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Sonderdruck aus Nicht im Handel erbältlich Miscellanea Mediaevalia Veröffentlichungen des Thomas-Instituts der Universität zu Köln Herausgegeben von Albert Zimmermann Band 22 Scientia und ars im Hoch- und Spätmittelalter Herausgegeben von Ingrid Craemer-Ruegenberg und Andreas Speer Für den Druck besorgt von Andreas Speer Walter dc Gruyter " Berlin " New York 1994

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Sonderdruck aus Nicht im Handel erbältlich

Miscellanea Mediaevalia Veröffentlichungen des Thomas-Instituts

der Universität zu Köln

Herausgegeben von Albert Zimmermann

Band 22

Scientia und ars im Hoch- und Spätmittelalter

Herausgegeben von Ingrid Craemer-Ruegenberg

und Andreas Speer Für den Druck besorgt von Andreas Speer

Walter dc Gruyter " Berlin " New York 1994

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Canonica sapiencia und civilis sciencia: Die Nutzung des aristotelischen Wissenschaftsbegriffs

durch den Kanonisten Johannes von Legnano (1320-1383) im Kampf der Disziplinen

HELMUT G. WALTHER (Jena)

I.

Weder von ihrer Ausbildung noch von ihrer Methodik her erscheinen mittelalterliche gelehrte Juristen besonders dafür prädestiniert zu sein, Fachprobleme durch Träume lösen zu können und zu wollen'. Dennoch

glaubte der Bologneser Doktor beider Rechte Johannes von Legnano

einem Traum, den er in der Samstag-Nacht des 14. Februar 1372 gehabt hatte, so große Bedeutung zusprechen zu müssen, daß er ihn schon am 10. März in Traktatform brachte.

Das dabei Ausgeführte erschien Johannes auch so gewichtig, daß er es in den Sammelcodex seiner kirchenpolitischen Traktate aufnehmen ließ, den er im November 1376 bei dem berufsmäßigen Schreiber Andreas in Bologna in Auftrag gab und für den er zugleich den als Illuminator

renommierten Nikolaus von Bologna mit einer den Codex am Beginn

schmückenden Buchmalerei von insgesamt dreieinhalb Seiten und mit der Ausführung der kostbaren Initialen beauftragte.

Die vier Miniaturen am Beginn des Codex setzten dabei die Thematik des einleitenden Traktates um. In �De adventu Christi" behandelt Johannes

von Legnano die vorchristlichen Kenntnisse und Wissenschaften. In seinen Bildern stellt Nikolaus von Bologna sowohl die Stationen des Lebens Christi wie unter Bezug auf die entsprechenden Traktatteile markante Persönlichkeiten der vorchristlichen Zeit dar, deren Beitrag zum dann

So spielen Träume von Juristen auch in dem jüngsten interdisziplinir angelegten Sam-

melband kaum eine Rolle: A. Paravicini Bagliani/G. Stabile (Edd. ), Triume im Mittelalter, Ikonologische Studien, Stuttgart 1989; St. F. Kruger, Dreams in the Middle Ages, Cambridge 1992 (= Cambridge Studies in Mrd. Lit. 14). (noch nicht gesehen). - Anregung eines juristischen Traktates durch einen Traum Bartolos von Sassofcrrato: Cf. H. G. Walthc , Wasser in Stadt und Contado, Pcrugias Sorge um Wasser und der Mußtraktat Tyberiadis" des Pcrusincr Juristen Bartolus von Sassoferrato, in: Mensch

und Natur im Mittelalte, Berlin-New York 1992,882-897 (= Miscellanea Mcdiaevalia 21/2).

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vom Christentum rezipierten Stand antiker Wissenschaft auf tituli genannt wird. Auch Johannes von Legnano selbst greift in diesem Traktat zu bildnerischen Darstellungsform des Diagramms (fo. 33r-37v), um Ab- hängigkeitcn und Beziehungen der verschiedenen Wissensformen darzu- legen. Der ganze Prachtcodex mit insgesamt 12 Traktaten des Johannes war als Dedikationsexemplar für Papst Gregor Xl. bestimmt und befindet

sich auch seit 1376 kontinuierlich im Besitz der päpstlichen Bibliothek'. Johannes von Legnano stand 1376 bereits seit längerem in besten

Beziehungen zur päpstlichen Kurie. Als Abkömmling der gräflichen Fa- milie der Oldrendi aus dem Mailändischen Contado war er seit 1351 in Bologna als Lehrer des kanonischen Rechts tätig und bald einer der höchstbesoldeten Rechtslehrer der Kommune. Durch die Eheschließung mit der Enkelin Novella des 1348 verstorbenen Kanonisten Johannes Andreae hatte er in diese berühmte Bologneser Juristenfamilie eingehei- ratet. Heute sind zumindest Reste seines kostspieligen Mausoleums erhal- ten, das einst für ihn in der Kirche San Domenico errichtet wurde. Das Grabmal des Johannes von Legnano orientierte sich zweifellos an demje- nigen seines Schwiegergroßvaters Johannes Andreae und zeigt im erhal- tenen Zentralteil eine der schönsten Darstellungen mittelalterlichen Rechts- unterrichts.

Schon der Katalog der Opera verweist wie der besondere Aufwand bei der Grablege darauf, daß die politischen Aktivitäten Legnanos seine Tä-

tigkeit als Rechtslehrer und Exeget überwogen. Seine Tätigkeit als Politiker überstieg bei weitem das, was die Bologneser Kommune ohnehin an Engagement von ihren besoldeten Rechtslehrern erwartete. Schon 1350

war Legnano bei der Machtübernahme Giovanni Viscontis als Signore der Stadt als Mitglied in den Ausschuß aufgenommen worden, der sich um die Repatriierung der zuvor verbannten Bologneser Parteigänger der Vis-

conti kümmern sollte'.

= Cod. Vat. lat. 2639: Cf. A Catalogue of Canon and Roman Law Manuscripts in the Vatian Library, cdd. St. Kuttncr/R. filze, 11 (Cod. vat. lat. 2300-2746), Citta del Vatiano 1987,206-210 (= Studi c Tcsti 328). Eine ausführliche Untersuchung zu den Miniaturen ist demnächst von Andrea von Hülsen (Göttingen) zu erwarten.

s Biographic F. Bosdari, Giovanni da Legnano anonista c uomo dal 1300, in: Atti e memorie Storia Patria Romagna 18 (1901), 1-137; Vita e operc di Giovanni da Legnano, edd. E. Gianazza c G. d'llario, Legnano 1983; M. C. De Matteis, Profilo di Giovanni da Legnano, in: LUniversiti a Bologna, Pcrsonaggi, momenti c luoghi dalle origini at XIV secolo, cd. 0. Capitani, Bologna 1987,157-171. - Reste der Area Legnanos von Jacobello und Pier Paolo dallc Mascgnc heute im Musco Civico in Bologna: Abb. bei Bosdari, 81; De Matteis, 33,117 u. 163; der Miniaturist Nikolaus von Bologna auch 1353 als Illuminator des postumen Dedikationsezcmplars von Johannes Andreaes

�No- vella Commcntaria in quinquc libros Dccretalium" in Cod. Vat. lat. 1456. Politische Aktivität: Bosdari u. Dc Matteis, Pass. - Generell zur Einbeziehung der Bologneser Juristen in die Kommune: H. G. Walther, Die Anfänge des Rechtsstudiums

und die kommunale Welt in Italien im Hochmittelalter, in: Schulen und Studium im

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da er die Bedingungen für diesen Posten ideal erfüllte: �Qtti sit Zelator status ecclesiae et donniuii uostri ei gralus popurlo Bononiae«'7.

In jene Zeit der ersten Pontifikatsperiode Gregors Xl. nach 1370 datiert also der Traum des Johannes von Legnano: Mit Johannes war damals seit 1359 außergewöhnlichcrweise ein Kirchenrechtler der höchstbezahlte Uni- versitätslehrer Bolognas. Legnano hatte als äußeres Zeichen der kaiserli- chen Gnade 1368 den Pfalzgrafentitel verliehen bekommen; aber noch stand die Übernahme der neuen politischen Funktion als päpstlicher Vikar Bolognas bevor. Gewissermaßen als Dank für diese Ernennung dedizierte Legnano dann dem Papst eine Sammlung seiner kirchenpolitischen Trak- tate und überarbeitete dafür auch seinen Traum von 1372 zu einem ausführlichen Traktat, der nun ausdrücklich auf Papst Gregor XI. Bezug nimmt".

Der neue Traumtraktat muß auch außerhalb der Dedikationsfassung recht schnell Verbreitung gefunden haben, nicht nur in Bologna selbst, sondern auch im Kreise der gelehrten Kurialen in Avignon und dann in Rom wie auch im Umkreis von Universität und Königshof in Paris. Denn der bekannte Traktat über die beiden Gewalten in Dialogform

�Somnium viridarii" von 1375 und seine wenig spätere volkssprachliche Umsetzung als �Songe

du Verger" beruhen zu einem guten Teil auf Lcgnanos �Som-

nium". Auf alle drei Repräsentantenkreise zielte Legnano auch mit seiner Traumerzählung und ihrer nachfolgenden scholastischen Deutung, da er der Mißachtung der wissenschaftlichen Leistung der Juristen damit ent- gegentreten und zugleich die Nützlichkeit ihrer Tätigkeit beweisen wollte9.

II.

Johannes von Legnano war sich durchaus bewußt, daß Traumbildern im wissenschaftlichen Sinne keine Beweiskraft zukam. Aber für zusätzliche Bekräftigungen des \VVahrheitsgehaltes des zuvor durch ratio Dargelegten konnten sie durchaus herangezogen werden. In diesem Sinne beginnt Legnano seinen Traumtraktat mit Verweisen auf die heilsgeschichtlich so

Unterwerfungsvcrtrag Bolognas vom 4. Juli 1377: Druck bei Bosdari (wie Anm. 3), Nr. XIII, 102-108 (Zitat 105). Besoldung- Bosdari (wie Anm. 3), 22 mit Anm. 1,29; De Mattcis (wie Anm. 3), 158; - Ernennung zuht Lateran. Pfalzgrafcn, 24. Aug. 1368: Bosdari Nr. IX, 94 sqq.; päpstl. Privileg über Einkünfte aus dem päpstl. Kettenzoll am Po bei Ferrara, 24. Apr. 1370: Cod. diplomaticus dominii tcmporalis S. Sedis, cd. A. Theiner, II, Rom 1862, no. 474 (472). Wirkungsgeschichte in Frankreich: G. W Coopland, An unpublished work of John of Legnano, the �Somnium" of 1372, in: Nuovi studi medievali 2 (1925), 65-88, sp. 84- 87; M. Lii vre, Les sources de Somnium Viridarii, in: Romania 81 (1960), 483-491; zuletzt F. ChitillonJM. Schncrb-Lievre, Somnium viridarii, in: Revue du Mayen Age Latin 22 (1966, crsch. 1976).

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Capita lapicncia und cirilis sticncia 867

bedeutsamen alttestamentlichen Träume Josephs, indem er mit den For-

mulierungen aus Gen 37,6 und 9 einsetzt: �Audite sompnirrm meum per quod vidi solem ei stellar. " Zugleich verweist er aber auch auf den für die

zeitgenössische Traumtheorie entscheidenden Auslöser seines Traums,

nämlich die ausführliche vorausgehende Diskussion Legnanos mit dem

päpstlichen Vikar für Bologna, dem Kardinal Peter (d'Estaing) von Santa Maria in Trastevere. Beide hatten am Abend noch über die gegenwärtigen Tendenzen unter Gelehrten gesprochen, die leges zu mißachten, auch über die gegenseitigen Beziehungen zwischen zivilrechtlicher und kanonisti-

scher . rapiencia10. Im anschließenden nächtlichen Traum seien Johannes dann fünf strah-

lende Sterne auf dem Thron der Majestät erschienen; zwei von ihnen seien oben auf dem Diadem plaziert gewesen und hätten alle anderen überstrahlt: superior. rapiencia und sciencia. Auf der Brust der maiestas erstrahlte intellectus,

rechts daneben prudenria, links aber die art. Neben der maiestas seien zwei Königinnen gestanden: rechts die canonica sapiencia im Gewand des Kleri- kers, links im weltlichen Gewand die civilis sciencia.

Aber beiden Königinnen sei verwehrt worden, ihre Strahlkraft derje-

nigen der genannten fünf Sterne zuzugesellen. Religiosi aus verschiedenen Orden hätten die beiden Königinnen an ihrem Vorhaben gehindert und seien dabei von einer arroganten Menge von arlistae unterstützt worden. \Veinend hätten sich die beiden Königinnen daraufhin an Papst Gregor XI. gewandt, der also im Traumbild den Thron der Majestät einnehmend präsentiert wird, und hätten sich über die Angriffe beklagt, der sie sich von Seiten der artistae, mendicanti und medici und anderer ausgesetzt sähen. Man verweigere ihnen den gebührenden Platz, indem man erkläre, sie seien weder art noch sciencia. Gregor XI. beruhigte zunächst die beiden Königinnen damit, sie sollten sich nicht zu sehr um das Gerede dieser pseudo-artistae kümmern". Der Papst zitiert Gewährsmänner unter den Kirchenvätern und antiken Philosophen für diese Ansicht und sichert den beiden Vertreterinnen der Jurisprudenz sein volles Vertrauen zu: �Est enim doc/rinae vestrae, quad suum esi unicuigue reddere serrato tamen vesiro docirinale tramile. " Drei Kardinäle, sodann der hl. Bernhard von Clairvaux und auch ein früherer Papst (antisles reiustissimus, Gregor d. Gr.? ) warnen als Zeugen vor Prälaten und Theologiedoktoren, die ihre Stellung mißbrauchten. 36 frühere Doktoren des Rechts ergänzen diese vehemente Kirchenkritik. Am Schluß erklärt sich nun auch Johannes von Lcgnano bereit, die Aufgabe zu übernehmen, die beiden Königinnen zu verteidigen und damit den Rechtswisscnschaften den ihnen angemessenen Platz argumentativ zu sichern 12.

10 Vat. lat. 2639, fo. 247n. Ibid., 248th.

': Ibid., 247v-248va.

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868 llclmut G. \X'althcr

Mit dieser Aufgabenstellung endet die Traumdarstellung; denn Johannes

von Legnano will sich des scholastischen Instrumentariums bedienen, um sein Beweisziel in drei Schritten zu erreichen:

1. Er will beweisen, daß der aus Dekretalen- und Zivilrecht gewonnene babiltrs eine echte Wissenschaft darstelle, ja sapieucia und prudenlcia sei.

2. Anschließend will er das Verhältnis beider Rechte zueinander bestim- men, sodann

3. den Inhalt beider Rechte kennzeichnen und 4. den Rangunterschied der beiden habitus von sapiencia und prudencia

untersuchen 13.

I11.

Schon das einleitende Traumbild Legnanos verriet, welchen \Vcg der Jurist in seiner Beweisführung für den angemessenen hielt und dann auch einzuschlagen bereit war. Die Aufzählung der fünf intellektuellen virtrdes von ar:, prudencia, intellectus, sciencia und sapiencia war natürlich dem 6. Buch der Nikomachischen Ethik entnommen".

Das Traumbild artikuliert Bestrebungen der Artisten, mendikantischer Theologen und Mediziner, den Juristen den Zutritt zu den als Stellvertreter auf dem Thron der göttlichen Majestas auf Erden amtierenden Päpsten zu verwehren, indem sie ihrem babitus die Anerkennung als echte Wissenschaft versagten und dieses Urteil mit der aristotelischen Wissenschaftslehre begründeten, für die sie selbst das Interpretationsmonopol beanspruchten.

Auch wenn das Traumbild selbst und die Adressierung des Traktates die Verhältnisse der päpstlichen Kurie in Avignon anvisieren, ist offen- sichtlich der Auslöser des ganzen in Traumform gekleideten Konfliktes die damalige Bologneser Universitätssituation. Dort war erst nach der Unterwerfung der Kommune unter die päpstliche Herrschaft von 1360 ein eigenes theologisches Studium von Papst Urban V. privilegiert und 1364

eingerichtet worden. Dieses theologische Studium wurde zunächst allein von ordenstheologischen Magistern geleitet (davon acht aus den inkor-

porierten Bologneser Generalstudien von vier Mendikantenordcn). Der Augustinercremit Hugolin von Orvieto versuchte sogar, seine spezielle, durch Kontroversen mit Pariser Gegnern geformte theologische Ausrich-

13 Ibid., 248va. - Nur Legnanos Ausführungen zu den Punkten 1 und 4 sollen hier dargestellt und untersucht werden.

" G. N. Donovan/M1. H. Kecn, The �Somnium" of john of Legnano, in: Traditio 37

(1981). 325-345, sp. 328. - Zum Hintergrund der Wissenschaftseinteilung und der Rollcnzuweisung an die pbrlaropbia az4rc4r in der Phase der Aristoteles-Rezeption des 13. Jhs. cf. F. Dertelloni, Die Rolle der Natur in den

�Commentaria in Libros Politicorum

Atistotclis" des Albcrtus Magnus, in: Mensch u. Natur (wie Anm. 1), 682-700.

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Gänarita rapitrtia und tirilis Jtitntia 869

tung über die von ihm redigierten Statuten des neuen Bologncser theo- logischen Studiums für alle Schulen verbindlich zu machen".

Aber prinzipiell unterschied sich das Verhältnis von Theologen und Juristen an der Pariser Universität nicht von den Bologneser Verhältnissen. In Paris, so bemerkt Johannes von Legnano bitter, würden die Kanonisten sogar als arini bezeichnet, bloß weil sie sich in ihrem Fach nicht der aristotelischen \\Vissenschaftslchre bedienten".

Solchen unqualifizierten Angriffen glaubt Legnano entgegentreten zu können, da er als Kenner dieser \\Visscnschaftslchre - und das war eben für einen Juristen ungewöhnlich - diese Vorwürfe als völlig haltlos entkräften zu können glaubte.

Bereits 1364 - also wohl kaum zufällig im Jahr der Integration der mendikantischen Studien als theologische Generalstudien in die Bologneser Universitäten - war Johannes von Lcgnano von seinen Kollegen und Studenten der Rechtsuniversitäten in der Kommune gebeten worden, die Moralphilosophie des Aristoteles, also den Teil, in dem in der traditionellen Wissenschaftslehre die Tätigkeit der Juristen angesiedelt wurde, aus der besonderen Terminologie des Stagiriten und der Artisten in die der Ka- nonistik zu übertragen und zu erläutern. Legnano erfüllte diese Bitte mit seinem Traktat �De pace"".

1372 wollte dann der Doktor der beiden Rechte in seinem Traumtraktat sich nicht bloß in Gegenpolemik gegen die pseudaarlirli, mendicanti e1 medici

'S Cf. H. Rashdall, The Universities of Europe in the Middle Ages, edd. F. M. Powicke! A. B. Emden, 1, Oxford 1936,250sgq. (Theologie in Bologna); f? Ehrle, I piu antichi satuti dclla facolti teologics dcll'Universiti di Bologna, Bologna 1932 (Rolle der Men- dikanten, insbes. Hugolins v. Orvicto). - Zu Hugolin cf. W. Eckermann/B. U. Rucker (Edd. ). lfugolin von Orvieto, ein spitmittelalterlichcr Augustinertheologe in seiner Zeit, Cloppenburg 1992 (= Vechacr Univ: Slur. 9); darin Ni. Schulze, Hugolin von Orvieto

gegen Gregor von Rimini im Streit um den Standort der Theologie, 55-70 (zur Polemik

gegen den Wissenschaftsdurakter der Philosophie, aiarara Ja[sorrmr). 16 Cod. Vat. lat. 2639, fo. 253ra. - Zu den vorausgehenden Angriffen gegen den Wissen-

schaftscharakter der Rechtslehre in Paris, die ihrerseits durch die harsche Theologenkritik des damaligen Kurienkardinals Benedikt Gaetani 1290 auf der Pariser Synode ausgelöst wurde: li. Finke, Aus den Tagen Bonifaz VIII., runde und Forschungen, Münster i. W. 1902,9sqq. u. 111-VII (Tested. ); M. Grabmann, Die Erörterung der Frage, ob die Kirche besser durch einen guten Juristen oder durch einen Theologen regiert werde, bei Gottfried von Fontaines (t nach 1306) und Augustinus Triumphus von Ancona (t 1328), in: Festschr. E. Fachmann z 70. Geb., Paderborn 1940,1-19; St. Kuttncr, Harmony from Disonance, [strobe (Pa. ), 1960 (c. V); J. A. Long,

"Utrum iurista vel theologus

plus proficiat ad regimen ecclesie", a quaestio disputaa of Francis Caraccioli, edition and study, in: Mediaeval Studies 30 (1968), 134-162; G. Le Uras, Vclut splendor ftrmamenti": le doaeur dann le droit de I'cglise ntcdicvalc, in. Melanges affctts i Etienne Gilson, Toronto/[iris 1959,373-378.

" Cf. H. G. Walther, Verbis Aristotdis non uar, quia ca iurisae non sapercnt", legistische und aristotelische ilemchaftstheorie bei iartolus und Baldus, in: Das Publikum politi- scher Theorie im 14. Jahrhundert, München 1992,111-126, sp. 111 sqq. (= Schrr. Histor. Kolleg, Kolloquien 21).

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870 ffdmut G. \Calthcr

erschöpfen, sondern ganz aristotclisicrend mit Hilfe der habitus-Lehre den Gegnern beweisen, daß Kanonisten und Legisten auch nach dieser Lehre ein Platz unter den Wissenschaften zukomme. Legnano stellte sich dabei selbst die Aufgabe, die Abqualifikation der Tätigkeit der Juristen zu einer bloßen rogricio zu widerlegen, indem er sie in der aristotclischen habitur-Hierarchie nicht nur auf die Stufe von arg und prudrrcia erhob, sondern für die Kanonistik den Nachweis zu führen "ersuchte, es handle sich bei ihr um eine sapiencia, bei der Legistik aber zumindest um eine scicrria. Von der Terminologie her beanspruchte Leg- nano damit für die Kanonistik Gleichrangigkeit mit der Theologie.

58 mögliche Gegenargumente versammelt Johannes zunächst, mit denen die Gegner der Juristen deren babiGu auf den Status einer cogricio fabularis herabdrücken

wollten, die deshalb eben nicht dem ordo der habitus intellec- tualeszugereehnet

werden können. Denn der habitus der Juristen gehe auf Gesetze zurück, die von Menschen gemacht seien, während für sapiencia,

sciercia und intellurtut aber auch für prudtncia gelte, daß sie sich auf Uni- verahen bezögen und gründeten tg.

Der babitus der Kanonisten und Legisten sei keine sciencia, da durch die sich stets verändernde Gesetzgebung nicht klar zwischen Möglichem, Unmöglichem

und Notwendigem geschieden werden könne, wie das Ari- stoteles in der Nikomachischen Ethik und in den Analytica posteriora als Kriterium für eine Wissenschaft angefordert habe. Der habitus der Juristen sei nach Meinung der Gegner aber auch nicht als intellectus (der aristote- lische

rous) einzustufen, da die Gesetze und Dekretalen nicht auf erste Prinzipien zurückgeführt werden könnten, sondern vom menschlichen Villen bestimmt

würden. Der babitus entspreche zum dritten aber auch nicht dem aristotclisclir-n Kriterium für sapient/a, a nicht einmal demjenigen für pruderaa, da bei le: gu und Dekrctalen eben der Wille des Gesetzgebers entscheide, nicht aber die experiertia, in der sich Universales und Parti- kulares

verbinden. Nach Meinung der Gegner sei der habitus der Juristen nicht einmal eine art, da er bloße artio erzeuge, nicht aber dem dafür geforderten

aristotelischen Kriterium der fartio genüge19. Angesichts solcher Argumentation der Gegner verzichtet Johannes von Legnano bewußt auf die Gewinnung von Gegenargumenten aus klassi-

schen juristischen Texten. Er merkt an, daß ihm beim Zitieren von `Aussagen von Juristen über die eigene Wissenschaft sofort entgegenge- halten

würde, dies seien keine beweiskräftigen textus fanriliares prodiucti de d0j' oJJ771te" Seinen Gegenbeweis tritt Johannes von Legnano vielmehr

ýe Cod. \'14 64 2639. fo. 249r. e' Ibid.. to. 24Sra.

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Cczcrira r. rpirrria und tirili: srünria 871

damit an, �utendo et lermir pb)"losopborum, tat propriis codicibrrr confudantur aituperanlet el rilificanlet bunt babituma20

Legnano teilt die rirtules morakt zunächst nach ihrem Universalien- und Partikularienbezug in zwei Gruppen ein, trennt also rapienria, rciencia und

mtelleclus als Gruppe von prudenria und art. Für rapienria sei die Befassung mit allgemeinen Prinzipien kennzeich- nend, die entweder per Syllogismus bewiesen würden oder als natürliche aus sich selbst heraus verständlich seien. Die ockhamistische Position wird nur kurz referierend erwähnt. Nun kann Legnano die Kanonistik sogar als sap It/Ida perfectitsima gelten, da sie durch Offenbarung am Göttlichen teilhabe; denn dies sei Teil ihrer Aufgabe, über den katholischen Glauben zu unterrichten. Ihre besondere Tätigkeit bei der Konfliktlösung unter Menschen

sichere ihr eine eigenständige Aufgabe für die Gewinnung des ewigen Heils.

Dir- Kanonistik sei aber auch rapienria ut rciencia, indem sie dafür sorge, daß die rrirncia prinripiorum über den Weg des Verstehens (intellertut) auf Partikularien

angewandt werde. Unverkennbar ist hier die Absicht Leg- nanos, seiner Disziplin Kanonistik die Gleichrangigkeit mit der Theologie zu sichern. Die Fixierung auf dieses Beweisziel läßt den Argumentations- gang Legnanos

an dieser Stelle etwas arg gezwungen und keinesfalls stringent erscheinen21. Dagegen hat er weniger Mühe, Logistik und Kanonistik den Rang einer bloßen

rcrenria zu sichern. Nach Aristoteles sei wissenschaftliche Kenntnis mehr spekulativ als praktisch. Obwohl sich Gesetze nur mit kontingenten Dingen beschäftigten,

sei der babitus der Legisten eine wahre rciencia, da er die Partikulargesctze

unter allgemeinen Prinzipien subsumiere, so wie die rriencia moralfit die Unbestimmtheit= menschlichen Verhaltens unter Prinzipien

moralischer Existenz ordne. Auch wenn sämtliche positiven Gesetze beseitigt

würden, bliebe doch eine Rechtswissenschaft bestehen, da die Prinzipien,

auf denen das Recht beruhe, universal und ewig seien. Kein Fürst könne die menschlichen Fähigkeiten, diese Prinzipien zu er- fassen, abscilaffenn.

Ibid. fo. 249vb; 250ra. Damit unterscheidet sich Lcgnano von seinem Vorbild Bartolus von Sassofcrnto, der in seinem Traktat �De tcstimoniis° ebenfalls mit Hilfe der aristo- tei'schen Wi5senschaftslchre aus dem 6. Buch der Nikomachischen Ethik dem babitxt der gelehrten Juristen den Rang von frpirrtia, rtrrrtia, irttlkrtrf (bei Bartolus rote!!: Bentia), pr"`'rrria

und err zusprechen wollta Dabei bediente sich Bartolus in seinem Beweisver- fahren

nur der All tionsme hole aus dem Corpus luris Civilis: Bartolus, Tractatus de atitt, ontis, in: Bar olus dc Sa: ofernto, Consilia. Quaestiones, Tractatus, Venedig 1585,

fo. 158-1641.. dazu D. Scgoloni, As ti dcl pcnsicro giuridico c politico di Bartolo da Sassaoferrato

164-. dazu 11 Diritio

cc La tradizione giuridica europca, Perugia 1980,

353-414. sp. 395-415; dentnichst auch ausführlich in meiner Monografie �Bartolus,

a' Pcmgu

und die Geschichte Ibid. zt lbid., ef DonacanfKeat (wie Anm. 14), 331.

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872 Hclmut G. \\ältlur

In ähnlicher \Veise bemüht sich Lcgnano, in einem nächsten Schritt zu zeigen, daß die *latigkeit der Juristen auch den Kriterien für eine T<dtigkeit des iuhllectus entspricht. In gleicher Weise entspreche der bnbitus der Juristen auch den auf die Praxis ausgerichteten prudeucia und aus. Den meisten Raum gewährt Johannes von Legnano in seinen Ausführungen der Lehre von der prudeucia73. Er greift dabei auf die Unterscheidung von prudeucia nuoeastica,

_ycassomia und politica zurück, die in der moralphiloso-

phischen Diskussion der Artisten des 13. Jahrhunderts eine so große Rolle gespielt hatte'Prudenria,

die zum Guten führe, habe unter den handlungsbezogenen "Hutes die gleiche Rolle inne wie die Metaphysik unter den theoretischen. Johannes sucht an diesem Punkt besonders die Auseinandersetzung mit den Lehren der Pariser Artisten. Denn von diesen werde behauptet, daß die Kanonisten wegen ihrer Unbeholfenheit in wissenschaftstheoretischen Dingen Esel genannt werden müßten'. Johannes pointiert geschickt seine Verteidigung gegen solche Anwürfe: Es waren ja gerade die Artisten

gewesen, die im 13. Jahrhundert die Tradition begründet hatten, die moralis pbi/osopbia der Nikomachischen Ethik des Aristoteles in eibica (monartica),

oeconomia und politica zu untergliedern. Dabei setzte diese artistische Wis-

senschaftssehematik die Politik einfach mit den leges und decreta gleich. Erst nach der Rezeption der aristotelischen Politik galt dann für die

\Vissenschaftssehematik �politica est plus quarr legirporitiva. " Damit war die

Diskussion zur Begründung einer eigenen scientia civi/is eröffnet? '.

Johannes von Legnano bemüht sich in seiner Argumentation, diese

ältere Tradition für seinen Beweiszweck nutzbar zu machen. Er greift

zusätzlich die aristotelische Diskussion über eubu/ia und acubss/ia, ynesis und t9guome, prudencia simplex und prudencia secumdum quid auf und versucht damit

nachzuweisen, daß die beiden Rechte vollkommen den Anforderungen der

prudencia als eines Wegs zum Guten entsprächen27. Während das Kirchen-

recht als Ziel die felicitas caelestis habe, setze sich das weltliche Recht die

zs Ibid., fo. Z54vsgq. (inielkrtat); 251rsgq. (prudentia); 256vsgq. (art). Auch in der Betonung der Funktion des bvbitur der Juristen als prudentia (furitprudenZl) folgt Legnano seinem Vorbild Uartolus, für den sich der magnut iuritta dadurch auszeichnet, daß er , per practicam pracadenkm babilum fearit ad apla'da, mirerialra partirularibut et bar recta ratione", cf. Bartolus, De tcstimoniis (wie Anm. 20), fo. 161vb.

" Bertdloni (wie Anm. 14), pass. Cod. Vat. lat. 2639, fo. 253ra. Bertetloni (wie Anm. 14), pass. Der Humanist fries Silvio erklärte in seinem Beitrag zum Wiener Quodlibet vom 25. Now. 1445 zur Frage

�Utrum prudentia tit idem babituu tunt tdentia morali tradita in libro Etbirorum, Politirorum, lronomi arum ei in libros canonum ei Ggwn°, daß weder die Moralphilosophen noch die iuritperlil den habitat der prudentia besiß-. * ,,.

fti'enlia enrm talon tntelliglt, quid ett bosom, prudentia trro, potlquam 'Quit, etiam optratur". Dazu zuletzt G. Irisch, Enea Silvio und die Jurisprudenz, Basel 1967,51 sqq. (jedoch ohne Bezug auf die lange mittelalterliche Tradition der Streitfrage).

r. Cod. Vat. lat. 2639, fo. 252vsqq.

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Caronira sapirnria und ririlis srirnria 873

Erreichung der irdischen Glückseligkeit als Aufgabe, die aber indirekt auf den nämlichen Endzweck ziele. Alit der Leitung menschlicher Handlungen auf den Pfad der Tugend, der Anleitung zum Leben im Frieden, der Bestrafung von Verbrechen und der Beilegung von Konflikten sowie der Suche nach dem öffentlichen Guten stellten die sacri virtutes intellectua/es eine perfekte Erfüllung der geforderten virtutes der prudencia dar. Eine ars sei dieser habitru freilich nur in dem Sinn, daß das ius civile arcbitectonice alle spezifischen artet normiere und regele.

Freilich begnügt sich Legnano noch nicht mit diesen Feststellungen. Ihm kommt es zum Schluß seiner Beweisführung darauf an, zu zeigen, daß die Rolle der tapiencia, die zumindest der Kanonistik zukomme, eine ranghöhere sei als die einer einfachen prudencia'.

Iv.

Mit dieser Rangerörterung leitet Legnano zum zweiten Teil seines Traktates über, in dem er das Verhältnis der beiden Rechte zueinander erörtern will. Indem er dabei den Vorrang des kanonischen Rechtes hervorhebt, präfiguriert er schon den folgenden Abschnitt über das Ver- hältnis zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt30.

Aber nicht diese Version vergleichbarer zahlreicher Abhandlungen über die Zwei-Gewalten-Lehre im 14. Jahrhundert, in der der doctor utriusque iuris charakteristischerweise eine Trennung des weltlichen vom geistlichen Rechts leugnet, sondern die Argumentationsweise des Johannes von Leg-

nano mit Hilfe des aristotelischen Begriffsvokabulars ist das Bemerkens-

werte dieses Traktates. Johannes stellt damit eine der wenigen Ausnahmen

unter den Juristen des 14. und 15. Jahrhunderts dar, die sich auf das Experiment einlassen, die aristotelische Terminologie für juristische Er- örterungen in politischen Traktaten zu verwenden31.

Im Lehrbetrieb an den Universitäten war diese Terminologie unge- bräuchlich und auch völlig unnötig. In der späteren Praxis der hier ausgebildeten Juristen war eine Kenntnis der aristotelischen Philosophie unnötig, ja vielleicht sogar hinderlich. Auf alle Fälle empfanden Juristen keine methodologische Notwendigkeit, sich mit dem so andersartigen Begriffsapparat und mit der fremden Wissenschaft der Artisten und Theo-

Ibid., fo. 257v. Ibid., fo. 258rsq. Ibid., fo. 259r-271v. - Dieser Traktatteil umfaßt zunächst (bis fo. 261va) einen hier inserierten älteren Traktat Legnanos,

�De principatu". Cf. Ermini, Un ignoto trattato Dc principatu", di Giovanni da Legnano, in: Ermini, Scritti (wie Anm. 5), 623-648

(Ed. ); Korrekturen u. Ergänzungen bei D. Tiaffei, La donazione di Costantino nei giuristi medievali, Milano 1964 (Rcpr. 1969), 125sgq.

't Walther, Verbis (wie Anm. 17), 111 sqq.

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874 Helmut G. Walther

logen auseinanderzusetzen. Renommierte juristische Universitätslehrer mochten Unbehagen angesichts der herablassenden bis offen despektier- lichen Titulierung ihrer Tätigkeit durch Philosophen und mendikantische Theologen empfinden, ja über die Qualifizierung als asini offen empört sein; ihrer überragenden sozialen Stellung im politischen Gefüge der italienischen Kommunen, ihrem Prestige als Fachleute und der starken Nachfrage nach ihren Consilia an den Höfen tat dies keinen Abbruch.

Dennoch gab es eben einzelne unter ihnen, die solche Angriffe aus anderen Disziplinen nicht einfach als neidgesteuert abtaten, sondern sich von den vorgetragenen Argumenten herausgefordert fühlten und sich aus wissenschaftstheoretischem Interesse selbst der aristotelischen Philosophie zuwandten. Dabei fühlten sich weder Kanonisten noch Legisten durch die seit dem letzten Drittel des 13. Jahrhunderts völlig auf aristotelische Basis gestellte Wissenschaft der Artisten in ihrer Lehre und Praxis prinzipiell beeinträchtigt.

Es war vielmehr eine gesellschaftliche Herausforderung, die einzelne unter den juristischen Doktoren zu einer Zuwendung und zum Eindringen in die aristotelische Philosophie brachte. Der Peruginer Jurist Bartolus

von Sassoferrato wollte mit der Heranziehung der Verfassungslehre aus der

�Politik" des Stagiriten seine Kollegen und die indices und juristischen

Doktoren in den italienischen Kommunen zum Widerstand gegen die sich

verbreitende neue Verfassungsform der Signorie anspornen. Sein Schüler

Baldus de Ubaldis, ein in ganz Europa gesuchter Rechtsgutachter, benutzte

die aristotelische Terminologie, um seine juristischen Lösungen an den

Höfen als den Adressaten plausibel zu machen. Er gab den vorgeschla-

genen praktischen Lösungen damit ein philosophisches Fundament, ohne daß ihm seine Schüler auf diesem neuartigen Wege folgten. Die Zeitge-

nossen wie die späteren Juristen sprachen nur hochachtungsvoll (oder

vielleicht selbst etwas herablassend? ) von �Baldur pbilosophus"32. Johannes von Legnano hatte sich offensichtlich aus eigenem Antrieb

mit der aristotelischen Philosophie beschäftigt. Als stark von Bartolus beeinflußter Legist schrieb er sogar einen Kommentar zu den beiden ersten Büchern der

�Politik" des Stagiriten33. In seine juristische Lehre brachte

er den Aristotelismus erst auf Anregung und nach Anstoß von außen ein. 1364 bekamen die bislang allein von Rechtsstudenten geprägten Bologneser Universitäten (die Studien der arr rotaria und der Medizin standen unter Kontrolle der juristischen unir'ersitales) nun plötzlich ein neues theologi- sches Studium hinzu, dessen Lehrer und Studenten aus den Mendikanten-

orden aristotelisch geprägt oder wie der Aristotelesfeindliche Hugolin von

Ibid., 122sgq.

�Grculus politicorum": Venedig, Bibl. Marclana Class. IX Cod. 58, fo. 117r-130v, u. Valencia, Kathedralbibliothek, Ms. 45, XV (die Hs. enthält auch den

�Somnium"); cf. McCall (dc Anm. 5), 425.

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Carorita sapitntia und tirilit scitntia 875

Orvieto doch durch die aristotelische Terminologie geprägt waren. Das Verhältnis zwischen den Bologneser Artisten und Theologen auf der einen und den dortigen Juristen auf der anderen Seite war offensichtlich von Anfang an nicht konfliktfrei. Despektierliches bis hämisches Gerede über das wissenschaftliche Niveau der Legisten und Kanonisten gehörte wohl zum täglichen Umgangston 34.

Johannes von Legnano, bei der Kommune Bolognas in hohem Ansehen, vom Kaiser geehrt, von der päpstlichen Kurie privilegiert und dort als Ratgeber gesucht, wußte sich gegen solche Angriffe auf den Wert des juristischen Metiers zu wehren. Mit seinem �Somnium" von 1372 versuchte er zu zeigen, daß die Juristen ihren Platz als anerkannte, ja politisch maßgebliche Wissenschaftler nicht zu räumen bereit waren. Von einer angeblich durch die aristotelische Wissenschaftslehre zwingend geforderte neue Rangordnung unter den Wissenschaften ließ er sich als Sprecher seiner Berufskollegen nicht beeindrucken.

Bei diesem Streit, in dem die Juristen nicht bereit waren, einen Fußbreit ihres Platzes an den Schaltstellen der Macht, insbesondere an der päpstli- chen Kurie, für nachdrängende Theologen oder gar Artisten zu räumen, war es schon ungewöhnlich, daß ein im Aristotelismus beschlagener Spit-

zenjurist wie Johannes von Legnano meinte, sich mit den Gegnern aus- einandersetzen zu müssen. Es war wohl der besondere intellektuelle Reiz für ihn, es den Aristotelikern mit deren eigenen Methoden und Mitteln

nachweisen zu können, daß den Juristen ein Rang ganz oben in der

Hierarchie der strahlenden Sterne der airtrrtes intellectuales zukomme. Die

durch einen Traum inspirierte Auseinandersetzung war in ihrer Traktat-

form mit Papst Gregor XI. gleich an den richtigen Adressaten gerichtet. Dieser aristotelisierende Traktat Legnanos genügte als Ausnahme. Die

Juristen konnten sich in Zukunft stets auf die Ausführungen des Bolog-

nesen berufen, wenn von Seiten der Artisten, Theologen und Mediziner

wieder so hämische abqualifizierende Bemerkungen fielen; ansonsten ließ

man sich nicht in seinen juristischen Kreisen stören. Das hohe Selbstbe-

34 Zur Diskussion der Wissenschaftslehre und der politischen Theoriebildung in Zusam-

menhang mit der Auseinandersetzung der Augustinerschule mit der Nikomachischen Ethik cf. R. Lambertini, Il filosofo, il principe c la virtü, note sulk ricezione c l'uso dell'Etica Nicomacha nd De regimine principum di Egidio Romano, in: Documenti e Studi sully tradizione filosofica medieyale 2 (1991), 239-279. Mündlich und brieflich wies mich Roberto lambertini dankenswerterweise noch auf drei Texte damaliger Bo- logneser Artisten des beginnenden 14. Jhs. hin und stellte mir Transkriptionen der

entsprechenden Passagen des Gentile da Cingoli (aus seinem �Principium super loyam", Palermo, Bibl. Com. 2 Qq. D. 142, fo. 81r, und aus seinem Isagogenkommcntar, Firenze, Bibl. Naz. Centr., Cony. Soppr. J. 10.30, fo. 8rab) und seines Schülers und Nachfolgers Angelo von Arezzo (Isagogenkommentar, Bibl. Vat., Vat. lat. 4472, fo. WOrb) zur Verfü-

gung, die genau jene hochmütige Haltung der Artisten gegenüber den Juristen ausdrük- ken. Dr. Lambertini und sein Bologneser Kollege Dr. Andrea Tabarroni werden die genannten Texte demnächst edieren und beschreiben.

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876 Helmut G. \ralthcr

wußtsein blieb durch Angriffe solcher non possidentes ungetrübt. Es ist vielleicht geradezu typisch, wie die handschriftliche Überlieferung bezeugt, daß der ganz in der fachspezifischen juristischen Diskussion stehende Traktat �De principatu" wieder aus dem

�Somnium" herausgelöst und separat tradiert wurde.

Einzelne unter den Juristen des Spätmittelalters beschäftigten sich durch- aus mit der aristotelischen Philosophie und Wissenschaftslehre. Für die überwiegende Mehrzahl der juristischen Doktoren genügte es zu wissen, daß einer der Ihren doch nachgewiesen habe, daß der Kanonistik auch nach den Kriterien der aristotelischen Wissenschaftslehre der Rang der

tapiercia, der Legistik aber derjenigen der scienlia zukomme, beide zusam- men aber in idealer Weise die virtus der pruduuia verkörperten.

" McCall (wie Anm. 5), 423 sq.