche heute dazu auf der Staatsmacht den Gehorsam zu verweigern sollte diese bdquodie ortho-doxen Glaumlubigen zum Abfall von Christus und Seiner Kirche sowie zu suumlndhaften

89 Viktor Živov bdquoVidenija sveta i problemy russkogo srednevekovogo isichazmaldquo in Lidov

(Hg) Ierotopija 350ndash367 hier 363 359 90 Vladimir Petrunin Političeskij isichazm i ego tradicii v socialʼnoj koncepcii Moskovskogo

Patriarchata Sankt-Peterburg 2009 91 Osnovy socialrsquonoj koncepcii Russkoj Pravoslavnoj Cerkvi III5 lthttpwwwpatriarchia

rudbtext141422htmlgt Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo wird von den meisten Inter-preten als ein bemerkenswertes Umdenken in der Kirchenpolitik angesehen hatte doch die Russische Orthodoxe Kirche unter Patriarch Sergij in einer prekaumlren Lage 1927 Loyalitaumlt gegenuumlber dem Sowjetstaat gefordert Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo war auch eine wichtige Voraussetzung fuumlr die Vereinigung der Auslandskirche mit dem Moskauer Pa-triarchat Zur Sozialkonzeption insgesamt Vasilios N Makrides bdquoDie politische Aufgabe der Kirche Bemerkungen anhand der Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kir-cheldquo in Irene DingelChristiane Tietz (Hgg) Die politische Aufgabe von Religion Per-spektiven der drei monotheistischen Religionen Goumlttingen 2011 219ndash243

92 Petrunin Političeskij isichazm 66f 120 Es handelt sich um eine zeitgenoumlssische Losung Siehe Halina Evert-Kappesowa bdquoLa tiare ou le turbanldquo in Byzantinoslavica 14 (1953) 245ndash257 ndash Auch Aleksandr Nevskij (1220ndash1263) zog eine Verstaumlndigung mit den Mongo-len einer Union mit Rom vor die ihm Papst Innozenz IV im Jahr 1248 angeboten hatte und wandte sich stattdessen gegen die bdquoLateinerldquo Heutige Anti-Westler feiern den Heili-gen der Russischen Orthodoxen Kirche deshalb auch als bdquoersten Eurasierldquo

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 27

und der Seele abtraumlglichen Taten noumltigenldquo93 Die Sozialkonzeption hat fuumlr Petru-nin nur einen moumlglichen Sinn Falls Russlands politische Elite sich weiterhin dem liberalen Wertekanon des Westens verschreibe und Russlands bdquoEigenartldquo (samo-bytnostʼ) als bdquoorthodoxe Zivilisationldquo bestreite94 muumlsse die Kirche ndash wie einst in Byzanz ndash dem Staat die Loyalitaumlt aufkuumlndigen und das Volk zum Widerstand auf-rufen

Es ist ganz offensichtlich dass die Prozesse der Globalisierung und Saumlkularisierung eng miteinander verbunden sind So wie einst die byzantinischen Hesychasten ist heute die Russische Kirche mit der westlichen Zivilisation konfrontiert die nach der Weltherrschaft trachtet war fruumlher der Katholizismus deren Grundlage so ist es jetzt der saumlkulare Humanismus [hellip] Waumlhrend sie [die westliche Welt MH] damals fuumlr die Hesychasten mit Rom gleichgesetzt wurde so verkoumlrpert heute das kosmopolitische New York den Westen Indem sie Liberalismus und Saumlkularisie-rung abwehrt tritt die Kirche auch gegen die politischen und wirtschaftlichen Hegemoniebestrebungen des Westens auf und stellt so ihr Bestreben unter Beweis die zivilisatorische Eigenstaumlndigkeit Russlands wieder herzustellen Wie schon vor 600 Jahren im Byzantinischen Imperium so ist auch heute in Russland allein die Kirche ein ernstzunehmender und gut organisierter Gegner des Westens und seiner saumlkularen Werte [hellip] Sollte Russland weiter den Weg der Saumlkularisierung be-schreiten so koumlnnte damit fuumlr die Kirche der gefaumlhrliche Praumlzedenzfall geschaffen werden in dem sie von ihrem Recht Gebrauch machen muumlsste das Volk zu zivilem Ungehorsam aufzurufen95

In seinem Vorwort nannte Prochorov das Buch seines Schuumllers eine bdquoWarnung an unseren Staat unsere saumlkulare Gesellschaft an uns alleldquo96 Wie das spaumlte Byzanz unter dem bdquoDruck aus dem Westenldquo gestanden habe ndash dem die Herrscher und die bdquoHumanistenldquo schlieszliglich nachgegeben haumltten ndash so laufe auch das postkommu-nistische Russland Gefahr dem bdquoDruck des Liberalismus und der Globalisierungldquo nachzugeben Allein die Orthodoxe Kirche habe sich damals wie heute als bdquoFes-tungldquo erwiesen faumlhig diesem bdquozersetzenden Einflussldquo Widerstand zu leisten97

Petrunins Buch das mit dem Segen von Metropolit Ilarion (Grigorij Al-feev)98 erschienen war stieszlig bei westlichen Forschern auf Skepsis und Ableh-nung So kritisierte Kristina Stoumlckl die unhistorische Interpretation und forcierte Aktualisierung der philosophischen theologischen und politischen Kontroversen des 14 Jahrhunderts sowie die einseitige konservative Interpretation der Sozial-konzeption Hesychasmus werde in dem Kirchendokument ebenso wenig erwaumlhnt

93 Osnovy socialrsquonoj koncepcii 94 Petrunin Političeskij isichazm 81 95 Ebd 122f 96 Ebd 5 97 Ebd 98 Zu jener Zeit Bischof von Wien und Oumlsterreich heute Leiter des Auszligenamtes des Moskau-

er Patriarchats und scharfer Kritiker des bdquomilitanten Saumlkularismusldquo des Westens Siehe auch lthttpazbykaruxristianstvo-pered-vyzovom-voinstvuyushhego-sekulyariz ma-2gt

28 Michael Hagemeister

wie der Untergang von Byzanz99 Klaus Buchenau warf Petrunin vor er bdquoverfor-m[e] und ideologisier[e] die urspruumlnglichen Motive des hesychastischen Moumlnch-tums bis zur Unkenntlichkeitldquo100 Und Viktor Živov der bereits Prochorovs Kon-zept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo als bdquoUnkrautldquo bezeichnet hatte sah in Petru-nins Buch ein Beispiel dafuumlr wie dieses sich bdquospontan und schaumldlichldquo ausbreite Die von Petrunin konstruierte bdquophantastische Genealogie des politischen Hesy-chasmusldquo beruhe so Živov auf einer bdquoMischung aus Einseitigkeit und Unwissen-heitldquo Weder sei der bdquotuumlrkische Turbanldquo fuumlr den Patriarchen attraktiv gewesen noch sei am Widerstand gegen die Union irgendetwas spezifisch bdquoHesychasti-schesldquo Petrunin habe ein bdquoPhantomldquo geschaffen dessen angebliche Verbindung mit der Sozialkonzeption man nicht weiter zu verfolgen brauche101

bdquoNeobyzantismusldquo Das Dritte Rom ndash der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo

Eine eigenwillige Interpretation des Hesychasmus und seine Wendung gegen den Westen stammen von Aleksandr Dugin dem Fuumlhrer der bdquoeurasischenldquo Bewegung und einflussreichsten Vordenker der Neuen Rechten in Russland Der polyglotte und belesene Autodidakt der nie eine akademische Ausbildung genossen hat war Gruumlnder der Partei der Nationalbolschewisten Berater des Vorsitzenden der Du-ma und des Generalstabs sowie von 2008 bis 2014 Professor fuumlr Soziologie an der renommierten Moskauer Lomonosov-Universitaumlt und Direktor des dortigen bdquoZentrums fuumlr Konservatismusstudienldquo Seit Anfang der 1990er Jahre verbreitet er mit graphomanem Eifer seine politischen und bdquometaphysischenldquo Botschaften in einer inzwischen kaum noch uumlberschaubaren Zahl von Publikationen102 und Web-Artikeln in mehreren Sprachen sowie durch spektakulaumlre Auftritte in staats-nahen Medien103 99 Kristina Stoumlckl bdquoPolitical Hesychasm Vladimir Petruninrsquos Neo-Byzantine Interpretation

of the Social Doctrine of the Russian Orthodox Churchldquo in Studies in East European Thought 62 (2010) 125ndash133

100 Klaus Buchenau Auf russischen Spuren Orthodoxe Antiwestler in Serbien 1850ndash1945 Wiesbaden 2011 480 Anm 2

101 Živov bdquoVidenija svetaldquo 364f ndash Von der Kritik offenbar unbeeindruckt verschaumlrfte Petru-nin noch seine Position So sprach er 2012 in einem Vortrag uumlber die gesellschaftliche und politische Wirkung der hesychastischen Gebetspraxis Nach dem Fall von Byzanz sei das bdquoJesusgebet faktisch zu einem sbquopolitischen Gebetlsquoldquo geworden das auf die bdquoVerwandlung [preobraženie] der orthodoxen Oumlkumeneldquo ausgerichtet gewesen sei und das bdquoPhaumlnomen der Heiligen Rusrsquoldquo hervorgebracht habe lthttpsynergia-isarup=8604gt

102 Zuletzt in der bislang fuumlnf Baumlnde umfassenden Reihe bdquoNoomachijaldquo (2014ndash2015) einer hochambitioumlsen letztlich aber manichaumlisch-schematischen Beschreibung der bdquoSuche nach dem Logosldquo in den ndash von Dugin essenzialistisch aufgefassten ndash bdquoWeltkulturenldquo

103 Auch die Literatur zu Dugin ist kaum noch uumlberschaubar Siehe zB Alexander Houmlllwerth Das sakrale eurasische Imperium des Aleksandr Dugin Eine Diskursanalyse zum post-sowjetischen russischen Rechtsextremismus Stuttgart 2007 Stefan Wiederkehr Die eurasische Bewegung Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwi-schenkriegszeit und im postsowjetischen Russland Koumlln [ua] 2007 227ndash261 Anton

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 29

Dugin deutet den Hesychasmus im Rahmen des sogenannten bdquointegralen Traditionalismusldquo einer antimodernen Denkrichtung die im ersten Drittel des 20 Jahrhunderts in Frankreich und Italien entstand und in Reneacute Gueacutenon (1886ndash1951) und Julius Evola (1898ndash1974) ihre bekanntesten (und auch fuumlr Dugin wichtigsten) Vertreter hat104 Ihre Lehre besagt dass alle Religionen ungeachtet ihrer histori-schen und regionalen Auspraumlgungen in ihrem esoterischen nur dem Eingeweih-ten zugaumlnglichen Kern eine gemeinsame urspruumlngliche Wahrheit teilen und als philosophia perennis tradieren das Wissen um die Goumlttlichkeit und den Zugang zu ihr Dieses sakrale und initiatorische Wissen sei im Verlauf der westlichen Mo-derne insbesondere durch die Aufklaumlrung verlorengegangen in traditionellen Gesellschaften (China Indien islamische Welt) jedoch bewahrt geblieben105

Auch die Orthodoxie so Dugin habe im Gegensatz zu Katholizismus und Protestantismus bdquodie Treue zum esoterischen Kernldquo bewahrt naumlmlich in ihrer mystischen Unterstroumlmung dem Hesychasmus106 In der Kanonisierung des Gre-gorios Palamas durch die Ostkirche bei gleichzeitiger Verdammung des Humanis-ten Barlaam sieht Dugin das Bekenntnis zum bdquognostisch-realistischen Geist der orthodoxen Esoterikldquo Ganz im Sinn des Traditionalismus deutet er die psycho-physische Uumlbung der Hesychasten das bdquogeistige Tunldquo als Verfahren der bdquoInitia-tionldquo und das Endziel der bdquoVerklaumlrungldquo und bdquoVergoumlttlichungldquo als bdquoalchemistische Verwandlung des Leibesldquo (alchimičeskoe preobraženie tela) Dadurch wuumlrden der bdquoDualismus von Geist und Materie Leib und Seeleldquo sowie die bdquoGrenzen der Individualitaumltldquo ndash charakteristisch fuumlr den bdquorein exoterischen Mystizismusldquo des Westens ndash aufgehoben107 Die bdquoTradition der hesychastischen Esoterikldquo sei die

Shekhovtsov bdquoThe Palingenetic Thrust of Russian Neo-Eurasianism Ideas of Rebirth in Aleksandr Duginrsquos Worldviewldquo in Totalitarian Movements and Political Religions 9 (2008) 491ndash506 Mark Sedgwick bdquoOccult Dissident Culture The Case of Aleksandr Du-ginldquo in Birgit Menzel [ua] (Hgg) The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimen-sions MuumlnchenBerlin 2012 273ndash292 Schmid Technologien der Seele 210ndash220

104 Aleksandr Dugin Filosofija tradicionalizma Moskva 2002 Zum Traditionalismus siehe das Standardwerk von Mark Sedgwick Against the Modern World Traditionalism and the Secret Intellectual History of the Twentieth Century OxfordNew York 2004 zu Dugin 221ndash237 Vgl auch Christopher DL Johnson The Globalization of the Jesus Prayer Con-testing Contemplation London New York 2010 70ndash73

105 Aumlhnliche Gedanken entwickelte Pavel Florenskij bereits 19081909 in seinem Vortrag bdquoObščečelovečeskie korni idealizmaldquo in dem er die bdquoEsoterikldquo der Philosophie Platons und seiner Nachfolger in der bdquoallgemeinmenschlichenldquo mystisch-magischen Weltauffas-sung der bdquoVolksseeleldquo wurzeln laumlsst

106 Das Folgende nach Aleksandr Dugin bdquoOboženie preestestvennejšeeldquo in Milyj angel 1 1991 56ndash59

107 Das Konzept der bdquoInitiationldquo und die Unterscheidung von bdquoesoterischldquo und bdquoexoterischldquo sind zentral fuumlr die Anhaumlnger des Traditionalismus siehe Sedgwick Against the Modern World 265 ndash Als Mitglied des okkultistischen und faschistischen Južinskij-Kreises machte Dugin in Moskaus bdquomystischem Untergrundldquo in den 1980er Jahren selbst Entgrenzugser-fahrungen mit Hilfe sexualmagischer Praktiken und bewusstseinserweiternder Drogen Bei einem Teil der orthodoxen Glaumlubigen stoumlszligt seine Esoterik denn auch auf Misstrauen und

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bdquoSeele der russischen Orthodoxieldquo und habe in Serafim von Sarov ihren bdquoletzten leuchtendsten Vertreterldquo gefunden

Der Hesychasmus gehoumlre zum traditionellen Erbe von Byzanz das Russ-land angetreten habe als es zum Dritten Rom und zum Zentrum der orthodoxen Welt geworden sei bdquoWir sindldquo so Dugin bdquobyzantinisch in unserer Seele unseren Wurzeln und in unserer Identitaumltldquo108

Unser stabilstes Fundament ist Byzanz [hellip] Russland ist Byzanz [hellip] Unsere For-mel lautet Der Westen ist das Boumlse Byzanz das Gute Alles Schlechte das uumlber Byzanz geschrieben wurde ist eine Luumlge Das sind lediglich Winkelzuumlge im ideolo-gischen Kampf von Seiten des Westens [hellip] Jeder Russe muss wissen Byzanz ist das reine Gute Jeder der etwas anderes behauptet ist ein Feind [hellip] Wer Byzanz kritisiert ist ein Feind des russischen Volkes Das muss unser ehernes Prinzip sein [hellip] Byzanz ist der absolute Orientierungspunkt des russischen Projekts109

Damit sind Russlands Ort und Mission in der bdquohistoriosophischenldquo Deutung des Weltgeschehens bestimmt Nach Dugin wird die Geschichte der Menschheit be-herrscht vom bdquookkulten planetarischen Ringenldquo zweier antagonistischer Maumlchte dem bdquogroszligen Krieg der Kontinenteldquo Land gegen Meer Behemoth gegen Levia-than die organischen bodenstaumlndigen und traditionalistischen bdquoTellurokratienldquo des eurasischen Ostens gegen die wurzel- und seelenlosen materialistischen bdquoTha-lassokratienldquo des angloamerikanischen Westens das apokalyptische Tier aus dem Meer (Offb 13 1-10)110 Die USA als bdquoQuintessenz des Westensldquo und New York als moderne Hure Babylon (Offb 17 und 18) sind das Reich des Antichrist eine chimaumlrisch-antiorganische transplantierte Zivilisation die keine sakrale Tradi-tion besitze ihre Selbsterhebung zu bdquoGottes neuem Israelldquo und bdquoNeuem Zionldquo ndash gemaumlszlig der anglo-amerikanischen Interpretation der Substitutionslehre ndash deutet Dugin als besonders perfiden Taumluschungsversuch des bdquowestlichen Antichristldquo Das Jahr der Entdeckung Amerikas (1492 ist nach der altrussisch-byzantinischen

offene Ablehnung Fuumlr den Sektenexperten des Moskauer Patriarchats ist Dugin ein bdquoge-faumlhrlicher Feindldquo der die bdquoOrthodoxie in Kabbalistik umzuschmelzenldquo versuche Andrej Kuraev Cerkovrsquo v mire ljudej Moskva 2006 142

108 Aleksandr Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Tradition Duginrsquos Guidelineldquo lthttpswwwyoutubecomwatchv=m0RIa61eZDggt

109 Aleksandr Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo in ders Russkaja Veščrsquo Očerki nacionalrsquonoj filosofii Bd 1 Moskva 2001 69ndash76 hier 70ndash72 (Hervorhebungen im Original) Der Be-griff bdquoByzantismusldquo (vizantizm) ndash im Unterschied zum negativ konnotierten bdquoByzantinis-musldquo ndash als Bezeichnung eines dem europaumlischen entgegengesetzten Kulturtypus der auf den Prinzipien von Orthodoxie und Selbstherrschaft beruht geht auf den konservativen Philosophen Konstantin Leontrsquoev (1831ndash1891) und sein Buch Vizantizm i slavjanstvo (1875) zuruumlck

110 Auch fuumlr den von Dugin verehrten Heidegger waren die Seemaumlchte Groszligbritannien und Amerika nicht Teil der abendlaumlndischen Tradition sondern im Gegensatz zum restlichen Europa wurzellos und sinnleer Der Antagonismus von Land und Meer die kategorische Unterscheidung von Freund und Feind sowie das Konzept des Katechon gehen auf Carl Schmitt zuruumlck als dessen Schuumller Dugin sich bezeichnet Siehe auch Fn 41

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 31

Weltaumlra das Jahr 7000 nach dem chiliadischen Weltwochenschema also der sieb-te Tag der Schoumlpfung) verweise ebenso auf den Endzeitcharakter der bdquoNeuen Weltldquo wie die bdquosakrale Geographieldquo nach der das Paradies im Osten die Houmllle aber das bdquoLand des Todesldquo im Westen zu suchen seien111

Dem Antichrist entgegen stehe seit jeher der Katechon dessen bdquoletzter Hortldquo bis ans Ende der Zeit die Heilige Rusrsquo das Dritte Rom sei112 In der petrini-schen Epoche als die Hauptstadt in die bdquonoumlrdlichen Suumlmpfeldquo in die bdquoGespenster-stadtldquo Petersburg verlegt und das Patriarchat abgeschafft wurde haumltten allein die Altglaumlubigen den Geist von Byzanz den Katechon bewahrt zweihundert Jahre lang sei der Weg frei gewesen fuumlr das zerstoumlrerische Wirken des Antichrist Erst die sowjetische Periode habe eine bdquomystische Ruumlckkehr zum Byzantismusldquo be-deutet indem die Bolschewiki das heilige Moskau wieder zur Hauptstadt erklaumlr-ten das Patriarchat wiederherstellten die Ausbeuter als Klasse vernichteten und dem Westen auf allen Gebieten Widerstand boten Im bdquoroten Byzantismusldquo der Dritten Internationale sei der Katechon zuruumlckgekehrt113

Um seine Mission zur Erloumlsung der Menschheit auch kuumlnftig zu erfuumlllen muumlsse das Dritte Rom nach dem Zerfall der Sowjetunion114 nunmehr ein groszligkon-tinentales sakral fundiertes bdquoEurasisches Imperiumldquo errichten gegen den Erz-feind die materialistische universalistische alles nivellierende Zivilisation des Westens als der Verkoumlrperung des bdquoweltweiten Boumlsenldquo (mirovoe zlo) gegen Libe-ralismus Individualismus Globalismus Egalitarismus sowie die bdquomondialisti-scheldquo Konzeption der Menschenrechte115 Verbuumlndete im bevorstehenden apoka-lyptischen bdquoEndkampfldquo (von Dugin stets deutsch geschrieben) werden all jene sein die den Bezug zum bdquoSakralenldquo noch nicht verloren haben russische Altglaumlu-bige ultraorthodoxe antizionistische Juden europaumlische Traditionalisten sowie jene bdquoanti-atlantischenldquo islamistischen Fundamentalisten die in den USA den Dajjacircl den falschen Messias und Antichrist erkennen gegen den die Retter-gestalt des Mahdicirc zu Felde ziehen wird116 111 Aleksandr Dugin Absoljutnaja Rodina Puti Absoljuta Metafizika Blagoj Vesti Misterii

Evrazii Moskva 1999 645ndash670 112 Ebd 378ndash395 493ndash521 113 Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo 74ndash76 Siehe auch ders bdquoKatechon i revoljucijaldquo in ders

Tampliery proletariata Nacional-bolrsquoševizm i iniciacija Moskva 1997 52ndash59 ndash Die mes-sianische Identifizierung des Dritten Rom mit der Dritten Internationale reicht bis ins Gruumlndungsjahr der Komintern (1919) zuruumlck Beide so der slawophile Philosoph und An-haumlnger des imjaslavie Valerian Muravrsquoev (1885ndash1930) in einem Brief vom 6 Januar 1920 an Lev Trockij seien Ausdruck der Suche des russischen Volkes und der Intelligencija nach einem Reich der Wahrheit und Gerechtigkeit Valerian Muravrsquoev Sočinenija Bd 2 Moskva 2011 352f Weitere Belege bei Emanuel Sarkisyanz Russland und der Messianis-mus des Orients Tuumlbingen 1955 196 Mikhail Agursky Third Rome National Bolshevism in the USSR Boulder Co 1987

114 Damals sah ein Journalist bdquoauf den Ruinen des Imperiumsldquo das Dritte Rom in Gefahr zu einem Land der Dritten Welt zu werden Andrej Fadin bdquoTretij Rim v tretrsquoem mire Razmy-šlenija na ruinach imperiildquo in Nezavisimaja gazeta 1291991

115 [Aleksandr Dugin] bdquoLibo-my libo-ničtoldquo in Ėlementy 8 19961997 1ndash4 hier 2 116 [Aleksandr Dugin] bdquoIdeologija Mirovogo Pravitelrsquostvaldquo in Ėlementy 2 1992 1f

32 Michael Hagemeister

Das Dritte Rom als Zentrum des eurasischen bdquoEuro-Sowjetischen Imperiumsldquo Titelbild der von Aleksandr Dugin herausgegebenen Zeitschrift bdquoElemente Eurasische Rundschauldquo (1992) Dugins Werk mit seiner provokanten Mischung esoterischer antimoderner und antiwestlicher Motive findet besonders unter jungen Intellektuellen Anklang und Nachahmer so etwa bei dem promovierten Philosophen und selbstproklamierten bdquoorthodoxen Metaphysikerldquo Arkadij Maler einem vehementen Propagandisten einer bdquopolitischen Orthodoxieldquo (političeskoe Pravoslavie) und fuumlhrenden Ideolo-gen der bdquoneobyzantinischenldquo Doktrin Obwohl sich Maler von Dugin distan-ziert117 beschwoumlrt auch er die eschatologische bdquogeistige Mission des Dritten Romldquo die es von Byzanz geerbt habe und die in seiner bdquozentralen katechontischen Rolleldquo bestehe dem Kampf gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo des bdquogottlosen Wes-tensldquo118 Russische Politik koumlnne deshalb nicht anders als imperial sein und muumlsse ihren Einfluss auf den gesamten Planeten ausdehnen Wie Dugin sieht auch Maler die Bolschewiki in dieser Tradition als sie Moskau zur Hauptstadt des bdquoRoten

117 In den spaumlten 1990er Jahren gehoumlrte Maler der vaumlterlicherseits juumldischer Abstammung ist

zusammen mit Dugin und Ėduard Limonov zur Fuumlhrungsriege der Nationalbolschewisti-schen Partei und schrieb fuumlr die Parteizeitung Limonka sich selbst charakterisierte er als bdquorotbraunen Zionistenldquo Nach seiner Konversion zur Orthodoxie trennte er sich 1999 von Dugin und kritisierte dessen esoterischen Traditionalismus aus einer ultraorthodoxen Posi-tion Dugin wiederum warf Maler vor ihn zu plagiieren

118 Arkadij Maler Duchovnaja missija Tretrsquoego Rima Moskva 2005 bes 134ndash136 170ndash206 Siehe auch ders bdquoIdeologija Vizantizmaldquo in Severnij Katechon 1 (2005) 7ndash49 bdquoNeovi-zantizm kak novyj bolrsquošoj stilrsquoldquo in Aleksej Nilogov (Hg) Kto segodnja delaet filosofiju v Rossii Moskva 2007 110ndash124

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 33

Imperiumsldquo machten und dieses zur bdquoabsoluten Antithese des Westensldquo erklaumlrten zum bdquoTraumlger der planetarischen Mission der Befreiung der Welt aus den sbquoFesseln des Kapitalslsquoldquo119 Das Dritte Rom sei zeitweise in die Dritte Internationale trans-formiert worden ohne jedoch seine Mission als Katechon als aufhaltende Macht gegen das Reich des Boumlsen und Ausgangspunkt zur Errettung der Welt aufzuge-ben Die bdquoletzte Etappeldquo im Kampf gegen den Antichrist werde so Maler der bdquoeschatologische Krieg des Dritten Rom gegen das Dritte Karthagoldquo den bdquoAnti-katechonldquo sein die bdquoanglo-amerikanische [] atlantische Zivilisationldquo120 Zur Propagierung der katechontischen Mission Russlands gruumlndete Maler 1999 am Institut fuumlr Philosophie der Akademie der Wissenschaften in Moskau einen bdquoBy-zantistischen Klub Katechonldquo (Vizantistskij Klub Katechon) und 2005 das bdquoPhi-losophisch-politische Zentrum sbquoNoumlrdlicher Katechonlsquoldquo das einen gleichnamigen Almanach (Severnyj Katechon) herausgibt121

Apokalyptischer Ausblick

Die Formel vom Dritten Rom und die Figur des Katechon des Aufhalters des bdquoweltweiten Boumlsenldquo sind zu Markenzeichen russischer Anti-Westler und Ver-schwoumlrungstheoretiker und ihres schrillen Szenariums eines globalen apokalyp-tischen bdquoEndkampfesldquo gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo geworden122 Unter dem Titel bdquoDie russische Doktrin Die Staatsideologie der Epoche Putinsldquo verfasste in den Jahren 2005 und 2006 ein Kollektiv nationalpatriotischer Autoren ndash unter ih-nen der bdquoByzantistldquo Arkadij Maler ndash ein uumlber 1000 Seiten langes ultrakonservati-ves und antiwestliches Manifest das auch die Unterstuumltzung hoher kirchlicher Wuumlrdentraumlger fand123 In ihrem Entwurf einer bdquoorganischen weltanschaulichen Plattformldquo fuumlr das kuumlnftige Russland behandeln die Autoren ausfuumlhrlich die bdquohis-toriosophischeldquo Konzeption vom Dritten Rom und seine Mission als Katechon gegen das bdquoHeidentumldquo des Westens124 Gefordert wird die positive Identifikation

119 Maler Duchovnaja missija 182f 185 120 Ebd 177 ndash Als Mittel im ideologischen Kampf gegen den saumlkularen Westen fordert Maler

in Analogie zur katholischen Gegenreformation eine orthodoxe konservative bdquoGegenauf-klaumlrungldquo (Kontrprosveščenie) lthttpwwwkatehonruhtmltoppolitologiaideaotkritije _polit_pravoslavijahtmgt

121 Siehe die Website lthttpwwwkatehonrugt 122 Siehe zB Galina A Morozova Tretij Rim protiv novogo mirovogo porjadka Moskva

2009 Die Formel von Dritten Rom hat laumlngst auch Schriftsteller und Maler inspiriert und scheint auch werbewirksam zu sein bdquoDrittes Romldquo nennt sich ein Verlag ein Videospiel eine Bank ein Reisebuumlro und sogar ein Kasino in Jalta Ein Schoumlnheitswettbewerb in Mos-kau vergibt alljaumlhrlich den Titel einer bdquoMiss Drittes Romldquo Judith E Kalb Russiarsquos Rome Imperial Visions Messianic Dreams 1890ndash1940 Madison Wisconsin 2008 198f Zum Katechon siehe Maria Engstroumlm bdquoContemporary Russian Messianism and New Russian Foreign Policyldquo in Contemporary Security Policy 35 (2014) 3 356ndash379

123 Russkaja doktrina Gosudarstvennaja ideologija ėpochi Putina Moskva 2016 124 Ebd 68ndash72 116ndash120 und passim

34 Michael Hagemeister

mit der Geschichte Russlands und seinen Lichtgestalten dem Heiligen Serafim von Sarov dem bdquoeschatologischen Fuumlhrer des russischen Volkes am Ende der Zeitenldquo der bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo und Stalin der dem paulinischen Kate-chon gleich die bdquoGesetzlosigkeitldquo (bezzakonie) bekaumlmpft und das bdquoFundament fuumlr eine groszlige Zukunftldquo gelegt habe125

bdquoKatechonldquo nennt sich auch ein prominent besetzter Think tank den der Oligarch und Berater Putins Konstantin Malofeev im Jahr 2015 gegruumlndet hat126 Der Milliardaumlr der sein Vermoumlgen mit einer Investmentfirma auf den Cayman Inseln gemacht hat bezeichnet sich selbst als bdquoorthodoxen Monarchistenldquo127 Er unterstuumltzt die Separatisten in der Ostukraine und unterhaumllt vielfaumlltige Verbindun-gen zu europaumlischen Rechtspopulisten wie dem Front National der FPOuml Syriza und der Lega Nord Neben dem Forum bdquoKatechonldquo betreibt Malofeev auch einen Fernsehsender mit dem programmatischen Namen bdquoZargradldquo128 (Motto bdquoDas Licht Christi erleuchtet alleldquo) dessen Chefkommentator niemand anderes ist als Aleksandr Dugin129

bdquoKatechonldquo und bdquoZargradldquo propagieren den Kampf gegen die westliche Moderne mit Bezug auf das byzantinische Erbe Russlands Im November 2014 fand in der Moskauer Manege eine Konferenz bdquoMoskau ndash das Dritte Romldquo statt130 An ihr nahmen auszliger Dugin und Malofeev auch Archimandrit Tichon und Nata-lrsquoja Naročnickaja teil eine hochrangige Diplomatin Mitglied des Izborsker Klubs und Leiterin des Pariser bdquoInstituts fuumlr Demokratie und Kooperationldquo das die oumlf-fentliche Meinung im Westen im Sinne des Kremls beeinflussen soll Tichons Film bdquoDie Lehre von Byzanzldquo sei so Naročnickaja auch eine Warnung an den Westen der seine christlichen Werte verraten habe weshalb er den glaubens-festen Migranten und ihrer Verachtung hilflos ausgeliefert sei131

Im Oktober 2009 wurde Tichons Film in Athen vor ausverkauftem Saal aufgefuumlhrt Unter denen die dem Drehbuchautor Beifall spendeten war der Philo-soph und Theologe Christos Yannaras einer der Hauptvertreter der Neoorthodo-xie und scharfer Kritiker des Westens Wie ihre russischen Gesinnungsgenossen

125 Ebd 130f 153 142ndash145 126 Mit einem Auftritt im Internet in 9 Sprachen Siehe die deutsche Version unter lthttp

katehoncomdewer-sind-wirgt 127 lthttpsdewikipediaorgwikiKonstantin_Walerjewitsch_Malofejewgt 128 Carrsquograd ist der altrussische Name fuumlr Konstantinopel 129 Auch Dugin unterhaumllt seit mehr als 25 Jahren Kontakte zu ultrakonservativen traditiona-

listischen und faschistischen Gesinnungsgenossen in Westeuropa Siehe Vladimir Ivanov Alexander Dugin und die rechtsextremen Netzwerke Fakten und Hypothesen zu den inter-nationalen Verflechtungen der russischen Neuen Rechten Stuttgart 2007

130 lthttpwwwpravoslavieru75070htmlgt 131 lthttpwwwpravoslavieru7414htmlgt ndash Fuumlr Metropolit Ilarion (Alfeev) der sich dabei

auf Dugin beruft verwandeln sich die Laumlnder Westeuropas bereits in die bdquoSphaumlre des Anti-christldquo lthttpwwwpatriarchiarudbtext3065216htmlgt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 35

verherrlichen auch die griechischen Neoorthodoxen die byzantinische Vergan-genheit und sehen in der modernen saumlkularen Gesellschaft eine Bedrohung ihrer kulturellen Identitaumlt132 Gemeinsam suchen sie der Globalisierung mit einer bdquoby-zantinischen Internationaleldquo als bdquoorthodoxer Oumlkumeneldquo entgegenzuwirken einer letztlich sakral verstandenen Gemeinschaft deren Einfluss indes weit uumlber die kirchliche Sphaumlre hinausreichen und eine transnationale Vereinigung der ortho-doxen Welt von Serbien uumlber Syrien bis Georgien und Armenien unter Fuumlhrung Moskaus schaffen soll133 Als wichtiger symbolischer Schritt auf diesem Weg wurde der Besuch von Praumlsident Putin und Patriarch Kirill des Heiligen Berges Athos einer traditionellen Hochburg antiwestlicher Opposition im Mai 2016 ge-feiert Das weltliche und das geistliche Oberhaupt Russlands ndash die bdquoSymphonia der Maumlchteldquo ndash zeigten damit so Aleksandr Dugin ihr Bekenntnis zu Byzanz und seiner Rolle als Katechon Damit anerkenne bdquounsere Rusrsquo ihre historische Bestim-mung Wir sind bereit fuumlr die Endzeitldquo134

132 Ausfuumlhrlich dazu Daniel P Payne The Revival of Political Hesychasm in Contemporary

Orthodox Thought The Political Hesychasm of John Romanides and Christos Yannaras Lanham [ua] 2011 Siehe auch Vasilios N Makrides bdquoByzantium in Contemporary Greece The Neo-Orthodox Current of Ideasldquo in David RicksPaul Magdalino (Hgg) Byzantium and the Modern Greek Identity Aldershot 1998 141ndash153 Zum griechischen Neobyzantismus unter russischem Einfluss Aleksey Kamenskikh bdquoThe Image of the Second Rome through the Prism of the Thirdrdquo in Teresa Obolevich [ua] (Hgg) Russian Thought in Europe Reception Polemics Development Krakoacutew 2013 13ndash22 ndash Antimo-derne und antiwestliche Stroumlmungen in den vom orthodoxen Christentum gepraumlgten Kultu-ren haben der Religionswissenschaftler Makrides und der Slavist Uffelmann vor einigen Jahren als Desiderat der Forschung benannt Vasilios N MakridesDirk Uffelmann bdquoStudying Eastern Orthodox Anti-Westernism The Need for a Comparative Research Agendaldquo in Jonathan SuttonWil van den Bercken (Hgg) Orthodox Christianity and Contemporary Europe Leuven [ua] 2003 87ndash120 Seitdem haben Makrides und die Politikwissenschaftlerin Stoumlckl eine Reihe einschlaumlgiger Arbeiten vorgelegt in denen or-thodoxe Alternativen zu westlichen philosophischen und politischen Konzepten untersucht werden Vasilios N Makrides bdquoOrthodoxes Cristentum und Moderne ndash Inkompatibilitaumlt oder langfristige Anpassungldquo in Una Sancta 2011 1 15ndash30 ders bdquoOumlstliches orthodo-xes Christentum und Saumlkularitaumlt Ein Vergleich mit dem lateinischen Christentumldquo in Transit 47 (2015) 59ndash75 Kristina Stoumlckl bdquoModernity and its Critique in Twentieth Cen-tury Russian Orthodox Thoughtldquo in Studies in East European Thought 58 (2006) 243ndash269 dies Community after Totalitarianism The Russian Orthodox Intellectual Tradition and the Philosophical Discourse of Political Modernity Frankfurt aM [ua] 2008

133 Dazu gehoumlrt auch die Verwirklichung des jahrhundertealten Traums der Wiedererrichtung des Kreuzes auf der Hagia Sophia Siehe Egor Cholmogorov Russkij proekt restavracija buduščego Moskva 2005 283 Der Verfasser Mitglied des Expertenteams des Izborsker Klubs ist Begruumlnder der Doktrin der bdquoAtomaren Orthodoxieldquo siehe Fn 74

134 Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Traditionldquo

ZUM AUTOR

Michael Hagemeister geb 1951 in EllwangenJagst Studium der Slavistik Ge-schichte Germanistik und Philosophie in Basel und MarburgLahn Promotion mit einer Arbeit uumlber den russischen Philosophen Nikolaj Fedorov Wissenschaft-licher Mitarbeiter am Slawischen Seminar in Marburg Gastprofessor am Seminar fuumlr Komparatistik der Universitaumlt Innsbruck Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lotman-Institut fuumlr russische und sowjetische Kultur der Ruhr-Universitaumlt Bo-chum am Lehrstuhl fuumlr Geschichte Osteuropas der Europa-Universitaumlt Viadrina Frankfurt (Oder) an den Historischen Seminaren der Universitaumlten Basel Duumlssel-dorf und Bochum Vertretung der Professuren fuumlr Geschichte Osteuropas an der Ludwig-Maximilians Universitaumlt Muumlnchen und an der Europa-Universitaumlt Frank-furt (Oder)

Forschungen zur russischen Philosophie und Geistesgeschichte zum utopischen und apokalyptischen Denken in Russland zum russischen Rechtsextremismus und Antisemitismus sowie insbesondere zu den Protokollen der Weisen von Zion und ihrem Herausgeber Sergej Nilus Publikationen ua Die Neue Menschheit Biopolitische Utopien in Russland (hg mit Boris Groys) Frankfurt aM 2005 The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimensions (hg mit Birgit Menzel und Bernice Rosenthal) Muumlnchen 2012 Die Fiktion von der juumldischen Weltver-schwoumlrung Zu Text und Kontext der bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo (hg mit Eva Horn) Goumlttingen 2012 Die bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo vor Gericht Der Berner Prozess und die bdquoantisemitische Internationaleldquo in der Zwischen-kriegszeit Chronik Dokumente und Kommentare Zuumlrich (im Druck)

ERFURTER VORTRAumlGE ZUR KULTURGESCHICHTE DES ORTHODOXEN CHRISTENTUMS Reihenherausgeber Vasilios N Makrides

Heft 1 Thomas Bremer Konfrontation statt Oumlkumene Zur kirchlichen Situation in der Ukraine Erfurt 2001

Heft 2 Gerhard Podskalsky Zur Hermeneutik des theologischen Ost-West-

Gespraumlchs in historischer Perspektive Erfurt 2002 Heft 3 Karl Christian Felmy Warum und zu welchem Behufe treiben wir

Ostkirchenkunde Erfurt 2003 Heft 4 Wassilios Klein bdquoTatarenjoch ndash татарское игоldquo Beobachtungen zur

Wahrnehmung des Islam im eurasischen Raum Erfurt 2005 Heft 5 Stamatios D Gerogiorgakis Zeitphilosophie im Mittelalter Byzantinische

und lateinische Vorstellungen Erfurt 2006 Heft 6 Heinz Ohme Das Oumlkumenische Patriarchat von Konstantinopel und die

tuumlrkische Religionspolitik Erfurt 2007 Heft 7 Alexander Agadjanian Russian Orthodox Vision of Human Rights Recent

Documents and Their Significance Erfurt 2008 Heft 8 Christos Yannaras Wem gehoumlrt die griechische Antike Erfurt 2009 Heft 9 Joachim Willems Religions- und Ethikunterricht in Russland ndash Was

wollen Staat und Kirche Zur Einfuumlhrung des neuen Schulfaches bdquoGrundlagen der religioumlsen Kulturen und der weltlichen Ethikldquo Erfurt 2010

Heft 10 Chris Hann Eastern Christianity and Western Social Theory Erfurt 2011 Heft 11 Jennifer Wasmuth Akademische Theologie im zaristischen Russland in

ihrer Bedeutung fuumlr die neuere orthodoxe Theologie Erfurt 2012 Heft 12 Anna Briskina-Muumlller Auf der Suche nach der bdquoHesychialdquo Paisij

Veličkovskij (1722ndash1794) und sein Leben fuumlr die bdquoPhilokalieldquo Erfurt 2014

Heft 13 Vladimir Cvetković From ldquoMerciful Angelrdquo to ldquoFortress Europerdquo The

Perception of Europe and the West in Contemporary Serbian Orthodoxy Erfurt 2015

Heft 14 Stefan G Reichelt Lebenslinien Nikolaj A Berdjaev (1874ndash1948) und Sergij N Bulgakov (1871ndash1944) im Westen ndash Eine Wuumlrdigung Erfurt 2015

Heft 15 Michael Hagemeister Der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo ndash bdquoNeobyzantismusldquo

und bdquopolitischer Hesychasmusldquo im postsowjetischen Russland Erfurt 2016

Alle Hefte der vorliegenden Schriftenreihe koumlnnen unter folgendem Link kostenlos heruntergeladen werden URL httpswwwuni-erfurtdereligionswissenschaftprofessur-orthodoxes-christentumveroeffentlichungenerfurter-vortraege-zur-kulturgeschichte-des-orthodoxen-christentums

Page 21: Michael Hagemeister FINAL - uni-erfurt.de · doziert Tichon, während er das antike Kons tantinopel computeranimiert auferste- hen lässt. Das prosperierende Impe rium erregte freilich

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 21

waren (augenfaumlllig etwa in der Architektur der 1930er bis 50er Jahre)68 Anderer-seits erwies sich der orthodoxe Moumlnch damit auch als Apologet des Sowjetregi-mes bedroht die Autonomie des Individuums doch den Wesenskern einer jeden Herrschaft die das Wahrheitsmonopol fuumlr sich beansprucht

Die Ablehnung der modernen bdquokopernikanischen Weltldquo (Hans Blumen-berg) durchzieht das gesamte philosophische Werk Losevs und Florenskijs dazu gehoumlren die Ablehnung des heliozentrischen Weltbildes die Polemik gegen Kants kritischen Idealismus (die bdquokopernikanische Wendeldquo in der Philosophie) die Ab-lehnung der Zentralperspektive in der Kunst die Ablehnung des nominalistischen Rationalismus und schlieszliglich die Ablehnung der saumlkularen und demokratischen Gesellschaftsordnung zugunsten einer bdquoVerkirchlichungldquo (ocerkovlenie) aller Be-reiche der Gesellschaft und des Staates in Gestalt einer theokratischen Synarchie Florenskij der sich als einen mittelalterlichen Menschen charakterisierte69 ndash Ni-kolaj Berdjaev selbst Verkuumlnder eines religioumls-integralen bdquoNeuen Mittelaltersldquo nannte ihn einen bdquoraffinierten Reaktionaumlrldquo ndash70 war uumlberzeugt dass die bdquoentseelte Renaissance-Zivilisationldquo sich erschoumlpft habe und eine neue ganzheitlich-objekti-ve Kultur anbrechen werde71 Vorbild dieser bdquoKultur des anderen Typusldquo werde Russland sein bdquoerste Keimeldquo seien bereits zu erkennen Seine Zeit begriff Floren-skij bdquoan den Wasserscheiden des Denkensldquo und er sah seine Lebensaufgabe darin bdquoWege zu bahnen zu einer kuumlnftigen ganzheitlichen Weltanschauungldquo72

68 Losevs Renaissance-Kritik (va in Ėstetika Vozroždenija) wurde deshalb auch als ver-

schleierte Kritik am Sowjetsystem verstanden Siehe Annett Jubara bdquoAleksej Losevs Philosophie des Mythos als Kritik an der Sowjetischen Moderneldquo in Studies in East Euro-pean Thought 56 (2004) 211ndash224 Aus dem Kreis der Schuumller Losevs gingen seit den 1960er Jahren zahlreiche dissidentische russische Nationalisten hervor Nikolaj Mitrochin Russkaja partija Dviženie russkich nacionalistov v SSSR 1953ndash1985 Moskva 2003 288f Zur Kritik der Renaissance-Zivilisation siehe auch Vladimir Bibichin Novyj renessans Moskva 1998 bes 131ndash155

69 Siehe Florenskij bdquoAvtoreferatldquo Noch im Maumlrz 1933 nach seiner Verhaftung erklaumlrte Flo-renskij gegenuumlber den Ermittlungsbeamten bdquoIch Pavel Aleksandrovič Florenskij [hellip] bin dem Charakter meiner politischen Anschauungen nach ein Romantiker des Mittelalters un-gefaumlhr des 14 Jahrhundertsldquo Vitalij Šentalinskij bdquoUdel veličijaldquo in Ogonek 1990 45 23ndash27 hier 26

70 Nikolaj Berdjaev Samopoznanie (Opyt filosofskoj avtobiografii) Moskva 1991 161 Sie-he Nikolaj Berdjaev Novoe srednevekovrsquoe Berlin 1924 dt Nikolaus Berdjajew Das Neue Mittelalter Darmstadt 1927

71 Siehe Michael Hagemeister bdquoWiederverzauberung der Welt ndash Pavel Florenskijs Neues Mittelalterldquo in Norbert Franz [ua] (Hgg) Pavel Florenskij ndash Tradition und Moderne Beitraumlge zum Internationalen Symposium an der Universitaumlt Potsdam 5 bis 9 April 2000 Frankfurt aM [ua] 2001 21ndash41 Zu Florenskijs Kritik an Renaissance und Humanismus (bdquoder Humanismus entsprang der Kabbalaldquo) siehe auch Ilona Svetlikova bdquoOb ideologii sbquoobratnoj perspektivylsquo Pavla Florenskogoldquo in Russkaja intellektualʼnaja revoljucija 1910ndash1930-ch godov Moskva 2016 123ndash139 zu den Uumlbereinstimmungen mit Heidegger siehe Viktor Arslanov Postmodernizm i russkij bdquotretij putrsquoldquo tertium datur rossijskoj kulrsquotury XX veka Moskva 2007 472ndash499

72 Florenskij bdquoAvtoreferatldquo 114

22 Michael Hagemeister

In juumlngster Zeit hat das wiedererwachte Interesse an der eigenen spirituellen Tradition und ihren byzantinischen Wurzeln ndash oftmals verbunden mit dem Bestre-ben sich vom bdquosaumlkularen Westenldquo und der bdquowestlichen Moderneldquo abzugrenzen ndash zu einer Wiederbelebung des palamitischen Hesychasmus (neopalamizm) und der ndash davon zu unterscheidenden ndash bdquoNamensverehrungldquo (imjaslavie) gefuumlhrt73 Be-reits in den 1970er Jahren war John Meyendorffs klassische Studie St Greacutegoire Palamas et la mystique orthodoxe (Paris 1959) ins Russische uumlbersetzt worden und kursierte in der Sowjetunion in Samizdat-Ausgaben im Milieu religioumls-philo-sophischer Dissidenten Heute wird die Wiederbelebung des Hesychasmus auch durch den patriotischen Kult um Serafim von Sarov (Prochor Mošnin 1759ndash1833) befoumlrdert einen Wundertaumlter und Apokalyptiker der im postsowjetischen Russland zu einem der meistverehrten Heiligen avanciert ist74 In einer in viele Sprachen uumlbersetzten und millionenfach verbreiteten Schrift schildert sein Schuuml-ler Nikolaj Motovilov (1809ndash1879) die Verklaumlrung Serafims im ungeschaffenen Licht des Heiligen Geistes die sich angeblich im November 1831 auf einer einsa-men verschneiten Waldlichtung ereignet hat75

73 Dies gilt nicht nur fuumlr Russland auch auf Vertreter der angelsaumlchsischen bdquoRadical Ortho-

doxyldquo die das Projekt einer von modern-saumlkularem Denken nicht korrumpierten Theologie verfolgen uumlben Hesychasmus und russische Sophiologie starke Faszination aus Siehe die Beitraumlge in Adrian PabstChristoph Schneider (Hgg) Encounter Between Eastern Ortho-doxy and Radical Orthodoxy Transfiguring the World Through the Word Farnham 2009 Zur Wiederbelebung des imjaslavie im post-sowjetischen Russland siehe Scott M Ken-worthy bdquoDebating the Theology of the Name in Post-Soviet Russia Metropolitan Ilarion Alfeev and Sergei Khoruzhiildquo in Katya Tolstaya (Hg) Orthodox Paradoxes Hetero-geneities and Complexities in Contemporary Russian Orthodoxy LeidenBoston 2014 250ndash264 Siehe auch Loren Grahams Bericht uumlber diskrete Zusammenkuumlnfte der imjaslav-cy im Kellergeschoss der Moskauer Tatrsquojana-Kirche in den fruumlhen 2000er Jahren Loren GrahamJean-Michel Kantor Naming Infinity A True Story of Religious Mysticism and Mathematical Creativity Cambridge MassLondon 2009 1ndash5

74 Fuumlr die Anhaumlnger der Doktrin einer bdquoAtomaren Orthodoxieldquo (atomnoe pravoslavie) ist Se-rafim auch der Schutzheilige der russischen Atombombe wurde doch Sarov der Ort seines Wirkens 1946 unter dem Namen Arzamas-16 zur streng geheimen Nuklearstadt in der Wissenschaftler unter ihnen Andrej Sacharov am Bau der sowjetischen Atom- und Was-serstoffbomben arbeiteten Patriotische Russen deuten dies als Zeichen dass bdquoim Hause unseres Vaters Serafimldquo mit dessen Segen der nukleare bdquoSchild zum Schutz der Heimatldquo geschmiedet worden sei Pavel V Florenskij bdquoNeobchodimostrsquo našej atomnoj bombyldquo in Naš sovremennik 1997 4 219ndash221 Bei dem Verfasser handelt es sich um einen Enkel des beruumlhmten Philosophen Siehe auch lthttpsruwikipediaorgwiki Атомное_правосла виеgt

75 Die Schrift deren Authentizitaumlt umstritten ist wurde bekannt unter dem Titel bdquoGespraumlch uumlber das Ziel des christlichen Lebensldquo (Beseda o celi christianskoj žizni) Erstmals veroumlf-fentlicht wurde das bdquoGespraumlchldquo 1903 von Sergej Nilus (1862ndash1929) dem Herausgeber und Kommentator der Protokolle der Weisen von Zion Siehe Michael Hagemeister bdquoIl proble-ma della genesi del sbquoColloquio con Motovilovlsquoldquo in Adalberto Mainardi (Hg) San Sera-fim Da Sarov a Diveevo Atti del IV Convegno ecumenico internazionale di spiritualitagrave russa Bose 18ndash20 settembre 1996 Magnano 1998 157ndash174 Bis heute gibt es keine kriti-sche Ausgabe dieses zentralen Textes russischer Geistigkeit

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 23

Von der Wiederbelebung des Hesychasmus zeugt auch das groszligangelegte Projekt einer bdquosynergetischen Anthropologieldquo (sinergijnaja antropologija) des Mathematikers Physikers und religioumlsen Philosophen Sergej Choružij Prakti-sches Ziel das seit 2005 durch ein eigenes Institut in Moskau verfolgt wird ist die psychosomatisch-holistische Selbsttransformation des Menschen die auf unmittelbarer (mystisch-energetischer) Erfahrung bzw Einwirkung des ontolo-gisch Anderen (Goumlttlichen) beruht sowie die Uumlberwindung der Subjekt-Objekt-Trennung der modernen westlichen Philosophie die Choružij fuumlr den von ihm als krisenhaft und katastrophisch beschriebenen Zustand der westlichen Moderne verantwortlich macht Im Unterschied zu orthodoxen Fundamentalisten und Anti-Westlern sucht Choružij indes die asketischen Praktiken des Hesychasmus mit modernen und postmodernen westlichen Anthropologien (Kierkegaard Scheler Heidegger und insbesondere Foucaults technique oder practique de soi) in Bezie-hung zu setzen76

bdquoPolitischer Hesychasmusldquo

Es duumlrfte deutlich geworden sein dass Hesychasmus nicht nur eine weltabge-wandte mystisch-asketische bdquogeistige Praxisldquo bezeichnet sondern auch als Kampfbegriff gegen die saumlkulare Kultur des bdquoWestensldquo und der bdquowestlichen Mo-derneldquo dient Dies gilt vor allem fuumlr das Konzept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo (političeskij isichazm)

In den russischen Diskurs wurde dieses Konzept um die Mitte der 1960er Jahre von dem Leningrader Mediaumlvisten und Byzantinisten Gelian Prochorov ein-gefuumlhrt77 Seiner Hauptthese zufolge wurde der Hesychasmus nachdem er aus den Klosterzellen herausgetreten war und eine philosophisch-theologische

76 Siehe Sergej Choružij Očerki sinergijnoj antropologii Moskva Inst Sinergijnoj antropo-

logii Inst filosofii teologii i istorii Sv Fomy 2005 ders (Hg) Fonarrsquo Diogena Proekt sinergijnoj antropologii v sovremennom gumanitarnom kontekste Moskva 2010 ders bdquoDie mystische Verwandlung des Menschen Uumlber den Hesychasmus als Raum der Philo-sophieldquo in Fuge Journal fuumlr Religion amp Moderne 7 (2010) 72ndash99 Siehe auch die Web-site lthttpsynergia-isarugt Kristina Stoeckl bdquoA New Anthropology Sergej S Khoru-žijrsquos Search for an alternative to the Cartesian Subject in sbquoOčerki sinergijnoj antropologiilsquoldquo in Studies in East European Thought 59 (2007) 237ndash245

77 Gelian Prochorov bdquoĖtničeskaja integracija v Vostočnoj Evrope v XIV-m veke Ot isichastskich sporov do Kulikovskoj bitvyldquo in Doklady otdelenija ėtnografii 2 (196265) Leningrad 1966 81ndash110 ders bdquoIsichazm i obščestvennaja myslʼ v Vostočnoj Evrope v XIV vldquo in Literaturnye svjazi drevnich slavjan (Trudy otdela drevnerusskoj literatury 23) Leningrad 1968 86ndash108 ders bdquoKulʼturnoe svoeobrazie ėpochi kulikovskoj bitvyldquo in Kulikovskaja bitva i podldquoem nacionalrsquonogo samopoznanija (Trudy otdela drevne-russkoj literatury 34) Leningrad 1979 3ndash17 ndash Prochorov gehoumlrte bereits zu Sowjetzeiten ins Lager der (neo-)slavophilen Anti-Westler er war eng befreundet mit dem bdquoEurasierldquo und Antisemiten Lev Gumilev (1912ndash1992) und uumlbernahm von diesem das Konzept der bdquoEthnogeneseldquo

24 Michael Hagemeister

Grundlegung erfahren hatte am Ende des 14 Jahrhunderts zu einem entscheiden-den politischen und kulturellen Faktor nicht nur in Byzanz sondern in ganz Ost-europa und lieferte unter anderem das ideologische Fundament zur Konsolidie-rung der nachmongolischen Rusʼ Im Streit zwischen dem bdquorationalistischen Hu-manismus und dem kontemplativen Hesychasmus [hellip] entschied Byzanz uumlber sein geistiges Schicksal Das Land blieb bis zuletzt mittelalterlich Den Hesy-chasten gelang es zu Wortfuumlhrern der oumlffentlichen Meinung in Byzanz zu werden die letzte schoumlpferische Synthese seiner traditionellen Kultur zu entwickeln und eine breite kulturelle und gesellschaftliche Bewegung in Gang zu setzen die zu einer Erneuerung des Mittelalters und zu einer Wiederbelebung der Orthodoxie im ganzen oumlstlichen Europa fuumlhrteldquo78

Im Anschluss an das von seinem Lehrer Dmitrij Lichačev entwickelte Kon-zept einer bdquoVorrenaissanceldquo (Predvozroždenie)79 spricht Prochorov von einer bdquovorrenaissancelichen Gegenreformationldquo (predvozroždenčeskaja kontrreforma-cija) und einer bdquoOrthodoxen Renaissanceldquo (Pravoslavnoe Vozroždenie)80 Ge-meint war damit dass die Palamiten (Hesychasten) den Sieg der Barlaamiten ver-hindern konnten und auf die Schriften der antiken Kirchenvaumlter zuruumlckgreifend ein mystisch-kontemplatives Aumlquivalent zum rationalistischen und saumlkularen Hu-manismus geschaffen haumltten Auf diese Weise habe der drohende Uumlbergang der byzantinischen und osteuropaumlischen christlich gepraumlgten Kultur von der bdquoVorre-naissanceldquo zu einer auf heidnisch-antiken Wurzeln beruhenden Renaissance ab-gewendet werden koumlnnen81 Auf die bdquoVorrenaissanceldquo sei ein bdquoNeues Mittelalterldquo gefolgt das in der bdquoHeiligen Rusʼldquo um die Wende zum 15 Jahrhundert seinen Houmlhepunkt erreicht habe Ihm verdanke Russland seine Groumlszlige und die russische Kultur ihre bdquoUniversalitaumltldquo und bdquoGeistigkeitldquo82

Bemerkenswert ist dass der sowjetische Wissenschaftler die beiden ideolo-gischen Lager mit traditionellen (neo-)slavophilen Wertungsoppositionen wie sie bereits bei Florenskij und Losev begegnet sind verbindet und dabei deutlich seine 78 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 4 79 Vor allem in seinem Buch Kulʼtura Rusi vremeni Andreja Rubleva i Epifanija Premudrogo

MoskvaLeningrad 1962 80 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 8 Siehe auch ders Nekogda ne narod a nyne narod

Božijhellip Drevnjaja Rusʼ kak istoriko-kulʼturnyj fenomen Sankt-Peterburg 2010 133ndash157 81 So auch Igorʼ Ėkonomcev bdquoDie osteuropaumlische sbquoVorrenaissancelsquo ist nicht die erste Stufe

zur saumlkularisierten Renaissance vom abendlaumlndischen Typ sondern ihre Antithese Der geistige und kulturelle Aufschwung in Osteuropa war die wahre volle und eindeutige Re-naissance die sich grundlegend von der westlichen Renaissance unterschied Sie haumltte sich niemals in eine Renaissance westlicher Praumlgung verwandeln koumlnnenldquo Ėkonomcev bdquoDer Hesychasmusldquo 764 vgl ders bdquoIsichazmldquo 69 Diese (osteuropaumlische) Renaissance so Ėkonomcev an anderer Stelle sei ungleich bdquoerhabener geistiger und reinerldquo gewesen als bdquodie westeuropaumlische Renaissance mit ihrer krankhaften Disharmonie zwischen Glauben und Vernunft Geist und Leib die trotz allem gespieltem Optimismus ein Gefuumlhl der Aus-weglosigkeit und Verzweiflung hinterlaumlsstldquo Igumen Ioann Ėkonomcev bdquoVizantinizm Kirillo-Mefodievo nasledie i kreščenie Rusildquo in ders Pravoslavie Vizantija Rossija Sbornik statej Moskva 1992 7ndash22 hier 18

82 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 9 15

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 25

Sympathie zeigt Die byzantinischen Humanisten werden von ihm als kalte Ratio-nalisten dargestellt die in der Hoffnung auf militaumlrische Unterstuumltzung durch den katholischen Westen im Kampf gegen die Osmanen bereit gewesen seien den eigenen Glauben zu opfern83 Die Hesychasten hingegen haumltten so Prochorov den Westen realistischer eingeschaumltzt und auf Hilfe von Seiten der orthodoxen Staaten gehofft Im entscheidenden Moment haumltten nicht die bdquoWestler-Huma-nistenldquo (zapadniki-gumanisty) mit ihren bdquokalten Uumlberlegungenldquo (cholodnymi rassuždenijami) beim Volk Gehoumlr gefunden sondern die Hesychasten mit ihren bdquoheiszligen Gebetenldquo (gorjačimi molitvami)84

Mit seiner Apologie eines bdquowiederbelebtenldquo Mittelalters und einer bdquoOrtho-doxen Renaissanceldquo die alle Bereiche des politischen gesellschaftlichen und kul-turellen Lebens gepraumlgt habe und deren Kern der Hesychasmus gewesen sei stieszlig Prochorov bei seinen sowjetischen Kollegen auf Kritik So sah Apollon Kuzmin im Palamismus eine desintegrative Erscheinung weshalb er Prochorovs positive Bewertung der Hesychasten bei der bdquoWiedergeburtldquo der Rusʼ zuruumlckwies85 Aumlhn-lich argumentierte Gennadij Litavrin Die Palamiten seien diejenigen gewesen die eine unrealistische Einschaumltzung der politischen Lage gehabt haumltten Sie haumltten die Bedrohung durch die Tuumlrken nicht erkannt und stattdessen die Illusion verbreitet die Feinde zum Christentum bekehren und zu neuen Untertanen ma-chen zu koumlnnen Der Palamismus sei eine bdquoIdeologie der Demutldquo und habe eine bdquounheilvolle Rolle in der Geschichte des Kampfes gegen die tuumlrkische Aggres-sionldquo gespielt86 Michail Sjuzjumov sprach sogar vom bdquoasozialen Charakter des Palamismusldquo der den aufkommenden humanistischen Tendenzen gegenuumlber feindlich gewesen und zur bdquoIdeologie der Reaktionldquo in Byzanz geworden sei87 Auf Ablehnung stieszlig Prochorov auch im Ausland Valerij Lepachin kritisierte den Begriff bdquopolitischer Hesychasmusldquo als unzulaumlssige Verbindung weltlicher und geistlicher Sphaumlren damit verliere der Hesychasmus seinen wesentlichen Sinn-gehalt88 Fuumlr den in Berkeley lehrenden Philologen Viktor Živov schlieszliglich war

83 Ebd 12 84 Ebd 13 ndash An anderer Stelle betont Prochorov den Gegensatz zwischen den abstrakten

bdquoausgedachtenldquo philosophischen Konstruktionen des europaumlischen Idealismus und der ganzheitlichen kontemplativ-spekulativen Welterfahrung der griechisch-byzantinischen Philosophie Prochorov bdquoĖtničeskaja integracijaldquo 90f An Florenskijs Renaissance-Kritik (etwa in Ikonostas 1922) erinnert auch Prochorovs Verweis auf den euklidischen Raum und den Perspektivismus der humanistischen Weltwahrnehmung mit seiner Illusion der Unendlichkeit Prochorov bdquoIsichazmldquo 94

85 Apollon Kuzmin bdquoCerkovʼ i svetskaja vlastʼ v ėpochu Kulikovskoj bitvyldquo in Voprosy naučnogo ateizma 37 (1988) 90ndash99

86 Gennadij Litavrin bdquoVizantija v period graždanskoj vojny i dviženija Zilotov (1341ndash1355 gg)ldquo in Sergej Skazkin (Hg) Istorija Vizantii Bd 3 Moskva 1967 135ndash160 hier 158

87 Michail Sjuzjumov bdquoFilosofija i bogoslovieldquo in ebd 234ndash256 hier 248f 88 Valerij Lepachin bdquoUmnoe delanie (o soderžanie i granicach ponjatija sbquoisichazmlsquo)ldquo in

Vestnik Russkogo Christianskogo Dviženija 164 1992 5ndash32 hier 23

26 Michael Hagemeister

bdquopolitischer Hesychasmusldquo bdquokonzeptuelles Unkraut [sornjak] das man so schnell wie moumlglich ausrottenldquo solle89

Fast ein halbes Jahrhundert nach ihrer ersten Veroumlffentlichung wurde Pro-chorovs Konzept eines bdquopolitischen Hesychasmusldquo von seinem Schuumller Vladimir Petrunin wieder aufgegriffen und aktualisiert In der 2009 erschienenen Monogra-phie bdquoDer politische Hesychasmus und seine Traditionen in der Sozialkonzeption des Moskauer Patriarchatsldquo90 stellt Petrunin das sogenannte bdquoNichtgehorsamkeits-prinzipldquo (princip nepovinovenija) wie es in den von der Moskauer Bischofssyno-de im August 2000 verabschiedeten bdquoGrundlagen der Sozialkonzeption der Rus-sischen Orthodoxen Kircheldquo formuliert worden ist91 in eine Tradition die er bis auf die bdquopolitischen Hesychastenldquo im Byzanz des 14 und 15 Jahrhunderts zu-ruumlckzufuumlhren sucht Immer wieder zieht Petrunin Parallelen zwischen dem spaumlten Byzanz und dem postsowjetischen Russland Hatten die Byzantiner den Hesy-chasmus als Reaktion auf den Humanismus des Westens hervorgebracht so diene heute die Sozialkonzeption der Abwehr des westlichen Saumlkularismus Liberalis-mus und Kapitalismus Damals wie heute stuumlnden der kirchliche Heilsauftrag und die Verteidigung des Glaubens uumlber den Interessen des Staates selbst ndash wie das Beispiel von Byzanz zeige ndash um den Preis seines Untergangs Ebenso wie die byzantinischen Hesychasten den mit dem Westen kollaborierenden Herrschern die Gefolgschaft im Kampf gegen die Osmanen verweigert haumltten da sie die bdquoReinheit ihres Glaubensldquo eher bdquounter einem tuumlrkischen Turban als unter der lateinischen Tiaraldquo gewahrt sahen92 rufe die Sozialkonzeption die Kirche heute dazu auf der Staatsmacht den Gehorsam zu verweigern sollte diese bdquodie ortho-doxen Glaumlubigen zum Abfall von Christus und Seiner Kirche sowie zu suumlndhaften

89 Viktor Živov bdquoVidenija sveta i problemy russkogo srednevekovogo isichazmaldquo in Lidov

(Hg) Ierotopija 350ndash367 hier 363 359 90 Vladimir Petrunin Političeskij isichazm i ego tradicii v socialʼnoj koncepcii Moskovskogo

Patriarchata Sankt-Peterburg 2009 91 Osnovy socialrsquonoj koncepcii Russkoj Pravoslavnoj Cerkvi III5 lthttpwwwpatriarchia

rudbtext141422htmlgt Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo wird von den meisten Inter-preten als ein bemerkenswertes Umdenken in der Kirchenpolitik angesehen hatte doch die Russische Orthodoxe Kirche unter Patriarch Sergij in einer prekaumlren Lage 1927 Loyalitaumlt gegenuumlber dem Sowjetstaat gefordert Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo war auch eine wichtige Voraussetzung fuumlr die Vereinigung der Auslandskirche mit dem Moskauer Pa-triarchat Zur Sozialkonzeption insgesamt Vasilios N Makrides bdquoDie politische Aufgabe der Kirche Bemerkungen anhand der Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kir-cheldquo in Irene DingelChristiane Tietz (Hgg) Die politische Aufgabe von Religion Per-spektiven der drei monotheistischen Religionen Goumlttingen 2011 219ndash243

92 Petrunin Političeskij isichazm 66f 120 Es handelt sich um eine zeitgenoumlssische Losung Siehe Halina Evert-Kappesowa bdquoLa tiare ou le turbanldquo in Byzantinoslavica 14 (1953) 245ndash257 ndash Auch Aleksandr Nevskij (1220ndash1263) zog eine Verstaumlndigung mit den Mongo-len einer Union mit Rom vor die ihm Papst Innozenz IV im Jahr 1248 angeboten hatte und wandte sich stattdessen gegen die bdquoLateinerldquo Heutige Anti-Westler feiern den Heili-gen der Russischen Orthodoxen Kirche deshalb auch als bdquoersten Eurasierldquo

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 27

und der Seele abtraumlglichen Taten noumltigenldquo93 Die Sozialkonzeption hat fuumlr Petru-nin nur einen moumlglichen Sinn Falls Russlands politische Elite sich weiterhin dem liberalen Wertekanon des Westens verschreibe und Russlands bdquoEigenartldquo (samo-bytnostʼ) als bdquoorthodoxe Zivilisationldquo bestreite94 muumlsse die Kirche ndash wie einst in Byzanz ndash dem Staat die Loyalitaumlt aufkuumlndigen und das Volk zum Widerstand auf-rufen

Es ist ganz offensichtlich dass die Prozesse der Globalisierung und Saumlkularisierung eng miteinander verbunden sind So wie einst die byzantinischen Hesychasten ist heute die Russische Kirche mit der westlichen Zivilisation konfrontiert die nach der Weltherrschaft trachtet war fruumlher der Katholizismus deren Grundlage so ist es jetzt der saumlkulare Humanismus [hellip] Waumlhrend sie [die westliche Welt MH] damals fuumlr die Hesychasten mit Rom gleichgesetzt wurde so verkoumlrpert heute das kosmopolitische New York den Westen Indem sie Liberalismus und Saumlkularisie-rung abwehrt tritt die Kirche auch gegen die politischen und wirtschaftlichen Hegemoniebestrebungen des Westens auf und stellt so ihr Bestreben unter Beweis die zivilisatorische Eigenstaumlndigkeit Russlands wieder herzustellen Wie schon vor 600 Jahren im Byzantinischen Imperium so ist auch heute in Russland allein die Kirche ein ernstzunehmender und gut organisierter Gegner des Westens und seiner saumlkularen Werte [hellip] Sollte Russland weiter den Weg der Saumlkularisierung be-schreiten so koumlnnte damit fuumlr die Kirche der gefaumlhrliche Praumlzedenzfall geschaffen werden in dem sie von ihrem Recht Gebrauch machen muumlsste das Volk zu zivilem Ungehorsam aufzurufen95

In seinem Vorwort nannte Prochorov das Buch seines Schuumllers eine bdquoWarnung an unseren Staat unsere saumlkulare Gesellschaft an uns alleldquo96 Wie das spaumlte Byzanz unter dem bdquoDruck aus dem Westenldquo gestanden habe ndash dem die Herrscher und die bdquoHumanistenldquo schlieszliglich nachgegeben haumltten ndash so laufe auch das postkommu-nistische Russland Gefahr dem bdquoDruck des Liberalismus und der Globalisierungldquo nachzugeben Allein die Orthodoxe Kirche habe sich damals wie heute als bdquoFes-tungldquo erwiesen faumlhig diesem bdquozersetzenden Einflussldquo Widerstand zu leisten97

Petrunins Buch das mit dem Segen von Metropolit Ilarion (Grigorij Al-feev)98 erschienen war stieszlig bei westlichen Forschern auf Skepsis und Ableh-nung So kritisierte Kristina Stoumlckl die unhistorische Interpretation und forcierte Aktualisierung der philosophischen theologischen und politischen Kontroversen des 14 Jahrhunderts sowie die einseitige konservative Interpretation der Sozial-konzeption Hesychasmus werde in dem Kirchendokument ebenso wenig erwaumlhnt

93 Osnovy socialrsquonoj koncepcii 94 Petrunin Političeskij isichazm 81 95 Ebd 122f 96 Ebd 5 97 Ebd 98 Zu jener Zeit Bischof von Wien und Oumlsterreich heute Leiter des Auszligenamtes des Moskau-

er Patriarchats und scharfer Kritiker des bdquomilitanten Saumlkularismusldquo des Westens Siehe auch lthttpazbykaruxristianstvo-pered-vyzovom-voinstvuyushhego-sekulyariz ma-2gt

28 Michael Hagemeister

wie der Untergang von Byzanz99 Klaus Buchenau warf Petrunin vor er bdquoverfor-m[e] und ideologisier[e] die urspruumlnglichen Motive des hesychastischen Moumlnch-tums bis zur Unkenntlichkeitldquo100 Und Viktor Živov der bereits Prochorovs Kon-zept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo als bdquoUnkrautldquo bezeichnet hatte sah in Petru-nins Buch ein Beispiel dafuumlr wie dieses sich bdquospontan und schaumldlichldquo ausbreite Die von Petrunin konstruierte bdquophantastische Genealogie des politischen Hesy-chasmusldquo beruhe so Živov auf einer bdquoMischung aus Einseitigkeit und Unwissen-heitldquo Weder sei der bdquotuumlrkische Turbanldquo fuumlr den Patriarchen attraktiv gewesen noch sei am Widerstand gegen die Union irgendetwas spezifisch bdquoHesychasti-schesldquo Petrunin habe ein bdquoPhantomldquo geschaffen dessen angebliche Verbindung mit der Sozialkonzeption man nicht weiter zu verfolgen brauche101

bdquoNeobyzantismusldquo Das Dritte Rom ndash der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo

Eine eigenwillige Interpretation des Hesychasmus und seine Wendung gegen den Westen stammen von Aleksandr Dugin dem Fuumlhrer der bdquoeurasischenldquo Bewegung und einflussreichsten Vordenker der Neuen Rechten in Russland Der polyglotte und belesene Autodidakt der nie eine akademische Ausbildung genossen hat war Gruumlnder der Partei der Nationalbolschewisten Berater des Vorsitzenden der Du-ma und des Generalstabs sowie von 2008 bis 2014 Professor fuumlr Soziologie an der renommierten Moskauer Lomonosov-Universitaumlt und Direktor des dortigen bdquoZentrums fuumlr Konservatismusstudienldquo Seit Anfang der 1990er Jahre verbreitet er mit graphomanem Eifer seine politischen und bdquometaphysischenldquo Botschaften in einer inzwischen kaum noch uumlberschaubaren Zahl von Publikationen102 und Web-Artikeln in mehreren Sprachen sowie durch spektakulaumlre Auftritte in staats-nahen Medien103 99 Kristina Stoumlckl bdquoPolitical Hesychasm Vladimir Petruninrsquos Neo-Byzantine Interpretation

of the Social Doctrine of the Russian Orthodox Churchldquo in Studies in East European Thought 62 (2010) 125ndash133

100 Klaus Buchenau Auf russischen Spuren Orthodoxe Antiwestler in Serbien 1850ndash1945 Wiesbaden 2011 480 Anm 2

101 Živov bdquoVidenija svetaldquo 364f ndash Von der Kritik offenbar unbeeindruckt verschaumlrfte Petru-nin noch seine Position So sprach er 2012 in einem Vortrag uumlber die gesellschaftliche und politische Wirkung der hesychastischen Gebetspraxis Nach dem Fall von Byzanz sei das bdquoJesusgebet faktisch zu einem sbquopolitischen Gebetlsquoldquo geworden das auf die bdquoVerwandlung [preobraženie] der orthodoxen Oumlkumeneldquo ausgerichtet gewesen sei und das bdquoPhaumlnomen der Heiligen Rusrsquoldquo hervorgebracht habe lthttpsynergia-isarup=8604gt

102 Zuletzt in der bislang fuumlnf Baumlnde umfassenden Reihe bdquoNoomachijaldquo (2014ndash2015) einer hochambitioumlsen letztlich aber manichaumlisch-schematischen Beschreibung der bdquoSuche nach dem Logosldquo in den ndash von Dugin essenzialistisch aufgefassten ndash bdquoWeltkulturenldquo

103 Auch die Literatur zu Dugin ist kaum noch uumlberschaubar Siehe zB Alexander Houmlllwerth Das sakrale eurasische Imperium des Aleksandr Dugin Eine Diskursanalyse zum post-sowjetischen russischen Rechtsextremismus Stuttgart 2007 Stefan Wiederkehr Die eurasische Bewegung Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwi-schenkriegszeit und im postsowjetischen Russland Koumlln [ua] 2007 227ndash261 Anton

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 29

Dugin deutet den Hesychasmus im Rahmen des sogenannten bdquointegralen Traditionalismusldquo einer antimodernen Denkrichtung die im ersten Drittel des 20 Jahrhunderts in Frankreich und Italien entstand und in Reneacute Gueacutenon (1886ndash1951) und Julius Evola (1898ndash1974) ihre bekanntesten (und auch fuumlr Dugin wichtigsten) Vertreter hat104 Ihre Lehre besagt dass alle Religionen ungeachtet ihrer histori-schen und regionalen Auspraumlgungen in ihrem esoterischen nur dem Eingeweih-ten zugaumlnglichen Kern eine gemeinsame urspruumlngliche Wahrheit teilen und als philosophia perennis tradieren das Wissen um die Goumlttlichkeit und den Zugang zu ihr Dieses sakrale und initiatorische Wissen sei im Verlauf der westlichen Mo-derne insbesondere durch die Aufklaumlrung verlorengegangen in traditionellen Gesellschaften (China Indien islamische Welt) jedoch bewahrt geblieben105

Auch die Orthodoxie so Dugin habe im Gegensatz zu Katholizismus und Protestantismus bdquodie Treue zum esoterischen Kernldquo bewahrt naumlmlich in ihrer mystischen Unterstroumlmung dem Hesychasmus106 In der Kanonisierung des Gre-gorios Palamas durch die Ostkirche bei gleichzeitiger Verdammung des Humanis-ten Barlaam sieht Dugin das Bekenntnis zum bdquognostisch-realistischen Geist der orthodoxen Esoterikldquo Ganz im Sinn des Traditionalismus deutet er die psycho-physische Uumlbung der Hesychasten das bdquogeistige Tunldquo als Verfahren der bdquoInitia-tionldquo und das Endziel der bdquoVerklaumlrungldquo und bdquoVergoumlttlichungldquo als bdquoalchemistische Verwandlung des Leibesldquo (alchimičeskoe preobraženie tela) Dadurch wuumlrden der bdquoDualismus von Geist und Materie Leib und Seeleldquo sowie die bdquoGrenzen der Individualitaumltldquo ndash charakteristisch fuumlr den bdquorein exoterischen Mystizismusldquo des Westens ndash aufgehoben107 Die bdquoTradition der hesychastischen Esoterikldquo sei die

Shekhovtsov bdquoThe Palingenetic Thrust of Russian Neo-Eurasianism Ideas of Rebirth in Aleksandr Duginrsquos Worldviewldquo in Totalitarian Movements and Political Religions 9 (2008) 491ndash506 Mark Sedgwick bdquoOccult Dissident Culture The Case of Aleksandr Du-ginldquo in Birgit Menzel [ua] (Hgg) The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimen-sions MuumlnchenBerlin 2012 273ndash292 Schmid Technologien der Seele 210ndash220

104 Aleksandr Dugin Filosofija tradicionalizma Moskva 2002 Zum Traditionalismus siehe das Standardwerk von Mark Sedgwick Against the Modern World Traditionalism and the Secret Intellectual History of the Twentieth Century OxfordNew York 2004 zu Dugin 221ndash237 Vgl auch Christopher DL Johnson The Globalization of the Jesus Prayer Con-testing Contemplation London New York 2010 70ndash73

105 Aumlhnliche Gedanken entwickelte Pavel Florenskij bereits 19081909 in seinem Vortrag bdquoObščečelovečeskie korni idealizmaldquo in dem er die bdquoEsoterikldquo der Philosophie Platons und seiner Nachfolger in der bdquoallgemeinmenschlichenldquo mystisch-magischen Weltauffas-sung der bdquoVolksseeleldquo wurzeln laumlsst

106 Das Folgende nach Aleksandr Dugin bdquoOboženie preestestvennejšeeldquo in Milyj angel 1 1991 56ndash59

107 Das Konzept der bdquoInitiationldquo und die Unterscheidung von bdquoesoterischldquo und bdquoexoterischldquo sind zentral fuumlr die Anhaumlnger des Traditionalismus siehe Sedgwick Against the Modern World 265 ndash Als Mitglied des okkultistischen und faschistischen Južinskij-Kreises machte Dugin in Moskaus bdquomystischem Untergrundldquo in den 1980er Jahren selbst Entgrenzugser-fahrungen mit Hilfe sexualmagischer Praktiken und bewusstseinserweiternder Drogen Bei einem Teil der orthodoxen Glaumlubigen stoumlszligt seine Esoterik denn auch auf Misstrauen und

30 Michael Hagemeister

bdquoSeele der russischen Orthodoxieldquo und habe in Serafim von Sarov ihren bdquoletzten leuchtendsten Vertreterldquo gefunden

Der Hesychasmus gehoumlre zum traditionellen Erbe von Byzanz das Russ-land angetreten habe als es zum Dritten Rom und zum Zentrum der orthodoxen Welt geworden sei bdquoWir sindldquo so Dugin bdquobyzantinisch in unserer Seele unseren Wurzeln und in unserer Identitaumltldquo108

Unser stabilstes Fundament ist Byzanz [hellip] Russland ist Byzanz [hellip] Unsere For-mel lautet Der Westen ist das Boumlse Byzanz das Gute Alles Schlechte das uumlber Byzanz geschrieben wurde ist eine Luumlge Das sind lediglich Winkelzuumlge im ideolo-gischen Kampf von Seiten des Westens [hellip] Jeder Russe muss wissen Byzanz ist das reine Gute Jeder der etwas anderes behauptet ist ein Feind [hellip] Wer Byzanz kritisiert ist ein Feind des russischen Volkes Das muss unser ehernes Prinzip sein [hellip] Byzanz ist der absolute Orientierungspunkt des russischen Projekts109

Damit sind Russlands Ort und Mission in der bdquohistoriosophischenldquo Deutung des Weltgeschehens bestimmt Nach Dugin wird die Geschichte der Menschheit be-herrscht vom bdquookkulten planetarischen Ringenldquo zweier antagonistischer Maumlchte dem bdquogroszligen Krieg der Kontinenteldquo Land gegen Meer Behemoth gegen Levia-than die organischen bodenstaumlndigen und traditionalistischen bdquoTellurokratienldquo des eurasischen Ostens gegen die wurzel- und seelenlosen materialistischen bdquoTha-lassokratienldquo des angloamerikanischen Westens das apokalyptische Tier aus dem Meer (Offb 13 1-10)110 Die USA als bdquoQuintessenz des Westensldquo und New York als moderne Hure Babylon (Offb 17 und 18) sind das Reich des Antichrist eine chimaumlrisch-antiorganische transplantierte Zivilisation die keine sakrale Tradi-tion besitze ihre Selbsterhebung zu bdquoGottes neuem Israelldquo und bdquoNeuem Zionldquo ndash gemaumlszlig der anglo-amerikanischen Interpretation der Substitutionslehre ndash deutet Dugin als besonders perfiden Taumluschungsversuch des bdquowestlichen Antichristldquo Das Jahr der Entdeckung Amerikas (1492 ist nach der altrussisch-byzantinischen

offene Ablehnung Fuumlr den Sektenexperten des Moskauer Patriarchats ist Dugin ein bdquoge-faumlhrlicher Feindldquo der die bdquoOrthodoxie in Kabbalistik umzuschmelzenldquo versuche Andrej Kuraev Cerkovrsquo v mire ljudej Moskva 2006 142

108 Aleksandr Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Tradition Duginrsquos Guidelineldquo lthttpswwwyoutubecomwatchv=m0RIa61eZDggt

109 Aleksandr Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo in ders Russkaja Veščrsquo Očerki nacionalrsquonoj filosofii Bd 1 Moskva 2001 69ndash76 hier 70ndash72 (Hervorhebungen im Original) Der Be-griff bdquoByzantismusldquo (vizantizm) ndash im Unterschied zum negativ konnotierten bdquoByzantinis-musldquo ndash als Bezeichnung eines dem europaumlischen entgegengesetzten Kulturtypus der auf den Prinzipien von Orthodoxie und Selbstherrschaft beruht geht auf den konservativen Philosophen Konstantin Leontrsquoev (1831ndash1891) und sein Buch Vizantizm i slavjanstvo (1875) zuruumlck

110 Auch fuumlr den von Dugin verehrten Heidegger waren die Seemaumlchte Groszligbritannien und Amerika nicht Teil der abendlaumlndischen Tradition sondern im Gegensatz zum restlichen Europa wurzellos und sinnleer Der Antagonismus von Land und Meer die kategorische Unterscheidung von Freund und Feind sowie das Konzept des Katechon gehen auf Carl Schmitt zuruumlck als dessen Schuumller Dugin sich bezeichnet Siehe auch Fn 41

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 31

Weltaumlra das Jahr 7000 nach dem chiliadischen Weltwochenschema also der sieb-te Tag der Schoumlpfung) verweise ebenso auf den Endzeitcharakter der bdquoNeuen Weltldquo wie die bdquosakrale Geographieldquo nach der das Paradies im Osten die Houmllle aber das bdquoLand des Todesldquo im Westen zu suchen seien111

Dem Antichrist entgegen stehe seit jeher der Katechon dessen bdquoletzter Hortldquo bis ans Ende der Zeit die Heilige Rusrsquo das Dritte Rom sei112 In der petrini-schen Epoche als die Hauptstadt in die bdquonoumlrdlichen Suumlmpfeldquo in die bdquoGespenster-stadtldquo Petersburg verlegt und das Patriarchat abgeschafft wurde haumltten allein die Altglaumlubigen den Geist von Byzanz den Katechon bewahrt zweihundert Jahre lang sei der Weg frei gewesen fuumlr das zerstoumlrerische Wirken des Antichrist Erst die sowjetische Periode habe eine bdquomystische Ruumlckkehr zum Byzantismusldquo be-deutet indem die Bolschewiki das heilige Moskau wieder zur Hauptstadt erklaumlr-ten das Patriarchat wiederherstellten die Ausbeuter als Klasse vernichteten und dem Westen auf allen Gebieten Widerstand boten Im bdquoroten Byzantismusldquo der Dritten Internationale sei der Katechon zuruumlckgekehrt113

Um seine Mission zur Erloumlsung der Menschheit auch kuumlnftig zu erfuumlllen muumlsse das Dritte Rom nach dem Zerfall der Sowjetunion114 nunmehr ein groszligkon-tinentales sakral fundiertes bdquoEurasisches Imperiumldquo errichten gegen den Erz-feind die materialistische universalistische alles nivellierende Zivilisation des Westens als der Verkoumlrperung des bdquoweltweiten Boumlsenldquo (mirovoe zlo) gegen Libe-ralismus Individualismus Globalismus Egalitarismus sowie die bdquomondialisti-scheldquo Konzeption der Menschenrechte115 Verbuumlndete im bevorstehenden apoka-lyptischen bdquoEndkampfldquo (von Dugin stets deutsch geschrieben) werden all jene sein die den Bezug zum bdquoSakralenldquo noch nicht verloren haben russische Altglaumlu-bige ultraorthodoxe antizionistische Juden europaumlische Traditionalisten sowie jene bdquoanti-atlantischenldquo islamistischen Fundamentalisten die in den USA den Dajjacircl den falschen Messias und Antichrist erkennen gegen den die Retter-gestalt des Mahdicirc zu Felde ziehen wird116 111 Aleksandr Dugin Absoljutnaja Rodina Puti Absoljuta Metafizika Blagoj Vesti Misterii

Evrazii Moskva 1999 645ndash670 112 Ebd 378ndash395 493ndash521 113 Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo 74ndash76 Siehe auch ders bdquoKatechon i revoljucijaldquo in ders

Tampliery proletariata Nacional-bolrsquoševizm i iniciacija Moskva 1997 52ndash59 ndash Die mes-sianische Identifizierung des Dritten Rom mit der Dritten Internationale reicht bis ins Gruumlndungsjahr der Komintern (1919) zuruumlck Beide so der slawophile Philosoph und An-haumlnger des imjaslavie Valerian Muravrsquoev (1885ndash1930) in einem Brief vom 6 Januar 1920 an Lev Trockij seien Ausdruck der Suche des russischen Volkes und der Intelligencija nach einem Reich der Wahrheit und Gerechtigkeit Valerian Muravrsquoev Sočinenija Bd 2 Moskva 2011 352f Weitere Belege bei Emanuel Sarkisyanz Russland und der Messianis-mus des Orients Tuumlbingen 1955 196 Mikhail Agursky Third Rome National Bolshevism in the USSR Boulder Co 1987

114 Damals sah ein Journalist bdquoauf den Ruinen des Imperiumsldquo das Dritte Rom in Gefahr zu einem Land der Dritten Welt zu werden Andrej Fadin bdquoTretij Rim v tretrsquoem mire Razmy-šlenija na ruinach imperiildquo in Nezavisimaja gazeta 1291991

115 [Aleksandr Dugin] bdquoLibo-my libo-ničtoldquo in Ėlementy 8 19961997 1ndash4 hier 2 116 [Aleksandr Dugin] bdquoIdeologija Mirovogo Pravitelrsquostvaldquo in Ėlementy 2 1992 1f

32 Michael Hagemeister

Das Dritte Rom als Zentrum des eurasischen bdquoEuro-Sowjetischen Imperiumsldquo Titelbild der von Aleksandr Dugin herausgegebenen Zeitschrift bdquoElemente Eurasische Rundschauldquo (1992) Dugins Werk mit seiner provokanten Mischung esoterischer antimoderner und antiwestlicher Motive findet besonders unter jungen Intellektuellen Anklang und Nachahmer so etwa bei dem promovierten Philosophen und selbstproklamierten bdquoorthodoxen Metaphysikerldquo Arkadij Maler einem vehementen Propagandisten einer bdquopolitischen Orthodoxieldquo (političeskoe Pravoslavie) und fuumlhrenden Ideolo-gen der bdquoneobyzantinischenldquo Doktrin Obwohl sich Maler von Dugin distan-ziert117 beschwoumlrt auch er die eschatologische bdquogeistige Mission des Dritten Romldquo die es von Byzanz geerbt habe und die in seiner bdquozentralen katechontischen Rolleldquo bestehe dem Kampf gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo des bdquogottlosen Wes-tensldquo118 Russische Politik koumlnne deshalb nicht anders als imperial sein und muumlsse ihren Einfluss auf den gesamten Planeten ausdehnen Wie Dugin sieht auch Maler die Bolschewiki in dieser Tradition als sie Moskau zur Hauptstadt des bdquoRoten

117 In den spaumlten 1990er Jahren gehoumlrte Maler der vaumlterlicherseits juumldischer Abstammung ist

zusammen mit Dugin und Ėduard Limonov zur Fuumlhrungsriege der Nationalbolschewisti-schen Partei und schrieb fuumlr die Parteizeitung Limonka sich selbst charakterisierte er als bdquorotbraunen Zionistenldquo Nach seiner Konversion zur Orthodoxie trennte er sich 1999 von Dugin und kritisierte dessen esoterischen Traditionalismus aus einer ultraorthodoxen Posi-tion Dugin wiederum warf Maler vor ihn zu plagiieren

118 Arkadij Maler Duchovnaja missija Tretrsquoego Rima Moskva 2005 bes 134ndash136 170ndash206 Siehe auch ders bdquoIdeologija Vizantizmaldquo in Severnij Katechon 1 (2005) 7ndash49 bdquoNeovi-zantizm kak novyj bolrsquošoj stilrsquoldquo in Aleksej Nilogov (Hg) Kto segodnja delaet filosofiju v Rossii Moskva 2007 110ndash124

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 33

Imperiumsldquo machten und dieses zur bdquoabsoluten Antithese des Westensldquo erklaumlrten zum bdquoTraumlger der planetarischen Mission der Befreiung der Welt aus den sbquoFesseln des Kapitalslsquoldquo119 Das Dritte Rom sei zeitweise in die Dritte Internationale trans-formiert worden ohne jedoch seine Mission als Katechon als aufhaltende Macht gegen das Reich des Boumlsen und Ausgangspunkt zur Errettung der Welt aufzuge-ben Die bdquoletzte Etappeldquo im Kampf gegen den Antichrist werde so Maler der bdquoeschatologische Krieg des Dritten Rom gegen das Dritte Karthagoldquo den bdquoAnti-katechonldquo sein die bdquoanglo-amerikanische [] atlantische Zivilisationldquo120 Zur Propagierung der katechontischen Mission Russlands gruumlndete Maler 1999 am Institut fuumlr Philosophie der Akademie der Wissenschaften in Moskau einen bdquoBy-zantistischen Klub Katechonldquo (Vizantistskij Klub Katechon) und 2005 das bdquoPhi-losophisch-politische Zentrum sbquoNoumlrdlicher Katechonlsquoldquo das einen gleichnamigen Almanach (Severnyj Katechon) herausgibt121

Apokalyptischer Ausblick

Die Formel vom Dritten Rom und die Figur des Katechon des Aufhalters des bdquoweltweiten Boumlsenldquo sind zu Markenzeichen russischer Anti-Westler und Ver-schwoumlrungstheoretiker und ihres schrillen Szenariums eines globalen apokalyp-tischen bdquoEndkampfesldquo gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo geworden122 Unter dem Titel bdquoDie russische Doktrin Die Staatsideologie der Epoche Putinsldquo verfasste in den Jahren 2005 und 2006 ein Kollektiv nationalpatriotischer Autoren ndash unter ih-nen der bdquoByzantistldquo Arkadij Maler ndash ein uumlber 1000 Seiten langes ultrakonservati-ves und antiwestliches Manifest das auch die Unterstuumltzung hoher kirchlicher Wuumlrdentraumlger fand123 In ihrem Entwurf einer bdquoorganischen weltanschaulichen Plattformldquo fuumlr das kuumlnftige Russland behandeln die Autoren ausfuumlhrlich die bdquohis-toriosophischeldquo Konzeption vom Dritten Rom und seine Mission als Katechon gegen das bdquoHeidentumldquo des Westens124 Gefordert wird die positive Identifikation

119 Maler Duchovnaja missija 182f 185 120 Ebd 177 ndash Als Mittel im ideologischen Kampf gegen den saumlkularen Westen fordert Maler

in Analogie zur katholischen Gegenreformation eine orthodoxe konservative bdquoGegenauf-klaumlrungldquo (Kontrprosveščenie) lthttpwwwkatehonruhtmltoppolitologiaideaotkritije _polit_pravoslavijahtmgt

121 Siehe die Website lthttpwwwkatehonrugt 122 Siehe zB Galina A Morozova Tretij Rim protiv novogo mirovogo porjadka Moskva

2009 Die Formel von Dritten Rom hat laumlngst auch Schriftsteller und Maler inspiriert und scheint auch werbewirksam zu sein bdquoDrittes Romldquo nennt sich ein Verlag ein Videospiel eine Bank ein Reisebuumlro und sogar ein Kasino in Jalta Ein Schoumlnheitswettbewerb in Mos-kau vergibt alljaumlhrlich den Titel einer bdquoMiss Drittes Romldquo Judith E Kalb Russiarsquos Rome Imperial Visions Messianic Dreams 1890ndash1940 Madison Wisconsin 2008 198f Zum Katechon siehe Maria Engstroumlm bdquoContemporary Russian Messianism and New Russian Foreign Policyldquo in Contemporary Security Policy 35 (2014) 3 356ndash379

123 Russkaja doktrina Gosudarstvennaja ideologija ėpochi Putina Moskva 2016 124 Ebd 68ndash72 116ndash120 und passim

34 Michael Hagemeister

mit der Geschichte Russlands und seinen Lichtgestalten dem Heiligen Serafim von Sarov dem bdquoeschatologischen Fuumlhrer des russischen Volkes am Ende der Zeitenldquo der bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo und Stalin der dem paulinischen Kate-chon gleich die bdquoGesetzlosigkeitldquo (bezzakonie) bekaumlmpft und das bdquoFundament fuumlr eine groszlige Zukunftldquo gelegt habe125

bdquoKatechonldquo nennt sich auch ein prominent besetzter Think tank den der Oligarch und Berater Putins Konstantin Malofeev im Jahr 2015 gegruumlndet hat126 Der Milliardaumlr der sein Vermoumlgen mit einer Investmentfirma auf den Cayman Inseln gemacht hat bezeichnet sich selbst als bdquoorthodoxen Monarchistenldquo127 Er unterstuumltzt die Separatisten in der Ostukraine und unterhaumllt vielfaumlltige Verbindun-gen zu europaumlischen Rechtspopulisten wie dem Front National der FPOuml Syriza und der Lega Nord Neben dem Forum bdquoKatechonldquo betreibt Malofeev auch einen Fernsehsender mit dem programmatischen Namen bdquoZargradldquo128 (Motto bdquoDas Licht Christi erleuchtet alleldquo) dessen Chefkommentator niemand anderes ist als Aleksandr Dugin129

bdquoKatechonldquo und bdquoZargradldquo propagieren den Kampf gegen die westliche Moderne mit Bezug auf das byzantinische Erbe Russlands Im November 2014 fand in der Moskauer Manege eine Konferenz bdquoMoskau ndash das Dritte Romldquo statt130 An ihr nahmen auszliger Dugin und Malofeev auch Archimandrit Tichon und Nata-lrsquoja Naročnickaja teil eine hochrangige Diplomatin Mitglied des Izborsker Klubs und Leiterin des Pariser bdquoInstituts fuumlr Demokratie und Kooperationldquo das die oumlf-fentliche Meinung im Westen im Sinne des Kremls beeinflussen soll Tichons Film bdquoDie Lehre von Byzanzldquo sei so Naročnickaja auch eine Warnung an den Westen der seine christlichen Werte verraten habe weshalb er den glaubens-festen Migranten und ihrer Verachtung hilflos ausgeliefert sei131

Im Oktober 2009 wurde Tichons Film in Athen vor ausverkauftem Saal aufgefuumlhrt Unter denen die dem Drehbuchautor Beifall spendeten war der Philo-soph und Theologe Christos Yannaras einer der Hauptvertreter der Neoorthodo-xie und scharfer Kritiker des Westens Wie ihre russischen Gesinnungsgenossen

125 Ebd 130f 153 142ndash145 126 Mit einem Auftritt im Internet in 9 Sprachen Siehe die deutsche Version unter lthttp

katehoncomdewer-sind-wirgt 127 lthttpsdewikipediaorgwikiKonstantin_Walerjewitsch_Malofejewgt 128 Carrsquograd ist der altrussische Name fuumlr Konstantinopel 129 Auch Dugin unterhaumllt seit mehr als 25 Jahren Kontakte zu ultrakonservativen traditiona-

listischen und faschistischen Gesinnungsgenossen in Westeuropa Siehe Vladimir Ivanov Alexander Dugin und die rechtsextremen Netzwerke Fakten und Hypothesen zu den inter-nationalen Verflechtungen der russischen Neuen Rechten Stuttgart 2007

130 lthttpwwwpravoslavieru75070htmlgt 131 lthttpwwwpravoslavieru7414htmlgt ndash Fuumlr Metropolit Ilarion (Alfeev) der sich dabei

auf Dugin beruft verwandeln sich die Laumlnder Westeuropas bereits in die bdquoSphaumlre des Anti-christldquo lthttpwwwpatriarchiarudbtext3065216htmlgt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 35

verherrlichen auch die griechischen Neoorthodoxen die byzantinische Vergan-genheit und sehen in der modernen saumlkularen Gesellschaft eine Bedrohung ihrer kulturellen Identitaumlt132 Gemeinsam suchen sie der Globalisierung mit einer bdquoby-zantinischen Internationaleldquo als bdquoorthodoxer Oumlkumeneldquo entgegenzuwirken einer letztlich sakral verstandenen Gemeinschaft deren Einfluss indes weit uumlber die kirchliche Sphaumlre hinausreichen und eine transnationale Vereinigung der ortho-doxen Welt von Serbien uumlber Syrien bis Georgien und Armenien unter Fuumlhrung Moskaus schaffen soll133 Als wichtiger symbolischer Schritt auf diesem Weg wurde der Besuch von Praumlsident Putin und Patriarch Kirill des Heiligen Berges Athos einer traditionellen Hochburg antiwestlicher Opposition im Mai 2016 ge-feiert Das weltliche und das geistliche Oberhaupt Russlands ndash die bdquoSymphonia der Maumlchteldquo ndash zeigten damit so Aleksandr Dugin ihr Bekenntnis zu Byzanz und seiner Rolle als Katechon Damit anerkenne bdquounsere Rusrsquo ihre historische Bestim-mung Wir sind bereit fuumlr die Endzeitldquo134

132 Ausfuumlhrlich dazu Daniel P Payne The Revival of Political Hesychasm in Contemporary

Orthodox Thought The Political Hesychasm of John Romanides and Christos Yannaras Lanham [ua] 2011 Siehe auch Vasilios N Makrides bdquoByzantium in Contemporary Greece The Neo-Orthodox Current of Ideasldquo in David RicksPaul Magdalino (Hgg) Byzantium and the Modern Greek Identity Aldershot 1998 141ndash153 Zum griechischen Neobyzantismus unter russischem Einfluss Aleksey Kamenskikh bdquoThe Image of the Second Rome through the Prism of the Thirdrdquo in Teresa Obolevich [ua] (Hgg) Russian Thought in Europe Reception Polemics Development Krakoacutew 2013 13ndash22 ndash Antimo-derne und antiwestliche Stroumlmungen in den vom orthodoxen Christentum gepraumlgten Kultu-ren haben der Religionswissenschaftler Makrides und der Slavist Uffelmann vor einigen Jahren als Desiderat der Forschung benannt Vasilios N MakridesDirk Uffelmann bdquoStudying Eastern Orthodox Anti-Westernism The Need for a Comparative Research Agendaldquo in Jonathan SuttonWil van den Bercken (Hgg) Orthodox Christianity and Contemporary Europe Leuven [ua] 2003 87ndash120 Seitdem haben Makrides und die Politikwissenschaftlerin Stoumlckl eine Reihe einschlaumlgiger Arbeiten vorgelegt in denen or-thodoxe Alternativen zu westlichen philosophischen und politischen Konzepten untersucht werden Vasilios N Makrides bdquoOrthodoxes Cristentum und Moderne ndash Inkompatibilitaumlt oder langfristige Anpassungldquo in Una Sancta 2011 1 15ndash30 ders bdquoOumlstliches orthodo-xes Christentum und Saumlkularitaumlt Ein Vergleich mit dem lateinischen Christentumldquo in Transit 47 (2015) 59ndash75 Kristina Stoumlckl bdquoModernity and its Critique in Twentieth Cen-tury Russian Orthodox Thoughtldquo in Studies in East European Thought 58 (2006) 243ndash269 dies Community after Totalitarianism The Russian Orthodox Intellectual Tradition and the Philosophical Discourse of Political Modernity Frankfurt aM [ua] 2008

133 Dazu gehoumlrt auch die Verwirklichung des jahrhundertealten Traums der Wiedererrichtung des Kreuzes auf der Hagia Sophia Siehe Egor Cholmogorov Russkij proekt restavracija buduščego Moskva 2005 283 Der Verfasser Mitglied des Expertenteams des Izborsker Klubs ist Begruumlnder der Doktrin der bdquoAtomaren Orthodoxieldquo siehe Fn 74

134 Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Traditionldquo

ZUM AUTOR

Michael Hagemeister geb 1951 in EllwangenJagst Studium der Slavistik Ge-schichte Germanistik und Philosophie in Basel und MarburgLahn Promotion mit einer Arbeit uumlber den russischen Philosophen Nikolaj Fedorov Wissenschaft-licher Mitarbeiter am Slawischen Seminar in Marburg Gastprofessor am Seminar fuumlr Komparatistik der Universitaumlt Innsbruck Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lotman-Institut fuumlr russische und sowjetische Kultur der Ruhr-Universitaumlt Bo-chum am Lehrstuhl fuumlr Geschichte Osteuropas der Europa-Universitaumlt Viadrina Frankfurt (Oder) an den Historischen Seminaren der Universitaumlten Basel Duumlssel-dorf und Bochum Vertretung der Professuren fuumlr Geschichte Osteuropas an der Ludwig-Maximilians Universitaumlt Muumlnchen und an der Europa-Universitaumlt Frank-furt (Oder)

Forschungen zur russischen Philosophie und Geistesgeschichte zum utopischen und apokalyptischen Denken in Russland zum russischen Rechtsextremismus und Antisemitismus sowie insbesondere zu den Protokollen der Weisen von Zion und ihrem Herausgeber Sergej Nilus Publikationen ua Die Neue Menschheit Biopolitische Utopien in Russland (hg mit Boris Groys) Frankfurt aM 2005 The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimensions (hg mit Birgit Menzel und Bernice Rosenthal) Muumlnchen 2012 Die Fiktion von der juumldischen Weltver-schwoumlrung Zu Text und Kontext der bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo (hg mit Eva Horn) Goumlttingen 2012 Die bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo vor Gericht Der Berner Prozess und die bdquoantisemitische Internationaleldquo in der Zwischen-kriegszeit Chronik Dokumente und Kommentare Zuumlrich (im Druck)

ERFURTER VORTRAumlGE ZUR KULTURGESCHICHTE DES ORTHODOXEN CHRISTENTUMS Reihenherausgeber Vasilios N Makrides

Heft 1 Thomas Bremer Konfrontation statt Oumlkumene Zur kirchlichen Situation in der Ukraine Erfurt 2001

Heft 2 Gerhard Podskalsky Zur Hermeneutik des theologischen Ost-West-

Gespraumlchs in historischer Perspektive Erfurt 2002 Heft 3 Karl Christian Felmy Warum und zu welchem Behufe treiben wir

Ostkirchenkunde Erfurt 2003 Heft 4 Wassilios Klein bdquoTatarenjoch ndash татарское игоldquo Beobachtungen zur

Wahrnehmung des Islam im eurasischen Raum Erfurt 2005 Heft 5 Stamatios D Gerogiorgakis Zeitphilosophie im Mittelalter Byzantinische

und lateinische Vorstellungen Erfurt 2006 Heft 6 Heinz Ohme Das Oumlkumenische Patriarchat von Konstantinopel und die

tuumlrkische Religionspolitik Erfurt 2007 Heft 7 Alexander Agadjanian Russian Orthodox Vision of Human Rights Recent

Documents and Their Significance Erfurt 2008 Heft 8 Christos Yannaras Wem gehoumlrt die griechische Antike Erfurt 2009 Heft 9 Joachim Willems Religions- und Ethikunterricht in Russland ndash Was

wollen Staat und Kirche Zur Einfuumlhrung des neuen Schulfaches bdquoGrundlagen der religioumlsen Kulturen und der weltlichen Ethikldquo Erfurt 2010

Heft 10 Chris Hann Eastern Christianity and Western Social Theory Erfurt 2011 Heft 11 Jennifer Wasmuth Akademische Theologie im zaristischen Russland in

ihrer Bedeutung fuumlr die neuere orthodoxe Theologie Erfurt 2012 Heft 12 Anna Briskina-Muumlller Auf der Suche nach der bdquoHesychialdquo Paisij

Veličkovskij (1722ndash1794) und sein Leben fuumlr die bdquoPhilokalieldquo Erfurt 2014

Heft 13 Vladimir Cvetković From ldquoMerciful Angelrdquo to ldquoFortress Europerdquo The

Perception of Europe and the West in Contemporary Serbian Orthodoxy Erfurt 2015

Heft 14 Stefan G Reichelt Lebenslinien Nikolaj A Berdjaev (1874ndash1948) und Sergij N Bulgakov (1871ndash1944) im Westen ndash Eine Wuumlrdigung Erfurt 2015

Heft 15 Michael Hagemeister Der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo ndash bdquoNeobyzantismusldquo

und bdquopolitischer Hesychasmusldquo im postsowjetischen Russland Erfurt 2016

Alle Hefte der vorliegenden Schriftenreihe koumlnnen unter folgendem Link kostenlos heruntergeladen werden URL httpswwwuni-erfurtdereligionswissenschaftprofessur-orthodoxes-christentumveroeffentlichungenerfurter-vortraege-zur-kulturgeschichte-des-orthodoxen-christentums

Page 22: Michael Hagemeister FINAL - uni-erfurt.de · doziert Tichon, während er das antike Kons tantinopel computeranimiert auferste- hen lässt. Das prosperierende Impe rium erregte freilich

22 Michael Hagemeister

In juumlngster Zeit hat das wiedererwachte Interesse an der eigenen spirituellen Tradition und ihren byzantinischen Wurzeln ndash oftmals verbunden mit dem Bestre-ben sich vom bdquosaumlkularen Westenldquo und der bdquowestlichen Moderneldquo abzugrenzen ndash zu einer Wiederbelebung des palamitischen Hesychasmus (neopalamizm) und der ndash davon zu unterscheidenden ndash bdquoNamensverehrungldquo (imjaslavie) gefuumlhrt73 Be-reits in den 1970er Jahren war John Meyendorffs klassische Studie St Greacutegoire Palamas et la mystique orthodoxe (Paris 1959) ins Russische uumlbersetzt worden und kursierte in der Sowjetunion in Samizdat-Ausgaben im Milieu religioumls-philo-sophischer Dissidenten Heute wird die Wiederbelebung des Hesychasmus auch durch den patriotischen Kult um Serafim von Sarov (Prochor Mošnin 1759ndash1833) befoumlrdert einen Wundertaumlter und Apokalyptiker der im postsowjetischen Russland zu einem der meistverehrten Heiligen avanciert ist74 In einer in viele Sprachen uumlbersetzten und millionenfach verbreiteten Schrift schildert sein Schuuml-ler Nikolaj Motovilov (1809ndash1879) die Verklaumlrung Serafims im ungeschaffenen Licht des Heiligen Geistes die sich angeblich im November 1831 auf einer einsa-men verschneiten Waldlichtung ereignet hat75

73 Dies gilt nicht nur fuumlr Russland auch auf Vertreter der angelsaumlchsischen bdquoRadical Ortho-

doxyldquo die das Projekt einer von modern-saumlkularem Denken nicht korrumpierten Theologie verfolgen uumlben Hesychasmus und russische Sophiologie starke Faszination aus Siehe die Beitraumlge in Adrian PabstChristoph Schneider (Hgg) Encounter Between Eastern Ortho-doxy and Radical Orthodoxy Transfiguring the World Through the Word Farnham 2009 Zur Wiederbelebung des imjaslavie im post-sowjetischen Russland siehe Scott M Ken-worthy bdquoDebating the Theology of the Name in Post-Soviet Russia Metropolitan Ilarion Alfeev and Sergei Khoruzhiildquo in Katya Tolstaya (Hg) Orthodox Paradoxes Hetero-geneities and Complexities in Contemporary Russian Orthodoxy LeidenBoston 2014 250ndash264 Siehe auch Loren Grahams Bericht uumlber diskrete Zusammenkuumlnfte der imjaslav-cy im Kellergeschoss der Moskauer Tatrsquojana-Kirche in den fruumlhen 2000er Jahren Loren GrahamJean-Michel Kantor Naming Infinity A True Story of Religious Mysticism and Mathematical Creativity Cambridge MassLondon 2009 1ndash5

74 Fuumlr die Anhaumlnger der Doktrin einer bdquoAtomaren Orthodoxieldquo (atomnoe pravoslavie) ist Se-rafim auch der Schutzheilige der russischen Atombombe wurde doch Sarov der Ort seines Wirkens 1946 unter dem Namen Arzamas-16 zur streng geheimen Nuklearstadt in der Wissenschaftler unter ihnen Andrej Sacharov am Bau der sowjetischen Atom- und Was-serstoffbomben arbeiteten Patriotische Russen deuten dies als Zeichen dass bdquoim Hause unseres Vaters Serafimldquo mit dessen Segen der nukleare bdquoSchild zum Schutz der Heimatldquo geschmiedet worden sei Pavel V Florenskij bdquoNeobchodimostrsquo našej atomnoj bombyldquo in Naš sovremennik 1997 4 219ndash221 Bei dem Verfasser handelt es sich um einen Enkel des beruumlhmten Philosophen Siehe auch lthttpsruwikipediaorgwiki Атомное_правосла виеgt

75 Die Schrift deren Authentizitaumlt umstritten ist wurde bekannt unter dem Titel bdquoGespraumlch uumlber das Ziel des christlichen Lebensldquo (Beseda o celi christianskoj žizni) Erstmals veroumlf-fentlicht wurde das bdquoGespraumlchldquo 1903 von Sergej Nilus (1862ndash1929) dem Herausgeber und Kommentator der Protokolle der Weisen von Zion Siehe Michael Hagemeister bdquoIl proble-ma della genesi del sbquoColloquio con Motovilovlsquoldquo in Adalberto Mainardi (Hg) San Sera-fim Da Sarov a Diveevo Atti del IV Convegno ecumenico internazionale di spiritualitagrave russa Bose 18ndash20 settembre 1996 Magnano 1998 157ndash174 Bis heute gibt es keine kriti-sche Ausgabe dieses zentralen Textes russischer Geistigkeit

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 23

Von der Wiederbelebung des Hesychasmus zeugt auch das groszligangelegte Projekt einer bdquosynergetischen Anthropologieldquo (sinergijnaja antropologija) des Mathematikers Physikers und religioumlsen Philosophen Sergej Choružij Prakti-sches Ziel das seit 2005 durch ein eigenes Institut in Moskau verfolgt wird ist die psychosomatisch-holistische Selbsttransformation des Menschen die auf unmittelbarer (mystisch-energetischer) Erfahrung bzw Einwirkung des ontolo-gisch Anderen (Goumlttlichen) beruht sowie die Uumlberwindung der Subjekt-Objekt-Trennung der modernen westlichen Philosophie die Choružij fuumlr den von ihm als krisenhaft und katastrophisch beschriebenen Zustand der westlichen Moderne verantwortlich macht Im Unterschied zu orthodoxen Fundamentalisten und Anti-Westlern sucht Choružij indes die asketischen Praktiken des Hesychasmus mit modernen und postmodernen westlichen Anthropologien (Kierkegaard Scheler Heidegger und insbesondere Foucaults technique oder practique de soi) in Bezie-hung zu setzen76

bdquoPolitischer Hesychasmusldquo

Es duumlrfte deutlich geworden sein dass Hesychasmus nicht nur eine weltabge-wandte mystisch-asketische bdquogeistige Praxisldquo bezeichnet sondern auch als Kampfbegriff gegen die saumlkulare Kultur des bdquoWestensldquo und der bdquowestlichen Mo-derneldquo dient Dies gilt vor allem fuumlr das Konzept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo (političeskij isichazm)

In den russischen Diskurs wurde dieses Konzept um die Mitte der 1960er Jahre von dem Leningrader Mediaumlvisten und Byzantinisten Gelian Prochorov ein-gefuumlhrt77 Seiner Hauptthese zufolge wurde der Hesychasmus nachdem er aus den Klosterzellen herausgetreten war und eine philosophisch-theologische

76 Siehe Sergej Choružij Očerki sinergijnoj antropologii Moskva Inst Sinergijnoj antropo-

logii Inst filosofii teologii i istorii Sv Fomy 2005 ders (Hg) Fonarrsquo Diogena Proekt sinergijnoj antropologii v sovremennom gumanitarnom kontekste Moskva 2010 ders bdquoDie mystische Verwandlung des Menschen Uumlber den Hesychasmus als Raum der Philo-sophieldquo in Fuge Journal fuumlr Religion amp Moderne 7 (2010) 72ndash99 Siehe auch die Web-site lthttpsynergia-isarugt Kristina Stoeckl bdquoA New Anthropology Sergej S Khoru-žijrsquos Search for an alternative to the Cartesian Subject in sbquoOčerki sinergijnoj antropologiilsquoldquo in Studies in East European Thought 59 (2007) 237ndash245

77 Gelian Prochorov bdquoĖtničeskaja integracija v Vostočnoj Evrope v XIV-m veke Ot isichastskich sporov do Kulikovskoj bitvyldquo in Doklady otdelenija ėtnografii 2 (196265) Leningrad 1966 81ndash110 ders bdquoIsichazm i obščestvennaja myslʼ v Vostočnoj Evrope v XIV vldquo in Literaturnye svjazi drevnich slavjan (Trudy otdela drevnerusskoj literatury 23) Leningrad 1968 86ndash108 ders bdquoKulʼturnoe svoeobrazie ėpochi kulikovskoj bitvyldquo in Kulikovskaja bitva i podldquoem nacionalrsquonogo samopoznanija (Trudy otdela drevne-russkoj literatury 34) Leningrad 1979 3ndash17 ndash Prochorov gehoumlrte bereits zu Sowjetzeiten ins Lager der (neo-)slavophilen Anti-Westler er war eng befreundet mit dem bdquoEurasierldquo und Antisemiten Lev Gumilev (1912ndash1992) und uumlbernahm von diesem das Konzept der bdquoEthnogeneseldquo

24 Michael Hagemeister

Grundlegung erfahren hatte am Ende des 14 Jahrhunderts zu einem entscheiden-den politischen und kulturellen Faktor nicht nur in Byzanz sondern in ganz Ost-europa und lieferte unter anderem das ideologische Fundament zur Konsolidie-rung der nachmongolischen Rusʼ Im Streit zwischen dem bdquorationalistischen Hu-manismus und dem kontemplativen Hesychasmus [hellip] entschied Byzanz uumlber sein geistiges Schicksal Das Land blieb bis zuletzt mittelalterlich Den Hesy-chasten gelang es zu Wortfuumlhrern der oumlffentlichen Meinung in Byzanz zu werden die letzte schoumlpferische Synthese seiner traditionellen Kultur zu entwickeln und eine breite kulturelle und gesellschaftliche Bewegung in Gang zu setzen die zu einer Erneuerung des Mittelalters und zu einer Wiederbelebung der Orthodoxie im ganzen oumlstlichen Europa fuumlhrteldquo78

Im Anschluss an das von seinem Lehrer Dmitrij Lichačev entwickelte Kon-zept einer bdquoVorrenaissanceldquo (Predvozroždenie)79 spricht Prochorov von einer bdquovorrenaissancelichen Gegenreformationldquo (predvozroždenčeskaja kontrreforma-cija) und einer bdquoOrthodoxen Renaissanceldquo (Pravoslavnoe Vozroždenie)80 Ge-meint war damit dass die Palamiten (Hesychasten) den Sieg der Barlaamiten ver-hindern konnten und auf die Schriften der antiken Kirchenvaumlter zuruumlckgreifend ein mystisch-kontemplatives Aumlquivalent zum rationalistischen und saumlkularen Hu-manismus geschaffen haumltten Auf diese Weise habe der drohende Uumlbergang der byzantinischen und osteuropaumlischen christlich gepraumlgten Kultur von der bdquoVorre-naissanceldquo zu einer auf heidnisch-antiken Wurzeln beruhenden Renaissance ab-gewendet werden koumlnnen81 Auf die bdquoVorrenaissanceldquo sei ein bdquoNeues Mittelalterldquo gefolgt das in der bdquoHeiligen Rusʼldquo um die Wende zum 15 Jahrhundert seinen Houmlhepunkt erreicht habe Ihm verdanke Russland seine Groumlszlige und die russische Kultur ihre bdquoUniversalitaumltldquo und bdquoGeistigkeitldquo82

Bemerkenswert ist dass der sowjetische Wissenschaftler die beiden ideolo-gischen Lager mit traditionellen (neo-)slavophilen Wertungsoppositionen wie sie bereits bei Florenskij und Losev begegnet sind verbindet und dabei deutlich seine 78 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 4 79 Vor allem in seinem Buch Kulʼtura Rusi vremeni Andreja Rubleva i Epifanija Premudrogo

MoskvaLeningrad 1962 80 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 8 Siehe auch ders Nekogda ne narod a nyne narod

Božijhellip Drevnjaja Rusʼ kak istoriko-kulʼturnyj fenomen Sankt-Peterburg 2010 133ndash157 81 So auch Igorʼ Ėkonomcev bdquoDie osteuropaumlische sbquoVorrenaissancelsquo ist nicht die erste Stufe

zur saumlkularisierten Renaissance vom abendlaumlndischen Typ sondern ihre Antithese Der geistige und kulturelle Aufschwung in Osteuropa war die wahre volle und eindeutige Re-naissance die sich grundlegend von der westlichen Renaissance unterschied Sie haumltte sich niemals in eine Renaissance westlicher Praumlgung verwandeln koumlnnenldquo Ėkonomcev bdquoDer Hesychasmusldquo 764 vgl ders bdquoIsichazmldquo 69 Diese (osteuropaumlische) Renaissance so Ėkonomcev an anderer Stelle sei ungleich bdquoerhabener geistiger und reinerldquo gewesen als bdquodie westeuropaumlische Renaissance mit ihrer krankhaften Disharmonie zwischen Glauben und Vernunft Geist und Leib die trotz allem gespieltem Optimismus ein Gefuumlhl der Aus-weglosigkeit und Verzweiflung hinterlaumlsstldquo Igumen Ioann Ėkonomcev bdquoVizantinizm Kirillo-Mefodievo nasledie i kreščenie Rusildquo in ders Pravoslavie Vizantija Rossija Sbornik statej Moskva 1992 7ndash22 hier 18

82 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 9 15

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 25

Sympathie zeigt Die byzantinischen Humanisten werden von ihm als kalte Ratio-nalisten dargestellt die in der Hoffnung auf militaumlrische Unterstuumltzung durch den katholischen Westen im Kampf gegen die Osmanen bereit gewesen seien den eigenen Glauben zu opfern83 Die Hesychasten hingegen haumltten so Prochorov den Westen realistischer eingeschaumltzt und auf Hilfe von Seiten der orthodoxen Staaten gehofft Im entscheidenden Moment haumltten nicht die bdquoWestler-Huma-nistenldquo (zapadniki-gumanisty) mit ihren bdquokalten Uumlberlegungenldquo (cholodnymi rassuždenijami) beim Volk Gehoumlr gefunden sondern die Hesychasten mit ihren bdquoheiszligen Gebetenldquo (gorjačimi molitvami)84

Mit seiner Apologie eines bdquowiederbelebtenldquo Mittelalters und einer bdquoOrtho-doxen Renaissanceldquo die alle Bereiche des politischen gesellschaftlichen und kul-turellen Lebens gepraumlgt habe und deren Kern der Hesychasmus gewesen sei stieszlig Prochorov bei seinen sowjetischen Kollegen auf Kritik So sah Apollon Kuzmin im Palamismus eine desintegrative Erscheinung weshalb er Prochorovs positive Bewertung der Hesychasten bei der bdquoWiedergeburtldquo der Rusʼ zuruumlckwies85 Aumlhn-lich argumentierte Gennadij Litavrin Die Palamiten seien diejenigen gewesen die eine unrealistische Einschaumltzung der politischen Lage gehabt haumltten Sie haumltten die Bedrohung durch die Tuumlrken nicht erkannt und stattdessen die Illusion verbreitet die Feinde zum Christentum bekehren und zu neuen Untertanen ma-chen zu koumlnnen Der Palamismus sei eine bdquoIdeologie der Demutldquo und habe eine bdquounheilvolle Rolle in der Geschichte des Kampfes gegen die tuumlrkische Aggres-sionldquo gespielt86 Michail Sjuzjumov sprach sogar vom bdquoasozialen Charakter des Palamismusldquo der den aufkommenden humanistischen Tendenzen gegenuumlber feindlich gewesen und zur bdquoIdeologie der Reaktionldquo in Byzanz geworden sei87 Auf Ablehnung stieszlig Prochorov auch im Ausland Valerij Lepachin kritisierte den Begriff bdquopolitischer Hesychasmusldquo als unzulaumlssige Verbindung weltlicher und geistlicher Sphaumlren damit verliere der Hesychasmus seinen wesentlichen Sinn-gehalt88 Fuumlr den in Berkeley lehrenden Philologen Viktor Živov schlieszliglich war

83 Ebd 12 84 Ebd 13 ndash An anderer Stelle betont Prochorov den Gegensatz zwischen den abstrakten

bdquoausgedachtenldquo philosophischen Konstruktionen des europaumlischen Idealismus und der ganzheitlichen kontemplativ-spekulativen Welterfahrung der griechisch-byzantinischen Philosophie Prochorov bdquoĖtničeskaja integracijaldquo 90f An Florenskijs Renaissance-Kritik (etwa in Ikonostas 1922) erinnert auch Prochorovs Verweis auf den euklidischen Raum und den Perspektivismus der humanistischen Weltwahrnehmung mit seiner Illusion der Unendlichkeit Prochorov bdquoIsichazmldquo 94

85 Apollon Kuzmin bdquoCerkovʼ i svetskaja vlastʼ v ėpochu Kulikovskoj bitvyldquo in Voprosy naučnogo ateizma 37 (1988) 90ndash99

86 Gennadij Litavrin bdquoVizantija v period graždanskoj vojny i dviženija Zilotov (1341ndash1355 gg)ldquo in Sergej Skazkin (Hg) Istorija Vizantii Bd 3 Moskva 1967 135ndash160 hier 158

87 Michail Sjuzjumov bdquoFilosofija i bogoslovieldquo in ebd 234ndash256 hier 248f 88 Valerij Lepachin bdquoUmnoe delanie (o soderžanie i granicach ponjatija sbquoisichazmlsquo)ldquo in

Vestnik Russkogo Christianskogo Dviženija 164 1992 5ndash32 hier 23

26 Michael Hagemeister

bdquopolitischer Hesychasmusldquo bdquokonzeptuelles Unkraut [sornjak] das man so schnell wie moumlglich ausrottenldquo solle89

Fast ein halbes Jahrhundert nach ihrer ersten Veroumlffentlichung wurde Pro-chorovs Konzept eines bdquopolitischen Hesychasmusldquo von seinem Schuumller Vladimir Petrunin wieder aufgegriffen und aktualisiert In der 2009 erschienenen Monogra-phie bdquoDer politische Hesychasmus und seine Traditionen in der Sozialkonzeption des Moskauer Patriarchatsldquo90 stellt Petrunin das sogenannte bdquoNichtgehorsamkeits-prinzipldquo (princip nepovinovenija) wie es in den von der Moskauer Bischofssyno-de im August 2000 verabschiedeten bdquoGrundlagen der Sozialkonzeption der Rus-sischen Orthodoxen Kircheldquo formuliert worden ist91 in eine Tradition die er bis auf die bdquopolitischen Hesychastenldquo im Byzanz des 14 und 15 Jahrhunderts zu-ruumlckzufuumlhren sucht Immer wieder zieht Petrunin Parallelen zwischen dem spaumlten Byzanz und dem postsowjetischen Russland Hatten die Byzantiner den Hesy-chasmus als Reaktion auf den Humanismus des Westens hervorgebracht so diene heute die Sozialkonzeption der Abwehr des westlichen Saumlkularismus Liberalis-mus und Kapitalismus Damals wie heute stuumlnden der kirchliche Heilsauftrag und die Verteidigung des Glaubens uumlber den Interessen des Staates selbst ndash wie das Beispiel von Byzanz zeige ndash um den Preis seines Untergangs Ebenso wie die byzantinischen Hesychasten den mit dem Westen kollaborierenden Herrschern die Gefolgschaft im Kampf gegen die Osmanen verweigert haumltten da sie die bdquoReinheit ihres Glaubensldquo eher bdquounter einem tuumlrkischen Turban als unter der lateinischen Tiaraldquo gewahrt sahen92 rufe die Sozialkonzeption die Kirche heute dazu auf der Staatsmacht den Gehorsam zu verweigern sollte diese bdquodie ortho-doxen Glaumlubigen zum Abfall von Christus und Seiner Kirche sowie zu suumlndhaften

89 Viktor Živov bdquoVidenija sveta i problemy russkogo srednevekovogo isichazmaldquo in Lidov

(Hg) Ierotopija 350ndash367 hier 363 359 90 Vladimir Petrunin Političeskij isichazm i ego tradicii v socialʼnoj koncepcii Moskovskogo

Patriarchata Sankt-Peterburg 2009 91 Osnovy socialrsquonoj koncepcii Russkoj Pravoslavnoj Cerkvi III5 lthttpwwwpatriarchia

rudbtext141422htmlgt Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo wird von den meisten Inter-preten als ein bemerkenswertes Umdenken in der Kirchenpolitik angesehen hatte doch die Russische Orthodoxe Kirche unter Patriarch Sergij in einer prekaumlren Lage 1927 Loyalitaumlt gegenuumlber dem Sowjetstaat gefordert Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo war auch eine wichtige Voraussetzung fuumlr die Vereinigung der Auslandskirche mit dem Moskauer Pa-triarchat Zur Sozialkonzeption insgesamt Vasilios N Makrides bdquoDie politische Aufgabe der Kirche Bemerkungen anhand der Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kir-cheldquo in Irene DingelChristiane Tietz (Hgg) Die politische Aufgabe von Religion Per-spektiven der drei monotheistischen Religionen Goumlttingen 2011 219ndash243

92 Petrunin Političeskij isichazm 66f 120 Es handelt sich um eine zeitgenoumlssische Losung Siehe Halina Evert-Kappesowa bdquoLa tiare ou le turbanldquo in Byzantinoslavica 14 (1953) 245ndash257 ndash Auch Aleksandr Nevskij (1220ndash1263) zog eine Verstaumlndigung mit den Mongo-len einer Union mit Rom vor die ihm Papst Innozenz IV im Jahr 1248 angeboten hatte und wandte sich stattdessen gegen die bdquoLateinerldquo Heutige Anti-Westler feiern den Heili-gen der Russischen Orthodoxen Kirche deshalb auch als bdquoersten Eurasierldquo

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 27

und der Seele abtraumlglichen Taten noumltigenldquo93 Die Sozialkonzeption hat fuumlr Petru-nin nur einen moumlglichen Sinn Falls Russlands politische Elite sich weiterhin dem liberalen Wertekanon des Westens verschreibe und Russlands bdquoEigenartldquo (samo-bytnostʼ) als bdquoorthodoxe Zivilisationldquo bestreite94 muumlsse die Kirche ndash wie einst in Byzanz ndash dem Staat die Loyalitaumlt aufkuumlndigen und das Volk zum Widerstand auf-rufen

Es ist ganz offensichtlich dass die Prozesse der Globalisierung und Saumlkularisierung eng miteinander verbunden sind So wie einst die byzantinischen Hesychasten ist heute die Russische Kirche mit der westlichen Zivilisation konfrontiert die nach der Weltherrschaft trachtet war fruumlher der Katholizismus deren Grundlage so ist es jetzt der saumlkulare Humanismus [hellip] Waumlhrend sie [die westliche Welt MH] damals fuumlr die Hesychasten mit Rom gleichgesetzt wurde so verkoumlrpert heute das kosmopolitische New York den Westen Indem sie Liberalismus und Saumlkularisie-rung abwehrt tritt die Kirche auch gegen die politischen und wirtschaftlichen Hegemoniebestrebungen des Westens auf und stellt so ihr Bestreben unter Beweis die zivilisatorische Eigenstaumlndigkeit Russlands wieder herzustellen Wie schon vor 600 Jahren im Byzantinischen Imperium so ist auch heute in Russland allein die Kirche ein ernstzunehmender und gut organisierter Gegner des Westens und seiner saumlkularen Werte [hellip] Sollte Russland weiter den Weg der Saumlkularisierung be-schreiten so koumlnnte damit fuumlr die Kirche der gefaumlhrliche Praumlzedenzfall geschaffen werden in dem sie von ihrem Recht Gebrauch machen muumlsste das Volk zu zivilem Ungehorsam aufzurufen95

In seinem Vorwort nannte Prochorov das Buch seines Schuumllers eine bdquoWarnung an unseren Staat unsere saumlkulare Gesellschaft an uns alleldquo96 Wie das spaumlte Byzanz unter dem bdquoDruck aus dem Westenldquo gestanden habe ndash dem die Herrscher und die bdquoHumanistenldquo schlieszliglich nachgegeben haumltten ndash so laufe auch das postkommu-nistische Russland Gefahr dem bdquoDruck des Liberalismus und der Globalisierungldquo nachzugeben Allein die Orthodoxe Kirche habe sich damals wie heute als bdquoFes-tungldquo erwiesen faumlhig diesem bdquozersetzenden Einflussldquo Widerstand zu leisten97

Petrunins Buch das mit dem Segen von Metropolit Ilarion (Grigorij Al-feev)98 erschienen war stieszlig bei westlichen Forschern auf Skepsis und Ableh-nung So kritisierte Kristina Stoumlckl die unhistorische Interpretation und forcierte Aktualisierung der philosophischen theologischen und politischen Kontroversen des 14 Jahrhunderts sowie die einseitige konservative Interpretation der Sozial-konzeption Hesychasmus werde in dem Kirchendokument ebenso wenig erwaumlhnt

93 Osnovy socialrsquonoj koncepcii 94 Petrunin Političeskij isichazm 81 95 Ebd 122f 96 Ebd 5 97 Ebd 98 Zu jener Zeit Bischof von Wien und Oumlsterreich heute Leiter des Auszligenamtes des Moskau-

er Patriarchats und scharfer Kritiker des bdquomilitanten Saumlkularismusldquo des Westens Siehe auch lthttpazbykaruxristianstvo-pered-vyzovom-voinstvuyushhego-sekulyariz ma-2gt

28 Michael Hagemeister

wie der Untergang von Byzanz99 Klaus Buchenau warf Petrunin vor er bdquoverfor-m[e] und ideologisier[e] die urspruumlnglichen Motive des hesychastischen Moumlnch-tums bis zur Unkenntlichkeitldquo100 Und Viktor Živov der bereits Prochorovs Kon-zept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo als bdquoUnkrautldquo bezeichnet hatte sah in Petru-nins Buch ein Beispiel dafuumlr wie dieses sich bdquospontan und schaumldlichldquo ausbreite Die von Petrunin konstruierte bdquophantastische Genealogie des politischen Hesy-chasmusldquo beruhe so Živov auf einer bdquoMischung aus Einseitigkeit und Unwissen-heitldquo Weder sei der bdquotuumlrkische Turbanldquo fuumlr den Patriarchen attraktiv gewesen noch sei am Widerstand gegen die Union irgendetwas spezifisch bdquoHesychasti-schesldquo Petrunin habe ein bdquoPhantomldquo geschaffen dessen angebliche Verbindung mit der Sozialkonzeption man nicht weiter zu verfolgen brauche101

bdquoNeobyzantismusldquo Das Dritte Rom ndash der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo

Eine eigenwillige Interpretation des Hesychasmus und seine Wendung gegen den Westen stammen von Aleksandr Dugin dem Fuumlhrer der bdquoeurasischenldquo Bewegung und einflussreichsten Vordenker der Neuen Rechten in Russland Der polyglotte und belesene Autodidakt der nie eine akademische Ausbildung genossen hat war Gruumlnder der Partei der Nationalbolschewisten Berater des Vorsitzenden der Du-ma und des Generalstabs sowie von 2008 bis 2014 Professor fuumlr Soziologie an der renommierten Moskauer Lomonosov-Universitaumlt und Direktor des dortigen bdquoZentrums fuumlr Konservatismusstudienldquo Seit Anfang der 1990er Jahre verbreitet er mit graphomanem Eifer seine politischen und bdquometaphysischenldquo Botschaften in einer inzwischen kaum noch uumlberschaubaren Zahl von Publikationen102 und Web-Artikeln in mehreren Sprachen sowie durch spektakulaumlre Auftritte in staats-nahen Medien103 99 Kristina Stoumlckl bdquoPolitical Hesychasm Vladimir Petruninrsquos Neo-Byzantine Interpretation

of the Social Doctrine of the Russian Orthodox Churchldquo in Studies in East European Thought 62 (2010) 125ndash133

100 Klaus Buchenau Auf russischen Spuren Orthodoxe Antiwestler in Serbien 1850ndash1945 Wiesbaden 2011 480 Anm 2

101 Živov bdquoVidenija svetaldquo 364f ndash Von der Kritik offenbar unbeeindruckt verschaumlrfte Petru-nin noch seine Position So sprach er 2012 in einem Vortrag uumlber die gesellschaftliche und politische Wirkung der hesychastischen Gebetspraxis Nach dem Fall von Byzanz sei das bdquoJesusgebet faktisch zu einem sbquopolitischen Gebetlsquoldquo geworden das auf die bdquoVerwandlung [preobraženie] der orthodoxen Oumlkumeneldquo ausgerichtet gewesen sei und das bdquoPhaumlnomen der Heiligen Rusrsquoldquo hervorgebracht habe lthttpsynergia-isarup=8604gt

102 Zuletzt in der bislang fuumlnf Baumlnde umfassenden Reihe bdquoNoomachijaldquo (2014ndash2015) einer hochambitioumlsen letztlich aber manichaumlisch-schematischen Beschreibung der bdquoSuche nach dem Logosldquo in den ndash von Dugin essenzialistisch aufgefassten ndash bdquoWeltkulturenldquo

103 Auch die Literatur zu Dugin ist kaum noch uumlberschaubar Siehe zB Alexander Houmlllwerth Das sakrale eurasische Imperium des Aleksandr Dugin Eine Diskursanalyse zum post-sowjetischen russischen Rechtsextremismus Stuttgart 2007 Stefan Wiederkehr Die eurasische Bewegung Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwi-schenkriegszeit und im postsowjetischen Russland Koumlln [ua] 2007 227ndash261 Anton

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 29

Dugin deutet den Hesychasmus im Rahmen des sogenannten bdquointegralen Traditionalismusldquo einer antimodernen Denkrichtung die im ersten Drittel des 20 Jahrhunderts in Frankreich und Italien entstand und in Reneacute Gueacutenon (1886ndash1951) und Julius Evola (1898ndash1974) ihre bekanntesten (und auch fuumlr Dugin wichtigsten) Vertreter hat104 Ihre Lehre besagt dass alle Religionen ungeachtet ihrer histori-schen und regionalen Auspraumlgungen in ihrem esoterischen nur dem Eingeweih-ten zugaumlnglichen Kern eine gemeinsame urspruumlngliche Wahrheit teilen und als philosophia perennis tradieren das Wissen um die Goumlttlichkeit und den Zugang zu ihr Dieses sakrale und initiatorische Wissen sei im Verlauf der westlichen Mo-derne insbesondere durch die Aufklaumlrung verlorengegangen in traditionellen Gesellschaften (China Indien islamische Welt) jedoch bewahrt geblieben105

Auch die Orthodoxie so Dugin habe im Gegensatz zu Katholizismus und Protestantismus bdquodie Treue zum esoterischen Kernldquo bewahrt naumlmlich in ihrer mystischen Unterstroumlmung dem Hesychasmus106 In der Kanonisierung des Gre-gorios Palamas durch die Ostkirche bei gleichzeitiger Verdammung des Humanis-ten Barlaam sieht Dugin das Bekenntnis zum bdquognostisch-realistischen Geist der orthodoxen Esoterikldquo Ganz im Sinn des Traditionalismus deutet er die psycho-physische Uumlbung der Hesychasten das bdquogeistige Tunldquo als Verfahren der bdquoInitia-tionldquo und das Endziel der bdquoVerklaumlrungldquo und bdquoVergoumlttlichungldquo als bdquoalchemistische Verwandlung des Leibesldquo (alchimičeskoe preobraženie tela) Dadurch wuumlrden der bdquoDualismus von Geist und Materie Leib und Seeleldquo sowie die bdquoGrenzen der Individualitaumltldquo ndash charakteristisch fuumlr den bdquorein exoterischen Mystizismusldquo des Westens ndash aufgehoben107 Die bdquoTradition der hesychastischen Esoterikldquo sei die

Shekhovtsov bdquoThe Palingenetic Thrust of Russian Neo-Eurasianism Ideas of Rebirth in Aleksandr Duginrsquos Worldviewldquo in Totalitarian Movements and Political Religions 9 (2008) 491ndash506 Mark Sedgwick bdquoOccult Dissident Culture The Case of Aleksandr Du-ginldquo in Birgit Menzel [ua] (Hgg) The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimen-sions MuumlnchenBerlin 2012 273ndash292 Schmid Technologien der Seele 210ndash220

104 Aleksandr Dugin Filosofija tradicionalizma Moskva 2002 Zum Traditionalismus siehe das Standardwerk von Mark Sedgwick Against the Modern World Traditionalism and the Secret Intellectual History of the Twentieth Century OxfordNew York 2004 zu Dugin 221ndash237 Vgl auch Christopher DL Johnson The Globalization of the Jesus Prayer Con-testing Contemplation London New York 2010 70ndash73

105 Aumlhnliche Gedanken entwickelte Pavel Florenskij bereits 19081909 in seinem Vortrag bdquoObščečelovečeskie korni idealizmaldquo in dem er die bdquoEsoterikldquo der Philosophie Platons und seiner Nachfolger in der bdquoallgemeinmenschlichenldquo mystisch-magischen Weltauffas-sung der bdquoVolksseeleldquo wurzeln laumlsst

106 Das Folgende nach Aleksandr Dugin bdquoOboženie preestestvennejšeeldquo in Milyj angel 1 1991 56ndash59

107 Das Konzept der bdquoInitiationldquo und die Unterscheidung von bdquoesoterischldquo und bdquoexoterischldquo sind zentral fuumlr die Anhaumlnger des Traditionalismus siehe Sedgwick Against the Modern World 265 ndash Als Mitglied des okkultistischen und faschistischen Južinskij-Kreises machte Dugin in Moskaus bdquomystischem Untergrundldquo in den 1980er Jahren selbst Entgrenzugser-fahrungen mit Hilfe sexualmagischer Praktiken und bewusstseinserweiternder Drogen Bei einem Teil der orthodoxen Glaumlubigen stoumlszligt seine Esoterik denn auch auf Misstrauen und

30 Michael Hagemeister

bdquoSeele der russischen Orthodoxieldquo und habe in Serafim von Sarov ihren bdquoletzten leuchtendsten Vertreterldquo gefunden

Der Hesychasmus gehoumlre zum traditionellen Erbe von Byzanz das Russ-land angetreten habe als es zum Dritten Rom und zum Zentrum der orthodoxen Welt geworden sei bdquoWir sindldquo so Dugin bdquobyzantinisch in unserer Seele unseren Wurzeln und in unserer Identitaumltldquo108

Unser stabilstes Fundament ist Byzanz [hellip] Russland ist Byzanz [hellip] Unsere For-mel lautet Der Westen ist das Boumlse Byzanz das Gute Alles Schlechte das uumlber Byzanz geschrieben wurde ist eine Luumlge Das sind lediglich Winkelzuumlge im ideolo-gischen Kampf von Seiten des Westens [hellip] Jeder Russe muss wissen Byzanz ist das reine Gute Jeder der etwas anderes behauptet ist ein Feind [hellip] Wer Byzanz kritisiert ist ein Feind des russischen Volkes Das muss unser ehernes Prinzip sein [hellip] Byzanz ist der absolute Orientierungspunkt des russischen Projekts109

Damit sind Russlands Ort und Mission in der bdquohistoriosophischenldquo Deutung des Weltgeschehens bestimmt Nach Dugin wird die Geschichte der Menschheit be-herrscht vom bdquookkulten planetarischen Ringenldquo zweier antagonistischer Maumlchte dem bdquogroszligen Krieg der Kontinenteldquo Land gegen Meer Behemoth gegen Levia-than die organischen bodenstaumlndigen und traditionalistischen bdquoTellurokratienldquo des eurasischen Ostens gegen die wurzel- und seelenlosen materialistischen bdquoTha-lassokratienldquo des angloamerikanischen Westens das apokalyptische Tier aus dem Meer (Offb 13 1-10)110 Die USA als bdquoQuintessenz des Westensldquo und New York als moderne Hure Babylon (Offb 17 und 18) sind das Reich des Antichrist eine chimaumlrisch-antiorganische transplantierte Zivilisation die keine sakrale Tradi-tion besitze ihre Selbsterhebung zu bdquoGottes neuem Israelldquo und bdquoNeuem Zionldquo ndash gemaumlszlig der anglo-amerikanischen Interpretation der Substitutionslehre ndash deutet Dugin als besonders perfiden Taumluschungsversuch des bdquowestlichen Antichristldquo Das Jahr der Entdeckung Amerikas (1492 ist nach der altrussisch-byzantinischen

offene Ablehnung Fuumlr den Sektenexperten des Moskauer Patriarchats ist Dugin ein bdquoge-faumlhrlicher Feindldquo der die bdquoOrthodoxie in Kabbalistik umzuschmelzenldquo versuche Andrej Kuraev Cerkovrsquo v mire ljudej Moskva 2006 142

108 Aleksandr Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Tradition Duginrsquos Guidelineldquo lthttpswwwyoutubecomwatchv=m0RIa61eZDggt

109 Aleksandr Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo in ders Russkaja Veščrsquo Očerki nacionalrsquonoj filosofii Bd 1 Moskva 2001 69ndash76 hier 70ndash72 (Hervorhebungen im Original) Der Be-griff bdquoByzantismusldquo (vizantizm) ndash im Unterschied zum negativ konnotierten bdquoByzantinis-musldquo ndash als Bezeichnung eines dem europaumlischen entgegengesetzten Kulturtypus der auf den Prinzipien von Orthodoxie und Selbstherrschaft beruht geht auf den konservativen Philosophen Konstantin Leontrsquoev (1831ndash1891) und sein Buch Vizantizm i slavjanstvo (1875) zuruumlck

110 Auch fuumlr den von Dugin verehrten Heidegger waren die Seemaumlchte Groszligbritannien und Amerika nicht Teil der abendlaumlndischen Tradition sondern im Gegensatz zum restlichen Europa wurzellos und sinnleer Der Antagonismus von Land und Meer die kategorische Unterscheidung von Freund und Feind sowie das Konzept des Katechon gehen auf Carl Schmitt zuruumlck als dessen Schuumller Dugin sich bezeichnet Siehe auch Fn 41

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 31

Weltaumlra das Jahr 7000 nach dem chiliadischen Weltwochenschema also der sieb-te Tag der Schoumlpfung) verweise ebenso auf den Endzeitcharakter der bdquoNeuen Weltldquo wie die bdquosakrale Geographieldquo nach der das Paradies im Osten die Houmllle aber das bdquoLand des Todesldquo im Westen zu suchen seien111

Dem Antichrist entgegen stehe seit jeher der Katechon dessen bdquoletzter Hortldquo bis ans Ende der Zeit die Heilige Rusrsquo das Dritte Rom sei112 In der petrini-schen Epoche als die Hauptstadt in die bdquonoumlrdlichen Suumlmpfeldquo in die bdquoGespenster-stadtldquo Petersburg verlegt und das Patriarchat abgeschafft wurde haumltten allein die Altglaumlubigen den Geist von Byzanz den Katechon bewahrt zweihundert Jahre lang sei der Weg frei gewesen fuumlr das zerstoumlrerische Wirken des Antichrist Erst die sowjetische Periode habe eine bdquomystische Ruumlckkehr zum Byzantismusldquo be-deutet indem die Bolschewiki das heilige Moskau wieder zur Hauptstadt erklaumlr-ten das Patriarchat wiederherstellten die Ausbeuter als Klasse vernichteten und dem Westen auf allen Gebieten Widerstand boten Im bdquoroten Byzantismusldquo der Dritten Internationale sei der Katechon zuruumlckgekehrt113

Um seine Mission zur Erloumlsung der Menschheit auch kuumlnftig zu erfuumlllen muumlsse das Dritte Rom nach dem Zerfall der Sowjetunion114 nunmehr ein groszligkon-tinentales sakral fundiertes bdquoEurasisches Imperiumldquo errichten gegen den Erz-feind die materialistische universalistische alles nivellierende Zivilisation des Westens als der Verkoumlrperung des bdquoweltweiten Boumlsenldquo (mirovoe zlo) gegen Libe-ralismus Individualismus Globalismus Egalitarismus sowie die bdquomondialisti-scheldquo Konzeption der Menschenrechte115 Verbuumlndete im bevorstehenden apoka-lyptischen bdquoEndkampfldquo (von Dugin stets deutsch geschrieben) werden all jene sein die den Bezug zum bdquoSakralenldquo noch nicht verloren haben russische Altglaumlu-bige ultraorthodoxe antizionistische Juden europaumlische Traditionalisten sowie jene bdquoanti-atlantischenldquo islamistischen Fundamentalisten die in den USA den Dajjacircl den falschen Messias und Antichrist erkennen gegen den die Retter-gestalt des Mahdicirc zu Felde ziehen wird116 111 Aleksandr Dugin Absoljutnaja Rodina Puti Absoljuta Metafizika Blagoj Vesti Misterii

Evrazii Moskva 1999 645ndash670 112 Ebd 378ndash395 493ndash521 113 Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo 74ndash76 Siehe auch ders bdquoKatechon i revoljucijaldquo in ders

Tampliery proletariata Nacional-bolrsquoševizm i iniciacija Moskva 1997 52ndash59 ndash Die mes-sianische Identifizierung des Dritten Rom mit der Dritten Internationale reicht bis ins Gruumlndungsjahr der Komintern (1919) zuruumlck Beide so der slawophile Philosoph und An-haumlnger des imjaslavie Valerian Muravrsquoev (1885ndash1930) in einem Brief vom 6 Januar 1920 an Lev Trockij seien Ausdruck der Suche des russischen Volkes und der Intelligencija nach einem Reich der Wahrheit und Gerechtigkeit Valerian Muravrsquoev Sočinenija Bd 2 Moskva 2011 352f Weitere Belege bei Emanuel Sarkisyanz Russland und der Messianis-mus des Orients Tuumlbingen 1955 196 Mikhail Agursky Third Rome National Bolshevism in the USSR Boulder Co 1987

114 Damals sah ein Journalist bdquoauf den Ruinen des Imperiumsldquo das Dritte Rom in Gefahr zu einem Land der Dritten Welt zu werden Andrej Fadin bdquoTretij Rim v tretrsquoem mire Razmy-šlenija na ruinach imperiildquo in Nezavisimaja gazeta 1291991

115 [Aleksandr Dugin] bdquoLibo-my libo-ničtoldquo in Ėlementy 8 19961997 1ndash4 hier 2 116 [Aleksandr Dugin] bdquoIdeologija Mirovogo Pravitelrsquostvaldquo in Ėlementy 2 1992 1f

32 Michael Hagemeister

Das Dritte Rom als Zentrum des eurasischen bdquoEuro-Sowjetischen Imperiumsldquo Titelbild der von Aleksandr Dugin herausgegebenen Zeitschrift bdquoElemente Eurasische Rundschauldquo (1992) Dugins Werk mit seiner provokanten Mischung esoterischer antimoderner und antiwestlicher Motive findet besonders unter jungen Intellektuellen Anklang und Nachahmer so etwa bei dem promovierten Philosophen und selbstproklamierten bdquoorthodoxen Metaphysikerldquo Arkadij Maler einem vehementen Propagandisten einer bdquopolitischen Orthodoxieldquo (političeskoe Pravoslavie) und fuumlhrenden Ideolo-gen der bdquoneobyzantinischenldquo Doktrin Obwohl sich Maler von Dugin distan-ziert117 beschwoumlrt auch er die eschatologische bdquogeistige Mission des Dritten Romldquo die es von Byzanz geerbt habe und die in seiner bdquozentralen katechontischen Rolleldquo bestehe dem Kampf gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo des bdquogottlosen Wes-tensldquo118 Russische Politik koumlnne deshalb nicht anders als imperial sein und muumlsse ihren Einfluss auf den gesamten Planeten ausdehnen Wie Dugin sieht auch Maler die Bolschewiki in dieser Tradition als sie Moskau zur Hauptstadt des bdquoRoten

117 In den spaumlten 1990er Jahren gehoumlrte Maler der vaumlterlicherseits juumldischer Abstammung ist

zusammen mit Dugin und Ėduard Limonov zur Fuumlhrungsriege der Nationalbolschewisti-schen Partei und schrieb fuumlr die Parteizeitung Limonka sich selbst charakterisierte er als bdquorotbraunen Zionistenldquo Nach seiner Konversion zur Orthodoxie trennte er sich 1999 von Dugin und kritisierte dessen esoterischen Traditionalismus aus einer ultraorthodoxen Posi-tion Dugin wiederum warf Maler vor ihn zu plagiieren

118 Arkadij Maler Duchovnaja missija Tretrsquoego Rima Moskva 2005 bes 134ndash136 170ndash206 Siehe auch ders bdquoIdeologija Vizantizmaldquo in Severnij Katechon 1 (2005) 7ndash49 bdquoNeovi-zantizm kak novyj bolrsquošoj stilrsquoldquo in Aleksej Nilogov (Hg) Kto segodnja delaet filosofiju v Rossii Moskva 2007 110ndash124

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 33

Imperiumsldquo machten und dieses zur bdquoabsoluten Antithese des Westensldquo erklaumlrten zum bdquoTraumlger der planetarischen Mission der Befreiung der Welt aus den sbquoFesseln des Kapitalslsquoldquo119 Das Dritte Rom sei zeitweise in die Dritte Internationale trans-formiert worden ohne jedoch seine Mission als Katechon als aufhaltende Macht gegen das Reich des Boumlsen und Ausgangspunkt zur Errettung der Welt aufzuge-ben Die bdquoletzte Etappeldquo im Kampf gegen den Antichrist werde so Maler der bdquoeschatologische Krieg des Dritten Rom gegen das Dritte Karthagoldquo den bdquoAnti-katechonldquo sein die bdquoanglo-amerikanische [] atlantische Zivilisationldquo120 Zur Propagierung der katechontischen Mission Russlands gruumlndete Maler 1999 am Institut fuumlr Philosophie der Akademie der Wissenschaften in Moskau einen bdquoBy-zantistischen Klub Katechonldquo (Vizantistskij Klub Katechon) und 2005 das bdquoPhi-losophisch-politische Zentrum sbquoNoumlrdlicher Katechonlsquoldquo das einen gleichnamigen Almanach (Severnyj Katechon) herausgibt121

Apokalyptischer Ausblick

Die Formel vom Dritten Rom und die Figur des Katechon des Aufhalters des bdquoweltweiten Boumlsenldquo sind zu Markenzeichen russischer Anti-Westler und Ver-schwoumlrungstheoretiker und ihres schrillen Szenariums eines globalen apokalyp-tischen bdquoEndkampfesldquo gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo geworden122 Unter dem Titel bdquoDie russische Doktrin Die Staatsideologie der Epoche Putinsldquo verfasste in den Jahren 2005 und 2006 ein Kollektiv nationalpatriotischer Autoren ndash unter ih-nen der bdquoByzantistldquo Arkadij Maler ndash ein uumlber 1000 Seiten langes ultrakonservati-ves und antiwestliches Manifest das auch die Unterstuumltzung hoher kirchlicher Wuumlrdentraumlger fand123 In ihrem Entwurf einer bdquoorganischen weltanschaulichen Plattformldquo fuumlr das kuumlnftige Russland behandeln die Autoren ausfuumlhrlich die bdquohis-toriosophischeldquo Konzeption vom Dritten Rom und seine Mission als Katechon gegen das bdquoHeidentumldquo des Westens124 Gefordert wird die positive Identifikation

119 Maler Duchovnaja missija 182f 185 120 Ebd 177 ndash Als Mittel im ideologischen Kampf gegen den saumlkularen Westen fordert Maler

in Analogie zur katholischen Gegenreformation eine orthodoxe konservative bdquoGegenauf-klaumlrungldquo (Kontrprosveščenie) lthttpwwwkatehonruhtmltoppolitologiaideaotkritije _polit_pravoslavijahtmgt

121 Siehe die Website lthttpwwwkatehonrugt 122 Siehe zB Galina A Morozova Tretij Rim protiv novogo mirovogo porjadka Moskva

2009 Die Formel von Dritten Rom hat laumlngst auch Schriftsteller und Maler inspiriert und scheint auch werbewirksam zu sein bdquoDrittes Romldquo nennt sich ein Verlag ein Videospiel eine Bank ein Reisebuumlro und sogar ein Kasino in Jalta Ein Schoumlnheitswettbewerb in Mos-kau vergibt alljaumlhrlich den Titel einer bdquoMiss Drittes Romldquo Judith E Kalb Russiarsquos Rome Imperial Visions Messianic Dreams 1890ndash1940 Madison Wisconsin 2008 198f Zum Katechon siehe Maria Engstroumlm bdquoContemporary Russian Messianism and New Russian Foreign Policyldquo in Contemporary Security Policy 35 (2014) 3 356ndash379

123 Russkaja doktrina Gosudarstvennaja ideologija ėpochi Putina Moskva 2016 124 Ebd 68ndash72 116ndash120 und passim

34 Michael Hagemeister

mit der Geschichte Russlands und seinen Lichtgestalten dem Heiligen Serafim von Sarov dem bdquoeschatologischen Fuumlhrer des russischen Volkes am Ende der Zeitenldquo der bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo und Stalin der dem paulinischen Kate-chon gleich die bdquoGesetzlosigkeitldquo (bezzakonie) bekaumlmpft und das bdquoFundament fuumlr eine groszlige Zukunftldquo gelegt habe125

bdquoKatechonldquo nennt sich auch ein prominent besetzter Think tank den der Oligarch und Berater Putins Konstantin Malofeev im Jahr 2015 gegruumlndet hat126 Der Milliardaumlr der sein Vermoumlgen mit einer Investmentfirma auf den Cayman Inseln gemacht hat bezeichnet sich selbst als bdquoorthodoxen Monarchistenldquo127 Er unterstuumltzt die Separatisten in der Ostukraine und unterhaumllt vielfaumlltige Verbindun-gen zu europaumlischen Rechtspopulisten wie dem Front National der FPOuml Syriza und der Lega Nord Neben dem Forum bdquoKatechonldquo betreibt Malofeev auch einen Fernsehsender mit dem programmatischen Namen bdquoZargradldquo128 (Motto bdquoDas Licht Christi erleuchtet alleldquo) dessen Chefkommentator niemand anderes ist als Aleksandr Dugin129

bdquoKatechonldquo und bdquoZargradldquo propagieren den Kampf gegen die westliche Moderne mit Bezug auf das byzantinische Erbe Russlands Im November 2014 fand in der Moskauer Manege eine Konferenz bdquoMoskau ndash das Dritte Romldquo statt130 An ihr nahmen auszliger Dugin und Malofeev auch Archimandrit Tichon und Nata-lrsquoja Naročnickaja teil eine hochrangige Diplomatin Mitglied des Izborsker Klubs und Leiterin des Pariser bdquoInstituts fuumlr Demokratie und Kooperationldquo das die oumlf-fentliche Meinung im Westen im Sinne des Kremls beeinflussen soll Tichons Film bdquoDie Lehre von Byzanzldquo sei so Naročnickaja auch eine Warnung an den Westen der seine christlichen Werte verraten habe weshalb er den glaubens-festen Migranten und ihrer Verachtung hilflos ausgeliefert sei131

Im Oktober 2009 wurde Tichons Film in Athen vor ausverkauftem Saal aufgefuumlhrt Unter denen die dem Drehbuchautor Beifall spendeten war der Philo-soph und Theologe Christos Yannaras einer der Hauptvertreter der Neoorthodo-xie und scharfer Kritiker des Westens Wie ihre russischen Gesinnungsgenossen

125 Ebd 130f 153 142ndash145 126 Mit einem Auftritt im Internet in 9 Sprachen Siehe die deutsche Version unter lthttp

katehoncomdewer-sind-wirgt 127 lthttpsdewikipediaorgwikiKonstantin_Walerjewitsch_Malofejewgt 128 Carrsquograd ist der altrussische Name fuumlr Konstantinopel 129 Auch Dugin unterhaumllt seit mehr als 25 Jahren Kontakte zu ultrakonservativen traditiona-

listischen und faschistischen Gesinnungsgenossen in Westeuropa Siehe Vladimir Ivanov Alexander Dugin und die rechtsextremen Netzwerke Fakten und Hypothesen zu den inter-nationalen Verflechtungen der russischen Neuen Rechten Stuttgart 2007

130 lthttpwwwpravoslavieru75070htmlgt 131 lthttpwwwpravoslavieru7414htmlgt ndash Fuumlr Metropolit Ilarion (Alfeev) der sich dabei

auf Dugin beruft verwandeln sich die Laumlnder Westeuropas bereits in die bdquoSphaumlre des Anti-christldquo lthttpwwwpatriarchiarudbtext3065216htmlgt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 35

verherrlichen auch die griechischen Neoorthodoxen die byzantinische Vergan-genheit und sehen in der modernen saumlkularen Gesellschaft eine Bedrohung ihrer kulturellen Identitaumlt132 Gemeinsam suchen sie der Globalisierung mit einer bdquoby-zantinischen Internationaleldquo als bdquoorthodoxer Oumlkumeneldquo entgegenzuwirken einer letztlich sakral verstandenen Gemeinschaft deren Einfluss indes weit uumlber die kirchliche Sphaumlre hinausreichen und eine transnationale Vereinigung der ortho-doxen Welt von Serbien uumlber Syrien bis Georgien und Armenien unter Fuumlhrung Moskaus schaffen soll133 Als wichtiger symbolischer Schritt auf diesem Weg wurde der Besuch von Praumlsident Putin und Patriarch Kirill des Heiligen Berges Athos einer traditionellen Hochburg antiwestlicher Opposition im Mai 2016 ge-feiert Das weltliche und das geistliche Oberhaupt Russlands ndash die bdquoSymphonia der Maumlchteldquo ndash zeigten damit so Aleksandr Dugin ihr Bekenntnis zu Byzanz und seiner Rolle als Katechon Damit anerkenne bdquounsere Rusrsquo ihre historische Bestim-mung Wir sind bereit fuumlr die Endzeitldquo134

132 Ausfuumlhrlich dazu Daniel P Payne The Revival of Political Hesychasm in Contemporary

Orthodox Thought The Political Hesychasm of John Romanides and Christos Yannaras Lanham [ua] 2011 Siehe auch Vasilios N Makrides bdquoByzantium in Contemporary Greece The Neo-Orthodox Current of Ideasldquo in David RicksPaul Magdalino (Hgg) Byzantium and the Modern Greek Identity Aldershot 1998 141ndash153 Zum griechischen Neobyzantismus unter russischem Einfluss Aleksey Kamenskikh bdquoThe Image of the Second Rome through the Prism of the Thirdrdquo in Teresa Obolevich [ua] (Hgg) Russian Thought in Europe Reception Polemics Development Krakoacutew 2013 13ndash22 ndash Antimo-derne und antiwestliche Stroumlmungen in den vom orthodoxen Christentum gepraumlgten Kultu-ren haben der Religionswissenschaftler Makrides und der Slavist Uffelmann vor einigen Jahren als Desiderat der Forschung benannt Vasilios N MakridesDirk Uffelmann bdquoStudying Eastern Orthodox Anti-Westernism The Need for a Comparative Research Agendaldquo in Jonathan SuttonWil van den Bercken (Hgg) Orthodox Christianity and Contemporary Europe Leuven [ua] 2003 87ndash120 Seitdem haben Makrides und die Politikwissenschaftlerin Stoumlckl eine Reihe einschlaumlgiger Arbeiten vorgelegt in denen or-thodoxe Alternativen zu westlichen philosophischen und politischen Konzepten untersucht werden Vasilios N Makrides bdquoOrthodoxes Cristentum und Moderne ndash Inkompatibilitaumlt oder langfristige Anpassungldquo in Una Sancta 2011 1 15ndash30 ders bdquoOumlstliches orthodo-xes Christentum und Saumlkularitaumlt Ein Vergleich mit dem lateinischen Christentumldquo in Transit 47 (2015) 59ndash75 Kristina Stoumlckl bdquoModernity and its Critique in Twentieth Cen-tury Russian Orthodox Thoughtldquo in Studies in East European Thought 58 (2006) 243ndash269 dies Community after Totalitarianism The Russian Orthodox Intellectual Tradition and the Philosophical Discourse of Political Modernity Frankfurt aM [ua] 2008

133 Dazu gehoumlrt auch die Verwirklichung des jahrhundertealten Traums der Wiedererrichtung des Kreuzes auf der Hagia Sophia Siehe Egor Cholmogorov Russkij proekt restavracija buduščego Moskva 2005 283 Der Verfasser Mitglied des Expertenteams des Izborsker Klubs ist Begruumlnder der Doktrin der bdquoAtomaren Orthodoxieldquo siehe Fn 74

134 Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Traditionldquo

ZUM AUTOR

Michael Hagemeister geb 1951 in EllwangenJagst Studium der Slavistik Ge-schichte Germanistik und Philosophie in Basel und MarburgLahn Promotion mit einer Arbeit uumlber den russischen Philosophen Nikolaj Fedorov Wissenschaft-licher Mitarbeiter am Slawischen Seminar in Marburg Gastprofessor am Seminar fuumlr Komparatistik der Universitaumlt Innsbruck Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lotman-Institut fuumlr russische und sowjetische Kultur der Ruhr-Universitaumlt Bo-chum am Lehrstuhl fuumlr Geschichte Osteuropas der Europa-Universitaumlt Viadrina Frankfurt (Oder) an den Historischen Seminaren der Universitaumlten Basel Duumlssel-dorf und Bochum Vertretung der Professuren fuumlr Geschichte Osteuropas an der Ludwig-Maximilians Universitaumlt Muumlnchen und an der Europa-Universitaumlt Frank-furt (Oder)

Forschungen zur russischen Philosophie und Geistesgeschichte zum utopischen und apokalyptischen Denken in Russland zum russischen Rechtsextremismus und Antisemitismus sowie insbesondere zu den Protokollen der Weisen von Zion und ihrem Herausgeber Sergej Nilus Publikationen ua Die Neue Menschheit Biopolitische Utopien in Russland (hg mit Boris Groys) Frankfurt aM 2005 The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimensions (hg mit Birgit Menzel und Bernice Rosenthal) Muumlnchen 2012 Die Fiktion von der juumldischen Weltver-schwoumlrung Zu Text und Kontext der bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo (hg mit Eva Horn) Goumlttingen 2012 Die bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo vor Gericht Der Berner Prozess und die bdquoantisemitische Internationaleldquo in der Zwischen-kriegszeit Chronik Dokumente und Kommentare Zuumlrich (im Druck)

ERFURTER VORTRAumlGE ZUR KULTURGESCHICHTE DES ORTHODOXEN CHRISTENTUMS Reihenherausgeber Vasilios N Makrides

Heft 1 Thomas Bremer Konfrontation statt Oumlkumene Zur kirchlichen Situation in der Ukraine Erfurt 2001

Heft 2 Gerhard Podskalsky Zur Hermeneutik des theologischen Ost-West-

Gespraumlchs in historischer Perspektive Erfurt 2002 Heft 3 Karl Christian Felmy Warum und zu welchem Behufe treiben wir

Ostkirchenkunde Erfurt 2003 Heft 4 Wassilios Klein bdquoTatarenjoch ndash татарское игоldquo Beobachtungen zur

Wahrnehmung des Islam im eurasischen Raum Erfurt 2005 Heft 5 Stamatios D Gerogiorgakis Zeitphilosophie im Mittelalter Byzantinische

und lateinische Vorstellungen Erfurt 2006 Heft 6 Heinz Ohme Das Oumlkumenische Patriarchat von Konstantinopel und die

tuumlrkische Religionspolitik Erfurt 2007 Heft 7 Alexander Agadjanian Russian Orthodox Vision of Human Rights Recent

Documents and Their Significance Erfurt 2008 Heft 8 Christos Yannaras Wem gehoumlrt die griechische Antike Erfurt 2009 Heft 9 Joachim Willems Religions- und Ethikunterricht in Russland ndash Was

wollen Staat und Kirche Zur Einfuumlhrung des neuen Schulfaches bdquoGrundlagen der religioumlsen Kulturen und der weltlichen Ethikldquo Erfurt 2010

Heft 10 Chris Hann Eastern Christianity and Western Social Theory Erfurt 2011 Heft 11 Jennifer Wasmuth Akademische Theologie im zaristischen Russland in

ihrer Bedeutung fuumlr die neuere orthodoxe Theologie Erfurt 2012 Heft 12 Anna Briskina-Muumlller Auf der Suche nach der bdquoHesychialdquo Paisij

Veličkovskij (1722ndash1794) und sein Leben fuumlr die bdquoPhilokalieldquo Erfurt 2014

Heft 13 Vladimir Cvetković From ldquoMerciful Angelrdquo to ldquoFortress Europerdquo The

Perception of Europe and the West in Contemporary Serbian Orthodoxy Erfurt 2015

Heft 14 Stefan G Reichelt Lebenslinien Nikolaj A Berdjaev (1874ndash1948) und Sergij N Bulgakov (1871ndash1944) im Westen ndash Eine Wuumlrdigung Erfurt 2015

Heft 15 Michael Hagemeister Der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo ndash bdquoNeobyzantismusldquo

und bdquopolitischer Hesychasmusldquo im postsowjetischen Russland Erfurt 2016

Alle Hefte der vorliegenden Schriftenreihe koumlnnen unter folgendem Link kostenlos heruntergeladen werden URL httpswwwuni-erfurtdereligionswissenschaftprofessur-orthodoxes-christentumveroeffentlichungenerfurter-vortraege-zur-kulturgeschichte-des-orthodoxen-christentums

Page 23: Michael Hagemeister FINAL - uni-erfurt.de · doziert Tichon, während er das antike Kons tantinopel computeranimiert auferste- hen lässt. Das prosperierende Impe rium erregte freilich

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 23

Von der Wiederbelebung des Hesychasmus zeugt auch das groszligangelegte Projekt einer bdquosynergetischen Anthropologieldquo (sinergijnaja antropologija) des Mathematikers Physikers und religioumlsen Philosophen Sergej Choružij Prakti-sches Ziel das seit 2005 durch ein eigenes Institut in Moskau verfolgt wird ist die psychosomatisch-holistische Selbsttransformation des Menschen die auf unmittelbarer (mystisch-energetischer) Erfahrung bzw Einwirkung des ontolo-gisch Anderen (Goumlttlichen) beruht sowie die Uumlberwindung der Subjekt-Objekt-Trennung der modernen westlichen Philosophie die Choružij fuumlr den von ihm als krisenhaft und katastrophisch beschriebenen Zustand der westlichen Moderne verantwortlich macht Im Unterschied zu orthodoxen Fundamentalisten und Anti-Westlern sucht Choružij indes die asketischen Praktiken des Hesychasmus mit modernen und postmodernen westlichen Anthropologien (Kierkegaard Scheler Heidegger und insbesondere Foucaults technique oder practique de soi) in Bezie-hung zu setzen76

bdquoPolitischer Hesychasmusldquo

Es duumlrfte deutlich geworden sein dass Hesychasmus nicht nur eine weltabge-wandte mystisch-asketische bdquogeistige Praxisldquo bezeichnet sondern auch als Kampfbegriff gegen die saumlkulare Kultur des bdquoWestensldquo und der bdquowestlichen Mo-derneldquo dient Dies gilt vor allem fuumlr das Konzept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo (političeskij isichazm)

In den russischen Diskurs wurde dieses Konzept um die Mitte der 1960er Jahre von dem Leningrader Mediaumlvisten und Byzantinisten Gelian Prochorov ein-gefuumlhrt77 Seiner Hauptthese zufolge wurde der Hesychasmus nachdem er aus den Klosterzellen herausgetreten war und eine philosophisch-theologische

76 Siehe Sergej Choružij Očerki sinergijnoj antropologii Moskva Inst Sinergijnoj antropo-

logii Inst filosofii teologii i istorii Sv Fomy 2005 ders (Hg) Fonarrsquo Diogena Proekt sinergijnoj antropologii v sovremennom gumanitarnom kontekste Moskva 2010 ders bdquoDie mystische Verwandlung des Menschen Uumlber den Hesychasmus als Raum der Philo-sophieldquo in Fuge Journal fuumlr Religion amp Moderne 7 (2010) 72ndash99 Siehe auch die Web-site lthttpsynergia-isarugt Kristina Stoeckl bdquoA New Anthropology Sergej S Khoru-žijrsquos Search for an alternative to the Cartesian Subject in sbquoOčerki sinergijnoj antropologiilsquoldquo in Studies in East European Thought 59 (2007) 237ndash245

77 Gelian Prochorov bdquoĖtničeskaja integracija v Vostočnoj Evrope v XIV-m veke Ot isichastskich sporov do Kulikovskoj bitvyldquo in Doklady otdelenija ėtnografii 2 (196265) Leningrad 1966 81ndash110 ders bdquoIsichazm i obščestvennaja myslʼ v Vostočnoj Evrope v XIV vldquo in Literaturnye svjazi drevnich slavjan (Trudy otdela drevnerusskoj literatury 23) Leningrad 1968 86ndash108 ders bdquoKulʼturnoe svoeobrazie ėpochi kulikovskoj bitvyldquo in Kulikovskaja bitva i podldquoem nacionalrsquonogo samopoznanija (Trudy otdela drevne-russkoj literatury 34) Leningrad 1979 3ndash17 ndash Prochorov gehoumlrte bereits zu Sowjetzeiten ins Lager der (neo-)slavophilen Anti-Westler er war eng befreundet mit dem bdquoEurasierldquo und Antisemiten Lev Gumilev (1912ndash1992) und uumlbernahm von diesem das Konzept der bdquoEthnogeneseldquo

24 Michael Hagemeister

Grundlegung erfahren hatte am Ende des 14 Jahrhunderts zu einem entscheiden-den politischen und kulturellen Faktor nicht nur in Byzanz sondern in ganz Ost-europa und lieferte unter anderem das ideologische Fundament zur Konsolidie-rung der nachmongolischen Rusʼ Im Streit zwischen dem bdquorationalistischen Hu-manismus und dem kontemplativen Hesychasmus [hellip] entschied Byzanz uumlber sein geistiges Schicksal Das Land blieb bis zuletzt mittelalterlich Den Hesy-chasten gelang es zu Wortfuumlhrern der oumlffentlichen Meinung in Byzanz zu werden die letzte schoumlpferische Synthese seiner traditionellen Kultur zu entwickeln und eine breite kulturelle und gesellschaftliche Bewegung in Gang zu setzen die zu einer Erneuerung des Mittelalters und zu einer Wiederbelebung der Orthodoxie im ganzen oumlstlichen Europa fuumlhrteldquo78

Im Anschluss an das von seinem Lehrer Dmitrij Lichačev entwickelte Kon-zept einer bdquoVorrenaissanceldquo (Predvozroždenie)79 spricht Prochorov von einer bdquovorrenaissancelichen Gegenreformationldquo (predvozroždenčeskaja kontrreforma-cija) und einer bdquoOrthodoxen Renaissanceldquo (Pravoslavnoe Vozroždenie)80 Ge-meint war damit dass die Palamiten (Hesychasten) den Sieg der Barlaamiten ver-hindern konnten und auf die Schriften der antiken Kirchenvaumlter zuruumlckgreifend ein mystisch-kontemplatives Aumlquivalent zum rationalistischen und saumlkularen Hu-manismus geschaffen haumltten Auf diese Weise habe der drohende Uumlbergang der byzantinischen und osteuropaumlischen christlich gepraumlgten Kultur von der bdquoVorre-naissanceldquo zu einer auf heidnisch-antiken Wurzeln beruhenden Renaissance ab-gewendet werden koumlnnen81 Auf die bdquoVorrenaissanceldquo sei ein bdquoNeues Mittelalterldquo gefolgt das in der bdquoHeiligen Rusʼldquo um die Wende zum 15 Jahrhundert seinen Houmlhepunkt erreicht habe Ihm verdanke Russland seine Groumlszlige und die russische Kultur ihre bdquoUniversalitaumltldquo und bdquoGeistigkeitldquo82

Bemerkenswert ist dass der sowjetische Wissenschaftler die beiden ideolo-gischen Lager mit traditionellen (neo-)slavophilen Wertungsoppositionen wie sie bereits bei Florenskij und Losev begegnet sind verbindet und dabei deutlich seine 78 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 4 79 Vor allem in seinem Buch Kulʼtura Rusi vremeni Andreja Rubleva i Epifanija Premudrogo

MoskvaLeningrad 1962 80 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 8 Siehe auch ders Nekogda ne narod a nyne narod

Božijhellip Drevnjaja Rusʼ kak istoriko-kulʼturnyj fenomen Sankt-Peterburg 2010 133ndash157 81 So auch Igorʼ Ėkonomcev bdquoDie osteuropaumlische sbquoVorrenaissancelsquo ist nicht die erste Stufe

zur saumlkularisierten Renaissance vom abendlaumlndischen Typ sondern ihre Antithese Der geistige und kulturelle Aufschwung in Osteuropa war die wahre volle und eindeutige Re-naissance die sich grundlegend von der westlichen Renaissance unterschied Sie haumltte sich niemals in eine Renaissance westlicher Praumlgung verwandeln koumlnnenldquo Ėkonomcev bdquoDer Hesychasmusldquo 764 vgl ders bdquoIsichazmldquo 69 Diese (osteuropaumlische) Renaissance so Ėkonomcev an anderer Stelle sei ungleich bdquoerhabener geistiger und reinerldquo gewesen als bdquodie westeuropaumlische Renaissance mit ihrer krankhaften Disharmonie zwischen Glauben und Vernunft Geist und Leib die trotz allem gespieltem Optimismus ein Gefuumlhl der Aus-weglosigkeit und Verzweiflung hinterlaumlsstldquo Igumen Ioann Ėkonomcev bdquoVizantinizm Kirillo-Mefodievo nasledie i kreščenie Rusildquo in ders Pravoslavie Vizantija Rossija Sbornik statej Moskva 1992 7ndash22 hier 18

82 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 9 15

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 25

Sympathie zeigt Die byzantinischen Humanisten werden von ihm als kalte Ratio-nalisten dargestellt die in der Hoffnung auf militaumlrische Unterstuumltzung durch den katholischen Westen im Kampf gegen die Osmanen bereit gewesen seien den eigenen Glauben zu opfern83 Die Hesychasten hingegen haumltten so Prochorov den Westen realistischer eingeschaumltzt und auf Hilfe von Seiten der orthodoxen Staaten gehofft Im entscheidenden Moment haumltten nicht die bdquoWestler-Huma-nistenldquo (zapadniki-gumanisty) mit ihren bdquokalten Uumlberlegungenldquo (cholodnymi rassuždenijami) beim Volk Gehoumlr gefunden sondern die Hesychasten mit ihren bdquoheiszligen Gebetenldquo (gorjačimi molitvami)84

Mit seiner Apologie eines bdquowiederbelebtenldquo Mittelalters und einer bdquoOrtho-doxen Renaissanceldquo die alle Bereiche des politischen gesellschaftlichen und kul-turellen Lebens gepraumlgt habe und deren Kern der Hesychasmus gewesen sei stieszlig Prochorov bei seinen sowjetischen Kollegen auf Kritik So sah Apollon Kuzmin im Palamismus eine desintegrative Erscheinung weshalb er Prochorovs positive Bewertung der Hesychasten bei der bdquoWiedergeburtldquo der Rusʼ zuruumlckwies85 Aumlhn-lich argumentierte Gennadij Litavrin Die Palamiten seien diejenigen gewesen die eine unrealistische Einschaumltzung der politischen Lage gehabt haumltten Sie haumltten die Bedrohung durch die Tuumlrken nicht erkannt und stattdessen die Illusion verbreitet die Feinde zum Christentum bekehren und zu neuen Untertanen ma-chen zu koumlnnen Der Palamismus sei eine bdquoIdeologie der Demutldquo und habe eine bdquounheilvolle Rolle in der Geschichte des Kampfes gegen die tuumlrkische Aggres-sionldquo gespielt86 Michail Sjuzjumov sprach sogar vom bdquoasozialen Charakter des Palamismusldquo der den aufkommenden humanistischen Tendenzen gegenuumlber feindlich gewesen und zur bdquoIdeologie der Reaktionldquo in Byzanz geworden sei87 Auf Ablehnung stieszlig Prochorov auch im Ausland Valerij Lepachin kritisierte den Begriff bdquopolitischer Hesychasmusldquo als unzulaumlssige Verbindung weltlicher und geistlicher Sphaumlren damit verliere der Hesychasmus seinen wesentlichen Sinn-gehalt88 Fuumlr den in Berkeley lehrenden Philologen Viktor Živov schlieszliglich war

83 Ebd 12 84 Ebd 13 ndash An anderer Stelle betont Prochorov den Gegensatz zwischen den abstrakten

bdquoausgedachtenldquo philosophischen Konstruktionen des europaumlischen Idealismus und der ganzheitlichen kontemplativ-spekulativen Welterfahrung der griechisch-byzantinischen Philosophie Prochorov bdquoĖtničeskaja integracijaldquo 90f An Florenskijs Renaissance-Kritik (etwa in Ikonostas 1922) erinnert auch Prochorovs Verweis auf den euklidischen Raum und den Perspektivismus der humanistischen Weltwahrnehmung mit seiner Illusion der Unendlichkeit Prochorov bdquoIsichazmldquo 94

85 Apollon Kuzmin bdquoCerkovʼ i svetskaja vlastʼ v ėpochu Kulikovskoj bitvyldquo in Voprosy naučnogo ateizma 37 (1988) 90ndash99

86 Gennadij Litavrin bdquoVizantija v period graždanskoj vojny i dviženija Zilotov (1341ndash1355 gg)ldquo in Sergej Skazkin (Hg) Istorija Vizantii Bd 3 Moskva 1967 135ndash160 hier 158

87 Michail Sjuzjumov bdquoFilosofija i bogoslovieldquo in ebd 234ndash256 hier 248f 88 Valerij Lepachin bdquoUmnoe delanie (o soderžanie i granicach ponjatija sbquoisichazmlsquo)ldquo in

Vestnik Russkogo Christianskogo Dviženija 164 1992 5ndash32 hier 23

26 Michael Hagemeister

bdquopolitischer Hesychasmusldquo bdquokonzeptuelles Unkraut [sornjak] das man so schnell wie moumlglich ausrottenldquo solle89

Fast ein halbes Jahrhundert nach ihrer ersten Veroumlffentlichung wurde Pro-chorovs Konzept eines bdquopolitischen Hesychasmusldquo von seinem Schuumller Vladimir Petrunin wieder aufgegriffen und aktualisiert In der 2009 erschienenen Monogra-phie bdquoDer politische Hesychasmus und seine Traditionen in der Sozialkonzeption des Moskauer Patriarchatsldquo90 stellt Petrunin das sogenannte bdquoNichtgehorsamkeits-prinzipldquo (princip nepovinovenija) wie es in den von der Moskauer Bischofssyno-de im August 2000 verabschiedeten bdquoGrundlagen der Sozialkonzeption der Rus-sischen Orthodoxen Kircheldquo formuliert worden ist91 in eine Tradition die er bis auf die bdquopolitischen Hesychastenldquo im Byzanz des 14 und 15 Jahrhunderts zu-ruumlckzufuumlhren sucht Immer wieder zieht Petrunin Parallelen zwischen dem spaumlten Byzanz und dem postsowjetischen Russland Hatten die Byzantiner den Hesy-chasmus als Reaktion auf den Humanismus des Westens hervorgebracht so diene heute die Sozialkonzeption der Abwehr des westlichen Saumlkularismus Liberalis-mus und Kapitalismus Damals wie heute stuumlnden der kirchliche Heilsauftrag und die Verteidigung des Glaubens uumlber den Interessen des Staates selbst ndash wie das Beispiel von Byzanz zeige ndash um den Preis seines Untergangs Ebenso wie die byzantinischen Hesychasten den mit dem Westen kollaborierenden Herrschern die Gefolgschaft im Kampf gegen die Osmanen verweigert haumltten da sie die bdquoReinheit ihres Glaubensldquo eher bdquounter einem tuumlrkischen Turban als unter der lateinischen Tiaraldquo gewahrt sahen92 rufe die Sozialkonzeption die Kirche heute dazu auf der Staatsmacht den Gehorsam zu verweigern sollte diese bdquodie ortho-doxen Glaumlubigen zum Abfall von Christus und Seiner Kirche sowie zu suumlndhaften

89 Viktor Živov bdquoVidenija sveta i problemy russkogo srednevekovogo isichazmaldquo in Lidov

(Hg) Ierotopija 350ndash367 hier 363 359 90 Vladimir Petrunin Političeskij isichazm i ego tradicii v socialʼnoj koncepcii Moskovskogo

Patriarchata Sankt-Peterburg 2009 91 Osnovy socialrsquonoj koncepcii Russkoj Pravoslavnoj Cerkvi III5 lthttpwwwpatriarchia

rudbtext141422htmlgt Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo wird von den meisten Inter-preten als ein bemerkenswertes Umdenken in der Kirchenpolitik angesehen hatte doch die Russische Orthodoxe Kirche unter Patriarch Sergij in einer prekaumlren Lage 1927 Loyalitaumlt gegenuumlber dem Sowjetstaat gefordert Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo war auch eine wichtige Voraussetzung fuumlr die Vereinigung der Auslandskirche mit dem Moskauer Pa-triarchat Zur Sozialkonzeption insgesamt Vasilios N Makrides bdquoDie politische Aufgabe der Kirche Bemerkungen anhand der Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kir-cheldquo in Irene DingelChristiane Tietz (Hgg) Die politische Aufgabe von Religion Per-spektiven der drei monotheistischen Religionen Goumlttingen 2011 219ndash243

92 Petrunin Političeskij isichazm 66f 120 Es handelt sich um eine zeitgenoumlssische Losung Siehe Halina Evert-Kappesowa bdquoLa tiare ou le turbanldquo in Byzantinoslavica 14 (1953) 245ndash257 ndash Auch Aleksandr Nevskij (1220ndash1263) zog eine Verstaumlndigung mit den Mongo-len einer Union mit Rom vor die ihm Papst Innozenz IV im Jahr 1248 angeboten hatte und wandte sich stattdessen gegen die bdquoLateinerldquo Heutige Anti-Westler feiern den Heili-gen der Russischen Orthodoxen Kirche deshalb auch als bdquoersten Eurasierldquo

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 27

und der Seele abtraumlglichen Taten noumltigenldquo93 Die Sozialkonzeption hat fuumlr Petru-nin nur einen moumlglichen Sinn Falls Russlands politische Elite sich weiterhin dem liberalen Wertekanon des Westens verschreibe und Russlands bdquoEigenartldquo (samo-bytnostʼ) als bdquoorthodoxe Zivilisationldquo bestreite94 muumlsse die Kirche ndash wie einst in Byzanz ndash dem Staat die Loyalitaumlt aufkuumlndigen und das Volk zum Widerstand auf-rufen

Es ist ganz offensichtlich dass die Prozesse der Globalisierung und Saumlkularisierung eng miteinander verbunden sind So wie einst die byzantinischen Hesychasten ist heute die Russische Kirche mit der westlichen Zivilisation konfrontiert die nach der Weltherrschaft trachtet war fruumlher der Katholizismus deren Grundlage so ist es jetzt der saumlkulare Humanismus [hellip] Waumlhrend sie [die westliche Welt MH] damals fuumlr die Hesychasten mit Rom gleichgesetzt wurde so verkoumlrpert heute das kosmopolitische New York den Westen Indem sie Liberalismus und Saumlkularisie-rung abwehrt tritt die Kirche auch gegen die politischen und wirtschaftlichen Hegemoniebestrebungen des Westens auf und stellt so ihr Bestreben unter Beweis die zivilisatorische Eigenstaumlndigkeit Russlands wieder herzustellen Wie schon vor 600 Jahren im Byzantinischen Imperium so ist auch heute in Russland allein die Kirche ein ernstzunehmender und gut organisierter Gegner des Westens und seiner saumlkularen Werte [hellip] Sollte Russland weiter den Weg der Saumlkularisierung be-schreiten so koumlnnte damit fuumlr die Kirche der gefaumlhrliche Praumlzedenzfall geschaffen werden in dem sie von ihrem Recht Gebrauch machen muumlsste das Volk zu zivilem Ungehorsam aufzurufen95

In seinem Vorwort nannte Prochorov das Buch seines Schuumllers eine bdquoWarnung an unseren Staat unsere saumlkulare Gesellschaft an uns alleldquo96 Wie das spaumlte Byzanz unter dem bdquoDruck aus dem Westenldquo gestanden habe ndash dem die Herrscher und die bdquoHumanistenldquo schlieszliglich nachgegeben haumltten ndash so laufe auch das postkommu-nistische Russland Gefahr dem bdquoDruck des Liberalismus und der Globalisierungldquo nachzugeben Allein die Orthodoxe Kirche habe sich damals wie heute als bdquoFes-tungldquo erwiesen faumlhig diesem bdquozersetzenden Einflussldquo Widerstand zu leisten97

Petrunins Buch das mit dem Segen von Metropolit Ilarion (Grigorij Al-feev)98 erschienen war stieszlig bei westlichen Forschern auf Skepsis und Ableh-nung So kritisierte Kristina Stoumlckl die unhistorische Interpretation und forcierte Aktualisierung der philosophischen theologischen und politischen Kontroversen des 14 Jahrhunderts sowie die einseitige konservative Interpretation der Sozial-konzeption Hesychasmus werde in dem Kirchendokument ebenso wenig erwaumlhnt

93 Osnovy socialrsquonoj koncepcii 94 Petrunin Političeskij isichazm 81 95 Ebd 122f 96 Ebd 5 97 Ebd 98 Zu jener Zeit Bischof von Wien und Oumlsterreich heute Leiter des Auszligenamtes des Moskau-

er Patriarchats und scharfer Kritiker des bdquomilitanten Saumlkularismusldquo des Westens Siehe auch lthttpazbykaruxristianstvo-pered-vyzovom-voinstvuyushhego-sekulyariz ma-2gt

28 Michael Hagemeister

wie der Untergang von Byzanz99 Klaus Buchenau warf Petrunin vor er bdquoverfor-m[e] und ideologisier[e] die urspruumlnglichen Motive des hesychastischen Moumlnch-tums bis zur Unkenntlichkeitldquo100 Und Viktor Živov der bereits Prochorovs Kon-zept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo als bdquoUnkrautldquo bezeichnet hatte sah in Petru-nins Buch ein Beispiel dafuumlr wie dieses sich bdquospontan und schaumldlichldquo ausbreite Die von Petrunin konstruierte bdquophantastische Genealogie des politischen Hesy-chasmusldquo beruhe so Živov auf einer bdquoMischung aus Einseitigkeit und Unwissen-heitldquo Weder sei der bdquotuumlrkische Turbanldquo fuumlr den Patriarchen attraktiv gewesen noch sei am Widerstand gegen die Union irgendetwas spezifisch bdquoHesychasti-schesldquo Petrunin habe ein bdquoPhantomldquo geschaffen dessen angebliche Verbindung mit der Sozialkonzeption man nicht weiter zu verfolgen brauche101

bdquoNeobyzantismusldquo Das Dritte Rom ndash der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo

Eine eigenwillige Interpretation des Hesychasmus und seine Wendung gegen den Westen stammen von Aleksandr Dugin dem Fuumlhrer der bdquoeurasischenldquo Bewegung und einflussreichsten Vordenker der Neuen Rechten in Russland Der polyglotte und belesene Autodidakt der nie eine akademische Ausbildung genossen hat war Gruumlnder der Partei der Nationalbolschewisten Berater des Vorsitzenden der Du-ma und des Generalstabs sowie von 2008 bis 2014 Professor fuumlr Soziologie an der renommierten Moskauer Lomonosov-Universitaumlt und Direktor des dortigen bdquoZentrums fuumlr Konservatismusstudienldquo Seit Anfang der 1990er Jahre verbreitet er mit graphomanem Eifer seine politischen und bdquometaphysischenldquo Botschaften in einer inzwischen kaum noch uumlberschaubaren Zahl von Publikationen102 und Web-Artikeln in mehreren Sprachen sowie durch spektakulaumlre Auftritte in staats-nahen Medien103 99 Kristina Stoumlckl bdquoPolitical Hesychasm Vladimir Petruninrsquos Neo-Byzantine Interpretation

of the Social Doctrine of the Russian Orthodox Churchldquo in Studies in East European Thought 62 (2010) 125ndash133

100 Klaus Buchenau Auf russischen Spuren Orthodoxe Antiwestler in Serbien 1850ndash1945 Wiesbaden 2011 480 Anm 2

101 Živov bdquoVidenija svetaldquo 364f ndash Von der Kritik offenbar unbeeindruckt verschaumlrfte Petru-nin noch seine Position So sprach er 2012 in einem Vortrag uumlber die gesellschaftliche und politische Wirkung der hesychastischen Gebetspraxis Nach dem Fall von Byzanz sei das bdquoJesusgebet faktisch zu einem sbquopolitischen Gebetlsquoldquo geworden das auf die bdquoVerwandlung [preobraženie] der orthodoxen Oumlkumeneldquo ausgerichtet gewesen sei und das bdquoPhaumlnomen der Heiligen Rusrsquoldquo hervorgebracht habe lthttpsynergia-isarup=8604gt

102 Zuletzt in der bislang fuumlnf Baumlnde umfassenden Reihe bdquoNoomachijaldquo (2014ndash2015) einer hochambitioumlsen letztlich aber manichaumlisch-schematischen Beschreibung der bdquoSuche nach dem Logosldquo in den ndash von Dugin essenzialistisch aufgefassten ndash bdquoWeltkulturenldquo

103 Auch die Literatur zu Dugin ist kaum noch uumlberschaubar Siehe zB Alexander Houmlllwerth Das sakrale eurasische Imperium des Aleksandr Dugin Eine Diskursanalyse zum post-sowjetischen russischen Rechtsextremismus Stuttgart 2007 Stefan Wiederkehr Die eurasische Bewegung Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwi-schenkriegszeit und im postsowjetischen Russland Koumlln [ua] 2007 227ndash261 Anton

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 29

Dugin deutet den Hesychasmus im Rahmen des sogenannten bdquointegralen Traditionalismusldquo einer antimodernen Denkrichtung die im ersten Drittel des 20 Jahrhunderts in Frankreich und Italien entstand und in Reneacute Gueacutenon (1886ndash1951) und Julius Evola (1898ndash1974) ihre bekanntesten (und auch fuumlr Dugin wichtigsten) Vertreter hat104 Ihre Lehre besagt dass alle Religionen ungeachtet ihrer histori-schen und regionalen Auspraumlgungen in ihrem esoterischen nur dem Eingeweih-ten zugaumlnglichen Kern eine gemeinsame urspruumlngliche Wahrheit teilen und als philosophia perennis tradieren das Wissen um die Goumlttlichkeit und den Zugang zu ihr Dieses sakrale und initiatorische Wissen sei im Verlauf der westlichen Mo-derne insbesondere durch die Aufklaumlrung verlorengegangen in traditionellen Gesellschaften (China Indien islamische Welt) jedoch bewahrt geblieben105

Auch die Orthodoxie so Dugin habe im Gegensatz zu Katholizismus und Protestantismus bdquodie Treue zum esoterischen Kernldquo bewahrt naumlmlich in ihrer mystischen Unterstroumlmung dem Hesychasmus106 In der Kanonisierung des Gre-gorios Palamas durch die Ostkirche bei gleichzeitiger Verdammung des Humanis-ten Barlaam sieht Dugin das Bekenntnis zum bdquognostisch-realistischen Geist der orthodoxen Esoterikldquo Ganz im Sinn des Traditionalismus deutet er die psycho-physische Uumlbung der Hesychasten das bdquogeistige Tunldquo als Verfahren der bdquoInitia-tionldquo und das Endziel der bdquoVerklaumlrungldquo und bdquoVergoumlttlichungldquo als bdquoalchemistische Verwandlung des Leibesldquo (alchimičeskoe preobraženie tela) Dadurch wuumlrden der bdquoDualismus von Geist und Materie Leib und Seeleldquo sowie die bdquoGrenzen der Individualitaumltldquo ndash charakteristisch fuumlr den bdquorein exoterischen Mystizismusldquo des Westens ndash aufgehoben107 Die bdquoTradition der hesychastischen Esoterikldquo sei die

Shekhovtsov bdquoThe Palingenetic Thrust of Russian Neo-Eurasianism Ideas of Rebirth in Aleksandr Duginrsquos Worldviewldquo in Totalitarian Movements and Political Religions 9 (2008) 491ndash506 Mark Sedgwick bdquoOccult Dissident Culture The Case of Aleksandr Du-ginldquo in Birgit Menzel [ua] (Hgg) The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimen-sions MuumlnchenBerlin 2012 273ndash292 Schmid Technologien der Seele 210ndash220

104 Aleksandr Dugin Filosofija tradicionalizma Moskva 2002 Zum Traditionalismus siehe das Standardwerk von Mark Sedgwick Against the Modern World Traditionalism and the Secret Intellectual History of the Twentieth Century OxfordNew York 2004 zu Dugin 221ndash237 Vgl auch Christopher DL Johnson The Globalization of the Jesus Prayer Con-testing Contemplation London New York 2010 70ndash73

105 Aumlhnliche Gedanken entwickelte Pavel Florenskij bereits 19081909 in seinem Vortrag bdquoObščečelovečeskie korni idealizmaldquo in dem er die bdquoEsoterikldquo der Philosophie Platons und seiner Nachfolger in der bdquoallgemeinmenschlichenldquo mystisch-magischen Weltauffas-sung der bdquoVolksseeleldquo wurzeln laumlsst

106 Das Folgende nach Aleksandr Dugin bdquoOboženie preestestvennejšeeldquo in Milyj angel 1 1991 56ndash59

107 Das Konzept der bdquoInitiationldquo und die Unterscheidung von bdquoesoterischldquo und bdquoexoterischldquo sind zentral fuumlr die Anhaumlnger des Traditionalismus siehe Sedgwick Against the Modern World 265 ndash Als Mitglied des okkultistischen und faschistischen Južinskij-Kreises machte Dugin in Moskaus bdquomystischem Untergrundldquo in den 1980er Jahren selbst Entgrenzugser-fahrungen mit Hilfe sexualmagischer Praktiken und bewusstseinserweiternder Drogen Bei einem Teil der orthodoxen Glaumlubigen stoumlszligt seine Esoterik denn auch auf Misstrauen und

30 Michael Hagemeister

bdquoSeele der russischen Orthodoxieldquo und habe in Serafim von Sarov ihren bdquoletzten leuchtendsten Vertreterldquo gefunden

Der Hesychasmus gehoumlre zum traditionellen Erbe von Byzanz das Russ-land angetreten habe als es zum Dritten Rom und zum Zentrum der orthodoxen Welt geworden sei bdquoWir sindldquo so Dugin bdquobyzantinisch in unserer Seele unseren Wurzeln und in unserer Identitaumltldquo108

Unser stabilstes Fundament ist Byzanz [hellip] Russland ist Byzanz [hellip] Unsere For-mel lautet Der Westen ist das Boumlse Byzanz das Gute Alles Schlechte das uumlber Byzanz geschrieben wurde ist eine Luumlge Das sind lediglich Winkelzuumlge im ideolo-gischen Kampf von Seiten des Westens [hellip] Jeder Russe muss wissen Byzanz ist das reine Gute Jeder der etwas anderes behauptet ist ein Feind [hellip] Wer Byzanz kritisiert ist ein Feind des russischen Volkes Das muss unser ehernes Prinzip sein [hellip] Byzanz ist der absolute Orientierungspunkt des russischen Projekts109

Damit sind Russlands Ort und Mission in der bdquohistoriosophischenldquo Deutung des Weltgeschehens bestimmt Nach Dugin wird die Geschichte der Menschheit be-herrscht vom bdquookkulten planetarischen Ringenldquo zweier antagonistischer Maumlchte dem bdquogroszligen Krieg der Kontinenteldquo Land gegen Meer Behemoth gegen Levia-than die organischen bodenstaumlndigen und traditionalistischen bdquoTellurokratienldquo des eurasischen Ostens gegen die wurzel- und seelenlosen materialistischen bdquoTha-lassokratienldquo des angloamerikanischen Westens das apokalyptische Tier aus dem Meer (Offb 13 1-10)110 Die USA als bdquoQuintessenz des Westensldquo und New York als moderne Hure Babylon (Offb 17 und 18) sind das Reich des Antichrist eine chimaumlrisch-antiorganische transplantierte Zivilisation die keine sakrale Tradi-tion besitze ihre Selbsterhebung zu bdquoGottes neuem Israelldquo und bdquoNeuem Zionldquo ndash gemaumlszlig der anglo-amerikanischen Interpretation der Substitutionslehre ndash deutet Dugin als besonders perfiden Taumluschungsversuch des bdquowestlichen Antichristldquo Das Jahr der Entdeckung Amerikas (1492 ist nach der altrussisch-byzantinischen

offene Ablehnung Fuumlr den Sektenexperten des Moskauer Patriarchats ist Dugin ein bdquoge-faumlhrlicher Feindldquo der die bdquoOrthodoxie in Kabbalistik umzuschmelzenldquo versuche Andrej Kuraev Cerkovrsquo v mire ljudej Moskva 2006 142

108 Aleksandr Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Tradition Duginrsquos Guidelineldquo lthttpswwwyoutubecomwatchv=m0RIa61eZDggt

109 Aleksandr Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo in ders Russkaja Veščrsquo Očerki nacionalrsquonoj filosofii Bd 1 Moskva 2001 69ndash76 hier 70ndash72 (Hervorhebungen im Original) Der Be-griff bdquoByzantismusldquo (vizantizm) ndash im Unterschied zum negativ konnotierten bdquoByzantinis-musldquo ndash als Bezeichnung eines dem europaumlischen entgegengesetzten Kulturtypus der auf den Prinzipien von Orthodoxie und Selbstherrschaft beruht geht auf den konservativen Philosophen Konstantin Leontrsquoev (1831ndash1891) und sein Buch Vizantizm i slavjanstvo (1875) zuruumlck

110 Auch fuumlr den von Dugin verehrten Heidegger waren die Seemaumlchte Groszligbritannien und Amerika nicht Teil der abendlaumlndischen Tradition sondern im Gegensatz zum restlichen Europa wurzellos und sinnleer Der Antagonismus von Land und Meer die kategorische Unterscheidung von Freund und Feind sowie das Konzept des Katechon gehen auf Carl Schmitt zuruumlck als dessen Schuumller Dugin sich bezeichnet Siehe auch Fn 41

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 31

Weltaumlra das Jahr 7000 nach dem chiliadischen Weltwochenschema also der sieb-te Tag der Schoumlpfung) verweise ebenso auf den Endzeitcharakter der bdquoNeuen Weltldquo wie die bdquosakrale Geographieldquo nach der das Paradies im Osten die Houmllle aber das bdquoLand des Todesldquo im Westen zu suchen seien111

Dem Antichrist entgegen stehe seit jeher der Katechon dessen bdquoletzter Hortldquo bis ans Ende der Zeit die Heilige Rusrsquo das Dritte Rom sei112 In der petrini-schen Epoche als die Hauptstadt in die bdquonoumlrdlichen Suumlmpfeldquo in die bdquoGespenster-stadtldquo Petersburg verlegt und das Patriarchat abgeschafft wurde haumltten allein die Altglaumlubigen den Geist von Byzanz den Katechon bewahrt zweihundert Jahre lang sei der Weg frei gewesen fuumlr das zerstoumlrerische Wirken des Antichrist Erst die sowjetische Periode habe eine bdquomystische Ruumlckkehr zum Byzantismusldquo be-deutet indem die Bolschewiki das heilige Moskau wieder zur Hauptstadt erklaumlr-ten das Patriarchat wiederherstellten die Ausbeuter als Klasse vernichteten und dem Westen auf allen Gebieten Widerstand boten Im bdquoroten Byzantismusldquo der Dritten Internationale sei der Katechon zuruumlckgekehrt113

Um seine Mission zur Erloumlsung der Menschheit auch kuumlnftig zu erfuumlllen muumlsse das Dritte Rom nach dem Zerfall der Sowjetunion114 nunmehr ein groszligkon-tinentales sakral fundiertes bdquoEurasisches Imperiumldquo errichten gegen den Erz-feind die materialistische universalistische alles nivellierende Zivilisation des Westens als der Verkoumlrperung des bdquoweltweiten Boumlsenldquo (mirovoe zlo) gegen Libe-ralismus Individualismus Globalismus Egalitarismus sowie die bdquomondialisti-scheldquo Konzeption der Menschenrechte115 Verbuumlndete im bevorstehenden apoka-lyptischen bdquoEndkampfldquo (von Dugin stets deutsch geschrieben) werden all jene sein die den Bezug zum bdquoSakralenldquo noch nicht verloren haben russische Altglaumlu-bige ultraorthodoxe antizionistische Juden europaumlische Traditionalisten sowie jene bdquoanti-atlantischenldquo islamistischen Fundamentalisten die in den USA den Dajjacircl den falschen Messias und Antichrist erkennen gegen den die Retter-gestalt des Mahdicirc zu Felde ziehen wird116 111 Aleksandr Dugin Absoljutnaja Rodina Puti Absoljuta Metafizika Blagoj Vesti Misterii

Evrazii Moskva 1999 645ndash670 112 Ebd 378ndash395 493ndash521 113 Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo 74ndash76 Siehe auch ders bdquoKatechon i revoljucijaldquo in ders

Tampliery proletariata Nacional-bolrsquoševizm i iniciacija Moskva 1997 52ndash59 ndash Die mes-sianische Identifizierung des Dritten Rom mit der Dritten Internationale reicht bis ins Gruumlndungsjahr der Komintern (1919) zuruumlck Beide so der slawophile Philosoph und An-haumlnger des imjaslavie Valerian Muravrsquoev (1885ndash1930) in einem Brief vom 6 Januar 1920 an Lev Trockij seien Ausdruck der Suche des russischen Volkes und der Intelligencija nach einem Reich der Wahrheit und Gerechtigkeit Valerian Muravrsquoev Sočinenija Bd 2 Moskva 2011 352f Weitere Belege bei Emanuel Sarkisyanz Russland und der Messianis-mus des Orients Tuumlbingen 1955 196 Mikhail Agursky Third Rome National Bolshevism in the USSR Boulder Co 1987

114 Damals sah ein Journalist bdquoauf den Ruinen des Imperiumsldquo das Dritte Rom in Gefahr zu einem Land der Dritten Welt zu werden Andrej Fadin bdquoTretij Rim v tretrsquoem mire Razmy-šlenija na ruinach imperiildquo in Nezavisimaja gazeta 1291991

115 [Aleksandr Dugin] bdquoLibo-my libo-ničtoldquo in Ėlementy 8 19961997 1ndash4 hier 2 116 [Aleksandr Dugin] bdquoIdeologija Mirovogo Pravitelrsquostvaldquo in Ėlementy 2 1992 1f

32 Michael Hagemeister

Das Dritte Rom als Zentrum des eurasischen bdquoEuro-Sowjetischen Imperiumsldquo Titelbild der von Aleksandr Dugin herausgegebenen Zeitschrift bdquoElemente Eurasische Rundschauldquo (1992) Dugins Werk mit seiner provokanten Mischung esoterischer antimoderner und antiwestlicher Motive findet besonders unter jungen Intellektuellen Anklang und Nachahmer so etwa bei dem promovierten Philosophen und selbstproklamierten bdquoorthodoxen Metaphysikerldquo Arkadij Maler einem vehementen Propagandisten einer bdquopolitischen Orthodoxieldquo (političeskoe Pravoslavie) und fuumlhrenden Ideolo-gen der bdquoneobyzantinischenldquo Doktrin Obwohl sich Maler von Dugin distan-ziert117 beschwoumlrt auch er die eschatologische bdquogeistige Mission des Dritten Romldquo die es von Byzanz geerbt habe und die in seiner bdquozentralen katechontischen Rolleldquo bestehe dem Kampf gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo des bdquogottlosen Wes-tensldquo118 Russische Politik koumlnne deshalb nicht anders als imperial sein und muumlsse ihren Einfluss auf den gesamten Planeten ausdehnen Wie Dugin sieht auch Maler die Bolschewiki in dieser Tradition als sie Moskau zur Hauptstadt des bdquoRoten

117 In den spaumlten 1990er Jahren gehoumlrte Maler der vaumlterlicherseits juumldischer Abstammung ist

zusammen mit Dugin und Ėduard Limonov zur Fuumlhrungsriege der Nationalbolschewisti-schen Partei und schrieb fuumlr die Parteizeitung Limonka sich selbst charakterisierte er als bdquorotbraunen Zionistenldquo Nach seiner Konversion zur Orthodoxie trennte er sich 1999 von Dugin und kritisierte dessen esoterischen Traditionalismus aus einer ultraorthodoxen Posi-tion Dugin wiederum warf Maler vor ihn zu plagiieren

118 Arkadij Maler Duchovnaja missija Tretrsquoego Rima Moskva 2005 bes 134ndash136 170ndash206 Siehe auch ders bdquoIdeologija Vizantizmaldquo in Severnij Katechon 1 (2005) 7ndash49 bdquoNeovi-zantizm kak novyj bolrsquošoj stilrsquoldquo in Aleksej Nilogov (Hg) Kto segodnja delaet filosofiju v Rossii Moskva 2007 110ndash124

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 33

Imperiumsldquo machten und dieses zur bdquoabsoluten Antithese des Westensldquo erklaumlrten zum bdquoTraumlger der planetarischen Mission der Befreiung der Welt aus den sbquoFesseln des Kapitalslsquoldquo119 Das Dritte Rom sei zeitweise in die Dritte Internationale trans-formiert worden ohne jedoch seine Mission als Katechon als aufhaltende Macht gegen das Reich des Boumlsen und Ausgangspunkt zur Errettung der Welt aufzuge-ben Die bdquoletzte Etappeldquo im Kampf gegen den Antichrist werde so Maler der bdquoeschatologische Krieg des Dritten Rom gegen das Dritte Karthagoldquo den bdquoAnti-katechonldquo sein die bdquoanglo-amerikanische [] atlantische Zivilisationldquo120 Zur Propagierung der katechontischen Mission Russlands gruumlndete Maler 1999 am Institut fuumlr Philosophie der Akademie der Wissenschaften in Moskau einen bdquoBy-zantistischen Klub Katechonldquo (Vizantistskij Klub Katechon) und 2005 das bdquoPhi-losophisch-politische Zentrum sbquoNoumlrdlicher Katechonlsquoldquo das einen gleichnamigen Almanach (Severnyj Katechon) herausgibt121

Apokalyptischer Ausblick

Die Formel vom Dritten Rom und die Figur des Katechon des Aufhalters des bdquoweltweiten Boumlsenldquo sind zu Markenzeichen russischer Anti-Westler und Ver-schwoumlrungstheoretiker und ihres schrillen Szenariums eines globalen apokalyp-tischen bdquoEndkampfesldquo gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo geworden122 Unter dem Titel bdquoDie russische Doktrin Die Staatsideologie der Epoche Putinsldquo verfasste in den Jahren 2005 und 2006 ein Kollektiv nationalpatriotischer Autoren ndash unter ih-nen der bdquoByzantistldquo Arkadij Maler ndash ein uumlber 1000 Seiten langes ultrakonservati-ves und antiwestliches Manifest das auch die Unterstuumltzung hoher kirchlicher Wuumlrdentraumlger fand123 In ihrem Entwurf einer bdquoorganischen weltanschaulichen Plattformldquo fuumlr das kuumlnftige Russland behandeln die Autoren ausfuumlhrlich die bdquohis-toriosophischeldquo Konzeption vom Dritten Rom und seine Mission als Katechon gegen das bdquoHeidentumldquo des Westens124 Gefordert wird die positive Identifikation

119 Maler Duchovnaja missija 182f 185 120 Ebd 177 ndash Als Mittel im ideologischen Kampf gegen den saumlkularen Westen fordert Maler

in Analogie zur katholischen Gegenreformation eine orthodoxe konservative bdquoGegenauf-klaumlrungldquo (Kontrprosveščenie) lthttpwwwkatehonruhtmltoppolitologiaideaotkritije _polit_pravoslavijahtmgt

121 Siehe die Website lthttpwwwkatehonrugt 122 Siehe zB Galina A Morozova Tretij Rim protiv novogo mirovogo porjadka Moskva

2009 Die Formel von Dritten Rom hat laumlngst auch Schriftsteller und Maler inspiriert und scheint auch werbewirksam zu sein bdquoDrittes Romldquo nennt sich ein Verlag ein Videospiel eine Bank ein Reisebuumlro und sogar ein Kasino in Jalta Ein Schoumlnheitswettbewerb in Mos-kau vergibt alljaumlhrlich den Titel einer bdquoMiss Drittes Romldquo Judith E Kalb Russiarsquos Rome Imperial Visions Messianic Dreams 1890ndash1940 Madison Wisconsin 2008 198f Zum Katechon siehe Maria Engstroumlm bdquoContemporary Russian Messianism and New Russian Foreign Policyldquo in Contemporary Security Policy 35 (2014) 3 356ndash379

123 Russkaja doktrina Gosudarstvennaja ideologija ėpochi Putina Moskva 2016 124 Ebd 68ndash72 116ndash120 und passim

34 Michael Hagemeister

mit der Geschichte Russlands und seinen Lichtgestalten dem Heiligen Serafim von Sarov dem bdquoeschatologischen Fuumlhrer des russischen Volkes am Ende der Zeitenldquo der bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo und Stalin der dem paulinischen Kate-chon gleich die bdquoGesetzlosigkeitldquo (bezzakonie) bekaumlmpft und das bdquoFundament fuumlr eine groszlige Zukunftldquo gelegt habe125

bdquoKatechonldquo nennt sich auch ein prominent besetzter Think tank den der Oligarch und Berater Putins Konstantin Malofeev im Jahr 2015 gegruumlndet hat126 Der Milliardaumlr der sein Vermoumlgen mit einer Investmentfirma auf den Cayman Inseln gemacht hat bezeichnet sich selbst als bdquoorthodoxen Monarchistenldquo127 Er unterstuumltzt die Separatisten in der Ostukraine und unterhaumllt vielfaumlltige Verbindun-gen zu europaumlischen Rechtspopulisten wie dem Front National der FPOuml Syriza und der Lega Nord Neben dem Forum bdquoKatechonldquo betreibt Malofeev auch einen Fernsehsender mit dem programmatischen Namen bdquoZargradldquo128 (Motto bdquoDas Licht Christi erleuchtet alleldquo) dessen Chefkommentator niemand anderes ist als Aleksandr Dugin129

bdquoKatechonldquo und bdquoZargradldquo propagieren den Kampf gegen die westliche Moderne mit Bezug auf das byzantinische Erbe Russlands Im November 2014 fand in der Moskauer Manege eine Konferenz bdquoMoskau ndash das Dritte Romldquo statt130 An ihr nahmen auszliger Dugin und Malofeev auch Archimandrit Tichon und Nata-lrsquoja Naročnickaja teil eine hochrangige Diplomatin Mitglied des Izborsker Klubs und Leiterin des Pariser bdquoInstituts fuumlr Demokratie und Kooperationldquo das die oumlf-fentliche Meinung im Westen im Sinne des Kremls beeinflussen soll Tichons Film bdquoDie Lehre von Byzanzldquo sei so Naročnickaja auch eine Warnung an den Westen der seine christlichen Werte verraten habe weshalb er den glaubens-festen Migranten und ihrer Verachtung hilflos ausgeliefert sei131

Im Oktober 2009 wurde Tichons Film in Athen vor ausverkauftem Saal aufgefuumlhrt Unter denen die dem Drehbuchautor Beifall spendeten war der Philo-soph und Theologe Christos Yannaras einer der Hauptvertreter der Neoorthodo-xie und scharfer Kritiker des Westens Wie ihre russischen Gesinnungsgenossen

125 Ebd 130f 153 142ndash145 126 Mit einem Auftritt im Internet in 9 Sprachen Siehe die deutsche Version unter lthttp

katehoncomdewer-sind-wirgt 127 lthttpsdewikipediaorgwikiKonstantin_Walerjewitsch_Malofejewgt 128 Carrsquograd ist der altrussische Name fuumlr Konstantinopel 129 Auch Dugin unterhaumllt seit mehr als 25 Jahren Kontakte zu ultrakonservativen traditiona-

listischen und faschistischen Gesinnungsgenossen in Westeuropa Siehe Vladimir Ivanov Alexander Dugin und die rechtsextremen Netzwerke Fakten und Hypothesen zu den inter-nationalen Verflechtungen der russischen Neuen Rechten Stuttgart 2007

130 lthttpwwwpravoslavieru75070htmlgt 131 lthttpwwwpravoslavieru7414htmlgt ndash Fuumlr Metropolit Ilarion (Alfeev) der sich dabei

auf Dugin beruft verwandeln sich die Laumlnder Westeuropas bereits in die bdquoSphaumlre des Anti-christldquo lthttpwwwpatriarchiarudbtext3065216htmlgt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 35

verherrlichen auch die griechischen Neoorthodoxen die byzantinische Vergan-genheit und sehen in der modernen saumlkularen Gesellschaft eine Bedrohung ihrer kulturellen Identitaumlt132 Gemeinsam suchen sie der Globalisierung mit einer bdquoby-zantinischen Internationaleldquo als bdquoorthodoxer Oumlkumeneldquo entgegenzuwirken einer letztlich sakral verstandenen Gemeinschaft deren Einfluss indes weit uumlber die kirchliche Sphaumlre hinausreichen und eine transnationale Vereinigung der ortho-doxen Welt von Serbien uumlber Syrien bis Georgien und Armenien unter Fuumlhrung Moskaus schaffen soll133 Als wichtiger symbolischer Schritt auf diesem Weg wurde der Besuch von Praumlsident Putin und Patriarch Kirill des Heiligen Berges Athos einer traditionellen Hochburg antiwestlicher Opposition im Mai 2016 ge-feiert Das weltliche und das geistliche Oberhaupt Russlands ndash die bdquoSymphonia der Maumlchteldquo ndash zeigten damit so Aleksandr Dugin ihr Bekenntnis zu Byzanz und seiner Rolle als Katechon Damit anerkenne bdquounsere Rusrsquo ihre historische Bestim-mung Wir sind bereit fuumlr die Endzeitldquo134

132 Ausfuumlhrlich dazu Daniel P Payne The Revival of Political Hesychasm in Contemporary

Orthodox Thought The Political Hesychasm of John Romanides and Christos Yannaras Lanham [ua] 2011 Siehe auch Vasilios N Makrides bdquoByzantium in Contemporary Greece The Neo-Orthodox Current of Ideasldquo in David RicksPaul Magdalino (Hgg) Byzantium and the Modern Greek Identity Aldershot 1998 141ndash153 Zum griechischen Neobyzantismus unter russischem Einfluss Aleksey Kamenskikh bdquoThe Image of the Second Rome through the Prism of the Thirdrdquo in Teresa Obolevich [ua] (Hgg) Russian Thought in Europe Reception Polemics Development Krakoacutew 2013 13ndash22 ndash Antimo-derne und antiwestliche Stroumlmungen in den vom orthodoxen Christentum gepraumlgten Kultu-ren haben der Religionswissenschaftler Makrides und der Slavist Uffelmann vor einigen Jahren als Desiderat der Forschung benannt Vasilios N MakridesDirk Uffelmann bdquoStudying Eastern Orthodox Anti-Westernism The Need for a Comparative Research Agendaldquo in Jonathan SuttonWil van den Bercken (Hgg) Orthodox Christianity and Contemporary Europe Leuven [ua] 2003 87ndash120 Seitdem haben Makrides und die Politikwissenschaftlerin Stoumlckl eine Reihe einschlaumlgiger Arbeiten vorgelegt in denen or-thodoxe Alternativen zu westlichen philosophischen und politischen Konzepten untersucht werden Vasilios N Makrides bdquoOrthodoxes Cristentum und Moderne ndash Inkompatibilitaumlt oder langfristige Anpassungldquo in Una Sancta 2011 1 15ndash30 ders bdquoOumlstliches orthodo-xes Christentum und Saumlkularitaumlt Ein Vergleich mit dem lateinischen Christentumldquo in Transit 47 (2015) 59ndash75 Kristina Stoumlckl bdquoModernity and its Critique in Twentieth Cen-tury Russian Orthodox Thoughtldquo in Studies in East European Thought 58 (2006) 243ndash269 dies Community after Totalitarianism The Russian Orthodox Intellectual Tradition and the Philosophical Discourse of Political Modernity Frankfurt aM [ua] 2008

133 Dazu gehoumlrt auch die Verwirklichung des jahrhundertealten Traums der Wiedererrichtung des Kreuzes auf der Hagia Sophia Siehe Egor Cholmogorov Russkij proekt restavracija buduščego Moskva 2005 283 Der Verfasser Mitglied des Expertenteams des Izborsker Klubs ist Begruumlnder der Doktrin der bdquoAtomaren Orthodoxieldquo siehe Fn 74

134 Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Traditionldquo

ZUM AUTOR

Michael Hagemeister geb 1951 in EllwangenJagst Studium der Slavistik Ge-schichte Germanistik und Philosophie in Basel und MarburgLahn Promotion mit einer Arbeit uumlber den russischen Philosophen Nikolaj Fedorov Wissenschaft-licher Mitarbeiter am Slawischen Seminar in Marburg Gastprofessor am Seminar fuumlr Komparatistik der Universitaumlt Innsbruck Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lotman-Institut fuumlr russische und sowjetische Kultur der Ruhr-Universitaumlt Bo-chum am Lehrstuhl fuumlr Geschichte Osteuropas der Europa-Universitaumlt Viadrina Frankfurt (Oder) an den Historischen Seminaren der Universitaumlten Basel Duumlssel-dorf und Bochum Vertretung der Professuren fuumlr Geschichte Osteuropas an der Ludwig-Maximilians Universitaumlt Muumlnchen und an der Europa-Universitaumlt Frank-furt (Oder)

Forschungen zur russischen Philosophie und Geistesgeschichte zum utopischen und apokalyptischen Denken in Russland zum russischen Rechtsextremismus und Antisemitismus sowie insbesondere zu den Protokollen der Weisen von Zion und ihrem Herausgeber Sergej Nilus Publikationen ua Die Neue Menschheit Biopolitische Utopien in Russland (hg mit Boris Groys) Frankfurt aM 2005 The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimensions (hg mit Birgit Menzel und Bernice Rosenthal) Muumlnchen 2012 Die Fiktion von der juumldischen Weltver-schwoumlrung Zu Text und Kontext der bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo (hg mit Eva Horn) Goumlttingen 2012 Die bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo vor Gericht Der Berner Prozess und die bdquoantisemitische Internationaleldquo in der Zwischen-kriegszeit Chronik Dokumente und Kommentare Zuumlrich (im Druck)

ERFURTER VORTRAumlGE ZUR KULTURGESCHICHTE DES ORTHODOXEN CHRISTENTUMS Reihenherausgeber Vasilios N Makrides

Heft 1 Thomas Bremer Konfrontation statt Oumlkumene Zur kirchlichen Situation in der Ukraine Erfurt 2001

Heft 2 Gerhard Podskalsky Zur Hermeneutik des theologischen Ost-West-

Gespraumlchs in historischer Perspektive Erfurt 2002 Heft 3 Karl Christian Felmy Warum und zu welchem Behufe treiben wir

Ostkirchenkunde Erfurt 2003 Heft 4 Wassilios Klein bdquoTatarenjoch ndash татарское игоldquo Beobachtungen zur

Wahrnehmung des Islam im eurasischen Raum Erfurt 2005 Heft 5 Stamatios D Gerogiorgakis Zeitphilosophie im Mittelalter Byzantinische

und lateinische Vorstellungen Erfurt 2006 Heft 6 Heinz Ohme Das Oumlkumenische Patriarchat von Konstantinopel und die

tuumlrkische Religionspolitik Erfurt 2007 Heft 7 Alexander Agadjanian Russian Orthodox Vision of Human Rights Recent

Documents and Their Significance Erfurt 2008 Heft 8 Christos Yannaras Wem gehoumlrt die griechische Antike Erfurt 2009 Heft 9 Joachim Willems Religions- und Ethikunterricht in Russland ndash Was

wollen Staat und Kirche Zur Einfuumlhrung des neuen Schulfaches bdquoGrundlagen der religioumlsen Kulturen und der weltlichen Ethikldquo Erfurt 2010

Heft 10 Chris Hann Eastern Christianity and Western Social Theory Erfurt 2011 Heft 11 Jennifer Wasmuth Akademische Theologie im zaristischen Russland in

ihrer Bedeutung fuumlr die neuere orthodoxe Theologie Erfurt 2012 Heft 12 Anna Briskina-Muumlller Auf der Suche nach der bdquoHesychialdquo Paisij

Veličkovskij (1722ndash1794) und sein Leben fuumlr die bdquoPhilokalieldquo Erfurt 2014

Heft 13 Vladimir Cvetković From ldquoMerciful Angelrdquo to ldquoFortress Europerdquo The

Perception of Europe and the West in Contemporary Serbian Orthodoxy Erfurt 2015

Heft 14 Stefan G Reichelt Lebenslinien Nikolaj A Berdjaev (1874ndash1948) und Sergij N Bulgakov (1871ndash1944) im Westen ndash Eine Wuumlrdigung Erfurt 2015

Heft 15 Michael Hagemeister Der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo ndash bdquoNeobyzantismusldquo

und bdquopolitischer Hesychasmusldquo im postsowjetischen Russland Erfurt 2016

Alle Hefte der vorliegenden Schriftenreihe koumlnnen unter folgendem Link kostenlos heruntergeladen werden URL httpswwwuni-erfurtdereligionswissenschaftprofessur-orthodoxes-christentumveroeffentlichungenerfurter-vortraege-zur-kulturgeschichte-des-orthodoxen-christentums

Page 24: Michael Hagemeister FINAL - uni-erfurt.de · doziert Tichon, während er das antike Kons tantinopel computeranimiert auferste- hen lässt. Das prosperierende Impe rium erregte freilich

24 Michael Hagemeister

Grundlegung erfahren hatte am Ende des 14 Jahrhunderts zu einem entscheiden-den politischen und kulturellen Faktor nicht nur in Byzanz sondern in ganz Ost-europa und lieferte unter anderem das ideologische Fundament zur Konsolidie-rung der nachmongolischen Rusʼ Im Streit zwischen dem bdquorationalistischen Hu-manismus und dem kontemplativen Hesychasmus [hellip] entschied Byzanz uumlber sein geistiges Schicksal Das Land blieb bis zuletzt mittelalterlich Den Hesy-chasten gelang es zu Wortfuumlhrern der oumlffentlichen Meinung in Byzanz zu werden die letzte schoumlpferische Synthese seiner traditionellen Kultur zu entwickeln und eine breite kulturelle und gesellschaftliche Bewegung in Gang zu setzen die zu einer Erneuerung des Mittelalters und zu einer Wiederbelebung der Orthodoxie im ganzen oumlstlichen Europa fuumlhrteldquo78

Im Anschluss an das von seinem Lehrer Dmitrij Lichačev entwickelte Kon-zept einer bdquoVorrenaissanceldquo (Predvozroždenie)79 spricht Prochorov von einer bdquovorrenaissancelichen Gegenreformationldquo (predvozroždenčeskaja kontrreforma-cija) und einer bdquoOrthodoxen Renaissanceldquo (Pravoslavnoe Vozroždenie)80 Ge-meint war damit dass die Palamiten (Hesychasten) den Sieg der Barlaamiten ver-hindern konnten und auf die Schriften der antiken Kirchenvaumlter zuruumlckgreifend ein mystisch-kontemplatives Aumlquivalent zum rationalistischen und saumlkularen Hu-manismus geschaffen haumltten Auf diese Weise habe der drohende Uumlbergang der byzantinischen und osteuropaumlischen christlich gepraumlgten Kultur von der bdquoVorre-naissanceldquo zu einer auf heidnisch-antiken Wurzeln beruhenden Renaissance ab-gewendet werden koumlnnen81 Auf die bdquoVorrenaissanceldquo sei ein bdquoNeues Mittelalterldquo gefolgt das in der bdquoHeiligen Rusʼldquo um die Wende zum 15 Jahrhundert seinen Houmlhepunkt erreicht habe Ihm verdanke Russland seine Groumlszlige und die russische Kultur ihre bdquoUniversalitaumltldquo und bdquoGeistigkeitldquo82

Bemerkenswert ist dass der sowjetische Wissenschaftler die beiden ideolo-gischen Lager mit traditionellen (neo-)slavophilen Wertungsoppositionen wie sie bereits bei Florenskij und Losev begegnet sind verbindet und dabei deutlich seine 78 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 4 79 Vor allem in seinem Buch Kulʼtura Rusi vremeni Andreja Rubleva i Epifanija Premudrogo

MoskvaLeningrad 1962 80 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 8 Siehe auch ders Nekogda ne narod a nyne narod

Božijhellip Drevnjaja Rusʼ kak istoriko-kulʼturnyj fenomen Sankt-Peterburg 2010 133ndash157 81 So auch Igorʼ Ėkonomcev bdquoDie osteuropaumlische sbquoVorrenaissancelsquo ist nicht die erste Stufe

zur saumlkularisierten Renaissance vom abendlaumlndischen Typ sondern ihre Antithese Der geistige und kulturelle Aufschwung in Osteuropa war die wahre volle und eindeutige Re-naissance die sich grundlegend von der westlichen Renaissance unterschied Sie haumltte sich niemals in eine Renaissance westlicher Praumlgung verwandeln koumlnnenldquo Ėkonomcev bdquoDer Hesychasmusldquo 764 vgl ders bdquoIsichazmldquo 69 Diese (osteuropaumlische) Renaissance so Ėkonomcev an anderer Stelle sei ungleich bdquoerhabener geistiger und reinerldquo gewesen als bdquodie westeuropaumlische Renaissance mit ihrer krankhaften Disharmonie zwischen Glauben und Vernunft Geist und Leib die trotz allem gespieltem Optimismus ein Gefuumlhl der Aus-weglosigkeit und Verzweiflung hinterlaumlsstldquo Igumen Ioann Ėkonomcev bdquoVizantinizm Kirillo-Mefodievo nasledie i kreščenie Rusildquo in ders Pravoslavie Vizantija Rossija Sbornik statej Moskva 1992 7ndash22 hier 18

82 Prochorov bdquoKulʼturnoe svoeobrazieldquo 9 15

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 25

Sympathie zeigt Die byzantinischen Humanisten werden von ihm als kalte Ratio-nalisten dargestellt die in der Hoffnung auf militaumlrische Unterstuumltzung durch den katholischen Westen im Kampf gegen die Osmanen bereit gewesen seien den eigenen Glauben zu opfern83 Die Hesychasten hingegen haumltten so Prochorov den Westen realistischer eingeschaumltzt und auf Hilfe von Seiten der orthodoxen Staaten gehofft Im entscheidenden Moment haumltten nicht die bdquoWestler-Huma-nistenldquo (zapadniki-gumanisty) mit ihren bdquokalten Uumlberlegungenldquo (cholodnymi rassuždenijami) beim Volk Gehoumlr gefunden sondern die Hesychasten mit ihren bdquoheiszligen Gebetenldquo (gorjačimi molitvami)84

Mit seiner Apologie eines bdquowiederbelebtenldquo Mittelalters und einer bdquoOrtho-doxen Renaissanceldquo die alle Bereiche des politischen gesellschaftlichen und kul-turellen Lebens gepraumlgt habe und deren Kern der Hesychasmus gewesen sei stieszlig Prochorov bei seinen sowjetischen Kollegen auf Kritik So sah Apollon Kuzmin im Palamismus eine desintegrative Erscheinung weshalb er Prochorovs positive Bewertung der Hesychasten bei der bdquoWiedergeburtldquo der Rusʼ zuruumlckwies85 Aumlhn-lich argumentierte Gennadij Litavrin Die Palamiten seien diejenigen gewesen die eine unrealistische Einschaumltzung der politischen Lage gehabt haumltten Sie haumltten die Bedrohung durch die Tuumlrken nicht erkannt und stattdessen die Illusion verbreitet die Feinde zum Christentum bekehren und zu neuen Untertanen ma-chen zu koumlnnen Der Palamismus sei eine bdquoIdeologie der Demutldquo und habe eine bdquounheilvolle Rolle in der Geschichte des Kampfes gegen die tuumlrkische Aggres-sionldquo gespielt86 Michail Sjuzjumov sprach sogar vom bdquoasozialen Charakter des Palamismusldquo der den aufkommenden humanistischen Tendenzen gegenuumlber feindlich gewesen und zur bdquoIdeologie der Reaktionldquo in Byzanz geworden sei87 Auf Ablehnung stieszlig Prochorov auch im Ausland Valerij Lepachin kritisierte den Begriff bdquopolitischer Hesychasmusldquo als unzulaumlssige Verbindung weltlicher und geistlicher Sphaumlren damit verliere der Hesychasmus seinen wesentlichen Sinn-gehalt88 Fuumlr den in Berkeley lehrenden Philologen Viktor Živov schlieszliglich war

83 Ebd 12 84 Ebd 13 ndash An anderer Stelle betont Prochorov den Gegensatz zwischen den abstrakten

bdquoausgedachtenldquo philosophischen Konstruktionen des europaumlischen Idealismus und der ganzheitlichen kontemplativ-spekulativen Welterfahrung der griechisch-byzantinischen Philosophie Prochorov bdquoĖtničeskaja integracijaldquo 90f An Florenskijs Renaissance-Kritik (etwa in Ikonostas 1922) erinnert auch Prochorovs Verweis auf den euklidischen Raum und den Perspektivismus der humanistischen Weltwahrnehmung mit seiner Illusion der Unendlichkeit Prochorov bdquoIsichazmldquo 94

85 Apollon Kuzmin bdquoCerkovʼ i svetskaja vlastʼ v ėpochu Kulikovskoj bitvyldquo in Voprosy naučnogo ateizma 37 (1988) 90ndash99

86 Gennadij Litavrin bdquoVizantija v period graždanskoj vojny i dviženija Zilotov (1341ndash1355 gg)ldquo in Sergej Skazkin (Hg) Istorija Vizantii Bd 3 Moskva 1967 135ndash160 hier 158

87 Michail Sjuzjumov bdquoFilosofija i bogoslovieldquo in ebd 234ndash256 hier 248f 88 Valerij Lepachin bdquoUmnoe delanie (o soderžanie i granicach ponjatija sbquoisichazmlsquo)ldquo in

Vestnik Russkogo Christianskogo Dviženija 164 1992 5ndash32 hier 23

26 Michael Hagemeister

bdquopolitischer Hesychasmusldquo bdquokonzeptuelles Unkraut [sornjak] das man so schnell wie moumlglich ausrottenldquo solle89

Fast ein halbes Jahrhundert nach ihrer ersten Veroumlffentlichung wurde Pro-chorovs Konzept eines bdquopolitischen Hesychasmusldquo von seinem Schuumller Vladimir Petrunin wieder aufgegriffen und aktualisiert In der 2009 erschienenen Monogra-phie bdquoDer politische Hesychasmus und seine Traditionen in der Sozialkonzeption des Moskauer Patriarchatsldquo90 stellt Petrunin das sogenannte bdquoNichtgehorsamkeits-prinzipldquo (princip nepovinovenija) wie es in den von der Moskauer Bischofssyno-de im August 2000 verabschiedeten bdquoGrundlagen der Sozialkonzeption der Rus-sischen Orthodoxen Kircheldquo formuliert worden ist91 in eine Tradition die er bis auf die bdquopolitischen Hesychastenldquo im Byzanz des 14 und 15 Jahrhunderts zu-ruumlckzufuumlhren sucht Immer wieder zieht Petrunin Parallelen zwischen dem spaumlten Byzanz und dem postsowjetischen Russland Hatten die Byzantiner den Hesy-chasmus als Reaktion auf den Humanismus des Westens hervorgebracht so diene heute die Sozialkonzeption der Abwehr des westlichen Saumlkularismus Liberalis-mus und Kapitalismus Damals wie heute stuumlnden der kirchliche Heilsauftrag und die Verteidigung des Glaubens uumlber den Interessen des Staates selbst ndash wie das Beispiel von Byzanz zeige ndash um den Preis seines Untergangs Ebenso wie die byzantinischen Hesychasten den mit dem Westen kollaborierenden Herrschern die Gefolgschaft im Kampf gegen die Osmanen verweigert haumltten da sie die bdquoReinheit ihres Glaubensldquo eher bdquounter einem tuumlrkischen Turban als unter der lateinischen Tiaraldquo gewahrt sahen92 rufe die Sozialkonzeption die Kirche heute dazu auf der Staatsmacht den Gehorsam zu verweigern sollte diese bdquodie ortho-doxen Glaumlubigen zum Abfall von Christus und Seiner Kirche sowie zu suumlndhaften

89 Viktor Živov bdquoVidenija sveta i problemy russkogo srednevekovogo isichazmaldquo in Lidov

(Hg) Ierotopija 350ndash367 hier 363 359 90 Vladimir Petrunin Političeskij isichazm i ego tradicii v socialʼnoj koncepcii Moskovskogo

Patriarchata Sankt-Peterburg 2009 91 Osnovy socialrsquonoj koncepcii Russkoj Pravoslavnoj Cerkvi III5 lthttpwwwpatriarchia

rudbtext141422htmlgt Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo wird von den meisten Inter-preten als ein bemerkenswertes Umdenken in der Kirchenpolitik angesehen hatte doch die Russische Orthodoxe Kirche unter Patriarch Sergij in einer prekaumlren Lage 1927 Loyalitaumlt gegenuumlber dem Sowjetstaat gefordert Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo war auch eine wichtige Voraussetzung fuumlr die Vereinigung der Auslandskirche mit dem Moskauer Pa-triarchat Zur Sozialkonzeption insgesamt Vasilios N Makrides bdquoDie politische Aufgabe der Kirche Bemerkungen anhand der Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kir-cheldquo in Irene DingelChristiane Tietz (Hgg) Die politische Aufgabe von Religion Per-spektiven der drei monotheistischen Religionen Goumlttingen 2011 219ndash243

92 Petrunin Političeskij isichazm 66f 120 Es handelt sich um eine zeitgenoumlssische Losung Siehe Halina Evert-Kappesowa bdquoLa tiare ou le turbanldquo in Byzantinoslavica 14 (1953) 245ndash257 ndash Auch Aleksandr Nevskij (1220ndash1263) zog eine Verstaumlndigung mit den Mongo-len einer Union mit Rom vor die ihm Papst Innozenz IV im Jahr 1248 angeboten hatte und wandte sich stattdessen gegen die bdquoLateinerldquo Heutige Anti-Westler feiern den Heili-gen der Russischen Orthodoxen Kirche deshalb auch als bdquoersten Eurasierldquo

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 27

und der Seele abtraumlglichen Taten noumltigenldquo93 Die Sozialkonzeption hat fuumlr Petru-nin nur einen moumlglichen Sinn Falls Russlands politische Elite sich weiterhin dem liberalen Wertekanon des Westens verschreibe und Russlands bdquoEigenartldquo (samo-bytnostʼ) als bdquoorthodoxe Zivilisationldquo bestreite94 muumlsse die Kirche ndash wie einst in Byzanz ndash dem Staat die Loyalitaumlt aufkuumlndigen und das Volk zum Widerstand auf-rufen

Es ist ganz offensichtlich dass die Prozesse der Globalisierung und Saumlkularisierung eng miteinander verbunden sind So wie einst die byzantinischen Hesychasten ist heute die Russische Kirche mit der westlichen Zivilisation konfrontiert die nach der Weltherrschaft trachtet war fruumlher der Katholizismus deren Grundlage so ist es jetzt der saumlkulare Humanismus [hellip] Waumlhrend sie [die westliche Welt MH] damals fuumlr die Hesychasten mit Rom gleichgesetzt wurde so verkoumlrpert heute das kosmopolitische New York den Westen Indem sie Liberalismus und Saumlkularisie-rung abwehrt tritt die Kirche auch gegen die politischen und wirtschaftlichen Hegemoniebestrebungen des Westens auf und stellt so ihr Bestreben unter Beweis die zivilisatorische Eigenstaumlndigkeit Russlands wieder herzustellen Wie schon vor 600 Jahren im Byzantinischen Imperium so ist auch heute in Russland allein die Kirche ein ernstzunehmender und gut organisierter Gegner des Westens und seiner saumlkularen Werte [hellip] Sollte Russland weiter den Weg der Saumlkularisierung be-schreiten so koumlnnte damit fuumlr die Kirche der gefaumlhrliche Praumlzedenzfall geschaffen werden in dem sie von ihrem Recht Gebrauch machen muumlsste das Volk zu zivilem Ungehorsam aufzurufen95

In seinem Vorwort nannte Prochorov das Buch seines Schuumllers eine bdquoWarnung an unseren Staat unsere saumlkulare Gesellschaft an uns alleldquo96 Wie das spaumlte Byzanz unter dem bdquoDruck aus dem Westenldquo gestanden habe ndash dem die Herrscher und die bdquoHumanistenldquo schlieszliglich nachgegeben haumltten ndash so laufe auch das postkommu-nistische Russland Gefahr dem bdquoDruck des Liberalismus und der Globalisierungldquo nachzugeben Allein die Orthodoxe Kirche habe sich damals wie heute als bdquoFes-tungldquo erwiesen faumlhig diesem bdquozersetzenden Einflussldquo Widerstand zu leisten97

Petrunins Buch das mit dem Segen von Metropolit Ilarion (Grigorij Al-feev)98 erschienen war stieszlig bei westlichen Forschern auf Skepsis und Ableh-nung So kritisierte Kristina Stoumlckl die unhistorische Interpretation und forcierte Aktualisierung der philosophischen theologischen und politischen Kontroversen des 14 Jahrhunderts sowie die einseitige konservative Interpretation der Sozial-konzeption Hesychasmus werde in dem Kirchendokument ebenso wenig erwaumlhnt

93 Osnovy socialrsquonoj koncepcii 94 Petrunin Političeskij isichazm 81 95 Ebd 122f 96 Ebd 5 97 Ebd 98 Zu jener Zeit Bischof von Wien und Oumlsterreich heute Leiter des Auszligenamtes des Moskau-

er Patriarchats und scharfer Kritiker des bdquomilitanten Saumlkularismusldquo des Westens Siehe auch lthttpazbykaruxristianstvo-pered-vyzovom-voinstvuyushhego-sekulyariz ma-2gt

28 Michael Hagemeister

wie der Untergang von Byzanz99 Klaus Buchenau warf Petrunin vor er bdquoverfor-m[e] und ideologisier[e] die urspruumlnglichen Motive des hesychastischen Moumlnch-tums bis zur Unkenntlichkeitldquo100 Und Viktor Živov der bereits Prochorovs Kon-zept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo als bdquoUnkrautldquo bezeichnet hatte sah in Petru-nins Buch ein Beispiel dafuumlr wie dieses sich bdquospontan und schaumldlichldquo ausbreite Die von Petrunin konstruierte bdquophantastische Genealogie des politischen Hesy-chasmusldquo beruhe so Živov auf einer bdquoMischung aus Einseitigkeit und Unwissen-heitldquo Weder sei der bdquotuumlrkische Turbanldquo fuumlr den Patriarchen attraktiv gewesen noch sei am Widerstand gegen die Union irgendetwas spezifisch bdquoHesychasti-schesldquo Petrunin habe ein bdquoPhantomldquo geschaffen dessen angebliche Verbindung mit der Sozialkonzeption man nicht weiter zu verfolgen brauche101

bdquoNeobyzantismusldquo Das Dritte Rom ndash der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo

Eine eigenwillige Interpretation des Hesychasmus und seine Wendung gegen den Westen stammen von Aleksandr Dugin dem Fuumlhrer der bdquoeurasischenldquo Bewegung und einflussreichsten Vordenker der Neuen Rechten in Russland Der polyglotte und belesene Autodidakt der nie eine akademische Ausbildung genossen hat war Gruumlnder der Partei der Nationalbolschewisten Berater des Vorsitzenden der Du-ma und des Generalstabs sowie von 2008 bis 2014 Professor fuumlr Soziologie an der renommierten Moskauer Lomonosov-Universitaumlt und Direktor des dortigen bdquoZentrums fuumlr Konservatismusstudienldquo Seit Anfang der 1990er Jahre verbreitet er mit graphomanem Eifer seine politischen und bdquometaphysischenldquo Botschaften in einer inzwischen kaum noch uumlberschaubaren Zahl von Publikationen102 und Web-Artikeln in mehreren Sprachen sowie durch spektakulaumlre Auftritte in staats-nahen Medien103 99 Kristina Stoumlckl bdquoPolitical Hesychasm Vladimir Petruninrsquos Neo-Byzantine Interpretation

of the Social Doctrine of the Russian Orthodox Churchldquo in Studies in East European Thought 62 (2010) 125ndash133

100 Klaus Buchenau Auf russischen Spuren Orthodoxe Antiwestler in Serbien 1850ndash1945 Wiesbaden 2011 480 Anm 2

101 Živov bdquoVidenija svetaldquo 364f ndash Von der Kritik offenbar unbeeindruckt verschaumlrfte Petru-nin noch seine Position So sprach er 2012 in einem Vortrag uumlber die gesellschaftliche und politische Wirkung der hesychastischen Gebetspraxis Nach dem Fall von Byzanz sei das bdquoJesusgebet faktisch zu einem sbquopolitischen Gebetlsquoldquo geworden das auf die bdquoVerwandlung [preobraženie] der orthodoxen Oumlkumeneldquo ausgerichtet gewesen sei und das bdquoPhaumlnomen der Heiligen Rusrsquoldquo hervorgebracht habe lthttpsynergia-isarup=8604gt

102 Zuletzt in der bislang fuumlnf Baumlnde umfassenden Reihe bdquoNoomachijaldquo (2014ndash2015) einer hochambitioumlsen letztlich aber manichaumlisch-schematischen Beschreibung der bdquoSuche nach dem Logosldquo in den ndash von Dugin essenzialistisch aufgefassten ndash bdquoWeltkulturenldquo

103 Auch die Literatur zu Dugin ist kaum noch uumlberschaubar Siehe zB Alexander Houmlllwerth Das sakrale eurasische Imperium des Aleksandr Dugin Eine Diskursanalyse zum post-sowjetischen russischen Rechtsextremismus Stuttgart 2007 Stefan Wiederkehr Die eurasische Bewegung Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwi-schenkriegszeit und im postsowjetischen Russland Koumlln [ua] 2007 227ndash261 Anton

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 29

Dugin deutet den Hesychasmus im Rahmen des sogenannten bdquointegralen Traditionalismusldquo einer antimodernen Denkrichtung die im ersten Drittel des 20 Jahrhunderts in Frankreich und Italien entstand und in Reneacute Gueacutenon (1886ndash1951) und Julius Evola (1898ndash1974) ihre bekanntesten (und auch fuumlr Dugin wichtigsten) Vertreter hat104 Ihre Lehre besagt dass alle Religionen ungeachtet ihrer histori-schen und regionalen Auspraumlgungen in ihrem esoterischen nur dem Eingeweih-ten zugaumlnglichen Kern eine gemeinsame urspruumlngliche Wahrheit teilen und als philosophia perennis tradieren das Wissen um die Goumlttlichkeit und den Zugang zu ihr Dieses sakrale und initiatorische Wissen sei im Verlauf der westlichen Mo-derne insbesondere durch die Aufklaumlrung verlorengegangen in traditionellen Gesellschaften (China Indien islamische Welt) jedoch bewahrt geblieben105

Auch die Orthodoxie so Dugin habe im Gegensatz zu Katholizismus und Protestantismus bdquodie Treue zum esoterischen Kernldquo bewahrt naumlmlich in ihrer mystischen Unterstroumlmung dem Hesychasmus106 In der Kanonisierung des Gre-gorios Palamas durch die Ostkirche bei gleichzeitiger Verdammung des Humanis-ten Barlaam sieht Dugin das Bekenntnis zum bdquognostisch-realistischen Geist der orthodoxen Esoterikldquo Ganz im Sinn des Traditionalismus deutet er die psycho-physische Uumlbung der Hesychasten das bdquogeistige Tunldquo als Verfahren der bdquoInitia-tionldquo und das Endziel der bdquoVerklaumlrungldquo und bdquoVergoumlttlichungldquo als bdquoalchemistische Verwandlung des Leibesldquo (alchimičeskoe preobraženie tela) Dadurch wuumlrden der bdquoDualismus von Geist und Materie Leib und Seeleldquo sowie die bdquoGrenzen der Individualitaumltldquo ndash charakteristisch fuumlr den bdquorein exoterischen Mystizismusldquo des Westens ndash aufgehoben107 Die bdquoTradition der hesychastischen Esoterikldquo sei die

Shekhovtsov bdquoThe Palingenetic Thrust of Russian Neo-Eurasianism Ideas of Rebirth in Aleksandr Duginrsquos Worldviewldquo in Totalitarian Movements and Political Religions 9 (2008) 491ndash506 Mark Sedgwick bdquoOccult Dissident Culture The Case of Aleksandr Du-ginldquo in Birgit Menzel [ua] (Hgg) The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimen-sions MuumlnchenBerlin 2012 273ndash292 Schmid Technologien der Seele 210ndash220

104 Aleksandr Dugin Filosofija tradicionalizma Moskva 2002 Zum Traditionalismus siehe das Standardwerk von Mark Sedgwick Against the Modern World Traditionalism and the Secret Intellectual History of the Twentieth Century OxfordNew York 2004 zu Dugin 221ndash237 Vgl auch Christopher DL Johnson The Globalization of the Jesus Prayer Con-testing Contemplation London New York 2010 70ndash73

105 Aumlhnliche Gedanken entwickelte Pavel Florenskij bereits 19081909 in seinem Vortrag bdquoObščečelovečeskie korni idealizmaldquo in dem er die bdquoEsoterikldquo der Philosophie Platons und seiner Nachfolger in der bdquoallgemeinmenschlichenldquo mystisch-magischen Weltauffas-sung der bdquoVolksseeleldquo wurzeln laumlsst

106 Das Folgende nach Aleksandr Dugin bdquoOboženie preestestvennejšeeldquo in Milyj angel 1 1991 56ndash59

107 Das Konzept der bdquoInitiationldquo und die Unterscheidung von bdquoesoterischldquo und bdquoexoterischldquo sind zentral fuumlr die Anhaumlnger des Traditionalismus siehe Sedgwick Against the Modern World 265 ndash Als Mitglied des okkultistischen und faschistischen Južinskij-Kreises machte Dugin in Moskaus bdquomystischem Untergrundldquo in den 1980er Jahren selbst Entgrenzugser-fahrungen mit Hilfe sexualmagischer Praktiken und bewusstseinserweiternder Drogen Bei einem Teil der orthodoxen Glaumlubigen stoumlszligt seine Esoterik denn auch auf Misstrauen und

30 Michael Hagemeister

bdquoSeele der russischen Orthodoxieldquo und habe in Serafim von Sarov ihren bdquoletzten leuchtendsten Vertreterldquo gefunden

Der Hesychasmus gehoumlre zum traditionellen Erbe von Byzanz das Russ-land angetreten habe als es zum Dritten Rom und zum Zentrum der orthodoxen Welt geworden sei bdquoWir sindldquo so Dugin bdquobyzantinisch in unserer Seele unseren Wurzeln und in unserer Identitaumltldquo108

Unser stabilstes Fundament ist Byzanz [hellip] Russland ist Byzanz [hellip] Unsere For-mel lautet Der Westen ist das Boumlse Byzanz das Gute Alles Schlechte das uumlber Byzanz geschrieben wurde ist eine Luumlge Das sind lediglich Winkelzuumlge im ideolo-gischen Kampf von Seiten des Westens [hellip] Jeder Russe muss wissen Byzanz ist das reine Gute Jeder der etwas anderes behauptet ist ein Feind [hellip] Wer Byzanz kritisiert ist ein Feind des russischen Volkes Das muss unser ehernes Prinzip sein [hellip] Byzanz ist der absolute Orientierungspunkt des russischen Projekts109

Damit sind Russlands Ort und Mission in der bdquohistoriosophischenldquo Deutung des Weltgeschehens bestimmt Nach Dugin wird die Geschichte der Menschheit be-herrscht vom bdquookkulten planetarischen Ringenldquo zweier antagonistischer Maumlchte dem bdquogroszligen Krieg der Kontinenteldquo Land gegen Meer Behemoth gegen Levia-than die organischen bodenstaumlndigen und traditionalistischen bdquoTellurokratienldquo des eurasischen Ostens gegen die wurzel- und seelenlosen materialistischen bdquoTha-lassokratienldquo des angloamerikanischen Westens das apokalyptische Tier aus dem Meer (Offb 13 1-10)110 Die USA als bdquoQuintessenz des Westensldquo und New York als moderne Hure Babylon (Offb 17 und 18) sind das Reich des Antichrist eine chimaumlrisch-antiorganische transplantierte Zivilisation die keine sakrale Tradi-tion besitze ihre Selbsterhebung zu bdquoGottes neuem Israelldquo und bdquoNeuem Zionldquo ndash gemaumlszlig der anglo-amerikanischen Interpretation der Substitutionslehre ndash deutet Dugin als besonders perfiden Taumluschungsversuch des bdquowestlichen Antichristldquo Das Jahr der Entdeckung Amerikas (1492 ist nach der altrussisch-byzantinischen

offene Ablehnung Fuumlr den Sektenexperten des Moskauer Patriarchats ist Dugin ein bdquoge-faumlhrlicher Feindldquo der die bdquoOrthodoxie in Kabbalistik umzuschmelzenldquo versuche Andrej Kuraev Cerkovrsquo v mire ljudej Moskva 2006 142

108 Aleksandr Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Tradition Duginrsquos Guidelineldquo lthttpswwwyoutubecomwatchv=m0RIa61eZDggt

109 Aleksandr Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo in ders Russkaja Veščrsquo Očerki nacionalrsquonoj filosofii Bd 1 Moskva 2001 69ndash76 hier 70ndash72 (Hervorhebungen im Original) Der Be-griff bdquoByzantismusldquo (vizantizm) ndash im Unterschied zum negativ konnotierten bdquoByzantinis-musldquo ndash als Bezeichnung eines dem europaumlischen entgegengesetzten Kulturtypus der auf den Prinzipien von Orthodoxie und Selbstherrschaft beruht geht auf den konservativen Philosophen Konstantin Leontrsquoev (1831ndash1891) und sein Buch Vizantizm i slavjanstvo (1875) zuruumlck

110 Auch fuumlr den von Dugin verehrten Heidegger waren die Seemaumlchte Groszligbritannien und Amerika nicht Teil der abendlaumlndischen Tradition sondern im Gegensatz zum restlichen Europa wurzellos und sinnleer Der Antagonismus von Land und Meer die kategorische Unterscheidung von Freund und Feind sowie das Konzept des Katechon gehen auf Carl Schmitt zuruumlck als dessen Schuumller Dugin sich bezeichnet Siehe auch Fn 41

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 31

Weltaumlra das Jahr 7000 nach dem chiliadischen Weltwochenschema also der sieb-te Tag der Schoumlpfung) verweise ebenso auf den Endzeitcharakter der bdquoNeuen Weltldquo wie die bdquosakrale Geographieldquo nach der das Paradies im Osten die Houmllle aber das bdquoLand des Todesldquo im Westen zu suchen seien111

Dem Antichrist entgegen stehe seit jeher der Katechon dessen bdquoletzter Hortldquo bis ans Ende der Zeit die Heilige Rusrsquo das Dritte Rom sei112 In der petrini-schen Epoche als die Hauptstadt in die bdquonoumlrdlichen Suumlmpfeldquo in die bdquoGespenster-stadtldquo Petersburg verlegt und das Patriarchat abgeschafft wurde haumltten allein die Altglaumlubigen den Geist von Byzanz den Katechon bewahrt zweihundert Jahre lang sei der Weg frei gewesen fuumlr das zerstoumlrerische Wirken des Antichrist Erst die sowjetische Periode habe eine bdquomystische Ruumlckkehr zum Byzantismusldquo be-deutet indem die Bolschewiki das heilige Moskau wieder zur Hauptstadt erklaumlr-ten das Patriarchat wiederherstellten die Ausbeuter als Klasse vernichteten und dem Westen auf allen Gebieten Widerstand boten Im bdquoroten Byzantismusldquo der Dritten Internationale sei der Katechon zuruumlckgekehrt113

Um seine Mission zur Erloumlsung der Menschheit auch kuumlnftig zu erfuumlllen muumlsse das Dritte Rom nach dem Zerfall der Sowjetunion114 nunmehr ein groszligkon-tinentales sakral fundiertes bdquoEurasisches Imperiumldquo errichten gegen den Erz-feind die materialistische universalistische alles nivellierende Zivilisation des Westens als der Verkoumlrperung des bdquoweltweiten Boumlsenldquo (mirovoe zlo) gegen Libe-ralismus Individualismus Globalismus Egalitarismus sowie die bdquomondialisti-scheldquo Konzeption der Menschenrechte115 Verbuumlndete im bevorstehenden apoka-lyptischen bdquoEndkampfldquo (von Dugin stets deutsch geschrieben) werden all jene sein die den Bezug zum bdquoSakralenldquo noch nicht verloren haben russische Altglaumlu-bige ultraorthodoxe antizionistische Juden europaumlische Traditionalisten sowie jene bdquoanti-atlantischenldquo islamistischen Fundamentalisten die in den USA den Dajjacircl den falschen Messias und Antichrist erkennen gegen den die Retter-gestalt des Mahdicirc zu Felde ziehen wird116 111 Aleksandr Dugin Absoljutnaja Rodina Puti Absoljuta Metafizika Blagoj Vesti Misterii

Evrazii Moskva 1999 645ndash670 112 Ebd 378ndash395 493ndash521 113 Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo 74ndash76 Siehe auch ders bdquoKatechon i revoljucijaldquo in ders

Tampliery proletariata Nacional-bolrsquoševizm i iniciacija Moskva 1997 52ndash59 ndash Die mes-sianische Identifizierung des Dritten Rom mit der Dritten Internationale reicht bis ins Gruumlndungsjahr der Komintern (1919) zuruumlck Beide so der slawophile Philosoph und An-haumlnger des imjaslavie Valerian Muravrsquoev (1885ndash1930) in einem Brief vom 6 Januar 1920 an Lev Trockij seien Ausdruck der Suche des russischen Volkes und der Intelligencija nach einem Reich der Wahrheit und Gerechtigkeit Valerian Muravrsquoev Sočinenija Bd 2 Moskva 2011 352f Weitere Belege bei Emanuel Sarkisyanz Russland und der Messianis-mus des Orients Tuumlbingen 1955 196 Mikhail Agursky Third Rome National Bolshevism in the USSR Boulder Co 1987

114 Damals sah ein Journalist bdquoauf den Ruinen des Imperiumsldquo das Dritte Rom in Gefahr zu einem Land der Dritten Welt zu werden Andrej Fadin bdquoTretij Rim v tretrsquoem mire Razmy-šlenija na ruinach imperiildquo in Nezavisimaja gazeta 1291991

115 [Aleksandr Dugin] bdquoLibo-my libo-ničtoldquo in Ėlementy 8 19961997 1ndash4 hier 2 116 [Aleksandr Dugin] bdquoIdeologija Mirovogo Pravitelrsquostvaldquo in Ėlementy 2 1992 1f

32 Michael Hagemeister

Das Dritte Rom als Zentrum des eurasischen bdquoEuro-Sowjetischen Imperiumsldquo Titelbild der von Aleksandr Dugin herausgegebenen Zeitschrift bdquoElemente Eurasische Rundschauldquo (1992) Dugins Werk mit seiner provokanten Mischung esoterischer antimoderner und antiwestlicher Motive findet besonders unter jungen Intellektuellen Anklang und Nachahmer so etwa bei dem promovierten Philosophen und selbstproklamierten bdquoorthodoxen Metaphysikerldquo Arkadij Maler einem vehementen Propagandisten einer bdquopolitischen Orthodoxieldquo (političeskoe Pravoslavie) und fuumlhrenden Ideolo-gen der bdquoneobyzantinischenldquo Doktrin Obwohl sich Maler von Dugin distan-ziert117 beschwoumlrt auch er die eschatologische bdquogeistige Mission des Dritten Romldquo die es von Byzanz geerbt habe und die in seiner bdquozentralen katechontischen Rolleldquo bestehe dem Kampf gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo des bdquogottlosen Wes-tensldquo118 Russische Politik koumlnne deshalb nicht anders als imperial sein und muumlsse ihren Einfluss auf den gesamten Planeten ausdehnen Wie Dugin sieht auch Maler die Bolschewiki in dieser Tradition als sie Moskau zur Hauptstadt des bdquoRoten

117 In den spaumlten 1990er Jahren gehoumlrte Maler der vaumlterlicherseits juumldischer Abstammung ist

zusammen mit Dugin und Ėduard Limonov zur Fuumlhrungsriege der Nationalbolschewisti-schen Partei und schrieb fuumlr die Parteizeitung Limonka sich selbst charakterisierte er als bdquorotbraunen Zionistenldquo Nach seiner Konversion zur Orthodoxie trennte er sich 1999 von Dugin und kritisierte dessen esoterischen Traditionalismus aus einer ultraorthodoxen Posi-tion Dugin wiederum warf Maler vor ihn zu plagiieren

118 Arkadij Maler Duchovnaja missija Tretrsquoego Rima Moskva 2005 bes 134ndash136 170ndash206 Siehe auch ders bdquoIdeologija Vizantizmaldquo in Severnij Katechon 1 (2005) 7ndash49 bdquoNeovi-zantizm kak novyj bolrsquošoj stilrsquoldquo in Aleksej Nilogov (Hg) Kto segodnja delaet filosofiju v Rossii Moskva 2007 110ndash124

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 33

Imperiumsldquo machten und dieses zur bdquoabsoluten Antithese des Westensldquo erklaumlrten zum bdquoTraumlger der planetarischen Mission der Befreiung der Welt aus den sbquoFesseln des Kapitalslsquoldquo119 Das Dritte Rom sei zeitweise in die Dritte Internationale trans-formiert worden ohne jedoch seine Mission als Katechon als aufhaltende Macht gegen das Reich des Boumlsen und Ausgangspunkt zur Errettung der Welt aufzuge-ben Die bdquoletzte Etappeldquo im Kampf gegen den Antichrist werde so Maler der bdquoeschatologische Krieg des Dritten Rom gegen das Dritte Karthagoldquo den bdquoAnti-katechonldquo sein die bdquoanglo-amerikanische [] atlantische Zivilisationldquo120 Zur Propagierung der katechontischen Mission Russlands gruumlndete Maler 1999 am Institut fuumlr Philosophie der Akademie der Wissenschaften in Moskau einen bdquoBy-zantistischen Klub Katechonldquo (Vizantistskij Klub Katechon) und 2005 das bdquoPhi-losophisch-politische Zentrum sbquoNoumlrdlicher Katechonlsquoldquo das einen gleichnamigen Almanach (Severnyj Katechon) herausgibt121

Apokalyptischer Ausblick

Die Formel vom Dritten Rom und die Figur des Katechon des Aufhalters des bdquoweltweiten Boumlsenldquo sind zu Markenzeichen russischer Anti-Westler und Ver-schwoumlrungstheoretiker und ihres schrillen Szenariums eines globalen apokalyp-tischen bdquoEndkampfesldquo gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo geworden122 Unter dem Titel bdquoDie russische Doktrin Die Staatsideologie der Epoche Putinsldquo verfasste in den Jahren 2005 und 2006 ein Kollektiv nationalpatriotischer Autoren ndash unter ih-nen der bdquoByzantistldquo Arkadij Maler ndash ein uumlber 1000 Seiten langes ultrakonservati-ves und antiwestliches Manifest das auch die Unterstuumltzung hoher kirchlicher Wuumlrdentraumlger fand123 In ihrem Entwurf einer bdquoorganischen weltanschaulichen Plattformldquo fuumlr das kuumlnftige Russland behandeln die Autoren ausfuumlhrlich die bdquohis-toriosophischeldquo Konzeption vom Dritten Rom und seine Mission als Katechon gegen das bdquoHeidentumldquo des Westens124 Gefordert wird die positive Identifikation

119 Maler Duchovnaja missija 182f 185 120 Ebd 177 ndash Als Mittel im ideologischen Kampf gegen den saumlkularen Westen fordert Maler

in Analogie zur katholischen Gegenreformation eine orthodoxe konservative bdquoGegenauf-klaumlrungldquo (Kontrprosveščenie) lthttpwwwkatehonruhtmltoppolitologiaideaotkritije _polit_pravoslavijahtmgt

121 Siehe die Website lthttpwwwkatehonrugt 122 Siehe zB Galina A Morozova Tretij Rim protiv novogo mirovogo porjadka Moskva

2009 Die Formel von Dritten Rom hat laumlngst auch Schriftsteller und Maler inspiriert und scheint auch werbewirksam zu sein bdquoDrittes Romldquo nennt sich ein Verlag ein Videospiel eine Bank ein Reisebuumlro und sogar ein Kasino in Jalta Ein Schoumlnheitswettbewerb in Mos-kau vergibt alljaumlhrlich den Titel einer bdquoMiss Drittes Romldquo Judith E Kalb Russiarsquos Rome Imperial Visions Messianic Dreams 1890ndash1940 Madison Wisconsin 2008 198f Zum Katechon siehe Maria Engstroumlm bdquoContemporary Russian Messianism and New Russian Foreign Policyldquo in Contemporary Security Policy 35 (2014) 3 356ndash379

123 Russkaja doktrina Gosudarstvennaja ideologija ėpochi Putina Moskva 2016 124 Ebd 68ndash72 116ndash120 und passim

34 Michael Hagemeister

mit der Geschichte Russlands und seinen Lichtgestalten dem Heiligen Serafim von Sarov dem bdquoeschatologischen Fuumlhrer des russischen Volkes am Ende der Zeitenldquo der bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo und Stalin der dem paulinischen Kate-chon gleich die bdquoGesetzlosigkeitldquo (bezzakonie) bekaumlmpft und das bdquoFundament fuumlr eine groszlige Zukunftldquo gelegt habe125

bdquoKatechonldquo nennt sich auch ein prominent besetzter Think tank den der Oligarch und Berater Putins Konstantin Malofeev im Jahr 2015 gegruumlndet hat126 Der Milliardaumlr der sein Vermoumlgen mit einer Investmentfirma auf den Cayman Inseln gemacht hat bezeichnet sich selbst als bdquoorthodoxen Monarchistenldquo127 Er unterstuumltzt die Separatisten in der Ostukraine und unterhaumllt vielfaumlltige Verbindun-gen zu europaumlischen Rechtspopulisten wie dem Front National der FPOuml Syriza und der Lega Nord Neben dem Forum bdquoKatechonldquo betreibt Malofeev auch einen Fernsehsender mit dem programmatischen Namen bdquoZargradldquo128 (Motto bdquoDas Licht Christi erleuchtet alleldquo) dessen Chefkommentator niemand anderes ist als Aleksandr Dugin129

bdquoKatechonldquo und bdquoZargradldquo propagieren den Kampf gegen die westliche Moderne mit Bezug auf das byzantinische Erbe Russlands Im November 2014 fand in der Moskauer Manege eine Konferenz bdquoMoskau ndash das Dritte Romldquo statt130 An ihr nahmen auszliger Dugin und Malofeev auch Archimandrit Tichon und Nata-lrsquoja Naročnickaja teil eine hochrangige Diplomatin Mitglied des Izborsker Klubs und Leiterin des Pariser bdquoInstituts fuumlr Demokratie und Kooperationldquo das die oumlf-fentliche Meinung im Westen im Sinne des Kremls beeinflussen soll Tichons Film bdquoDie Lehre von Byzanzldquo sei so Naročnickaja auch eine Warnung an den Westen der seine christlichen Werte verraten habe weshalb er den glaubens-festen Migranten und ihrer Verachtung hilflos ausgeliefert sei131

Im Oktober 2009 wurde Tichons Film in Athen vor ausverkauftem Saal aufgefuumlhrt Unter denen die dem Drehbuchautor Beifall spendeten war der Philo-soph und Theologe Christos Yannaras einer der Hauptvertreter der Neoorthodo-xie und scharfer Kritiker des Westens Wie ihre russischen Gesinnungsgenossen

125 Ebd 130f 153 142ndash145 126 Mit einem Auftritt im Internet in 9 Sprachen Siehe die deutsche Version unter lthttp

katehoncomdewer-sind-wirgt 127 lthttpsdewikipediaorgwikiKonstantin_Walerjewitsch_Malofejewgt 128 Carrsquograd ist der altrussische Name fuumlr Konstantinopel 129 Auch Dugin unterhaumllt seit mehr als 25 Jahren Kontakte zu ultrakonservativen traditiona-

listischen und faschistischen Gesinnungsgenossen in Westeuropa Siehe Vladimir Ivanov Alexander Dugin und die rechtsextremen Netzwerke Fakten und Hypothesen zu den inter-nationalen Verflechtungen der russischen Neuen Rechten Stuttgart 2007

130 lthttpwwwpravoslavieru75070htmlgt 131 lthttpwwwpravoslavieru7414htmlgt ndash Fuumlr Metropolit Ilarion (Alfeev) der sich dabei

auf Dugin beruft verwandeln sich die Laumlnder Westeuropas bereits in die bdquoSphaumlre des Anti-christldquo lthttpwwwpatriarchiarudbtext3065216htmlgt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 35

verherrlichen auch die griechischen Neoorthodoxen die byzantinische Vergan-genheit und sehen in der modernen saumlkularen Gesellschaft eine Bedrohung ihrer kulturellen Identitaumlt132 Gemeinsam suchen sie der Globalisierung mit einer bdquoby-zantinischen Internationaleldquo als bdquoorthodoxer Oumlkumeneldquo entgegenzuwirken einer letztlich sakral verstandenen Gemeinschaft deren Einfluss indes weit uumlber die kirchliche Sphaumlre hinausreichen und eine transnationale Vereinigung der ortho-doxen Welt von Serbien uumlber Syrien bis Georgien und Armenien unter Fuumlhrung Moskaus schaffen soll133 Als wichtiger symbolischer Schritt auf diesem Weg wurde der Besuch von Praumlsident Putin und Patriarch Kirill des Heiligen Berges Athos einer traditionellen Hochburg antiwestlicher Opposition im Mai 2016 ge-feiert Das weltliche und das geistliche Oberhaupt Russlands ndash die bdquoSymphonia der Maumlchteldquo ndash zeigten damit so Aleksandr Dugin ihr Bekenntnis zu Byzanz und seiner Rolle als Katechon Damit anerkenne bdquounsere Rusrsquo ihre historische Bestim-mung Wir sind bereit fuumlr die Endzeitldquo134

132 Ausfuumlhrlich dazu Daniel P Payne The Revival of Political Hesychasm in Contemporary

Orthodox Thought The Political Hesychasm of John Romanides and Christos Yannaras Lanham [ua] 2011 Siehe auch Vasilios N Makrides bdquoByzantium in Contemporary Greece The Neo-Orthodox Current of Ideasldquo in David RicksPaul Magdalino (Hgg) Byzantium and the Modern Greek Identity Aldershot 1998 141ndash153 Zum griechischen Neobyzantismus unter russischem Einfluss Aleksey Kamenskikh bdquoThe Image of the Second Rome through the Prism of the Thirdrdquo in Teresa Obolevich [ua] (Hgg) Russian Thought in Europe Reception Polemics Development Krakoacutew 2013 13ndash22 ndash Antimo-derne und antiwestliche Stroumlmungen in den vom orthodoxen Christentum gepraumlgten Kultu-ren haben der Religionswissenschaftler Makrides und der Slavist Uffelmann vor einigen Jahren als Desiderat der Forschung benannt Vasilios N MakridesDirk Uffelmann bdquoStudying Eastern Orthodox Anti-Westernism The Need for a Comparative Research Agendaldquo in Jonathan SuttonWil van den Bercken (Hgg) Orthodox Christianity and Contemporary Europe Leuven [ua] 2003 87ndash120 Seitdem haben Makrides und die Politikwissenschaftlerin Stoumlckl eine Reihe einschlaumlgiger Arbeiten vorgelegt in denen or-thodoxe Alternativen zu westlichen philosophischen und politischen Konzepten untersucht werden Vasilios N Makrides bdquoOrthodoxes Cristentum und Moderne ndash Inkompatibilitaumlt oder langfristige Anpassungldquo in Una Sancta 2011 1 15ndash30 ders bdquoOumlstliches orthodo-xes Christentum und Saumlkularitaumlt Ein Vergleich mit dem lateinischen Christentumldquo in Transit 47 (2015) 59ndash75 Kristina Stoumlckl bdquoModernity and its Critique in Twentieth Cen-tury Russian Orthodox Thoughtldquo in Studies in East European Thought 58 (2006) 243ndash269 dies Community after Totalitarianism The Russian Orthodox Intellectual Tradition and the Philosophical Discourse of Political Modernity Frankfurt aM [ua] 2008

133 Dazu gehoumlrt auch die Verwirklichung des jahrhundertealten Traums der Wiedererrichtung des Kreuzes auf der Hagia Sophia Siehe Egor Cholmogorov Russkij proekt restavracija buduščego Moskva 2005 283 Der Verfasser Mitglied des Expertenteams des Izborsker Klubs ist Begruumlnder der Doktrin der bdquoAtomaren Orthodoxieldquo siehe Fn 74

134 Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Traditionldquo

ZUM AUTOR

Michael Hagemeister geb 1951 in EllwangenJagst Studium der Slavistik Ge-schichte Germanistik und Philosophie in Basel und MarburgLahn Promotion mit einer Arbeit uumlber den russischen Philosophen Nikolaj Fedorov Wissenschaft-licher Mitarbeiter am Slawischen Seminar in Marburg Gastprofessor am Seminar fuumlr Komparatistik der Universitaumlt Innsbruck Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lotman-Institut fuumlr russische und sowjetische Kultur der Ruhr-Universitaumlt Bo-chum am Lehrstuhl fuumlr Geschichte Osteuropas der Europa-Universitaumlt Viadrina Frankfurt (Oder) an den Historischen Seminaren der Universitaumlten Basel Duumlssel-dorf und Bochum Vertretung der Professuren fuumlr Geschichte Osteuropas an der Ludwig-Maximilians Universitaumlt Muumlnchen und an der Europa-Universitaumlt Frank-furt (Oder)

Forschungen zur russischen Philosophie und Geistesgeschichte zum utopischen und apokalyptischen Denken in Russland zum russischen Rechtsextremismus und Antisemitismus sowie insbesondere zu den Protokollen der Weisen von Zion und ihrem Herausgeber Sergej Nilus Publikationen ua Die Neue Menschheit Biopolitische Utopien in Russland (hg mit Boris Groys) Frankfurt aM 2005 The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimensions (hg mit Birgit Menzel und Bernice Rosenthal) Muumlnchen 2012 Die Fiktion von der juumldischen Weltver-schwoumlrung Zu Text und Kontext der bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo (hg mit Eva Horn) Goumlttingen 2012 Die bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo vor Gericht Der Berner Prozess und die bdquoantisemitische Internationaleldquo in der Zwischen-kriegszeit Chronik Dokumente und Kommentare Zuumlrich (im Druck)

ERFURTER VORTRAumlGE ZUR KULTURGESCHICHTE DES ORTHODOXEN CHRISTENTUMS Reihenherausgeber Vasilios N Makrides

Heft 1 Thomas Bremer Konfrontation statt Oumlkumene Zur kirchlichen Situation in der Ukraine Erfurt 2001

Heft 2 Gerhard Podskalsky Zur Hermeneutik des theologischen Ost-West-

Gespraumlchs in historischer Perspektive Erfurt 2002 Heft 3 Karl Christian Felmy Warum und zu welchem Behufe treiben wir

Ostkirchenkunde Erfurt 2003 Heft 4 Wassilios Klein bdquoTatarenjoch ndash татарское игоldquo Beobachtungen zur

Wahrnehmung des Islam im eurasischen Raum Erfurt 2005 Heft 5 Stamatios D Gerogiorgakis Zeitphilosophie im Mittelalter Byzantinische

und lateinische Vorstellungen Erfurt 2006 Heft 6 Heinz Ohme Das Oumlkumenische Patriarchat von Konstantinopel und die

tuumlrkische Religionspolitik Erfurt 2007 Heft 7 Alexander Agadjanian Russian Orthodox Vision of Human Rights Recent

Documents and Their Significance Erfurt 2008 Heft 8 Christos Yannaras Wem gehoumlrt die griechische Antike Erfurt 2009 Heft 9 Joachim Willems Religions- und Ethikunterricht in Russland ndash Was

wollen Staat und Kirche Zur Einfuumlhrung des neuen Schulfaches bdquoGrundlagen der religioumlsen Kulturen und der weltlichen Ethikldquo Erfurt 2010

Heft 10 Chris Hann Eastern Christianity and Western Social Theory Erfurt 2011 Heft 11 Jennifer Wasmuth Akademische Theologie im zaristischen Russland in

ihrer Bedeutung fuumlr die neuere orthodoxe Theologie Erfurt 2012 Heft 12 Anna Briskina-Muumlller Auf der Suche nach der bdquoHesychialdquo Paisij

Veličkovskij (1722ndash1794) und sein Leben fuumlr die bdquoPhilokalieldquo Erfurt 2014

Heft 13 Vladimir Cvetković From ldquoMerciful Angelrdquo to ldquoFortress Europerdquo The

Perception of Europe and the West in Contemporary Serbian Orthodoxy Erfurt 2015

Heft 14 Stefan G Reichelt Lebenslinien Nikolaj A Berdjaev (1874ndash1948) und Sergij N Bulgakov (1871ndash1944) im Westen ndash Eine Wuumlrdigung Erfurt 2015

Heft 15 Michael Hagemeister Der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo ndash bdquoNeobyzantismusldquo

und bdquopolitischer Hesychasmusldquo im postsowjetischen Russland Erfurt 2016

Alle Hefte der vorliegenden Schriftenreihe koumlnnen unter folgendem Link kostenlos heruntergeladen werden URL httpswwwuni-erfurtdereligionswissenschaftprofessur-orthodoxes-christentumveroeffentlichungenerfurter-vortraege-zur-kulturgeschichte-des-orthodoxen-christentums

Page 25: Michael Hagemeister FINAL - uni-erfurt.de · doziert Tichon, während er das antike Kons tantinopel computeranimiert auferste- hen lässt. Das prosperierende Impe rium erregte freilich

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 25

Sympathie zeigt Die byzantinischen Humanisten werden von ihm als kalte Ratio-nalisten dargestellt die in der Hoffnung auf militaumlrische Unterstuumltzung durch den katholischen Westen im Kampf gegen die Osmanen bereit gewesen seien den eigenen Glauben zu opfern83 Die Hesychasten hingegen haumltten so Prochorov den Westen realistischer eingeschaumltzt und auf Hilfe von Seiten der orthodoxen Staaten gehofft Im entscheidenden Moment haumltten nicht die bdquoWestler-Huma-nistenldquo (zapadniki-gumanisty) mit ihren bdquokalten Uumlberlegungenldquo (cholodnymi rassuždenijami) beim Volk Gehoumlr gefunden sondern die Hesychasten mit ihren bdquoheiszligen Gebetenldquo (gorjačimi molitvami)84

Mit seiner Apologie eines bdquowiederbelebtenldquo Mittelalters und einer bdquoOrtho-doxen Renaissanceldquo die alle Bereiche des politischen gesellschaftlichen und kul-turellen Lebens gepraumlgt habe und deren Kern der Hesychasmus gewesen sei stieszlig Prochorov bei seinen sowjetischen Kollegen auf Kritik So sah Apollon Kuzmin im Palamismus eine desintegrative Erscheinung weshalb er Prochorovs positive Bewertung der Hesychasten bei der bdquoWiedergeburtldquo der Rusʼ zuruumlckwies85 Aumlhn-lich argumentierte Gennadij Litavrin Die Palamiten seien diejenigen gewesen die eine unrealistische Einschaumltzung der politischen Lage gehabt haumltten Sie haumltten die Bedrohung durch die Tuumlrken nicht erkannt und stattdessen die Illusion verbreitet die Feinde zum Christentum bekehren und zu neuen Untertanen ma-chen zu koumlnnen Der Palamismus sei eine bdquoIdeologie der Demutldquo und habe eine bdquounheilvolle Rolle in der Geschichte des Kampfes gegen die tuumlrkische Aggres-sionldquo gespielt86 Michail Sjuzjumov sprach sogar vom bdquoasozialen Charakter des Palamismusldquo der den aufkommenden humanistischen Tendenzen gegenuumlber feindlich gewesen und zur bdquoIdeologie der Reaktionldquo in Byzanz geworden sei87 Auf Ablehnung stieszlig Prochorov auch im Ausland Valerij Lepachin kritisierte den Begriff bdquopolitischer Hesychasmusldquo als unzulaumlssige Verbindung weltlicher und geistlicher Sphaumlren damit verliere der Hesychasmus seinen wesentlichen Sinn-gehalt88 Fuumlr den in Berkeley lehrenden Philologen Viktor Živov schlieszliglich war

83 Ebd 12 84 Ebd 13 ndash An anderer Stelle betont Prochorov den Gegensatz zwischen den abstrakten

bdquoausgedachtenldquo philosophischen Konstruktionen des europaumlischen Idealismus und der ganzheitlichen kontemplativ-spekulativen Welterfahrung der griechisch-byzantinischen Philosophie Prochorov bdquoĖtničeskaja integracijaldquo 90f An Florenskijs Renaissance-Kritik (etwa in Ikonostas 1922) erinnert auch Prochorovs Verweis auf den euklidischen Raum und den Perspektivismus der humanistischen Weltwahrnehmung mit seiner Illusion der Unendlichkeit Prochorov bdquoIsichazmldquo 94

85 Apollon Kuzmin bdquoCerkovʼ i svetskaja vlastʼ v ėpochu Kulikovskoj bitvyldquo in Voprosy naučnogo ateizma 37 (1988) 90ndash99

86 Gennadij Litavrin bdquoVizantija v period graždanskoj vojny i dviženija Zilotov (1341ndash1355 gg)ldquo in Sergej Skazkin (Hg) Istorija Vizantii Bd 3 Moskva 1967 135ndash160 hier 158

87 Michail Sjuzjumov bdquoFilosofija i bogoslovieldquo in ebd 234ndash256 hier 248f 88 Valerij Lepachin bdquoUmnoe delanie (o soderžanie i granicach ponjatija sbquoisichazmlsquo)ldquo in

Vestnik Russkogo Christianskogo Dviženija 164 1992 5ndash32 hier 23

26 Michael Hagemeister

bdquopolitischer Hesychasmusldquo bdquokonzeptuelles Unkraut [sornjak] das man so schnell wie moumlglich ausrottenldquo solle89

Fast ein halbes Jahrhundert nach ihrer ersten Veroumlffentlichung wurde Pro-chorovs Konzept eines bdquopolitischen Hesychasmusldquo von seinem Schuumller Vladimir Petrunin wieder aufgegriffen und aktualisiert In der 2009 erschienenen Monogra-phie bdquoDer politische Hesychasmus und seine Traditionen in der Sozialkonzeption des Moskauer Patriarchatsldquo90 stellt Petrunin das sogenannte bdquoNichtgehorsamkeits-prinzipldquo (princip nepovinovenija) wie es in den von der Moskauer Bischofssyno-de im August 2000 verabschiedeten bdquoGrundlagen der Sozialkonzeption der Rus-sischen Orthodoxen Kircheldquo formuliert worden ist91 in eine Tradition die er bis auf die bdquopolitischen Hesychastenldquo im Byzanz des 14 und 15 Jahrhunderts zu-ruumlckzufuumlhren sucht Immer wieder zieht Petrunin Parallelen zwischen dem spaumlten Byzanz und dem postsowjetischen Russland Hatten die Byzantiner den Hesy-chasmus als Reaktion auf den Humanismus des Westens hervorgebracht so diene heute die Sozialkonzeption der Abwehr des westlichen Saumlkularismus Liberalis-mus und Kapitalismus Damals wie heute stuumlnden der kirchliche Heilsauftrag und die Verteidigung des Glaubens uumlber den Interessen des Staates selbst ndash wie das Beispiel von Byzanz zeige ndash um den Preis seines Untergangs Ebenso wie die byzantinischen Hesychasten den mit dem Westen kollaborierenden Herrschern die Gefolgschaft im Kampf gegen die Osmanen verweigert haumltten da sie die bdquoReinheit ihres Glaubensldquo eher bdquounter einem tuumlrkischen Turban als unter der lateinischen Tiaraldquo gewahrt sahen92 rufe die Sozialkonzeption die Kirche heute dazu auf der Staatsmacht den Gehorsam zu verweigern sollte diese bdquodie ortho-doxen Glaumlubigen zum Abfall von Christus und Seiner Kirche sowie zu suumlndhaften

89 Viktor Živov bdquoVidenija sveta i problemy russkogo srednevekovogo isichazmaldquo in Lidov

(Hg) Ierotopija 350ndash367 hier 363 359 90 Vladimir Petrunin Političeskij isichazm i ego tradicii v socialʼnoj koncepcii Moskovskogo

Patriarchata Sankt-Peterburg 2009 91 Osnovy socialrsquonoj koncepcii Russkoj Pravoslavnoj Cerkvi III5 lthttpwwwpatriarchia

rudbtext141422htmlgt Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo wird von den meisten Inter-preten als ein bemerkenswertes Umdenken in der Kirchenpolitik angesehen hatte doch die Russische Orthodoxe Kirche unter Patriarch Sergij in einer prekaumlren Lage 1927 Loyalitaumlt gegenuumlber dem Sowjetstaat gefordert Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo war auch eine wichtige Voraussetzung fuumlr die Vereinigung der Auslandskirche mit dem Moskauer Pa-triarchat Zur Sozialkonzeption insgesamt Vasilios N Makrides bdquoDie politische Aufgabe der Kirche Bemerkungen anhand der Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kir-cheldquo in Irene DingelChristiane Tietz (Hgg) Die politische Aufgabe von Religion Per-spektiven der drei monotheistischen Religionen Goumlttingen 2011 219ndash243

92 Petrunin Političeskij isichazm 66f 120 Es handelt sich um eine zeitgenoumlssische Losung Siehe Halina Evert-Kappesowa bdquoLa tiare ou le turbanldquo in Byzantinoslavica 14 (1953) 245ndash257 ndash Auch Aleksandr Nevskij (1220ndash1263) zog eine Verstaumlndigung mit den Mongo-len einer Union mit Rom vor die ihm Papst Innozenz IV im Jahr 1248 angeboten hatte und wandte sich stattdessen gegen die bdquoLateinerldquo Heutige Anti-Westler feiern den Heili-gen der Russischen Orthodoxen Kirche deshalb auch als bdquoersten Eurasierldquo

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 27

und der Seele abtraumlglichen Taten noumltigenldquo93 Die Sozialkonzeption hat fuumlr Petru-nin nur einen moumlglichen Sinn Falls Russlands politische Elite sich weiterhin dem liberalen Wertekanon des Westens verschreibe und Russlands bdquoEigenartldquo (samo-bytnostʼ) als bdquoorthodoxe Zivilisationldquo bestreite94 muumlsse die Kirche ndash wie einst in Byzanz ndash dem Staat die Loyalitaumlt aufkuumlndigen und das Volk zum Widerstand auf-rufen

Es ist ganz offensichtlich dass die Prozesse der Globalisierung und Saumlkularisierung eng miteinander verbunden sind So wie einst die byzantinischen Hesychasten ist heute die Russische Kirche mit der westlichen Zivilisation konfrontiert die nach der Weltherrschaft trachtet war fruumlher der Katholizismus deren Grundlage so ist es jetzt der saumlkulare Humanismus [hellip] Waumlhrend sie [die westliche Welt MH] damals fuumlr die Hesychasten mit Rom gleichgesetzt wurde so verkoumlrpert heute das kosmopolitische New York den Westen Indem sie Liberalismus und Saumlkularisie-rung abwehrt tritt die Kirche auch gegen die politischen und wirtschaftlichen Hegemoniebestrebungen des Westens auf und stellt so ihr Bestreben unter Beweis die zivilisatorische Eigenstaumlndigkeit Russlands wieder herzustellen Wie schon vor 600 Jahren im Byzantinischen Imperium so ist auch heute in Russland allein die Kirche ein ernstzunehmender und gut organisierter Gegner des Westens und seiner saumlkularen Werte [hellip] Sollte Russland weiter den Weg der Saumlkularisierung be-schreiten so koumlnnte damit fuumlr die Kirche der gefaumlhrliche Praumlzedenzfall geschaffen werden in dem sie von ihrem Recht Gebrauch machen muumlsste das Volk zu zivilem Ungehorsam aufzurufen95

In seinem Vorwort nannte Prochorov das Buch seines Schuumllers eine bdquoWarnung an unseren Staat unsere saumlkulare Gesellschaft an uns alleldquo96 Wie das spaumlte Byzanz unter dem bdquoDruck aus dem Westenldquo gestanden habe ndash dem die Herrscher und die bdquoHumanistenldquo schlieszliglich nachgegeben haumltten ndash so laufe auch das postkommu-nistische Russland Gefahr dem bdquoDruck des Liberalismus und der Globalisierungldquo nachzugeben Allein die Orthodoxe Kirche habe sich damals wie heute als bdquoFes-tungldquo erwiesen faumlhig diesem bdquozersetzenden Einflussldquo Widerstand zu leisten97

Petrunins Buch das mit dem Segen von Metropolit Ilarion (Grigorij Al-feev)98 erschienen war stieszlig bei westlichen Forschern auf Skepsis und Ableh-nung So kritisierte Kristina Stoumlckl die unhistorische Interpretation und forcierte Aktualisierung der philosophischen theologischen und politischen Kontroversen des 14 Jahrhunderts sowie die einseitige konservative Interpretation der Sozial-konzeption Hesychasmus werde in dem Kirchendokument ebenso wenig erwaumlhnt

93 Osnovy socialrsquonoj koncepcii 94 Petrunin Političeskij isichazm 81 95 Ebd 122f 96 Ebd 5 97 Ebd 98 Zu jener Zeit Bischof von Wien und Oumlsterreich heute Leiter des Auszligenamtes des Moskau-

er Patriarchats und scharfer Kritiker des bdquomilitanten Saumlkularismusldquo des Westens Siehe auch lthttpazbykaruxristianstvo-pered-vyzovom-voinstvuyushhego-sekulyariz ma-2gt

28 Michael Hagemeister

wie der Untergang von Byzanz99 Klaus Buchenau warf Petrunin vor er bdquoverfor-m[e] und ideologisier[e] die urspruumlnglichen Motive des hesychastischen Moumlnch-tums bis zur Unkenntlichkeitldquo100 Und Viktor Živov der bereits Prochorovs Kon-zept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo als bdquoUnkrautldquo bezeichnet hatte sah in Petru-nins Buch ein Beispiel dafuumlr wie dieses sich bdquospontan und schaumldlichldquo ausbreite Die von Petrunin konstruierte bdquophantastische Genealogie des politischen Hesy-chasmusldquo beruhe so Živov auf einer bdquoMischung aus Einseitigkeit und Unwissen-heitldquo Weder sei der bdquotuumlrkische Turbanldquo fuumlr den Patriarchen attraktiv gewesen noch sei am Widerstand gegen die Union irgendetwas spezifisch bdquoHesychasti-schesldquo Petrunin habe ein bdquoPhantomldquo geschaffen dessen angebliche Verbindung mit der Sozialkonzeption man nicht weiter zu verfolgen brauche101

bdquoNeobyzantismusldquo Das Dritte Rom ndash der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo

Eine eigenwillige Interpretation des Hesychasmus und seine Wendung gegen den Westen stammen von Aleksandr Dugin dem Fuumlhrer der bdquoeurasischenldquo Bewegung und einflussreichsten Vordenker der Neuen Rechten in Russland Der polyglotte und belesene Autodidakt der nie eine akademische Ausbildung genossen hat war Gruumlnder der Partei der Nationalbolschewisten Berater des Vorsitzenden der Du-ma und des Generalstabs sowie von 2008 bis 2014 Professor fuumlr Soziologie an der renommierten Moskauer Lomonosov-Universitaumlt und Direktor des dortigen bdquoZentrums fuumlr Konservatismusstudienldquo Seit Anfang der 1990er Jahre verbreitet er mit graphomanem Eifer seine politischen und bdquometaphysischenldquo Botschaften in einer inzwischen kaum noch uumlberschaubaren Zahl von Publikationen102 und Web-Artikeln in mehreren Sprachen sowie durch spektakulaumlre Auftritte in staats-nahen Medien103 99 Kristina Stoumlckl bdquoPolitical Hesychasm Vladimir Petruninrsquos Neo-Byzantine Interpretation

of the Social Doctrine of the Russian Orthodox Churchldquo in Studies in East European Thought 62 (2010) 125ndash133

100 Klaus Buchenau Auf russischen Spuren Orthodoxe Antiwestler in Serbien 1850ndash1945 Wiesbaden 2011 480 Anm 2

101 Živov bdquoVidenija svetaldquo 364f ndash Von der Kritik offenbar unbeeindruckt verschaumlrfte Petru-nin noch seine Position So sprach er 2012 in einem Vortrag uumlber die gesellschaftliche und politische Wirkung der hesychastischen Gebetspraxis Nach dem Fall von Byzanz sei das bdquoJesusgebet faktisch zu einem sbquopolitischen Gebetlsquoldquo geworden das auf die bdquoVerwandlung [preobraženie] der orthodoxen Oumlkumeneldquo ausgerichtet gewesen sei und das bdquoPhaumlnomen der Heiligen Rusrsquoldquo hervorgebracht habe lthttpsynergia-isarup=8604gt

102 Zuletzt in der bislang fuumlnf Baumlnde umfassenden Reihe bdquoNoomachijaldquo (2014ndash2015) einer hochambitioumlsen letztlich aber manichaumlisch-schematischen Beschreibung der bdquoSuche nach dem Logosldquo in den ndash von Dugin essenzialistisch aufgefassten ndash bdquoWeltkulturenldquo

103 Auch die Literatur zu Dugin ist kaum noch uumlberschaubar Siehe zB Alexander Houmlllwerth Das sakrale eurasische Imperium des Aleksandr Dugin Eine Diskursanalyse zum post-sowjetischen russischen Rechtsextremismus Stuttgart 2007 Stefan Wiederkehr Die eurasische Bewegung Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwi-schenkriegszeit und im postsowjetischen Russland Koumlln [ua] 2007 227ndash261 Anton

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 29

Dugin deutet den Hesychasmus im Rahmen des sogenannten bdquointegralen Traditionalismusldquo einer antimodernen Denkrichtung die im ersten Drittel des 20 Jahrhunderts in Frankreich und Italien entstand und in Reneacute Gueacutenon (1886ndash1951) und Julius Evola (1898ndash1974) ihre bekanntesten (und auch fuumlr Dugin wichtigsten) Vertreter hat104 Ihre Lehre besagt dass alle Religionen ungeachtet ihrer histori-schen und regionalen Auspraumlgungen in ihrem esoterischen nur dem Eingeweih-ten zugaumlnglichen Kern eine gemeinsame urspruumlngliche Wahrheit teilen und als philosophia perennis tradieren das Wissen um die Goumlttlichkeit und den Zugang zu ihr Dieses sakrale und initiatorische Wissen sei im Verlauf der westlichen Mo-derne insbesondere durch die Aufklaumlrung verlorengegangen in traditionellen Gesellschaften (China Indien islamische Welt) jedoch bewahrt geblieben105

Auch die Orthodoxie so Dugin habe im Gegensatz zu Katholizismus und Protestantismus bdquodie Treue zum esoterischen Kernldquo bewahrt naumlmlich in ihrer mystischen Unterstroumlmung dem Hesychasmus106 In der Kanonisierung des Gre-gorios Palamas durch die Ostkirche bei gleichzeitiger Verdammung des Humanis-ten Barlaam sieht Dugin das Bekenntnis zum bdquognostisch-realistischen Geist der orthodoxen Esoterikldquo Ganz im Sinn des Traditionalismus deutet er die psycho-physische Uumlbung der Hesychasten das bdquogeistige Tunldquo als Verfahren der bdquoInitia-tionldquo und das Endziel der bdquoVerklaumlrungldquo und bdquoVergoumlttlichungldquo als bdquoalchemistische Verwandlung des Leibesldquo (alchimičeskoe preobraženie tela) Dadurch wuumlrden der bdquoDualismus von Geist und Materie Leib und Seeleldquo sowie die bdquoGrenzen der Individualitaumltldquo ndash charakteristisch fuumlr den bdquorein exoterischen Mystizismusldquo des Westens ndash aufgehoben107 Die bdquoTradition der hesychastischen Esoterikldquo sei die

Shekhovtsov bdquoThe Palingenetic Thrust of Russian Neo-Eurasianism Ideas of Rebirth in Aleksandr Duginrsquos Worldviewldquo in Totalitarian Movements and Political Religions 9 (2008) 491ndash506 Mark Sedgwick bdquoOccult Dissident Culture The Case of Aleksandr Du-ginldquo in Birgit Menzel [ua] (Hgg) The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimen-sions MuumlnchenBerlin 2012 273ndash292 Schmid Technologien der Seele 210ndash220

104 Aleksandr Dugin Filosofija tradicionalizma Moskva 2002 Zum Traditionalismus siehe das Standardwerk von Mark Sedgwick Against the Modern World Traditionalism and the Secret Intellectual History of the Twentieth Century OxfordNew York 2004 zu Dugin 221ndash237 Vgl auch Christopher DL Johnson The Globalization of the Jesus Prayer Con-testing Contemplation London New York 2010 70ndash73

105 Aumlhnliche Gedanken entwickelte Pavel Florenskij bereits 19081909 in seinem Vortrag bdquoObščečelovečeskie korni idealizmaldquo in dem er die bdquoEsoterikldquo der Philosophie Platons und seiner Nachfolger in der bdquoallgemeinmenschlichenldquo mystisch-magischen Weltauffas-sung der bdquoVolksseeleldquo wurzeln laumlsst

106 Das Folgende nach Aleksandr Dugin bdquoOboženie preestestvennejšeeldquo in Milyj angel 1 1991 56ndash59

107 Das Konzept der bdquoInitiationldquo und die Unterscheidung von bdquoesoterischldquo und bdquoexoterischldquo sind zentral fuumlr die Anhaumlnger des Traditionalismus siehe Sedgwick Against the Modern World 265 ndash Als Mitglied des okkultistischen und faschistischen Južinskij-Kreises machte Dugin in Moskaus bdquomystischem Untergrundldquo in den 1980er Jahren selbst Entgrenzugser-fahrungen mit Hilfe sexualmagischer Praktiken und bewusstseinserweiternder Drogen Bei einem Teil der orthodoxen Glaumlubigen stoumlszligt seine Esoterik denn auch auf Misstrauen und

30 Michael Hagemeister

bdquoSeele der russischen Orthodoxieldquo und habe in Serafim von Sarov ihren bdquoletzten leuchtendsten Vertreterldquo gefunden

Der Hesychasmus gehoumlre zum traditionellen Erbe von Byzanz das Russ-land angetreten habe als es zum Dritten Rom und zum Zentrum der orthodoxen Welt geworden sei bdquoWir sindldquo so Dugin bdquobyzantinisch in unserer Seele unseren Wurzeln und in unserer Identitaumltldquo108

Unser stabilstes Fundament ist Byzanz [hellip] Russland ist Byzanz [hellip] Unsere For-mel lautet Der Westen ist das Boumlse Byzanz das Gute Alles Schlechte das uumlber Byzanz geschrieben wurde ist eine Luumlge Das sind lediglich Winkelzuumlge im ideolo-gischen Kampf von Seiten des Westens [hellip] Jeder Russe muss wissen Byzanz ist das reine Gute Jeder der etwas anderes behauptet ist ein Feind [hellip] Wer Byzanz kritisiert ist ein Feind des russischen Volkes Das muss unser ehernes Prinzip sein [hellip] Byzanz ist der absolute Orientierungspunkt des russischen Projekts109

Damit sind Russlands Ort und Mission in der bdquohistoriosophischenldquo Deutung des Weltgeschehens bestimmt Nach Dugin wird die Geschichte der Menschheit be-herrscht vom bdquookkulten planetarischen Ringenldquo zweier antagonistischer Maumlchte dem bdquogroszligen Krieg der Kontinenteldquo Land gegen Meer Behemoth gegen Levia-than die organischen bodenstaumlndigen und traditionalistischen bdquoTellurokratienldquo des eurasischen Ostens gegen die wurzel- und seelenlosen materialistischen bdquoTha-lassokratienldquo des angloamerikanischen Westens das apokalyptische Tier aus dem Meer (Offb 13 1-10)110 Die USA als bdquoQuintessenz des Westensldquo und New York als moderne Hure Babylon (Offb 17 und 18) sind das Reich des Antichrist eine chimaumlrisch-antiorganische transplantierte Zivilisation die keine sakrale Tradi-tion besitze ihre Selbsterhebung zu bdquoGottes neuem Israelldquo und bdquoNeuem Zionldquo ndash gemaumlszlig der anglo-amerikanischen Interpretation der Substitutionslehre ndash deutet Dugin als besonders perfiden Taumluschungsversuch des bdquowestlichen Antichristldquo Das Jahr der Entdeckung Amerikas (1492 ist nach der altrussisch-byzantinischen

offene Ablehnung Fuumlr den Sektenexperten des Moskauer Patriarchats ist Dugin ein bdquoge-faumlhrlicher Feindldquo der die bdquoOrthodoxie in Kabbalistik umzuschmelzenldquo versuche Andrej Kuraev Cerkovrsquo v mire ljudej Moskva 2006 142

108 Aleksandr Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Tradition Duginrsquos Guidelineldquo lthttpswwwyoutubecomwatchv=m0RIa61eZDggt

109 Aleksandr Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo in ders Russkaja Veščrsquo Očerki nacionalrsquonoj filosofii Bd 1 Moskva 2001 69ndash76 hier 70ndash72 (Hervorhebungen im Original) Der Be-griff bdquoByzantismusldquo (vizantizm) ndash im Unterschied zum negativ konnotierten bdquoByzantinis-musldquo ndash als Bezeichnung eines dem europaumlischen entgegengesetzten Kulturtypus der auf den Prinzipien von Orthodoxie und Selbstherrschaft beruht geht auf den konservativen Philosophen Konstantin Leontrsquoev (1831ndash1891) und sein Buch Vizantizm i slavjanstvo (1875) zuruumlck

110 Auch fuumlr den von Dugin verehrten Heidegger waren die Seemaumlchte Groszligbritannien und Amerika nicht Teil der abendlaumlndischen Tradition sondern im Gegensatz zum restlichen Europa wurzellos und sinnleer Der Antagonismus von Land und Meer die kategorische Unterscheidung von Freund und Feind sowie das Konzept des Katechon gehen auf Carl Schmitt zuruumlck als dessen Schuumller Dugin sich bezeichnet Siehe auch Fn 41

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 31

Weltaumlra das Jahr 7000 nach dem chiliadischen Weltwochenschema also der sieb-te Tag der Schoumlpfung) verweise ebenso auf den Endzeitcharakter der bdquoNeuen Weltldquo wie die bdquosakrale Geographieldquo nach der das Paradies im Osten die Houmllle aber das bdquoLand des Todesldquo im Westen zu suchen seien111

Dem Antichrist entgegen stehe seit jeher der Katechon dessen bdquoletzter Hortldquo bis ans Ende der Zeit die Heilige Rusrsquo das Dritte Rom sei112 In der petrini-schen Epoche als die Hauptstadt in die bdquonoumlrdlichen Suumlmpfeldquo in die bdquoGespenster-stadtldquo Petersburg verlegt und das Patriarchat abgeschafft wurde haumltten allein die Altglaumlubigen den Geist von Byzanz den Katechon bewahrt zweihundert Jahre lang sei der Weg frei gewesen fuumlr das zerstoumlrerische Wirken des Antichrist Erst die sowjetische Periode habe eine bdquomystische Ruumlckkehr zum Byzantismusldquo be-deutet indem die Bolschewiki das heilige Moskau wieder zur Hauptstadt erklaumlr-ten das Patriarchat wiederherstellten die Ausbeuter als Klasse vernichteten und dem Westen auf allen Gebieten Widerstand boten Im bdquoroten Byzantismusldquo der Dritten Internationale sei der Katechon zuruumlckgekehrt113

Um seine Mission zur Erloumlsung der Menschheit auch kuumlnftig zu erfuumlllen muumlsse das Dritte Rom nach dem Zerfall der Sowjetunion114 nunmehr ein groszligkon-tinentales sakral fundiertes bdquoEurasisches Imperiumldquo errichten gegen den Erz-feind die materialistische universalistische alles nivellierende Zivilisation des Westens als der Verkoumlrperung des bdquoweltweiten Boumlsenldquo (mirovoe zlo) gegen Libe-ralismus Individualismus Globalismus Egalitarismus sowie die bdquomondialisti-scheldquo Konzeption der Menschenrechte115 Verbuumlndete im bevorstehenden apoka-lyptischen bdquoEndkampfldquo (von Dugin stets deutsch geschrieben) werden all jene sein die den Bezug zum bdquoSakralenldquo noch nicht verloren haben russische Altglaumlu-bige ultraorthodoxe antizionistische Juden europaumlische Traditionalisten sowie jene bdquoanti-atlantischenldquo islamistischen Fundamentalisten die in den USA den Dajjacircl den falschen Messias und Antichrist erkennen gegen den die Retter-gestalt des Mahdicirc zu Felde ziehen wird116 111 Aleksandr Dugin Absoljutnaja Rodina Puti Absoljuta Metafizika Blagoj Vesti Misterii

Evrazii Moskva 1999 645ndash670 112 Ebd 378ndash395 493ndash521 113 Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo 74ndash76 Siehe auch ders bdquoKatechon i revoljucijaldquo in ders

Tampliery proletariata Nacional-bolrsquoševizm i iniciacija Moskva 1997 52ndash59 ndash Die mes-sianische Identifizierung des Dritten Rom mit der Dritten Internationale reicht bis ins Gruumlndungsjahr der Komintern (1919) zuruumlck Beide so der slawophile Philosoph und An-haumlnger des imjaslavie Valerian Muravrsquoev (1885ndash1930) in einem Brief vom 6 Januar 1920 an Lev Trockij seien Ausdruck der Suche des russischen Volkes und der Intelligencija nach einem Reich der Wahrheit und Gerechtigkeit Valerian Muravrsquoev Sočinenija Bd 2 Moskva 2011 352f Weitere Belege bei Emanuel Sarkisyanz Russland und der Messianis-mus des Orients Tuumlbingen 1955 196 Mikhail Agursky Third Rome National Bolshevism in the USSR Boulder Co 1987

114 Damals sah ein Journalist bdquoauf den Ruinen des Imperiumsldquo das Dritte Rom in Gefahr zu einem Land der Dritten Welt zu werden Andrej Fadin bdquoTretij Rim v tretrsquoem mire Razmy-šlenija na ruinach imperiildquo in Nezavisimaja gazeta 1291991

115 [Aleksandr Dugin] bdquoLibo-my libo-ničtoldquo in Ėlementy 8 19961997 1ndash4 hier 2 116 [Aleksandr Dugin] bdquoIdeologija Mirovogo Pravitelrsquostvaldquo in Ėlementy 2 1992 1f

32 Michael Hagemeister

Das Dritte Rom als Zentrum des eurasischen bdquoEuro-Sowjetischen Imperiumsldquo Titelbild der von Aleksandr Dugin herausgegebenen Zeitschrift bdquoElemente Eurasische Rundschauldquo (1992) Dugins Werk mit seiner provokanten Mischung esoterischer antimoderner und antiwestlicher Motive findet besonders unter jungen Intellektuellen Anklang und Nachahmer so etwa bei dem promovierten Philosophen und selbstproklamierten bdquoorthodoxen Metaphysikerldquo Arkadij Maler einem vehementen Propagandisten einer bdquopolitischen Orthodoxieldquo (političeskoe Pravoslavie) und fuumlhrenden Ideolo-gen der bdquoneobyzantinischenldquo Doktrin Obwohl sich Maler von Dugin distan-ziert117 beschwoumlrt auch er die eschatologische bdquogeistige Mission des Dritten Romldquo die es von Byzanz geerbt habe und die in seiner bdquozentralen katechontischen Rolleldquo bestehe dem Kampf gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo des bdquogottlosen Wes-tensldquo118 Russische Politik koumlnne deshalb nicht anders als imperial sein und muumlsse ihren Einfluss auf den gesamten Planeten ausdehnen Wie Dugin sieht auch Maler die Bolschewiki in dieser Tradition als sie Moskau zur Hauptstadt des bdquoRoten

117 In den spaumlten 1990er Jahren gehoumlrte Maler der vaumlterlicherseits juumldischer Abstammung ist

zusammen mit Dugin und Ėduard Limonov zur Fuumlhrungsriege der Nationalbolschewisti-schen Partei und schrieb fuumlr die Parteizeitung Limonka sich selbst charakterisierte er als bdquorotbraunen Zionistenldquo Nach seiner Konversion zur Orthodoxie trennte er sich 1999 von Dugin und kritisierte dessen esoterischen Traditionalismus aus einer ultraorthodoxen Posi-tion Dugin wiederum warf Maler vor ihn zu plagiieren

118 Arkadij Maler Duchovnaja missija Tretrsquoego Rima Moskva 2005 bes 134ndash136 170ndash206 Siehe auch ders bdquoIdeologija Vizantizmaldquo in Severnij Katechon 1 (2005) 7ndash49 bdquoNeovi-zantizm kak novyj bolrsquošoj stilrsquoldquo in Aleksej Nilogov (Hg) Kto segodnja delaet filosofiju v Rossii Moskva 2007 110ndash124

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 33

Imperiumsldquo machten und dieses zur bdquoabsoluten Antithese des Westensldquo erklaumlrten zum bdquoTraumlger der planetarischen Mission der Befreiung der Welt aus den sbquoFesseln des Kapitalslsquoldquo119 Das Dritte Rom sei zeitweise in die Dritte Internationale trans-formiert worden ohne jedoch seine Mission als Katechon als aufhaltende Macht gegen das Reich des Boumlsen und Ausgangspunkt zur Errettung der Welt aufzuge-ben Die bdquoletzte Etappeldquo im Kampf gegen den Antichrist werde so Maler der bdquoeschatologische Krieg des Dritten Rom gegen das Dritte Karthagoldquo den bdquoAnti-katechonldquo sein die bdquoanglo-amerikanische [] atlantische Zivilisationldquo120 Zur Propagierung der katechontischen Mission Russlands gruumlndete Maler 1999 am Institut fuumlr Philosophie der Akademie der Wissenschaften in Moskau einen bdquoBy-zantistischen Klub Katechonldquo (Vizantistskij Klub Katechon) und 2005 das bdquoPhi-losophisch-politische Zentrum sbquoNoumlrdlicher Katechonlsquoldquo das einen gleichnamigen Almanach (Severnyj Katechon) herausgibt121

Apokalyptischer Ausblick

Die Formel vom Dritten Rom und die Figur des Katechon des Aufhalters des bdquoweltweiten Boumlsenldquo sind zu Markenzeichen russischer Anti-Westler und Ver-schwoumlrungstheoretiker und ihres schrillen Szenariums eines globalen apokalyp-tischen bdquoEndkampfesldquo gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo geworden122 Unter dem Titel bdquoDie russische Doktrin Die Staatsideologie der Epoche Putinsldquo verfasste in den Jahren 2005 und 2006 ein Kollektiv nationalpatriotischer Autoren ndash unter ih-nen der bdquoByzantistldquo Arkadij Maler ndash ein uumlber 1000 Seiten langes ultrakonservati-ves und antiwestliches Manifest das auch die Unterstuumltzung hoher kirchlicher Wuumlrdentraumlger fand123 In ihrem Entwurf einer bdquoorganischen weltanschaulichen Plattformldquo fuumlr das kuumlnftige Russland behandeln die Autoren ausfuumlhrlich die bdquohis-toriosophischeldquo Konzeption vom Dritten Rom und seine Mission als Katechon gegen das bdquoHeidentumldquo des Westens124 Gefordert wird die positive Identifikation

119 Maler Duchovnaja missija 182f 185 120 Ebd 177 ndash Als Mittel im ideologischen Kampf gegen den saumlkularen Westen fordert Maler

in Analogie zur katholischen Gegenreformation eine orthodoxe konservative bdquoGegenauf-klaumlrungldquo (Kontrprosveščenie) lthttpwwwkatehonruhtmltoppolitologiaideaotkritije _polit_pravoslavijahtmgt

121 Siehe die Website lthttpwwwkatehonrugt 122 Siehe zB Galina A Morozova Tretij Rim protiv novogo mirovogo porjadka Moskva

2009 Die Formel von Dritten Rom hat laumlngst auch Schriftsteller und Maler inspiriert und scheint auch werbewirksam zu sein bdquoDrittes Romldquo nennt sich ein Verlag ein Videospiel eine Bank ein Reisebuumlro und sogar ein Kasino in Jalta Ein Schoumlnheitswettbewerb in Mos-kau vergibt alljaumlhrlich den Titel einer bdquoMiss Drittes Romldquo Judith E Kalb Russiarsquos Rome Imperial Visions Messianic Dreams 1890ndash1940 Madison Wisconsin 2008 198f Zum Katechon siehe Maria Engstroumlm bdquoContemporary Russian Messianism and New Russian Foreign Policyldquo in Contemporary Security Policy 35 (2014) 3 356ndash379

123 Russkaja doktrina Gosudarstvennaja ideologija ėpochi Putina Moskva 2016 124 Ebd 68ndash72 116ndash120 und passim

34 Michael Hagemeister

mit der Geschichte Russlands und seinen Lichtgestalten dem Heiligen Serafim von Sarov dem bdquoeschatologischen Fuumlhrer des russischen Volkes am Ende der Zeitenldquo der bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo und Stalin der dem paulinischen Kate-chon gleich die bdquoGesetzlosigkeitldquo (bezzakonie) bekaumlmpft und das bdquoFundament fuumlr eine groszlige Zukunftldquo gelegt habe125

bdquoKatechonldquo nennt sich auch ein prominent besetzter Think tank den der Oligarch und Berater Putins Konstantin Malofeev im Jahr 2015 gegruumlndet hat126 Der Milliardaumlr der sein Vermoumlgen mit einer Investmentfirma auf den Cayman Inseln gemacht hat bezeichnet sich selbst als bdquoorthodoxen Monarchistenldquo127 Er unterstuumltzt die Separatisten in der Ostukraine und unterhaumllt vielfaumlltige Verbindun-gen zu europaumlischen Rechtspopulisten wie dem Front National der FPOuml Syriza und der Lega Nord Neben dem Forum bdquoKatechonldquo betreibt Malofeev auch einen Fernsehsender mit dem programmatischen Namen bdquoZargradldquo128 (Motto bdquoDas Licht Christi erleuchtet alleldquo) dessen Chefkommentator niemand anderes ist als Aleksandr Dugin129

bdquoKatechonldquo und bdquoZargradldquo propagieren den Kampf gegen die westliche Moderne mit Bezug auf das byzantinische Erbe Russlands Im November 2014 fand in der Moskauer Manege eine Konferenz bdquoMoskau ndash das Dritte Romldquo statt130 An ihr nahmen auszliger Dugin und Malofeev auch Archimandrit Tichon und Nata-lrsquoja Naročnickaja teil eine hochrangige Diplomatin Mitglied des Izborsker Klubs und Leiterin des Pariser bdquoInstituts fuumlr Demokratie und Kooperationldquo das die oumlf-fentliche Meinung im Westen im Sinne des Kremls beeinflussen soll Tichons Film bdquoDie Lehre von Byzanzldquo sei so Naročnickaja auch eine Warnung an den Westen der seine christlichen Werte verraten habe weshalb er den glaubens-festen Migranten und ihrer Verachtung hilflos ausgeliefert sei131

Im Oktober 2009 wurde Tichons Film in Athen vor ausverkauftem Saal aufgefuumlhrt Unter denen die dem Drehbuchautor Beifall spendeten war der Philo-soph und Theologe Christos Yannaras einer der Hauptvertreter der Neoorthodo-xie und scharfer Kritiker des Westens Wie ihre russischen Gesinnungsgenossen

125 Ebd 130f 153 142ndash145 126 Mit einem Auftritt im Internet in 9 Sprachen Siehe die deutsche Version unter lthttp

katehoncomdewer-sind-wirgt 127 lthttpsdewikipediaorgwikiKonstantin_Walerjewitsch_Malofejewgt 128 Carrsquograd ist der altrussische Name fuumlr Konstantinopel 129 Auch Dugin unterhaumllt seit mehr als 25 Jahren Kontakte zu ultrakonservativen traditiona-

listischen und faschistischen Gesinnungsgenossen in Westeuropa Siehe Vladimir Ivanov Alexander Dugin und die rechtsextremen Netzwerke Fakten und Hypothesen zu den inter-nationalen Verflechtungen der russischen Neuen Rechten Stuttgart 2007

130 lthttpwwwpravoslavieru75070htmlgt 131 lthttpwwwpravoslavieru7414htmlgt ndash Fuumlr Metropolit Ilarion (Alfeev) der sich dabei

auf Dugin beruft verwandeln sich die Laumlnder Westeuropas bereits in die bdquoSphaumlre des Anti-christldquo lthttpwwwpatriarchiarudbtext3065216htmlgt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 35

verherrlichen auch die griechischen Neoorthodoxen die byzantinische Vergan-genheit und sehen in der modernen saumlkularen Gesellschaft eine Bedrohung ihrer kulturellen Identitaumlt132 Gemeinsam suchen sie der Globalisierung mit einer bdquoby-zantinischen Internationaleldquo als bdquoorthodoxer Oumlkumeneldquo entgegenzuwirken einer letztlich sakral verstandenen Gemeinschaft deren Einfluss indes weit uumlber die kirchliche Sphaumlre hinausreichen und eine transnationale Vereinigung der ortho-doxen Welt von Serbien uumlber Syrien bis Georgien und Armenien unter Fuumlhrung Moskaus schaffen soll133 Als wichtiger symbolischer Schritt auf diesem Weg wurde der Besuch von Praumlsident Putin und Patriarch Kirill des Heiligen Berges Athos einer traditionellen Hochburg antiwestlicher Opposition im Mai 2016 ge-feiert Das weltliche und das geistliche Oberhaupt Russlands ndash die bdquoSymphonia der Maumlchteldquo ndash zeigten damit so Aleksandr Dugin ihr Bekenntnis zu Byzanz und seiner Rolle als Katechon Damit anerkenne bdquounsere Rusrsquo ihre historische Bestim-mung Wir sind bereit fuumlr die Endzeitldquo134

132 Ausfuumlhrlich dazu Daniel P Payne The Revival of Political Hesychasm in Contemporary

Orthodox Thought The Political Hesychasm of John Romanides and Christos Yannaras Lanham [ua] 2011 Siehe auch Vasilios N Makrides bdquoByzantium in Contemporary Greece The Neo-Orthodox Current of Ideasldquo in David RicksPaul Magdalino (Hgg) Byzantium and the Modern Greek Identity Aldershot 1998 141ndash153 Zum griechischen Neobyzantismus unter russischem Einfluss Aleksey Kamenskikh bdquoThe Image of the Second Rome through the Prism of the Thirdrdquo in Teresa Obolevich [ua] (Hgg) Russian Thought in Europe Reception Polemics Development Krakoacutew 2013 13ndash22 ndash Antimo-derne und antiwestliche Stroumlmungen in den vom orthodoxen Christentum gepraumlgten Kultu-ren haben der Religionswissenschaftler Makrides und der Slavist Uffelmann vor einigen Jahren als Desiderat der Forschung benannt Vasilios N MakridesDirk Uffelmann bdquoStudying Eastern Orthodox Anti-Westernism The Need for a Comparative Research Agendaldquo in Jonathan SuttonWil van den Bercken (Hgg) Orthodox Christianity and Contemporary Europe Leuven [ua] 2003 87ndash120 Seitdem haben Makrides und die Politikwissenschaftlerin Stoumlckl eine Reihe einschlaumlgiger Arbeiten vorgelegt in denen or-thodoxe Alternativen zu westlichen philosophischen und politischen Konzepten untersucht werden Vasilios N Makrides bdquoOrthodoxes Cristentum und Moderne ndash Inkompatibilitaumlt oder langfristige Anpassungldquo in Una Sancta 2011 1 15ndash30 ders bdquoOumlstliches orthodo-xes Christentum und Saumlkularitaumlt Ein Vergleich mit dem lateinischen Christentumldquo in Transit 47 (2015) 59ndash75 Kristina Stoumlckl bdquoModernity and its Critique in Twentieth Cen-tury Russian Orthodox Thoughtldquo in Studies in East European Thought 58 (2006) 243ndash269 dies Community after Totalitarianism The Russian Orthodox Intellectual Tradition and the Philosophical Discourse of Political Modernity Frankfurt aM [ua] 2008

133 Dazu gehoumlrt auch die Verwirklichung des jahrhundertealten Traums der Wiedererrichtung des Kreuzes auf der Hagia Sophia Siehe Egor Cholmogorov Russkij proekt restavracija buduščego Moskva 2005 283 Der Verfasser Mitglied des Expertenteams des Izborsker Klubs ist Begruumlnder der Doktrin der bdquoAtomaren Orthodoxieldquo siehe Fn 74

134 Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Traditionldquo

ZUM AUTOR

Michael Hagemeister geb 1951 in EllwangenJagst Studium der Slavistik Ge-schichte Germanistik und Philosophie in Basel und MarburgLahn Promotion mit einer Arbeit uumlber den russischen Philosophen Nikolaj Fedorov Wissenschaft-licher Mitarbeiter am Slawischen Seminar in Marburg Gastprofessor am Seminar fuumlr Komparatistik der Universitaumlt Innsbruck Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lotman-Institut fuumlr russische und sowjetische Kultur der Ruhr-Universitaumlt Bo-chum am Lehrstuhl fuumlr Geschichte Osteuropas der Europa-Universitaumlt Viadrina Frankfurt (Oder) an den Historischen Seminaren der Universitaumlten Basel Duumlssel-dorf und Bochum Vertretung der Professuren fuumlr Geschichte Osteuropas an der Ludwig-Maximilians Universitaumlt Muumlnchen und an der Europa-Universitaumlt Frank-furt (Oder)

Forschungen zur russischen Philosophie und Geistesgeschichte zum utopischen und apokalyptischen Denken in Russland zum russischen Rechtsextremismus und Antisemitismus sowie insbesondere zu den Protokollen der Weisen von Zion und ihrem Herausgeber Sergej Nilus Publikationen ua Die Neue Menschheit Biopolitische Utopien in Russland (hg mit Boris Groys) Frankfurt aM 2005 The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimensions (hg mit Birgit Menzel und Bernice Rosenthal) Muumlnchen 2012 Die Fiktion von der juumldischen Weltver-schwoumlrung Zu Text und Kontext der bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo (hg mit Eva Horn) Goumlttingen 2012 Die bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo vor Gericht Der Berner Prozess und die bdquoantisemitische Internationaleldquo in der Zwischen-kriegszeit Chronik Dokumente und Kommentare Zuumlrich (im Druck)

ERFURTER VORTRAumlGE ZUR KULTURGESCHICHTE DES ORTHODOXEN CHRISTENTUMS Reihenherausgeber Vasilios N Makrides

Heft 1 Thomas Bremer Konfrontation statt Oumlkumene Zur kirchlichen Situation in der Ukraine Erfurt 2001

Heft 2 Gerhard Podskalsky Zur Hermeneutik des theologischen Ost-West-

Gespraumlchs in historischer Perspektive Erfurt 2002 Heft 3 Karl Christian Felmy Warum und zu welchem Behufe treiben wir

Ostkirchenkunde Erfurt 2003 Heft 4 Wassilios Klein bdquoTatarenjoch ndash татарское игоldquo Beobachtungen zur

Wahrnehmung des Islam im eurasischen Raum Erfurt 2005 Heft 5 Stamatios D Gerogiorgakis Zeitphilosophie im Mittelalter Byzantinische

und lateinische Vorstellungen Erfurt 2006 Heft 6 Heinz Ohme Das Oumlkumenische Patriarchat von Konstantinopel und die

tuumlrkische Religionspolitik Erfurt 2007 Heft 7 Alexander Agadjanian Russian Orthodox Vision of Human Rights Recent

Documents and Their Significance Erfurt 2008 Heft 8 Christos Yannaras Wem gehoumlrt die griechische Antike Erfurt 2009 Heft 9 Joachim Willems Religions- und Ethikunterricht in Russland ndash Was

wollen Staat und Kirche Zur Einfuumlhrung des neuen Schulfaches bdquoGrundlagen der religioumlsen Kulturen und der weltlichen Ethikldquo Erfurt 2010

Heft 10 Chris Hann Eastern Christianity and Western Social Theory Erfurt 2011 Heft 11 Jennifer Wasmuth Akademische Theologie im zaristischen Russland in

ihrer Bedeutung fuumlr die neuere orthodoxe Theologie Erfurt 2012 Heft 12 Anna Briskina-Muumlller Auf der Suche nach der bdquoHesychialdquo Paisij

Veličkovskij (1722ndash1794) und sein Leben fuumlr die bdquoPhilokalieldquo Erfurt 2014

Heft 13 Vladimir Cvetković From ldquoMerciful Angelrdquo to ldquoFortress Europerdquo The

Perception of Europe and the West in Contemporary Serbian Orthodoxy Erfurt 2015

Heft 14 Stefan G Reichelt Lebenslinien Nikolaj A Berdjaev (1874ndash1948) und Sergij N Bulgakov (1871ndash1944) im Westen ndash Eine Wuumlrdigung Erfurt 2015

Heft 15 Michael Hagemeister Der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo ndash bdquoNeobyzantismusldquo

und bdquopolitischer Hesychasmusldquo im postsowjetischen Russland Erfurt 2016

Alle Hefte der vorliegenden Schriftenreihe koumlnnen unter folgendem Link kostenlos heruntergeladen werden URL httpswwwuni-erfurtdereligionswissenschaftprofessur-orthodoxes-christentumveroeffentlichungenerfurter-vortraege-zur-kulturgeschichte-des-orthodoxen-christentums

Page 26: Michael Hagemeister FINAL - uni-erfurt.de · doziert Tichon, während er das antike Kons tantinopel computeranimiert auferste- hen lässt. Das prosperierende Impe rium erregte freilich

26 Michael Hagemeister

bdquopolitischer Hesychasmusldquo bdquokonzeptuelles Unkraut [sornjak] das man so schnell wie moumlglich ausrottenldquo solle89

Fast ein halbes Jahrhundert nach ihrer ersten Veroumlffentlichung wurde Pro-chorovs Konzept eines bdquopolitischen Hesychasmusldquo von seinem Schuumller Vladimir Petrunin wieder aufgegriffen und aktualisiert In der 2009 erschienenen Monogra-phie bdquoDer politische Hesychasmus und seine Traditionen in der Sozialkonzeption des Moskauer Patriarchatsldquo90 stellt Petrunin das sogenannte bdquoNichtgehorsamkeits-prinzipldquo (princip nepovinovenija) wie es in den von der Moskauer Bischofssyno-de im August 2000 verabschiedeten bdquoGrundlagen der Sozialkonzeption der Rus-sischen Orthodoxen Kircheldquo formuliert worden ist91 in eine Tradition die er bis auf die bdquopolitischen Hesychastenldquo im Byzanz des 14 und 15 Jahrhunderts zu-ruumlckzufuumlhren sucht Immer wieder zieht Petrunin Parallelen zwischen dem spaumlten Byzanz und dem postsowjetischen Russland Hatten die Byzantiner den Hesy-chasmus als Reaktion auf den Humanismus des Westens hervorgebracht so diene heute die Sozialkonzeption der Abwehr des westlichen Saumlkularismus Liberalis-mus und Kapitalismus Damals wie heute stuumlnden der kirchliche Heilsauftrag und die Verteidigung des Glaubens uumlber den Interessen des Staates selbst ndash wie das Beispiel von Byzanz zeige ndash um den Preis seines Untergangs Ebenso wie die byzantinischen Hesychasten den mit dem Westen kollaborierenden Herrschern die Gefolgschaft im Kampf gegen die Osmanen verweigert haumltten da sie die bdquoReinheit ihres Glaubensldquo eher bdquounter einem tuumlrkischen Turban als unter der lateinischen Tiaraldquo gewahrt sahen92 rufe die Sozialkonzeption die Kirche heute dazu auf der Staatsmacht den Gehorsam zu verweigern sollte diese bdquodie ortho-doxen Glaumlubigen zum Abfall von Christus und Seiner Kirche sowie zu suumlndhaften

89 Viktor Živov bdquoVidenija sveta i problemy russkogo srednevekovogo isichazmaldquo in Lidov

(Hg) Ierotopija 350ndash367 hier 363 359 90 Vladimir Petrunin Političeskij isichazm i ego tradicii v socialʼnoj koncepcii Moskovskogo

Patriarchata Sankt-Peterburg 2009 91 Osnovy socialrsquonoj koncepcii Russkoj Pravoslavnoj Cerkvi III5 lthttpwwwpatriarchia

rudbtext141422htmlgt Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo wird von den meisten Inter-preten als ein bemerkenswertes Umdenken in der Kirchenpolitik angesehen hatte doch die Russische Orthodoxe Kirche unter Patriarch Sergij in einer prekaumlren Lage 1927 Loyalitaumlt gegenuumlber dem Sowjetstaat gefordert Das bdquoNichtgehorsamkeitsprinzipldquo war auch eine wichtige Voraussetzung fuumlr die Vereinigung der Auslandskirche mit dem Moskauer Pa-triarchat Zur Sozialkonzeption insgesamt Vasilios N Makrides bdquoDie politische Aufgabe der Kirche Bemerkungen anhand der Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kir-cheldquo in Irene DingelChristiane Tietz (Hgg) Die politische Aufgabe von Religion Per-spektiven der drei monotheistischen Religionen Goumlttingen 2011 219ndash243

92 Petrunin Političeskij isichazm 66f 120 Es handelt sich um eine zeitgenoumlssische Losung Siehe Halina Evert-Kappesowa bdquoLa tiare ou le turbanldquo in Byzantinoslavica 14 (1953) 245ndash257 ndash Auch Aleksandr Nevskij (1220ndash1263) zog eine Verstaumlndigung mit den Mongo-len einer Union mit Rom vor die ihm Papst Innozenz IV im Jahr 1248 angeboten hatte und wandte sich stattdessen gegen die bdquoLateinerldquo Heutige Anti-Westler feiern den Heili-gen der Russischen Orthodoxen Kirche deshalb auch als bdquoersten Eurasierldquo

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 27

und der Seele abtraumlglichen Taten noumltigenldquo93 Die Sozialkonzeption hat fuumlr Petru-nin nur einen moumlglichen Sinn Falls Russlands politische Elite sich weiterhin dem liberalen Wertekanon des Westens verschreibe und Russlands bdquoEigenartldquo (samo-bytnostʼ) als bdquoorthodoxe Zivilisationldquo bestreite94 muumlsse die Kirche ndash wie einst in Byzanz ndash dem Staat die Loyalitaumlt aufkuumlndigen und das Volk zum Widerstand auf-rufen

Es ist ganz offensichtlich dass die Prozesse der Globalisierung und Saumlkularisierung eng miteinander verbunden sind So wie einst die byzantinischen Hesychasten ist heute die Russische Kirche mit der westlichen Zivilisation konfrontiert die nach der Weltherrschaft trachtet war fruumlher der Katholizismus deren Grundlage so ist es jetzt der saumlkulare Humanismus [hellip] Waumlhrend sie [die westliche Welt MH] damals fuumlr die Hesychasten mit Rom gleichgesetzt wurde so verkoumlrpert heute das kosmopolitische New York den Westen Indem sie Liberalismus und Saumlkularisie-rung abwehrt tritt die Kirche auch gegen die politischen und wirtschaftlichen Hegemoniebestrebungen des Westens auf und stellt so ihr Bestreben unter Beweis die zivilisatorische Eigenstaumlndigkeit Russlands wieder herzustellen Wie schon vor 600 Jahren im Byzantinischen Imperium so ist auch heute in Russland allein die Kirche ein ernstzunehmender und gut organisierter Gegner des Westens und seiner saumlkularen Werte [hellip] Sollte Russland weiter den Weg der Saumlkularisierung be-schreiten so koumlnnte damit fuumlr die Kirche der gefaumlhrliche Praumlzedenzfall geschaffen werden in dem sie von ihrem Recht Gebrauch machen muumlsste das Volk zu zivilem Ungehorsam aufzurufen95

In seinem Vorwort nannte Prochorov das Buch seines Schuumllers eine bdquoWarnung an unseren Staat unsere saumlkulare Gesellschaft an uns alleldquo96 Wie das spaumlte Byzanz unter dem bdquoDruck aus dem Westenldquo gestanden habe ndash dem die Herrscher und die bdquoHumanistenldquo schlieszliglich nachgegeben haumltten ndash so laufe auch das postkommu-nistische Russland Gefahr dem bdquoDruck des Liberalismus und der Globalisierungldquo nachzugeben Allein die Orthodoxe Kirche habe sich damals wie heute als bdquoFes-tungldquo erwiesen faumlhig diesem bdquozersetzenden Einflussldquo Widerstand zu leisten97

Petrunins Buch das mit dem Segen von Metropolit Ilarion (Grigorij Al-feev)98 erschienen war stieszlig bei westlichen Forschern auf Skepsis und Ableh-nung So kritisierte Kristina Stoumlckl die unhistorische Interpretation und forcierte Aktualisierung der philosophischen theologischen und politischen Kontroversen des 14 Jahrhunderts sowie die einseitige konservative Interpretation der Sozial-konzeption Hesychasmus werde in dem Kirchendokument ebenso wenig erwaumlhnt

93 Osnovy socialrsquonoj koncepcii 94 Petrunin Političeskij isichazm 81 95 Ebd 122f 96 Ebd 5 97 Ebd 98 Zu jener Zeit Bischof von Wien und Oumlsterreich heute Leiter des Auszligenamtes des Moskau-

er Patriarchats und scharfer Kritiker des bdquomilitanten Saumlkularismusldquo des Westens Siehe auch lthttpazbykaruxristianstvo-pered-vyzovom-voinstvuyushhego-sekulyariz ma-2gt

28 Michael Hagemeister

wie der Untergang von Byzanz99 Klaus Buchenau warf Petrunin vor er bdquoverfor-m[e] und ideologisier[e] die urspruumlnglichen Motive des hesychastischen Moumlnch-tums bis zur Unkenntlichkeitldquo100 Und Viktor Živov der bereits Prochorovs Kon-zept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo als bdquoUnkrautldquo bezeichnet hatte sah in Petru-nins Buch ein Beispiel dafuumlr wie dieses sich bdquospontan und schaumldlichldquo ausbreite Die von Petrunin konstruierte bdquophantastische Genealogie des politischen Hesy-chasmusldquo beruhe so Živov auf einer bdquoMischung aus Einseitigkeit und Unwissen-heitldquo Weder sei der bdquotuumlrkische Turbanldquo fuumlr den Patriarchen attraktiv gewesen noch sei am Widerstand gegen die Union irgendetwas spezifisch bdquoHesychasti-schesldquo Petrunin habe ein bdquoPhantomldquo geschaffen dessen angebliche Verbindung mit der Sozialkonzeption man nicht weiter zu verfolgen brauche101

bdquoNeobyzantismusldquo Das Dritte Rom ndash der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo

Eine eigenwillige Interpretation des Hesychasmus und seine Wendung gegen den Westen stammen von Aleksandr Dugin dem Fuumlhrer der bdquoeurasischenldquo Bewegung und einflussreichsten Vordenker der Neuen Rechten in Russland Der polyglotte und belesene Autodidakt der nie eine akademische Ausbildung genossen hat war Gruumlnder der Partei der Nationalbolschewisten Berater des Vorsitzenden der Du-ma und des Generalstabs sowie von 2008 bis 2014 Professor fuumlr Soziologie an der renommierten Moskauer Lomonosov-Universitaumlt und Direktor des dortigen bdquoZentrums fuumlr Konservatismusstudienldquo Seit Anfang der 1990er Jahre verbreitet er mit graphomanem Eifer seine politischen und bdquometaphysischenldquo Botschaften in einer inzwischen kaum noch uumlberschaubaren Zahl von Publikationen102 und Web-Artikeln in mehreren Sprachen sowie durch spektakulaumlre Auftritte in staats-nahen Medien103 99 Kristina Stoumlckl bdquoPolitical Hesychasm Vladimir Petruninrsquos Neo-Byzantine Interpretation

of the Social Doctrine of the Russian Orthodox Churchldquo in Studies in East European Thought 62 (2010) 125ndash133

100 Klaus Buchenau Auf russischen Spuren Orthodoxe Antiwestler in Serbien 1850ndash1945 Wiesbaden 2011 480 Anm 2

101 Živov bdquoVidenija svetaldquo 364f ndash Von der Kritik offenbar unbeeindruckt verschaumlrfte Petru-nin noch seine Position So sprach er 2012 in einem Vortrag uumlber die gesellschaftliche und politische Wirkung der hesychastischen Gebetspraxis Nach dem Fall von Byzanz sei das bdquoJesusgebet faktisch zu einem sbquopolitischen Gebetlsquoldquo geworden das auf die bdquoVerwandlung [preobraženie] der orthodoxen Oumlkumeneldquo ausgerichtet gewesen sei und das bdquoPhaumlnomen der Heiligen Rusrsquoldquo hervorgebracht habe lthttpsynergia-isarup=8604gt

102 Zuletzt in der bislang fuumlnf Baumlnde umfassenden Reihe bdquoNoomachijaldquo (2014ndash2015) einer hochambitioumlsen letztlich aber manichaumlisch-schematischen Beschreibung der bdquoSuche nach dem Logosldquo in den ndash von Dugin essenzialistisch aufgefassten ndash bdquoWeltkulturenldquo

103 Auch die Literatur zu Dugin ist kaum noch uumlberschaubar Siehe zB Alexander Houmlllwerth Das sakrale eurasische Imperium des Aleksandr Dugin Eine Diskursanalyse zum post-sowjetischen russischen Rechtsextremismus Stuttgart 2007 Stefan Wiederkehr Die eurasische Bewegung Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwi-schenkriegszeit und im postsowjetischen Russland Koumlln [ua] 2007 227ndash261 Anton

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 29

Dugin deutet den Hesychasmus im Rahmen des sogenannten bdquointegralen Traditionalismusldquo einer antimodernen Denkrichtung die im ersten Drittel des 20 Jahrhunderts in Frankreich und Italien entstand und in Reneacute Gueacutenon (1886ndash1951) und Julius Evola (1898ndash1974) ihre bekanntesten (und auch fuumlr Dugin wichtigsten) Vertreter hat104 Ihre Lehre besagt dass alle Religionen ungeachtet ihrer histori-schen und regionalen Auspraumlgungen in ihrem esoterischen nur dem Eingeweih-ten zugaumlnglichen Kern eine gemeinsame urspruumlngliche Wahrheit teilen und als philosophia perennis tradieren das Wissen um die Goumlttlichkeit und den Zugang zu ihr Dieses sakrale und initiatorische Wissen sei im Verlauf der westlichen Mo-derne insbesondere durch die Aufklaumlrung verlorengegangen in traditionellen Gesellschaften (China Indien islamische Welt) jedoch bewahrt geblieben105

Auch die Orthodoxie so Dugin habe im Gegensatz zu Katholizismus und Protestantismus bdquodie Treue zum esoterischen Kernldquo bewahrt naumlmlich in ihrer mystischen Unterstroumlmung dem Hesychasmus106 In der Kanonisierung des Gre-gorios Palamas durch die Ostkirche bei gleichzeitiger Verdammung des Humanis-ten Barlaam sieht Dugin das Bekenntnis zum bdquognostisch-realistischen Geist der orthodoxen Esoterikldquo Ganz im Sinn des Traditionalismus deutet er die psycho-physische Uumlbung der Hesychasten das bdquogeistige Tunldquo als Verfahren der bdquoInitia-tionldquo und das Endziel der bdquoVerklaumlrungldquo und bdquoVergoumlttlichungldquo als bdquoalchemistische Verwandlung des Leibesldquo (alchimičeskoe preobraženie tela) Dadurch wuumlrden der bdquoDualismus von Geist und Materie Leib und Seeleldquo sowie die bdquoGrenzen der Individualitaumltldquo ndash charakteristisch fuumlr den bdquorein exoterischen Mystizismusldquo des Westens ndash aufgehoben107 Die bdquoTradition der hesychastischen Esoterikldquo sei die

Shekhovtsov bdquoThe Palingenetic Thrust of Russian Neo-Eurasianism Ideas of Rebirth in Aleksandr Duginrsquos Worldviewldquo in Totalitarian Movements and Political Religions 9 (2008) 491ndash506 Mark Sedgwick bdquoOccult Dissident Culture The Case of Aleksandr Du-ginldquo in Birgit Menzel [ua] (Hgg) The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimen-sions MuumlnchenBerlin 2012 273ndash292 Schmid Technologien der Seele 210ndash220

104 Aleksandr Dugin Filosofija tradicionalizma Moskva 2002 Zum Traditionalismus siehe das Standardwerk von Mark Sedgwick Against the Modern World Traditionalism and the Secret Intellectual History of the Twentieth Century OxfordNew York 2004 zu Dugin 221ndash237 Vgl auch Christopher DL Johnson The Globalization of the Jesus Prayer Con-testing Contemplation London New York 2010 70ndash73

105 Aumlhnliche Gedanken entwickelte Pavel Florenskij bereits 19081909 in seinem Vortrag bdquoObščečelovečeskie korni idealizmaldquo in dem er die bdquoEsoterikldquo der Philosophie Platons und seiner Nachfolger in der bdquoallgemeinmenschlichenldquo mystisch-magischen Weltauffas-sung der bdquoVolksseeleldquo wurzeln laumlsst

106 Das Folgende nach Aleksandr Dugin bdquoOboženie preestestvennejšeeldquo in Milyj angel 1 1991 56ndash59

107 Das Konzept der bdquoInitiationldquo und die Unterscheidung von bdquoesoterischldquo und bdquoexoterischldquo sind zentral fuumlr die Anhaumlnger des Traditionalismus siehe Sedgwick Against the Modern World 265 ndash Als Mitglied des okkultistischen und faschistischen Južinskij-Kreises machte Dugin in Moskaus bdquomystischem Untergrundldquo in den 1980er Jahren selbst Entgrenzugser-fahrungen mit Hilfe sexualmagischer Praktiken und bewusstseinserweiternder Drogen Bei einem Teil der orthodoxen Glaumlubigen stoumlszligt seine Esoterik denn auch auf Misstrauen und

30 Michael Hagemeister

bdquoSeele der russischen Orthodoxieldquo und habe in Serafim von Sarov ihren bdquoletzten leuchtendsten Vertreterldquo gefunden

Der Hesychasmus gehoumlre zum traditionellen Erbe von Byzanz das Russ-land angetreten habe als es zum Dritten Rom und zum Zentrum der orthodoxen Welt geworden sei bdquoWir sindldquo so Dugin bdquobyzantinisch in unserer Seele unseren Wurzeln und in unserer Identitaumltldquo108

Unser stabilstes Fundament ist Byzanz [hellip] Russland ist Byzanz [hellip] Unsere For-mel lautet Der Westen ist das Boumlse Byzanz das Gute Alles Schlechte das uumlber Byzanz geschrieben wurde ist eine Luumlge Das sind lediglich Winkelzuumlge im ideolo-gischen Kampf von Seiten des Westens [hellip] Jeder Russe muss wissen Byzanz ist das reine Gute Jeder der etwas anderes behauptet ist ein Feind [hellip] Wer Byzanz kritisiert ist ein Feind des russischen Volkes Das muss unser ehernes Prinzip sein [hellip] Byzanz ist der absolute Orientierungspunkt des russischen Projekts109

Damit sind Russlands Ort und Mission in der bdquohistoriosophischenldquo Deutung des Weltgeschehens bestimmt Nach Dugin wird die Geschichte der Menschheit be-herrscht vom bdquookkulten planetarischen Ringenldquo zweier antagonistischer Maumlchte dem bdquogroszligen Krieg der Kontinenteldquo Land gegen Meer Behemoth gegen Levia-than die organischen bodenstaumlndigen und traditionalistischen bdquoTellurokratienldquo des eurasischen Ostens gegen die wurzel- und seelenlosen materialistischen bdquoTha-lassokratienldquo des angloamerikanischen Westens das apokalyptische Tier aus dem Meer (Offb 13 1-10)110 Die USA als bdquoQuintessenz des Westensldquo und New York als moderne Hure Babylon (Offb 17 und 18) sind das Reich des Antichrist eine chimaumlrisch-antiorganische transplantierte Zivilisation die keine sakrale Tradi-tion besitze ihre Selbsterhebung zu bdquoGottes neuem Israelldquo und bdquoNeuem Zionldquo ndash gemaumlszlig der anglo-amerikanischen Interpretation der Substitutionslehre ndash deutet Dugin als besonders perfiden Taumluschungsversuch des bdquowestlichen Antichristldquo Das Jahr der Entdeckung Amerikas (1492 ist nach der altrussisch-byzantinischen

offene Ablehnung Fuumlr den Sektenexperten des Moskauer Patriarchats ist Dugin ein bdquoge-faumlhrlicher Feindldquo der die bdquoOrthodoxie in Kabbalistik umzuschmelzenldquo versuche Andrej Kuraev Cerkovrsquo v mire ljudej Moskva 2006 142

108 Aleksandr Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Tradition Duginrsquos Guidelineldquo lthttpswwwyoutubecomwatchv=m0RIa61eZDggt

109 Aleksandr Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo in ders Russkaja Veščrsquo Očerki nacionalrsquonoj filosofii Bd 1 Moskva 2001 69ndash76 hier 70ndash72 (Hervorhebungen im Original) Der Be-griff bdquoByzantismusldquo (vizantizm) ndash im Unterschied zum negativ konnotierten bdquoByzantinis-musldquo ndash als Bezeichnung eines dem europaumlischen entgegengesetzten Kulturtypus der auf den Prinzipien von Orthodoxie und Selbstherrschaft beruht geht auf den konservativen Philosophen Konstantin Leontrsquoev (1831ndash1891) und sein Buch Vizantizm i slavjanstvo (1875) zuruumlck

110 Auch fuumlr den von Dugin verehrten Heidegger waren die Seemaumlchte Groszligbritannien und Amerika nicht Teil der abendlaumlndischen Tradition sondern im Gegensatz zum restlichen Europa wurzellos und sinnleer Der Antagonismus von Land und Meer die kategorische Unterscheidung von Freund und Feind sowie das Konzept des Katechon gehen auf Carl Schmitt zuruumlck als dessen Schuumller Dugin sich bezeichnet Siehe auch Fn 41

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 31

Weltaumlra das Jahr 7000 nach dem chiliadischen Weltwochenschema also der sieb-te Tag der Schoumlpfung) verweise ebenso auf den Endzeitcharakter der bdquoNeuen Weltldquo wie die bdquosakrale Geographieldquo nach der das Paradies im Osten die Houmllle aber das bdquoLand des Todesldquo im Westen zu suchen seien111

Dem Antichrist entgegen stehe seit jeher der Katechon dessen bdquoletzter Hortldquo bis ans Ende der Zeit die Heilige Rusrsquo das Dritte Rom sei112 In der petrini-schen Epoche als die Hauptstadt in die bdquonoumlrdlichen Suumlmpfeldquo in die bdquoGespenster-stadtldquo Petersburg verlegt und das Patriarchat abgeschafft wurde haumltten allein die Altglaumlubigen den Geist von Byzanz den Katechon bewahrt zweihundert Jahre lang sei der Weg frei gewesen fuumlr das zerstoumlrerische Wirken des Antichrist Erst die sowjetische Periode habe eine bdquomystische Ruumlckkehr zum Byzantismusldquo be-deutet indem die Bolschewiki das heilige Moskau wieder zur Hauptstadt erklaumlr-ten das Patriarchat wiederherstellten die Ausbeuter als Klasse vernichteten und dem Westen auf allen Gebieten Widerstand boten Im bdquoroten Byzantismusldquo der Dritten Internationale sei der Katechon zuruumlckgekehrt113

Um seine Mission zur Erloumlsung der Menschheit auch kuumlnftig zu erfuumlllen muumlsse das Dritte Rom nach dem Zerfall der Sowjetunion114 nunmehr ein groszligkon-tinentales sakral fundiertes bdquoEurasisches Imperiumldquo errichten gegen den Erz-feind die materialistische universalistische alles nivellierende Zivilisation des Westens als der Verkoumlrperung des bdquoweltweiten Boumlsenldquo (mirovoe zlo) gegen Libe-ralismus Individualismus Globalismus Egalitarismus sowie die bdquomondialisti-scheldquo Konzeption der Menschenrechte115 Verbuumlndete im bevorstehenden apoka-lyptischen bdquoEndkampfldquo (von Dugin stets deutsch geschrieben) werden all jene sein die den Bezug zum bdquoSakralenldquo noch nicht verloren haben russische Altglaumlu-bige ultraorthodoxe antizionistische Juden europaumlische Traditionalisten sowie jene bdquoanti-atlantischenldquo islamistischen Fundamentalisten die in den USA den Dajjacircl den falschen Messias und Antichrist erkennen gegen den die Retter-gestalt des Mahdicirc zu Felde ziehen wird116 111 Aleksandr Dugin Absoljutnaja Rodina Puti Absoljuta Metafizika Blagoj Vesti Misterii

Evrazii Moskva 1999 645ndash670 112 Ebd 378ndash395 493ndash521 113 Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo 74ndash76 Siehe auch ders bdquoKatechon i revoljucijaldquo in ders

Tampliery proletariata Nacional-bolrsquoševizm i iniciacija Moskva 1997 52ndash59 ndash Die mes-sianische Identifizierung des Dritten Rom mit der Dritten Internationale reicht bis ins Gruumlndungsjahr der Komintern (1919) zuruumlck Beide so der slawophile Philosoph und An-haumlnger des imjaslavie Valerian Muravrsquoev (1885ndash1930) in einem Brief vom 6 Januar 1920 an Lev Trockij seien Ausdruck der Suche des russischen Volkes und der Intelligencija nach einem Reich der Wahrheit und Gerechtigkeit Valerian Muravrsquoev Sočinenija Bd 2 Moskva 2011 352f Weitere Belege bei Emanuel Sarkisyanz Russland und der Messianis-mus des Orients Tuumlbingen 1955 196 Mikhail Agursky Third Rome National Bolshevism in the USSR Boulder Co 1987

114 Damals sah ein Journalist bdquoauf den Ruinen des Imperiumsldquo das Dritte Rom in Gefahr zu einem Land der Dritten Welt zu werden Andrej Fadin bdquoTretij Rim v tretrsquoem mire Razmy-šlenija na ruinach imperiildquo in Nezavisimaja gazeta 1291991

115 [Aleksandr Dugin] bdquoLibo-my libo-ničtoldquo in Ėlementy 8 19961997 1ndash4 hier 2 116 [Aleksandr Dugin] bdquoIdeologija Mirovogo Pravitelrsquostvaldquo in Ėlementy 2 1992 1f

32 Michael Hagemeister

Das Dritte Rom als Zentrum des eurasischen bdquoEuro-Sowjetischen Imperiumsldquo Titelbild der von Aleksandr Dugin herausgegebenen Zeitschrift bdquoElemente Eurasische Rundschauldquo (1992) Dugins Werk mit seiner provokanten Mischung esoterischer antimoderner und antiwestlicher Motive findet besonders unter jungen Intellektuellen Anklang und Nachahmer so etwa bei dem promovierten Philosophen und selbstproklamierten bdquoorthodoxen Metaphysikerldquo Arkadij Maler einem vehementen Propagandisten einer bdquopolitischen Orthodoxieldquo (političeskoe Pravoslavie) und fuumlhrenden Ideolo-gen der bdquoneobyzantinischenldquo Doktrin Obwohl sich Maler von Dugin distan-ziert117 beschwoumlrt auch er die eschatologische bdquogeistige Mission des Dritten Romldquo die es von Byzanz geerbt habe und die in seiner bdquozentralen katechontischen Rolleldquo bestehe dem Kampf gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo des bdquogottlosen Wes-tensldquo118 Russische Politik koumlnne deshalb nicht anders als imperial sein und muumlsse ihren Einfluss auf den gesamten Planeten ausdehnen Wie Dugin sieht auch Maler die Bolschewiki in dieser Tradition als sie Moskau zur Hauptstadt des bdquoRoten

117 In den spaumlten 1990er Jahren gehoumlrte Maler der vaumlterlicherseits juumldischer Abstammung ist

zusammen mit Dugin und Ėduard Limonov zur Fuumlhrungsriege der Nationalbolschewisti-schen Partei und schrieb fuumlr die Parteizeitung Limonka sich selbst charakterisierte er als bdquorotbraunen Zionistenldquo Nach seiner Konversion zur Orthodoxie trennte er sich 1999 von Dugin und kritisierte dessen esoterischen Traditionalismus aus einer ultraorthodoxen Posi-tion Dugin wiederum warf Maler vor ihn zu plagiieren

118 Arkadij Maler Duchovnaja missija Tretrsquoego Rima Moskva 2005 bes 134ndash136 170ndash206 Siehe auch ders bdquoIdeologija Vizantizmaldquo in Severnij Katechon 1 (2005) 7ndash49 bdquoNeovi-zantizm kak novyj bolrsquošoj stilrsquoldquo in Aleksej Nilogov (Hg) Kto segodnja delaet filosofiju v Rossii Moskva 2007 110ndash124

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 33

Imperiumsldquo machten und dieses zur bdquoabsoluten Antithese des Westensldquo erklaumlrten zum bdquoTraumlger der planetarischen Mission der Befreiung der Welt aus den sbquoFesseln des Kapitalslsquoldquo119 Das Dritte Rom sei zeitweise in die Dritte Internationale trans-formiert worden ohne jedoch seine Mission als Katechon als aufhaltende Macht gegen das Reich des Boumlsen und Ausgangspunkt zur Errettung der Welt aufzuge-ben Die bdquoletzte Etappeldquo im Kampf gegen den Antichrist werde so Maler der bdquoeschatologische Krieg des Dritten Rom gegen das Dritte Karthagoldquo den bdquoAnti-katechonldquo sein die bdquoanglo-amerikanische [] atlantische Zivilisationldquo120 Zur Propagierung der katechontischen Mission Russlands gruumlndete Maler 1999 am Institut fuumlr Philosophie der Akademie der Wissenschaften in Moskau einen bdquoBy-zantistischen Klub Katechonldquo (Vizantistskij Klub Katechon) und 2005 das bdquoPhi-losophisch-politische Zentrum sbquoNoumlrdlicher Katechonlsquoldquo das einen gleichnamigen Almanach (Severnyj Katechon) herausgibt121

Apokalyptischer Ausblick

Die Formel vom Dritten Rom und die Figur des Katechon des Aufhalters des bdquoweltweiten Boumlsenldquo sind zu Markenzeichen russischer Anti-Westler und Ver-schwoumlrungstheoretiker und ihres schrillen Szenariums eines globalen apokalyp-tischen bdquoEndkampfesldquo gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo geworden122 Unter dem Titel bdquoDie russische Doktrin Die Staatsideologie der Epoche Putinsldquo verfasste in den Jahren 2005 und 2006 ein Kollektiv nationalpatriotischer Autoren ndash unter ih-nen der bdquoByzantistldquo Arkadij Maler ndash ein uumlber 1000 Seiten langes ultrakonservati-ves und antiwestliches Manifest das auch die Unterstuumltzung hoher kirchlicher Wuumlrdentraumlger fand123 In ihrem Entwurf einer bdquoorganischen weltanschaulichen Plattformldquo fuumlr das kuumlnftige Russland behandeln die Autoren ausfuumlhrlich die bdquohis-toriosophischeldquo Konzeption vom Dritten Rom und seine Mission als Katechon gegen das bdquoHeidentumldquo des Westens124 Gefordert wird die positive Identifikation

119 Maler Duchovnaja missija 182f 185 120 Ebd 177 ndash Als Mittel im ideologischen Kampf gegen den saumlkularen Westen fordert Maler

in Analogie zur katholischen Gegenreformation eine orthodoxe konservative bdquoGegenauf-klaumlrungldquo (Kontrprosveščenie) lthttpwwwkatehonruhtmltoppolitologiaideaotkritije _polit_pravoslavijahtmgt

121 Siehe die Website lthttpwwwkatehonrugt 122 Siehe zB Galina A Morozova Tretij Rim protiv novogo mirovogo porjadka Moskva

2009 Die Formel von Dritten Rom hat laumlngst auch Schriftsteller und Maler inspiriert und scheint auch werbewirksam zu sein bdquoDrittes Romldquo nennt sich ein Verlag ein Videospiel eine Bank ein Reisebuumlro und sogar ein Kasino in Jalta Ein Schoumlnheitswettbewerb in Mos-kau vergibt alljaumlhrlich den Titel einer bdquoMiss Drittes Romldquo Judith E Kalb Russiarsquos Rome Imperial Visions Messianic Dreams 1890ndash1940 Madison Wisconsin 2008 198f Zum Katechon siehe Maria Engstroumlm bdquoContemporary Russian Messianism and New Russian Foreign Policyldquo in Contemporary Security Policy 35 (2014) 3 356ndash379

123 Russkaja doktrina Gosudarstvennaja ideologija ėpochi Putina Moskva 2016 124 Ebd 68ndash72 116ndash120 und passim

34 Michael Hagemeister

mit der Geschichte Russlands und seinen Lichtgestalten dem Heiligen Serafim von Sarov dem bdquoeschatologischen Fuumlhrer des russischen Volkes am Ende der Zeitenldquo der bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo und Stalin der dem paulinischen Kate-chon gleich die bdquoGesetzlosigkeitldquo (bezzakonie) bekaumlmpft und das bdquoFundament fuumlr eine groszlige Zukunftldquo gelegt habe125

bdquoKatechonldquo nennt sich auch ein prominent besetzter Think tank den der Oligarch und Berater Putins Konstantin Malofeev im Jahr 2015 gegruumlndet hat126 Der Milliardaumlr der sein Vermoumlgen mit einer Investmentfirma auf den Cayman Inseln gemacht hat bezeichnet sich selbst als bdquoorthodoxen Monarchistenldquo127 Er unterstuumltzt die Separatisten in der Ostukraine und unterhaumllt vielfaumlltige Verbindun-gen zu europaumlischen Rechtspopulisten wie dem Front National der FPOuml Syriza und der Lega Nord Neben dem Forum bdquoKatechonldquo betreibt Malofeev auch einen Fernsehsender mit dem programmatischen Namen bdquoZargradldquo128 (Motto bdquoDas Licht Christi erleuchtet alleldquo) dessen Chefkommentator niemand anderes ist als Aleksandr Dugin129

bdquoKatechonldquo und bdquoZargradldquo propagieren den Kampf gegen die westliche Moderne mit Bezug auf das byzantinische Erbe Russlands Im November 2014 fand in der Moskauer Manege eine Konferenz bdquoMoskau ndash das Dritte Romldquo statt130 An ihr nahmen auszliger Dugin und Malofeev auch Archimandrit Tichon und Nata-lrsquoja Naročnickaja teil eine hochrangige Diplomatin Mitglied des Izborsker Klubs und Leiterin des Pariser bdquoInstituts fuumlr Demokratie und Kooperationldquo das die oumlf-fentliche Meinung im Westen im Sinne des Kremls beeinflussen soll Tichons Film bdquoDie Lehre von Byzanzldquo sei so Naročnickaja auch eine Warnung an den Westen der seine christlichen Werte verraten habe weshalb er den glaubens-festen Migranten und ihrer Verachtung hilflos ausgeliefert sei131

Im Oktober 2009 wurde Tichons Film in Athen vor ausverkauftem Saal aufgefuumlhrt Unter denen die dem Drehbuchautor Beifall spendeten war der Philo-soph und Theologe Christos Yannaras einer der Hauptvertreter der Neoorthodo-xie und scharfer Kritiker des Westens Wie ihre russischen Gesinnungsgenossen

125 Ebd 130f 153 142ndash145 126 Mit einem Auftritt im Internet in 9 Sprachen Siehe die deutsche Version unter lthttp

katehoncomdewer-sind-wirgt 127 lthttpsdewikipediaorgwikiKonstantin_Walerjewitsch_Malofejewgt 128 Carrsquograd ist der altrussische Name fuumlr Konstantinopel 129 Auch Dugin unterhaumllt seit mehr als 25 Jahren Kontakte zu ultrakonservativen traditiona-

listischen und faschistischen Gesinnungsgenossen in Westeuropa Siehe Vladimir Ivanov Alexander Dugin und die rechtsextremen Netzwerke Fakten und Hypothesen zu den inter-nationalen Verflechtungen der russischen Neuen Rechten Stuttgart 2007

130 lthttpwwwpravoslavieru75070htmlgt 131 lthttpwwwpravoslavieru7414htmlgt ndash Fuumlr Metropolit Ilarion (Alfeev) der sich dabei

auf Dugin beruft verwandeln sich die Laumlnder Westeuropas bereits in die bdquoSphaumlre des Anti-christldquo lthttpwwwpatriarchiarudbtext3065216htmlgt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 35

verherrlichen auch die griechischen Neoorthodoxen die byzantinische Vergan-genheit und sehen in der modernen saumlkularen Gesellschaft eine Bedrohung ihrer kulturellen Identitaumlt132 Gemeinsam suchen sie der Globalisierung mit einer bdquoby-zantinischen Internationaleldquo als bdquoorthodoxer Oumlkumeneldquo entgegenzuwirken einer letztlich sakral verstandenen Gemeinschaft deren Einfluss indes weit uumlber die kirchliche Sphaumlre hinausreichen und eine transnationale Vereinigung der ortho-doxen Welt von Serbien uumlber Syrien bis Georgien und Armenien unter Fuumlhrung Moskaus schaffen soll133 Als wichtiger symbolischer Schritt auf diesem Weg wurde der Besuch von Praumlsident Putin und Patriarch Kirill des Heiligen Berges Athos einer traditionellen Hochburg antiwestlicher Opposition im Mai 2016 ge-feiert Das weltliche und das geistliche Oberhaupt Russlands ndash die bdquoSymphonia der Maumlchteldquo ndash zeigten damit so Aleksandr Dugin ihr Bekenntnis zu Byzanz und seiner Rolle als Katechon Damit anerkenne bdquounsere Rusrsquo ihre historische Bestim-mung Wir sind bereit fuumlr die Endzeitldquo134

132 Ausfuumlhrlich dazu Daniel P Payne The Revival of Political Hesychasm in Contemporary

Orthodox Thought The Political Hesychasm of John Romanides and Christos Yannaras Lanham [ua] 2011 Siehe auch Vasilios N Makrides bdquoByzantium in Contemporary Greece The Neo-Orthodox Current of Ideasldquo in David RicksPaul Magdalino (Hgg) Byzantium and the Modern Greek Identity Aldershot 1998 141ndash153 Zum griechischen Neobyzantismus unter russischem Einfluss Aleksey Kamenskikh bdquoThe Image of the Second Rome through the Prism of the Thirdrdquo in Teresa Obolevich [ua] (Hgg) Russian Thought in Europe Reception Polemics Development Krakoacutew 2013 13ndash22 ndash Antimo-derne und antiwestliche Stroumlmungen in den vom orthodoxen Christentum gepraumlgten Kultu-ren haben der Religionswissenschaftler Makrides und der Slavist Uffelmann vor einigen Jahren als Desiderat der Forschung benannt Vasilios N MakridesDirk Uffelmann bdquoStudying Eastern Orthodox Anti-Westernism The Need for a Comparative Research Agendaldquo in Jonathan SuttonWil van den Bercken (Hgg) Orthodox Christianity and Contemporary Europe Leuven [ua] 2003 87ndash120 Seitdem haben Makrides und die Politikwissenschaftlerin Stoumlckl eine Reihe einschlaumlgiger Arbeiten vorgelegt in denen or-thodoxe Alternativen zu westlichen philosophischen und politischen Konzepten untersucht werden Vasilios N Makrides bdquoOrthodoxes Cristentum und Moderne ndash Inkompatibilitaumlt oder langfristige Anpassungldquo in Una Sancta 2011 1 15ndash30 ders bdquoOumlstliches orthodo-xes Christentum und Saumlkularitaumlt Ein Vergleich mit dem lateinischen Christentumldquo in Transit 47 (2015) 59ndash75 Kristina Stoumlckl bdquoModernity and its Critique in Twentieth Cen-tury Russian Orthodox Thoughtldquo in Studies in East European Thought 58 (2006) 243ndash269 dies Community after Totalitarianism The Russian Orthodox Intellectual Tradition and the Philosophical Discourse of Political Modernity Frankfurt aM [ua] 2008

133 Dazu gehoumlrt auch die Verwirklichung des jahrhundertealten Traums der Wiedererrichtung des Kreuzes auf der Hagia Sophia Siehe Egor Cholmogorov Russkij proekt restavracija buduščego Moskva 2005 283 Der Verfasser Mitglied des Expertenteams des Izborsker Klubs ist Begruumlnder der Doktrin der bdquoAtomaren Orthodoxieldquo siehe Fn 74

134 Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Traditionldquo

ZUM AUTOR

Michael Hagemeister geb 1951 in EllwangenJagst Studium der Slavistik Ge-schichte Germanistik und Philosophie in Basel und MarburgLahn Promotion mit einer Arbeit uumlber den russischen Philosophen Nikolaj Fedorov Wissenschaft-licher Mitarbeiter am Slawischen Seminar in Marburg Gastprofessor am Seminar fuumlr Komparatistik der Universitaumlt Innsbruck Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lotman-Institut fuumlr russische und sowjetische Kultur der Ruhr-Universitaumlt Bo-chum am Lehrstuhl fuumlr Geschichte Osteuropas der Europa-Universitaumlt Viadrina Frankfurt (Oder) an den Historischen Seminaren der Universitaumlten Basel Duumlssel-dorf und Bochum Vertretung der Professuren fuumlr Geschichte Osteuropas an der Ludwig-Maximilians Universitaumlt Muumlnchen und an der Europa-Universitaumlt Frank-furt (Oder)

Forschungen zur russischen Philosophie und Geistesgeschichte zum utopischen und apokalyptischen Denken in Russland zum russischen Rechtsextremismus und Antisemitismus sowie insbesondere zu den Protokollen der Weisen von Zion und ihrem Herausgeber Sergej Nilus Publikationen ua Die Neue Menschheit Biopolitische Utopien in Russland (hg mit Boris Groys) Frankfurt aM 2005 The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimensions (hg mit Birgit Menzel und Bernice Rosenthal) Muumlnchen 2012 Die Fiktion von der juumldischen Weltver-schwoumlrung Zu Text und Kontext der bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo (hg mit Eva Horn) Goumlttingen 2012 Die bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo vor Gericht Der Berner Prozess und die bdquoantisemitische Internationaleldquo in der Zwischen-kriegszeit Chronik Dokumente und Kommentare Zuumlrich (im Druck)

ERFURTER VORTRAumlGE ZUR KULTURGESCHICHTE DES ORTHODOXEN CHRISTENTUMS Reihenherausgeber Vasilios N Makrides

Heft 1 Thomas Bremer Konfrontation statt Oumlkumene Zur kirchlichen Situation in der Ukraine Erfurt 2001

Heft 2 Gerhard Podskalsky Zur Hermeneutik des theologischen Ost-West-

Gespraumlchs in historischer Perspektive Erfurt 2002 Heft 3 Karl Christian Felmy Warum und zu welchem Behufe treiben wir

Ostkirchenkunde Erfurt 2003 Heft 4 Wassilios Klein bdquoTatarenjoch ndash татарское игоldquo Beobachtungen zur

Wahrnehmung des Islam im eurasischen Raum Erfurt 2005 Heft 5 Stamatios D Gerogiorgakis Zeitphilosophie im Mittelalter Byzantinische

und lateinische Vorstellungen Erfurt 2006 Heft 6 Heinz Ohme Das Oumlkumenische Patriarchat von Konstantinopel und die

tuumlrkische Religionspolitik Erfurt 2007 Heft 7 Alexander Agadjanian Russian Orthodox Vision of Human Rights Recent

Documents and Their Significance Erfurt 2008 Heft 8 Christos Yannaras Wem gehoumlrt die griechische Antike Erfurt 2009 Heft 9 Joachim Willems Religions- und Ethikunterricht in Russland ndash Was

wollen Staat und Kirche Zur Einfuumlhrung des neuen Schulfaches bdquoGrundlagen der religioumlsen Kulturen und der weltlichen Ethikldquo Erfurt 2010

Heft 10 Chris Hann Eastern Christianity and Western Social Theory Erfurt 2011 Heft 11 Jennifer Wasmuth Akademische Theologie im zaristischen Russland in

ihrer Bedeutung fuumlr die neuere orthodoxe Theologie Erfurt 2012 Heft 12 Anna Briskina-Muumlller Auf der Suche nach der bdquoHesychialdquo Paisij

Veličkovskij (1722ndash1794) und sein Leben fuumlr die bdquoPhilokalieldquo Erfurt 2014

Heft 13 Vladimir Cvetković From ldquoMerciful Angelrdquo to ldquoFortress Europerdquo The

Perception of Europe and the West in Contemporary Serbian Orthodoxy Erfurt 2015

Heft 14 Stefan G Reichelt Lebenslinien Nikolaj A Berdjaev (1874ndash1948) und Sergij N Bulgakov (1871ndash1944) im Westen ndash Eine Wuumlrdigung Erfurt 2015

Heft 15 Michael Hagemeister Der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo ndash bdquoNeobyzantismusldquo

und bdquopolitischer Hesychasmusldquo im postsowjetischen Russland Erfurt 2016

Alle Hefte der vorliegenden Schriftenreihe koumlnnen unter folgendem Link kostenlos heruntergeladen werden URL httpswwwuni-erfurtdereligionswissenschaftprofessur-orthodoxes-christentumveroeffentlichungenerfurter-vortraege-zur-kulturgeschichte-des-orthodoxen-christentums

Page 27: Michael Hagemeister FINAL - uni-erfurt.de · doziert Tichon, während er das antike Kons tantinopel computeranimiert auferste- hen lässt. Das prosperierende Impe rium erregte freilich

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 27

und der Seele abtraumlglichen Taten noumltigenldquo93 Die Sozialkonzeption hat fuumlr Petru-nin nur einen moumlglichen Sinn Falls Russlands politische Elite sich weiterhin dem liberalen Wertekanon des Westens verschreibe und Russlands bdquoEigenartldquo (samo-bytnostʼ) als bdquoorthodoxe Zivilisationldquo bestreite94 muumlsse die Kirche ndash wie einst in Byzanz ndash dem Staat die Loyalitaumlt aufkuumlndigen und das Volk zum Widerstand auf-rufen

Es ist ganz offensichtlich dass die Prozesse der Globalisierung und Saumlkularisierung eng miteinander verbunden sind So wie einst die byzantinischen Hesychasten ist heute die Russische Kirche mit der westlichen Zivilisation konfrontiert die nach der Weltherrschaft trachtet war fruumlher der Katholizismus deren Grundlage so ist es jetzt der saumlkulare Humanismus [hellip] Waumlhrend sie [die westliche Welt MH] damals fuumlr die Hesychasten mit Rom gleichgesetzt wurde so verkoumlrpert heute das kosmopolitische New York den Westen Indem sie Liberalismus und Saumlkularisie-rung abwehrt tritt die Kirche auch gegen die politischen und wirtschaftlichen Hegemoniebestrebungen des Westens auf und stellt so ihr Bestreben unter Beweis die zivilisatorische Eigenstaumlndigkeit Russlands wieder herzustellen Wie schon vor 600 Jahren im Byzantinischen Imperium so ist auch heute in Russland allein die Kirche ein ernstzunehmender und gut organisierter Gegner des Westens und seiner saumlkularen Werte [hellip] Sollte Russland weiter den Weg der Saumlkularisierung be-schreiten so koumlnnte damit fuumlr die Kirche der gefaumlhrliche Praumlzedenzfall geschaffen werden in dem sie von ihrem Recht Gebrauch machen muumlsste das Volk zu zivilem Ungehorsam aufzurufen95

In seinem Vorwort nannte Prochorov das Buch seines Schuumllers eine bdquoWarnung an unseren Staat unsere saumlkulare Gesellschaft an uns alleldquo96 Wie das spaumlte Byzanz unter dem bdquoDruck aus dem Westenldquo gestanden habe ndash dem die Herrscher und die bdquoHumanistenldquo schlieszliglich nachgegeben haumltten ndash so laufe auch das postkommu-nistische Russland Gefahr dem bdquoDruck des Liberalismus und der Globalisierungldquo nachzugeben Allein die Orthodoxe Kirche habe sich damals wie heute als bdquoFes-tungldquo erwiesen faumlhig diesem bdquozersetzenden Einflussldquo Widerstand zu leisten97

Petrunins Buch das mit dem Segen von Metropolit Ilarion (Grigorij Al-feev)98 erschienen war stieszlig bei westlichen Forschern auf Skepsis und Ableh-nung So kritisierte Kristina Stoumlckl die unhistorische Interpretation und forcierte Aktualisierung der philosophischen theologischen und politischen Kontroversen des 14 Jahrhunderts sowie die einseitige konservative Interpretation der Sozial-konzeption Hesychasmus werde in dem Kirchendokument ebenso wenig erwaumlhnt

93 Osnovy socialrsquonoj koncepcii 94 Petrunin Političeskij isichazm 81 95 Ebd 122f 96 Ebd 5 97 Ebd 98 Zu jener Zeit Bischof von Wien und Oumlsterreich heute Leiter des Auszligenamtes des Moskau-

er Patriarchats und scharfer Kritiker des bdquomilitanten Saumlkularismusldquo des Westens Siehe auch lthttpazbykaruxristianstvo-pered-vyzovom-voinstvuyushhego-sekulyariz ma-2gt

28 Michael Hagemeister

wie der Untergang von Byzanz99 Klaus Buchenau warf Petrunin vor er bdquoverfor-m[e] und ideologisier[e] die urspruumlnglichen Motive des hesychastischen Moumlnch-tums bis zur Unkenntlichkeitldquo100 Und Viktor Živov der bereits Prochorovs Kon-zept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo als bdquoUnkrautldquo bezeichnet hatte sah in Petru-nins Buch ein Beispiel dafuumlr wie dieses sich bdquospontan und schaumldlichldquo ausbreite Die von Petrunin konstruierte bdquophantastische Genealogie des politischen Hesy-chasmusldquo beruhe so Živov auf einer bdquoMischung aus Einseitigkeit und Unwissen-heitldquo Weder sei der bdquotuumlrkische Turbanldquo fuumlr den Patriarchen attraktiv gewesen noch sei am Widerstand gegen die Union irgendetwas spezifisch bdquoHesychasti-schesldquo Petrunin habe ein bdquoPhantomldquo geschaffen dessen angebliche Verbindung mit der Sozialkonzeption man nicht weiter zu verfolgen brauche101

bdquoNeobyzantismusldquo Das Dritte Rom ndash der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo

Eine eigenwillige Interpretation des Hesychasmus und seine Wendung gegen den Westen stammen von Aleksandr Dugin dem Fuumlhrer der bdquoeurasischenldquo Bewegung und einflussreichsten Vordenker der Neuen Rechten in Russland Der polyglotte und belesene Autodidakt der nie eine akademische Ausbildung genossen hat war Gruumlnder der Partei der Nationalbolschewisten Berater des Vorsitzenden der Du-ma und des Generalstabs sowie von 2008 bis 2014 Professor fuumlr Soziologie an der renommierten Moskauer Lomonosov-Universitaumlt und Direktor des dortigen bdquoZentrums fuumlr Konservatismusstudienldquo Seit Anfang der 1990er Jahre verbreitet er mit graphomanem Eifer seine politischen und bdquometaphysischenldquo Botschaften in einer inzwischen kaum noch uumlberschaubaren Zahl von Publikationen102 und Web-Artikeln in mehreren Sprachen sowie durch spektakulaumlre Auftritte in staats-nahen Medien103 99 Kristina Stoumlckl bdquoPolitical Hesychasm Vladimir Petruninrsquos Neo-Byzantine Interpretation

of the Social Doctrine of the Russian Orthodox Churchldquo in Studies in East European Thought 62 (2010) 125ndash133

100 Klaus Buchenau Auf russischen Spuren Orthodoxe Antiwestler in Serbien 1850ndash1945 Wiesbaden 2011 480 Anm 2

101 Živov bdquoVidenija svetaldquo 364f ndash Von der Kritik offenbar unbeeindruckt verschaumlrfte Petru-nin noch seine Position So sprach er 2012 in einem Vortrag uumlber die gesellschaftliche und politische Wirkung der hesychastischen Gebetspraxis Nach dem Fall von Byzanz sei das bdquoJesusgebet faktisch zu einem sbquopolitischen Gebetlsquoldquo geworden das auf die bdquoVerwandlung [preobraženie] der orthodoxen Oumlkumeneldquo ausgerichtet gewesen sei und das bdquoPhaumlnomen der Heiligen Rusrsquoldquo hervorgebracht habe lthttpsynergia-isarup=8604gt

102 Zuletzt in der bislang fuumlnf Baumlnde umfassenden Reihe bdquoNoomachijaldquo (2014ndash2015) einer hochambitioumlsen letztlich aber manichaumlisch-schematischen Beschreibung der bdquoSuche nach dem Logosldquo in den ndash von Dugin essenzialistisch aufgefassten ndash bdquoWeltkulturenldquo

103 Auch die Literatur zu Dugin ist kaum noch uumlberschaubar Siehe zB Alexander Houmlllwerth Das sakrale eurasische Imperium des Aleksandr Dugin Eine Diskursanalyse zum post-sowjetischen russischen Rechtsextremismus Stuttgart 2007 Stefan Wiederkehr Die eurasische Bewegung Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwi-schenkriegszeit und im postsowjetischen Russland Koumlln [ua] 2007 227ndash261 Anton

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 29

Dugin deutet den Hesychasmus im Rahmen des sogenannten bdquointegralen Traditionalismusldquo einer antimodernen Denkrichtung die im ersten Drittel des 20 Jahrhunderts in Frankreich und Italien entstand und in Reneacute Gueacutenon (1886ndash1951) und Julius Evola (1898ndash1974) ihre bekanntesten (und auch fuumlr Dugin wichtigsten) Vertreter hat104 Ihre Lehre besagt dass alle Religionen ungeachtet ihrer histori-schen und regionalen Auspraumlgungen in ihrem esoterischen nur dem Eingeweih-ten zugaumlnglichen Kern eine gemeinsame urspruumlngliche Wahrheit teilen und als philosophia perennis tradieren das Wissen um die Goumlttlichkeit und den Zugang zu ihr Dieses sakrale und initiatorische Wissen sei im Verlauf der westlichen Mo-derne insbesondere durch die Aufklaumlrung verlorengegangen in traditionellen Gesellschaften (China Indien islamische Welt) jedoch bewahrt geblieben105

Auch die Orthodoxie so Dugin habe im Gegensatz zu Katholizismus und Protestantismus bdquodie Treue zum esoterischen Kernldquo bewahrt naumlmlich in ihrer mystischen Unterstroumlmung dem Hesychasmus106 In der Kanonisierung des Gre-gorios Palamas durch die Ostkirche bei gleichzeitiger Verdammung des Humanis-ten Barlaam sieht Dugin das Bekenntnis zum bdquognostisch-realistischen Geist der orthodoxen Esoterikldquo Ganz im Sinn des Traditionalismus deutet er die psycho-physische Uumlbung der Hesychasten das bdquogeistige Tunldquo als Verfahren der bdquoInitia-tionldquo und das Endziel der bdquoVerklaumlrungldquo und bdquoVergoumlttlichungldquo als bdquoalchemistische Verwandlung des Leibesldquo (alchimičeskoe preobraženie tela) Dadurch wuumlrden der bdquoDualismus von Geist und Materie Leib und Seeleldquo sowie die bdquoGrenzen der Individualitaumltldquo ndash charakteristisch fuumlr den bdquorein exoterischen Mystizismusldquo des Westens ndash aufgehoben107 Die bdquoTradition der hesychastischen Esoterikldquo sei die

Shekhovtsov bdquoThe Palingenetic Thrust of Russian Neo-Eurasianism Ideas of Rebirth in Aleksandr Duginrsquos Worldviewldquo in Totalitarian Movements and Political Religions 9 (2008) 491ndash506 Mark Sedgwick bdquoOccult Dissident Culture The Case of Aleksandr Du-ginldquo in Birgit Menzel [ua] (Hgg) The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimen-sions MuumlnchenBerlin 2012 273ndash292 Schmid Technologien der Seele 210ndash220

104 Aleksandr Dugin Filosofija tradicionalizma Moskva 2002 Zum Traditionalismus siehe das Standardwerk von Mark Sedgwick Against the Modern World Traditionalism and the Secret Intellectual History of the Twentieth Century OxfordNew York 2004 zu Dugin 221ndash237 Vgl auch Christopher DL Johnson The Globalization of the Jesus Prayer Con-testing Contemplation London New York 2010 70ndash73

105 Aumlhnliche Gedanken entwickelte Pavel Florenskij bereits 19081909 in seinem Vortrag bdquoObščečelovečeskie korni idealizmaldquo in dem er die bdquoEsoterikldquo der Philosophie Platons und seiner Nachfolger in der bdquoallgemeinmenschlichenldquo mystisch-magischen Weltauffas-sung der bdquoVolksseeleldquo wurzeln laumlsst

106 Das Folgende nach Aleksandr Dugin bdquoOboženie preestestvennejšeeldquo in Milyj angel 1 1991 56ndash59

107 Das Konzept der bdquoInitiationldquo und die Unterscheidung von bdquoesoterischldquo und bdquoexoterischldquo sind zentral fuumlr die Anhaumlnger des Traditionalismus siehe Sedgwick Against the Modern World 265 ndash Als Mitglied des okkultistischen und faschistischen Južinskij-Kreises machte Dugin in Moskaus bdquomystischem Untergrundldquo in den 1980er Jahren selbst Entgrenzugser-fahrungen mit Hilfe sexualmagischer Praktiken und bewusstseinserweiternder Drogen Bei einem Teil der orthodoxen Glaumlubigen stoumlszligt seine Esoterik denn auch auf Misstrauen und

30 Michael Hagemeister

bdquoSeele der russischen Orthodoxieldquo und habe in Serafim von Sarov ihren bdquoletzten leuchtendsten Vertreterldquo gefunden

Der Hesychasmus gehoumlre zum traditionellen Erbe von Byzanz das Russ-land angetreten habe als es zum Dritten Rom und zum Zentrum der orthodoxen Welt geworden sei bdquoWir sindldquo so Dugin bdquobyzantinisch in unserer Seele unseren Wurzeln und in unserer Identitaumltldquo108

Unser stabilstes Fundament ist Byzanz [hellip] Russland ist Byzanz [hellip] Unsere For-mel lautet Der Westen ist das Boumlse Byzanz das Gute Alles Schlechte das uumlber Byzanz geschrieben wurde ist eine Luumlge Das sind lediglich Winkelzuumlge im ideolo-gischen Kampf von Seiten des Westens [hellip] Jeder Russe muss wissen Byzanz ist das reine Gute Jeder der etwas anderes behauptet ist ein Feind [hellip] Wer Byzanz kritisiert ist ein Feind des russischen Volkes Das muss unser ehernes Prinzip sein [hellip] Byzanz ist der absolute Orientierungspunkt des russischen Projekts109

Damit sind Russlands Ort und Mission in der bdquohistoriosophischenldquo Deutung des Weltgeschehens bestimmt Nach Dugin wird die Geschichte der Menschheit be-herrscht vom bdquookkulten planetarischen Ringenldquo zweier antagonistischer Maumlchte dem bdquogroszligen Krieg der Kontinenteldquo Land gegen Meer Behemoth gegen Levia-than die organischen bodenstaumlndigen und traditionalistischen bdquoTellurokratienldquo des eurasischen Ostens gegen die wurzel- und seelenlosen materialistischen bdquoTha-lassokratienldquo des angloamerikanischen Westens das apokalyptische Tier aus dem Meer (Offb 13 1-10)110 Die USA als bdquoQuintessenz des Westensldquo und New York als moderne Hure Babylon (Offb 17 und 18) sind das Reich des Antichrist eine chimaumlrisch-antiorganische transplantierte Zivilisation die keine sakrale Tradi-tion besitze ihre Selbsterhebung zu bdquoGottes neuem Israelldquo und bdquoNeuem Zionldquo ndash gemaumlszlig der anglo-amerikanischen Interpretation der Substitutionslehre ndash deutet Dugin als besonders perfiden Taumluschungsversuch des bdquowestlichen Antichristldquo Das Jahr der Entdeckung Amerikas (1492 ist nach der altrussisch-byzantinischen

offene Ablehnung Fuumlr den Sektenexperten des Moskauer Patriarchats ist Dugin ein bdquoge-faumlhrlicher Feindldquo der die bdquoOrthodoxie in Kabbalistik umzuschmelzenldquo versuche Andrej Kuraev Cerkovrsquo v mire ljudej Moskva 2006 142

108 Aleksandr Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Tradition Duginrsquos Guidelineldquo lthttpswwwyoutubecomwatchv=m0RIa61eZDggt

109 Aleksandr Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo in ders Russkaja Veščrsquo Očerki nacionalrsquonoj filosofii Bd 1 Moskva 2001 69ndash76 hier 70ndash72 (Hervorhebungen im Original) Der Be-griff bdquoByzantismusldquo (vizantizm) ndash im Unterschied zum negativ konnotierten bdquoByzantinis-musldquo ndash als Bezeichnung eines dem europaumlischen entgegengesetzten Kulturtypus der auf den Prinzipien von Orthodoxie und Selbstherrschaft beruht geht auf den konservativen Philosophen Konstantin Leontrsquoev (1831ndash1891) und sein Buch Vizantizm i slavjanstvo (1875) zuruumlck

110 Auch fuumlr den von Dugin verehrten Heidegger waren die Seemaumlchte Groszligbritannien und Amerika nicht Teil der abendlaumlndischen Tradition sondern im Gegensatz zum restlichen Europa wurzellos und sinnleer Der Antagonismus von Land und Meer die kategorische Unterscheidung von Freund und Feind sowie das Konzept des Katechon gehen auf Carl Schmitt zuruumlck als dessen Schuumller Dugin sich bezeichnet Siehe auch Fn 41

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 31

Weltaumlra das Jahr 7000 nach dem chiliadischen Weltwochenschema also der sieb-te Tag der Schoumlpfung) verweise ebenso auf den Endzeitcharakter der bdquoNeuen Weltldquo wie die bdquosakrale Geographieldquo nach der das Paradies im Osten die Houmllle aber das bdquoLand des Todesldquo im Westen zu suchen seien111

Dem Antichrist entgegen stehe seit jeher der Katechon dessen bdquoletzter Hortldquo bis ans Ende der Zeit die Heilige Rusrsquo das Dritte Rom sei112 In der petrini-schen Epoche als die Hauptstadt in die bdquonoumlrdlichen Suumlmpfeldquo in die bdquoGespenster-stadtldquo Petersburg verlegt und das Patriarchat abgeschafft wurde haumltten allein die Altglaumlubigen den Geist von Byzanz den Katechon bewahrt zweihundert Jahre lang sei der Weg frei gewesen fuumlr das zerstoumlrerische Wirken des Antichrist Erst die sowjetische Periode habe eine bdquomystische Ruumlckkehr zum Byzantismusldquo be-deutet indem die Bolschewiki das heilige Moskau wieder zur Hauptstadt erklaumlr-ten das Patriarchat wiederherstellten die Ausbeuter als Klasse vernichteten und dem Westen auf allen Gebieten Widerstand boten Im bdquoroten Byzantismusldquo der Dritten Internationale sei der Katechon zuruumlckgekehrt113

Um seine Mission zur Erloumlsung der Menschheit auch kuumlnftig zu erfuumlllen muumlsse das Dritte Rom nach dem Zerfall der Sowjetunion114 nunmehr ein groszligkon-tinentales sakral fundiertes bdquoEurasisches Imperiumldquo errichten gegen den Erz-feind die materialistische universalistische alles nivellierende Zivilisation des Westens als der Verkoumlrperung des bdquoweltweiten Boumlsenldquo (mirovoe zlo) gegen Libe-ralismus Individualismus Globalismus Egalitarismus sowie die bdquomondialisti-scheldquo Konzeption der Menschenrechte115 Verbuumlndete im bevorstehenden apoka-lyptischen bdquoEndkampfldquo (von Dugin stets deutsch geschrieben) werden all jene sein die den Bezug zum bdquoSakralenldquo noch nicht verloren haben russische Altglaumlu-bige ultraorthodoxe antizionistische Juden europaumlische Traditionalisten sowie jene bdquoanti-atlantischenldquo islamistischen Fundamentalisten die in den USA den Dajjacircl den falschen Messias und Antichrist erkennen gegen den die Retter-gestalt des Mahdicirc zu Felde ziehen wird116 111 Aleksandr Dugin Absoljutnaja Rodina Puti Absoljuta Metafizika Blagoj Vesti Misterii

Evrazii Moskva 1999 645ndash670 112 Ebd 378ndash395 493ndash521 113 Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo 74ndash76 Siehe auch ders bdquoKatechon i revoljucijaldquo in ders

Tampliery proletariata Nacional-bolrsquoševizm i iniciacija Moskva 1997 52ndash59 ndash Die mes-sianische Identifizierung des Dritten Rom mit der Dritten Internationale reicht bis ins Gruumlndungsjahr der Komintern (1919) zuruumlck Beide so der slawophile Philosoph und An-haumlnger des imjaslavie Valerian Muravrsquoev (1885ndash1930) in einem Brief vom 6 Januar 1920 an Lev Trockij seien Ausdruck der Suche des russischen Volkes und der Intelligencija nach einem Reich der Wahrheit und Gerechtigkeit Valerian Muravrsquoev Sočinenija Bd 2 Moskva 2011 352f Weitere Belege bei Emanuel Sarkisyanz Russland und der Messianis-mus des Orients Tuumlbingen 1955 196 Mikhail Agursky Third Rome National Bolshevism in the USSR Boulder Co 1987

114 Damals sah ein Journalist bdquoauf den Ruinen des Imperiumsldquo das Dritte Rom in Gefahr zu einem Land der Dritten Welt zu werden Andrej Fadin bdquoTretij Rim v tretrsquoem mire Razmy-šlenija na ruinach imperiildquo in Nezavisimaja gazeta 1291991

115 [Aleksandr Dugin] bdquoLibo-my libo-ničtoldquo in Ėlementy 8 19961997 1ndash4 hier 2 116 [Aleksandr Dugin] bdquoIdeologija Mirovogo Pravitelrsquostvaldquo in Ėlementy 2 1992 1f

32 Michael Hagemeister

Das Dritte Rom als Zentrum des eurasischen bdquoEuro-Sowjetischen Imperiumsldquo Titelbild der von Aleksandr Dugin herausgegebenen Zeitschrift bdquoElemente Eurasische Rundschauldquo (1992) Dugins Werk mit seiner provokanten Mischung esoterischer antimoderner und antiwestlicher Motive findet besonders unter jungen Intellektuellen Anklang und Nachahmer so etwa bei dem promovierten Philosophen und selbstproklamierten bdquoorthodoxen Metaphysikerldquo Arkadij Maler einem vehementen Propagandisten einer bdquopolitischen Orthodoxieldquo (političeskoe Pravoslavie) und fuumlhrenden Ideolo-gen der bdquoneobyzantinischenldquo Doktrin Obwohl sich Maler von Dugin distan-ziert117 beschwoumlrt auch er die eschatologische bdquogeistige Mission des Dritten Romldquo die es von Byzanz geerbt habe und die in seiner bdquozentralen katechontischen Rolleldquo bestehe dem Kampf gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo des bdquogottlosen Wes-tensldquo118 Russische Politik koumlnne deshalb nicht anders als imperial sein und muumlsse ihren Einfluss auf den gesamten Planeten ausdehnen Wie Dugin sieht auch Maler die Bolschewiki in dieser Tradition als sie Moskau zur Hauptstadt des bdquoRoten

117 In den spaumlten 1990er Jahren gehoumlrte Maler der vaumlterlicherseits juumldischer Abstammung ist

zusammen mit Dugin und Ėduard Limonov zur Fuumlhrungsriege der Nationalbolschewisti-schen Partei und schrieb fuumlr die Parteizeitung Limonka sich selbst charakterisierte er als bdquorotbraunen Zionistenldquo Nach seiner Konversion zur Orthodoxie trennte er sich 1999 von Dugin und kritisierte dessen esoterischen Traditionalismus aus einer ultraorthodoxen Posi-tion Dugin wiederum warf Maler vor ihn zu plagiieren

118 Arkadij Maler Duchovnaja missija Tretrsquoego Rima Moskva 2005 bes 134ndash136 170ndash206 Siehe auch ders bdquoIdeologija Vizantizmaldquo in Severnij Katechon 1 (2005) 7ndash49 bdquoNeovi-zantizm kak novyj bolrsquošoj stilrsquoldquo in Aleksej Nilogov (Hg) Kto segodnja delaet filosofiju v Rossii Moskva 2007 110ndash124

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 33

Imperiumsldquo machten und dieses zur bdquoabsoluten Antithese des Westensldquo erklaumlrten zum bdquoTraumlger der planetarischen Mission der Befreiung der Welt aus den sbquoFesseln des Kapitalslsquoldquo119 Das Dritte Rom sei zeitweise in die Dritte Internationale trans-formiert worden ohne jedoch seine Mission als Katechon als aufhaltende Macht gegen das Reich des Boumlsen und Ausgangspunkt zur Errettung der Welt aufzuge-ben Die bdquoletzte Etappeldquo im Kampf gegen den Antichrist werde so Maler der bdquoeschatologische Krieg des Dritten Rom gegen das Dritte Karthagoldquo den bdquoAnti-katechonldquo sein die bdquoanglo-amerikanische [] atlantische Zivilisationldquo120 Zur Propagierung der katechontischen Mission Russlands gruumlndete Maler 1999 am Institut fuumlr Philosophie der Akademie der Wissenschaften in Moskau einen bdquoBy-zantistischen Klub Katechonldquo (Vizantistskij Klub Katechon) und 2005 das bdquoPhi-losophisch-politische Zentrum sbquoNoumlrdlicher Katechonlsquoldquo das einen gleichnamigen Almanach (Severnyj Katechon) herausgibt121

Apokalyptischer Ausblick

Die Formel vom Dritten Rom und die Figur des Katechon des Aufhalters des bdquoweltweiten Boumlsenldquo sind zu Markenzeichen russischer Anti-Westler und Ver-schwoumlrungstheoretiker und ihres schrillen Szenariums eines globalen apokalyp-tischen bdquoEndkampfesldquo gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo geworden122 Unter dem Titel bdquoDie russische Doktrin Die Staatsideologie der Epoche Putinsldquo verfasste in den Jahren 2005 und 2006 ein Kollektiv nationalpatriotischer Autoren ndash unter ih-nen der bdquoByzantistldquo Arkadij Maler ndash ein uumlber 1000 Seiten langes ultrakonservati-ves und antiwestliches Manifest das auch die Unterstuumltzung hoher kirchlicher Wuumlrdentraumlger fand123 In ihrem Entwurf einer bdquoorganischen weltanschaulichen Plattformldquo fuumlr das kuumlnftige Russland behandeln die Autoren ausfuumlhrlich die bdquohis-toriosophischeldquo Konzeption vom Dritten Rom und seine Mission als Katechon gegen das bdquoHeidentumldquo des Westens124 Gefordert wird die positive Identifikation

119 Maler Duchovnaja missija 182f 185 120 Ebd 177 ndash Als Mittel im ideologischen Kampf gegen den saumlkularen Westen fordert Maler

in Analogie zur katholischen Gegenreformation eine orthodoxe konservative bdquoGegenauf-klaumlrungldquo (Kontrprosveščenie) lthttpwwwkatehonruhtmltoppolitologiaideaotkritije _polit_pravoslavijahtmgt

121 Siehe die Website lthttpwwwkatehonrugt 122 Siehe zB Galina A Morozova Tretij Rim protiv novogo mirovogo porjadka Moskva

2009 Die Formel von Dritten Rom hat laumlngst auch Schriftsteller und Maler inspiriert und scheint auch werbewirksam zu sein bdquoDrittes Romldquo nennt sich ein Verlag ein Videospiel eine Bank ein Reisebuumlro und sogar ein Kasino in Jalta Ein Schoumlnheitswettbewerb in Mos-kau vergibt alljaumlhrlich den Titel einer bdquoMiss Drittes Romldquo Judith E Kalb Russiarsquos Rome Imperial Visions Messianic Dreams 1890ndash1940 Madison Wisconsin 2008 198f Zum Katechon siehe Maria Engstroumlm bdquoContemporary Russian Messianism and New Russian Foreign Policyldquo in Contemporary Security Policy 35 (2014) 3 356ndash379

123 Russkaja doktrina Gosudarstvennaja ideologija ėpochi Putina Moskva 2016 124 Ebd 68ndash72 116ndash120 und passim

34 Michael Hagemeister

mit der Geschichte Russlands und seinen Lichtgestalten dem Heiligen Serafim von Sarov dem bdquoeschatologischen Fuumlhrer des russischen Volkes am Ende der Zeitenldquo der bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo und Stalin der dem paulinischen Kate-chon gleich die bdquoGesetzlosigkeitldquo (bezzakonie) bekaumlmpft und das bdquoFundament fuumlr eine groszlige Zukunftldquo gelegt habe125

bdquoKatechonldquo nennt sich auch ein prominent besetzter Think tank den der Oligarch und Berater Putins Konstantin Malofeev im Jahr 2015 gegruumlndet hat126 Der Milliardaumlr der sein Vermoumlgen mit einer Investmentfirma auf den Cayman Inseln gemacht hat bezeichnet sich selbst als bdquoorthodoxen Monarchistenldquo127 Er unterstuumltzt die Separatisten in der Ostukraine und unterhaumllt vielfaumlltige Verbindun-gen zu europaumlischen Rechtspopulisten wie dem Front National der FPOuml Syriza und der Lega Nord Neben dem Forum bdquoKatechonldquo betreibt Malofeev auch einen Fernsehsender mit dem programmatischen Namen bdquoZargradldquo128 (Motto bdquoDas Licht Christi erleuchtet alleldquo) dessen Chefkommentator niemand anderes ist als Aleksandr Dugin129

bdquoKatechonldquo und bdquoZargradldquo propagieren den Kampf gegen die westliche Moderne mit Bezug auf das byzantinische Erbe Russlands Im November 2014 fand in der Moskauer Manege eine Konferenz bdquoMoskau ndash das Dritte Romldquo statt130 An ihr nahmen auszliger Dugin und Malofeev auch Archimandrit Tichon und Nata-lrsquoja Naročnickaja teil eine hochrangige Diplomatin Mitglied des Izborsker Klubs und Leiterin des Pariser bdquoInstituts fuumlr Demokratie und Kooperationldquo das die oumlf-fentliche Meinung im Westen im Sinne des Kremls beeinflussen soll Tichons Film bdquoDie Lehre von Byzanzldquo sei so Naročnickaja auch eine Warnung an den Westen der seine christlichen Werte verraten habe weshalb er den glaubens-festen Migranten und ihrer Verachtung hilflos ausgeliefert sei131

Im Oktober 2009 wurde Tichons Film in Athen vor ausverkauftem Saal aufgefuumlhrt Unter denen die dem Drehbuchautor Beifall spendeten war der Philo-soph und Theologe Christos Yannaras einer der Hauptvertreter der Neoorthodo-xie und scharfer Kritiker des Westens Wie ihre russischen Gesinnungsgenossen

125 Ebd 130f 153 142ndash145 126 Mit einem Auftritt im Internet in 9 Sprachen Siehe die deutsche Version unter lthttp

katehoncomdewer-sind-wirgt 127 lthttpsdewikipediaorgwikiKonstantin_Walerjewitsch_Malofejewgt 128 Carrsquograd ist der altrussische Name fuumlr Konstantinopel 129 Auch Dugin unterhaumllt seit mehr als 25 Jahren Kontakte zu ultrakonservativen traditiona-

listischen und faschistischen Gesinnungsgenossen in Westeuropa Siehe Vladimir Ivanov Alexander Dugin und die rechtsextremen Netzwerke Fakten und Hypothesen zu den inter-nationalen Verflechtungen der russischen Neuen Rechten Stuttgart 2007

130 lthttpwwwpravoslavieru75070htmlgt 131 lthttpwwwpravoslavieru7414htmlgt ndash Fuumlr Metropolit Ilarion (Alfeev) der sich dabei

auf Dugin beruft verwandeln sich die Laumlnder Westeuropas bereits in die bdquoSphaumlre des Anti-christldquo lthttpwwwpatriarchiarudbtext3065216htmlgt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 35

verherrlichen auch die griechischen Neoorthodoxen die byzantinische Vergan-genheit und sehen in der modernen saumlkularen Gesellschaft eine Bedrohung ihrer kulturellen Identitaumlt132 Gemeinsam suchen sie der Globalisierung mit einer bdquoby-zantinischen Internationaleldquo als bdquoorthodoxer Oumlkumeneldquo entgegenzuwirken einer letztlich sakral verstandenen Gemeinschaft deren Einfluss indes weit uumlber die kirchliche Sphaumlre hinausreichen und eine transnationale Vereinigung der ortho-doxen Welt von Serbien uumlber Syrien bis Georgien und Armenien unter Fuumlhrung Moskaus schaffen soll133 Als wichtiger symbolischer Schritt auf diesem Weg wurde der Besuch von Praumlsident Putin und Patriarch Kirill des Heiligen Berges Athos einer traditionellen Hochburg antiwestlicher Opposition im Mai 2016 ge-feiert Das weltliche und das geistliche Oberhaupt Russlands ndash die bdquoSymphonia der Maumlchteldquo ndash zeigten damit so Aleksandr Dugin ihr Bekenntnis zu Byzanz und seiner Rolle als Katechon Damit anerkenne bdquounsere Rusrsquo ihre historische Bestim-mung Wir sind bereit fuumlr die Endzeitldquo134

132 Ausfuumlhrlich dazu Daniel P Payne The Revival of Political Hesychasm in Contemporary

Orthodox Thought The Political Hesychasm of John Romanides and Christos Yannaras Lanham [ua] 2011 Siehe auch Vasilios N Makrides bdquoByzantium in Contemporary Greece The Neo-Orthodox Current of Ideasldquo in David RicksPaul Magdalino (Hgg) Byzantium and the Modern Greek Identity Aldershot 1998 141ndash153 Zum griechischen Neobyzantismus unter russischem Einfluss Aleksey Kamenskikh bdquoThe Image of the Second Rome through the Prism of the Thirdrdquo in Teresa Obolevich [ua] (Hgg) Russian Thought in Europe Reception Polemics Development Krakoacutew 2013 13ndash22 ndash Antimo-derne und antiwestliche Stroumlmungen in den vom orthodoxen Christentum gepraumlgten Kultu-ren haben der Religionswissenschaftler Makrides und der Slavist Uffelmann vor einigen Jahren als Desiderat der Forschung benannt Vasilios N MakridesDirk Uffelmann bdquoStudying Eastern Orthodox Anti-Westernism The Need for a Comparative Research Agendaldquo in Jonathan SuttonWil van den Bercken (Hgg) Orthodox Christianity and Contemporary Europe Leuven [ua] 2003 87ndash120 Seitdem haben Makrides und die Politikwissenschaftlerin Stoumlckl eine Reihe einschlaumlgiger Arbeiten vorgelegt in denen or-thodoxe Alternativen zu westlichen philosophischen und politischen Konzepten untersucht werden Vasilios N Makrides bdquoOrthodoxes Cristentum und Moderne ndash Inkompatibilitaumlt oder langfristige Anpassungldquo in Una Sancta 2011 1 15ndash30 ders bdquoOumlstliches orthodo-xes Christentum und Saumlkularitaumlt Ein Vergleich mit dem lateinischen Christentumldquo in Transit 47 (2015) 59ndash75 Kristina Stoumlckl bdquoModernity and its Critique in Twentieth Cen-tury Russian Orthodox Thoughtldquo in Studies in East European Thought 58 (2006) 243ndash269 dies Community after Totalitarianism The Russian Orthodox Intellectual Tradition and the Philosophical Discourse of Political Modernity Frankfurt aM [ua] 2008

133 Dazu gehoumlrt auch die Verwirklichung des jahrhundertealten Traums der Wiedererrichtung des Kreuzes auf der Hagia Sophia Siehe Egor Cholmogorov Russkij proekt restavracija buduščego Moskva 2005 283 Der Verfasser Mitglied des Expertenteams des Izborsker Klubs ist Begruumlnder der Doktrin der bdquoAtomaren Orthodoxieldquo siehe Fn 74

134 Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Traditionldquo

ZUM AUTOR

Michael Hagemeister geb 1951 in EllwangenJagst Studium der Slavistik Ge-schichte Germanistik und Philosophie in Basel und MarburgLahn Promotion mit einer Arbeit uumlber den russischen Philosophen Nikolaj Fedorov Wissenschaft-licher Mitarbeiter am Slawischen Seminar in Marburg Gastprofessor am Seminar fuumlr Komparatistik der Universitaumlt Innsbruck Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lotman-Institut fuumlr russische und sowjetische Kultur der Ruhr-Universitaumlt Bo-chum am Lehrstuhl fuumlr Geschichte Osteuropas der Europa-Universitaumlt Viadrina Frankfurt (Oder) an den Historischen Seminaren der Universitaumlten Basel Duumlssel-dorf und Bochum Vertretung der Professuren fuumlr Geschichte Osteuropas an der Ludwig-Maximilians Universitaumlt Muumlnchen und an der Europa-Universitaumlt Frank-furt (Oder)

Forschungen zur russischen Philosophie und Geistesgeschichte zum utopischen und apokalyptischen Denken in Russland zum russischen Rechtsextremismus und Antisemitismus sowie insbesondere zu den Protokollen der Weisen von Zion und ihrem Herausgeber Sergej Nilus Publikationen ua Die Neue Menschheit Biopolitische Utopien in Russland (hg mit Boris Groys) Frankfurt aM 2005 The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimensions (hg mit Birgit Menzel und Bernice Rosenthal) Muumlnchen 2012 Die Fiktion von der juumldischen Weltver-schwoumlrung Zu Text und Kontext der bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo (hg mit Eva Horn) Goumlttingen 2012 Die bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo vor Gericht Der Berner Prozess und die bdquoantisemitische Internationaleldquo in der Zwischen-kriegszeit Chronik Dokumente und Kommentare Zuumlrich (im Druck)

ERFURTER VORTRAumlGE ZUR KULTURGESCHICHTE DES ORTHODOXEN CHRISTENTUMS Reihenherausgeber Vasilios N Makrides

Heft 1 Thomas Bremer Konfrontation statt Oumlkumene Zur kirchlichen Situation in der Ukraine Erfurt 2001

Heft 2 Gerhard Podskalsky Zur Hermeneutik des theologischen Ost-West-

Gespraumlchs in historischer Perspektive Erfurt 2002 Heft 3 Karl Christian Felmy Warum und zu welchem Behufe treiben wir

Ostkirchenkunde Erfurt 2003 Heft 4 Wassilios Klein bdquoTatarenjoch ndash татарское игоldquo Beobachtungen zur

Wahrnehmung des Islam im eurasischen Raum Erfurt 2005 Heft 5 Stamatios D Gerogiorgakis Zeitphilosophie im Mittelalter Byzantinische

und lateinische Vorstellungen Erfurt 2006 Heft 6 Heinz Ohme Das Oumlkumenische Patriarchat von Konstantinopel und die

tuumlrkische Religionspolitik Erfurt 2007 Heft 7 Alexander Agadjanian Russian Orthodox Vision of Human Rights Recent

Documents and Their Significance Erfurt 2008 Heft 8 Christos Yannaras Wem gehoumlrt die griechische Antike Erfurt 2009 Heft 9 Joachim Willems Religions- und Ethikunterricht in Russland ndash Was

wollen Staat und Kirche Zur Einfuumlhrung des neuen Schulfaches bdquoGrundlagen der religioumlsen Kulturen und der weltlichen Ethikldquo Erfurt 2010

Heft 10 Chris Hann Eastern Christianity and Western Social Theory Erfurt 2011 Heft 11 Jennifer Wasmuth Akademische Theologie im zaristischen Russland in

ihrer Bedeutung fuumlr die neuere orthodoxe Theologie Erfurt 2012 Heft 12 Anna Briskina-Muumlller Auf der Suche nach der bdquoHesychialdquo Paisij

Veličkovskij (1722ndash1794) und sein Leben fuumlr die bdquoPhilokalieldquo Erfurt 2014

Heft 13 Vladimir Cvetković From ldquoMerciful Angelrdquo to ldquoFortress Europerdquo The

Perception of Europe and the West in Contemporary Serbian Orthodoxy Erfurt 2015

Heft 14 Stefan G Reichelt Lebenslinien Nikolaj A Berdjaev (1874ndash1948) und Sergij N Bulgakov (1871ndash1944) im Westen ndash Eine Wuumlrdigung Erfurt 2015

Heft 15 Michael Hagemeister Der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo ndash bdquoNeobyzantismusldquo

und bdquopolitischer Hesychasmusldquo im postsowjetischen Russland Erfurt 2016

Alle Hefte der vorliegenden Schriftenreihe koumlnnen unter folgendem Link kostenlos heruntergeladen werden URL httpswwwuni-erfurtdereligionswissenschaftprofessur-orthodoxes-christentumveroeffentlichungenerfurter-vortraege-zur-kulturgeschichte-des-orthodoxen-christentums

Page 28: Michael Hagemeister FINAL - uni-erfurt.de · doziert Tichon, während er das antike Kons tantinopel computeranimiert auferste- hen lässt. Das prosperierende Impe rium erregte freilich

28 Michael Hagemeister

wie der Untergang von Byzanz99 Klaus Buchenau warf Petrunin vor er bdquoverfor-m[e] und ideologisier[e] die urspruumlnglichen Motive des hesychastischen Moumlnch-tums bis zur Unkenntlichkeitldquo100 Und Viktor Živov der bereits Prochorovs Kon-zept des bdquopolitischen Hesychasmusldquo als bdquoUnkrautldquo bezeichnet hatte sah in Petru-nins Buch ein Beispiel dafuumlr wie dieses sich bdquospontan und schaumldlichldquo ausbreite Die von Petrunin konstruierte bdquophantastische Genealogie des politischen Hesy-chasmusldquo beruhe so Živov auf einer bdquoMischung aus Einseitigkeit und Unwissen-heitldquo Weder sei der bdquotuumlrkische Turbanldquo fuumlr den Patriarchen attraktiv gewesen noch sei am Widerstand gegen die Union irgendetwas spezifisch bdquoHesychasti-schesldquo Petrunin habe ein bdquoPhantomldquo geschaffen dessen angebliche Verbindung mit der Sozialkonzeption man nicht weiter zu verfolgen brauche101

bdquoNeobyzantismusldquo Das Dritte Rom ndash der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo

Eine eigenwillige Interpretation des Hesychasmus und seine Wendung gegen den Westen stammen von Aleksandr Dugin dem Fuumlhrer der bdquoeurasischenldquo Bewegung und einflussreichsten Vordenker der Neuen Rechten in Russland Der polyglotte und belesene Autodidakt der nie eine akademische Ausbildung genossen hat war Gruumlnder der Partei der Nationalbolschewisten Berater des Vorsitzenden der Du-ma und des Generalstabs sowie von 2008 bis 2014 Professor fuumlr Soziologie an der renommierten Moskauer Lomonosov-Universitaumlt und Direktor des dortigen bdquoZentrums fuumlr Konservatismusstudienldquo Seit Anfang der 1990er Jahre verbreitet er mit graphomanem Eifer seine politischen und bdquometaphysischenldquo Botschaften in einer inzwischen kaum noch uumlberschaubaren Zahl von Publikationen102 und Web-Artikeln in mehreren Sprachen sowie durch spektakulaumlre Auftritte in staats-nahen Medien103 99 Kristina Stoumlckl bdquoPolitical Hesychasm Vladimir Petruninrsquos Neo-Byzantine Interpretation

of the Social Doctrine of the Russian Orthodox Churchldquo in Studies in East European Thought 62 (2010) 125ndash133

100 Klaus Buchenau Auf russischen Spuren Orthodoxe Antiwestler in Serbien 1850ndash1945 Wiesbaden 2011 480 Anm 2

101 Živov bdquoVidenija svetaldquo 364f ndash Von der Kritik offenbar unbeeindruckt verschaumlrfte Petru-nin noch seine Position So sprach er 2012 in einem Vortrag uumlber die gesellschaftliche und politische Wirkung der hesychastischen Gebetspraxis Nach dem Fall von Byzanz sei das bdquoJesusgebet faktisch zu einem sbquopolitischen Gebetlsquoldquo geworden das auf die bdquoVerwandlung [preobraženie] der orthodoxen Oumlkumeneldquo ausgerichtet gewesen sei und das bdquoPhaumlnomen der Heiligen Rusrsquoldquo hervorgebracht habe lthttpsynergia-isarup=8604gt

102 Zuletzt in der bislang fuumlnf Baumlnde umfassenden Reihe bdquoNoomachijaldquo (2014ndash2015) einer hochambitioumlsen letztlich aber manichaumlisch-schematischen Beschreibung der bdquoSuche nach dem Logosldquo in den ndash von Dugin essenzialistisch aufgefassten ndash bdquoWeltkulturenldquo

103 Auch die Literatur zu Dugin ist kaum noch uumlberschaubar Siehe zB Alexander Houmlllwerth Das sakrale eurasische Imperium des Aleksandr Dugin Eine Diskursanalyse zum post-sowjetischen russischen Rechtsextremismus Stuttgart 2007 Stefan Wiederkehr Die eurasische Bewegung Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwi-schenkriegszeit und im postsowjetischen Russland Koumlln [ua] 2007 227ndash261 Anton

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 29

Dugin deutet den Hesychasmus im Rahmen des sogenannten bdquointegralen Traditionalismusldquo einer antimodernen Denkrichtung die im ersten Drittel des 20 Jahrhunderts in Frankreich und Italien entstand und in Reneacute Gueacutenon (1886ndash1951) und Julius Evola (1898ndash1974) ihre bekanntesten (und auch fuumlr Dugin wichtigsten) Vertreter hat104 Ihre Lehre besagt dass alle Religionen ungeachtet ihrer histori-schen und regionalen Auspraumlgungen in ihrem esoterischen nur dem Eingeweih-ten zugaumlnglichen Kern eine gemeinsame urspruumlngliche Wahrheit teilen und als philosophia perennis tradieren das Wissen um die Goumlttlichkeit und den Zugang zu ihr Dieses sakrale und initiatorische Wissen sei im Verlauf der westlichen Mo-derne insbesondere durch die Aufklaumlrung verlorengegangen in traditionellen Gesellschaften (China Indien islamische Welt) jedoch bewahrt geblieben105

Auch die Orthodoxie so Dugin habe im Gegensatz zu Katholizismus und Protestantismus bdquodie Treue zum esoterischen Kernldquo bewahrt naumlmlich in ihrer mystischen Unterstroumlmung dem Hesychasmus106 In der Kanonisierung des Gre-gorios Palamas durch die Ostkirche bei gleichzeitiger Verdammung des Humanis-ten Barlaam sieht Dugin das Bekenntnis zum bdquognostisch-realistischen Geist der orthodoxen Esoterikldquo Ganz im Sinn des Traditionalismus deutet er die psycho-physische Uumlbung der Hesychasten das bdquogeistige Tunldquo als Verfahren der bdquoInitia-tionldquo und das Endziel der bdquoVerklaumlrungldquo und bdquoVergoumlttlichungldquo als bdquoalchemistische Verwandlung des Leibesldquo (alchimičeskoe preobraženie tela) Dadurch wuumlrden der bdquoDualismus von Geist und Materie Leib und Seeleldquo sowie die bdquoGrenzen der Individualitaumltldquo ndash charakteristisch fuumlr den bdquorein exoterischen Mystizismusldquo des Westens ndash aufgehoben107 Die bdquoTradition der hesychastischen Esoterikldquo sei die

Shekhovtsov bdquoThe Palingenetic Thrust of Russian Neo-Eurasianism Ideas of Rebirth in Aleksandr Duginrsquos Worldviewldquo in Totalitarian Movements and Political Religions 9 (2008) 491ndash506 Mark Sedgwick bdquoOccult Dissident Culture The Case of Aleksandr Du-ginldquo in Birgit Menzel [ua] (Hgg) The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimen-sions MuumlnchenBerlin 2012 273ndash292 Schmid Technologien der Seele 210ndash220

104 Aleksandr Dugin Filosofija tradicionalizma Moskva 2002 Zum Traditionalismus siehe das Standardwerk von Mark Sedgwick Against the Modern World Traditionalism and the Secret Intellectual History of the Twentieth Century OxfordNew York 2004 zu Dugin 221ndash237 Vgl auch Christopher DL Johnson The Globalization of the Jesus Prayer Con-testing Contemplation London New York 2010 70ndash73

105 Aumlhnliche Gedanken entwickelte Pavel Florenskij bereits 19081909 in seinem Vortrag bdquoObščečelovečeskie korni idealizmaldquo in dem er die bdquoEsoterikldquo der Philosophie Platons und seiner Nachfolger in der bdquoallgemeinmenschlichenldquo mystisch-magischen Weltauffas-sung der bdquoVolksseeleldquo wurzeln laumlsst

106 Das Folgende nach Aleksandr Dugin bdquoOboženie preestestvennejšeeldquo in Milyj angel 1 1991 56ndash59

107 Das Konzept der bdquoInitiationldquo und die Unterscheidung von bdquoesoterischldquo und bdquoexoterischldquo sind zentral fuumlr die Anhaumlnger des Traditionalismus siehe Sedgwick Against the Modern World 265 ndash Als Mitglied des okkultistischen und faschistischen Južinskij-Kreises machte Dugin in Moskaus bdquomystischem Untergrundldquo in den 1980er Jahren selbst Entgrenzugser-fahrungen mit Hilfe sexualmagischer Praktiken und bewusstseinserweiternder Drogen Bei einem Teil der orthodoxen Glaumlubigen stoumlszligt seine Esoterik denn auch auf Misstrauen und

30 Michael Hagemeister

bdquoSeele der russischen Orthodoxieldquo und habe in Serafim von Sarov ihren bdquoletzten leuchtendsten Vertreterldquo gefunden

Der Hesychasmus gehoumlre zum traditionellen Erbe von Byzanz das Russ-land angetreten habe als es zum Dritten Rom und zum Zentrum der orthodoxen Welt geworden sei bdquoWir sindldquo so Dugin bdquobyzantinisch in unserer Seele unseren Wurzeln und in unserer Identitaumltldquo108

Unser stabilstes Fundament ist Byzanz [hellip] Russland ist Byzanz [hellip] Unsere For-mel lautet Der Westen ist das Boumlse Byzanz das Gute Alles Schlechte das uumlber Byzanz geschrieben wurde ist eine Luumlge Das sind lediglich Winkelzuumlge im ideolo-gischen Kampf von Seiten des Westens [hellip] Jeder Russe muss wissen Byzanz ist das reine Gute Jeder der etwas anderes behauptet ist ein Feind [hellip] Wer Byzanz kritisiert ist ein Feind des russischen Volkes Das muss unser ehernes Prinzip sein [hellip] Byzanz ist der absolute Orientierungspunkt des russischen Projekts109

Damit sind Russlands Ort und Mission in der bdquohistoriosophischenldquo Deutung des Weltgeschehens bestimmt Nach Dugin wird die Geschichte der Menschheit be-herrscht vom bdquookkulten planetarischen Ringenldquo zweier antagonistischer Maumlchte dem bdquogroszligen Krieg der Kontinenteldquo Land gegen Meer Behemoth gegen Levia-than die organischen bodenstaumlndigen und traditionalistischen bdquoTellurokratienldquo des eurasischen Ostens gegen die wurzel- und seelenlosen materialistischen bdquoTha-lassokratienldquo des angloamerikanischen Westens das apokalyptische Tier aus dem Meer (Offb 13 1-10)110 Die USA als bdquoQuintessenz des Westensldquo und New York als moderne Hure Babylon (Offb 17 und 18) sind das Reich des Antichrist eine chimaumlrisch-antiorganische transplantierte Zivilisation die keine sakrale Tradi-tion besitze ihre Selbsterhebung zu bdquoGottes neuem Israelldquo und bdquoNeuem Zionldquo ndash gemaumlszlig der anglo-amerikanischen Interpretation der Substitutionslehre ndash deutet Dugin als besonders perfiden Taumluschungsversuch des bdquowestlichen Antichristldquo Das Jahr der Entdeckung Amerikas (1492 ist nach der altrussisch-byzantinischen

offene Ablehnung Fuumlr den Sektenexperten des Moskauer Patriarchats ist Dugin ein bdquoge-faumlhrlicher Feindldquo der die bdquoOrthodoxie in Kabbalistik umzuschmelzenldquo versuche Andrej Kuraev Cerkovrsquo v mire ljudej Moskva 2006 142

108 Aleksandr Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Tradition Duginrsquos Guidelineldquo lthttpswwwyoutubecomwatchv=m0RIa61eZDggt

109 Aleksandr Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo in ders Russkaja Veščrsquo Očerki nacionalrsquonoj filosofii Bd 1 Moskva 2001 69ndash76 hier 70ndash72 (Hervorhebungen im Original) Der Be-griff bdquoByzantismusldquo (vizantizm) ndash im Unterschied zum negativ konnotierten bdquoByzantinis-musldquo ndash als Bezeichnung eines dem europaumlischen entgegengesetzten Kulturtypus der auf den Prinzipien von Orthodoxie und Selbstherrschaft beruht geht auf den konservativen Philosophen Konstantin Leontrsquoev (1831ndash1891) und sein Buch Vizantizm i slavjanstvo (1875) zuruumlck

110 Auch fuumlr den von Dugin verehrten Heidegger waren die Seemaumlchte Groszligbritannien und Amerika nicht Teil der abendlaumlndischen Tradition sondern im Gegensatz zum restlichen Europa wurzellos und sinnleer Der Antagonismus von Land und Meer die kategorische Unterscheidung von Freund und Feind sowie das Konzept des Katechon gehen auf Carl Schmitt zuruumlck als dessen Schuumller Dugin sich bezeichnet Siehe auch Fn 41

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 31

Weltaumlra das Jahr 7000 nach dem chiliadischen Weltwochenschema also der sieb-te Tag der Schoumlpfung) verweise ebenso auf den Endzeitcharakter der bdquoNeuen Weltldquo wie die bdquosakrale Geographieldquo nach der das Paradies im Osten die Houmllle aber das bdquoLand des Todesldquo im Westen zu suchen seien111

Dem Antichrist entgegen stehe seit jeher der Katechon dessen bdquoletzter Hortldquo bis ans Ende der Zeit die Heilige Rusrsquo das Dritte Rom sei112 In der petrini-schen Epoche als die Hauptstadt in die bdquonoumlrdlichen Suumlmpfeldquo in die bdquoGespenster-stadtldquo Petersburg verlegt und das Patriarchat abgeschafft wurde haumltten allein die Altglaumlubigen den Geist von Byzanz den Katechon bewahrt zweihundert Jahre lang sei der Weg frei gewesen fuumlr das zerstoumlrerische Wirken des Antichrist Erst die sowjetische Periode habe eine bdquomystische Ruumlckkehr zum Byzantismusldquo be-deutet indem die Bolschewiki das heilige Moskau wieder zur Hauptstadt erklaumlr-ten das Patriarchat wiederherstellten die Ausbeuter als Klasse vernichteten und dem Westen auf allen Gebieten Widerstand boten Im bdquoroten Byzantismusldquo der Dritten Internationale sei der Katechon zuruumlckgekehrt113

Um seine Mission zur Erloumlsung der Menschheit auch kuumlnftig zu erfuumlllen muumlsse das Dritte Rom nach dem Zerfall der Sowjetunion114 nunmehr ein groszligkon-tinentales sakral fundiertes bdquoEurasisches Imperiumldquo errichten gegen den Erz-feind die materialistische universalistische alles nivellierende Zivilisation des Westens als der Verkoumlrperung des bdquoweltweiten Boumlsenldquo (mirovoe zlo) gegen Libe-ralismus Individualismus Globalismus Egalitarismus sowie die bdquomondialisti-scheldquo Konzeption der Menschenrechte115 Verbuumlndete im bevorstehenden apoka-lyptischen bdquoEndkampfldquo (von Dugin stets deutsch geschrieben) werden all jene sein die den Bezug zum bdquoSakralenldquo noch nicht verloren haben russische Altglaumlu-bige ultraorthodoxe antizionistische Juden europaumlische Traditionalisten sowie jene bdquoanti-atlantischenldquo islamistischen Fundamentalisten die in den USA den Dajjacircl den falschen Messias und Antichrist erkennen gegen den die Retter-gestalt des Mahdicirc zu Felde ziehen wird116 111 Aleksandr Dugin Absoljutnaja Rodina Puti Absoljuta Metafizika Blagoj Vesti Misterii

Evrazii Moskva 1999 645ndash670 112 Ebd 378ndash395 493ndash521 113 Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo 74ndash76 Siehe auch ders bdquoKatechon i revoljucijaldquo in ders

Tampliery proletariata Nacional-bolrsquoševizm i iniciacija Moskva 1997 52ndash59 ndash Die mes-sianische Identifizierung des Dritten Rom mit der Dritten Internationale reicht bis ins Gruumlndungsjahr der Komintern (1919) zuruumlck Beide so der slawophile Philosoph und An-haumlnger des imjaslavie Valerian Muravrsquoev (1885ndash1930) in einem Brief vom 6 Januar 1920 an Lev Trockij seien Ausdruck der Suche des russischen Volkes und der Intelligencija nach einem Reich der Wahrheit und Gerechtigkeit Valerian Muravrsquoev Sočinenija Bd 2 Moskva 2011 352f Weitere Belege bei Emanuel Sarkisyanz Russland und der Messianis-mus des Orients Tuumlbingen 1955 196 Mikhail Agursky Third Rome National Bolshevism in the USSR Boulder Co 1987

114 Damals sah ein Journalist bdquoauf den Ruinen des Imperiumsldquo das Dritte Rom in Gefahr zu einem Land der Dritten Welt zu werden Andrej Fadin bdquoTretij Rim v tretrsquoem mire Razmy-šlenija na ruinach imperiildquo in Nezavisimaja gazeta 1291991

115 [Aleksandr Dugin] bdquoLibo-my libo-ničtoldquo in Ėlementy 8 19961997 1ndash4 hier 2 116 [Aleksandr Dugin] bdquoIdeologija Mirovogo Pravitelrsquostvaldquo in Ėlementy 2 1992 1f

32 Michael Hagemeister

Das Dritte Rom als Zentrum des eurasischen bdquoEuro-Sowjetischen Imperiumsldquo Titelbild der von Aleksandr Dugin herausgegebenen Zeitschrift bdquoElemente Eurasische Rundschauldquo (1992) Dugins Werk mit seiner provokanten Mischung esoterischer antimoderner und antiwestlicher Motive findet besonders unter jungen Intellektuellen Anklang und Nachahmer so etwa bei dem promovierten Philosophen und selbstproklamierten bdquoorthodoxen Metaphysikerldquo Arkadij Maler einem vehementen Propagandisten einer bdquopolitischen Orthodoxieldquo (političeskoe Pravoslavie) und fuumlhrenden Ideolo-gen der bdquoneobyzantinischenldquo Doktrin Obwohl sich Maler von Dugin distan-ziert117 beschwoumlrt auch er die eschatologische bdquogeistige Mission des Dritten Romldquo die es von Byzanz geerbt habe und die in seiner bdquozentralen katechontischen Rolleldquo bestehe dem Kampf gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo des bdquogottlosen Wes-tensldquo118 Russische Politik koumlnne deshalb nicht anders als imperial sein und muumlsse ihren Einfluss auf den gesamten Planeten ausdehnen Wie Dugin sieht auch Maler die Bolschewiki in dieser Tradition als sie Moskau zur Hauptstadt des bdquoRoten

117 In den spaumlten 1990er Jahren gehoumlrte Maler der vaumlterlicherseits juumldischer Abstammung ist

zusammen mit Dugin und Ėduard Limonov zur Fuumlhrungsriege der Nationalbolschewisti-schen Partei und schrieb fuumlr die Parteizeitung Limonka sich selbst charakterisierte er als bdquorotbraunen Zionistenldquo Nach seiner Konversion zur Orthodoxie trennte er sich 1999 von Dugin und kritisierte dessen esoterischen Traditionalismus aus einer ultraorthodoxen Posi-tion Dugin wiederum warf Maler vor ihn zu plagiieren

118 Arkadij Maler Duchovnaja missija Tretrsquoego Rima Moskva 2005 bes 134ndash136 170ndash206 Siehe auch ders bdquoIdeologija Vizantizmaldquo in Severnij Katechon 1 (2005) 7ndash49 bdquoNeovi-zantizm kak novyj bolrsquošoj stilrsquoldquo in Aleksej Nilogov (Hg) Kto segodnja delaet filosofiju v Rossii Moskva 2007 110ndash124

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 33

Imperiumsldquo machten und dieses zur bdquoabsoluten Antithese des Westensldquo erklaumlrten zum bdquoTraumlger der planetarischen Mission der Befreiung der Welt aus den sbquoFesseln des Kapitalslsquoldquo119 Das Dritte Rom sei zeitweise in die Dritte Internationale trans-formiert worden ohne jedoch seine Mission als Katechon als aufhaltende Macht gegen das Reich des Boumlsen und Ausgangspunkt zur Errettung der Welt aufzuge-ben Die bdquoletzte Etappeldquo im Kampf gegen den Antichrist werde so Maler der bdquoeschatologische Krieg des Dritten Rom gegen das Dritte Karthagoldquo den bdquoAnti-katechonldquo sein die bdquoanglo-amerikanische [] atlantische Zivilisationldquo120 Zur Propagierung der katechontischen Mission Russlands gruumlndete Maler 1999 am Institut fuumlr Philosophie der Akademie der Wissenschaften in Moskau einen bdquoBy-zantistischen Klub Katechonldquo (Vizantistskij Klub Katechon) und 2005 das bdquoPhi-losophisch-politische Zentrum sbquoNoumlrdlicher Katechonlsquoldquo das einen gleichnamigen Almanach (Severnyj Katechon) herausgibt121

Apokalyptischer Ausblick

Die Formel vom Dritten Rom und die Figur des Katechon des Aufhalters des bdquoweltweiten Boumlsenldquo sind zu Markenzeichen russischer Anti-Westler und Ver-schwoumlrungstheoretiker und ihres schrillen Szenariums eines globalen apokalyp-tischen bdquoEndkampfesldquo gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo geworden122 Unter dem Titel bdquoDie russische Doktrin Die Staatsideologie der Epoche Putinsldquo verfasste in den Jahren 2005 und 2006 ein Kollektiv nationalpatriotischer Autoren ndash unter ih-nen der bdquoByzantistldquo Arkadij Maler ndash ein uumlber 1000 Seiten langes ultrakonservati-ves und antiwestliches Manifest das auch die Unterstuumltzung hoher kirchlicher Wuumlrdentraumlger fand123 In ihrem Entwurf einer bdquoorganischen weltanschaulichen Plattformldquo fuumlr das kuumlnftige Russland behandeln die Autoren ausfuumlhrlich die bdquohis-toriosophischeldquo Konzeption vom Dritten Rom und seine Mission als Katechon gegen das bdquoHeidentumldquo des Westens124 Gefordert wird die positive Identifikation

119 Maler Duchovnaja missija 182f 185 120 Ebd 177 ndash Als Mittel im ideologischen Kampf gegen den saumlkularen Westen fordert Maler

in Analogie zur katholischen Gegenreformation eine orthodoxe konservative bdquoGegenauf-klaumlrungldquo (Kontrprosveščenie) lthttpwwwkatehonruhtmltoppolitologiaideaotkritije _polit_pravoslavijahtmgt

121 Siehe die Website lthttpwwwkatehonrugt 122 Siehe zB Galina A Morozova Tretij Rim protiv novogo mirovogo porjadka Moskva

2009 Die Formel von Dritten Rom hat laumlngst auch Schriftsteller und Maler inspiriert und scheint auch werbewirksam zu sein bdquoDrittes Romldquo nennt sich ein Verlag ein Videospiel eine Bank ein Reisebuumlro und sogar ein Kasino in Jalta Ein Schoumlnheitswettbewerb in Mos-kau vergibt alljaumlhrlich den Titel einer bdquoMiss Drittes Romldquo Judith E Kalb Russiarsquos Rome Imperial Visions Messianic Dreams 1890ndash1940 Madison Wisconsin 2008 198f Zum Katechon siehe Maria Engstroumlm bdquoContemporary Russian Messianism and New Russian Foreign Policyldquo in Contemporary Security Policy 35 (2014) 3 356ndash379

123 Russkaja doktrina Gosudarstvennaja ideologija ėpochi Putina Moskva 2016 124 Ebd 68ndash72 116ndash120 und passim

34 Michael Hagemeister

mit der Geschichte Russlands und seinen Lichtgestalten dem Heiligen Serafim von Sarov dem bdquoeschatologischen Fuumlhrer des russischen Volkes am Ende der Zeitenldquo der bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo und Stalin der dem paulinischen Kate-chon gleich die bdquoGesetzlosigkeitldquo (bezzakonie) bekaumlmpft und das bdquoFundament fuumlr eine groszlige Zukunftldquo gelegt habe125

bdquoKatechonldquo nennt sich auch ein prominent besetzter Think tank den der Oligarch und Berater Putins Konstantin Malofeev im Jahr 2015 gegruumlndet hat126 Der Milliardaumlr der sein Vermoumlgen mit einer Investmentfirma auf den Cayman Inseln gemacht hat bezeichnet sich selbst als bdquoorthodoxen Monarchistenldquo127 Er unterstuumltzt die Separatisten in der Ostukraine und unterhaumllt vielfaumlltige Verbindun-gen zu europaumlischen Rechtspopulisten wie dem Front National der FPOuml Syriza und der Lega Nord Neben dem Forum bdquoKatechonldquo betreibt Malofeev auch einen Fernsehsender mit dem programmatischen Namen bdquoZargradldquo128 (Motto bdquoDas Licht Christi erleuchtet alleldquo) dessen Chefkommentator niemand anderes ist als Aleksandr Dugin129

bdquoKatechonldquo und bdquoZargradldquo propagieren den Kampf gegen die westliche Moderne mit Bezug auf das byzantinische Erbe Russlands Im November 2014 fand in der Moskauer Manege eine Konferenz bdquoMoskau ndash das Dritte Romldquo statt130 An ihr nahmen auszliger Dugin und Malofeev auch Archimandrit Tichon und Nata-lrsquoja Naročnickaja teil eine hochrangige Diplomatin Mitglied des Izborsker Klubs und Leiterin des Pariser bdquoInstituts fuumlr Demokratie und Kooperationldquo das die oumlf-fentliche Meinung im Westen im Sinne des Kremls beeinflussen soll Tichons Film bdquoDie Lehre von Byzanzldquo sei so Naročnickaja auch eine Warnung an den Westen der seine christlichen Werte verraten habe weshalb er den glaubens-festen Migranten und ihrer Verachtung hilflos ausgeliefert sei131

Im Oktober 2009 wurde Tichons Film in Athen vor ausverkauftem Saal aufgefuumlhrt Unter denen die dem Drehbuchautor Beifall spendeten war der Philo-soph und Theologe Christos Yannaras einer der Hauptvertreter der Neoorthodo-xie und scharfer Kritiker des Westens Wie ihre russischen Gesinnungsgenossen

125 Ebd 130f 153 142ndash145 126 Mit einem Auftritt im Internet in 9 Sprachen Siehe die deutsche Version unter lthttp

katehoncomdewer-sind-wirgt 127 lthttpsdewikipediaorgwikiKonstantin_Walerjewitsch_Malofejewgt 128 Carrsquograd ist der altrussische Name fuumlr Konstantinopel 129 Auch Dugin unterhaumllt seit mehr als 25 Jahren Kontakte zu ultrakonservativen traditiona-

listischen und faschistischen Gesinnungsgenossen in Westeuropa Siehe Vladimir Ivanov Alexander Dugin und die rechtsextremen Netzwerke Fakten und Hypothesen zu den inter-nationalen Verflechtungen der russischen Neuen Rechten Stuttgart 2007

130 lthttpwwwpravoslavieru75070htmlgt 131 lthttpwwwpravoslavieru7414htmlgt ndash Fuumlr Metropolit Ilarion (Alfeev) der sich dabei

auf Dugin beruft verwandeln sich die Laumlnder Westeuropas bereits in die bdquoSphaumlre des Anti-christldquo lthttpwwwpatriarchiarudbtext3065216htmlgt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 35

verherrlichen auch die griechischen Neoorthodoxen die byzantinische Vergan-genheit und sehen in der modernen saumlkularen Gesellschaft eine Bedrohung ihrer kulturellen Identitaumlt132 Gemeinsam suchen sie der Globalisierung mit einer bdquoby-zantinischen Internationaleldquo als bdquoorthodoxer Oumlkumeneldquo entgegenzuwirken einer letztlich sakral verstandenen Gemeinschaft deren Einfluss indes weit uumlber die kirchliche Sphaumlre hinausreichen und eine transnationale Vereinigung der ortho-doxen Welt von Serbien uumlber Syrien bis Georgien und Armenien unter Fuumlhrung Moskaus schaffen soll133 Als wichtiger symbolischer Schritt auf diesem Weg wurde der Besuch von Praumlsident Putin und Patriarch Kirill des Heiligen Berges Athos einer traditionellen Hochburg antiwestlicher Opposition im Mai 2016 ge-feiert Das weltliche und das geistliche Oberhaupt Russlands ndash die bdquoSymphonia der Maumlchteldquo ndash zeigten damit so Aleksandr Dugin ihr Bekenntnis zu Byzanz und seiner Rolle als Katechon Damit anerkenne bdquounsere Rusrsquo ihre historische Bestim-mung Wir sind bereit fuumlr die Endzeitldquo134

132 Ausfuumlhrlich dazu Daniel P Payne The Revival of Political Hesychasm in Contemporary

Orthodox Thought The Political Hesychasm of John Romanides and Christos Yannaras Lanham [ua] 2011 Siehe auch Vasilios N Makrides bdquoByzantium in Contemporary Greece The Neo-Orthodox Current of Ideasldquo in David RicksPaul Magdalino (Hgg) Byzantium and the Modern Greek Identity Aldershot 1998 141ndash153 Zum griechischen Neobyzantismus unter russischem Einfluss Aleksey Kamenskikh bdquoThe Image of the Second Rome through the Prism of the Thirdrdquo in Teresa Obolevich [ua] (Hgg) Russian Thought in Europe Reception Polemics Development Krakoacutew 2013 13ndash22 ndash Antimo-derne und antiwestliche Stroumlmungen in den vom orthodoxen Christentum gepraumlgten Kultu-ren haben der Religionswissenschaftler Makrides und der Slavist Uffelmann vor einigen Jahren als Desiderat der Forschung benannt Vasilios N MakridesDirk Uffelmann bdquoStudying Eastern Orthodox Anti-Westernism The Need for a Comparative Research Agendaldquo in Jonathan SuttonWil van den Bercken (Hgg) Orthodox Christianity and Contemporary Europe Leuven [ua] 2003 87ndash120 Seitdem haben Makrides und die Politikwissenschaftlerin Stoumlckl eine Reihe einschlaumlgiger Arbeiten vorgelegt in denen or-thodoxe Alternativen zu westlichen philosophischen und politischen Konzepten untersucht werden Vasilios N Makrides bdquoOrthodoxes Cristentum und Moderne ndash Inkompatibilitaumlt oder langfristige Anpassungldquo in Una Sancta 2011 1 15ndash30 ders bdquoOumlstliches orthodo-xes Christentum und Saumlkularitaumlt Ein Vergleich mit dem lateinischen Christentumldquo in Transit 47 (2015) 59ndash75 Kristina Stoumlckl bdquoModernity and its Critique in Twentieth Cen-tury Russian Orthodox Thoughtldquo in Studies in East European Thought 58 (2006) 243ndash269 dies Community after Totalitarianism The Russian Orthodox Intellectual Tradition and the Philosophical Discourse of Political Modernity Frankfurt aM [ua] 2008

133 Dazu gehoumlrt auch die Verwirklichung des jahrhundertealten Traums der Wiedererrichtung des Kreuzes auf der Hagia Sophia Siehe Egor Cholmogorov Russkij proekt restavracija buduščego Moskva 2005 283 Der Verfasser Mitglied des Expertenteams des Izborsker Klubs ist Begruumlnder der Doktrin der bdquoAtomaren Orthodoxieldquo siehe Fn 74

134 Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Traditionldquo

ZUM AUTOR

Michael Hagemeister geb 1951 in EllwangenJagst Studium der Slavistik Ge-schichte Germanistik und Philosophie in Basel und MarburgLahn Promotion mit einer Arbeit uumlber den russischen Philosophen Nikolaj Fedorov Wissenschaft-licher Mitarbeiter am Slawischen Seminar in Marburg Gastprofessor am Seminar fuumlr Komparatistik der Universitaumlt Innsbruck Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lotman-Institut fuumlr russische und sowjetische Kultur der Ruhr-Universitaumlt Bo-chum am Lehrstuhl fuumlr Geschichte Osteuropas der Europa-Universitaumlt Viadrina Frankfurt (Oder) an den Historischen Seminaren der Universitaumlten Basel Duumlssel-dorf und Bochum Vertretung der Professuren fuumlr Geschichte Osteuropas an der Ludwig-Maximilians Universitaumlt Muumlnchen und an der Europa-Universitaumlt Frank-furt (Oder)

Forschungen zur russischen Philosophie und Geistesgeschichte zum utopischen und apokalyptischen Denken in Russland zum russischen Rechtsextremismus und Antisemitismus sowie insbesondere zu den Protokollen der Weisen von Zion und ihrem Herausgeber Sergej Nilus Publikationen ua Die Neue Menschheit Biopolitische Utopien in Russland (hg mit Boris Groys) Frankfurt aM 2005 The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimensions (hg mit Birgit Menzel und Bernice Rosenthal) Muumlnchen 2012 Die Fiktion von der juumldischen Weltver-schwoumlrung Zu Text und Kontext der bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo (hg mit Eva Horn) Goumlttingen 2012 Die bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo vor Gericht Der Berner Prozess und die bdquoantisemitische Internationaleldquo in der Zwischen-kriegszeit Chronik Dokumente und Kommentare Zuumlrich (im Druck)

ERFURTER VORTRAumlGE ZUR KULTURGESCHICHTE DES ORTHODOXEN CHRISTENTUMS Reihenherausgeber Vasilios N Makrides

Heft 1 Thomas Bremer Konfrontation statt Oumlkumene Zur kirchlichen Situation in der Ukraine Erfurt 2001

Heft 2 Gerhard Podskalsky Zur Hermeneutik des theologischen Ost-West-

Gespraumlchs in historischer Perspektive Erfurt 2002 Heft 3 Karl Christian Felmy Warum und zu welchem Behufe treiben wir

Ostkirchenkunde Erfurt 2003 Heft 4 Wassilios Klein bdquoTatarenjoch ndash татарское игоldquo Beobachtungen zur

Wahrnehmung des Islam im eurasischen Raum Erfurt 2005 Heft 5 Stamatios D Gerogiorgakis Zeitphilosophie im Mittelalter Byzantinische

und lateinische Vorstellungen Erfurt 2006 Heft 6 Heinz Ohme Das Oumlkumenische Patriarchat von Konstantinopel und die

tuumlrkische Religionspolitik Erfurt 2007 Heft 7 Alexander Agadjanian Russian Orthodox Vision of Human Rights Recent

Documents and Their Significance Erfurt 2008 Heft 8 Christos Yannaras Wem gehoumlrt die griechische Antike Erfurt 2009 Heft 9 Joachim Willems Religions- und Ethikunterricht in Russland ndash Was

wollen Staat und Kirche Zur Einfuumlhrung des neuen Schulfaches bdquoGrundlagen der religioumlsen Kulturen und der weltlichen Ethikldquo Erfurt 2010

Heft 10 Chris Hann Eastern Christianity and Western Social Theory Erfurt 2011 Heft 11 Jennifer Wasmuth Akademische Theologie im zaristischen Russland in

ihrer Bedeutung fuumlr die neuere orthodoxe Theologie Erfurt 2012 Heft 12 Anna Briskina-Muumlller Auf der Suche nach der bdquoHesychialdquo Paisij

Veličkovskij (1722ndash1794) und sein Leben fuumlr die bdquoPhilokalieldquo Erfurt 2014

Heft 13 Vladimir Cvetković From ldquoMerciful Angelrdquo to ldquoFortress Europerdquo The

Perception of Europe and the West in Contemporary Serbian Orthodoxy Erfurt 2015

Heft 14 Stefan G Reichelt Lebenslinien Nikolaj A Berdjaev (1874ndash1948) und Sergij N Bulgakov (1871ndash1944) im Westen ndash Eine Wuumlrdigung Erfurt 2015

Heft 15 Michael Hagemeister Der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo ndash bdquoNeobyzantismusldquo

und bdquopolitischer Hesychasmusldquo im postsowjetischen Russland Erfurt 2016

Alle Hefte der vorliegenden Schriftenreihe koumlnnen unter folgendem Link kostenlos heruntergeladen werden URL httpswwwuni-erfurtdereligionswissenschaftprofessur-orthodoxes-christentumveroeffentlichungenerfurter-vortraege-zur-kulturgeschichte-des-orthodoxen-christentums

Page 29: Michael Hagemeister FINAL - uni-erfurt.de · doziert Tichon, während er das antike Kons tantinopel computeranimiert auferste- hen lässt. Das prosperierende Impe rium erregte freilich

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 29

Dugin deutet den Hesychasmus im Rahmen des sogenannten bdquointegralen Traditionalismusldquo einer antimodernen Denkrichtung die im ersten Drittel des 20 Jahrhunderts in Frankreich und Italien entstand und in Reneacute Gueacutenon (1886ndash1951) und Julius Evola (1898ndash1974) ihre bekanntesten (und auch fuumlr Dugin wichtigsten) Vertreter hat104 Ihre Lehre besagt dass alle Religionen ungeachtet ihrer histori-schen und regionalen Auspraumlgungen in ihrem esoterischen nur dem Eingeweih-ten zugaumlnglichen Kern eine gemeinsame urspruumlngliche Wahrheit teilen und als philosophia perennis tradieren das Wissen um die Goumlttlichkeit und den Zugang zu ihr Dieses sakrale und initiatorische Wissen sei im Verlauf der westlichen Mo-derne insbesondere durch die Aufklaumlrung verlorengegangen in traditionellen Gesellschaften (China Indien islamische Welt) jedoch bewahrt geblieben105

Auch die Orthodoxie so Dugin habe im Gegensatz zu Katholizismus und Protestantismus bdquodie Treue zum esoterischen Kernldquo bewahrt naumlmlich in ihrer mystischen Unterstroumlmung dem Hesychasmus106 In der Kanonisierung des Gre-gorios Palamas durch die Ostkirche bei gleichzeitiger Verdammung des Humanis-ten Barlaam sieht Dugin das Bekenntnis zum bdquognostisch-realistischen Geist der orthodoxen Esoterikldquo Ganz im Sinn des Traditionalismus deutet er die psycho-physische Uumlbung der Hesychasten das bdquogeistige Tunldquo als Verfahren der bdquoInitia-tionldquo und das Endziel der bdquoVerklaumlrungldquo und bdquoVergoumlttlichungldquo als bdquoalchemistische Verwandlung des Leibesldquo (alchimičeskoe preobraženie tela) Dadurch wuumlrden der bdquoDualismus von Geist und Materie Leib und Seeleldquo sowie die bdquoGrenzen der Individualitaumltldquo ndash charakteristisch fuumlr den bdquorein exoterischen Mystizismusldquo des Westens ndash aufgehoben107 Die bdquoTradition der hesychastischen Esoterikldquo sei die

Shekhovtsov bdquoThe Palingenetic Thrust of Russian Neo-Eurasianism Ideas of Rebirth in Aleksandr Duginrsquos Worldviewldquo in Totalitarian Movements and Political Religions 9 (2008) 491ndash506 Mark Sedgwick bdquoOccult Dissident Culture The Case of Aleksandr Du-ginldquo in Birgit Menzel [ua] (Hgg) The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimen-sions MuumlnchenBerlin 2012 273ndash292 Schmid Technologien der Seele 210ndash220

104 Aleksandr Dugin Filosofija tradicionalizma Moskva 2002 Zum Traditionalismus siehe das Standardwerk von Mark Sedgwick Against the Modern World Traditionalism and the Secret Intellectual History of the Twentieth Century OxfordNew York 2004 zu Dugin 221ndash237 Vgl auch Christopher DL Johnson The Globalization of the Jesus Prayer Con-testing Contemplation London New York 2010 70ndash73

105 Aumlhnliche Gedanken entwickelte Pavel Florenskij bereits 19081909 in seinem Vortrag bdquoObščečelovečeskie korni idealizmaldquo in dem er die bdquoEsoterikldquo der Philosophie Platons und seiner Nachfolger in der bdquoallgemeinmenschlichenldquo mystisch-magischen Weltauffas-sung der bdquoVolksseeleldquo wurzeln laumlsst

106 Das Folgende nach Aleksandr Dugin bdquoOboženie preestestvennejšeeldquo in Milyj angel 1 1991 56ndash59

107 Das Konzept der bdquoInitiationldquo und die Unterscheidung von bdquoesoterischldquo und bdquoexoterischldquo sind zentral fuumlr die Anhaumlnger des Traditionalismus siehe Sedgwick Against the Modern World 265 ndash Als Mitglied des okkultistischen und faschistischen Južinskij-Kreises machte Dugin in Moskaus bdquomystischem Untergrundldquo in den 1980er Jahren selbst Entgrenzugser-fahrungen mit Hilfe sexualmagischer Praktiken und bewusstseinserweiternder Drogen Bei einem Teil der orthodoxen Glaumlubigen stoumlszligt seine Esoterik denn auch auf Misstrauen und

30 Michael Hagemeister

bdquoSeele der russischen Orthodoxieldquo und habe in Serafim von Sarov ihren bdquoletzten leuchtendsten Vertreterldquo gefunden

Der Hesychasmus gehoumlre zum traditionellen Erbe von Byzanz das Russ-land angetreten habe als es zum Dritten Rom und zum Zentrum der orthodoxen Welt geworden sei bdquoWir sindldquo so Dugin bdquobyzantinisch in unserer Seele unseren Wurzeln und in unserer Identitaumltldquo108

Unser stabilstes Fundament ist Byzanz [hellip] Russland ist Byzanz [hellip] Unsere For-mel lautet Der Westen ist das Boumlse Byzanz das Gute Alles Schlechte das uumlber Byzanz geschrieben wurde ist eine Luumlge Das sind lediglich Winkelzuumlge im ideolo-gischen Kampf von Seiten des Westens [hellip] Jeder Russe muss wissen Byzanz ist das reine Gute Jeder der etwas anderes behauptet ist ein Feind [hellip] Wer Byzanz kritisiert ist ein Feind des russischen Volkes Das muss unser ehernes Prinzip sein [hellip] Byzanz ist der absolute Orientierungspunkt des russischen Projekts109

Damit sind Russlands Ort und Mission in der bdquohistoriosophischenldquo Deutung des Weltgeschehens bestimmt Nach Dugin wird die Geschichte der Menschheit be-herrscht vom bdquookkulten planetarischen Ringenldquo zweier antagonistischer Maumlchte dem bdquogroszligen Krieg der Kontinenteldquo Land gegen Meer Behemoth gegen Levia-than die organischen bodenstaumlndigen und traditionalistischen bdquoTellurokratienldquo des eurasischen Ostens gegen die wurzel- und seelenlosen materialistischen bdquoTha-lassokratienldquo des angloamerikanischen Westens das apokalyptische Tier aus dem Meer (Offb 13 1-10)110 Die USA als bdquoQuintessenz des Westensldquo und New York als moderne Hure Babylon (Offb 17 und 18) sind das Reich des Antichrist eine chimaumlrisch-antiorganische transplantierte Zivilisation die keine sakrale Tradi-tion besitze ihre Selbsterhebung zu bdquoGottes neuem Israelldquo und bdquoNeuem Zionldquo ndash gemaumlszlig der anglo-amerikanischen Interpretation der Substitutionslehre ndash deutet Dugin als besonders perfiden Taumluschungsversuch des bdquowestlichen Antichristldquo Das Jahr der Entdeckung Amerikas (1492 ist nach der altrussisch-byzantinischen

offene Ablehnung Fuumlr den Sektenexperten des Moskauer Patriarchats ist Dugin ein bdquoge-faumlhrlicher Feindldquo der die bdquoOrthodoxie in Kabbalistik umzuschmelzenldquo versuche Andrej Kuraev Cerkovrsquo v mire ljudej Moskva 2006 142

108 Aleksandr Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Tradition Duginrsquos Guidelineldquo lthttpswwwyoutubecomwatchv=m0RIa61eZDggt

109 Aleksandr Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo in ders Russkaja Veščrsquo Očerki nacionalrsquonoj filosofii Bd 1 Moskva 2001 69ndash76 hier 70ndash72 (Hervorhebungen im Original) Der Be-griff bdquoByzantismusldquo (vizantizm) ndash im Unterschied zum negativ konnotierten bdquoByzantinis-musldquo ndash als Bezeichnung eines dem europaumlischen entgegengesetzten Kulturtypus der auf den Prinzipien von Orthodoxie und Selbstherrschaft beruht geht auf den konservativen Philosophen Konstantin Leontrsquoev (1831ndash1891) und sein Buch Vizantizm i slavjanstvo (1875) zuruumlck

110 Auch fuumlr den von Dugin verehrten Heidegger waren die Seemaumlchte Groszligbritannien und Amerika nicht Teil der abendlaumlndischen Tradition sondern im Gegensatz zum restlichen Europa wurzellos und sinnleer Der Antagonismus von Land und Meer die kategorische Unterscheidung von Freund und Feind sowie das Konzept des Katechon gehen auf Carl Schmitt zuruumlck als dessen Schuumller Dugin sich bezeichnet Siehe auch Fn 41

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 31

Weltaumlra das Jahr 7000 nach dem chiliadischen Weltwochenschema also der sieb-te Tag der Schoumlpfung) verweise ebenso auf den Endzeitcharakter der bdquoNeuen Weltldquo wie die bdquosakrale Geographieldquo nach der das Paradies im Osten die Houmllle aber das bdquoLand des Todesldquo im Westen zu suchen seien111

Dem Antichrist entgegen stehe seit jeher der Katechon dessen bdquoletzter Hortldquo bis ans Ende der Zeit die Heilige Rusrsquo das Dritte Rom sei112 In der petrini-schen Epoche als die Hauptstadt in die bdquonoumlrdlichen Suumlmpfeldquo in die bdquoGespenster-stadtldquo Petersburg verlegt und das Patriarchat abgeschafft wurde haumltten allein die Altglaumlubigen den Geist von Byzanz den Katechon bewahrt zweihundert Jahre lang sei der Weg frei gewesen fuumlr das zerstoumlrerische Wirken des Antichrist Erst die sowjetische Periode habe eine bdquomystische Ruumlckkehr zum Byzantismusldquo be-deutet indem die Bolschewiki das heilige Moskau wieder zur Hauptstadt erklaumlr-ten das Patriarchat wiederherstellten die Ausbeuter als Klasse vernichteten und dem Westen auf allen Gebieten Widerstand boten Im bdquoroten Byzantismusldquo der Dritten Internationale sei der Katechon zuruumlckgekehrt113

Um seine Mission zur Erloumlsung der Menschheit auch kuumlnftig zu erfuumlllen muumlsse das Dritte Rom nach dem Zerfall der Sowjetunion114 nunmehr ein groszligkon-tinentales sakral fundiertes bdquoEurasisches Imperiumldquo errichten gegen den Erz-feind die materialistische universalistische alles nivellierende Zivilisation des Westens als der Verkoumlrperung des bdquoweltweiten Boumlsenldquo (mirovoe zlo) gegen Libe-ralismus Individualismus Globalismus Egalitarismus sowie die bdquomondialisti-scheldquo Konzeption der Menschenrechte115 Verbuumlndete im bevorstehenden apoka-lyptischen bdquoEndkampfldquo (von Dugin stets deutsch geschrieben) werden all jene sein die den Bezug zum bdquoSakralenldquo noch nicht verloren haben russische Altglaumlu-bige ultraorthodoxe antizionistische Juden europaumlische Traditionalisten sowie jene bdquoanti-atlantischenldquo islamistischen Fundamentalisten die in den USA den Dajjacircl den falschen Messias und Antichrist erkennen gegen den die Retter-gestalt des Mahdicirc zu Felde ziehen wird116 111 Aleksandr Dugin Absoljutnaja Rodina Puti Absoljuta Metafizika Blagoj Vesti Misterii

Evrazii Moskva 1999 645ndash670 112 Ebd 378ndash395 493ndash521 113 Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo 74ndash76 Siehe auch ders bdquoKatechon i revoljucijaldquo in ders

Tampliery proletariata Nacional-bolrsquoševizm i iniciacija Moskva 1997 52ndash59 ndash Die mes-sianische Identifizierung des Dritten Rom mit der Dritten Internationale reicht bis ins Gruumlndungsjahr der Komintern (1919) zuruumlck Beide so der slawophile Philosoph und An-haumlnger des imjaslavie Valerian Muravrsquoev (1885ndash1930) in einem Brief vom 6 Januar 1920 an Lev Trockij seien Ausdruck der Suche des russischen Volkes und der Intelligencija nach einem Reich der Wahrheit und Gerechtigkeit Valerian Muravrsquoev Sočinenija Bd 2 Moskva 2011 352f Weitere Belege bei Emanuel Sarkisyanz Russland und der Messianis-mus des Orients Tuumlbingen 1955 196 Mikhail Agursky Third Rome National Bolshevism in the USSR Boulder Co 1987

114 Damals sah ein Journalist bdquoauf den Ruinen des Imperiumsldquo das Dritte Rom in Gefahr zu einem Land der Dritten Welt zu werden Andrej Fadin bdquoTretij Rim v tretrsquoem mire Razmy-šlenija na ruinach imperiildquo in Nezavisimaja gazeta 1291991

115 [Aleksandr Dugin] bdquoLibo-my libo-ničtoldquo in Ėlementy 8 19961997 1ndash4 hier 2 116 [Aleksandr Dugin] bdquoIdeologija Mirovogo Pravitelrsquostvaldquo in Ėlementy 2 1992 1f

32 Michael Hagemeister

Das Dritte Rom als Zentrum des eurasischen bdquoEuro-Sowjetischen Imperiumsldquo Titelbild der von Aleksandr Dugin herausgegebenen Zeitschrift bdquoElemente Eurasische Rundschauldquo (1992) Dugins Werk mit seiner provokanten Mischung esoterischer antimoderner und antiwestlicher Motive findet besonders unter jungen Intellektuellen Anklang und Nachahmer so etwa bei dem promovierten Philosophen und selbstproklamierten bdquoorthodoxen Metaphysikerldquo Arkadij Maler einem vehementen Propagandisten einer bdquopolitischen Orthodoxieldquo (političeskoe Pravoslavie) und fuumlhrenden Ideolo-gen der bdquoneobyzantinischenldquo Doktrin Obwohl sich Maler von Dugin distan-ziert117 beschwoumlrt auch er die eschatologische bdquogeistige Mission des Dritten Romldquo die es von Byzanz geerbt habe und die in seiner bdquozentralen katechontischen Rolleldquo bestehe dem Kampf gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo des bdquogottlosen Wes-tensldquo118 Russische Politik koumlnne deshalb nicht anders als imperial sein und muumlsse ihren Einfluss auf den gesamten Planeten ausdehnen Wie Dugin sieht auch Maler die Bolschewiki in dieser Tradition als sie Moskau zur Hauptstadt des bdquoRoten

117 In den spaumlten 1990er Jahren gehoumlrte Maler der vaumlterlicherseits juumldischer Abstammung ist

zusammen mit Dugin und Ėduard Limonov zur Fuumlhrungsriege der Nationalbolschewisti-schen Partei und schrieb fuumlr die Parteizeitung Limonka sich selbst charakterisierte er als bdquorotbraunen Zionistenldquo Nach seiner Konversion zur Orthodoxie trennte er sich 1999 von Dugin und kritisierte dessen esoterischen Traditionalismus aus einer ultraorthodoxen Posi-tion Dugin wiederum warf Maler vor ihn zu plagiieren

118 Arkadij Maler Duchovnaja missija Tretrsquoego Rima Moskva 2005 bes 134ndash136 170ndash206 Siehe auch ders bdquoIdeologija Vizantizmaldquo in Severnij Katechon 1 (2005) 7ndash49 bdquoNeovi-zantizm kak novyj bolrsquošoj stilrsquoldquo in Aleksej Nilogov (Hg) Kto segodnja delaet filosofiju v Rossii Moskva 2007 110ndash124

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 33

Imperiumsldquo machten und dieses zur bdquoabsoluten Antithese des Westensldquo erklaumlrten zum bdquoTraumlger der planetarischen Mission der Befreiung der Welt aus den sbquoFesseln des Kapitalslsquoldquo119 Das Dritte Rom sei zeitweise in die Dritte Internationale trans-formiert worden ohne jedoch seine Mission als Katechon als aufhaltende Macht gegen das Reich des Boumlsen und Ausgangspunkt zur Errettung der Welt aufzuge-ben Die bdquoletzte Etappeldquo im Kampf gegen den Antichrist werde so Maler der bdquoeschatologische Krieg des Dritten Rom gegen das Dritte Karthagoldquo den bdquoAnti-katechonldquo sein die bdquoanglo-amerikanische [] atlantische Zivilisationldquo120 Zur Propagierung der katechontischen Mission Russlands gruumlndete Maler 1999 am Institut fuumlr Philosophie der Akademie der Wissenschaften in Moskau einen bdquoBy-zantistischen Klub Katechonldquo (Vizantistskij Klub Katechon) und 2005 das bdquoPhi-losophisch-politische Zentrum sbquoNoumlrdlicher Katechonlsquoldquo das einen gleichnamigen Almanach (Severnyj Katechon) herausgibt121

Apokalyptischer Ausblick

Die Formel vom Dritten Rom und die Figur des Katechon des Aufhalters des bdquoweltweiten Boumlsenldquo sind zu Markenzeichen russischer Anti-Westler und Ver-schwoumlrungstheoretiker und ihres schrillen Szenariums eines globalen apokalyp-tischen bdquoEndkampfesldquo gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo geworden122 Unter dem Titel bdquoDie russische Doktrin Die Staatsideologie der Epoche Putinsldquo verfasste in den Jahren 2005 und 2006 ein Kollektiv nationalpatriotischer Autoren ndash unter ih-nen der bdquoByzantistldquo Arkadij Maler ndash ein uumlber 1000 Seiten langes ultrakonservati-ves und antiwestliches Manifest das auch die Unterstuumltzung hoher kirchlicher Wuumlrdentraumlger fand123 In ihrem Entwurf einer bdquoorganischen weltanschaulichen Plattformldquo fuumlr das kuumlnftige Russland behandeln die Autoren ausfuumlhrlich die bdquohis-toriosophischeldquo Konzeption vom Dritten Rom und seine Mission als Katechon gegen das bdquoHeidentumldquo des Westens124 Gefordert wird die positive Identifikation

119 Maler Duchovnaja missija 182f 185 120 Ebd 177 ndash Als Mittel im ideologischen Kampf gegen den saumlkularen Westen fordert Maler

in Analogie zur katholischen Gegenreformation eine orthodoxe konservative bdquoGegenauf-klaumlrungldquo (Kontrprosveščenie) lthttpwwwkatehonruhtmltoppolitologiaideaotkritije _polit_pravoslavijahtmgt

121 Siehe die Website lthttpwwwkatehonrugt 122 Siehe zB Galina A Morozova Tretij Rim protiv novogo mirovogo porjadka Moskva

2009 Die Formel von Dritten Rom hat laumlngst auch Schriftsteller und Maler inspiriert und scheint auch werbewirksam zu sein bdquoDrittes Romldquo nennt sich ein Verlag ein Videospiel eine Bank ein Reisebuumlro und sogar ein Kasino in Jalta Ein Schoumlnheitswettbewerb in Mos-kau vergibt alljaumlhrlich den Titel einer bdquoMiss Drittes Romldquo Judith E Kalb Russiarsquos Rome Imperial Visions Messianic Dreams 1890ndash1940 Madison Wisconsin 2008 198f Zum Katechon siehe Maria Engstroumlm bdquoContemporary Russian Messianism and New Russian Foreign Policyldquo in Contemporary Security Policy 35 (2014) 3 356ndash379

123 Russkaja doktrina Gosudarstvennaja ideologija ėpochi Putina Moskva 2016 124 Ebd 68ndash72 116ndash120 und passim

34 Michael Hagemeister

mit der Geschichte Russlands und seinen Lichtgestalten dem Heiligen Serafim von Sarov dem bdquoeschatologischen Fuumlhrer des russischen Volkes am Ende der Zeitenldquo der bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo und Stalin der dem paulinischen Kate-chon gleich die bdquoGesetzlosigkeitldquo (bezzakonie) bekaumlmpft und das bdquoFundament fuumlr eine groszlige Zukunftldquo gelegt habe125

bdquoKatechonldquo nennt sich auch ein prominent besetzter Think tank den der Oligarch und Berater Putins Konstantin Malofeev im Jahr 2015 gegruumlndet hat126 Der Milliardaumlr der sein Vermoumlgen mit einer Investmentfirma auf den Cayman Inseln gemacht hat bezeichnet sich selbst als bdquoorthodoxen Monarchistenldquo127 Er unterstuumltzt die Separatisten in der Ostukraine und unterhaumllt vielfaumlltige Verbindun-gen zu europaumlischen Rechtspopulisten wie dem Front National der FPOuml Syriza und der Lega Nord Neben dem Forum bdquoKatechonldquo betreibt Malofeev auch einen Fernsehsender mit dem programmatischen Namen bdquoZargradldquo128 (Motto bdquoDas Licht Christi erleuchtet alleldquo) dessen Chefkommentator niemand anderes ist als Aleksandr Dugin129

bdquoKatechonldquo und bdquoZargradldquo propagieren den Kampf gegen die westliche Moderne mit Bezug auf das byzantinische Erbe Russlands Im November 2014 fand in der Moskauer Manege eine Konferenz bdquoMoskau ndash das Dritte Romldquo statt130 An ihr nahmen auszliger Dugin und Malofeev auch Archimandrit Tichon und Nata-lrsquoja Naročnickaja teil eine hochrangige Diplomatin Mitglied des Izborsker Klubs und Leiterin des Pariser bdquoInstituts fuumlr Demokratie und Kooperationldquo das die oumlf-fentliche Meinung im Westen im Sinne des Kremls beeinflussen soll Tichons Film bdquoDie Lehre von Byzanzldquo sei so Naročnickaja auch eine Warnung an den Westen der seine christlichen Werte verraten habe weshalb er den glaubens-festen Migranten und ihrer Verachtung hilflos ausgeliefert sei131

Im Oktober 2009 wurde Tichons Film in Athen vor ausverkauftem Saal aufgefuumlhrt Unter denen die dem Drehbuchautor Beifall spendeten war der Philo-soph und Theologe Christos Yannaras einer der Hauptvertreter der Neoorthodo-xie und scharfer Kritiker des Westens Wie ihre russischen Gesinnungsgenossen

125 Ebd 130f 153 142ndash145 126 Mit einem Auftritt im Internet in 9 Sprachen Siehe die deutsche Version unter lthttp

katehoncomdewer-sind-wirgt 127 lthttpsdewikipediaorgwikiKonstantin_Walerjewitsch_Malofejewgt 128 Carrsquograd ist der altrussische Name fuumlr Konstantinopel 129 Auch Dugin unterhaumllt seit mehr als 25 Jahren Kontakte zu ultrakonservativen traditiona-

listischen und faschistischen Gesinnungsgenossen in Westeuropa Siehe Vladimir Ivanov Alexander Dugin und die rechtsextremen Netzwerke Fakten und Hypothesen zu den inter-nationalen Verflechtungen der russischen Neuen Rechten Stuttgart 2007

130 lthttpwwwpravoslavieru75070htmlgt 131 lthttpwwwpravoslavieru7414htmlgt ndash Fuumlr Metropolit Ilarion (Alfeev) der sich dabei

auf Dugin beruft verwandeln sich die Laumlnder Westeuropas bereits in die bdquoSphaumlre des Anti-christldquo lthttpwwwpatriarchiarudbtext3065216htmlgt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 35

verherrlichen auch die griechischen Neoorthodoxen die byzantinische Vergan-genheit und sehen in der modernen saumlkularen Gesellschaft eine Bedrohung ihrer kulturellen Identitaumlt132 Gemeinsam suchen sie der Globalisierung mit einer bdquoby-zantinischen Internationaleldquo als bdquoorthodoxer Oumlkumeneldquo entgegenzuwirken einer letztlich sakral verstandenen Gemeinschaft deren Einfluss indes weit uumlber die kirchliche Sphaumlre hinausreichen und eine transnationale Vereinigung der ortho-doxen Welt von Serbien uumlber Syrien bis Georgien und Armenien unter Fuumlhrung Moskaus schaffen soll133 Als wichtiger symbolischer Schritt auf diesem Weg wurde der Besuch von Praumlsident Putin und Patriarch Kirill des Heiligen Berges Athos einer traditionellen Hochburg antiwestlicher Opposition im Mai 2016 ge-feiert Das weltliche und das geistliche Oberhaupt Russlands ndash die bdquoSymphonia der Maumlchteldquo ndash zeigten damit so Aleksandr Dugin ihr Bekenntnis zu Byzanz und seiner Rolle als Katechon Damit anerkenne bdquounsere Rusrsquo ihre historische Bestim-mung Wir sind bereit fuumlr die Endzeitldquo134

132 Ausfuumlhrlich dazu Daniel P Payne The Revival of Political Hesychasm in Contemporary

Orthodox Thought The Political Hesychasm of John Romanides and Christos Yannaras Lanham [ua] 2011 Siehe auch Vasilios N Makrides bdquoByzantium in Contemporary Greece The Neo-Orthodox Current of Ideasldquo in David RicksPaul Magdalino (Hgg) Byzantium and the Modern Greek Identity Aldershot 1998 141ndash153 Zum griechischen Neobyzantismus unter russischem Einfluss Aleksey Kamenskikh bdquoThe Image of the Second Rome through the Prism of the Thirdrdquo in Teresa Obolevich [ua] (Hgg) Russian Thought in Europe Reception Polemics Development Krakoacutew 2013 13ndash22 ndash Antimo-derne und antiwestliche Stroumlmungen in den vom orthodoxen Christentum gepraumlgten Kultu-ren haben der Religionswissenschaftler Makrides und der Slavist Uffelmann vor einigen Jahren als Desiderat der Forschung benannt Vasilios N MakridesDirk Uffelmann bdquoStudying Eastern Orthodox Anti-Westernism The Need for a Comparative Research Agendaldquo in Jonathan SuttonWil van den Bercken (Hgg) Orthodox Christianity and Contemporary Europe Leuven [ua] 2003 87ndash120 Seitdem haben Makrides und die Politikwissenschaftlerin Stoumlckl eine Reihe einschlaumlgiger Arbeiten vorgelegt in denen or-thodoxe Alternativen zu westlichen philosophischen und politischen Konzepten untersucht werden Vasilios N Makrides bdquoOrthodoxes Cristentum und Moderne ndash Inkompatibilitaumlt oder langfristige Anpassungldquo in Una Sancta 2011 1 15ndash30 ders bdquoOumlstliches orthodo-xes Christentum und Saumlkularitaumlt Ein Vergleich mit dem lateinischen Christentumldquo in Transit 47 (2015) 59ndash75 Kristina Stoumlckl bdquoModernity and its Critique in Twentieth Cen-tury Russian Orthodox Thoughtldquo in Studies in East European Thought 58 (2006) 243ndash269 dies Community after Totalitarianism The Russian Orthodox Intellectual Tradition and the Philosophical Discourse of Political Modernity Frankfurt aM [ua] 2008

133 Dazu gehoumlrt auch die Verwirklichung des jahrhundertealten Traums der Wiedererrichtung des Kreuzes auf der Hagia Sophia Siehe Egor Cholmogorov Russkij proekt restavracija buduščego Moskva 2005 283 Der Verfasser Mitglied des Expertenteams des Izborsker Klubs ist Begruumlnder der Doktrin der bdquoAtomaren Orthodoxieldquo siehe Fn 74

134 Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Traditionldquo

ZUM AUTOR

Michael Hagemeister geb 1951 in EllwangenJagst Studium der Slavistik Ge-schichte Germanistik und Philosophie in Basel und MarburgLahn Promotion mit einer Arbeit uumlber den russischen Philosophen Nikolaj Fedorov Wissenschaft-licher Mitarbeiter am Slawischen Seminar in Marburg Gastprofessor am Seminar fuumlr Komparatistik der Universitaumlt Innsbruck Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lotman-Institut fuumlr russische und sowjetische Kultur der Ruhr-Universitaumlt Bo-chum am Lehrstuhl fuumlr Geschichte Osteuropas der Europa-Universitaumlt Viadrina Frankfurt (Oder) an den Historischen Seminaren der Universitaumlten Basel Duumlssel-dorf und Bochum Vertretung der Professuren fuumlr Geschichte Osteuropas an der Ludwig-Maximilians Universitaumlt Muumlnchen und an der Europa-Universitaumlt Frank-furt (Oder)

Forschungen zur russischen Philosophie und Geistesgeschichte zum utopischen und apokalyptischen Denken in Russland zum russischen Rechtsextremismus und Antisemitismus sowie insbesondere zu den Protokollen der Weisen von Zion und ihrem Herausgeber Sergej Nilus Publikationen ua Die Neue Menschheit Biopolitische Utopien in Russland (hg mit Boris Groys) Frankfurt aM 2005 The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimensions (hg mit Birgit Menzel und Bernice Rosenthal) Muumlnchen 2012 Die Fiktion von der juumldischen Weltver-schwoumlrung Zu Text und Kontext der bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo (hg mit Eva Horn) Goumlttingen 2012 Die bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo vor Gericht Der Berner Prozess und die bdquoantisemitische Internationaleldquo in der Zwischen-kriegszeit Chronik Dokumente und Kommentare Zuumlrich (im Druck)

ERFURTER VORTRAumlGE ZUR KULTURGESCHICHTE DES ORTHODOXEN CHRISTENTUMS Reihenherausgeber Vasilios N Makrides

Heft 1 Thomas Bremer Konfrontation statt Oumlkumene Zur kirchlichen Situation in der Ukraine Erfurt 2001

Heft 2 Gerhard Podskalsky Zur Hermeneutik des theologischen Ost-West-

Gespraumlchs in historischer Perspektive Erfurt 2002 Heft 3 Karl Christian Felmy Warum und zu welchem Behufe treiben wir

Ostkirchenkunde Erfurt 2003 Heft 4 Wassilios Klein bdquoTatarenjoch ndash татарское игоldquo Beobachtungen zur

Wahrnehmung des Islam im eurasischen Raum Erfurt 2005 Heft 5 Stamatios D Gerogiorgakis Zeitphilosophie im Mittelalter Byzantinische

und lateinische Vorstellungen Erfurt 2006 Heft 6 Heinz Ohme Das Oumlkumenische Patriarchat von Konstantinopel und die

tuumlrkische Religionspolitik Erfurt 2007 Heft 7 Alexander Agadjanian Russian Orthodox Vision of Human Rights Recent

Documents and Their Significance Erfurt 2008 Heft 8 Christos Yannaras Wem gehoumlrt die griechische Antike Erfurt 2009 Heft 9 Joachim Willems Religions- und Ethikunterricht in Russland ndash Was

wollen Staat und Kirche Zur Einfuumlhrung des neuen Schulfaches bdquoGrundlagen der religioumlsen Kulturen und der weltlichen Ethikldquo Erfurt 2010

Heft 10 Chris Hann Eastern Christianity and Western Social Theory Erfurt 2011 Heft 11 Jennifer Wasmuth Akademische Theologie im zaristischen Russland in

ihrer Bedeutung fuumlr die neuere orthodoxe Theologie Erfurt 2012 Heft 12 Anna Briskina-Muumlller Auf der Suche nach der bdquoHesychialdquo Paisij

Veličkovskij (1722ndash1794) und sein Leben fuumlr die bdquoPhilokalieldquo Erfurt 2014

Heft 13 Vladimir Cvetković From ldquoMerciful Angelrdquo to ldquoFortress Europerdquo The

Perception of Europe and the West in Contemporary Serbian Orthodoxy Erfurt 2015

Heft 14 Stefan G Reichelt Lebenslinien Nikolaj A Berdjaev (1874ndash1948) und Sergij N Bulgakov (1871ndash1944) im Westen ndash Eine Wuumlrdigung Erfurt 2015

Heft 15 Michael Hagemeister Der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo ndash bdquoNeobyzantismusldquo

und bdquopolitischer Hesychasmusldquo im postsowjetischen Russland Erfurt 2016

Alle Hefte der vorliegenden Schriftenreihe koumlnnen unter folgendem Link kostenlos heruntergeladen werden URL httpswwwuni-erfurtdereligionswissenschaftprofessur-orthodoxes-christentumveroeffentlichungenerfurter-vortraege-zur-kulturgeschichte-des-orthodoxen-christentums

Page 30: Michael Hagemeister FINAL - uni-erfurt.de · doziert Tichon, während er das antike Kons tantinopel computeranimiert auferste- hen lässt. Das prosperierende Impe rium erregte freilich

30 Michael Hagemeister

bdquoSeele der russischen Orthodoxieldquo und habe in Serafim von Sarov ihren bdquoletzten leuchtendsten Vertreterldquo gefunden

Der Hesychasmus gehoumlre zum traditionellen Erbe von Byzanz das Russ-land angetreten habe als es zum Dritten Rom und zum Zentrum der orthodoxen Welt geworden sei bdquoWir sindldquo so Dugin bdquobyzantinisch in unserer Seele unseren Wurzeln und in unserer Identitaumltldquo108

Unser stabilstes Fundament ist Byzanz [hellip] Russland ist Byzanz [hellip] Unsere For-mel lautet Der Westen ist das Boumlse Byzanz das Gute Alles Schlechte das uumlber Byzanz geschrieben wurde ist eine Luumlge Das sind lediglich Winkelzuumlge im ideolo-gischen Kampf von Seiten des Westens [hellip] Jeder Russe muss wissen Byzanz ist das reine Gute Jeder der etwas anderes behauptet ist ein Feind [hellip] Wer Byzanz kritisiert ist ein Feind des russischen Volkes Das muss unser ehernes Prinzip sein [hellip] Byzanz ist der absolute Orientierungspunkt des russischen Projekts109

Damit sind Russlands Ort und Mission in der bdquohistoriosophischenldquo Deutung des Weltgeschehens bestimmt Nach Dugin wird die Geschichte der Menschheit be-herrscht vom bdquookkulten planetarischen Ringenldquo zweier antagonistischer Maumlchte dem bdquogroszligen Krieg der Kontinenteldquo Land gegen Meer Behemoth gegen Levia-than die organischen bodenstaumlndigen und traditionalistischen bdquoTellurokratienldquo des eurasischen Ostens gegen die wurzel- und seelenlosen materialistischen bdquoTha-lassokratienldquo des angloamerikanischen Westens das apokalyptische Tier aus dem Meer (Offb 13 1-10)110 Die USA als bdquoQuintessenz des Westensldquo und New York als moderne Hure Babylon (Offb 17 und 18) sind das Reich des Antichrist eine chimaumlrisch-antiorganische transplantierte Zivilisation die keine sakrale Tradi-tion besitze ihre Selbsterhebung zu bdquoGottes neuem Israelldquo und bdquoNeuem Zionldquo ndash gemaumlszlig der anglo-amerikanischen Interpretation der Substitutionslehre ndash deutet Dugin als besonders perfiden Taumluschungsversuch des bdquowestlichen Antichristldquo Das Jahr der Entdeckung Amerikas (1492 ist nach der altrussisch-byzantinischen

offene Ablehnung Fuumlr den Sektenexperten des Moskauer Patriarchats ist Dugin ein bdquoge-faumlhrlicher Feindldquo der die bdquoOrthodoxie in Kabbalistik umzuschmelzenldquo versuche Andrej Kuraev Cerkovrsquo v mire ljudej Moskva 2006 142

108 Aleksandr Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Tradition Duginrsquos Guidelineldquo lthttpswwwyoutubecomwatchv=m0RIa61eZDggt

109 Aleksandr Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo in ders Russkaja Veščrsquo Očerki nacionalrsquonoj filosofii Bd 1 Moskva 2001 69ndash76 hier 70ndash72 (Hervorhebungen im Original) Der Be-griff bdquoByzantismusldquo (vizantizm) ndash im Unterschied zum negativ konnotierten bdquoByzantinis-musldquo ndash als Bezeichnung eines dem europaumlischen entgegengesetzten Kulturtypus der auf den Prinzipien von Orthodoxie und Selbstherrschaft beruht geht auf den konservativen Philosophen Konstantin Leontrsquoev (1831ndash1891) und sein Buch Vizantizm i slavjanstvo (1875) zuruumlck

110 Auch fuumlr den von Dugin verehrten Heidegger waren die Seemaumlchte Groszligbritannien und Amerika nicht Teil der abendlaumlndischen Tradition sondern im Gegensatz zum restlichen Europa wurzellos und sinnleer Der Antagonismus von Land und Meer die kategorische Unterscheidung von Freund und Feind sowie das Konzept des Katechon gehen auf Carl Schmitt zuruumlck als dessen Schuumller Dugin sich bezeichnet Siehe auch Fn 41

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 31

Weltaumlra das Jahr 7000 nach dem chiliadischen Weltwochenschema also der sieb-te Tag der Schoumlpfung) verweise ebenso auf den Endzeitcharakter der bdquoNeuen Weltldquo wie die bdquosakrale Geographieldquo nach der das Paradies im Osten die Houmllle aber das bdquoLand des Todesldquo im Westen zu suchen seien111

Dem Antichrist entgegen stehe seit jeher der Katechon dessen bdquoletzter Hortldquo bis ans Ende der Zeit die Heilige Rusrsquo das Dritte Rom sei112 In der petrini-schen Epoche als die Hauptstadt in die bdquonoumlrdlichen Suumlmpfeldquo in die bdquoGespenster-stadtldquo Petersburg verlegt und das Patriarchat abgeschafft wurde haumltten allein die Altglaumlubigen den Geist von Byzanz den Katechon bewahrt zweihundert Jahre lang sei der Weg frei gewesen fuumlr das zerstoumlrerische Wirken des Antichrist Erst die sowjetische Periode habe eine bdquomystische Ruumlckkehr zum Byzantismusldquo be-deutet indem die Bolschewiki das heilige Moskau wieder zur Hauptstadt erklaumlr-ten das Patriarchat wiederherstellten die Ausbeuter als Klasse vernichteten und dem Westen auf allen Gebieten Widerstand boten Im bdquoroten Byzantismusldquo der Dritten Internationale sei der Katechon zuruumlckgekehrt113

Um seine Mission zur Erloumlsung der Menschheit auch kuumlnftig zu erfuumlllen muumlsse das Dritte Rom nach dem Zerfall der Sowjetunion114 nunmehr ein groszligkon-tinentales sakral fundiertes bdquoEurasisches Imperiumldquo errichten gegen den Erz-feind die materialistische universalistische alles nivellierende Zivilisation des Westens als der Verkoumlrperung des bdquoweltweiten Boumlsenldquo (mirovoe zlo) gegen Libe-ralismus Individualismus Globalismus Egalitarismus sowie die bdquomondialisti-scheldquo Konzeption der Menschenrechte115 Verbuumlndete im bevorstehenden apoka-lyptischen bdquoEndkampfldquo (von Dugin stets deutsch geschrieben) werden all jene sein die den Bezug zum bdquoSakralenldquo noch nicht verloren haben russische Altglaumlu-bige ultraorthodoxe antizionistische Juden europaumlische Traditionalisten sowie jene bdquoanti-atlantischenldquo islamistischen Fundamentalisten die in den USA den Dajjacircl den falschen Messias und Antichrist erkennen gegen den die Retter-gestalt des Mahdicirc zu Felde ziehen wird116 111 Aleksandr Dugin Absoljutnaja Rodina Puti Absoljuta Metafizika Blagoj Vesti Misterii

Evrazii Moskva 1999 645ndash670 112 Ebd 378ndash395 493ndash521 113 Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo 74ndash76 Siehe auch ders bdquoKatechon i revoljucijaldquo in ders

Tampliery proletariata Nacional-bolrsquoševizm i iniciacija Moskva 1997 52ndash59 ndash Die mes-sianische Identifizierung des Dritten Rom mit der Dritten Internationale reicht bis ins Gruumlndungsjahr der Komintern (1919) zuruumlck Beide so der slawophile Philosoph und An-haumlnger des imjaslavie Valerian Muravrsquoev (1885ndash1930) in einem Brief vom 6 Januar 1920 an Lev Trockij seien Ausdruck der Suche des russischen Volkes und der Intelligencija nach einem Reich der Wahrheit und Gerechtigkeit Valerian Muravrsquoev Sočinenija Bd 2 Moskva 2011 352f Weitere Belege bei Emanuel Sarkisyanz Russland und der Messianis-mus des Orients Tuumlbingen 1955 196 Mikhail Agursky Third Rome National Bolshevism in the USSR Boulder Co 1987

114 Damals sah ein Journalist bdquoauf den Ruinen des Imperiumsldquo das Dritte Rom in Gefahr zu einem Land der Dritten Welt zu werden Andrej Fadin bdquoTretij Rim v tretrsquoem mire Razmy-šlenija na ruinach imperiildquo in Nezavisimaja gazeta 1291991

115 [Aleksandr Dugin] bdquoLibo-my libo-ničtoldquo in Ėlementy 8 19961997 1ndash4 hier 2 116 [Aleksandr Dugin] bdquoIdeologija Mirovogo Pravitelrsquostvaldquo in Ėlementy 2 1992 1f

32 Michael Hagemeister

Das Dritte Rom als Zentrum des eurasischen bdquoEuro-Sowjetischen Imperiumsldquo Titelbild der von Aleksandr Dugin herausgegebenen Zeitschrift bdquoElemente Eurasische Rundschauldquo (1992) Dugins Werk mit seiner provokanten Mischung esoterischer antimoderner und antiwestlicher Motive findet besonders unter jungen Intellektuellen Anklang und Nachahmer so etwa bei dem promovierten Philosophen und selbstproklamierten bdquoorthodoxen Metaphysikerldquo Arkadij Maler einem vehementen Propagandisten einer bdquopolitischen Orthodoxieldquo (političeskoe Pravoslavie) und fuumlhrenden Ideolo-gen der bdquoneobyzantinischenldquo Doktrin Obwohl sich Maler von Dugin distan-ziert117 beschwoumlrt auch er die eschatologische bdquogeistige Mission des Dritten Romldquo die es von Byzanz geerbt habe und die in seiner bdquozentralen katechontischen Rolleldquo bestehe dem Kampf gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo des bdquogottlosen Wes-tensldquo118 Russische Politik koumlnne deshalb nicht anders als imperial sein und muumlsse ihren Einfluss auf den gesamten Planeten ausdehnen Wie Dugin sieht auch Maler die Bolschewiki in dieser Tradition als sie Moskau zur Hauptstadt des bdquoRoten

117 In den spaumlten 1990er Jahren gehoumlrte Maler der vaumlterlicherseits juumldischer Abstammung ist

zusammen mit Dugin und Ėduard Limonov zur Fuumlhrungsriege der Nationalbolschewisti-schen Partei und schrieb fuumlr die Parteizeitung Limonka sich selbst charakterisierte er als bdquorotbraunen Zionistenldquo Nach seiner Konversion zur Orthodoxie trennte er sich 1999 von Dugin und kritisierte dessen esoterischen Traditionalismus aus einer ultraorthodoxen Posi-tion Dugin wiederum warf Maler vor ihn zu plagiieren

118 Arkadij Maler Duchovnaja missija Tretrsquoego Rima Moskva 2005 bes 134ndash136 170ndash206 Siehe auch ders bdquoIdeologija Vizantizmaldquo in Severnij Katechon 1 (2005) 7ndash49 bdquoNeovi-zantizm kak novyj bolrsquošoj stilrsquoldquo in Aleksej Nilogov (Hg) Kto segodnja delaet filosofiju v Rossii Moskva 2007 110ndash124

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 33

Imperiumsldquo machten und dieses zur bdquoabsoluten Antithese des Westensldquo erklaumlrten zum bdquoTraumlger der planetarischen Mission der Befreiung der Welt aus den sbquoFesseln des Kapitalslsquoldquo119 Das Dritte Rom sei zeitweise in die Dritte Internationale trans-formiert worden ohne jedoch seine Mission als Katechon als aufhaltende Macht gegen das Reich des Boumlsen und Ausgangspunkt zur Errettung der Welt aufzuge-ben Die bdquoletzte Etappeldquo im Kampf gegen den Antichrist werde so Maler der bdquoeschatologische Krieg des Dritten Rom gegen das Dritte Karthagoldquo den bdquoAnti-katechonldquo sein die bdquoanglo-amerikanische [] atlantische Zivilisationldquo120 Zur Propagierung der katechontischen Mission Russlands gruumlndete Maler 1999 am Institut fuumlr Philosophie der Akademie der Wissenschaften in Moskau einen bdquoBy-zantistischen Klub Katechonldquo (Vizantistskij Klub Katechon) und 2005 das bdquoPhi-losophisch-politische Zentrum sbquoNoumlrdlicher Katechonlsquoldquo das einen gleichnamigen Almanach (Severnyj Katechon) herausgibt121

Apokalyptischer Ausblick

Die Formel vom Dritten Rom und die Figur des Katechon des Aufhalters des bdquoweltweiten Boumlsenldquo sind zu Markenzeichen russischer Anti-Westler und Ver-schwoumlrungstheoretiker und ihres schrillen Szenariums eines globalen apokalyp-tischen bdquoEndkampfesldquo gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo geworden122 Unter dem Titel bdquoDie russische Doktrin Die Staatsideologie der Epoche Putinsldquo verfasste in den Jahren 2005 und 2006 ein Kollektiv nationalpatriotischer Autoren ndash unter ih-nen der bdquoByzantistldquo Arkadij Maler ndash ein uumlber 1000 Seiten langes ultrakonservati-ves und antiwestliches Manifest das auch die Unterstuumltzung hoher kirchlicher Wuumlrdentraumlger fand123 In ihrem Entwurf einer bdquoorganischen weltanschaulichen Plattformldquo fuumlr das kuumlnftige Russland behandeln die Autoren ausfuumlhrlich die bdquohis-toriosophischeldquo Konzeption vom Dritten Rom und seine Mission als Katechon gegen das bdquoHeidentumldquo des Westens124 Gefordert wird die positive Identifikation

119 Maler Duchovnaja missija 182f 185 120 Ebd 177 ndash Als Mittel im ideologischen Kampf gegen den saumlkularen Westen fordert Maler

in Analogie zur katholischen Gegenreformation eine orthodoxe konservative bdquoGegenauf-klaumlrungldquo (Kontrprosveščenie) lthttpwwwkatehonruhtmltoppolitologiaideaotkritije _polit_pravoslavijahtmgt

121 Siehe die Website lthttpwwwkatehonrugt 122 Siehe zB Galina A Morozova Tretij Rim protiv novogo mirovogo porjadka Moskva

2009 Die Formel von Dritten Rom hat laumlngst auch Schriftsteller und Maler inspiriert und scheint auch werbewirksam zu sein bdquoDrittes Romldquo nennt sich ein Verlag ein Videospiel eine Bank ein Reisebuumlro und sogar ein Kasino in Jalta Ein Schoumlnheitswettbewerb in Mos-kau vergibt alljaumlhrlich den Titel einer bdquoMiss Drittes Romldquo Judith E Kalb Russiarsquos Rome Imperial Visions Messianic Dreams 1890ndash1940 Madison Wisconsin 2008 198f Zum Katechon siehe Maria Engstroumlm bdquoContemporary Russian Messianism and New Russian Foreign Policyldquo in Contemporary Security Policy 35 (2014) 3 356ndash379

123 Russkaja doktrina Gosudarstvennaja ideologija ėpochi Putina Moskva 2016 124 Ebd 68ndash72 116ndash120 und passim

34 Michael Hagemeister

mit der Geschichte Russlands und seinen Lichtgestalten dem Heiligen Serafim von Sarov dem bdquoeschatologischen Fuumlhrer des russischen Volkes am Ende der Zeitenldquo der bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo und Stalin der dem paulinischen Kate-chon gleich die bdquoGesetzlosigkeitldquo (bezzakonie) bekaumlmpft und das bdquoFundament fuumlr eine groszlige Zukunftldquo gelegt habe125

bdquoKatechonldquo nennt sich auch ein prominent besetzter Think tank den der Oligarch und Berater Putins Konstantin Malofeev im Jahr 2015 gegruumlndet hat126 Der Milliardaumlr der sein Vermoumlgen mit einer Investmentfirma auf den Cayman Inseln gemacht hat bezeichnet sich selbst als bdquoorthodoxen Monarchistenldquo127 Er unterstuumltzt die Separatisten in der Ostukraine und unterhaumllt vielfaumlltige Verbindun-gen zu europaumlischen Rechtspopulisten wie dem Front National der FPOuml Syriza und der Lega Nord Neben dem Forum bdquoKatechonldquo betreibt Malofeev auch einen Fernsehsender mit dem programmatischen Namen bdquoZargradldquo128 (Motto bdquoDas Licht Christi erleuchtet alleldquo) dessen Chefkommentator niemand anderes ist als Aleksandr Dugin129

bdquoKatechonldquo und bdquoZargradldquo propagieren den Kampf gegen die westliche Moderne mit Bezug auf das byzantinische Erbe Russlands Im November 2014 fand in der Moskauer Manege eine Konferenz bdquoMoskau ndash das Dritte Romldquo statt130 An ihr nahmen auszliger Dugin und Malofeev auch Archimandrit Tichon und Nata-lrsquoja Naročnickaja teil eine hochrangige Diplomatin Mitglied des Izborsker Klubs und Leiterin des Pariser bdquoInstituts fuumlr Demokratie und Kooperationldquo das die oumlf-fentliche Meinung im Westen im Sinne des Kremls beeinflussen soll Tichons Film bdquoDie Lehre von Byzanzldquo sei so Naročnickaja auch eine Warnung an den Westen der seine christlichen Werte verraten habe weshalb er den glaubens-festen Migranten und ihrer Verachtung hilflos ausgeliefert sei131

Im Oktober 2009 wurde Tichons Film in Athen vor ausverkauftem Saal aufgefuumlhrt Unter denen die dem Drehbuchautor Beifall spendeten war der Philo-soph und Theologe Christos Yannaras einer der Hauptvertreter der Neoorthodo-xie und scharfer Kritiker des Westens Wie ihre russischen Gesinnungsgenossen

125 Ebd 130f 153 142ndash145 126 Mit einem Auftritt im Internet in 9 Sprachen Siehe die deutsche Version unter lthttp

katehoncomdewer-sind-wirgt 127 lthttpsdewikipediaorgwikiKonstantin_Walerjewitsch_Malofejewgt 128 Carrsquograd ist der altrussische Name fuumlr Konstantinopel 129 Auch Dugin unterhaumllt seit mehr als 25 Jahren Kontakte zu ultrakonservativen traditiona-

listischen und faschistischen Gesinnungsgenossen in Westeuropa Siehe Vladimir Ivanov Alexander Dugin und die rechtsextremen Netzwerke Fakten und Hypothesen zu den inter-nationalen Verflechtungen der russischen Neuen Rechten Stuttgart 2007

130 lthttpwwwpravoslavieru75070htmlgt 131 lthttpwwwpravoslavieru7414htmlgt ndash Fuumlr Metropolit Ilarion (Alfeev) der sich dabei

auf Dugin beruft verwandeln sich die Laumlnder Westeuropas bereits in die bdquoSphaumlre des Anti-christldquo lthttpwwwpatriarchiarudbtext3065216htmlgt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 35

verherrlichen auch die griechischen Neoorthodoxen die byzantinische Vergan-genheit und sehen in der modernen saumlkularen Gesellschaft eine Bedrohung ihrer kulturellen Identitaumlt132 Gemeinsam suchen sie der Globalisierung mit einer bdquoby-zantinischen Internationaleldquo als bdquoorthodoxer Oumlkumeneldquo entgegenzuwirken einer letztlich sakral verstandenen Gemeinschaft deren Einfluss indes weit uumlber die kirchliche Sphaumlre hinausreichen und eine transnationale Vereinigung der ortho-doxen Welt von Serbien uumlber Syrien bis Georgien und Armenien unter Fuumlhrung Moskaus schaffen soll133 Als wichtiger symbolischer Schritt auf diesem Weg wurde der Besuch von Praumlsident Putin und Patriarch Kirill des Heiligen Berges Athos einer traditionellen Hochburg antiwestlicher Opposition im Mai 2016 ge-feiert Das weltliche und das geistliche Oberhaupt Russlands ndash die bdquoSymphonia der Maumlchteldquo ndash zeigten damit so Aleksandr Dugin ihr Bekenntnis zu Byzanz und seiner Rolle als Katechon Damit anerkenne bdquounsere Rusrsquo ihre historische Bestim-mung Wir sind bereit fuumlr die Endzeitldquo134

132 Ausfuumlhrlich dazu Daniel P Payne The Revival of Political Hesychasm in Contemporary

Orthodox Thought The Political Hesychasm of John Romanides and Christos Yannaras Lanham [ua] 2011 Siehe auch Vasilios N Makrides bdquoByzantium in Contemporary Greece The Neo-Orthodox Current of Ideasldquo in David RicksPaul Magdalino (Hgg) Byzantium and the Modern Greek Identity Aldershot 1998 141ndash153 Zum griechischen Neobyzantismus unter russischem Einfluss Aleksey Kamenskikh bdquoThe Image of the Second Rome through the Prism of the Thirdrdquo in Teresa Obolevich [ua] (Hgg) Russian Thought in Europe Reception Polemics Development Krakoacutew 2013 13ndash22 ndash Antimo-derne und antiwestliche Stroumlmungen in den vom orthodoxen Christentum gepraumlgten Kultu-ren haben der Religionswissenschaftler Makrides und der Slavist Uffelmann vor einigen Jahren als Desiderat der Forschung benannt Vasilios N MakridesDirk Uffelmann bdquoStudying Eastern Orthodox Anti-Westernism The Need for a Comparative Research Agendaldquo in Jonathan SuttonWil van den Bercken (Hgg) Orthodox Christianity and Contemporary Europe Leuven [ua] 2003 87ndash120 Seitdem haben Makrides und die Politikwissenschaftlerin Stoumlckl eine Reihe einschlaumlgiger Arbeiten vorgelegt in denen or-thodoxe Alternativen zu westlichen philosophischen und politischen Konzepten untersucht werden Vasilios N Makrides bdquoOrthodoxes Cristentum und Moderne ndash Inkompatibilitaumlt oder langfristige Anpassungldquo in Una Sancta 2011 1 15ndash30 ders bdquoOumlstliches orthodo-xes Christentum und Saumlkularitaumlt Ein Vergleich mit dem lateinischen Christentumldquo in Transit 47 (2015) 59ndash75 Kristina Stoumlckl bdquoModernity and its Critique in Twentieth Cen-tury Russian Orthodox Thoughtldquo in Studies in East European Thought 58 (2006) 243ndash269 dies Community after Totalitarianism The Russian Orthodox Intellectual Tradition and the Philosophical Discourse of Political Modernity Frankfurt aM [ua] 2008

133 Dazu gehoumlrt auch die Verwirklichung des jahrhundertealten Traums der Wiedererrichtung des Kreuzes auf der Hagia Sophia Siehe Egor Cholmogorov Russkij proekt restavracija buduščego Moskva 2005 283 Der Verfasser Mitglied des Expertenteams des Izborsker Klubs ist Begruumlnder der Doktrin der bdquoAtomaren Orthodoxieldquo siehe Fn 74

134 Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Traditionldquo

ZUM AUTOR

Michael Hagemeister geb 1951 in EllwangenJagst Studium der Slavistik Ge-schichte Germanistik und Philosophie in Basel und MarburgLahn Promotion mit einer Arbeit uumlber den russischen Philosophen Nikolaj Fedorov Wissenschaft-licher Mitarbeiter am Slawischen Seminar in Marburg Gastprofessor am Seminar fuumlr Komparatistik der Universitaumlt Innsbruck Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lotman-Institut fuumlr russische und sowjetische Kultur der Ruhr-Universitaumlt Bo-chum am Lehrstuhl fuumlr Geschichte Osteuropas der Europa-Universitaumlt Viadrina Frankfurt (Oder) an den Historischen Seminaren der Universitaumlten Basel Duumlssel-dorf und Bochum Vertretung der Professuren fuumlr Geschichte Osteuropas an der Ludwig-Maximilians Universitaumlt Muumlnchen und an der Europa-Universitaumlt Frank-furt (Oder)

Forschungen zur russischen Philosophie und Geistesgeschichte zum utopischen und apokalyptischen Denken in Russland zum russischen Rechtsextremismus und Antisemitismus sowie insbesondere zu den Protokollen der Weisen von Zion und ihrem Herausgeber Sergej Nilus Publikationen ua Die Neue Menschheit Biopolitische Utopien in Russland (hg mit Boris Groys) Frankfurt aM 2005 The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimensions (hg mit Birgit Menzel und Bernice Rosenthal) Muumlnchen 2012 Die Fiktion von der juumldischen Weltver-schwoumlrung Zu Text und Kontext der bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo (hg mit Eva Horn) Goumlttingen 2012 Die bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo vor Gericht Der Berner Prozess und die bdquoantisemitische Internationaleldquo in der Zwischen-kriegszeit Chronik Dokumente und Kommentare Zuumlrich (im Druck)

ERFURTER VORTRAumlGE ZUR KULTURGESCHICHTE DES ORTHODOXEN CHRISTENTUMS Reihenherausgeber Vasilios N Makrides

Heft 1 Thomas Bremer Konfrontation statt Oumlkumene Zur kirchlichen Situation in der Ukraine Erfurt 2001

Heft 2 Gerhard Podskalsky Zur Hermeneutik des theologischen Ost-West-

Gespraumlchs in historischer Perspektive Erfurt 2002 Heft 3 Karl Christian Felmy Warum und zu welchem Behufe treiben wir

Ostkirchenkunde Erfurt 2003 Heft 4 Wassilios Klein bdquoTatarenjoch ndash татарское игоldquo Beobachtungen zur

Wahrnehmung des Islam im eurasischen Raum Erfurt 2005 Heft 5 Stamatios D Gerogiorgakis Zeitphilosophie im Mittelalter Byzantinische

und lateinische Vorstellungen Erfurt 2006 Heft 6 Heinz Ohme Das Oumlkumenische Patriarchat von Konstantinopel und die

tuumlrkische Religionspolitik Erfurt 2007 Heft 7 Alexander Agadjanian Russian Orthodox Vision of Human Rights Recent

Documents and Their Significance Erfurt 2008 Heft 8 Christos Yannaras Wem gehoumlrt die griechische Antike Erfurt 2009 Heft 9 Joachim Willems Religions- und Ethikunterricht in Russland ndash Was

wollen Staat und Kirche Zur Einfuumlhrung des neuen Schulfaches bdquoGrundlagen der religioumlsen Kulturen und der weltlichen Ethikldquo Erfurt 2010

Heft 10 Chris Hann Eastern Christianity and Western Social Theory Erfurt 2011 Heft 11 Jennifer Wasmuth Akademische Theologie im zaristischen Russland in

ihrer Bedeutung fuumlr die neuere orthodoxe Theologie Erfurt 2012 Heft 12 Anna Briskina-Muumlller Auf der Suche nach der bdquoHesychialdquo Paisij

Veličkovskij (1722ndash1794) und sein Leben fuumlr die bdquoPhilokalieldquo Erfurt 2014

Heft 13 Vladimir Cvetković From ldquoMerciful Angelrdquo to ldquoFortress Europerdquo The

Perception of Europe and the West in Contemporary Serbian Orthodoxy Erfurt 2015

Heft 14 Stefan G Reichelt Lebenslinien Nikolaj A Berdjaev (1874ndash1948) und Sergij N Bulgakov (1871ndash1944) im Westen ndash Eine Wuumlrdigung Erfurt 2015

Heft 15 Michael Hagemeister Der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo ndash bdquoNeobyzantismusldquo

und bdquopolitischer Hesychasmusldquo im postsowjetischen Russland Erfurt 2016

Alle Hefte der vorliegenden Schriftenreihe koumlnnen unter folgendem Link kostenlos heruntergeladen werden URL httpswwwuni-erfurtdereligionswissenschaftprofessur-orthodoxes-christentumveroeffentlichungenerfurter-vortraege-zur-kulturgeschichte-des-orthodoxen-christentums

Page 31: Michael Hagemeister FINAL - uni-erfurt.de · doziert Tichon, während er das antike Kons tantinopel computeranimiert auferste- hen lässt. Das prosperierende Impe rium erregte freilich

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 31

Weltaumlra das Jahr 7000 nach dem chiliadischen Weltwochenschema also der sieb-te Tag der Schoumlpfung) verweise ebenso auf den Endzeitcharakter der bdquoNeuen Weltldquo wie die bdquosakrale Geographieldquo nach der das Paradies im Osten die Houmllle aber das bdquoLand des Todesldquo im Westen zu suchen seien111

Dem Antichrist entgegen stehe seit jeher der Katechon dessen bdquoletzter Hortldquo bis ans Ende der Zeit die Heilige Rusrsquo das Dritte Rom sei112 In der petrini-schen Epoche als die Hauptstadt in die bdquonoumlrdlichen Suumlmpfeldquo in die bdquoGespenster-stadtldquo Petersburg verlegt und das Patriarchat abgeschafft wurde haumltten allein die Altglaumlubigen den Geist von Byzanz den Katechon bewahrt zweihundert Jahre lang sei der Weg frei gewesen fuumlr das zerstoumlrerische Wirken des Antichrist Erst die sowjetische Periode habe eine bdquomystische Ruumlckkehr zum Byzantismusldquo be-deutet indem die Bolschewiki das heilige Moskau wieder zur Hauptstadt erklaumlr-ten das Patriarchat wiederherstellten die Ausbeuter als Klasse vernichteten und dem Westen auf allen Gebieten Widerstand boten Im bdquoroten Byzantismusldquo der Dritten Internationale sei der Katechon zuruumlckgekehrt113

Um seine Mission zur Erloumlsung der Menschheit auch kuumlnftig zu erfuumlllen muumlsse das Dritte Rom nach dem Zerfall der Sowjetunion114 nunmehr ein groszligkon-tinentales sakral fundiertes bdquoEurasisches Imperiumldquo errichten gegen den Erz-feind die materialistische universalistische alles nivellierende Zivilisation des Westens als der Verkoumlrperung des bdquoweltweiten Boumlsenldquo (mirovoe zlo) gegen Libe-ralismus Individualismus Globalismus Egalitarismus sowie die bdquomondialisti-scheldquo Konzeption der Menschenrechte115 Verbuumlndete im bevorstehenden apoka-lyptischen bdquoEndkampfldquo (von Dugin stets deutsch geschrieben) werden all jene sein die den Bezug zum bdquoSakralenldquo noch nicht verloren haben russische Altglaumlu-bige ultraorthodoxe antizionistische Juden europaumlische Traditionalisten sowie jene bdquoanti-atlantischenldquo islamistischen Fundamentalisten die in den USA den Dajjacircl den falschen Messias und Antichrist erkennen gegen den die Retter-gestalt des Mahdicirc zu Felde ziehen wird116 111 Aleksandr Dugin Absoljutnaja Rodina Puti Absoljuta Metafizika Blagoj Vesti Misterii

Evrazii Moskva 1999 645ndash670 112 Ebd 378ndash395 493ndash521 113 Dugin bdquoAbsoljut Vizantizmaldquo 74ndash76 Siehe auch ders bdquoKatechon i revoljucijaldquo in ders

Tampliery proletariata Nacional-bolrsquoševizm i iniciacija Moskva 1997 52ndash59 ndash Die mes-sianische Identifizierung des Dritten Rom mit der Dritten Internationale reicht bis ins Gruumlndungsjahr der Komintern (1919) zuruumlck Beide so der slawophile Philosoph und An-haumlnger des imjaslavie Valerian Muravrsquoev (1885ndash1930) in einem Brief vom 6 Januar 1920 an Lev Trockij seien Ausdruck der Suche des russischen Volkes und der Intelligencija nach einem Reich der Wahrheit und Gerechtigkeit Valerian Muravrsquoev Sočinenija Bd 2 Moskva 2011 352f Weitere Belege bei Emanuel Sarkisyanz Russland und der Messianis-mus des Orients Tuumlbingen 1955 196 Mikhail Agursky Third Rome National Bolshevism in the USSR Boulder Co 1987

114 Damals sah ein Journalist bdquoauf den Ruinen des Imperiumsldquo das Dritte Rom in Gefahr zu einem Land der Dritten Welt zu werden Andrej Fadin bdquoTretij Rim v tretrsquoem mire Razmy-šlenija na ruinach imperiildquo in Nezavisimaja gazeta 1291991

115 [Aleksandr Dugin] bdquoLibo-my libo-ničtoldquo in Ėlementy 8 19961997 1ndash4 hier 2 116 [Aleksandr Dugin] bdquoIdeologija Mirovogo Pravitelrsquostvaldquo in Ėlementy 2 1992 1f

32 Michael Hagemeister

Das Dritte Rom als Zentrum des eurasischen bdquoEuro-Sowjetischen Imperiumsldquo Titelbild der von Aleksandr Dugin herausgegebenen Zeitschrift bdquoElemente Eurasische Rundschauldquo (1992) Dugins Werk mit seiner provokanten Mischung esoterischer antimoderner und antiwestlicher Motive findet besonders unter jungen Intellektuellen Anklang und Nachahmer so etwa bei dem promovierten Philosophen und selbstproklamierten bdquoorthodoxen Metaphysikerldquo Arkadij Maler einem vehementen Propagandisten einer bdquopolitischen Orthodoxieldquo (političeskoe Pravoslavie) und fuumlhrenden Ideolo-gen der bdquoneobyzantinischenldquo Doktrin Obwohl sich Maler von Dugin distan-ziert117 beschwoumlrt auch er die eschatologische bdquogeistige Mission des Dritten Romldquo die es von Byzanz geerbt habe und die in seiner bdquozentralen katechontischen Rolleldquo bestehe dem Kampf gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo des bdquogottlosen Wes-tensldquo118 Russische Politik koumlnne deshalb nicht anders als imperial sein und muumlsse ihren Einfluss auf den gesamten Planeten ausdehnen Wie Dugin sieht auch Maler die Bolschewiki in dieser Tradition als sie Moskau zur Hauptstadt des bdquoRoten

117 In den spaumlten 1990er Jahren gehoumlrte Maler der vaumlterlicherseits juumldischer Abstammung ist

zusammen mit Dugin und Ėduard Limonov zur Fuumlhrungsriege der Nationalbolschewisti-schen Partei und schrieb fuumlr die Parteizeitung Limonka sich selbst charakterisierte er als bdquorotbraunen Zionistenldquo Nach seiner Konversion zur Orthodoxie trennte er sich 1999 von Dugin und kritisierte dessen esoterischen Traditionalismus aus einer ultraorthodoxen Posi-tion Dugin wiederum warf Maler vor ihn zu plagiieren

118 Arkadij Maler Duchovnaja missija Tretrsquoego Rima Moskva 2005 bes 134ndash136 170ndash206 Siehe auch ders bdquoIdeologija Vizantizmaldquo in Severnij Katechon 1 (2005) 7ndash49 bdquoNeovi-zantizm kak novyj bolrsquošoj stilrsquoldquo in Aleksej Nilogov (Hg) Kto segodnja delaet filosofiju v Rossii Moskva 2007 110ndash124

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 33

Imperiumsldquo machten und dieses zur bdquoabsoluten Antithese des Westensldquo erklaumlrten zum bdquoTraumlger der planetarischen Mission der Befreiung der Welt aus den sbquoFesseln des Kapitalslsquoldquo119 Das Dritte Rom sei zeitweise in die Dritte Internationale trans-formiert worden ohne jedoch seine Mission als Katechon als aufhaltende Macht gegen das Reich des Boumlsen und Ausgangspunkt zur Errettung der Welt aufzuge-ben Die bdquoletzte Etappeldquo im Kampf gegen den Antichrist werde so Maler der bdquoeschatologische Krieg des Dritten Rom gegen das Dritte Karthagoldquo den bdquoAnti-katechonldquo sein die bdquoanglo-amerikanische [] atlantische Zivilisationldquo120 Zur Propagierung der katechontischen Mission Russlands gruumlndete Maler 1999 am Institut fuumlr Philosophie der Akademie der Wissenschaften in Moskau einen bdquoBy-zantistischen Klub Katechonldquo (Vizantistskij Klub Katechon) und 2005 das bdquoPhi-losophisch-politische Zentrum sbquoNoumlrdlicher Katechonlsquoldquo das einen gleichnamigen Almanach (Severnyj Katechon) herausgibt121

Apokalyptischer Ausblick

Die Formel vom Dritten Rom und die Figur des Katechon des Aufhalters des bdquoweltweiten Boumlsenldquo sind zu Markenzeichen russischer Anti-Westler und Ver-schwoumlrungstheoretiker und ihres schrillen Szenariums eines globalen apokalyp-tischen bdquoEndkampfesldquo gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo geworden122 Unter dem Titel bdquoDie russische Doktrin Die Staatsideologie der Epoche Putinsldquo verfasste in den Jahren 2005 und 2006 ein Kollektiv nationalpatriotischer Autoren ndash unter ih-nen der bdquoByzantistldquo Arkadij Maler ndash ein uumlber 1000 Seiten langes ultrakonservati-ves und antiwestliches Manifest das auch die Unterstuumltzung hoher kirchlicher Wuumlrdentraumlger fand123 In ihrem Entwurf einer bdquoorganischen weltanschaulichen Plattformldquo fuumlr das kuumlnftige Russland behandeln die Autoren ausfuumlhrlich die bdquohis-toriosophischeldquo Konzeption vom Dritten Rom und seine Mission als Katechon gegen das bdquoHeidentumldquo des Westens124 Gefordert wird die positive Identifikation

119 Maler Duchovnaja missija 182f 185 120 Ebd 177 ndash Als Mittel im ideologischen Kampf gegen den saumlkularen Westen fordert Maler

in Analogie zur katholischen Gegenreformation eine orthodoxe konservative bdquoGegenauf-klaumlrungldquo (Kontrprosveščenie) lthttpwwwkatehonruhtmltoppolitologiaideaotkritije _polit_pravoslavijahtmgt

121 Siehe die Website lthttpwwwkatehonrugt 122 Siehe zB Galina A Morozova Tretij Rim protiv novogo mirovogo porjadka Moskva

2009 Die Formel von Dritten Rom hat laumlngst auch Schriftsteller und Maler inspiriert und scheint auch werbewirksam zu sein bdquoDrittes Romldquo nennt sich ein Verlag ein Videospiel eine Bank ein Reisebuumlro und sogar ein Kasino in Jalta Ein Schoumlnheitswettbewerb in Mos-kau vergibt alljaumlhrlich den Titel einer bdquoMiss Drittes Romldquo Judith E Kalb Russiarsquos Rome Imperial Visions Messianic Dreams 1890ndash1940 Madison Wisconsin 2008 198f Zum Katechon siehe Maria Engstroumlm bdquoContemporary Russian Messianism and New Russian Foreign Policyldquo in Contemporary Security Policy 35 (2014) 3 356ndash379

123 Russkaja doktrina Gosudarstvennaja ideologija ėpochi Putina Moskva 2016 124 Ebd 68ndash72 116ndash120 und passim

34 Michael Hagemeister

mit der Geschichte Russlands und seinen Lichtgestalten dem Heiligen Serafim von Sarov dem bdquoeschatologischen Fuumlhrer des russischen Volkes am Ende der Zeitenldquo der bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo und Stalin der dem paulinischen Kate-chon gleich die bdquoGesetzlosigkeitldquo (bezzakonie) bekaumlmpft und das bdquoFundament fuumlr eine groszlige Zukunftldquo gelegt habe125

bdquoKatechonldquo nennt sich auch ein prominent besetzter Think tank den der Oligarch und Berater Putins Konstantin Malofeev im Jahr 2015 gegruumlndet hat126 Der Milliardaumlr der sein Vermoumlgen mit einer Investmentfirma auf den Cayman Inseln gemacht hat bezeichnet sich selbst als bdquoorthodoxen Monarchistenldquo127 Er unterstuumltzt die Separatisten in der Ostukraine und unterhaumllt vielfaumlltige Verbindun-gen zu europaumlischen Rechtspopulisten wie dem Front National der FPOuml Syriza und der Lega Nord Neben dem Forum bdquoKatechonldquo betreibt Malofeev auch einen Fernsehsender mit dem programmatischen Namen bdquoZargradldquo128 (Motto bdquoDas Licht Christi erleuchtet alleldquo) dessen Chefkommentator niemand anderes ist als Aleksandr Dugin129

bdquoKatechonldquo und bdquoZargradldquo propagieren den Kampf gegen die westliche Moderne mit Bezug auf das byzantinische Erbe Russlands Im November 2014 fand in der Moskauer Manege eine Konferenz bdquoMoskau ndash das Dritte Romldquo statt130 An ihr nahmen auszliger Dugin und Malofeev auch Archimandrit Tichon und Nata-lrsquoja Naročnickaja teil eine hochrangige Diplomatin Mitglied des Izborsker Klubs und Leiterin des Pariser bdquoInstituts fuumlr Demokratie und Kooperationldquo das die oumlf-fentliche Meinung im Westen im Sinne des Kremls beeinflussen soll Tichons Film bdquoDie Lehre von Byzanzldquo sei so Naročnickaja auch eine Warnung an den Westen der seine christlichen Werte verraten habe weshalb er den glaubens-festen Migranten und ihrer Verachtung hilflos ausgeliefert sei131

Im Oktober 2009 wurde Tichons Film in Athen vor ausverkauftem Saal aufgefuumlhrt Unter denen die dem Drehbuchautor Beifall spendeten war der Philo-soph und Theologe Christos Yannaras einer der Hauptvertreter der Neoorthodo-xie und scharfer Kritiker des Westens Wie ihre russischen Gesinnungsgenossen

125 Ebd 130f 153 142ndash145 126 Mit einem Auftritt im Internet in 9 Sprachen Siehe die deutsche Version unter lthttp

katehoncomdewer-sind-wirgt 127 lthttpsdewikipediaorgwikiKonstantin_Walerjewitsch_Malofejewgt 128 Carrsquograd ist der altrussische Name fuumlr Konstantinopel 129 Auch Dugin unterhaumllt seit mehr als 25 Jahren Kontakte zu ultrakonservativen traditiona-

listischen und faschistischen Gesinnungsgenossen in Westeuropa Siehe Vladimir Ivanov Alexander Dugin und die rechtsextremen Netzwerke Fakten und Hypothesen zu den inter-nationalen Verflechtungen der russischen Neuen Rechten Stuttgart 2007

130 lthttpwwwpravoslavieru75070htmlgt 131 lthttpwwwpravoslavieru7414htmlgt ndash Fuumlr Metropolit Ilarion (Alfeev) der sich dabei

auf Dugin beruft verwandeln sich die Laumlnder Westeuropas bereits in die bdquoSphaumlre des Anti-christldquo lthttpwwwpatriarchiarudbtext3065216htmlgt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 35

verherrlichen auch die griechischen Neoorthodoxen die byzantinische Vergan-genheit und sehen in der modernen saumlkularen Gesellschaft eine Bedrohung ihrer kulturellen Identitaumlt132 Gemeinsam suchen sie der Globalisierung mit einer bdquoby-zantinischen Internationaleldquo als bdquoorthodoxer Oumlkumeneldquo entgegenzuwirken einer letztlich sakral verstandenen Gemeinschaft deren Einfluss indes weit uumlber die kirchliche Sphaumlre hinausreichen und eine transnationale Vereinigung der ortho-doxen Welt von Serbien uumlber Syrien bis Georgien und Armenien unter Fuumlhrung Moskaus schaffen soll133 Als wichtiger symbolischer Schritt auf diesem Weg wurde der Besuch von Praumlsident Putin und Patriarch Kirill des Heiligen Berges Athos einer traditionellen Hochburg antiwestlicher Opposition im Mai 2016 ge-feiert Das weltliche und das geistliche Oberhaupt Russlands ndash die bdquoSymphonia der Maumlchteldquo ndash zeigten damit so Aleksandr Dugin ihr Bekenntnis zu Byzanz und seiner Rolle als Katechon Damit anerkenne bdquounsere Rusrsquo ihre historische Bestim-mung Wir sind bereit fuumlr die Endzeitldquo134

132 Ausfuumlhrlich dazu Daniel P Payne The Revival of Political Hesychasm in Contemporary

Orthodox Thought The Political Hesychasm of John Romanides and Christos Yannaras Lanham [ua] 2011 Siehe auch Vasilios N Makrides bdquoByzantium in Contemporary Greece The Neo-Orthodox Current of Ideasldquo in David RicksPaul Magdalino (Hgg) Byzantium and the Modern Greek Identity Aldershot 1998 141ndash153 Zum griechischen Neobyzantismus unter russischem Einfluss Aleksey Kamenskikh bdquoThe Image of the Second Rome through the Prism of the Thirdrdquo in Teresa Obolevich [ua] (Hgg) Russian Thought in Europe Reception Polemics Development Krakoacutew 2013 13ndash22 ndash Antimo-derne und antiwestliche Stroumlmungen in den vom orthodoxen Christentum gepraumlgten Kultu-ren haben der Religionswissenschaftler Makrides und der Slavist Uffelmann vor einigen Jahren als Desiderat der Forschung benannt Vasilios N MakridesDirk Uffelmann bdquoStudying Eastern Orthodox Anti-Westernism The Need for a Comparative Research Agendaldquo in Jonathan SuttonWil van den Bercken (Hgg) Orthodox Christianity and Contemporary Europe Leuven [ua] 2003 87ndash120 Seitdem haben Makrides und die Politikwissenschaftlerin Stoumlckl eine Reihe einschlaumlgiger Arbeiten vorgelegt in denen or-thodoxe Alternativen zu westlichen philosophischen und politischen Konzepten untersucht werden Vasilios N Makrides bdquoOrthodoxes Cristentum und Moderne ndash Inkompatibilitaumlt oder langfristige Anpassungldquo in Una Sancta 2011 1 15ndash30 ders bdquoOumlstliches orthodo-xes Christentum und Saumlkularitaumlt Ein Vergleich mit dem lateinischen Christentumldquo in Transit 47 (2015) 59ndash75 Kristina Stoumlckl bdquoModernity and its Critique in Twentieth Cen-tury Russian Orthodox Thoughtldquo in Studies in East European Thought 58 (2006) 243ndash269 dies Community after Totalitarianism The Russian Orthodox Intellectual Tradition and the Philosophical Discourse of Political Modernity Frankfurt aM [ua] 2008

133 Dazu gehoumlrt auch die Verwirklichung des jahrhundertealten Traums der Wiedererrichtung des Kreuzes auf der Hagia Sophia Siehe Egor Cholmogorov Russkij proekt restavracija buduščego Moskva 2005 283 Der Verfasser Mitglied des Expertenteams des Izborsker Klubs ist Begruumlnder der Doktrin der bdquoAtomaren Orthodoxieldquo siehe Fn 74

134 Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Traditionldquo

ZUM AUTOR

Michael Hagemeister geb 1951 in EllwangenJagst Studium der Slavistik Ge-schichte Germanistik und Philosophie in Basel und MarburgLahn Promotion mit einer Arbeit uumlber den russischen Philosophen Nikolaj Fedorov Wissenschaft-licher Mitarbeiter am Slawischen Seminar in Marburg Gastprofessor am Seminar fuumlr Komparatistik der Universitaumlt Innsbruck Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lotman-Institut fuumlr russische und sowjetische Kultur der Ruhr-Universitaumlt Bo-chum am Lehrstuhl fuumlr Geschichte Osteuropas der Europa-Universitaumlt Viadrina Frankfurt (Oder) an den Historischen Seminaren der Universitaumlten Basel Duumlssel-dorf und Bochum Vertretung der Professuren fuumlr Geschichte Osteuropas an der Ludwig-Maximilians Universitaumlt Muumlnchen und an der Europa-Universitaumlt Frank-furt (Oder)

Forschungen zur russischen Philosophie und Geistesgeschichte zum utopischen und apokalyptischen Denken in Russland zum russischen Rechtsextremismus und Antisemitismus sowie insbesondere zu den Protokollen der Weisen von Zion und ihrem Herausgeber Sergej Nilus Publikationen ua Die Neue Menschheit Biopolitische Utopien in Russland (hg mit Boris Groys) Frankfurt aM 2005 The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimensions (hg mit Birgit Menzel und Bernice Rosenthal) Muumlnchen 2012 Die Fiktion von der juumldischen Weltver-schwoumlrung Zu Text und Kontext der bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo (hg mit Eva Horn) Goumlttingen 2012 Die bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo vor Gericht Der Berner Prozess und die bdquoantisemitische Internationaleldquo in der Zwischen-kriegszeit Chronik Dokumente und Kommentare Zuumlrich (im Druck)

ERFURTER VORTRAumlGE ZUR KULTURGESCHICHTE DES ORTHODOXEN CHRISTENTUMS Reihenherausgeber Vasilios N Makrides

Heft 1 Thomas Bremer Konfrontation statt Oumlkumene Zur kirchlichen Situation in der Ukraine Erfurt 2001

Heft 2 Gerhard Podskalsky Zur Hermeneutik des theologischen Ost-West-

Gespraumlchs in historischer Perspektive Erfurt 2002 Heft 3 Karl Christian Felmy Warum und zu welchem Behufe treiben wir

Ostkirchenkunde Erfurt 2003 Heft 4 Wassilios Klein bdquoTatarenjoch ndash татарское игоldquo Beobachtungen zur

Wahrnehmung des Islam im eurasischen Raum Erfurt 2005 Heft 5 Stamatios D Gerogiorgakis Zeitphilosophie im Mittelalter Byzantinische

und lateinische Vorstellungen Erfurt 2006 Heft 6 Heinz Ohme Das Oumlkumenische Patriarchat von Konstantinopel und die

tuumlrkische Religionspolitik Erfurt 2007 Heft 7 Alexander Agadjanian Russian Orthodox Vision of Human Rights Recent

Documents and Their Significance Erfurt 2008 Heft 8 Christos Yannaras Wem gehoumlrt die griechische Antike Erfurt 2009 Heft 9 Joachim Willems Religions- und Ethikunterricht in Russland ndash Was

wollen Staat und Kirche Zur Einfuumlhrung des neuen Schulfaches bdquoGrundlagen der religioumlsen Kulturen und der weltlichen Ethikldquo Erfurt 2010

Heft 10 Chris Hann Eastern Christianity and Western Social Theory Erfurt 2011 Heft 11 Jennifer Wasmuth Akademische Theologie im zaristischen Russland in

ihrer Bedeutung fuumlr die neuere orthodoxe Theologie Erfurt 2012 Heft 12 Anna Briskina-Muumlller Auf der Suche nach der bdquoHesychialdquo Paisij

Veličkovskij (1722ndash1794) und sein Leben fuumlr die bdquoPhilokalieldquo Erfurt 2014

Heft 13 Vladimir Cvetković From ldquoMerciful Angelrdquo to ldquoFortress Europerdquo The

Perception of Europe and the West in Contemporary Serbian Orthodoxy Erfurt 2015

Heft 14 Stefan G Reichelt Lebenslinien Nikolaj A Berdjaev (1874ndash1948) und Sergij N Bulgakov (1871ndash1944) im Westen ndash Eine Wuumlrdigung Erfurt 2015

Heft 15 Michael Hagemeister Der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo ndash bdquoNeobyzantismusldquo

und bdquopolitischer Hesychasmusldquo im postsowjetischen Russland Erfurt 2016

Alle Hefte der vorliegenden Schriftenreihe koumlnnen unter folgendem Link kostenlos heruntergeladen werden URL httpswwwuni-erfurtdereligionswissenschaftprofessur-orthodoxes-christentumveroeffentlichungenerfurter-vortraege-zur-kulturgeschichte-des-orthodoxen-christentums

Page 32: Michael Hagemeister FINAL - uni-erfurt.de · doziert Tichon, während er das antike Kons tantinopel computeranimiert auferste- hen lässt. Das prosperierende Impe rium erregte freilich

32 Michael Hagemeister

Das Dritte Rom als Zentrum des eurasischen bdquoEuro-Sowjetischen Imperiumsldquo Titelbild der von Aleksandr Dugin herausgegebenen Zeitschrift bdquoElemente Eurasische Rundschauldquo (1992) Dugins Werk mit seiner provokanten Mischung esoterischer antimoderner und antiwestlicher Motive findet besonders unter jungen Intellektuellen Anklang und Nachahmer so etwa bei dem promovierten Philosophen und selbstproklamierten bdquoorthodoxen Metaphysikerldquo Arkadij Maler einem vehementen Propagandisten einer bdquopolitischen Orthodoxieldquo (političeskoe Pravoslavie) und fuumlhrenden Ideolo-gen der bdquoneobyzantinischenldquo Doktrin Obwohl sich Maler von Dugin distan-ziert117 beschwoumlrt auch er die eschatologische bdquogeistige Mission des Dritten Romldquo die es von Byzanz geerbt habe und die in seiner bdquozentralen katechontischen Rolleldquo bestehe dem Kampf gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo des bdquogottlosen Wes-tensldquo118 Russische Politik koumlnne deshalb nicht anders als imperial sein und muumlsse ihren Einfluss auf den gesamten Planeten ausdehnen Wie Dugin sieht auch Maler die Bolschewiki in dieser Tradition als sie Moskau zur Hauptstadt des bdquoRoten

117 In den spaumlten 1990er Jahren gehoumlrte Maler der vaumlterlicherseits juumldischer Abstammung ist

zusammen mit Dugin und Ėduard Limonov zur Fuumlhrungsriege der Nationalbolschewisti-schen Partei und schrieb fuumlr die Parteizeitung Limonka sich selbst charakterisierte er als bdquorotbraunen Zionistenldquo Nach seiner Konversion zur Orthodoxie trennte er sich 1999 von Dugin und kritisierte dessen esoterischen Traditionalismus aus einer ultraorthodoxen Posi-tion Dugin wiederum warf Maler vor ihn zu plagiieren

118 Arkadij Maler Duchovnaja missija Tretrsquoego Rima Moskva 2005 bes 134ndash136 170ndash206 Siehe auch ders bdquoIdeologija Vizantizmaldquo in Severnij Katechon 1 (2005) 7ndash49 bdquoNeovi-zantizm kak novyj bolrsquošoj stilrsquoldquo in Aleksej Nilogov (Hg) Kto segodnja delaet filosofiju v Rossii Moskva 2007 110ndash124

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 33

Imperiumsldquo machten und dieses zur bdquoabsoluten Antithese des Westensldquo erklaumlrten zum bdquoTraumlger der planetarischen Mission der Befreiung der Welt aus den sbquoFesseln des Kapitalslsquoldquo119 Das Dritte Rom sei zeitweise in die Dritte Internationale trans-formiert worden ohne jedoch seine Mission als Katechon als aufhaltende Macht gegen das Reich des Boumlsen und Ausgangspunkt zur Errettung der Welt aufzuge-ben Die bdquoletzte Etappeldquo im Kampf gegen den Antichrist werde so Maler der bdquoeschatologische Krieg des Dritten Rom gegen das Dritte Karthagoldquo den bdquoAnti-katechonldquo sein die bdquoanglo-amerikanische [] atlantische Zivilisationldquo120 Zur Propagierung der katechontischen Mission Russlands gruumlndete Maler 1999 am Institut fuumlr Philosophie der Akademie der Wissenschaften in Moskau einen bdquoBy-zantistischen Klub Katechonldquo (Vizantistskij Klub Katechon) und 2005 das bdquoPhi-losophisch-politische Zentrum sbquoNoumlrdlicher Katechonlsquoldquo das einen gleichnamigen Almanach (Severnyj Katechon) herausgibt121

Apokalyptischer Ausblick

Die Formel vom Dritten Rom und die Figur des Katechon des Aufhalters des bdquoweltweiten Boumlsenldquo sind zu Markenzeichen russischer Anti-Westler und Ver-schwoumlrungstheoretiker und ihres schrillen Szenariums eines globalen apokalyp-tischen bdquoEndkampfesldquo gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo geworden122 Unter dem Titel bdquoDie russische Doktrin Die Staatsideologie der Epoche Putinsldquo verfasste in den Jahren 2005 und 2006 ein Kollektiv nationalpatriotischer Autoren ndash unter ih-nen der bdquoByzantistldquo Arkadij Maler ndash ein uumlber 1000 Seiten langes ultrakonservati-ves und antiwestliches Manifest das auch die Unterstuumltzung hoher kirchlicher Wuumlrdentraumlger fand123 In ihrem Entwurf einer bdquoorganischen weltanschaulichen Plattformldquo fuumlr das kuumlnftige Russland behandeln die Autoren ausfuumlhrlich die bdquohis-toriosophischeldquo Konzeption vom Dritten Rom und seine Mission als Katechon gegen das bdquoHeidentumldquo des Westens124 Gefordert wird die positive Identifikation

119 Maler Duchovnaja missija 182f 185 120 Ebd 177 ndash Als Mittel im ideologischen Kampf gegen den saumlkularen Westen fordert Maler

in Analogie zur katholischen Gegenreformation eine orthodoxe konservative bdquoGegenauf-klaumlrungldquo (Kontrprosveščenie) lthttpwwwkatehonruhtmltoppolitologiaideaotkritije _polit_pravoslavijahtmgt

121 Siehe die Website lthttpwwwkatehonrugt 122 Siehe zB Galina A Morozova Tretij Rim protiv novogo mirovogo porjadka Moskva

2009 Die Formel von Dritten Rom hat laumlngst auch Schriftsteller und Maler inspiriert und scheint auch werbewirksam zu sein bdquoDrittes Romldquo nennt sich ein Verlag ein Videospiel eine Bank ein Reisebuumlro und sogar ein Kasino in Jalta Ein Schoumlnheitswettbewerb in Mos-kau vergibt alljaumlhrlich den Titel einer bdquoMiss Drittes Romldquo Judith E Kalb Russiarsquos Rome Imperial Visions Messianic Dreams 1890ndash1940 Madison Wisconsin 2008 198f Zum Katechon siehe Maria Engstroumlm bdquoContemporary Russian Messianism and New Russian Foreign Policyldquo in Contemporary Security Policy 35 (2014) 3 356ndash379

123 Russkaja doktrina Gosudarstvennaja ideologija ėpochi Putina Moskva 2016 124 Ebd 68ndash72 116ndash120 und passim

34 Michael Hagemeister

mit der Geschichte Russlands und seinen Lichtgestalten dem Heiligen Serafim von Sarov dem bdquoeschatologischen Fuumlhrer des russischen Volkes am Ende der Zeitenldquo der bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo und Stalin der dem paulinischen Kate-chon gleich die bdquoGesetzlosigkeitldquo (bezzakonie) bekaumlmpft und das bdquoFundament fuumlr eine groszlige Zukunftldquo gelegt habe125

bdquoKatechonldquo nennt sich auch ein prominent besetzter Think tank den der Oligarch und Berater Putins Konstantin Malofeev im Jahr 2015 gegruumlndet hat126 Der Milliardaumlr der sein Vermoumlgen mit einer Investmentfirma auf den Cayman Inseln gemacht hat bezeichnet sich selbst als bdquoorthodoxen Monarchistenldquo127 Er unterstuumltzt die Separatisten in der Ostukraine und unterhaumllt vielfaumlltige Verbindun-gen zu europaumlischen Rechtspopulisten wie dem Front National der FPOuml Syriza und der Lega Nord Neben dem Forum bdquoKatechonldquo betreibt Malofeev auch einen Fernsehsender mit dem programmatischen Namen bdquoZargradldquo128 (Motto bdquoDas Licht Christi erleuchtet alleldquo) dessen Chefkommentator niemand anderes ist als Aleksandr Dugin129

bdquoKatechonldquo und bdquoZargradldquo propagieren den Kampf gegen die westliche Moderne mit Bezug auf das byzantinische Erbe Russlands Im November 2014 fand in der Moskauer Manege eine Konferenz bdquoMoskau ndash das Dritte Romldquo statt130 An ihr nahmen auszliger Dugin und Malofeev auch Archimandrit Tichon und Nata-lrsquoja Naročnickaja teil eine hochrangige Diplomatin Mitglied des Izborsker Klubs und Leiterin des Pariser bdquoInstituts fuumlr Demokratie und Kooperationldquo das die oumlf-fentliche Meinung im Westen im Sinne des Kremls beeinflussen soll Tichons Film bdquoDie Lehre von Byzanzldquo sei so Naročnickaja auch eine Warnung an den Westen der seine christlichen Werte verraten habe weshalb er den glaubens-festen Migranten und ihrer Verachtung hilflos ausgeliefert sei131

Im Oktober 2009 wurde Tichons Film in Athen vor ausverkauftem Saal aufgefuumlhrt Unter denen die dem Drehbuchautor Beifall spendeten war der Philo-soph und Theologe Christos Yannaras einer der Hauptvertreter der Neoorthodo-xie und scharfer Kritiker des Westens Wie ihre russischen Gesinnungsgenossen

125 Ebd 130f 153 142ndash145 126 Mit einem Auftritt im Internet in 9 Sprachen Siehe die deutsche Version unter lthttp

katehoncomdewer-sind-wirgt 127 lthttpsdewikipediaorgwikiKonstantin_Walerjewitsch_Malofejewgt 128 Carrsquograd ist der altrussische Name fuumlr Konstantinopel 129 Auch Dugin unterhaumllt seit mehr als 25 Jahren Kontakte zu ultrakonservativen traditiona-

listischen und faschistischen Gesinnungsgenossen in Westeuropa Siehe Vladimir Ivanov Alexander Dugin und die rechtsextremen Netzwerke Fakten und Hypothesen zu den inter-nationalen Verflechtungen der russischen Neuen Rechten Stuttgart 2007

130 lthttpwwwpravoslavieru75070htmlgt 131 lthttpwwwpravoslavieru7414htmlgt ndash Fuumlr Metropolit Ilarion (Alfeev) der sich dabei

auf Dugin beruft verwandeln sich die Laumlnder Westeuropas bereits in die bdquoSphaumlre des Anti-christldquo lthttpwwwpatriarchiarudbtext3065216htmlgt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 35

verherrlichen auch die griechischen Neoorthodoxen die byzantinische Vergan-genheit und sehen in der modernen saumlkularen Gesellschaft eine Bedrohung ihrer kulturellen Identitaumlt132 Gemeinsam suchen sie der Globalisierung mit einer bdquoby-zantinischen Internationaleldquo als bdquoorthodoxer Oumlkumeneldquo entgegenzuwirken einer letztlich sakral verstandenen Gemeinschaft deren Einfluss indes weit uumlber die kirchliche Sphaumlre hinausreichen und eine transnationale Vereinigung der ortho-doxen Welt von Serbien uumlber Syrien bis Georgien und Armenien unter Fuumlhrung Moskaus schaffen soll133 Als wichtiger symbolischer Schritt auf diesem Weg wurde der Besuch von Praumlsident Putin und Patriarch Kirill des Heiligen Berges Athos einer traditionellen Hochburg antiwestlicher Opposition im Mai 2016 ge-feiert Das weltliche und das geistliche Oberhaupt Russlands ndash die bdquoSymphonia der Maumlchteldquo ndash zeigten damit so Aleksandr Dugin ihr Bekenntnis zu Byzanz und seiner Rolle als Katechon Damit anerkenne bdquounsere Rusrsquo ihre historische Bestim-mung Wir sind bereit fuumlr die Endzeitldquo134

132 Ausfuumlhrlich dazu Daniel P Payne The Revival of Political Hesychasm in Contemporary

Orthodox Thought The Political Hesychasm of John Romanides and Christos Yannaras Lanham [ua] 2011 Siehe auch Vasilios N Makrides bdquoByzantium in Contemporary Greece The Neo-Orthodox Current of Ideasldquo in David RicksPaul Magdalino (Hgg) Byzantium and the Modern Greek Identity Aldershot 1998 141ndash153 Zum griechischen Neobyzantismus unter russischem Einfluss Aleksey Kamenskikh bdquoThe Image of the Second Rome through the Prism of the Thirdrdquo in Teresa Obolevich [ua] (Hgg) Russian Thought in Europe Reception Polemics Development Krakoacutew 2013 13ndash22 ndash Antimo-derne und antiwestliche Stroumlmungen in den vom orthodoxen Christentum gepraumlgten Kultu-ren haben der Religionswissenschaftler Makrides und der Slavist Uffelmann vor einigen Jahren als Desiderat der Forschung benannt Vasilios N MakridesDirk Uffelmann bdquoStudying Eastern Orthodox Anti-Westernism The Need for a Comparative Research Agendaldquo in Jonathan SuttonWil van den Bercken (Hgg) Orthodox Christianity and Contemporary Europe Leuven [ua] 2003 87ndash120 Seitdem haben Makrides und die Politikwissenschaftlerin Stoumlckl eine Reihe einschlaumlgiger Arbeiten vorgelegt in denen or-thodoxe Alternativen zu westlichen philosophischen und politischen Konzepten untersucht werden Vasilios N Makrides bdquoOrthodoxes Cristentum und Moderne ndash Inkompatibilitaumlt oder langfristige Anpassungldquo in Una Sancta 2011 1 15ndash30 ders bdquoOumlstliches orthodo-xes Christentum und Saumlkularitaumlt Ein Vergleich mit dem lateinischen Christentumldquo in Transit 47 (2015) 59ndash75 Kristina Stoumlckl bdquoModernity and its Critique in Twentieth Cen-tury Russian Orthodox Thoughtldquo in Studies in East European Thought 58 (2006) 243ndash269 dies Community after Totalitarianism The Russian Orthodox Intellectual Tradition and the Philosophical Discourse of Political Modernity Frankfurt aM [ua] 2008

133 Dazu gehoumlrt auch die Verwirklichung des jahrhundertealten Traums der Wiedererrichtung des Kreuzes auf der Hagia Sophia Siehe Egor Cholmogorov Russkij proekt restavracija buduščego Moskva 2005 283 Der Verfasser Mitglied des Expertenteams des Izborsker Klubs ist Begruumlnder der Doktrin der bdquoAtomaren Orthodoxieldquo siehe Fn 74

134 Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Traditionldquo

ZUM AUTOR

Michael Hagemeister geb 1951 in EllwangenJagst Studium der Slavistik Ge-schichte Germanistik und Philosophie in Basel und MarburgLahn Promotion mit einer Arbeit uumlber den russischen Philosophen Nikolaj Fedorov Wissenschaft-licher Mitarbeiter am Slawischen Seminar in Marburg Gastprofessor am Seminar fuumlr Komparatistik der Universitaumlt Innsbruck Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lotman-Institut fuumlr russische und sowjetische Kultur der Ruhr-Universitaumlt Bo-chum am Lehrstuhl fuumlr Geschichte Osteuropas der Europa-Universitaumlt Viadrina Frankfurt (Oder) an den Historischen Seminaren der Universitaumlten Basel Duumlssel-dorf und Bochum Vertretung der Professuren fuumlr Geschichte Osteuropas an der Ludwig-Maximilians Universitaumlt Muumlnchen und an der Europa-Universitaumlt Frank-furt (Oder)

Forschungen zur russischen Philosophie und Geistesgeschichte zum utopischen und apokalyptischen Denken in Russland zum russischen Rechtsextremismus und Antisemitismus sowie insbesondere zu den Protokollen der Weisen von Zion und ihrem Herausgeber Sergej Nilus Publikationen ua Die Neue Menschheit Biopolitische Utopien in Russland (hg mit Boris Groys) Frankfurt aM 2005 The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimensions (hg mit Birgit Menzel und Bernice Rosenthal) Muumlnchen 2012 Die Fiktion von der juumldischen Weltver-schwoumlrung Zu Text und Kontext der bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo (hg mit Eva Horn) Goumlttingen 2012 Die bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo vor Gericht Der Berner Prozess und die bdquoantisemitische Internationaleldquo in der Zwischen-kriegszeit Chronik Dokumente und Kommentare Zuumlrich (im Druck)

ERFURTER VORTRAumlGE ZUR KULTURGESCHICHTE DES ORTHODOXEN CHRISTENTUMS Reihenherausgeber Vasilios N Makrides

Heft 1 Thomas Bremer Konfrontation statt Oumlkumene Zur kirchlichen Situation in der Ukraine Erfurt 2001

Heft 2 Gerhard Podskalsky Zur Hermeneutik des theologischen Ost-West-

Gespraumlchs in historischer Perspektive Erfurt 2002 Heft 3 Karl Christian Felmy Warum und zu welchem Behufe treiben wir

Ostkirchenkunde Erfurt 2003 Heft 4 Wassilios Klein bdquoTatarenjoch ndash татарское игоldquo Beobachtungen zur

Wahrnehmung des Islam im eurasischen Raum Erfurt 2005 Heft 5 Stamatios D Gerogiorgakis Zeitphilosophie im Mittelalter Byzantinische

und lateinische Vorstellungen Erfurt 2006 Heft 6 Heinz Ohme Das Oumlkumenische Patriarchat von Konstantinopel und die

tuumlrkische Religionspolitik Erfurt 2007 Heft 7 Alexander Agadjanian Russian Orthodox Vision of Human Rights Recent

Documents and Their Significance Erfurt 2008 Heft 8 Christos Yannaras Wem gehoumlrt die griechische Antike Erfurt 2009 Heft 9 Joachim Willems Religions- und Ethikunterricht in Russland ndash Was

wollen Staat und Kirche Zur Einfuumlhrung des neuen Schulfaches bdquoGrundlagen der religioumlsen Kulturen und der weltlichen Ethikldquo Erfurt 2010

Heft 10 Chris Hann Eastern Christianity and Western Social Theory Erfurt 2011 Heft 11 Jennifer Wasmuth Akademische Theologie im zaristischen Russland in

ihrer Bedeutung fuumlr die neuere orthodoxe Theologie Erfurt 2012 Heft 12 Anna Briskina-Muumlller Auf der Suche nach der bdquoHesychialdquo Paisij

Veličkovskij (1722ndash1794) und sein Leben fuumlr die bdquoPhilokalieldquo Erfurt 2014

Heft 13 Vladimir Cvetković From ldquoMerciful Angelrdquo to ldquoFortress Europerdquo The

Perception of Europe and the West in Contemporary Serbian Orthodoxy Erfurt 2015

Heft 14 Stefan G Reichelt Lebenslinien Nikolaj A Berdjaev (1874ndash1948) und Sergij N Bulgakov (1871ndash1944) im Westen ndash Eine Wuumlrdigung Erfurt 2015

Heft 15 Michael Hagemeister Der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo ndash bdquoNeobyzantismusldquo

und bdquopolitischer Hesychasmusldquo im postsowjetischen Russland Erfurt 2016

Alle Hefte der vorliegenden Schriftenreihe koumlnnen unter folgendem Link kostenlos heruntergeladen werden URL httpswwwuni-erfurtdereligionswissenschaftprofessur-orthodoxes-christentumveroeffentlichungenerfurter-vortraege-zur-kulturgeschichte-des-orthodoxen-christentums

Page 33: Michael Hagemeister FINAL - uni-erfurt.de · doziert Tichon, während er das antike Kons tantinopel computeranimiert auferste- hen lässt. Das prosperierende Impe rium erregte freilich

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 33

Imperiumsldquo machten und dieses zur bdquoabsoluten Antithese des Westensldquo erklaumlrten zum bdquoTraumlger der planetarischen Mission der Befreiung der Welt aus den sbquoFesseln des Kapitalslsquoldquo119 Das Dritte Rom sei zeitweise in die Dritte Internationale trans-formiert worden ohne jedoch seine Mission als Katechon als aufhaltende Macht gegen das Reich des Boumlsen und Ausgangspunkt zur Errettung der Welt aufzuge-ben Die bdquoletzte Etappeldquo im Kampf gegen den Antichrist werde so Maler der bdquoeschatologische Krieg des Dritten Rom gegen das Dritte Karthagoldquo den bdquoAnti-katechonldquo sein die bdquoanglo-amerikanische [] atlantische Zivilisationldquo120 Zur Propagierung der katechontischen Mission Russlands gruumlndete Maler 1999 am Institut fuumlr Philosophie der Akademie der Wissenschaften in Moskau einen bdquoBy-zantistischen Klub Katechonldquo (Vizantistskij Klub Katechon) und 2005 das bdquoPhi-losophisch-politische Zentrum sbquoNoumlrdlicher Katechonlsquoldquo das einen gleichnamigen Almanach (Severnyj Katechon) herausgibt121

Apokalyptischer Ausblick

Die Formel vom Dritten Rom und die Figur des Katechon des Aufhalters des bdquoweltweiten Boumlsenldquo sind zu Markenzeichen russischer Anti-Westler und Ver-schwoumlrungstheoretiker und ihres schrillen Szenariums eines globalen apokalyp-tischen bdquoEndkampfesldquo gegen die bdquoNeue Weltordnungldquo geworden122 Unter dem Titel bdquoDie russische Doktrin Die Staatsideologie der Epoche Putinsldquo verfasste in den Jahren 2005 und 2006 ein Kollektiv nationalpatriotischer Autoren ndash unter ih-nen der bdquoByzantistldquo Arkadij Maler ndash ein uumlber 1000 Seiten langes ultrakonservati-ves und antiwestliches Manifest das auch die Unterstuumltzung hoher kirchlicher Wuumlrdentraumlger fand123 In ihrem Entwurf einer bdquoorganischen weltanschaulichen Plattformldquo fuumlr das kuumlnftige Russland behandeln die Autoren ausfuumlhrlich die bdquohis-toriosophischeldquo Konzeption vom Dritten Rom und seine Mission als Katechon gegen das bdquoHeidentumldquo des Westens124 Gefordert wird die positive Identifikation

119 Maler Duchovnaja missija 182f 185 120 Ebd 177 ndash Als Mittel im ideologischen Kampf gegen den saumlkularen Westen fordert Maler

in Analogie zur katholischen Gegenreformation eine orthodoxe konservative bdquoGegenauf-klaumlrungldquo (Kontrprosveščenie) lthttpwwwkatehonruhtmltoppolitologiaideaotkritije _polit_pravoslavijahtmgt

121 Siehe die Website lthttpwwwkatehonrugt 122 Siehe zB Galina A Morozova Tretij Rim protiv novogo mirovogo porjadka Moskva

2009 Die Formel von Dritten Rom hat laumlngst auch Schriftsteller und Maler inspiriert und scheint auch werbewirksam zu sein bdquoDrittes Romldquo nennt sich ein Verlag ein Videospiel eine Bank ein Reisebuumlro und sogar ein Kasino in Jalta Ein Schoumlnheitswettbewerb in Mos-kau vergibt alljaumlhrlich den Titel einer bdquoMiss Drittes Romldquo Judith E Kalb Russiarsquos Rome Imperial Visions Messianic Dreams 1890ndash1940 Madison Wisconsin 2008 198f Zum Katechon siehe Maria Engstroumlm bdquoContemporary Russian Messianism and New Russian Foreign Policyldquo in Contemporary Security Policy 35 (2014) 3 356ndash379

123 Russkaja doktrina Gosudarstvennaja ideologija ėpochi Putina Moskva 2016 124 Ebd 68ndash72 116ndash120 und passim

34 Michael Hagemeister

mit der Geschichte Russlands und seinen Lichtgestalten dem Heiligen Serafim von Sarov dem bdquoeschatologischen Fuumlhrer des russischen Volkes am Ende der Zeitenldquo der bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo und Stalin der dem paulinischen Kate-chon gleich die bdquoGesetzlosigkeitldquo (bezzakonie) bekaumlmpft und das bdquoFundament fuumlr eine groszlige Zukunftldquo gelegt habe125

bdquoKatechonldquo nennt sich auch ein prominent besetzter Think tank den der Oligarch und Berater Putins Konstantin Malofeev im Jahr 2015 gegruumlndet hat126 Der Milliardaumlr der sein Vermoumlgen mit einer Investmentfirma auf den Cayman Inseln gemacht hat bezeichnet sich selbst als bdquoorthodoxen Monarchistenldquo127 Er unterstuumltzt die Separatisten in der Ostukraine und unterhaumllt vielfaumlltige Verbindun-gen zu europaumlischen Rechtspopulisten wie dem Front National der FPOuml Syriza und der Lega Nord Neben dem Forum bdquoKatechonldquo betreibt Malofeev auch einen Fernsehsender mit dem programmatischen Namen bdquoZargradldquo128 (Motto bdquoDas Licht Christi erleuchtet alleldquo) dessen Chefkommentator niemand anderes ist als Aleksandr Dugin129

bdquoKatechonldquo und bdquoZargradldquo propagieren den Kampf gegen die westliche Moderne mit Bezug auf das byzantinische Erbe Russlands Im November 2014 fand in der Moskauer Manege eine Konferenz bdquoMoskau ndash das Dritte Romldquo statt130 An ihr nahmen auszliger Dugin und Malofeev auch Archimandrit Tichon und Nata-lrsquoja Naročnickaja teil eine hochrangige Diplomatin Mitglied des Izborsker Klubs und Leiterin des Pariser bdquoInstituts fuumlr Demokratie und Kooperationldquo das die oumlf-fentliche Meinung im Westen im Sinne des Kremls beeinflussen soll Tichons Film bdquoDie Lehre von Byzanzldquo sei so Naročnickaja auch eine Warnung an den Westen der seine christlichen Werte verraten habe weshalb er den glaubens-festen Migranten und ihrer Verachtung hilflos ausgeliefert sei131

Im Oktober 2009 wurde Tichons Film in Athen vor ausverkauftem Saal aufgefuumlhrt Unter denen die dem Drehbuchautor Beifall spendeten war der Philo-soph und Theologe Christos Yannaras einer der Hauptvertreter der Neoorthodo-xie und scharfer Kritiker des Westens Wie ihre russischen Gesinnungsgenossen

125 Ebd 130f 153 142ndash145 126 Mit einem Auftritt im Internet in 9 Sprachen Siehe die deutsche Version unter lthttp

katehoncomdewer-sind-wirgt 127 lthttpsdewikipediaorgwikiKonstantin_Walerjewitsch_Malofejewgt 128 Carrsquograd ist der altrussische Name fuumlr Konstantinopel 129 Auch Dugin unterhaumllt seit mehr als 25 Jahren Kontakte zu ultrakonservativen traditiona-

listischen und faschistischen Gesinnungsgenossen in Westeuropa Siehe Vladimir Ivanov Alexander Dugin und die rechtsextremen Netzwerke Fakten und Hypothesen zu den inter-nationalen Verflechtungen der russischen Neuen Rechten Stuttgart 2007

130 lthttpwwwpravoslavieru75070htmlgt 131 lthttpwwwpravoslavieru7414htmlgt ndash Fuumlr Metropolit Ilarion (Alfeev) der sich dabei

auf Dugin beruft verwandeln sich die Laumlnder Westeuropas bereits in die bdquoSphaumlre des Anti-christldquo lthttpwwwpatriarchiarudbtext3065216htmlgt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 35

verherrlichen auch die griechischen Neoorthodoxen die byzantinische Vergan-genheit und sehen in der modernen saumlkularen Gesellschaft eine Bedrohung ihrer kulturellen Identitaumlt132 Gemeinsam suchen sie der Globalisierung mit einer bdquoby-zantinischen Internationaleldquo als bdquoorthodoxer Oumlkumeneldquo entgegenzuwirken einer letztlich sakral verstandenen Gemeinschaft deren Einfluss indes weit uumlber die kirchliche Sphaumlre hinausreichen und eine transnationale Vereinigung der ortho-doxen Welt von Serbien uumlber Syrien bis Georgien und Armenien unter Fuumlhrung Moskaus schaffen soll133 Als wichtiger symbolischer Schritt auf diesem Weg wurde der Besuch von Praumlsident Putin und Patriarch Kirill des Heiligen Berges Athos einer traditionellen Hochburg antiwestlicher Opposition im Mai 2016 ge-feiert Das weltliche und das geistliche Oberhaupt Russlands ndash die bdquoSymphonia der Maumlchteldquo ndash zeigten damit so Aleksandr Dugin ihr Bekenntnis zu Byzanz und seiner Rolle als Katechon Damit anerkenne bdquounsere Rusrsquo ihre historische Bestim-mung Wir sind bereit fuumlr die Endzeitldquo134

132 Ausfuumlhrlich dazu Daniel P Payne The Revival of Political Hesychasm in Contemporary

Orthodox Thought The Political Hesychasm of John Romanides and Christos Yannaras Lanham [ua] 2011 Siehe auch Vasilios N Makrides bdquoByzantium in Contemporary Greece The Neo-Orthodox Current of Ideasldquo in David RicksPaul Magdalino (Hgg) Byzantium and the Modern Greek Identity Aldershot 1998 141ndash153 Zum griechischen Neobyzantismus unter russischem Einfluss Aleksey Kamenskikh bdquoThe Image of the Second Rome through the Prism of the Thirdrdquo in Teresa Obolevich [ua] (Hgg) Russian Thought in Europe Reception Polemics Development Krakoacutew 2013 13ndash22 ndash Antimo-derne und antiwestliche Stroumlmungen in den vom orthodoxen Christentum gepraumlgten Kultu-ren haben der Religionswissenschaftler Makrides und der Slavist Uffelmann vor einigen Jahren als Desiderat der Forschung benannt Vasilios N MakridesDirk Uffelmann bdquoStudying Eastern Orthodox Anti-Westernism The Need for a Comparative Research Agendaldquo in Jonathan SuttonWil van den Bercken (Hgg) Orthodox Christianity and Contemporary Europe Leuven [ua] 2003 87ndash120 Seitdem haben Makrides und die Politikwissenschaftlerin Stoumlckl eine Reihe einschlaumlgiger Arbeiten vorgelegt in denen or-thodoxe Alternativen zu westlichen philosophischen und politischen Konzepten untersucht werden Vasilios N Makrides bdquoOrthodoxes Cristentum und Moderne ndash Inkompatibilitaumlt oder langfristige Anpassungldquo in Una Sancta 2011 1 15ndash30 ders bdquoOumlstliches orthodo-xes Christentum und Saumlkularitaumlt Ein Vergleich mit dem lateinischen Christentumldquo in Transit 47 (2015) 59ndash75 Kristina Stoumlckl bdquoModernity and its Critique in Twentieth Cen-tury Russian Orthodox Thoughtldquo in Studies in East European Thought 58 (2006) 243ndash269 dies Community after Totalitarianism The Russian Orthodox Intellectual Tradition and the Philosophical Discourse of Political Modernity Frankfurt aM [ua] 2008

133 Dazu gehoumlrt auch die Verwirklichung des jahrhundertealten Traums der Wiedererrichtung des Kreuzes auf der Hagia Sophia Siehe Egor Cholmogorov Russkij proekt restavracija buduščego Moskva 2005 283 Der Verfasser Mitglied des Expertenteams des Izborsker Klubs ist Begruumlnder der Doktrin der bdquoAtomaren Orthodoxieldquo siehe Fn 74

134 Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Traditionldquo

ZUM AUTOR

Michael Hagemeister geb 1951 in EllwangenJagst Studium der Slavistik Ge-schichte Germanistik und Philosophie in Basel und MarburgLahn Promotion mit einer Arbeit uumlber den russischen Philosophen Nikolaj Fedorov Wissenschaft-licher Mitarbeiter am Slawischen Seminar in Marburg Gastprofessor am Seminar fuumlr Komparatistik der Universitaumlt Innsbruck Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lotman-Institut fuumlr russische und sowjetische Kultur der Ruhr-Universitaumlt Bo-chum am Lehrstuhl fuumlr Geschichte Osteuropas der Europa-Universitaumlt Viadrina Frankfurt (Oder) an den Historischen Seminaren der Universitaumlten Basel Duumlssel-dorf und Bochum Vertretung der Professuren fuumlr Geschichte Osteuropas an der Ludwig-Maximilians Universitaumlt Muumlnchen und an der Europa-Universitaumlt Frank-furt (Oder)

Forschungen zur russischen Philosophie und Geistesgeschichte zum utopischen und apokalyptischen Denken in Russland zum russischen Rechtsextremismus und Antisemitismus sowie insbesondere zu den Protokollen der Weisen von Zion und ihrem Herausgeber Sergej Nilus Publikationen ua Die Neue Menschheit Biopolitische Utopien in Russland (hg mit Boris Groys) Frankfurt aM 2005 The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimensions (hg mit Birgit Menzel und Bernice Rosenthal) Muumlnchen 2012 Die Fiktion von der juumldischen Weltver-schwoumlrung Zu Text und Kontext der bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo (hg mit Eva Horn) Goumlttingen 2012 Die bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo vor Gericht Der Berner Prozess und die bdquoantisemitische Internationaleldquo in der Zwischen-kriegszeit Chronik Dokumente und Kommentare Zuumlrich (im Druck)

ERFURTER VORTRAumlGE ZUR KULTURGESCHICHTE DES ORTHODOXEN CHRISTENTUMS Reihenherausgeber Vasilios N Makrides

Heft 1 Thomas Bremer Konfrontation statt Oumlkumene Zur kirchlichen Situation in der Ukraine Erfurt 2001

Heft 2 Gerhard Podskalsky Zur Hermeneutik des theologischen Ost-West-

Gespraumlchs in historischer Perspektive Erfurt 2002 Heft 3 Karl Christian Felmy Warum und zu welchem Behufe treiben wir

Ostkirchenkunde Erfurt 2003 Heft 4 Wassilios Klein bdquoTatarenjoch ndash татарское игоldquo Beobachtungen zur

Wahrnehmung des Islam im eurasischen Raum Erfurt 2005 Heft 5 Stamatios D Gerogiorgakis Zeitphilosophie im Mittelalter Byzantinische

und lateinische Vorstellungen Erfurt 2006 Heft 6 Heinz Ohme Das Oumlkumenische Patriarchat von Konstantinopel und die

tuumlrkische Religionspolitik Erfurt 2007 Heft 7 Alexander Agadjanian Russian Orthodox Vision of Human Rights Recent

Documents and Their Significance Erfurt 2008 Heft 8 Christos Yannaras Wem gehoumlrt die griechische Antike Erfurt 2009 Heft 9 Joachim Willems Religions- und Ethikunterricht in Russland ndash Was

wollen Staat und Kirche Zur Einfuumlhrung des neuen Schulfaches bdquoGrundlagen der religioumlsen Kulturen und der weltlichen Ethikldquo Erfurt 2010

Heft 10 Chris Hann Eastern Christianity and Western Social Theory Erfurt 2011 Heft 11 Jennifer Wasmuth Akademische Theologie im zaristischen Russland in

ihrer Bedeutung fuumlr die neuere orthodoxe Theologie Erfurt 2012 Heft 12 Anna Briskina-Muumlller Auf der Suche nach der bdquoHesychialdquo Paisij

Veličkovskij (1722ndash1794) und sein Leben fuumlr die bdquoPhilokalieldquo Erfurt 2014

Heft 13 Vladimir Cvetković From ldquoMerciful Angelrdquo to ldquoFortress Europerdquo The

Perception of Europe and the West in Contemporary Serbian Orthodoxy Erfurt 2015

Heft 14 Stefan G Reichelt Lebenslinien Nikolaj A Berdjaev (1874ndash1948) und Sergij N Bulgakov (1871ndash1944) im Westen ndash Eine Wuumlrdigung Erfurt 2015

Heft 15 Michael Hagemeister Der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo ndash bdquoNeobyzantismusldquo

und bdquopolitischer Hesychasmusldquo im postsowjetischen Russland Erfurt 2016

Alle Hefte der vorliegenden Schriftenreihe koumlnnen unter folgendem Link kostenlos heruntergeladen werden URL httpswwwuni-erfurtdereligionswissenschaftprofessur-orthodoxes-christentumveroeffentlichungenerfurter-vortraege-zur-kulturgeschichte-des-orthodoxen-christentums

Page 34: Michael Hagemeister FINAL - uni-erfurt.de · doziert Tichon, während er das antike Kons tantinopel computeranimiert auferste- hen lässt. Das prosperierende Impe rium erregte freilich

34 Michael Hagemeister

mit der Geschichte Russlands und seinen Lichtgestalten dem Heiligen Serafim von Sarov dem bdquoeschatologischen Fuumlhrer des russischen Volkes am Ende der Zeitenldquo der bdquoGottesmutter-Herrscherinldquo und Stalin der dem paulinischen Kate-chon gleich die bdquoGesetzlosigkeitldquo (bezzakonie) bekaumlmpft und das bdquoFundament fuumlr eine groszlige Zukunftldquo gelegt habe125

bdquoKatechonldquo nennt sich auch ein prominent besetzter Think tank den der Oligarch und Berater Putins Konstantin Malofeev im Jahr 2015 gegruumlndet hat126 Der Milliardaumlr der sein Vermoumlgen mit einer Investmentfirma auf den Cayman Inseln gemacht hat bezeichnet sich selbst als bdquoorthodoxen Monarchistenldquo127 Er unterstuumltzt die Separatisten in der Ostukraine und unterhaumllt vielfaumlltige Verbindun-gen zu europaumlischen Rechtspopulisten wie dem Front National der FPOuml Syriza und der Lega Nord Neben dem Forum bdquoKatechonldquo betreibt Malofeev auch einen Fernsehsender mit dem programmatischen Namen bdquoZargradldquo128 (Motto bdquoDas Licht Christi erleuchtet alleldquo) dessen Chefkommentator niemand anderes ist als Aleksandr Dugin129

bdquoKatechonldquo und bdquoZargradldquo propagieren den Kampf gegen die westliche Moderne mit Bezug auf das byzantinische Erbe Russlands Im November 2014 fand in der Moskauer Manege eine Konferenz bdquoMoskau ndash das Dritte Romldquo statt130 An ihr nahmen auszliger Dugin und Malofeev auch Archimandrit Tichon und Nata-lrsquoja Naročnickaja teil eine hochrangige Diplomatin Mitglied des Izborsker Klubs und Leiterin des Pariser bdquoInstituts fuumlr Demokratie und Kooperationldquo das die oumlf-fentliche Meinung im Westen im Sinne des Kremls beeinflussen soll Tichons Film bdquoDie Lehre von Byzanzldquo sei so Naročnickaja auch eine Warnung an den Westen der seine christlichen Werte verraten habe weshalb er den glaubens-festen Migranten und ihrer Verachtung hilflos ausgeliefert sei131

Im Oktober 2009 wurde Tichons Film in Athen vor ausverkauftem Saal aufgefuumlhrt Unter denen die dem Drehbuchautor Beifall spendeten war der Philo-soph und Theologe Christos Yannaras einer der Hauptvertreter der Neoorthodo-xie und scharfer Kritiker des Westens Wie ihre russischen Gesinnungsgenossen

125 Ebd 130f 153 142ndash145 126 Mit einem Auftritt im Internet in 9 Sprachen Siehe die deutsche Version unter lthttp

katehoncomdewer-sind-wirgt 127 lthttpsdewikipediaorgwikiKonstantin_Walerjewitsch_Malofejewgt 128 Carrsquograd ist der altrussische Name fuumlr Konstantinopel 129 Auch Dugin unterhaumllt seit mehr als 25 Jahren Kontakte zu ultrakonservativen traditiona-

listischen und faschistischen Gesinnungsgenossen in Westeuropa Siehe Vladimir Ivanov Alexander Dugin und die rechtsextremen Netzwerke Fakten und Hypothesen zu den inter-nationalen Verflechtungen der russischen Neuen Rechten Stuttgart 2007

130 lthttpwwwpravoslavieru75070htmlgt 131 lthttpwwwpravoslavieru7414htmlgt ndash Fuumlr Metropolit Ilarion (Alfeev) der sich dabei

auf Dugin beruft verwandeln sich die Laumlnder Westeuropas bereits in die bdquoSphaumlre des Anti-christldquo lthttpwwwpatriarchiarudbtext3065216htmlgt

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 35

verherrlichen auch die griechischen Neoorthodoxen die byzantinische Vergan-genheit und sehen in der modernen saumlkularen Gesellschaft eine Bedrohung ihrer kulturellen Identitaumlt132 Gemeinsam suchen sie der Globalisierung mit einer bdquoby-zantinischen Internationaleldquo als bdquoorthodoxer Oumlkumeneldquo entgegenzuwirken einer letztlich sakral verstandenen Gemeinschaft deren Einfluss indes weit uumlber die kirchliche Sphaumlre hinausreichen und eine transnationale Vereinigung der ortho-doxen Welt von Serbien uumlber Syrien bis Georgien und Armenien unter Fuumlhrung Moskaus schaffen soll133 Als wichtiger symbolischer Schritt auf diesem Weg wurde der Besuch von Praumlsident Putin und Patriarch Kirill des Heiligen Berges Athos einer traditionellen Hochburg antiwestlicher Opposition im Mai 2016 ge-feiert Das weltliche und das geistliche Oberhaupt Russlands ndash die bdquoSymphonia der Maumlchteldquo ndash zeigten damit so Aleksandr Dugin ihr Bekenntnis zu Byzanz und seiner Rolle als Katechon Damit anerkenne bdquounsere Rusrsquo ihre historische Bestim-mung Wir sind bereit fuumlr die Endzeitldquo134

132 Ausfuumlhrlich dazu Daniel P Payne The Revival of Political Hesychasm in Contemporary

Orthodox Thought The Political Hesychasm of John Romanides and Christos Yannaras Lanham [ua] 2011 Siehe auch Vasilios N Makrides bdquoByzantium in Contemporary Greece The Neo-Orthodox Current of Ideasldquo in David RicksPaul Magdalino (Hgg) Byzantium and the Modern Greek Identity Aldershot 1998 141ndash153 Zum griechischen Neobyzantismus unter russischem Einfluss Aleksey Kamenskikh bdquoThe Image of the Second Rome through the Prism of the Thirdrdquo in Teresa Obolevich [ua] (Hgg) Russian Thought in Europe Reception Polemics Development Krakoacutew 2013 13ndash22 ndash Antimo-derne und antiwestliche Stroumlmungen in den vom orthodoxen Christentum gepraumlgten Kultu-ren haben der Religionswissenschaftler Makrides und der Slavist Uffelmann vor einigen Jahren als Desiderat der Forschung benannt Vasilios N MakridesDirk Uffelmann bdquoStudying Eastern Orthodox Anti-Westernism The Need for a Comparative Research Agendaldquo in Jonathan SuttonWil van den Bercken (Hgg) Orthodox Christianity and Contemporary Europe Leuven [ua] 2003 87ndash120 Seitdem haben Makrides und die Politikwissenschaftlerin Stoumlckl eine Reihe einschlaumlgiger Arbeiten vorgelegt in denen or-thodoxe Alternativen zu westlichen philosophischen und politischen Konzepten untersucht werden Vasilios N Makrides bdquoOrthodoxes Cristentum und Moderne ndash Inkompatibilitaumlt oder langfristige Anpassungldquo in Una Sancta 2011 1 15ndash30 ders bdquoOumlstliches orthodo-xes Christentum und Saumlkularitaumlt Ein Vergleich mit dem lateinischen Christentumldquo in Transit 47 (2015) 59ndash75 Kristina Stoumlckl bdquoModernity and its Critique in Twentieth Cen-tury Russian Orthodox Thoughtldquo in Studies in East European Thought 58 (2006) 243ndash269 dies Community after Totalitarianism The Russian Orthodox Intellectual Tradition and the Philosophical Discourse of Political Modernity Frankfurt aM [ua] 2008

133 Dazu gehoumlrt auch die Verwirklichung des jahrhundertealten Traums der Wiedererrichtung des Kreuzes auf der Hagia Sophia Siehe Egor Cholmogorov Russkij proekt restavracija buduščego Moskva 2005 283 Der Verfasser Mitglied des Expertenteams des Izborsker Klubs ist Begruumlnder der Doktrin der bdquoAtomaren Orthodoxieldquo siehe Fn 74

134 Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Traditionldquo

ZUM AUTOR

Michael Hagemeister geb 1951 in EllwangenJagst Studium der Slavistik Ge-schichte Germanistik und Philosophie in Basel und MarburgLahn Promotion mit einer Arbeit uumlber den russischen Philosophen Nikolaj Fedorov Wissenschaft-licher Mitarbeiter am Slawischen Seminar in Marburg Gastprofessor am Seminar fuumlr Komparatistik der Universitaumlt Innsbruck Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lotman-Institut fuumlr russische und sowjetische Kultur der Ruhr-Universitaumlt Bo-chum am Lehrstuhl fuumlr Geschichte Osteuropas der Europa-Universitaumlt Viadrina Frankfurt (Oder) an den Historischen Seminaren der Universitaumlten Basel Duumlssel-dorf und Bochum Vertretung der Professuren fuumlr Geschichte Osteuropas an der Ludwig-Maximilians Universitaumlt Muumlnchen und an der Europa-Universitaumlt Frank-furt (Oder)

Forschungen zur russischen Philosophie und Geistesgeschichte zum utopischen und apokalyptischen Denken in Russland zum russischen Rechtsextremismus und Antisemitismus sowie insbesondere zu den Protokollen der Weisen von Zion und ihrem Herausgeber Sergej Nilus Publikationen ua Die Neue Menschheit Biopolitische Utopien in Russland (hg mit Boris Groys) Frankfurt aM 2005 The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimensions (hg mit Birgit Menzel und Bernice Rosenthal) Muumlnchen 2012 Die Fiktion von der juumldischen Weltver-schwoumlrung Zu Text und Kontext der bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo (hg mit Eva Horn) Goumlttingen 2012 Die bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo vor Gericht Der Berner Prozess und die bdquoantisemitische Internationaleldquo in der Zwischen-kriegszeit Chronik Dokumente und Kommentare Zuumlrich (im Druck)

ERFURTER VORTRAumlGE ZUR KULTURGESCHICHTE DES ORTHODOXEN CHRISTENTUMS Reihenherausgeber Vasilios N Makrides

Heft 1 Thomas Bremer Konfrontation statt Oumlkumene Zur kirchlichen Situation in der Ukraine Erfurt 2001

Heft 2 Gerhard Podskalsky Zur Hermeneutik des theologischen Ost-West-

Gespraumlchs in historischer Perspektive Erfurt 2002 Heft 3 Karl Christian Felmy Warum und zu welchem Behufe treiben wir

Ostkirchenkunde Erfurt 2003 Heft 4 Wassilios Klein bdquoTatarenjoch ndash татарское игоldquo Beobachtungen zur

Wahrnehmung des Islam im eurasischen Raum Erfurt 2005 Heft 5 Stamatios D Gerogiorgakis Zeitphilosophie im Mittelalter Byzantinische

und lateinische Vorstellungen Erfurt 2006 Heft 6 Heinz Ohme Das Oumlkumenische Patriarchat von Konstantinopel und die

tuumlrkische Religionspolitik Erfurt 2007 Heft 7 Alexander Agadjanian Russian Orthodox Vision of Human Rights Recent

Documents and Their Significance Erfurt 2008 Heft 8 Christos Yannaras Wem gehoumlrt die griechische Antike Erfurt 2009 Heft 9 Joachim Willems Religions- und Ethikunterricht in Russland ndash Was

wollen Staat und Kirche Zur Einfuumlhrung des neuen Schulfaches bdquoGrundlagen der religioumlsen Kulturen und der weltlichen Ethikldquo Erfurt 2010

Heft 10 Chris Hann Eastern Christianity and Western Social Theory Erfurt 2011 Heft 11 Jennifer Wasmuth Akademische Theologie im zaristischen Russland in

ihrer Bedeutung fuumlr die neuere orthodoxe Theologie Erfurt 2012 Heft 12 Anna Briskina-Muumlller Auf der Suche nach der bdquoHesychialdquo Paisij

Veličkovskij (1722ndash1794) und sein Leben fuumlr die bdquoPhilokalieldquo Erfurt 2014

Heft 13 Vladimir Cvetković From ldquoMerciful Angelrdquo to ldquoFortress Europerdquo The

Perception of Europe and the West in Contemporary Serbian Orthodoxy Erfurt 2015

Heft 14 Stefan G Reichelt Lebenslinien Nikolaj A Berdjaev (1874ndash1948) und Sergij N Bulgakov (1871ndash1944) im Westen ndash Eine Wuumlrdigung Erfurt 2015

Heft 15 Michael Hagemeister Der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo ndash bdquoNeobyzantismusldquo

und bdquopolitischer Hesychasmusldquo im postsowjetischen Russland Erfurt 2016

Alle Hefte der vorliegenden Schriftenreihe koumlnnen unter folgendem Link kostenlos heruntergeladen werden URL httpswwwuni-erfurtdereligionswissenschaftprofessur-orthodoxes-christentumveroeffentlichungenerfurter-vortraege-zur-kulturgeschichte-des-orthodoxen-christentums

Page 35: Michael Hagemeister FINAL - uni-erfurt.de · doziert Tichon, während er das antike Kons tantinopel computeranimiert auferste- hen lässt. Das prosperierende Impe rium erregte freilich

bdquoNeobyzantismusldquo und bdquopolitischer Hesychasmusldquo in Russland 35

verherrlichen auch die griechischen Neoorthodoxen die byzantinische Vergan-genheit und sehen in der modernen saumlkularen Gesellschaft eine Bedrohung ihrer kulturellen Identitaumlt132 Gemeinsam suchen sie der Globalisierung mit einer bdquoby-zantinischen Internationaleldquo als bdquoorthodoxer Oumlkumeneldquo entgegenzuwirken einer letztlich sakral verstandenen Gemeinschaft deren Einfluss indes weit uumlber die kirchliche Sphaumlre hinausreichen und eine transnationale Vereinigung der ortho-doxen Welt von Serbien uumlber Syrien bis Georgien und Armenien unter Fuumlhrung Moskaus schaffen soll133 Als wichtiger symbolischer Schritt auf diesem Weg wurde der Besuch von Praumlsident Putin und Patriarch Kirill des Heiligen Berges Athos einer traditionellen Hochburg antiwestlicher Opposition im Mai 2016 ge-feiert Das weltliche und das geistliche Oberhaupt Russlands ndash die bdquoSymphonia der Maumlchteldquo ndash zeigten damit so Aleksandr Dugin ihr Bekenntnis zu Byzanz und seiner Rolle als Katechon Damit anerkenne bdquounsere Rusrsquo ihre historische Bestim-mung Wir sind bereit fuumlr die Endzeitldquo134

132 Ausfuumlhrlich dazu Daniel P Payne The Revival of Political Hesychasm in Contemporary

Orthodox Thought The Political Hesychasm of John Romanides and Christos Yannaras Lanham [ua] 2011 Siehe auch Vasilios N Makrides bdquoByzantium in Contemporary Greece The Neo-Orthodox Current of Ideasldquo in David RicksPaul Magdalino (Hgg) Byzantium and the Modern Greek Identity Aldershot 1998 141ndash153 Zum griechischen Neobyzantismus unter russischem Einfluss Aleksey Kamenskikh bdquoThe Image of the Second Rome through the Prism of the Thirdrdquo in Teresa Obolevich [ua] (Hgg) Russian Thought in Europe Reception Polemics Development Krakoacutew 2013 13ndash22 ndash Antimo-derne und antiwestliche Stroumlmungen in den vom orthodoxen Christentum gepraumlgten Kultu-ren haben der Religionswissenschaftler Makrides und der Slavist Uffelmann vor einigen Jahren als Desiderat der Forschung benannt Vasilios N MakridesDirk Uffelmann bdquoStudying Eastern Orthodox Anti-Westernism The Need for a Comparative Research Agendaldquo in Jonathan SuttonWil van den Bercken (Hgg) Orthodox Christianity and Contemporary Europe Leuven [ua] 2003 87ndash120 Seitdem haben Makrides und die Politikwissenschaftlerin Stoumlckl eine Reihe einschlaumlgiger Arbeiten vorgelegt in denen or-thodoxe Alternativen zu westlichen philosophischen und politischen Konzepten untersucht werden Vasilios N Makrides bdquoOrthodoxes Cristentum und Moderne ndash Inkompatibilitaumlt oder langfristige Anpassungldquo in Una Sancta 2011 1 15ndash30 ders bdquoOumlstliches orthodo-xes Christentum und Saumlkularitaumlt Ein Vergleich mit dem lateinischen Christentumldquo in Transit 47 (2015) 59ndash75 Kristina Stoumlckl bdquoModernity and its Critique in Twentieth Cen-tury Russian Orthodox Thoughtldquo in Studies in East European Thought 58 (2006) 243ndash269 dies Community after Totalitarianism The Russian Orthodox Intellectual Tradition and the Philosophical Discourse of Political Modernity Frankfurt aM [ua] 2008

133 Dazu gehoumlrt auch die Verwirklichung des jahrhundertealten Traums der Wiedererrichtung des Kreuzes auf der Hagia Sophia Siehe Egor Cholmogorov Russkij proekt restavracija buduščego Moskva 2005 283 Der Verfasser Mitglied des Expertenteams des Izborsker Klubs ist Begruumlnder der Doktrin der bdquoAtomaren Orthodoxieldquo siehe Fn 74

134 Dugin bdquoRussia Continues the Byzantine Traditionldquo

ZUM AUTOR

Michael Hagemeister geb 1951 in EllwangenJagst Studium der Slavistik Ge-schichte Germanistik und Philosophie in Basel und MarburgLahn Promotion mit einer Arbeit uumlber den russischen Philosophen Nikolaj Fedorov Wissenschaft-licher Mitarbeiter am Slawischen Seminar in Marburg Gastprofessor am Seminar fuumlr Komparatistik der Universitaumlt Innsbruck Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lotman-Institut fuumlr russische und sowjetische Kultur der Ruhr-Universitaumlt Bo-chum am Lehrstuhl fuumlr Geschichte Osteuropas der Europa-Universitaumlt Viadrina Frankfurt (Oder) an den Historischen Seminaren der Universitaumlten Basel Duumlssel-dorf und Bochum Vertretung der Professuren fuumlr Geschichte Osteuropas an der Ludwig-Maximilians Universitaumlt Muumlnchen und an der Europa-Universitaumlt Frank-furt (Oder)

Forschungen zur russischen Philosophie und Geistesgeschichte zum utopischen und apokalyptischen Denken in Russland zum russischen Rechtsextremismus und Antisemitismus sowie insbesondere zu den Protokollen der Weisen von Zion und ihrem Herausgeber Sergej Nilus Publikationen ua Die Neue Menschheit Biopolitische Utopien in Russland (hg mit Boris Groys) Frankfurt aM 2005 The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimensions (hg mit Birgit Menzel und Bernice Rosenthal) Muumlnchen 2012 Die Fiktion von der juumldischen Weltver-schwoumlrung Zu Text und Kontext der bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo (hg mit Eva Horn) Goumlttingen 2012 Die bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo vor Gericht Der Berner Prozess und die bdquoantisemitische Internationaleldquo in der Zwischen-kriegszeit Chronik Dokumente und Kommentare Zuumlrich (im Druck)

ERFURTER VORTRAumlGE ZUR KULTURGESCHICHTE DES ORTHODOXEN CHRISTENTUMS Reihenherausgeber Vasilios N Makrides

Heft 1 Thomas Bremer Konfrontation statt Oumlkumene Zur kirchlichen Situation in der Ukraine Erfurt 2001

Heft 2 Gerhard Podskalsky Zur Hermeneutik des theologischen Ost-West-

Gespraumlchs in historischer Perspektive Erfurt 2002 Heft 3 Karl Christian Felmy Warum und zu welchem Behufe treiben wir

Ostkirchenkunde Erfurt 2003 Heft 4 Wassilios Klein bdquoTatarenjoch ndash татарское игоldquo Beobachtungen zur

Wahrnehmung des Islam im eurasischen Raum Erfurt 2005 Heft 5 Stamatios D Gerogiorgakis Zeitphilosophie im Mittelalter Byzantinische

und lateinische Vorstellungen Erfurt 2006 Heft 6 Heinz Ohme Das Oumlkumenische Patriarchat von Konstantinopel und die

tuumlrkische Religionspolitik Erfurt 2007 Heft 7 Alexander Agadjanian Russian Orthodox Vision of Human Rights Recent

Documents and Their Significance Erfurt 2008 Heft 8 Christos Yannaras Wem gehoumlrt die griechische Antike Erfurt 2009 Heft 9 Joachim Willems Religions- und Ethikunterricht in Russland ndash Was

wollen Staat und Kirche Zur Einfuumlhrung des neuen Schulfaches bdquoGrundlagen der religioumlsen Kulturen und der weltlichen Ethikldquo Erfurt 2010

Heft 10 Chris Hann Eastern Christianity and Western Social Theory Erfurt 2011 Heft 11 Jennifer Wasmuth Akademische Theologie im zaristischen Russland in

ihrer Bedeutung fuumlr die neuere orthodoxe Theologie Erfurt 2012 Heft 12 Anna Briskina-Muumlller Auf der Suche nach der bdquoHesychialdquo Paisij

Veličkovskij (1722ndash1794) und sein Leben fuumlr die bdquoPhilokalieldquo Erfurt 2014

Heft 13 Vladimir Cvetković From ldquoMerciful Angelrdquo to ldquoFortress Europerdquo The

Perception of Europe and the West in Contemporary Serbian Orthodoxy Erfurt 2015

Heft 14 Stefan G Reichelt Lebenslinien Nikolaj A Berdjaev (1874ndash1948) und Sergij N Bulgakov (1871ndash1944) im Westen ndash Eine Wuumlrdigung Erfurt 2015

Heft 15 Michael Hagemeister Der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo ndash bdquoNeobyzantismusldquo

und bdquopolitischer Hesychasmusldquo im postsowjetischen Russland Erfurt 2016

Alle Hefte der vorliegenden Schriftenreihe koumlnnen unter folgendem Link kostenlos heruntergeladen werden URL httpswwwuni-erfurtdereligionswissenschaftprofessur-orthodoxes-christentumveroeffentlichungenerfurter-vortraege-zur-kulturgeschichte-des-orthodoxen-christentums

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ZUM AUTOR

Michael Hagemeister geb 1951 in EllwangenJagst Studium der Slavistik Ge-schichte Germanistik und Philosophie in Basel und MarburgLahn Promotion mit einer Arbeit uumlber den russischen Philosophen Nikolaj Fedorov Wissenschaft-licher Mitarbeiter am Slawischen Seminar in Marburg Gastprofessor am Seminar fuumlr Komparatistik der Universitaumlt Innsbruck Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lotman-Institut fuumlr russische und sowjetische Kultur der Ruhr-Universitaumlt Bo-chum am Lehrstuhl fuumlr Geschichte Osteuropas der Europa-Universitaumlt Viadrina Frankfurt (Oder) an den Historischen Seminaren der Universitaumlten Basel Duumlssel-dorf und Bochum Vertretung der Professuren fuumlr Geschichte Osteuropas an der Ludwig-Maximilians Universitaumlt Muumlnchen und an der Europa-Universitaumlt Frank-furt (Oder)

Forschungen zur russischen Philosophie und Geistesgeschichte zum utopischen und apokalyptischen Denken in Russland zum russischen Rechtsextremismus und Antisemitismus sowie insbesondere zu den Protokollen der Weisen von Zion und ihrem Herausgeber Sergej Nilus Publikationen ua Die Neue Menschheit Biopolitische Utopien in Russland (hg mit Boris Groys) Frankfurt aM 2005 The New Age of Russia Occult and Esoteric Dimensions (hg mit Birgit Menzel und Bernice Rosenthal) Muumlnchen 2012 Die Fiktion von der juumldischen Weltver-schwoumlrung Zu Text und Kontext der bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo (hg mit Eva Horn) Goumlttingen 2012 Die bdquoProtokolle der Weisen von Zionldquo vor Gericht Der Berner Prozess und die bdquoantisemitische Internationaleldquo in der Zwischen-kriegszeit Chronik Dokumente und Kommentare Zuumlrich (im Druck)

ERFURTER VORTRAumlGE ZUR KULTURGESCHICHTE DES ORTHODOXEN CHRISTENTUMS Reihenherausgeber Vasilios N Makrides

Heft 1 Thomas Bremer Konfrontation statt Oumlkumene Zur kirchlichen Situation in der Ukraine Erfurt 2001

Heft 2 Gerhard Podskalsky Zur Hermeneutik des theologischen Ost-West-

Gespraumlchs in historischer Perspektive Erfurt 2002 Heft 3 Karl Christian Felmy Warum und zu welchem Behufe treiben wir

Ostkirchenkunde Erfurt 2003 Heft 4 Wassilios Klein bdquoTatarenjoch ndash татарское игоldquo Beobachtungen zur

Wahrnehmung des Islam im eurasischen Raum Erfurt 2005 Heft 5 Stamatios D Gerogiorgakis Zeitphilosophie im Mittelalter Byzantinische

und lateinische Vorstellungen Erfurt 2006 Heft 6 Heinz Ohme Das Oumlkumenische Patriarchat von Konstantinopel und die

tuumlrkische Religionspolitik Erfurt 2007 Heft 7 Alexander Agadjanian Russian Orthodox Vision of Human Rights Recent

Documents and Their Significance Erfurt 2008 Heft 8 Christos Yannaras Wem gehoumlrt die griechische Antike Erfurt 2009 Heft 9 Joachim Willems Religions- und Ethikunterricht in Russland ndash Was

wollen Staat und Kirche Zur Einfuumlhrung des neuen Schulfaches bdquoGrundlagen der religioumlsen Kulturen und der weltlichen Ethikldquo Erfurt 2010

Heft 10 Chris Hann Eastern Christianity and Western Social Theory Erfurt 2011 Heft 11 Jennifer Wasmuth Akademische Theologie im zaristischen Russland in

ihrer Bedeutung fuumlr die neuere orthodoxe Theologie Erfurt 2012 Heft 12 Anna Briskina-Muumlller Auf der Suche nach der bdquoHesychialdquo Paisij

Veličkovskij (1722ndash1794) und sein Leben fuumlr die bdquoPhilokalieldquo Erfurt 2014

Heft 13 Vladimir Cvetković From ldquoMerciful Angelrdquo to ldquoFortress Europerdquo The

Perception of Europe and the West in Contemporary Serbian Orthodoxy Erfurt 2015

Heft 14 Stefan G Reichelt Lebenslinien Nikolaj A Berdjaev (1874ndash1948) und Sergij N Bulgakov (1871ndash1944) im Westen ndash Eine Wuumlrdigung Erfurt 2015

Heft 15 Michael Hagemeister Der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo ndash bdquoNeobyzantismusldquo

und bdquopolitischer Hesychasmusldquo im postsowjetischen Russland Erfurt 2016

Alle Hefte der vorliegenden Schriftenreihe koumlnnen unter folgendem Link kostenlos heruntergeladen werden URL httpswwwuni-erfurtdereligionswissenschaftprofessur-orthodoxes-christentumveroeffentlichungenerfurter-vortraege-zur-kulturgeschichte-des-orthodoxen-christentums

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ERFURTER VORTRAumlGE ZUR KULTURGESCHICHTE DES ORTHODOXEN CHRISTENTUMS Reihenherausgeber Vasilios N Makrides

Heft 1 Thomas Bremer Konfrontation statt Oumlkumene Zur kirchlichen Situation in der Ukraine Erfurt 2001

Heft 2 Gerhard Podskalsky Zur Hermeneutik des theologischen Ost-West-

Gespraumlchs in historischer Perspektive Erfurt 2002 Heft 3 Karl Christian Felmy Warum und zu welchem Behufe treiben wir

Ostkirchenkunde Erfurt 2003 Heft 4 Wassilios Klein bdquoTatarenjoch ndash татарское игоldquo Beobachtungen zur

Wahrnehmung des Islam im eurasischen Raum Erfurt 2005 Heft 5 Stamatios D Gerogiorgakis Zeitphilosophie im Mittelalter Byzantinische

und lateinische Vorstellungen Erfurt 2006 Heft 6 Heinz Ohme Das Oumlkumenische Patriarchat von Konstantinopel und die

tuumlrkische Religionspolitik Erfurt 2007 Heft 7 Alexander Agadjanian Russian Orthodox Vision of Human Rights Recent

Documents and Their Significance Erfurt 2008 Heft 8 Christos Yannaras Wem gehoumlrt die griechische Antike Erfurt 2009 Heft 9 Joachim Willems Religions- und Ethikunterricht in Russland ndash Was

wollen Staat und Kirche Zur Einfuumlhrung des neuen Schulfaches bdquoGrundlagen der religioumlsen Kulturen und der weltlichen Ethikldquo Erfurt 2010

Heft 10 Chris Hann Eastern Christianity and Western Social Theory Erfurt 2011 Heft 11 Jennifer Wasmuth Akademische Theologie im zaristischen Russland in

ihrer Bedeutung fuumlr die neuere orthodoxe Theologie Erfurt 2012 Heft 12 Anna Briskina-Muumlller Auf der Suche nach der bdquoHesychialdquo Paisij

Veličkovskij (1722ndash1794) und sein Leben fuumlr die bdquoPhilokalieldquo Erfurt 2014

Heft 13 Vladimir Cvetković From ldquoMerciful Angelrdquo to ldquoFortress Europerdquo The

Perception of Europe and the West in Contemporary Serbian Orthodoxy Erfurt 2015

Heft 14 Stefan G Reichelt Lebenslinien Nikolaj A Berdjaev (1874ndash1948) und Sergij N Bulgakov (1871ndash1944) im Westen ndash Eine Wuumlrdigung Erfurt 2015

Heft 15 Michael Hagemeister Der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo ndash bdquoNeobyzantismusldquo

und bdquopolitischer Hesychasmusldquo im postsowjetischen Russland Erfurt 2016

Alle Hefte der vorliegenden Schriftenreihe koumlnnen unter folgendem Link kostenlos heruntergeladen werden URL httpswwwuni-erfurtdereligionswissenschaftprofessur-orthodoxes-christentumveroeffentlichungenerfurter-vortraege-zur-kulturgeschichte-des-orthodoxen-christentums

Page 38: Michael Hagemeister FINAL - uni-erfurt.de · doziert Tichon, während er das antike Kons tantinopel computeranimiert auferste- hen lässt. Das prosperierende Impe rium erregte freilich

Heft 14 Stefan G Reichelt Lebenslinien Nikolaj A Berdjaev (1874ndash1948) und Sergij N Bulgakov (1871ndash1944) im Westen ndash Eine Wuumlrdigung Erfurt 2015

Heft 15 Michael Hagemeister Der bdquoNoumlrdliche Katechonldquo ndash bdquoNeobyzantismusldquo

und bdquopolitischer Hesychasmusldquo im postsowjetischen Russland Erfurt 2016

Alle Hefte der vorliegenden Schriftenreihe koumlnnen unter folgendem Link kostenlos heruntergeladen werden URL httpswwwuni-erfurtdereligionswissenschaftprofessur-orthodoxes-christentumveroeffentlichungenerfurter-vortraege-zur-kulturgeschichte-des-orthodoxen-christentums