Mit 50 in die Sozialhilfe

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Mediendienst 3 27. Februar 2014 „Dass einer wie ich (…) zum Ghüder gehören soll? Das begreife ich nicht“ Mit 50 in die Sozialhilfe Bettina Fredrich Der Mediendienst der Caritas Schweiz ist ein Angebot mit Hintergrundtexten zur freien Verwendung. Für Rückfragen stehen die Autorinnen und Autoren gerne zur Verfügung.

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„Dass einer wie ich (…) zum Ghüder gehören soll? Das begreife ich nicht“ Mit 50 in die Sozialhilfe (Bettina Fredrich) http://www.caritas.ch/de/was-wir-sagen/mediendienst/aktueller-mediendienst/

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Mediendienst 3 27. Februar 2014

„Dass einer wie ich (…) zum Ghüder gehören soll? Das begreife ich nicht“

Mit 50 in die Sozialhilfe Bettina Fredrich

Der Mediendienst der Caritas Schweiz ist ein Angebot mit Hintergrundtexten zur freien Verwendung.

Für Rückfragen stehen die Autorinnen und Autoren gerne zur Verfügung.

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Caritas Schweiz, Mediendienst 3, 27. Februar 2014

„Dass einer wie ich (…) zum Ghüder gehören soll? Das begreife ich nicht“

Mit 50 in die Sozialhilfe

Die Befürchtungen der letzten Jahre bestätigen sich in aktuellen Statistiken. Erwerbstätige über

50 scheiden zunehmend aus der Arbeitswelt aus. Nur wenigen gelingt es, nach einem Stellenver-

lust eine neue Arbeit zu finden. Den Betroffenen droht ein Abrutschen in die Armut. Abstiegsge-

schichten sind in der Generation 50 plus längst keine Einzelfälle mehr. Nun braucht es Antwor-

ten – auch seitens der Wirtschaft.

In der Publikation „Armut im Kanton Bern: Begegnungen mit Betroffenen“ der Gesundheits- und

Fürsorgedirektion des Kantons Bern erzählen über 50-Jährige Armutsbetroffene ihre Geschichten.

Resigniert meint beispielsweise der 52-Jährige Attila Diamond: „Schweizer, über fünfzig – da wird

nichts mehr investiert. Da hilft nur noch die Sozialhilfe. Diese sorgt dafür, dass ich eine Unterkunft

und etwas zu essen habe. Mehr nicht.“ Thomas Näf, ebenfalls über 50 Jahre alt, schildert die fatale

Spirale, in die er nach dem Stellenverlust geraten ist: RAV, Bewerbungen, Absagen, Sozialhilfe und

die bittere Erkenntnis, dass er als über Fünfzigjähriger auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr gefragt ist.

„Es dürften über 300 Bewerbungen gewesen sein“, sagt er, „oft hörte ich, ich passe nicht ins Profil

oder man habe sich anders entschieden.“ Dass es sich bei diesen Geschichten längst um keine Einzel-

fälle mehr handelt, davon zeugen zahlreiche jüngst publizierte Statistiken.

Immer mehr über 50-Jährige sind immer länger auf Sozialhilfe angewiesen

Der Anteil der Sozialhilfebeziehenden zwischen 46 und 64 Jahren wächst derzeit am stärksten, wie die

neuste Sozialhilfestatistik zeigt. Arbeitskräfte über 50 Jahren werden heute häufiger entlassen als frü-

her. Während die über 50-Jährigen 30 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen, betreffen sie aktu-

ell mehr als 40 Prozent der Kündigungen. Auch bei den Langzeitarbeitslosen steigt der Anteil der über

50-Jährigen stetig an. Nur gerade jede fünfte Person über 50 Jahre findet nach einer Entlassung wieder

eine neue Anstellung. Ein Drittel aller Menschen, die monatlich ihr Recht auf Arbeitslosenunterstüt-

zung verlieren, die also ausgesteuert werden, sind derzeit über 50 Jahre alt. Tendenz steigend. Der

neuste Kennzahlenbericht der Städteinitiative zeigt zudem, dass viele über 50-Jährige häufig lange in

der Sozialhilfe verbleiben und sich nur gerade ein Fünftel dank intensivem Coaching und Betreuung

aus der Sozialhilfe wieder ablösen kann. Dabei handelt es sich bei den Sozialhilfebeziehenden über 50

Jahren mindestens zur Hälfte um gut ausgebildete Frauen und Männer. Ihr Ausscheiden kann weder

auf mangelnde Aus- und Weiterbildung noch auf konjunkturelle Entwicklungen zurückgeführt wer-

den.

Betroffene verlieren oft mehr als nur einen Job

Aufsteigen, sich weiterbilden, sich vernetzen, sich reinknien, engagiert in der Berufswelt weiterkom-

men – für unsere berufliche Laufbahn verzichten wir auf Einiges. Anerkennung von Freunden, Be-

rufskolleginnen und Bekannten ist uns gewiss. Was aber, wenn ich mit 55 meinen Job verliere? Was

wenn ich den Einstieg nicht mehr schaffe? Wenn ich plötzlich auf Sozialhilfe angewiesen bin?

Mit der beruflichen Integration verlieren die Betroffenen mehr als eine Tagesstruktur. Die materielle

Unsicherheit schwappt auf andere Lebensbereiche über. Vielleicht wird man gezwungen, seine Woh-

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nung aufzugeben und in eine kleinere und günstigere umzuziehen. Möglicherweise muss man sogar

das Quartier wechseln und verliert damit auch die sozialen Kontakte im Wohnumfeld. Vielleicht wird

man gezwungen, auf ein langjähriges Hobby zu verzichten, weil man sich den Kegelabend nicht mehr

leisten kann. Und wie reagieren Freundinnen und Freunde, wenn man nichts Interessantes aus Beruf

und Freizeit mehr zu berichten weiss, weil man sich auch die Ferien nicht mehr leisten kann?

Abstiegsgeschichten sind längst keine Einzelfälle mehr

Die Abstiegsgeschichten der Generation 50 plus sind nicht nur individuelle Schicksalsschläge. Für

eine immer grössere Zahl Frauen und Männer, die sich jahrzehntelang im Beruf engagierten, werden

sie zur Realität. Damit stellt sich nicht nur die Frage wie diesem Umstand auf individueller Ebene

begegnet werden soll und welche Unterstützung die Betroffenen brauchen. In diesem Kontext stellen

sich zunehmend auch auf gesellschafts-, wirtschafts- und sozialpolitischer Ebene dringliche Fragen:

(Wie lange) Setzt sich dieser Trend fort? Inwiefern werden hier neue Leitplanken in der Erwerbswelt

gesetzt? Passen die über 50 Jährigen nicht mehr in die Leistungsgesellschaft von morgen? Welche

Verantwortung tragen die Unternehmen, die Wirtschaft? Was heisst das für die Sozialhilfe, die als

letztes Auffangnetz nicht dazu geschaffen wurde, strukturelle Schwierigkeiten aufzufangen und die

derzeit in verschiedenen Kantonen arg unter Druck steht? Was bedeutet vor diesem Hintergrund die

anstehende Rentenreform, die unter anderem das Rentenalter der Frauen anheben will? Und was

schliesslich heisst das für die Solidarität zwischen den Generationen und den Zusammenhalt in unserer

Gesellschaft? Die Frage der beruflichen Integration ist nicht nur eine individuelle, sondern vielmehr

eine sozial-, gesellschafts- und wirtschaftspolitische. Aus dieser Perspektive müssen wir die Diskussi-

on führen.

Bettina Fredrich, Leiterin Fachstelle Sozialpolitik, Mail: [email protected],

Telefon: 041 419 23 37

Der Bericht des Kanton Berns „ Armut im Kanton Bern: Begegnungen mit Betroffenen“ ist abrufbar

unter www.gef.be.ch (Soziales/Publikationen)