Michael Staack: Handelsstaat Deutschland: deutsche Außenpolitik in einem neuen internationalen...

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bedingungen so ausführlich auf die doch eher bekannten Grundgegebenheiten der industriel- len Revolution eingegangen werden mußte. Die leichte Verständlichkeit der Darstellung ist an sich gewiß kein Fehler. Doch korrespon- diert der Rekapitulation von Fakten und Ereig- nissen, die den allergrößten Teil des Textes ausmacht, der unterlassene Versuch, größeren und eher verborgenen Zusammenhängen ana- lytisch nachzuspüren. Kühne, gar neue Ge- samtdeutungen darf man von diesem Buch nicht erwarten. Es bleibt ein gravierender Man- gel der Reihe, dass mit ihr Historiker beauf- tragt worden sind, die von den theoretischen Debatten und Bemühungen der Disziplin In- ternationale Beziehungen unberührt sind. An keiner Stelle werden die theoretischen Grund- annahmen reflektiert, auf denen die Wiederga- be (und damit zwangsläufig auch Gewichtung und Deutung) der ausgewählten Sachverhalte beruht. Wo diese Grundannahmen deutlich werden, erweisen sie sich erwartungsgemäß als überaus konventionell, als leicht verwaschener Reflex des Klassischen Realismus, der seiner- seits letztlich auf Denkweisen des 19. Jahrhun- derts beruht. Typisch dafür ein Passus wie die- ser: „Doch die guten Beziehungen zwischen so ungleichen Partnern [gemeint: die USA und Rußland] sind eben ein Beleg mehr für die Feststellung, dass in den internationalen Bezie- hungen selten hehre moralische oder staatsphi- losophische Grundsätze wirksam sind, sondern Machtprinzipien und Staatsräson.“ Diese bei- läufige, achselzuckende Feststellung erscheint auf Seite 478, ohne dass der angesprochenen Problematik irgendwo in dem Buch, geschwei- ge denn an herausgehobener Stelle, eine Erör- terung gewidmet wäre. Der Verdacht liegt nahe, dass Baumgart gar nicht auf den Gedan- ken gekommen ist, eine solche Äußerung kön- ne nicht nur kontrovers sein, sondern ob ihres unschuldigen Positivismus’ – „so ist die Welt eben“ – unter Vertretern neuerer IB-theoreti- scher Ansätze wie des Konstruktivismus’ Kopf- schütteln auslösen. Um zu wiederholen, was ich dazu schon in der erwähnten früheren Be- sprechung gesagt habe: dieser Ansatz ist nicht unbedingt „falsch“, aber es zeugt von einer ge- wissen Naivität der Historikerzunft, von den Auseinandersetzungen, deren Gegenstand er seit langem ist, nicht Kenntnis genommen zu haben, und von der verpaßten Chance, mit an- deren theoretischen Prämissen vielleicht zu an- deren, gar interessanteren und mindestens ein- mal neuartigen Erkenntnissen über den behan- delten Gegenstand zu kommen. Der benutzte Akteursbegriff wird so wenig problematisiert wie die Frage, um welche Einsätze (jenseits der rein konkret-materiellen Ebene) es den Akteu- ren ging oder unter welchen Zwängen und mit welchen Möglichkeiten (wiederum nicht nur materieller Art) sie agierten. Wenn einmal et- was dazu gesagt wird, dann als Aperçu am Ran- de. Das, was Ernst-Otto Czempiel die „Gesell- schaftswelt“, in Abgrenzung, aber auch not- wendiger Ergänzung zur „Staatenwelt“, nennt, kommt praktisch nicht vor. So steht das Buch voll in der Tradition der alten Diplomatiege- schichte mit ihrer Anschauung, internationale Beziehungen seien wenig mehr als ein perma- nentes, von Kriegen punktiertes Tauziehen selbstsüchtiger Regierungen. Insoweit dieser verengte Blickwinkel einer relevanten Wirk- lichkeit entspricht, aber eben nur insoweit, ein nützliches Buch. Michael Staack: Handelsstaat Deutschland: deutsche Außenpolitik in einem neuen in- ternationalen System. Paderborn/München/ Wien/Zürich: Schöningh 2000, 560 S., DM 128,–. Oliver Meier „Handelsstaat Deutschland“, die gekürzte Ha- bilitationsschrift von Michael Staack, ist ein he- rausragendes Buch, das die wichtigsten Linien deutscher Außenpolitik von Mitte der achtzi- ger bis Mitte der neunziger Jahre nachzeichnet. Hinter dem eher trockenen Titel verbirgt sich eine spannende Studie, in der es Michael Staack immer wieder gelingt, politische Ent- scheidungsprozesse in dieser entscheidenden Phase neuer deutscher Außenpolitik lebendig werden zu lassen. Der Autor verwendet das von Richard Rosecrance entwickelte Paradigma des „Handelsstaats“ um zu zeigen, wie und warum die Bundesrepublik trotz gewachsener Hand- lungsspielräume auch nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ihre Politik der bewussten Selbstbeschränkung fortsetzte – und warum die „Berliner Republik“ die handelsstaatliche Op- Besprechungen 343

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bedingungen so ausführlich auf die doch eherbekannten Grundgegebenheiten der industriel-len Revolution eingegangen werden mußte.Die leichte Verständlichkeit der Darstellung istan sich gewiß kein Fehler. Doch korrespon-diert der Rekapitulation von Fakten und Ereig-nissen, die den allergrößten Teil des Textesausmacht, der unterlassene Versuch, größerenund eher verborgenen Zusammenhängen ana-lytisch nachzuspüren. Kühne, gar neue Ge-samtdeutungen darf man von diesem Buchnicht erwarten. Es bleibt ein gravierender Man-gel der Reihe, dass mit ihr Historiker beauf-tragt worden sind, die von den theoretischenDebatten und Bemühungen der Disziplin In-ternationale Beziehungen unberührt sind. Ankeiner Stelle werden die theoretischen Grund-annahmen reflektiert, auf denen die Wiederga-be (und damit zwangsläufig auch Gewichtungund Deutung) der ausgewählten Sachverhalteberuht. Wo diese Grundannahmen deutlichwerden, erweisen sie sich erwartungsgemäß alsüberaus konventionell, als leicht verwaschenerReflex des Klassischen Realismus, der seiner-seits letztlich auf Denkweisen des 19. Jahrhun-derts beruht. Typisch dafür ein Passus wie die-ser: „Doch die guten Beziehungen zwischen soungleichen Partnern [gemeint: die USA undRußland] sind eben ein Beleg mehr für dieFeststellung, dass in den internationalen Bezie-hungen selten hehre moralische oder staatsphi-losophische Grundsätze wirksam sind, sondernMachtprinzipien und Staatsräson.“ Diese bei-läufige, achselzuckende Feststellung erscheintauf Seite 478, ohne dass der angesprochenenProblematik irgendwo in dem Buch, geschwei-ge denn an herausgehobener Stelle, eine Erör-terung gewidmet wäre. Der Verdacht liegtnahe, dass Baumgart gar nicht auf den Gedan-ken gekommen ist, eine solche Äußerung kön-ne nicht nur kontrovers sein, sondern ob ihresunschuldigen Positivismus’ – „so ist die Welteben“ – unter Vertretern neuerer IB-theoreti-scher Ansätze wie des Konstruktivismus’ Kopf-schütteln auslösen. Um zu wiederholen, wasich dazu schon in der erwähnten früheren Be-sprechung gesagt habe: dieser Ansatz ist nichtunbedingt „falsch“, aber es zeugt von einer ge-wissen Naivität der Historikerzunft, von denAuseinandersetzungen, deren Gegenstand erseit langem ist, nicht Kenntnis genommen zuhaben, und von der verpaßten Chance, mit an-deren theoretischen Prämissen vielleicht zu an-

deren, gar interessanteren und mindestens ein-mal neuartigen Erkenntnissen über den behan-delten Gegenstand zu kommen. Der benutzteAkteursbegriff wird so wenig problematisiertwie die Frage, um welche Einsätze (jenseits derrein konkret-materiellen Ebene) es den Akteu-ren ging oder unter welchen Zwängen und mitwelchen Möglichkeiten (wiederum nicht nurmaterieller Art) sie agierten. Wenn einmal et-was dazu gesagt wird, dann als Aperçu am Ran-de. Das, was Ernst-Otto Czempiel die „Gesell-schaftswelt“, in Abgrenzung, aber auch not-wendiger Ergänzung zur „Staatenwelt“, nennt,kommt praktisch nicht vor. So steht das Buchvoll in der Tradition der alten Diplomatiege-schichte mit ihrer Anschauung, internationaleBeziehungen seien wenig mehr als ein perma-nentes, von Kriegen punktiertes Tauziehenselbstsüchtiger Regierungen. Insoweit dieserverengte Blickwinkel einer relevanten Wirk-lichkeit entspricht, aber eben nur insoweit, einnützliches Buch.

Michael Staack: Handelsstaat Deutschland:deutsche Außenpolitik in einem neuen in-ternationalen System. Paderborn/München/Wien/Zürich: Schöningh 2000, 560 S.,DM 128,–.

Oliver Meier

„Handelsstaat Deutschland“, die gekürzte Ha-bilitationsschrift von Michael Staack, ist ein he-rausragendes Buch, das die wichtigsten Liniendeutscher Außenpolitik von Mitte der achtzi-ger bis Mitte der neunziger Jahre nachzeichnet.Hinter dem eher trockenen Titel verbirgt sicheine spannende Studie, in der es MichaelStaack immer wieder gelingt, politische Ent-scheidungsprozesse in dieser entscheidendenPhase neuer deutscher Außenpolitik lebendigwerden zu lassen. Der Autor verwendet das vonRichard Rosecrance entwickelte Paradigma des„Handelsstaats“ um zu zeigen, wie und warumdie Bundesrepublik trotz gewachsener Hand-lungsspielräume auch nach dem Ende desOst-West-Konflikts ihre Politik der bewusstenSelbstbeschränkung fortsetzte – und warum die„Berliner Republik“ die handelsstaatliche Op-

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tion voraussichtlich auch weiterhin bevorzugenwird.

Wie reagierte die deutsche Außenpolitik aufden fundamentalen Umbruch in den interna-tionalen Beziehungen? Erlag die Bundesrepu-blik der Versuchung, den durch Vereinigungund Ende der Blockkonfrontation vergrößertenHandlungsspielraum für eine nationalistischerePolitik auszunutzen? Oder blieb die „neue“Bundesrepublik sich selber treu und verfolgteeine Politik des Multilateralismus und der Inte-grationsbereitschaft? Diesen Fragen geht Mi-chael Staack, der heute Direktor des Institutsfür Deutschlandstudien an der EuropäischenHumanistischen Universität in Minsk ist,nach. Vier empirische Kapitel bilden den Kerndes Buches. Die ersten beiden Abschnitte stel-len die sicherheitspolitische „Antwort auf Gor-batschow“ sowie den „Weg zur Vereinigung“dar und fassen damit die wichtigsten Elementeder Bonner Außenpolitik vor der Wende1989/91 zusammen. Die nächsten beiden Ka-pitel beschreiben die „neue“ deutsche Europa-politik sowie die „Debatte über Deutschlandssicherheitspolitische Rolle“. Eingeleitet und ab-geschlossen wird die Arbeit von zwei Kapiteln,die theoriegeleitet erklären, was ein Handels-staat ist und warum dieses Konzept so beson-ders erklärungskräftig für die Außenpolitik derBundesrepublik ist.

„Handelsstaat Deutschland“ beschreibtüberzeugend, warum die Grundorientierungendeutscher Außenpolitik in den dramatischenJahren des Umbruchs nicht zur Dispositionstanden, selbst wenn in Teilbereichen eine An-passung an die neuen Rahmenbedingungenstattfand. Trotz aller Meinungsverschiedenhei-ten gerade zwischen dem von Hans-DietrichGenscher geführten Außenministerium unddem konservativen Koalitionspartner über denaußenpolitischen Kurs der Bundesrepublik, be-sonders in der Sicherheitspolitik, wurden dieFundamente handelsstaatlicher Politik von denentscheidenden Akteuren nie in Frage gestellt.In der Darstellung kommen die Eigeninteres-sen der politischen Akteure, zum Beispiel aninternationaler Anerkennung und Mitsprache,sowie gegenläufige Entwicklungen, etwa beimVersagen der Rüstungsexportkontrollpolitik,zwar gelegentlich etwas zu kurz. Insgesamt aberwird schlüssig dargestellt, dass im Untersu-chungszeitraum die Bereitschaft zum Autono-

mieverzicht, der Primat der Wohlfahrtsopti-mierung und der Politikstil der zivilen Diplo-matie den Kern bundesdeutscher Außen- undSicherheitspolitik in den Sachbereichen Sicher-heit, Wohlfahrt und Herrschaft bildeten.

„Handelsstaat Deutschland“ ist zugleich dieGeschichte des Genscherismus, und MichaelStaack verbirgt seine Sympathie für die Politikdes langjährigen Außenministers nicht. Gen-schers Rücktritt 1992 stellt für den Autor einenwichtigen Einschnitt in der deutschen Außen-politik dar und bildet den Schlusspunkt derempirischen Analyse, obwohl die (oft vergebli-chen) Versuche von Klaus Kinkel, den WegGenschers fortzusetzen, noch umrissen werden.

Michael Staack bezieht den Einfluss des ge-sellschaftlichen Umfelds, insbesondere die Poli-tik der damaligen Opposition sowie Einstellun-gen in der Bevölkerung, detailliert in seineAnalyse mit ein. Prägnant werden die Anforde-rungen aus der internationalen Umwelt, beson-ders die Vorstellungen der westlichen Verbün-deten und der Sowjetunion bzw. Russlands be-schrieben. Da sich diese Faktoren nicht gewan-delt haben, geht Staack davon aus, dass sich derRahmen, innerhalb dessen deutsche Außenpo-litik sich bewegt, auch nach dem Regierungs-wechsel nicht verändert. In seinem Schlusska-pitel argumentiert Michael Staack allerdings,dass die Herausforderungen des 21. Jahrhun-derts erneut „die Frage nach der Zukunftsfä-higkeit des handelsstaatlichen Politikmodells“stellen werden.

Zehn Jahre nach der deutschen Vereinigunghat Michael Staack mit „Handelsstaat Deutsch-land“ ein Standardwerk über deutsche Außen-politik am Ende des zwanzigsten Jahrhundertsvorgelegt, dessen sprachliche Eleganz – bei allerDetailtreue – die Lektüre zu einer Freudemacht. Es ist zu hoffen, dass das Buch vor al-lem Studenten als Einführung in die deutscheAußenpolitik dient, denn im Gegensatz zu vie-len theoriegeleiteten politikwissenschaftlichenWerken schafft es Staack, diese entscheidendenJahre deutscher Geschichte noch einmal leben-dig werden zu lassen. Einer breiten Leserschaftdürfte nur der hohe Preis des Buchs entgegen-stehen, der das einzige Manko des Buches ist.Das ändert aber nichts daran, dass „Handels-staat Deutschland“ eines der anregendsten Bü-cher über deutsche Außenpolitik zu Beginn desneuen Jahrhunderts ist.

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