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: HILDESHEIMER UNIVERSITÄTSREDEN NEUE FOLGE HEFT 2 UNIVERSITÄTSVERLAG HILDESHEIM Aleida Assmann Die Unverzichtbarkeit der Kulturwissenschaften mit einem nachfolgenden Briefwechsel IMPRESSUM HERAUSGEBER VERLAG VERTRIEB ISBN ISSN Der Präsident Universitätsverlag Hildesheim Universitätsverlag Hildesheim Marienburger Platz 22 31141 Hildesheim [email protected] 121255865 152389214 Hildesheim 2004 Assmann.qxd 14.07.04 12:37 Seite 2

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HILDESHEIMER UNIVERSITÄTSREDEN

NEUE FOLGE HEFT 2

UNIVERSITÄTSVERLAG HILDESHEIM

Aleida Assmann

Die Unverzichtbarkeit der Kulturwissenschaftenmit einem nachfolgenden Briefwechsel

IMPRESSUM

HERAUSGEBER

VERLAG

VERTRIEB

ISBN

ISSN

Der Präsident

Universitätsverlag Hildesheim

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Marienburger Platz 22

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HILDESHEIMER UNIVERSITÄTSREDEN

NEUE FOLGE HEFT 3

UNIVERSITÄTSVERLAG HILDESHEIM

Aleida Assmann

Die Unverzichtbarkeit der Kulturwissenschaftenmit einem nachfolgenden Briefwechsel

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Rede vom 24.11.2003, Anlass: Festakt “25 Jahre Hoch

Es fällt schdaß man sei

verlegen Anlaufen.

Wenn wir uns über die Zukunft der Kulturwissenschlen, müssen wir ihre Vergangenheit kennen. Mein drei Abschnitte, die sich annähernd wie VergangeZukunft zueinander verhalten. Der erste handelt vomcultural studies und Kulturwissenschaften, der zweUnbehagen an den Kulturwissenschaften und der drittbarkeit.

Vor knapp 200 Jahren, am Anfang der industriellenhat der englische Dichter P.B. Shelley folgende Analytion seiner Zeit gegeben: “Unsere Kalküle”, so schBegriffen davongelaufen; wir haben mehr gegessen, alDie Kultivierung jener Wissenschaften, die die Heüber die äußere Welt ausgedehnt haben, hat - weil nicht mitgehalten hat - zur Verkümmerung der innMensch, der die Elemente zu seinen Sklaven gemachtve geblieben.”11

Shelley reagierte 1821 auf einen dramatischen W

11 P.B. Shelley, Ed., A Defence of Poetry, in Enright, de Chickera, EOUP, 1968, 249: “our calculations have outrun conception; we have eThe cultivation of those sciences which have enlarged the limits oexternal world, has, for want of the poetical faculty, proportionalinternal world; and man, having enslaved the elements, remains him

Aleida Assmann

DIE UNVERZICHTBARKEIT

DER KULTURWISSENSCHAFTEN

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schule Hildesheim”

wer, daran zu glauben,ne Stützpunkte zurück-muß, um vorzudringen.Wer von vorne kommt,

springt nicht weit.(Ilse Aichinger)

aften verständigen wol-Beitrag gliedert sich innheit, Gegenwart und Unterschied zwischen

ite vom gegenwärtigene von ihrer Unverzicht-

Revolution in England,se der geistigen Situa-rieb er, “sind unserens wir verdauen können.rrschaft des Menschendie poetische Fähigkeiteren Welt geführt. Der hat, ist selbst ein Skla-

andel von Welt- und

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nglish Critical Texts, London:aten more than we can digest.f the empire of man over thely circumscribed those of the

self a slave.”

Gestalt, weil sie eng mit den je spezifischen historischen und sozio-kulturellenBedingungen verwoben sind, aus denen sie hervorgingen. Die deutsch-spra-chigen ‚Kulturwissenschaften’ z.B. haben eine andere Genealogie als die ‚cul-tural studies’, beide sind ein Teil jener Kulturen, aus denen sie erwachsen sind.Obwohl unser Fokus hier die Zukunft der Kulturwissenschaften ist, soll des-halb dennoch ein kurzer Blick auf deren Vergangenheit geworfen und einWort über den Unterschied zwischen den englischen ‚cultural studies’ undden deutschen ‚Kulturwissenschaften’ gesagt werden. Erst dann können wirbesser verstehen, warum – unterhalb einer globalen lingua franca bestimmterLeitbegriffe und Reizworte - unterschiedliche lokale und historische Entste-hungsbedingungen zu unterschiedlichen Fragestellungen, Themen undMethoden geführt haben.

Die cultural studies, die nicht erst seit den 1980er Jahren in den USA, son-dern bereits seit der Mitte der 1950er Jahre in der englischen IndustriestadtBirmingham entwickelt wurden, entstanden aus einer Krise der humanities.So jedenfalls faßt es der Titel eines Aufsatzes von Stuart Hall zusammen, derdamals maßgeblich an der Reorientierung mit beteiligt war: “The Emergenceof Cultural Studies and the Crisis of the Humanities”.22 Zusammen mit Raymond Williams und Richard Hoggart gehörte er zu einer Gruppe vonjungen marxistisch inspirierten Literaturwissenschaftlern, die bei F.R. Leavisstudiert hatten. Dieser Lehrer verkörperte ein hohenpriesterlich-elitäresKonzept von bürgerlicher Hochkultur, in dem die jüngere Generation, die wieHall aus den ehemaligen Kolonien oder wie Williams aus der Arbeiterschichtstammten, ihre Interessen und Erfahrungen nicht mehr wiederfinden konn-ten. Das Signal ihrer Sezession in Birmingham war ein neuer Kulturbegriff.Leavis war der Papst einer sakralisierenden Kanonpolitik gewesen, die dasFundament der humanities bildete; sein Hauptwerk mit dem sprechendenTitel The Great Tradition hatte den verbindlichen Kanon für die englischeLiteratur des 19. Jahrhunderts festgesetzt.33 In einer Zeit wachsender Ratio-nalisierung und Technisierung kämpfte er für Kultur als eine unverzichtbareEnergiequelle menschlichen Lebens. Allerdings beruhte sein kulturpädagogi-sches Modell auf einer klaren Opposition zwischen der dumpfen und trägenMasse der Gesellschaft einerseits und den Wenigen andererseits, die berufensind, bewußte Träger von Kultur zu sein. Von diesem engen elitären Kultur-

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22 Stuart Hall, “The Emergence of Cultural Studies and the Crisis of the Humanities”,in: October 53 (1990), 11-23.33 F.R. Leavis, The Great Tradition, London: Chatto & Windus, 1962 (1948)

Menschenbild durch die Verwissenschaftlichung und Technisierung derLebenswelt. Er sah damals wissenschaftliche Rationalität und poetische Ima-gination in einen unversöhnlichen Gegensatz gestellt. Auf diesen einfachenGegensatz können wir das Problem, das er angesprochen hat, heute nichtmehr bringen. Wissenschaft und Technik sind für uns ein ebenso selbstver-ständlicher Teil der Kultur wie Dichtung und Imagination. Doch was Shel-ley alarmiert beobachtete, gilt immer noch: die Physik und Biowissenschaf-ten mit ihren grundstürzenden neuen Erkenntnissen über die Struktur derAtome oder des Genoms sind ein gewaltiger Motor der Veränderung unsererKultur. Nicht weniger einschneidend sind die Konsequenzen eines techni-schen Wandels, der die elektronischen Medien hervorgebracht und mit einemNetz von Kommunikationskanälen den Weltraum durchstossen und den Erd-ball überzogen hat. Neben naturwissenschaftlichen und technischen gibt esauch soziale Motoren des Wandels wie zum Beispiel die Neubestimmung desGeschlechterverhältnisses, das die Grundlagen westlicher Gesellschaften tief-greifend verändert hat. Und natürlich nicht zu vergessen die historischen undpolitischen Motoren kulturellen Wandels: wir leben in einer Welt der Spät-folgen historischer Traumatisierungen, gewaltsamer Vertreibungen, postko-lonialer Identitätssuche und, in Europa, neuer transnationaler Organisations-strukturen.

Meine zentrale These ist, daß die Kulturwissenschaften nicht aus einerneuen M(eth)ode oder theoretischen Wende entstanden, sondern eine Ant-wort sind auf diesen tiefgreifenden Wandel der Gesellschaft und unsererWelt(un)ordnung. Das erklärt zum einen, warum Kulturwissenschaften anverschiedenen Orten der Welt entstanden und zum anderen, warum sie sich– etwa im Gegensatz zum Paradigma des Strukturalismus – in vielfältigerGestalt ohne einheitliche Orientierung entwickelten. Also: nicht die Ausbrei-tung einer theoretischen Schule, nicht der Siegeszug einer neuen Theorie istfür ihre Entstehung verantwortlich, sondern der Wandel der Kulturen selbstund die neuen Fragen und Herausforderungen, die sich aus diesem Wandelergeben.

CCuullttuurraall SSttuuddiieessUm es genauer zu sagen: die Kulturwissenschaften haben keine einheitliche

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KKuullttuurrwwiisssseennsscchhaafftteennIn Deutschland haben die Kulturwissenschaften eine viel längere Entstehungs-geschichte, die bis an den Anfang des 20. Jahrhunderts zurückreicht. Damalsbegannen einzelne Wissenschaftler wie Georg Simmel, Karl Lamprecht, AbyWarburg oder Walter Benjamin aus den methodologischen Bahnen der gei-stes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen auszuscheren und neue Frage-stellungen, Wahrnehmungsformen und Arbeitsweisen zu entwickeln. Dieseeinzelgängerischen Vorstöße konnten sich damals jedoch nicht gegen die insti-tutionellen disziplinären Strukturen behaupten und wurden im Gegenteil inden 30er Jahren durch Verfolgung und Vertreibung aus dem NS-Staat gewalt-sam ausgeschlossen. Die Wiederanknüpfung an diese abgebrochenen und ver-lorenen Impulse geschah nicht sofort nach dem 2. Weltkrieg sondern setzteerst allmählich in den 1970er und 80er Jahren ein. Seit den 1990er Jahrenerlebte diese Renaissance dann ihre Institutionalisierung bei der Grundlegungder Kulturwissenschaften an ost- und westdeutschen Universitäten.

Die Umrüstung der Geistes- zu KulturwissenschaftenBevor auf diese Institutionalisierung der Kulturwissenschaften eingegangenwird, soll zunächst in groben Zügen skizziert werden, welche gedanklichenUmorientierungen diese Institutionalisierung im einzelnen vorbereitet haben.Die Umrüstung der traditionellen Geisteswissenschaften zu einer kulturwis-senschaftlichen Perspektive schlägt sich sinnfällig in der Ersetzung des Schlüs-selbegriffs ‘Geist’ durch neue Leitbegriffe wie ‘Symbol’, Medium’ und ‘Kultur’nieder. Für das Paradigma der Geisteswissenschaften waren Namen wie Wil-helm Dilthey, Heinrich Rickert und Hans-Georg Gadamer bestimmend. Die-ses Paradigma beruhte auf gewissen Leitoppositionen wie die von Geist undMaterie, Subjekt und Objekt, Geschichte und Natur, Erklären und Verstehen.In diesen Gegenüberstellungen wurde die Sphäre des Menschlichen mit leben-digem Bewußtsein, subjektiver Intentionalität und historischen Ausdrucks-formen gleichgesetzt und gegen Sphären des Nicht-Menschlichen wie Mate-rie, Natur und Technik abgegrenzt. In diesem Rahmenkonzept galt esnachzuweisen, “wie aller Inhalt der Kultur (...) eine ursprüngliche Tat des Gei-stes zur Voraussetzung hat”.77 Der Zentralbegriff Geist blieb allerdings einArcanum, weil er nur als ein reines Innen, als eine geheimnisvolle spirituelle

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those who are now - in economic, political, and cultural terms - excluded from anything thatcould be called access to the national culture of the national community.” hier: 22.77 E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, 1923, Darmstadt 1988, Bd.1, 11.

begriff setzte sich die Birmingham-Schule radikal ab und wandte sich ihrer-seits dem Studium der industriellen Massenkultur zu. Für diese neue Gene-ration, die von Marx, Foucault und Gramsci gelernt hatte, war Kultur nichtdas einbalsamierte Erbe einer nationalen Tradition, sondern der Schauplatzvon Kämpfen um Macht, Geld, Anerkennung und Prestige. Dieser Impulsder Birmingham-Schule, der auf eine Ausweitung des Kulturbegriffs vonHochkultur auf Populärkultur gerichtet war, wurde in den 1970er und 1980erJahren von all denen begeistert aufgegriffen, die sich in einer bürgerlich eli-tären Definition von Kultur nicht wiederfanden wie u.a. die Migranten, dieFeministinnen und andere soziale Minderheiten. Der Kanon, die Idee einerverbindlichen gemeinsamen kulturellen Überlieferung, so hat es Stuart Hallzusammengefaßt, war plötzlich “weggefegt durch weltweite Migrationen,durch Fragmentierung, durch ein Erstarken der Peripherie gegenüber demZentrum, durch einen Kampf der Marginalisierten um soziale Anerkennungund kulturelle Macht, durch die Pluralisierung von Ethnien in der englischenGesellschaft.“44

Die innerhalb der Birmingham-Schule entwickelten cultural studies ver-standen sich als eine unmittelbare Antwort auf aktuelle gesellschaftliche Ver-änderungen.55 Die neue Vision der cultural studies hat Hall im Rückblick fol-gendermaßen skizziert: “Die Aufgabe (vocation) der cultural studies bestehtdarin, Menschen in die Lage zu versetzen, daß sie verstehen, was vor sichgeht, und ihnen Denkweisen, Überlebensstrategien und Widerstandsmög-lichkeiten an die Hand zu geben. Sie richten sich vordringlich an Menschen,die heute – in ökonomischer, politischer und kultureller Hinsicht - vomZugang zur Nationalkultur und zur nationalen Gemeinschaft abgeschnittensind.”66 Dieses Konzept der cultural studies, das Kultur und Politik aufs Eng-ste verkoppelt und eine Strategie für soziale und ethnische Minderheitenentwirft, hat in Einwanderungsgesellschaften wie den Vereinigten Staatenoder Kanada ebenfalls eine große Wirkung entfaltet. Mit ihrer Hilfe soll der-zeit in Gesellschaften mit kolonialen Unterdrückungsgeschichten der ethni-schen Vielfalt zu multikultureller Anerkennung und Chancengleichheit ver-holfen werden.

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44 Stuart Hall, “The Emergence of Cultural Studies and the Crisis of the Humanities”, hier: 21.55 “They are themselves focused by, organized through and constitute responses to, the immedia-te pressures of the time and society in which they arose” schreibt Stuart Hall in “Cultural Studies: Two Paradigms”, in: Richard Collins, ed., Media, Culture and Society. A Critical Reader,London/Beverly Hills/Newbury Park, New Dehli 1986, 32-48; hier: 34.66 “The vocation of cultural studies has been to enable people to understand what is going on, andespecially to provide ways of thinking, strategies for survival, and resources for resistance to all

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haben indes ihre Geschichte. Es ist der Blick auf die Geschichte der Medien,die uns deren Plastizität und Kontingenz vor Augen führt und uns davorbewahrt, die Medien zu verdinglichen oder zu naturalisieren.

Geist versus Medien1980 erschien ein Buch mit dem provokanten Titel: Austreibung des Geistesaus den Geisteswissenschaften.99 Wohlgemerkt: es hieß nicht “Die Austrei-bung ...” sondern “Austreibung ...”; hier wurde nämlich nichts aus der Distanzbeschrieben und konstatiert, sondern hier wurde gehandelt, hier wurde denGeisteswissenschaften der Prozeß gemacht. Mehr noch, wie die Einleitungdeutlich macht: hier sollte der Geist der Geisteswissenschaften regelrecht“exorziert” werden, so wie man jemanden therapiert, der von einem bösenDämon besessen ist. Der Geist der Geisteswissenschaften, so steht in der Ein-leitung von Friedrich Kittler zu lesen, sei selbst eine datierbare kulturelle Kon-struktion; sie gehe auf die Jahre 1770-1800 zurück, die von dem HistorikerReinhard Koselleck als wichtige Gelenkstelle der abendländischen Kulturerkannt und mit dem Namen “Sattelzeit” versehen worden ist. In diesem Zeit-raum wurden drei neue Begriffe erschaffen, die die Grundlage der Geistes-wissenschaften bildeten, und jede dieser Ideen entstand auf die gleiche Weise:durch Singularisierung vorgängiger Vielheiten. An die Stelle der Geister tratder Geist, an die Stelle der Geschichten trat die Geschichte, an die Stelle derMenschen tat der Mensch. Hinzuzufügen zu dieser Trias wäre noch: an dieStelle der Künste trat die Kunst. Diese neugeschaffenen Kollektiv-Singulare,so Kittler weiter, bildeten das Fundament für neue Diszipline, die “das 19.Jahrhundert erstmals auf Lehrstühle setzte”: Geschichte, Literaturgeschichte,Ästhetik, Anthropologie, Sprachwissenschaft, Kunstgeschichte. Zusammen-gefaßt bilden diese Diszipline bis heute unter dem Dach des ‚Geistes‘ den Kernder Geisteswissenschaften und damit eine eigene Wissenschaftskultur inDistinktion zu den unter dem Begriff ‚Natur‘ zusammmengefaßten Natur-wissenschaften.

Wer so energisch exorziert, hat erwartungsgemäß etwas in der Hinter-hand, was er an die Stelle setzen möchte. Für Kittler war das ein Begriff, derausschließlich im Plural existiert und im Titel seines 1985 erschienenenBuches steht, nämlich Aufschreibesysteme. Statt ‚Aufschreibesysteme‘ kön-

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99 Friedrich Kittler, Horst Turk, Ulrich Nassen, Hgg., Austreibung des Geistes aus den Geistes-wissenschaften. Programme des Poststrukturalismus, Paderborn, 1980.

Energie wirksam war, die sich in materiellen Äußerungsformen zwar nieder-schlug und an diesen abzulesen, jedoch mit diesen äußerlichen Konkretisie-rungen selbst niemals gleichzusetzen war.

Zu den wissenschafts-strategischen Implikationen des Kulturbegriffs, derim Zentrum von Kulturwissenschaft steht, gehört vor allem, daß er die obengenannten Leitoppositionen des 19. Jahrhunderts, die bis in die 1970er Jahrebestimmend waren, unterläuft. Während der Begriff ‘Geist’ darauf gerichtetwar, einen emphatisch menschlichen Faktor des Kulturprozesses zu identifi-zieren, zu isolieren und zu affirmieren, verlagert die Kulturwissenschaft ihrAugenmerk auf Strukturen, Prozesse und Praktiken in einem Umfeld, dasvon vornherein als technomorph gedacht wird. Im Mittelpunkt dieses neuenParadigmas steht das Axiom von der Konstruktivität der Medien, die nichtmehr als Darstellungsformen, sondern als genuine Weisen der Welterzeu-gung verstanden werden. Der Philosoph Ernst Cassirer begründete einePhilosophie der Kultur auf de Basis einer Theorie der symbolischen Formen,die er in so unterschiedlichen Dimensionen wie Mythos, Kunst, Wissen-schaft, Technik, Religion und Recht als eine elementare Grundkraft amWerke sah. Für Cassirer waren die Begriffe ‘Symbol’ und ‘Medium’ aus-tauschbar. Als er die Unhintergehbarkeit von ‘Symbol’ und ‘Medium’ fest-stellte, nahm er eine folgenreiche Schwerpunktverlagerung vom ‘Geist’ zum‘Medium’ vor. Das folgende Zitat zeigt, wie bei Cassirer ‘Medium’ (bzw.‘Symbol’) zum Nachfolgebegriff von ‘Geist’ wurde, womit er eine Umper-spektivierung von den Geisteswissenschaften zur Kulturwissenschaft ein-leitete:

“Sie alle (Bilder und Zeichen) treten zwischen uns und die Gegenstände;aber sie bezeichnen damit nicht nur negativ die Entfernung, in welche derGegenstand für uns rückt, sondern sie schaffen die einzig mögliche, adäqua-te Vermittlung und das Medium, durch welches uns irgendwelches geistigeSein erst faßbar und verständlich wird.”88

Im Zuge solcher Umorientierung vom geistigen Sein zum medialenDasein sind die technischen Medien verstärkt in den Fokus der Aufmerksam-keit getreten, die immer weniger als Mittler aufgefaßt werden und immermehr als genuine Organisationsformen menschlicher Welterfahrung. DieseOrganisationsformen, die auch als eine zweite Natur bezeichnet werden,

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88 E. Cassirer, Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 1983, 176.

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wird die Medienfrage mit der Frage nach dem kulturellen Gedächtnis ver-knüpft, dessen Bedeutung als ein zentraler Aspekt der Selbstthematisierungvon Gesellschaften bis in die Gegenwart hinein immer deutlicher an Evidenzgewonnen hat.1100

Krise der GeisteswissenschaftenDie Institutionalisierung der Kulturwissenschaften an deutschen Univer-

sitäten, und damit komme ich zu ihrer rezenten Vorgeschichte, geht auf eineLegitimationskrise der Geisteswissenschaften zurück, die Ende der 1980erJahre ausgiebig diskutiert wurde. Diese Diskussion wurde damals vorwiegendtop down, d.h. im institutionellen Rahmen von Universitäts- und Wissen-schaftspolitik geführt.1111 Ihr Hintergrund war u.a. eine Aufgabe, mit der sichder Wissenschaftsrat damals konfrontiert sah: er mußte ganz schnellzukunftsträchtige Empfehlungen für die Abwicklung und Umgestaltung derehemaligen DDR-Universitäten formulieren. In diesem Kontext kam dasZauberwort ‚Kulturwissenschaften‘ wieder auf, das als ein einschlägigesModernisierungskonzept für die obsolet gewordenen Geisteswissenschaftenvorgeschlagen wurde.

Während im England der 1950er Jahre die Cultural Studies aus einer Kriseder Humanities hervorgingen, gingen in Deutschland Anfang der 1990erJahre die Kulturwissenschaften aus einer Krise der Geisteswissenschaftenhervor. Diese Krise hat der Philosoph Jürgen Mittelstraß im Jahre 1995 nocheinmal wortgewaltig beschworen und stellte fest, daß die Geisteswissenschaf-ten durch esoterische Selbstbezüglichkeit und Fragmentierung diese Krisevon Forschungszusammenhängen selbst verschuldet hatten.1122

Während die Natur- und Technikwissenschaften sich auf der Höhe der Zeitbefänden und unsere moderne Welt aktiv umgestalteten, erwiesen sich dieGeisteswissenschaften als Verlierer dieses Modernisierungsprozesses. Stattan Gestaltung und Formung unserer Welt und der Zukunft teilzuhaben, hät-ten sie sich durch konservative Rückwärtsgewandtheit und weiche Werte

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1100 Vgl. dazu die von Jan Assmann und mir herausgegebenen Bände der ‘Archäologie der literari-schen Kommunikation’ im Fink-Verlag, München und das Buch von Mirjam-Kerstin Holl,Semantik und soziales gedächtnis: die Systemtheorie Niklas Luhmanns und die Gedächtnistheo-rie von Aleida und Jan Assmann, Würzburg: Königshausen und Neumann, 2003 1111 Wolfganz Prinz u. Peter Weingart, Hgg., Die sogenannten Geisteswissenschaften: Innenan-sichten, Frankfurt a.M. 1990; Wolfgang Frühwald et al., Hgg., Geisteswissenschaften heute. EineDenkschrift, Frankfurt a.M. 1991, reprint 1997.1122 Jürgen Mittelstraß, “Die unheimlichen Geisteswissenschaften” (Akademievorlesung am 9.Februar 1995), in: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berichte und Abhand-lungen AB. 2 (Berlin 1996), 215-235.

nen wir auch ‚Medien‘ sagen, ein Wort, das ebenfalls sinnvollerweise nur imPlural gebraucht wird.Dieses neue Medienbewußtsein der sich in Richtung Kulturwissenschaftenwandelnden Geisteswissenschaften läßt sich an mehreren Forschungsrichtun-gen von unterschiedlicher Radikalität ablesen. Da ist erstens die harte Technik-geschichte der Kommunikation, für die der Name Friedrich Kittler steht. DiePointe und Provokation dieser Richtung besteht darin, daß sie aus der Litera-turwissenschaft eine Ingenieurwissenschaft macht. Diese Schule baut mehroder weniger explizit auf zwei anderen Richtungen auf, die in die 60er Jahreund weiter zurück reichen. Die eine davon ist, zweitens, die historischeMedienforschung nach dem Muster der sog. Toronto-Schule in Kanada, diesich mit Namen wie Harold Innis, Eric Havelock und Marshall McLuhan ver-bindet. Eric Havelock z.B. ist Altphilologe und Erforscher der “Kulturrevolu-tion des Alphabets”. Er verstand sein Werk als Fortsetzung der Untersuchun-gen Milman Parrys, der in den zwanziger und dreißiger Jahren derHomerforschung einen neuen Anstoß gab, als er die Kompositionsgesetzemündlicher Epik an lebendigen Traditionen auf dem Balkan studierte. Die zen-trale These dieser Richtung lautet: Kulturen sind durch die Kapazität ihrerMedien, d.h. ihrer Aufzeichnungs-, Speicherungs- und Übertragungstechnolo-gien definiert. Mit dieser These rückten bislang nebensächliche Dinge wieSchriftsysteme und -institutionen, Kommunikationsformen, Transmissionska-näle von Nachrichten sowie die Speicherungstechniken von Wissen in denMittelpunkt der Aufmerksamkeit. Diese Perspektive auf die Medienbestimmt-heit der Kultur hat in einer Zeit rasant beschleunigter technologischer Evolu-tion ihre Brisanz offenbart. Die dritte hier zu nennende medienbewußte For-schungsrichtung ist die französische poststrukturalistische Schriftphilosophie,für die die Namen Foucault, Lacan und vor allem Derrida stehen, die eine tief-greifende Kritik des Geist-Begriffs in Gestalt des Wortes ‚Logos‘ mit einerhochdifferenzierten Analyse der grundsätzlichen und unhintergehbarenMedialität der Schrift verbindet. Als eine vierte Richtung wäre die von JanAssmann und mir vertretene kulturelle Gedächtnisforschung zu nennen, dieaus einer historischen Medienanthropologie mit kulturvergleichender Per-spektive hervorgegangen ist und gerade auch antike und außereuropäischeKulturen in ihre Untersuchungen miteinbezieht. In diesem Forschungsansatz

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durch ‚Kultur(en)’, sondern auch die Krisenrhetorik der älteren Generationdurch eine konstruktivistische Sprache und Begrifflichkeit, die an NiklasLuhmanns Theorie der Selbstorganisation geschult ist. An die Stelle ältererStabilitätsmuster wie Geschichtsphilosophie und Metaphysik tritt dabei dieAuffassung von Kulturen als symbolischen Reproduktionssystemen, die dieAufgabe haben, in einer Welt von Wandel, Kontingenz und Flüchtigkeitwiedererkennbare Gestalten auszubilden und gleichzeitig elastisch auf Wan-del zu reagieren. In dieser Perspektive auf Kulturen spielen symbolische Pro-zesse eine wichtigere Rolle als ein substantialistischer Wahrheitsbegriff. Wardie Diskussion über die Geisteswissenschaften eine Diskussion der (man-gelnden) Werte gewesen, so traten die Kulturwissenschaften nun mit einerneuen Diskussion über die Bedeutung von Symbolen an. Kulturwissenschaf-ten beanspruchten nach Uwe Steiner keine Orientierungsfunktion, wohl abereine besondere Kompetenz für Symbole; für ihre irreduzible Kraft, ihreMechanismen und Wirkungen im Bereich von Alltag und Politik, von Kom-munikation und Identitätsbildung, von Macht und Konflikt. Mit ihremneuen Anspruch auf Symbolkompetenz warfen die Kulturwissenschaften miteinem Schlag die Bürde der Apologetik ab, die so schwer auf den Schulternder Geisteswissenschaften gelegen hatte. Die Preisfrage nach der moralischenFunktion beantwortete Steiner negativ. Angesichts der wachsenden Morali-sierung, Politisierung und Fundamentalisierung der cultural studies inanglo-phonen Diskursen sah er darin eher einen Teil des Problems als dessenÜberwindung. Kulturwissenschaften hätten nicht die Aufgabe, Orientierungund stabile Werte in das normative Vakuum einer Gesellschaft zu injizieren;das könne nicht die Aufgabe einer Wissenschaft sein, sondern anderer Insti-tutionen. Ihre Kompetenzen seien kritisch reflektierend und explorativ abernicht fundierend. Sie hätten im Gegenteil dafür zu sorgen, daß das Gleichge-wicht der modernen Gesellschaft zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit,zwischen Potential und Realisierung erhalten bleibt und nicht vorschnelldurch Wertsetzungen und Diskurs-Begrenzungen gestört wird.

EExxkkuurrss:: AAbbyy WWaarrbbuurrgg aallss PPaattrroonn ddeerr KKuullttuurrwwiisssseennsscchhaaffttAls ein Begründer und Patron der neuen Kulturwissenschaft gilt Aby War-burg, dessen Person und Werk parallel mit deren Entstehung seit den 1980er

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selbst ins Abseits manövriert, wo sie allenfalls noch eine kompensatorischeFunktion übernehmen könnten. Mittelstraß rief die Geisteswissenschaftendazu auf, endlich die alten Zöpfe des Subjektivismus, Historismus, der Text-fixierung und Hermeneutik abzuschneiden und sich um einen objektivenStandard der Wahrheit und echte Probleme zu kümmern. Sie sollten endlichzu ihrem eigentlichen Auftrag einer normativen sozialpädagogischen ‚Bil-dungsfunktion’ stehen. Dann und nur dann könnte den Geisteswissenschaf-ten neben den von ihm sogenannten ‚Verfügungswissenschaften’ eine Rolleals ‘Orientierungswissenschaften’ zukommen, und sie wären endlich in derLage, einen aktiven Beitrag zur Gestaltung der modernen Welt zu leisten.

Mittelstraß empfahl den Geisteswissenschaften, ihr notorisches Legitima-tionsdefizit durch einen emphatisch normativen Impuls zu überwinden. Einederartige grundlegende Richtungsänderung, die mit allen historischen Tradi-tionen der Geisteswissenschaften bricht, ist leicht zu verkünden, aber (glk-cklicherweise) schwer durchzusetzen. Viel leichter durchzusetzen ist einWandel der Nomenklatur. So erstand aus der Asche der krisengeschütteltenGeisteswissenschaften fast wie von selbst der strahlende Phoenix der Kultur-wissenschaften. Ging es hier um einen Etikettentausch oder tatsächlich um soetwas wie einen Paradigma-Wechsel? In einem Essay von 1997 hat Uwe Stei-ner (nicht zu verwechseln mit George Steiner!) diesen Wandel genauer ana-lysiert.1133

Er hatte auf die Preisfrage einer renommierten germanistischen Zeit-schrift geantwortet, die sich mit der Mittelstraßschen Forderung nach Orien-tierungswissen auseinandersetzte. Sie lautete: “Können die Kulturwissen-schaften eine neue moralische Funktion beanspruchen?” Steiner beginnt sei-nen Essay mit der Auswechselung des Begriffs ‚Geist’ durch ‘Kultur’. Steinerersetzt Geist nicht durch Medien sondern durch Kultur und macht ebenfallsdeutlich, daß damit ein Einheitsbegriff durch einen pluralistischen Differenz-begriff ersetzt wird. Während das Wort ‚Geist’ eine der empirischen Erfor-schung verschlossene Fundierungskategorie ist, öffnet sich mit dem Wort‚Kultur’ eine Fülle neuer Fragen. Kulturen werden nicht nur über Differen-zen bestimmt, sondern auch als Problem einer sich wandelnden Selbstrepro-duktion, in der Vergangenheit und Gegenwart immer neu miteinander ver-mittelt werden müssen. Steiner ersetzte in seinem Essay nicht nur ‚Geist’

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1133 Uwe C. Steiner, “Können die Kulturwissenschaften eine neue moralische Funktion beanspru-chen?”. Eine Bestandsaufnahme”, in: DVjS 71, Heft 1/März (1997), 5-38.

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Kunst begleitet, gerahmt, ermöglicht hat. Indem Warburg gegen diesenDiskurs revoltierte, erodierte er auch den darin fundierten Kunstbegriff. Esist jener Kunstbegriff, den man gemeinhin den autonomen nennt, wobeiautonom dann soviel bedeutet wie: ‘frei von sozialen Zwängen’. Solche ‘Frei-heit’ entsteht bekanntlich durch soziale Arbeitsteilung und kulturelle Diffe-renzierung; doch diese abstrakten Beschreibungen besagen wenig. Präziserdarf man sagen: die Autonomie der Kunst entsteht dadurch, daß der Diskursüber Kunst selbst zum verbindlichen Kontext der Kunst wird. Mit anderenWorten: die Autonomisierung der Kunst entsteht mit einem folgenreichenWechsel der Kontexte: an die Stelle eines Sitzes im Leben (bzw. der Kultur)tritt der Sitz im Diskurs. Autonome Kunst läßt sich daher definieren als‘Kunst, deren Kontext der Diskurs über Kunst ist.’ Dieser Diskurs rahmt undstützt nicht nur die Produktion und Rezeption der Kunst, er rahmt und stütztauch die Kunstwissenschaft als akademische Disziplin sowie das Museum alskulturelle Institution mit seinen sozialen Nebenerscheinungen, der Kenner-schaft und dem Sammlertum.

Warburgs Programm der Kulturwissenschaft richtete sich auf die Rekon-textualisierung von Kunst, auf die Wiedergewinnung jener Kontexte vonKunst, die der Kunst-Diskurs vergessen oder unsichtbar gemacht hatte. Erwar der Archäologe solcher konkreten Kontexte; er interessierte sich z.B. fürdas Festwesen als sozialen Kontext der Kunst der Renaissance, wie er sichauch für Ritual und Tanz als Kontext der Kunst der Pueblo-Indianer interes-sierte. Er war auf der Suche nach einer ‘Geschichte des Bildes vor dem Zeit-alter der Kunst’,1155 (das wir hier als ‘das Zeitalter des Kunst-Diskurses’ defi-niert haben).

Warburg war aber nicht nur archäologisch auf der Suche nach den imKunst-Diskurs verloren gegangenen Kontexten der Kunst, er konstruierteselbst auch neue. Der neue Kontext für sein Projekt einer Kulturwissenschaftist die Anthropologie, die Erforschung der menschlichen Natur und ihrerGeschichte. Warbung arbeitete gewissermaßen an einem Seitenstück zu Dar-wins Naturgeschichte des Menschen: an einer Naturgeschichte des Menschenin der Kultur und durch die Kultur hindurch. Für dieses Projekt verwendeteer denselben Schlüssel, dessen Darwin sich bediente: die ‘Ausdruckskunde’(Physiognomie).

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1155 So der Untertitel des Buches von Hans Belting, Bild und Kult, München 1990.

Jahren eine Renaissance erlebte. Ich möchte hier kurz zu der Frage Stellungnehmen, ob und wie weit sich die Texte Warburgs als programmatische Texteder neuen Trans-Disziplin eignen. Warburgs Leben und Werk - er blieb stetsein (wenn auch hochgeachteter) Außenseiter der universitären Betriebs - istfür unsere Frage nach einem neuen Forschungsparadigma in den Humanwis-senschaften vor allem aus zwei Gründen aufschlußreich: zum einen, weil erdie Unzufriedenheit mit dem alten Paradigma deutlich ausgesprochen hat undzum anderen, weil er Perspektiven für ein neues Paradigma klar umrissen hat.Auf beide Aspekte möchte ich eingehen, bevor ich nach der Tragfähigkeit vonWarburgs Orientierungen für unsere heutigen Perspektiven fragen werde.

Eine charakteristische Vorwegnahme der Krise zwischen traditionellerFachdisziplin und neuer kulturwissenschaftlicher Fragestellung findet sich ineinem Briefwechsel, den Aby Warburg mit seinem Freund und KollegenAndré Jolles führte. In diesem Briefwechsel nahmen sie zum selben kunst-geschichtlichen Phänomen Stellung, allerdings aus entgegengesetzten Blick-winkeln, die sie als zwei fiktive Betrachter typisierten. Es ging um die anti-ke Nympha, die bewegte weibliche Figur, die mit hinter sich gebauschtemSchleier und beschwingtem Schritt auf antiken Sarkophagen wie auf Renais-sance-Gemälden eine Szene betritt. Jolles vertrat in dieser exemplarischenKontroverse den Standpunkt des disziplinären Kunstwissenschaftlers, desganz auf den ästhetischen Genuß konzentrierten Kenners, Warburg fiel derPart des Philologen zu, der die Oberfläche des Kunstwerks auf dessen verbor-gene historische, soziale und psychische Bedingtheiten hinterfragte.1144

In seinen Schriften hat sich Warburg selbst als Gegen-Typ zum disziplinä-ren Kunstwissenschaftler stilisiert. Charakteristisch für letzteren sind nachWarburg das Temperament eines Gourmet, der eine fast schon dekadenteSensibilität für Feinheiten des Stils an den Tag legt, sowie ein panegyrischerTon, mit dem er die Werthaftigkeit der Werke einfühlend preist. Der‘Geschmack’, ein Zentralbegriff des Ästhetik-Diskurses, scheint für diesenvon Warburg verachteten Typ ebenso kennzeichnend wie der subjektiv ein-fühlende und hymnische Tonfall.

Wovon Warburg sich hier distanziert ist, wie bereits angedeutet, nicht nurder Typus eines Betrachters, sondern, weitreichender, ein ganzer Diskurs. Esist der Diskurs, der mit dem Entstehen des neuzeitlichen Kunstbegriffs diese

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1144 Vgl. E.H. Gombrich, Aby Warburg - An Intellectual Biograpy, London 1970, 105-127; Salvato-re Settis, “Kunstgeschichte als vergleichende Kulturwissenschaft: Aby Warburg, die Pueblo-Indi-aner und das Nachleben der Antike”, in Thomas Gaehtgens, hg., Künstlerischer Austausch, Aka-demie Verlag Berlin 1993, 142. Der Aufsatz von Settis bildet einen wichtigen Lek-türe-Hintergrund meiner Argumentationskette.

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- Kulturwissenschaften sind grundsätzlich Humanwissenschaften. Sie bre-chen aus dem Getto der Geisteswissenschaften aus, die sich in ihrer Metho-dik in polemischer Abgrenzung von den Naturwissenschaften konstituierthatten. Als Humanwissenschaften erkennen sie ein Stück weit die Universa-lität des Menschen in seiner Naturgeschichte an. Die Erkenntnisse der Psy-choanalyse über die psychische Organisation der Affekte und der Neurobio-logie über die sensorische Organisation der Wahrnehmung und des Gedächt-nisses sind für sie unmittelbar einschlägig. Die Kulturwissenschaften lösendas Schisma von Natur- und Geisteswissenschaften auf.

- Die Naturwissenschaften liefern eine Datengrundlage für die Kulturwis-senschaften, aber keine unmittelbaren Erklärungen. Denn was immer anErkenntnissen auf dem Boden einer Naturgeschichte des Menschen gewon-nen wird, muß erst noch durch den Tunnel kulturgeschichtlicher Institutio-nen hindurchgeschleust werden. Warburg, der mit dem Begriff der ‘Pathos-Formel’ arbeitete, begriff diese als einen zugleich psychischen und kulturalenKomplex, oder, wie wir heute sagen würden, als eine Schnittstelle zwischenNatur und Kultur. An solche unmittelbaren Kopplungen glauben wir nichtmehr; was auch unsere Vorstellungen von den Gesetzmäßigkeiten kulturel-ler Reproduktion (‘Nachleben der Antike’) von den seinen abweichen läßt.Die Dynamik kultureller Reproduktion - Überlieferung, Traditionswandel,-brüche, Wiederaufnehmen - mag von geheimnisvollen Gefühlskernen be-wegt sein, doch diese Bewegung wird stets durch kulturelle Institutionen undIntentionen (soziale Hierarchien, Brauchtum, Feste) sowie technischeMedien und ihre Artefakte (z.B. mündliche und schriftliche Kulturen), kana-lisiert. Wir schenken heute den Zäsuren und Wendepunkten dieser techni-schen Mediengeschichte (Stand der Alphabetisierung und Dissemination desSchrifttums, Photographie und Film, Digitalisierung des Bildes) sehr vielmehr Aufmerksamkeit als Warburg dies tat, der von solchem ‘bewegten Bei-werk’ weitgehend abzusehen vermochte und stets die ‘unterirdischen Präge-werke’, die unsichtbaren Triebkräfte ‘hinter’ den Erscheinungen suchte.

- An die Stelle eines anthropologischen Universalismus, der unbekümmertmit der Größe ‘Mensch’ arbeitet, ist die Pluralisierung und Differenzierungvon Identitäten getreten. Ethnische Vielheit und Geschlechterdifferenz sindunhintergehbare Prämissen geworden, hinter denen sich - wenigstens vor-

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Der Schritt von einer kunstwissenschaftlichen zu einer anthropologischenPerspektive läßt sich bei Warburg exakt bestimmen. Das kunstwissenschaft-liche Begriffspaar `Form und Inhalt’ ersetzte er durch das ausdruckskundli-che (physiognomische) Begriffspaar ‘Formel (=Ausdruck) und Affekt’.Damit ging er von einer Semantik zu einer Energetik menschlicher Aus-drucksformen über. An die Stelle kodierter Inhalte traten Impulse undGefühlskerne, die in der menschlichen Natur verankert sind. Mit dieser Ver-schiebung der Begrifflichkeit gewann er nicht nur Anschluß an eine Anthro-pologie, sondern glaubte auch das Problem des ‘Nachlebens der Antike’ neufassen und erklären zu können. Denn an die Stelle von Botschaften und ihrensozialen Transmissionen traten jetzt Kräfte, die sich nach der Logik einerimmanenten Energetik entfalteten. Warburg war auf der Suche nach Gesetz-mäßigkeiten einer Evolution der Kunst.

Mit dieser Umperspektivierung verwandelte Warburg die Kunstgeschich-te in eine ‘Naturgeschichte der Kunst’,1166 die aufs Engste mit der Naturge-schichte der Menschheit verknüpft ist. Menschheitsgeschichtliche Evolutionund kunstgeschichtliche Entwicklung werden von ihm enggeführt. Denschaffenden Künstler, dessen Subjektivität im Kunst-Diskurs eine so zentra-le Rolle gespielt hatte, konnte er damit marginalisieren; in den Mittelpunkttrat bei ihm das Universal-Subjekt ‘Mensch’, bzw. das Kollektiv-Subjekt‘Menschheit’. Es ist schon erstaunlich, wohin Warburgs Auflösung jenesRingwalls führte, der sich um die autonome Kunst gelegt hatte: Kunst wurdeintegriert in die höhere Einheit Kultur, und Kultur wiederum wurde aufge-löst in der höheren Einheit Natur. Es scheint fast, als sei er mit seinem groß-artigen Schwung in dieser Richtung eine Stufe zu weit gegangen.

Der Fall Warburg ist instruktiv, weil er zugleich mit den Faszinationeneiner kulturwissenschaftlichen Überschreitung des herkömmlichen Kunst-Diskurses auch die Probleme anschaulich macht, die mit diesem Projekt ver-bunden sind. Um den Kunst-Diskurs negieren zu können, mußte er einenanderen Diskurs affirmieren, den einer naturgeschichtlichen Evolution derMenschheit und der universalen Gleichheit des Menschen in ihrer psychi-schen Grundstruktur. Wie müssen wir Warburg heute umperspektivieren,um Richtlinien für eine neue Kulturwissenschaft zu finden? Einige Punktesollen hier zumindest skizzenhaft zusammengestellt werden.

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1166 Ich übernehme diese Formulierung von Settis, op. cit., 151.

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täglicht. Nach der Euphorie von Innovation und Aufbruch mußte die ernüch-ternde Phase der Routine mit ihren Serienproduktion kommen. Doch es warweniger die unvermeidliche Verwandlung von Inspiration in Industrie, die zurUnzufriedenheit mit dem kulturwissenschaftlichen Paradigma führte. Dieeigentlichen Probleme, um die es dabei ging, wurden in Kontroversen disku-tiert, in von zwei germanistischen Fachzeitschriften angestoßen wurden.1177

Angesichts des Siegeszuges der Kulturwissenschaften konstatierte maneine Identitätskrise der Germanistik und fragte besorgt: “Kommt der Litera-turwissenschaft ihr Gegenstand abhanden?” In einer anderen Zeitschriftwurde beklagt, daß der Literaturwissenschaft ihr positives Selbstbewußtseinabhanden gekommen sei, weshalb sie meine, sich als Kulturwissenschaft tar-nen zu müssen. In dem diffusen Interesse an allen möglichen Lebensphäno-menen, so argumentierte der Kritiker, mache sich eine geistige und methodi-sche Anarchie bemerkbar, die darauf hinweise, daß das Fach sein Zentrumverloren habe. Dieses Zentrum sei der Text samt den spezifischen philologi-schen Grundkompetenzen, die in den metaphorischen Verallgemeinerungenvon ‚Kultur als Text’ unterzugehen drohten. Konkret seien heute Filme, Bil-der und symbolische Praktiken aller Art im Begriff, die grundsätzlicheBezugsgröße der Literaturwissenschaft, den Text, zu verdrängen. Anstatt die-sem massiven sozialen Druck der Mediengesellschaft Einhalt zu gebieten, solautet der Vorwurf, hätten die Kulturwissenschaften diesem Trend nicht nurnichts entgegenzusetzen, sondern verstärkten ihn auch noch.

In der Tat ist der Textbegriff inzwischen ganz unterschiedlich interpretiertworden. Wir müssen hier zwischen einem traditionellen, d.h. philologischhermeneutischen Textbegriff und einem kultursemiotischen Textbegriffunterscheiden. Im ersten Falle ist Text ein materiell fixiertes Gefüge von Zei-chen, im anderen Falle es ein lockerer Zusammenhang unterschiedlichersymbolischer Codes. Der stabile und materiell fixierte Textbegriff ist inzwi-schen durch den Begriff der ‚Performanz’ ergänzt worden, der sich auf alljene Zeichenprozesse bezieht, die sich in Handlungen manifestieren und imVollzug verkörpern. Der philologisch literarische Textbegriff ist weiter durchdie Bild- und Medienwissenschaften ergänzt worden, die nicht-sprachlicheund nicht-schriftliche Symbolsysteme, einschließlich räumlicher Arrange-ments wie Landschaften und Architektur untersuchen. Der literaturwissen-

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läufig - der universale Anthropos verflüchtigt. Solche Identitäten erscheinenweniger durch unterirdische Triebwerke als durch kulturelle Diskursegeprägt - und damit auch umprägbar. Damit weicht der tragische Fatalismus,der unüberhörbar in Warburgs suggestiven Perioden mitschwingt, einem kri-tischen Konstruktivismus, der auch gezielt Rechte und Bedürfnisse mit zumAusdruck bringt. Während Warburgs kulturwissenschaftliche Anthropologiedie Identität des Menschen in eine unzugängliche Zone unbewußt biologi-scher Regungen zurückverfolgte, sucht eine anthropologische Kulturwissen-schaft diese in den Diskursen und ihren Konstitutionsbedingungen. Damitwird die Geschichte der Menschen in ihrer - kontingenten - Genese kennt-lich und der Bearbeitung zugänglich.

EEiinnee nneeuuee KKrriissee ddeerr KKuullttuurrwwiisssseennsscchhaafftteenn??Die Kontroverse zwischen Warburg und Jolles, die im vorangegangenen Ex-kurs entfaltet wurde, hat exemplarischen Charakter in so fern, als sie zweigegensätzliche Positionen, die disziplinäre und die kulturwissenschaftlicheprofiliert, die sich unter unterschiedlichen Bedingungen immer wieder anein-ander gerieben haben. In verschiedenen Disziplinen macht sich derzeit einedeutliche Ausweitung des Gegenstandsbereichs bemerkbar. In diesem Sinnemutiert ‚Filmwissenschaft’ zu ‚Medienwissenschaft’, ‚Kunstgeschichte’ zu‚Bildwissenschaft’, ‚Literaturwissenschaft’ zu ‚Kulturwissenschaft’. DieseTransformationen gehen nicht ohne Reibunmgen vonstatten. Zu einer sol-chen Reibung kam es Ende der 1990er Jahre, als Literaturwissenschaftler aufdie Institutionalisierung der Kulturwissenschaften an deutschen Universitätenreagierten, die diese Entwicklung nicht als eine unilineare Erfolgsstorybegrüßten. Obwohl im Großen und Ganzen unbestritten ist, daß die Kultur-wissenschaften eine fällige Modernisierung der Geisteswissenschaften erreichthaben, indem sie sie aus ihrer fachlichen Selbstbezüglichkeit herausholten,interdisziplinäre Fragestellungen ersannen, neue kooperative Arbeitsformeneinführten, Bezüge zu aktuellen Gegenwartsproblemen herstellten und, nichtzuletzt, internationalen Anschluß fanden, soll hier nicht geleugnet werden,daß in diesem Prozeß auch einiges auf der Strecke blieb. Obwohl ‚Kulturwis-senschaft’ noch immer ein Zauberwort ist, das die Erfolgschancen einer Dritt-mitteleinwerbung effektiv steigert, hat sich sein Charisma inzwischen verall-

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1177 Hinzuweisen ist hier auf die von Wilfried Bahner angestoßene Diskussionsrunde im Jahrbuchder Deutschen Schillergesellschaft, die sich über drei Jahre hingezogen hat (1998-2000), sowieauf das Heft der Deutschen Vierteljahres-Schrift (DVJS) 73, Heft 1/März (1999) mit den beidenBeiträgen von Walter Haug: ”Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft? ”(S. 63-93) und Gerhart von Graevenitz: ”Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaften. Eine Erwide-rung” (S. 94-121).

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tung für ästhetische Erfahrung, für einen sprachlichen Weltzugang, für histo-risches Gedächtnis, für kulturelle Besonderheit.

1. Verantwortung für ästhetische ErfahrungDie Integration von Geisteswissenschaften in die Kulturwissenschaften bringtspezifische Grundlagen, Fragestellungen und Kompetenzen mit ein, auf dieder kulturwissenschaftliche Diskurs nicht verzichten kann. Dazu gehört dasSpezifikum der ästhetischen Erfahrung, die eben auch eine Sache subjektivenErlebens und intersubjektiver Bildung ist. Kunst ist eine besondere Artikula-tionsform, die nicht völlig unterschiedslos in einer weiten Kategorie kulturel-ler Zeichen und historischer Quellen aufgehen kann. Sinnlich prägnanteGestalt, Schönheit, Suspendierung von unmittelbaren Handlungszwängen,Öffnung von Reflexionsräumen, ‚Vermöglichung’ von Wirklichkeit, semioti-scher Überschuß – all das sind wichtige kulturelle Aspekte der ästhetischenErfahrung. Hier ist Hildesheim anderen Universitäten voraus mit seinem ein-drucksvollen Schwerpunkt Künstlerischer Praxis auf der Bühne und im krea-tiven Schreiben. Die künstlerische Praxis, das kann man nicht stark genugbetonen, ist ein zentraler Teil der Kulturwissenschaften, in denen es eben nichtnur um Gegenstände und Diskurse, sondern gerade auch um Subjekte, ihreErfahrungen, Handlungs- und Ausdrucksweisen, und damit nicht nur umAusbildung, sondern immer auch um (Menschen-)Bildung geht.1188

2. Verantwortung für SpracheDie Kulturwissenschaften unterscheiden sich von den empirischen Sozial- undNaturwissenschaften dadurch, daß ihr Medium die Sprache ist. Die Versprach-lichung von Diagrammen, Computergraphiken, Röntgenbildern ist eineKrücke, derer diejenigen nicht mehr bedürfen, die in die betreffenden Codeseingeweiht sind; sie können sich anhand von Bildern, Kurven und Modellenselbst ein Bild machen und entsprechende Schlüsse ziehen: sie sind, wie es soschön heißt, im Bilde. Kulturwissenschaftler sind dagegen immer in der Spra-che. Diese ist ein integraler Teil ihres Gegenstands, und zwar ganz unabhän-gig davon, ob sie es im einzelnen mit Texten oder historischen Bauwerken,Statuen, Tönen, Gemälden, Filmen oder Video-Clips zu tun haben. Derberühmte balinesische Hahnenkampf z.B. existiert als kulturwissenschaftlicher

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1188 Klaus-Michael Bogdal, “Gegenstand oder Subjekt?” in: Schiller-Jahrbuch 1999, 456.

schaftliche Text befindet sich durch die erhöhte Aufmerksamkeit, die derzeitanderen Medien geschenkt wird, in einer neuen Medienkonkurrenz, die aberkeineswegs seinen Untergang anzeigt, sondern im Gegenteil seine spezifischeVerfassung und Funktionsweise in neuer Weise hervorhebt. Der Literatur-wissenschaft kommt ihr Gegenstand also keineswegs abhanden; zwar ist derText nur noch eine Erscheinungsform kulturellen Sinns unter anderen, dafürist er aber eher noch prägnanter geworden durch ein neues Bewußtsein fürseine spezifische Medialität.Den einen Schluß sollte man aber keinesfalls aus den durchaus lehrreichenKontroversen ziehen: daß sich philologische Textorientierung und ein kultur-wissenschaftliches Interesse an unterschiedlichen Medien und symbolischenPraktiken gegenseitig ausschlössen. Nichts wäre gerade auch für die Zukunftder Kulturwissenschaften schädlicher als ein polemisch verengtes Verhältniszum eigenen Gegenstand. Im Gegenteil wird es in Zukunft darum gehen, diefachliche Basis und den Horizont der Themen und Probleme gegen den Trendder Zeit immer wieder zu erweitern und das Neue und Neuste der kulturellenErscheinungen produktiv mit dem Älteren und Ältesten zu vermitteln. Dashat ganz bestimmte Konsequenzen für das Verhältnis von Geistes- und Kul-turwissenschaften. Die Geisteswissenschaften dürfen nicht aus den Kultur-wissenschaften ausgetrieben werden, sie müssen vielmehr in ein differenzier-tes Konzept von Kulturwissenschaften eingebracht werden. Die Integrationgeisteswissenschaftlicher Grundbegriffe und Methoden in die Kulturwissen-schaften ist notwendig für die Erhaltung und Förderung von Grundkompeten-zen und trägt darüber hinaus zur geistigen Artenvielfalt und irreduziblen Plu-ralität der Kulturwissenschaften bei. Diese Integration muß sich deshalb auchin den currikularen und disziplinären Strukturen der Kulturwissenschaftenniederschlagen.

DDiiee UUnnvveerrzziicchhttbbaarrkkeeiitt ddeerr KKuullttuurrwwiisssseennsscchhaafftteennWas not tut, um die Krise der Geistes- und Kulturwissenschaften zu über-winden, ist – mit Blick auf die Zukunft - eine klarere Darstellung ihres gesell-schaftlichen Auftrags. Dazu möchte ich zum Abschluß einige Gedanken for-mulieren, die an das Bisherige anschließen. Die zukunftsträchtige Bedeutungder Kulturwissenschaften fasse ich in vier Punkten zusammen: Verantwor-

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offengehalten werden. Die Öffnung von Zeiträumen ist Sache einer aktivenErinnerungsarbeit, die von den Kulturwissenschaften wahrgenommen wird.Damit arbeiten sie einem Trend entgegen, den Hermann Lübbe als ‚Gegen-wartsschrumpfung‘ diagnostiziert hat.1199 Er stellte fest, daß in einer Weltbeschleunigten technisch-wissenschaftlichen Wandels die Geltung unseresWissens immer kürzeren Verfallszeiten unterliegt. Damit haben die Erwachse-nen, wie Odo Marquard gezeigt hat, ihren uralten kulturellen Vorsprung vorden Jüngeren verloren: weil sie ihr entwertetes Wissen nicht mehr kumulierenkönnen, werden sie infantilisiert und müssen immer wieder von vorn anfan-gen (Stichwort: lebenslanges Lernen), wobei ihnen die Jüngeren immer schonüberlegen sind. Marquard und Lübbe sind Vertreter der Kompensationstheo-rie, die besagt, daß in dialektischer Beziehung zur Gegenwartsschrumpfungdie Historisierung der Gesellschaft zunimmt. Je enger unser Zeithorizontschrumpft, desto voller werden die Archive und desto größer wird die Anzie-hungskraft historischer Filme, Vorträge, Bücher und Ausstellungen.

Problematisch an dieser Beschreibung, die oberflächlich durchaus plausi-bel klingt, erscheint mir die strikte Polarisierung von Gegenwart und Ver-gangenheit. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun; im Gegenteil bestär-ken sich Gegenwartsschrumpfung und Historisierung dialektisch in ihrergegenstrebigen Entwicklung. Darin ist die Kompensationstheorie eine Vari-ante der Modernisierungtheorie. Der Historiker Reinhart Kozelleck hatModernisierung u.a. als Auseinanderbrechen von ‚Erfahrungsraum’ und‚Erwartunghorizont’ definiert. Eine Theorie des kulturellen Gedächtnissessetzt jenseits dieser Modernisierunglogik an. Ihr geht es gerade um die viel-fältigen teils konstruierten, teils unbewußten Verbindungen zwischenGegenwart und Vergangenheit, um die unterschwelligen Verflechtungenzwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont. Ausgehend von derÜberzeugung, daß keine Kultur ohne Gedächtnis auskommen kann, stelltsich die grundsätzliche Frage, wie unterschiedliche Kulturen (die unsere ein-geschlossen) ihr Gedächtnis entwickeln, ausbauen, einschränken, verlieren,auslagern, verkörpern oder negieren. An diesem kulturellen Gedächtnishaben die Entwicklung von Zeichensystemen wie Schrift und Bild und ihreVerbreitungsmedien wie Buch oder Film einen ebenso wichtigen Anteil wiesoziale Einrichtungen, ob sie Bibliothek, Archiv oder Museum heißen. Die

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Gegenstand erst im Modus seiner dichten Beschreibung und der stilistischenPrägnanz, die der Ethnologe Clifford Geertz ihm gegeben hat. Als kulturwis-senschaftlicher Gegenstand ist der Hahnenkampf ein Sprachkunstwerk. Lang-uage matters, gerade auch in den Bildwissenschaften, die sich auf die besonde-re Kunst verstehen, Bilder in Sprache zu übersetzen. In diesem elementarsprachförmigen Zugang zu ihrem Gegenstand unterscheiden sich die Kultur-wissenschaften von der Erkenntnisform der Naturwissenschaften, diebekanntlich damit begann, daß Menschen die alten Textbücher zuklappten undsich aufs immer genauere Hinschauen verlegten. Damit haben sie sichzugleich darum bemüht, ihren Gegenstand aus der Sprache heraus in künstli-che Zeichensysteme oder ins Labor und die Operationen von Versuchsreihenzu verlegen. Es geht hier keineswegs um den Gegensatz zwischen einemunmittelbaren und einem vermittelten Weltzugang, sondern um unterschied-liche Formen der Modellbildung. In den Naturwissenschaften gibt es sprach-freie Modelle, in den Kulturwissenschaften ist und bleibt die Sprache das wich-tigste weil – trotz aller Vielfalt der Medien - unhintergehbare Modell. In denKulturwissenschaften hat die Repräsentation deshalb einen besonderen Status,denn sie ist ein unablösbarer Teil des Gegenstands selbst. Sie stehen deshalbfür einen Weltzugang und eine Erkenntnisform, die - wie es auf paradigmati-sche Weise die Kunst tut - immer auch auf ihre eigene Darstellungsweisereflektieren muß. Die Sprache ist kein reines oder transparentes Instrument,sondern ein historisches Archiv menschlicher Erfahrungen und Weltaneig-nungen. Es ist eben diese vielzüngige, historisch gewachsene, immer wiederfremd werdende, politisch instrumentell verkürzte und künstlerisch verdichte-te Menschensprache, gegenüber der die Kulturwissenschaften eine besondereVerantwortung haben.

3. Verantwortung für historisches GedächtnisEng verbunden mit der Sprachförmigkeit der Kulturwissenschaften ist dieDimension des historischen Gedächtnisses. Wenn ich die Sprache soeben einhistorisches Archiv menschlicher Erfahrungen und Weltaneignungen genannthabe, so ist damit ihre diachrone Gestalt gemeint, die in der Funktionalitätihres Gebrauchs nicht aufgeht. Zeiträume stehen nicht einfach an, so wie alteBauten und Ruinen im Stadtbild herumstehen – sie müssen geöffnet und

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1199 Hermann Lübbe, Im Zug der Zeit. Verkürzter Aufenthalt in der Gegenwart, Berlin 1992 undders., Zeit-Erfahrungen. Sieben Begriffe zur Beschreibung moderner Zivilisationsdynamik, Stutt-gart 1996.

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barschaften. Das heißt jedoch keinesfalls, daß kulturelle Unterschiede immerunwichtiger werden oder ganz verlorengehen. Im Gegenteil spielen, wie wirderzeit erleben, Fragen der kulturellen Identität eine größere Rolle denn je.Auf ihre kulturelle Identität werden die westlichen Gesellschaften nichtzuletzt durch Kontakt und Konflikte mit Minderheiten verwiesen, die darumbemüht sind, sich immer entschiedener abzusetzen und innerhalb der Mehr-heitsgesellschaft zu artikulieren. Die Auseinandersetzung mit der eigenen kul-turellen Identität erscheint in diesem Horizont nicht mehr als natürlich vorge-geben und überlegen, sondern als etwas, das kritisch zu erforschen und neu zukonstruieren ist. Menschen begreifen sich nicht mehr nur als Individuen, diesie natürlich auch sind und bleiben, sie verstehen sich auch als Mitglieder grö-ßerer Einheiten wie Familien, Nachbarschaften, Generationen, konfessioneller,ethnischer, politischer Gruppierungen, Nationen und Kulturen, innerhalbderer sie sich ihrer historisch geschichteten und symbolisch konstruiertenIdentität vergewissern. Die zeitliche und räumliche Reichweite dieser Iden-titäten ist dabei eine jeweils ganz andere; mit unserer kulturellen Identitätreichen wir viel weiter in die Vergangenheit hinein als mit unserem Familien-gedächtnis oder gar unserer individuellen Biographie. Die Erfahrung unter-schiedlicher Identitätsschichten macht uns aufmerksamer für die grundsätzli-che Durchdringung von Eigenem und Fremdem und damit für die irreduzibleinnere Vielfältigkeit und Zufälligkeit aller Identitätsmuster.

AAuussbblliicckk:: ZZuurr FFrraaggee ddeerr OOrriieennttiieerruunnggMit diesen Stichworten sind einige Dimensionen der Kulturwissenschaftenangesprochen, in denen sie einen wichtigen Auftrag zur geistigen Erweite-rung und Selbstaufklärung der Gesellschaft erfüllen. Dennoch erleben wir esimmer wieder neu: wenn die finanziellen Mittel knapper werden, nützen alldiese schönen Worte wenig. Während kein Mensch die Existenz der Naturwis-senschaften in Frage stellt, die ja das Fundament unserer wissenschaftlich-technischen Gesellschaft bilden, müssen sich die Kulturwissenschaften vorden Steuerzahlern immer von neuem rechtfertigen und erklären, wozu sie gutsind. Im Zeichen der dramatischen Verknappung von Ressourcen und des Ein-zugs der Marktökonomie in die Universitäten hängt, wie wir wissen, sehr vielvon der Überzeugungskraft dieser Antwort ab. Deshalb möchte ich mich

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Frage, wie das wachsende Speichergedächtnis der westlichen Kulturen mitdem Funktionsgedächtnis der gesellschaftlichen Bedürfnisse in der aktuellenGegenwart vermittelt wird, ist zu einem neuen und wichtigen Thema derKulturwissenschaften geworden. Daß Informationen in immer größerenMengen gespeichert und konserviert werden, ist nur die materielle Voraus-setzung eines historischen Gedächtnisses. Ohne Interpretation und Bewer-tung bleiben diese Speicher inert; Daten müssen beständig gedeutet und inWissen überführt werden, damit sie überhaupt eine gesellschaftliche undkulturelle Wirkung entfalten können. Die Kulturwissenschaften haben einenbesonderen Deutungsauftrag sowie einen erheblichen Anteil an der Verant-wortung, kulturelles Wissen über seine Relevanz-Zeiten hinaus bereitzuhal-ten und damit den jeweiligen Zeithorizont der Gesellschaft zu erweitern. DieVermittlung historischer Alterität und Differenz ist ein wichtiger Beitrag zurZeiterfahrung einer Gesellschaft und ermöglicht ein kritisches Veto gegenGegenwartsschrumpfung und die instrumentelle Aneignung von Vergangen-heit. Die Erfahrungen historischer Alterität und Differenz sind ein wichtigerBeitrag zur Zeiterfahrung einer Gesellschaft; sie formuliert ein Veto gegenvorschnelle und instrumentelle Aneignungen von Vergangenheit in derGegenwart. Gegen diesen Trend zum Kollaps zwischen Gegenwart und Ver-gangenheit dehnen sie den Zeithorizont weiter aus und ermöglichen einenReflexionsraum der Besonnenheit (um es mit Herder und Warburg zusagen), der sich keineswegs, wie Nietzsche fürchtete, handlungshemmendauswirken muß, aber eine unverzichtbare Voraussetzung darstellt für ein kri-tisches Selbstverständnis der eigenen kulturellen Identität.

4. Verantwortung für kulturelle BesonderheitenEbenso grundlegend wie die ästhetische Erfahrung, die aus pragmatischenVerengungen herausführt, und die historische Erfahrung, die den Blick aufdie fremdgewordene eigene Kultur richtet, ist die kulturelle Erfahrung derDifferenz bzw. die Verschränkung von Eigenem und Fremdem. Hier sind esinsbesondere zwei Herausforderungen, die derzeit der kulturwissenschaft-lichen Verantwortung für Kultur eine Richtung geben. Die Herausforderungder Globalisierung und der Migrationen rückt das geographisch Ferne undkulturell Fremde in enge funktionale Verflechtungen und neue lokale Nach-

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der Formulierung von Wertvorgaben sind wir als engagierte Bürger, Gemein-demitglieder und Abgeordnete beteiligt, nicht als Wissenschaftler.

Noch einmal: was haben Kulturwissenschaftler mit Orientierung zu tun?Einiges, vorausgesetzt, daß wir den Begriff der Orientierung neu fassen.Orientierung hat ja nicht nur eine präskriptive, sondern auch eine deskripti-ve Seite. Um das an einem Beispiel klar zu machen: ein Kompaß verschafftOrientierung, ohne uns zugleich zu sagen, welchen Weg wir einschlagenmüssen und wohin die Reise gehen soll. Orientierung in diesem Sinne be-deutet: einen Überblick zu gewinnen in einer undurchsichtigen Lage, zu wis-sen, wo wir stehen in einem größeren räumlichen und zeitlichen Zusammen-hang. Genau das aber können Kulturwissenschaften leisten, indem sie Wis-sen über zeitlich und räumliches Fernes oder Nahes so aufbereiten, daß esunserer Standortbestimmung in der Gegenwart zugute kommt und damitDenk- und Handlungspotentiale für die Zukunft öffnet. In die kulturwissens-haftlichen Analysen gehen implizite Werthaltungen selbstverständlich mitein, aber explizite Handlungsanleitungen übersteigen ihre Kompetenz. Diegroßen metaphysischen Grundfragen des Menschen, das Woher, Wohin,Wozu, die Nietzsche in den historischen Wissenschaften vermißte, liegenaußerhalb der Kulturwissenschaften, denn Wissenschaft beginnt, und siesteht und fällt, mit der methodischen Geste der Selbstbeschränkung. Sie kannimmer nur begrenzte Fragen beantworten, aber sie kann Wissen bereitstellenund Perspektiven eröffnen, die für Entscheidungen und normative Orientie-rung grundlegend sind. Kulturen kommen ohne Instanzen der Selbstrefle-xion nicht aus, und an dieser Selbstthematisierung der Gesellschaften habendie Kulturwissenschaften einen bedeutenden Anteil. Sie betreiben in diesemSinne Grundlagenforschung für eine diagnostisch kritische Selbstwahrneh-mung der Gesellschaft angesichts des grundstürzenden Wandels, von demeingangs die Rede war. So gesehen sind die Kulturwissenschaften keinDienstleister sondern ein Luxus, den sich eine Gesellschaft jenseits vonunmittelbaren pragmatischen Zwängen und dezidierten Werthaltungen lei-stet. Auf diesen Luxus kann jedoch keine Gesellschaft verzichten, die sichüber sich selbst aufklären und innovative Impulse für die Zukunft entwickelnwill. Die Kulturwissenschaften klären uns aber nicht nur auf über unsere undandere Kulturen, sie sind auch selbst – das sollten wir nicht vergessen - einwesentlicher Teil unserer Kultur.

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abschließend noch einmal mit der regelmäßig von außen an die Kulturwis-senschaften gestellten Erwartung bzw. Forderung auseinandersetzen, siemögen in einer unübersichtlich gewordenen Gesellschaft ‚Orientierungswis-sen’ produzieren. Vor einiger Zeit saß ich mit der Bundesministerin EdelgardBulmahn auf einem Podium, wobei sie mir zu verstehen gab, daß Aufklärungund Kritik als Leistungen der Kulturwissenschaften nicht genügen. Sie wiesmich auf die vielen Menschen in unserer Gesellschaft hin, die an einem Orien-tierungsdefizit leiden, das die Kulturwissenschaften zu beheben hätten. Nachzehn Jahren Auf- und Ausbau von Kulturwissenschaften sind wir abermalskonfrontiert mit der alten griffigen, von Jürgen Mittelstraß eingeführtenOpposition von Verfügungswissen einerseits, für das die Natur- und Ingenie-urswissenschaften zuständig sind, und Orientierungswissen andererseits, dasdie Sozial- und Kulturwissenschaften zu produzieren haben. Orientierung,zumal vor dem Hintergrund der alten Wertedebatte um die Geisteswissen-schaften, bedeutete: normative Impulse, Sinnstiftung, Zielvorgaben, Wegwei-sung.

Wenn ich mich im weiten Spektrum der kulturwissenschaftlichen For-schung umsehe, wie sie derzeit betrieben, geschätzt und gefördert wird, kannich kaum etwas finden, was diesem Orientierungs-Maßstab gerecht würde.Das Wissen, das die Kulturwissenschaften produzieren, umfaßt kritischeErhellung der Vergangenheit und Gegenwart in Form der Herstellung vonBedeutung im Raum des Indifferenten, der Umdeutung alter Vorstellungen,der neuen Perspektiven auf alte Phänomene, der Zusammenhänge imZusammenhanglosen, des Überblicks über aktuelle Entwicklungen, der kla-ren Modelle für vermeintlich undurchschaubar Komplexes. Sie orientierenüber Orientierungen, aber sie produzieren sie ebensowenig wie Sinnstiftun-gen oder klare Zielvorgaben. Wenn sie das täten, wären wir nicht weit ent-fernt vom Wissenschaftsbetrieb zu DDR-Zeiten. Das kann offensichtlichnicht gemeint sein. Gewiß, es mag Grenzbereiche geben wie die philosophi-sche Ethik, die der Orientierungs-Bestimmung nahe kommt, aber für dasGros der kulturwissenschaftlichen Fächer sind diese Bereiche sicher nichtrepräsentativ. Normen und ihre Umsetzung sind nicht Sache der Wissen-schaft; dafür sind in unserer Gesellschaft Politiker, Theologen und Juristenzuständig. An normativen Entscheidungen, öffentlichen Bekenntnissen und

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zu tun, die sich transdisziplinär organisieren und an Forderungen einer ver-änderten modernen Welt anpassen. Ich denke hier auch an die wichtigen Im-pulse, die aus dem Heidelberger Süd-Asien-Institut hervorgegangen sind,und verweise auf die ausführliche, von dem Göttinger Sinologen MichaelLackner und dem Pariser Historiker Michael Werner verfaßte Denkschrift zuden area-studies als wichtiges Paradigma für die Geisteswissenschaften, die1999 am Wissenschaftskolleg zu Berlin in einem Workshop, den ich moderie-ren durfte, diskutiert wurde. Von den area studies kommen, soweit ich dasbeurteilen kann, äußerst interessante, innovative und eminent transdiszipli-näre Impulse; ich kann keineswegs nachvollziehen, daß, wie Sie pauschalschreiben, die area studies “in ihren theoretischen Ansprüchen in der Regelnoch hinter den älteren disziplinären Orientierungen zurückbleiben”.

Aber viel wichtiger ist mir ein anderer Punkt. Die Geisteswissenschaften,schreiben Sie, sollen den Weg der Partikularisierung verlassen; die Historikersollen sich nicht um Geschichten sondern mit dem Historischen, die Litera-tur- und Kunstwissenschaftler nicht mit Texten und Kunstwerken, sondernmit dem Ästhetischen, die Philosophen nicht mit kanonischen Texte sondernmit der rationalen Form der Welt befassen. Wenn das wahr würde, fürchte ichum einen in Abstraktion und Geschwafel absinkenden Diskurs, der für michjeden Interesses und jeder Faszination beraubt waere. Das Salz der Geistes-wissenschaften sind nur einmal die historischen Objektivationen desmenschlichen Geistes, die Artefakte in ihrer widerständigen Materialität undSpezifizität, an denen wir uns abzuarbeiten haben, und die wir als Wider-stand für unsere Verallgemeinerungen unbedingt brauchen. Das Wort ‚Parti-kularität’ darf auf keinen Fall abgewertet und in einen Gegensatz zu ‚Objek-tivität‘ gebracht, sondern muss mit Objektivität verbunden und positiv auf-geladen werden, wenn anders nicht alles in einer einheitlichen philosophi-schen Systematik aufgehen soll. Ich sehe in Ihrem Wunsch nach Einheit undSystematik einen totalisierenden Zug, der mich beunruhigt.

Jegliche Wissenschaft, sagen Sie zurecht, ist eine Rationalitätsform, die dasBegriffliche und Argumentative pflegt. Allein darin liegt auch die Möglich-keit begründet, über Disziplinenschranken hinweg kommunizieren zu kön-nen. Diese minimalistische Forderung, die ich uneingeschränkt teile, chan-giert in Ihrem Vortrag immer wieder in Richtung maximalistischer Forde-

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AAppppeennddiixx::ZZuurr RRaattiioonnaalliittäättssffoorrmm ddeerr GGeeiisstteess-- bbzzww.. KKuullttuurrwwiisssseennsscchhaafftteennEin Briefwechsel zwischen Aleida Assmann und Jürgen Mittelstraß

New Haven am 14. Februar 2003

Lieber Herr Mittelstraß,

haben Sie herzlichen Dank für Ihren ausführlichen Antwortbrief und denSalzburger Vortrag, den ich mit grossem Interesse gelesen habe.2200 Ich seheaus Ihrem Text, dass wir in wesentlichen Punkten durchaus übereinstimmen;zum Beispiel in der Abneigung gegen die Kompensationstheorie und die ste-reotype Aufteilung der Wissenschaft in zwei Kulturen mit dem Ziel einerAbwertung der ‚zweiten‘ Kultur. Äusserst spannend finde ich Ihre These vonder Einheit der beiden Wissenschaftskulturen unter einem gemeinsamenDach als Emanationen eines menschlichen Geistes. Einige meiner Bedenkenund Fragen sind mir durch Ihren Vortrag allerdings bestärkt worden. Ihremklaren Text verdanke ich die Möglichkeit, sie jetzt ebenfalls (hoffentlich)etwas klarer zu formulieren.

Ich finde es nicht ganz fair, dass Sie die Geisteswissenschaften nach dembeurteilen, was im Feuilleton und anderswo in satirischem Ton über siegeschrieben wird. Ich habe den Eindruck, dass Sie hier aus zweiter Handurteilen und von dem, was sich in diesen Wissenschaften in den letzten zehnJahren getan hat, nicht viel mitbekommen haben. Ich denke, man sollte dieGeisteswissenschaften an ihren wirklichen Einsichten und Leistungen mes-sen und nicht an den von Ihnen zurecht gescholtenen Spinnereien und Aus-wüchsen, die es natürlich immer gibt. Ziemlich unvermittelt ist daneben voneinem im Ganzen angehobenen Niveau in den Geisteswissenschaften dieRede, und auch bei diesem pauschalen Urteil weiß man nicht recht, woraufman es beziehen soll. Ganz und gar nicht verstehe ich zum Beispiel Ihre brü-ske Abwehr der Area Studies auf S. 12. Hier haben wir es nun wirklich ein-mal mit einer äußerst innovativen Selbstreform der Geisteswissenschaften

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2200 Es handelt sich um den Vortrag: “Zwischen Geist und Natur. Die Stellung der Geisteswissen-schaften im System der Wissenschaft und ihre Aufgaben in der modernen Welt”, den JürgenMittelstaß im Januar 2003 anläßlich der 40-jährigen Jubiläumsfeier der Universität Salzburggehalten hat.

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ziert werden; die Sprache ist hier nur ein Hilfsmittel, das neben die schnelle-ren und präziseren Kodes künstlicher Zeichensysteme (wie z.B. graphischeVisualisierungen oder mathematische Formeln) tritt.

So sehr ich Ihnen zustimme, daß wir falsche Dualismen überwinden müs-sen, sowenig kann ich mich Ihrer Forderung nach Einheit und einheitlicherRationalität anschließen, die für Differenzen, wie ich sie eben andeutete, kei-nen Platz hat. Hier bekomme ich Platzangst. (Ich fühle mich in meiner Sorgebestätigt, daß es für meine wissenschaftlichen Interessen und Bedürfnisse inder ‚Mittelstraß-Welt‘ keinen Platz gibt.) Mit Ihrer Rettung des deutschenIdealismus (der menschliche Geist als Quelle und Norm allen Wissens) ist fürmich eine Tilgung der Dimension ‚Kultur‘ verbunden, worunter ich ebennicht nur ein zukunftsorientiertes Projekt modernen Gestaltungswillens ver-stehe, sondern auch ein Produkt von Geschichte. Die Logik bzw. Kontingenzunseres historischen Gewordenseins zu verstehen ist für mich eine unab-dingbare Voraussetzung für alle zukünftige Weltgestaltung. Erinnerung (diebei Ihnen so schlecht wegkommt) ist heute keine rein retrospektive oder kon-servative, dem Bewahren verpflichtete Aktivität mehr, sondern eine eminentaufklärerische Aufgabe.

Für ein Seminar zum Thema ‚History und Memory‘ sind mein Mann undich übrigens soeben nach Yale gereist, wo es ein lebhaftes Interesse an diesenFragen gibt, die wir sowohl in transdisziplinärer als auch in partikularisti-scher Perspektive (d.h. in handwerklichem Umgang mit konkreten Textenund kontingenten Sachverhalten) erörtern, denn darin besteht für uns nuneinmal das Zentrum geisteswissenschaftlicher Kompetenz.

Mit herzlichen Gruessen Ihre Aleida Assmann

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rungen, wenn Sie den Geisteswissenschaften vorschreiben, was sie zu ihremGegenstand machen sollen und wie sie diesen zu bearbeiten haben.

Die Tatsache, daß Wissenschaften und Technik die moderne Welt hervor-gebracht haben, bedeutet nicht, daß die moderne Welt nur aus Wissenschaf-ten und Technik besteht. Sie besteht ja auch aus Geschichte, Medien, Lebens-formen und Glaubenssystemen, die ebenfalls zum Gegenstand von Wissen-schaft geworden sind. Ich bezweifle, dass wir diese Gegenstände der Geistes-wissenschaften unter ein an den Naturwissenschaften oder an philosophi-scher Systematik geeichtes einheitliches Rationalitäts-Paradigma bringenkönnen. Warum auch? Es geht mir keineswegs darum, minimalistischeRationalitätsstandards der Intersubjektivität und Argumentationsstringenzin Frage zu stellen. Wir müssen an der Grenze zwischen Kunst, Fiktion, Eso-terik, Unsinn auf der einen Seite und Wissenschaft auf der anderen Seite (die,da haben Sie völlig Recht, gelegentlich unterlaufen wird) unbedingt festhal-ten. Das ist aber nicht das Problem, um das es hier geht. Was ich hier alleinin Frage stellen möchte ist das Recht, das sich eine Disziplin nimmt, eineranderen Disziplin ihre Ziele abzustecken und ihre methodischen Grundlagenvorzuschreiben. Hier plädiere ich entschieden für Differenz und Arbeitstei-lung und gegen eine universale Wissenschaftsnorm. Für mich ist die Organi-sation von Wissenschaft ein föderatives, kein unitarisches Unternehmen.Wer sollte auch in einer modernen demokratischen Welt diese Einheit for-mulieren? Und von wem sollte sie durchgesetzt werden?

Wenn ich von unterschiedlichen Formen von Rationalität in den Wissen-schaften spreche und darin einen Reichtum und keinen Mangel sehe, denkeich natürlich nicht an die Spinnereien, die Sie zurecht brandmarken. Ichdenke an den Unterschied zwischen einer Form von Wissenschaft, die durchSprache vermittelt ist, und einer, die dies nicht ist. Für mich sind Geisteswis-senschaften (im weitesten Sinne) Sprachwissenschaften, weil ihre Gegen-stände sprachlich konstituiert sind oder über sie sprachlich kommuniziertwird. Mit der natürlichen Sprache (im Gegensatz zu den Kunstsprachen)dringen aber viele ‚verunreinigende‘ Faktoren ein, die nicht das Elend son-dern ganz im Gegenteil den Reiz und das Proprium der Geisteswissenschaf-ten ausmachen. Naturwissenschaften sind solche Wissenschaften, derenGegenstände nicht vordringlich sprachlich konstituiert sind und kommuni-

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Gesichtspunkte und die Vorstellung einer Einheit aller Rationalität, auf diees mir ankäme. Dies ist zunächst einmal eine (so gesehen selbst einge-schränkte) philosophische Optik, allerdings eine solche, mit der ich die Gei-steswissenschaften zwingen möchte, sich aus ihrer selbstgewählten Nischen-rolle in der modernen Wissenschaftsentwicklung zu lösen. Selbstverständ-lich sehe auch ich dabei den eigentümlichen Reichtum der Geisteswissen-schaften darin, daß sie sich mit einer reichen Vielfalt historischer Objektiva-tionen des Geistes (eben Objektivationen des objektiven Geistes) befassen.Diese Vielfalt und dieser Reichtum werden durch meine methodischen Über-legungen nicht eingeschränkt bzw. sollen durch diese nicht eingeschränktwerden. Das bedeutet selbstverständlich auch, daß nicht nur das, was Wis-senschaft (die exakten Wissenschaften) und Technik für die moderne Weltbedeuten, sondern auch das, was sich einer Wissenschafts- und Technikformentzieht, zu den genuinen Gegenständen geisteswissenschaftlicher Reflexiongehört. Im übrigen denke ich auch nicht an eine ‘universale Wissenschafts-norm’, damit erneuerten Vorstellungen einer Einheitswissenschaft das Wortredend, sondern möchte die Geisteswissenschaften lediglich darauf aufmerk-sam machen, daß diese ihren Ort in einem wie auch immer gearteten Wis-senschaftssystem auch und gerade methodisch ausweisen müssen. Und dieskönnte durchaus so geschehen, daß hier auf eine eigene (wissenschaftliche)Rationalitätsform verwiesen wird, die dann allerdings auch begrifflich undmethodisch geklärt sein müßte. Auch die Rationalitätsform der Medizin istschließlich nicht dieselbe wie die Rationalitätsform der Physik oder die derMathematik.

Unsicher bin ich, ob man tatsächlich sagen kann, daß der Unterschiedzwischen den Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften darinbesteht, daß die Gegenstände der Geisteswissenschaften sprachlich konstitu-iert sind, die der Naturwissenschaften nicht. Unter wissenschaftstheoreti-schen Gesichtspunkten kommt es hier sehr darauf an, was mit ‘sprachlichkonstituiert’ gemeint ist. Schließlich sind auch die Gegenstände der Natur-wissenschaften in dem Sinne sprachlich konstituiert, daß in ihnen nicht dieNatur selbst spricht, und naturwissenschaftliche Theorien begriffliche Kon-strukte, insofern aber eben auch sprachlich konstituierte Konstrukte sind.

Es will mir noch immer nicht so recht in den Sinn, daß sich die Geistes-

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14. März 2003

Liebe Frau Assmann,

die letzten Wochen waren derart turbulent, daß es mir erst jetzt gelingt, Ihnenauf Ihren Brief vom 14. Februar und Ihre Stellungnahme zu meinem kleinenSalzburger Vortrag zu antworten. Ich will dies nun endlich tun und kommedann später noch einmal auf Ihren Text zurück, den ich in der nächsten Wochein den Bergen in aller Ruhe studieren möchte.11

Es mag sein, daß ich die Geisteswissenschaften, bezogen auf deren gegen-wärtige Interessen und Forschungsrichtungen, nicht immer fair darstelle,doch stimmt nicht, daß ich sie nur aus zweiter Hand beurteile. Es sind dieGeisteswissenschaften selbst, die in meinen Augen zunehmend ins Feuilletonwechseln und Fragen ihrer methodischen Grundlegung, die früher einmal imMittelpunkt auch des geisteswissenschaftlichen Denkens standen, aus denAugen verlieren. Damit gerät aber der wissenschaftliche Status geisteswis-senschaftlichen Forschens, um den es mir vor allem geht, in die Gefahr,unscharf zu werden. Deshalb auch mein Insistieren auf einer Klärung derRationalitätsform geisteswissenschaftlicher Arbeit.

In diesem Zusammenhang verstehe ich auch meine Kritik an neuerenEntwicklungen, etwa in Form der Area Studies. Es ist für mich immer einproblematisches Moment, wenn Wissenschaften beginnen, sich über parti-kulare Gegenstände und, damit verbunden, über wechselnde Forschungsin-teressen zu definieren, statt dies im Methodischen zu tun. Wissenschaftunterscheidet sich von anderen Orientierungen und Interessen ja geradedadurch, daß sie sich über methodische Standards und ein allgemeines For-schungsinteresse, das sich nicht in regionalen oder auch temporalen Gege-benheiten erschöpft, bestimmt. Dabei mögen auch die Area Studies, wie Sieschreiben, innovative und transdisziplinär interessante Impulse geben, dochgeht es mir eben gar nicht um das, was in einer Wissenschaft gerade alsinteressant und innovativ angesehen wird, sondern darum, wie sie sich selbstin ihrer spezifischen Rationalitätsform darstellt.

Gern gestehe ich zu, daß durch meine Neigung zu zugespitzten Formulie-rungen der Eindruck entstehen könnte, es wären nur noch methodische

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11 Es handelt sich um eine Vorform des hier abgedruckten Textes.

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dieser Theorie ankommt.Auch aus Ihrer Darstellung der Genese und des Selbstverständnisses der

Cultural Studies habe ich manches Neue gelernt. Dabei entnehme ich ausder Aufgabendefinition von Hall, daß hier im wesentlichen außerwissen-schaftliche Gesichtspunkte hervorgehoben werden, also keine primär wis-senschaftliche Aufgabendefinition gegeben wird. Schließlich könnte die hierformulierte Aufgabe (‘Menschen in die Lage versetzen, daß sie verstehen,was vor sich geht’) auch in Bezug auf Eß- oder Lesegewohnheiten gelten. Diekulturelle Optik ändert sich; aber ändert sich auch die wissenschaftlicheForm der Geisteswissenschaften (nunmehr als Kulturwissenschaftenbezeichnet)?

Dies läßt sich auch in anderer Weise formulieren. In Kuhnscher, zeitwei-lig auch in den Literaturwissenschaften sehr beliebter Terminologie läge hier- im Übergang von den Geistes- zu den Kulturwissenschaften - ein Paradig-menwechsel vor. Aber ist der wirklich gegeben? Mir scheint eher ein (viel-leicht durchaus fundamentaler) Themenwechsel vorzuliegen - von der Lite-ratur zu den Medien (allgemein), von der Semantik zur Semiotik, von Bil-dungsgegenständen zu kulturellem Wandel etc. -, kein ‘Formwechsel’. Wis-senschaftstheoretisch gesehen unterscheidet sich jedenfalls die Beschreibungvon Kulturwissenschaft nicht so fundamental von einer Beschreibung vonGeisteswissenschaft, wie Sie (und sich kulturwissenschaftlich verstehendeGeisteswissenschaftler) behaupten, daß man am Ende auch noch (im SinneKuhns) von Inkommensurabilität sprechen müßte. Auch Ihre Bemerkung,daß die Geisteswissenschaften nicht aus den Kulturwissenschaften vertrie-ben werden dürfen, spricht dafür, müßte aber strenggenommen, wenn hierParadigmenwechsel vorläge, bedeuten, daß so etwas empfohlen wird wie (aufdie Naturwissenschaften übertragen) die Beibehaltung einer AristotelischenPhysik in der neuzeitlichen Physik. Was also bedeutet die Beibehaltung einergeisteswissenschaftlichen Perspektive in den Kulturwissenschaften wirklich?

Noch zwei kleine Bemerkungen. Sie erwähnen Steiner und seine ‘Aus-wechslung’ des Begriffs des Geistes durch den der Kultur. Eine merkwürdigeThese. Kultur ersetzt nicht Geist, sondern ist Ausdruck von Geist. Dann heißtes, daß für die Geisteswissenschaften eine Diskussion über (mangelnde)Werte charakteristisch war, während die Kulturwissenschaften mit einer

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wissenschaften - semantisch über die Vorliebe, sich nunmehr als Kulturwis-senschaften zu verstehen - so leichten Herzens von ihrer idealistischen Ver-gangenheit verabschieden. Schließlich steckt in dieser Vergangenheit einungeheurer Anspruch des Begreifens, auch und gerade gegenüber kulturel-len Gegebenheiten und Entwicklungen. Daraus mag wieder die besondereVorliebe des Philosophen für das ‘Allgemeine’ gegenüber dem ‘Besonderen’sprechen, doch könnte eben dies auch eine korrekturbedürftige Wahrneh-mung des Philosophen und seiner Wahrnehmungen sein. Schließlich kommtes in allem, was wir als Wissenschaftler tun bzw. wie wir uns als Wissen-schaftler verstehen, darauf an, das Allgemeine (Theoretische) mit demBesonderen (der Vielfalt der Phänomene) zu verbinden. Beides macht dennauch die ‘Kultur’ aus, von der Sie sprechen - aus wissenschaftlicher wie auslebensweltlicher Perspektive.

Mit herzlichen GrüßenIhr Jürgen Mittelstraß

5. Mai 2003Liebe Frau Assmann,

ich schulde Ihnen immer noch die angekündigte Stellungnahme zu IhremText über den gegenwärtigen Stand der Kulturwissenschaften. Ich hatte ihnkurz, nachdem ich Ihnen geschrieben hatte, gelesen, zwischenzeitlich, überallerlei Turbulenzen, aber vergessen, mich zu melden. Nun habe ich ihn nocheinmal studiert und mit Vergnügen festgestellt, daß wir doch in wesentlichmehr Hinsichten miteinander übereinstimmen als zunächst vermutet. Diesgilt z.B. für Ihre Analyse unterschiedlicher Textbegriffe und Ihre Feststellung,daß die Krise der Geisteswissenschaften bzw. der Kulturwissenschaften eineKrise der Kultur selbst ist. Auch in der Kritik der Kompensationstheorie sindwir uns weitgehend einig, wobei Sie stärker innertheoretisch argumentieren,während es mir vor allem auf eine Kritik der systematischen Genügsamkeit

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Diskussion von Symbolen aufwarten. Ich verstehe, was Sie meinen, aber:Symboltheorien waren auch den Geisteswissenschaften nicht fremd. BeispielCassirer.

Es ist ein Vergnügen, mit Ihnen über das Ob und Wie von Geistes- bzw.Kulturwissenschaften zu streiten.

Mit herzlichen GrüßenIhr Jürgen Mittelstraß

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