miz.- Zeitschrift zu Migration

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miz. Seite 15 Seite 20 Seite 25 Zeitschrift zu Migration

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miz. - Zeitschrift zu Migration Dieses Magazin behandelt auf rund 40 Seiten das Thema Migration. Es enthält u.a. eine Reportage über bulgarische Tagelöhner, die nach Deutschland kommen, ein Interview mit Ruben Herzberg, einen Artikel der SPD-Bundestagsabgeordneten Aydan Özoğuz über den Begriff "Migrationshintergrund", einen spanischsprachigen Text - mit Übersetzung - zu Migration in Spanien... Die miz. entstand im Rahmen des Projektes "Klosterschüler machen Politik" an der Klosterschule in Hamburg

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miz.

DDiiee AAuu ttoorrii nn ÖÖzzll eemm GGeezzeerr uunndd ddeerr FFoottooggrraaffMMaauurrii ccii oo BBuussttaattmmaann ttee hhaabbeenn bbuu ll ggaarrii sscchheeTTaaggeell ööhhnneerr aauu ff ddeerreenn RReeii ssee nnaacchh DDeeuu ttsscchh ll aannddbbeegg ll ee ii tteett.. EE ii nnee bbeewweeggeennddee GGeesscchh ii cchh tteeAAbb SSeeii ttee 77

Migración española

Ein spanischsprachigerArtikel - mit deutscherÜbersetzung - über Mi-gration in Spanien

Seite 15

THEMEN

"Integration ist einSpagat"Ruben Herzberg übersein Leben, die jetztigeSituation der Juden inDetuschland und seineMotivationSeite 20

Migrationshintergrund?

Die SPD-Bundestagsab-geordnete Aydan Özoğuzschreibt über die Vor-und Nachtei le des Begrif-fes MigrationshintergrundSeite 25

Zeitschrift zu Migration

Nr. 1

www.miz-redaktion.de

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FOTO:MAURICIO

BUSTAMANTE

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ir haben ein stattl iches Haus geerbt, ein großes"Welthaus", in dem wir zusammen leben müssen -Schwarze und Weiße,

Menschen aus dem Osten und dem Westen, Heiden und Juden,Katholiken und Protestanten, Moslems und Hindus, eine Famil ie,die in ihren Ideen, ihrerKultur und ihren Interessen übermäßig verschieden ist und die -weil wir nie mehr ohne einander leben können - irgendwie lernenmuß, in dieser großenWelt miteinander zu leben."

(Martin Luther King, Nobelpreisrede 1 0.1 2.64)

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VORWORT

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Liebe Leserinnen und Leser,Martin Luther King hat einmal geagt: "Nichtzusammenarbeit mit dem Bösen ist genauso einemoralische Pfl icht wie Zusammenarbeit mit dem Guten."

Sie mögen sich viel leicht gefragt haben: Wie kommt es, dass ein 1 5-Jähriger rund 2 Monate"eigenständig" an einer Zeitschirft arbeitet?Ich bin in Hamburg geboren und lebe hier noch immer. Mein Vater kam in den 70er Jahren zumStudieren aus der Türkei nach Deutschland. Meine Muttersprache ist Deutsch. Türkisch kannich zwar sprechen, aber nicht perfekt. In den Ferien besuchen meine Famil ie und ich ab und zuVerwandte in der Türkei. Trotzdem mache ich immer wieder schlechte Erfahrungen im Hinbl ickauf "meinen" Migrationshintergrund. Hier ein al ltägl iches, eher mildes Beispiel - welches ichauch schon in Kreisen erlebt habe, wo man das nicht erwarten würde:Wenn ich neue Leute kennenlerne, sagen diese häufig: "Ich hätte nicht gedacht, dass du Türkebist" oder "Du bist gar nicht wie ein Türke."Sie mögen jetzt viel leicht sagen: "Ach, diese Aussage ist doch gar nicht so schlimm," und ichweiß, dass dies häufig als Kompliment gemeint ist, aber trotzdem ist es verletzend. Von vielenPersonen mit Migrationshintergrund - auch von türkischstämmigen Personen - haben vieleMenschen in der deutschen Gesellschaft ein schlechtes Bild, das häufig unbewusst geäußertwird und eine Menge Menschen verletzt. Neben der Frage der Vorurtei le wirft das obengenann-te Beispiel aber noch eine andere Frage auf: Bin ich nun ein "Türke" oder doch ein "Deut-scher"?Berthold Brecht hat einmal gesagt: "Mensch, es wohnen dir zwei Seelen In der Brust! Suchnicht eine auszuwählen, da du beide haben musst." Im Bezug auf dieses Thema sollte es mei-ner Meinung nach bei einigen Personen auch ein Umdenken geben.Nun zurück zum Beispiel. Es ist mir bewusst, dass es schlimmere und heftigere Diskriminerunggibt - und, dass das obengenannte Problem ein zu komplexes ist, als es mit zwei Sätzen lösenzu können, - aber mit diesem Beispiel wil l ich zeigen, was der "Hauptauslöser" dafür ist, dassich in einem solchen Maße Zeit und Energie in die Erstel lung dieser Zeitschrift gesteckt habe.Trotzdem möchte ich betonen, dass Migration, und besonders "Integration", ein Thema ist, dasjeden einzelnen betrifft - es ist ein gesellschaftl iches Thema.Die miz habe ich hauptsächlich in den zwei Wochen des Projektes "Klosterschüler machen Po-l itik" an meiner Schule - dem Ganztagsgymnasium Klosterschule - erstel lt. Während diesesProjektes ging es darum, sich politisch zu engagieren. Neben viel Arbeit und Stress hatte ichviel Spaß und habe einiges gelernt. Die miz wäre ohne die zahlreichen "Unterstützer" nie mög-l ich gewesen. Deshalb möchte ich mich herzl ich bei ihnen bedanken!Ich weiß, dass man mit rund 40 Seiten nicht das ganze Thema Migration abdecken kann, aberich denke, dass diese Zeitschrift einige wichtige Themen aus verschiedenen Bereichen undPerspektiven behandelt. Es geht um Arbeitsmigranten, Integration in Deutschland, "Luxusmi-granten", Flüchtl inge, . . .Ich hoffe, dass möglichst viele Leute, von Alt bis Jung, diese Zeitschrift lesen und würde michfreuen, wenn Sie Bekannte und andere Personen auf die miz aufmerksam machen könnten.Außerdem würde ich mir wünschen, dass diese Zeitschrift nicht nur zur Unterhaltung gelesenwird, sondern, dass sie bei jedem einzelnen Leser auch etwas bewirkt, denn wie bereits gesagt,ist Migration ein wichtiges Thema, das jeden etwas angeht.

Und um noch einmal auf Martin Luther King zurückzukommen. Er hat auch gesagt: "Wer dasBöse widerspruchslos hinnimmt, unterstützt es in Wirkl ichkeit. "

Max (Herausgeber der miz)

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Die HoffnungsreisendenDie Autorin Özlem Gezer und der Fotograf MauricioBustatmante haben bulgarische Tagelöhner aufderen Reise nach Deutschland begleitet. Einebewegende Geschichte

Costa Concordia oder die schlimmstenSchiffskatastrophen im MittelmeerAm Januar 201 2 havarierte die "Costa Concordia" -23 Menschen starben. Eine Übersicht über dieschl immsten Schiffskatastrophen im Mittelmeer

La migración en España- un alegato

Migration in Spanien- ein Plädoyer

"Das ist nicht wie Yoga"Angelina Stern, Leiterin der Abteilung "Deutsch alsFremdsprache" an der Hamburger VHS, über dasTeilnehmerprofi l , die Situation der Teilnehmer undTeilnehmerinnen und den Einbürgerungstest

"Integration ist ein Spagat"Ruben Herzberg über sein Leben, die jetztigeSituation der Juden in Detuschland und seineMotivation

Die HoffnungsreisendenLa migración en España -Migration in Spanien

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INHALT

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"Integration ist ein Spagat" Migrationshintergrund?

24 Wie nützlich ist der Begriff"Migrationshintergrund"?Die SPD-Bundestagsabgeordnete Aydan Özoğuzüber die Vor- und Nachtei le des Begriffes"Migrationshintergrund"

"Fremd ist der Fremde nur in der Fremde"Am 1 . Januar 1 971 kam Ahmet Demirdi lek nachDeutschland - Erfahrungen, Erlebnisse undEinschätzungen

PleQ - Eine SchreibwerkstattEinführung in das Projekt PfleQ in Hamburg-Bil lstedt

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Etwas ganz anderes: Luxusmigranten?!Eine "Luxusmigranten", die in Portugal undDeutschland lebt, berichtet über ihre Erfahrungen

Kreative Köpfe aus BillstedtDie Qualifzierungsleiterin von PleQ, RukiyeÇankıran, stel lt das Projekt, insbesondere dieSchreibwerkstatt, kurz vor

fremd sind wir, fremd bleiben wir, fremd sterbenwirSiegerbeitrag des Schreibwettbewerbs "Alt werdenin der Fremde" von Özlem Alagöz im Rahmen desProjektes PfleQ

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Bojan Hakim(*1 ) steht auf demMarktplatz und nimmt Bestel-lungen an. "Drei Männer zwi-schen 20 und 35", sagt einKunde, "diesmal aber kräfti-ger!" Hakim nickt. Dann drückter dem Bauherrn seine Visi-tenkarte in die Hand. Ein VWTransporter ist darauf abgebil-det, darunter steht in rotenBuchstaben: "Germania Turs".Obst- und Gemüsehändlerbieten nebenan ihre Ware feil ,

Trödler verkaufen Radiogeräteund Aschenbecher, es ist Wo-chenmarkt in Wilhelmsburg,einem Hamburger Arbeiter-und Zuwandererviertel. DieNachfrage ist groß, nach al-lem, was gut und bil l ig ist.Es gehen noch mehr Bestel-lungen ein an diesem Vormit-tag. Hakims Angebot istbegehrt, seine Bulgaren sindauf Baustel len gefragt, im Ha-fen, in Gaststätten und Putz-

kolonnen. Immer wiederkl ingelt sein Handy, es meldensich Pizzabäcker aus Däne-mark und Lagerleiter ausFrankfurt. Sie bestel len Men-schen für 25 Euro pro Tag,steuerfrei und unversichert.Bojan Hakim, 33, kennt sichaus. Früher, in Bulgarien, han-delte er mit Vieh. Mit Schafen,mit Ziegen, mit Kühen. Siemussten gesund sein, seineTiere, stark und wil l ig. Das

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Von Özlem Gezer

Moderne Menschenhändler beliefern den deutschen Markt mit Arbeitskräftenaus Bulgarien, auf die drei Euro Stundenlohn warten und Schlafplätze im

Kellerverschlag. Eine Reise mit Tagelöhnern, die Deutschland für das gelobteLand halten.

Rushti Yazar fäl lt der Abschied aus seiner Heimatstadt Sliwo Pole schwer FOTO: MAURICIO BUSTAMANTE

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Geschäft l ief gut. Heute han-delt er mit Menschen. Gesundmüssen sie sein, stark und wil-l ig. Das Geschäft läuft besser.Ein zerfleddertes Notizbuchdient Hakim als mobiles,deutsch-bulgarisches Ar-beitsamt, darin notiert er dieNamen seiner Arbeiter, Größe,Alter und Beruf, fal ls sie einenhaben. Sobald sie zum Profi leines Auftraggebers passen,wird er sie nach Deutschlandtransportieren, den Kontaktzum Arbeitgeber herstel lenund einen Schlafplatz vermit-teln.Jede Woche bringt Hakim inseinem Minibus acht Arbeiterin die Bundesrepublik, knapp400 sind es pro Jahr, Tausen-de kommen auf anderen We-gen und jagen hier einemTraum nach von Wohlstandund Aufstieg.Seit dem EU-Beitritt Bulgari-ens 2007 ist die Zahl der Bul-garen in Deutschland um36 000 gestiegen, der Zu-

wachs lag im letzten Jahr beiüber 20 Prozent, und niemandweiß, wie viele außerhalb derStatistiken hier leben, als Hilfs-arbeiter für drei Euro Stunden-lohn. Die meisten sprechenkein Deutsch, viele schickenihre Kinder nicht in die Schule,sondern zur nächsten Stra-ßenkreuzung, um Windschutz-scheiben zu putzen; etl icheleben versteckt in Kellerzim-mern.Die Bulgaren sind im Momenteine der größten Zuwanderer-gruppen in Deutschland. Dasstei le Wohlstandsgefäl le sorgtfür steten Nachschub, auchwenn Bulgaren, anders als Po-len oder Ungarn, erst ab 201 4die volle europäische Freizü-gigkeit für Arbeitnehmer genie-ßen.Als EU-Bürger können sie ein-reisen, so oft sie wollen. Siebrauchen kein Visum und kei-ne Aufenthaltsgenehmigung;nur wer länger als drei Monatebleibt und arbeiten wil l , muss

die Erlaubnis der Behördenhaben. Manche melden dannein Gewerbe an und leben inder Scheinselbständigkeit, an-dere suchen ganz ohne Pa-piere als Tagelöhner Jobs,doch auf dem Schwarzmarktmacht das kaum einen Unter-schied. Die Chancen aufzufl ie-gen sind gering.2200 Kilometer von Hamburg-Wilhelmsburg entfernt sitzenvier Männer an einem Tischund streiten. "Ich wil l heutenicht über Frankfurt fahren",sagt einer. "Ich musste letzteWoche schon bis nach Stutt-gart, diese Woche bist dudran", sagt der andere. BojanHakim schweigt. Die Mokka-tassen vor ihm sind leer, dieAschenbecher voll , er nippt aneiner Dose Bier, zieht an sei-ner Davidoff Gold Slim. "Wei-berzigaretten", sagt einer vonihnen. "Haben wir uns von denNutten abgeguckt, die wir hinund wieder transportieren", er-widert Hakim und lacht.

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Die ärmste Famil ie in Sliwo Pole: Der Famil ienvater wurde verletzt, so dass er nie wieder arbeitenkann. Eine Arbeitslosenversicherung oder Rente hat er nicht. Er ist einer der wenigen Männer, dienoch im Dorf leben und nicht ihr Glück in Deutschland versuchen.

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Das Tankstel len-Café l iegt inRusse, im Norden Bulgariens,an der Grenze zu Rumänien.Die Menschenhändler nennenes ihr "bulgarisches Büro". Siehaben das Umland unter sichaufgetei lt. Jeder fährt durchseine Dörfer, vertei lt Visiten-karten und spricht junge Män-ner an, die starke Oberarmehaben. Einmal pro Woche tref-fen sie sich im "Büro" und ent-scheiden, wer welche Städtein Deutschland beliefern soll .Dann vertei len sie die Arbeiterauf ihre Busse und kassieren.Die Fahrt nach Deutschlandkostet 1 50 Euro pro Person.Hakim steigt in seinen VW,Modell T5, Baujahr 2004. AchtPassagiere sitzen darin, bela-den mit Schafskäse, Taschenund der Hoffnung auf ein bes-seres Leben.Langsam geht es an verlasse-nen Schlachthöfen vorbei, an

geschlossenen Lederfabriken,durch ein Land, das zu Euro-pas ärmsten zählt. An diesemSamstagmittag scheint dieSonne über Sliwo Pole, es istdas letzte Dorf vor der Grenze.Fast jede Famil ie hier hateinen Ehemann, einen Bruderoder Sohn im Westen.Die Alten sitzen vor ihren Häu-sern und trinken Kaffee."Wenn die Kinder nicht inDeutschland wären, würdenwir verhungern", sagt eine alteFrau und verabschiedet sichvon ihrem Sohn. Er ist derletzte Fahrgast, den Hakim andiesem Samstag einsammelt.Der junge Bulgare fährt wiederzur Arbeit, nach Hamburg. Je-den Monat schickt er seinerFamil ie 200 Euro. Der Wes-tern-Union-Schalter im Dorf istihre einzige Verbindung, hierholt seine Mutter das Geld abund bezahlt ihre Schulden im

Lebensmittelgeschäft.Hakim startet den Motor unddreht die Boxen auf, bulgari-sche Volksmusik. Von einemSpeicherstick mit mehr als3000 Liedern wird die nächs-ten 40 Stunden ununterbro-chen Musik abgespielt. "Ichkann nicht so viel Gerede er-tragen", sagt Hakim. Er kenntja die Träume seiner Passa-giere und weiß, was sie inDeutschland erwartet.Einige in seinem Bus verlas-sen heute das erste Mal ihrHeimatdorf. Rushti Yazar zumBeispiel, er ist 20. Die Haaresind gegelt, das Gesicht frischrasiert, er trägt ein l i lafarbenesShirt und sieht so aus, alsstünde er vor seinem erstenRendezvous. Yazar fährt insUngewisse. Keiner hat ihn be-stel lt. Verwandte in Frankfurtsagten, es werde sich schonetwas ergeben, er sol le kom-

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Rushti und Sinan auf dem Weg nach Deutschland. "Solche Leute wie dichfressen sie auf", sagt Sinan. "Du bist zu schüchtern."

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men. "In Deutschland l iegt dasGeld doch auf der Straße, wirmüssen es nur aufsammeln",sagt er. Der Bus fährt über die"Freundschaftsbrücke" nachRumänien. Aus den Boxen er-tönen melancholische Ara-beskklänge, sie handeln vonSehnsucht und Abschied. Ya-zar packt süße Melonenstückevon seiner Mutter aus einemPappkarton, reicht sie seinemSitznachbarn Sinan und fragt,wie es nun wirkl ich sei bei denDeutschen.Sinan Kemal, 27, lebt seit vierJahren in Deutschland undkommt gerade von einemKurzbesuch bei seiner Famil ie.Für die Fahrt hat er sich nichtso fein gemacht wie Yazar, erträgt T-Shirt und Jogginghose,für die Träume des Neuen hater ein mildes Lächeln übrig."Ich wurde auch von Hakimimportiert", sagt er. "SolcheLeute wie dich fressen sie auf,du bist zu schüchtern.Deutschland ist ein Sklavenla-ger."An seine Ankunft in Hamburgkann sich Kemal gut erinnern.Auch ihn hatte keiner bestel lt.Mit einer Stange Zigarettenund zehn Kilogramm Gepäckstand er in der fremden Stadtund wartete auf sein neuesLeben. Das alte hatte er inBulgarien verpfändet, sein ein-ziger Besitz war das Hoch-zeitsgold seiner Ehefrau. Dashinterl ieß er in einem Leihhausin Russe. In Bulgarien stehtdas Hochzeitsgold für die Ehreder Frau, für Kemal war esdas nötige Kleingeld für denNeustart in Deutschland."Tagelöhner werden am Markt-platz eingesammelt", sagteihm die Kellnerin in einer Tee-stube in Wilhelmsburg. DreiWochen lang stand er mor-gens dort und wartete. Dann

nahm ihn ein türkischer Mannmit auf den Großmarkt. FünfStunden packte er Obst undGemüse, zehn Euro waren derLohn. Andere Jobs folgten:Kemal verpackte Telefoner-satztei le, sortierte Kleiderbü-gel, sortierte Müll , verschnürteZeitschriften, arbeitete aufdem Bau. Ein normaler Ar-beitstag hatte 1 5 Stunden undbrachte maximal 30 Euro. "Ichwar hungrig, frustriert und ent-täuscht", sagt er.1 50 Euro im Monat kostetesein Schlafplatz, eine versiffteMatratze bei einem Bekann-ten. In manchen Monatenschlief er im Keller einer kurdi-schen Famil ie. Kemal zieht anseiner Zigarette. Er erzählt vontürkischen Lagerleitern in Wil-helmsburg, die ihre Arbeiterohrfeigen, wenn sie nichtschnell genug packen. Er sagt,er habe sich wie ein Sklaveder Türken gefühlt. "Du bistzwar EU-Bürger, aber du bisthalt im falschen Land gebo-ren." Yazar hört zu, überlegt.Dann sagt er: "Drei Euro dieStunde sind auch gut, wenndu in Bulgarien hungernmusst."Hakim mag Passagiere wieKemal und Yazar nicht. Aberwenn nicht genug Bestel lun-gen von Arbeitgebern einge-hen, dann fül lenHoffnungsreisende wie sie dieleeren Plätze in seinem Bus.Für Hakim sieht ein optimalerFahrgast anders aus: 1 50 Eu-ro Transport, bis zu 200 EuroVermittlungsgebühr vom Ar-beitgeber, 1 50 Euro vom Ver-mieter. Hakim istReiseunternehmen, Jobcenterund Maklerbüro zugleich."Schlechte Tour", sagt er undschlägt mit der flachen Handauf das Lenkrad.Als 20-Jähriger war er 1 998

nach Griechenland gegangen.Der Viehhandel zu Hausereichte zwar zum Leben, aberHakim träumte vom großenGeld. Er pflückte zwei Jahrelang Erdbeeren auf den Fel-dern, sparte umgerechnet1 400 Mark. Er kaufte sicheinen Peugeot 405, seinenFührerschein zahlte er mit ei-ner Kuh. Mit 22 organisierte erdie ersten Menschentranspor-te nach Griechenland. Die Ge-schäfte l iefen gut. Nach dreiJahren kaufte Hakim seinenersten Kleinbus."Griechenland war eine Gold-grube", sagt er. In guten Mo-naten verdiente er bis zu 1 0000 Euro mit seinen Transpor-ten. Dann kam die Krise inGriechenland, und Deutsch-land wurde zum gelobten Landder Bulgaren.Auf einer Landstraße kurz vorBukarest ist Stau. Verkäuferdrängeln sich an die Fensterund halten ihre Waren in denWagen. Hakim feilscht. Erkauft zwölf Paar Strümpfe fürdrei Euro, Kristal lgläser fürseine Mutter, gefälschte Nike-Schuhe für seinen Sohn."Drecksvolk", murmelt er unddrängelt sich auf den Seiten-streifen, vorbei an den Lkw,"al les Zigeuner und Diebe."Die Rumänen seien schulddaran, dass tüchtige Osteuro-päer wie seine Bulgaren einenschlechten Ruf in Deutschlandhätten.Kurz vor der Grenze zu Un-garn kontrol l iert Hakim seinHandschuhfach und greift zueinem gefälschten Mil itäraus-weis, der ihn als Offizier derbulgarischen Armee identifi-ziert. "Seit acht Jahren er-leichtert dieser Ausweis meinLeben", sagt Hakim. Er fährtan die Seite. Der Grenzbeam-te sagt, er wolle jeden Koffer

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kontrol l ieren. "Er wil l nur Geld,das hungrige Schwein", flüstertHakim und hält seinen Ausweisaus dem Fenster. Der Beamtestarrt das Papier an und war-tet. Hakim schreit in den Bus:"Wer hat fünf Euro? Her da-mit!" Yazar holt einen Scheinaus seiner Hosentasche undreicht ihn nach vorn. Hakimgibt dem Beamten das Geld."Hier, kannst Suppe trinken",sagt er. Der Beamte reicht ihmden Ausweis zurück. Die Reisegeht weiter.Es ist mitten in der Nacht, Ha-kims Handy klingelt. Es ist eintürkischer Raststättenbetreiberaus Dänemark. "Du wil lst eineFrau? Warum? Muss siehübsch sein? Nein? Okay. EinePizzabäckerin habe ich nochim Dorf. Bringe ich dir nächs-ten Dienstag mit, 450 Euro.Cash. Ciao." Während er mitTempo 1 60 auf der Autobahnfährt, tippt er eine Erinnerungin seinen Handy-Kalender."Dienstag. Frau. Dorf. Däne-mark." Dann dreht er die Musiklauter. Hakim klatscht in dieHände. Er ist zufrieden. DerBus für nächste Woche istschon zur Hälfte ausgebucht.Drei Bauarbeiter nach Ham-burg, eine Frau nach Däne-mark. Die Männer bringen 900Euro, Transport und Vermitt-

lung, die Frau 450. Das ist jetztschon besser als die heutigeTour.Hakim braucht selten Schlaf.Wenn seine Augen brennenund er die Fahrstreifen kaumnoch erkennt, fährt er aufeinen Rastplatz, stel lt den Mo-tor aus, bindet sich einen grau-en Schal über die Augen, ziehtseine Schuhe aus und legt dieFüße hoch. Innerhalb wenigerMinuten beginnt er zu schnar-chen. In einem normalen Bettkann er schon seit langemnicht mehr gut schlafen. "MeinKörper ruht nur im gekrümm-ten Zustand", sagt er später.Kurz vor der deutschen Gren-ze holt Hakim drei Digitalkame-ras und 1 600 Euro aus demHandschuhfach. "Wir sind Tou-risten und fahren auf eineHochzeit", ruft er in den Bushinein. "Kapiert?" Alle nicken.Jeder bekommt 200 Euro indie Tasche, die Digitalkameraswerden vertei lt. Nach fünf Mi-nuten wird aus dem silbernenBMW vor ihnen eine rote Kellegewinkt. Der Bus wird aufeinen Parkplatz gelotst. Zivi l-fahnder kommen ans Fensterund fragen nach dem Reise-grund. "Turist, Turist, GermaniaTur, Familywedding in Germa-nia", sagt Hakim. Die Beamtennehmen die Pässe. Nach zehn

Minuten geht die Fahrt weiter."Sie könnten uns sowieso nichtdaran hindern, durch Europazu reisen", sagt Hakim. "Wirsind EU-Bürger. Aber dieHochzeitsnummer macht esviel stressfreier."Hakims erster Halt in Deutsch-land ist Dortmund. Dort holt erDöner-Gewürze, die er an bul-garische Imbissbesitzer inRusse verkaufen wird, wie jedeWoche. Um kurz vor 21 Uhrerreicht er Frankfurt am Main,er ist jetzt seit 28 Stunden un-terwegs. Rushti Yazar siehtzum ersten Mal die FrankfurterSkyline, hel l erleuchtet, dieTürme der Banken, Versiche-rungen, das große Geld. Er istbegeistert, das höchste Ge-bäude in seinem Dorf ist dieMoschee mit dem Minarett.Aber wo ist der Treffpunkt mitseinem Verwandten? Plötzl ichsieht er an einer Straßeneckeeinen Jungen auf einem Fahr-rad. "Stopp, stopp", schreit Ya-zar. Der Junge ist sein Cousin.Hakim bremst und kassiert die1 50 Euro. "Wenn du zurück-wil lst, dann ruf an. Du bleibstsowieso nicht lange, Kleiner",sagt Hakim.200 Kilometer weiter endet dieReise für Kemal. Vor einigenWochen ist er zu seinen Ver-wandten nach Ludwigsburg

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In Sliwo Pole hängen die Bewohner ihre Wünsche andie Bäume.

In Hamburg-Wilhelmsburg müssen vierHoffnungsreisende je 1 50 Euro pro Monat bezahlen, umin diesem Kellerloch hausen zu dürfen.

FOTOS:MAURICIO

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gezogen. Hier lebt er jetzt mitsieben von ihnen auf 60 Qua-dratmetern, es ist ein Aufstieggegenüber Hamburg-Wil-helmsburg. Auch in Ludwigs-burg wird Kemal auf dem Bauarbeiten. "Die Deutschen zah-len anständiger, hier lebennicht so viele Türken", sagt er.Der nächste Halt ist Berl in-Neukölln, dann folgt Schwerinund schließlich Hamburg. Dieletzten Passagiere steigenaus. Hakim parkt in einerSackgasse und verschwindetin einem Altbau, wo er mitneun Verwandten in einer Drei-zimmerwohnung lebt. Der ei-gentl iche Mieter, einHartz-IV-Empfänger, ist zu sei-ner Mutter gezogen. 1 00 Eurokassiert er pro Untermieter,1 000 Euro im Monat für einevom Amt bezahlte Wohnung.Hakim findet die Wohnungnicht günstig, aber praktisch.Er wil l nichts mit Deutschlandzu tun haben, nicht die Spra-che lernen, nicht offiziel l exis-tieren in diesem Land.Über die Jahre hat sich BojanHakim eine Struktur aufgebaut,um den deutschen Markt zubeliefern. Den Markt der Ar-beitgeber, die l ieber drei stattacht Euro zahlen, und denMarkt der Hauseigentümer, diesich etwas dazuverdienen wol-len. Ein Kellerschlafplatz inWilhelmsburg kostet 1 50 bis200 Euro. Polizei und Steuer-fahndung merken nur selten,dass ein Kellerflur mit sechsRäumen einem listigen Ver-mieter bis zu 4000 Euro steu-erfreies Zusatzeinkommen imMonat bescheren kann.Es gibt in Hamburg ein Gesetz,das jeder Person zehn Qua-dratmeter Wohnraum einräumt.Zehn Quadratmeter pro Per-son? Seyit Erfan(*2) lacht. Vorelf Wochen hat ihn Hakim nach

Wilhelmsburg transportiert undihm einen Job und einenSchlafplatz vermittelt. Jetzt lebter in einem Kellerabtei l einesverwitterten Backsteinbaus, esgibt eine Couchgarnitur undzwei durchgelegene Matrat-zen, die Wände sind keinezwei Meter hoch, in der Lufthängt der Geruch von Zigaret-tenqualm und Schweiß.Vier bulgarische Tagelöhnerwohnen hier auf knapp achtQuadratmetern. Auf dem Bo-den stehen ein Gaskocher,Thunfischkonserven und Le-bensmittel in Lidl-Tüten. AmEingang nagen Ratten an Müll-resten. Sechs solcher Räumereihen sich auf dem Kellerflur.In manchen der Abteile woh-nen Famil ien mit Kindern. Esriecht nach feuchter Kleidung,Babywindeln und Kanalisation.1 50 Euro zahlt Erfan monatl ichfür seinen Schlafplatz. Ein TagVerspätung kostet ihn zehnEuro extra. Die Logistikfirma,an die ihn Hakim vermittelte,beschäftigte ihn nur drei Wo-chen. Erfan, 46, war dem La-gerleiter zu alt, nicht schnellund kräftig genug. Seitdemsteigter jeden Morgen ziel los ausdem Keller, stel lt sich auf denMarktplatz und wartet.Wenn er Glück hat, kann er fürzehn Euro drei Stunden langeine Wohnung entmüllen. "Wirbehandeln im Dorf unsereHunde besser als die Leutehier die Bulgaren", sagt er undgeht über den Platz in ein In-ternetcafé auf der Veringstra-ße. In Sliwo Pole sitzt seineFrau vor dem Computer. "Sollich nicht zurückkommen?",fragt Erfan immer wieder mitleiser Stimme. "Auf gar keinenFall , hier bist du arbeitslos",antwortet seine Frau. "Wannholst du uns endlich nach

Deutschland?", fragt sie dann,wie jeden Tag.Erfan könnte erzählen, dassheute Morgen die Polizei inden Kellerräumen war, dasssein neuer Schlafplatz einDachgeschoss ohne Toilette,ohne Dusche, ohne Küchewerden wird. Er könnte erzäh-len, dass er dann drei Straßenweiter laufen muss, um seinGesicht zu waschen oder dieToilette bei seinen Verwandtenzu nutzen. Er könnte erzählen,dass die Ratten an ihren Es-sensreserven nagen, wenn sieüber Nacht das Fenster verse-hentl ich offen lassen. Er könn-te auch erzählen, dass er nochnicht einmal seine Miete begli-chen hat und Hakim noch 1 50Euro für die Hinfahrt schuldet.Aber er schweigt.Auf dem Bildschirm sieht erseinen neugeborenen Enkel,das erste Mal. Erfan fl ießenTränen über seine hohenWangenknochen. Er hat Sehn-sucht. Nach seinem Dorf. Nachdem Geruch der frischen To-maten in seinem Garten. Nachseiner Frau. Erfan verabschie-det sich, zahlt zwei Euro fürdas kurze Famil ientreffen undgeht zurück in seinen Keller.Seyit Erfan sitzt regungslos aufseiner Matratze, zündet sicheine Zigarette an. Da kommtHakim in den Kellerflur. Erfanbittet, ihn wieder mitzunehmen.Nach Hause, nach Sliwo Pole."Bezahl erst mal deine Schul-den." Erfan nickt. "Ich bin dochkein bulgarischer Schutzen-gel", sagt Hakim. Dann ver-lässt er den Keller. BojanHakim geht über den Hof undschließt die Metal lpforte zu. !(*1 ) Name von der Redaktiongeändert. (*2) Name von derRedaktion geändert.

DER SPIEGEL 1 6/2011

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ÜERSICHT

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Die schlimmstenSchiffsunglücke imMittelmeer von 2006 bisJanuar 201 2:

1 : 28. April 2011 :Flüchtl ingsboot aus Libyenerleidet Schiffbruch auf demWeg nach Lampedusa, 320Passagiere verschollen.

2: 3. April 2011 :Flüchtl ingsboot aus Libyen

erleidet Schiffbruch kurz nachder Abfahrt. 68 Leichen amStrand von Tripol is angespült,250 Passagiere verschollen.

3: 2. Juni 2011 :Havariertes Boot mit über 700Flüchtl ingen vor Kerkennah(Tunesien) kentert währendder Rettung. 2 Leichengeborgen, 270 Passagierevermisst.

4: 7. April 2011 :Flüchtl ingsboot bricht währendRettung vor Lampedusaauseinander und sinkt. 21 3Passagiere verschollen.

5: 29. März 2009:Flüchtl ingsboot sinkt dreiStunden nach Abfahrt ausTripol is. 20 Leichen geborgen,21 0 Passagiere verschollen.

ÜERSICHT

Mit 700 Menschen an Bord gekentert, aber nicht auf Titelseiten gelandet:Flüchtl ingsschiff aus Libyen bei einer tunesischen Insel

FOTO: DDP IMAGES/AP/LINDSAY MACKENZIE

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ÜBERSICHT

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6: 27. Oktober 2008:Boot mit 200 Flüchtl ingen ausÄgypten Richtung Ital ienverschwindet. Ein Passagiergab noch per Handy SOS, dasBoot wurde nie gefunden.

7: 7. Juni 2008:Boot sinkt auf dem Weg vonLibyen nach Ital ien,mindestens 40 Leichengefunden, über 1 00verschollen.

8: 23. September 2008:Boot mit 83 Ägyptern RichtungGriechenland verschwindetnach drei Tagen spurlos.

9: 20. August 2009:Fünf Eritreer, südl ich vonLampedusa aus einemFischkutter gerettet, berichtenvon 75 über Bord geworfenenToten während zwanzigtägigerIrrfahrt.

1 0: 4. August 2008:75 Somalis vor Libyenverschollen.

11 : 29. März 2011 :Boot aus Sfax (Tunesien)nach Lampedusa mit 74Passagieren verschollen.

1 2: 27. August 2008:Deutscher Frontex-Hubschrauber ortetSchlauchboot südl ich vonMalta. Gerettete berichten von70 Toten.

1 3: 20. März 2009:Boot aus Sfax (Tunesien)kentert. 1 7 Leichen geborgen,50 verschollen.

1 4: 9. Mai 2011 :Eritreisches Flüchtl ingsbootkreuzt zwei Wochen vorI tal ien, Nato-Schiffe helfennicht, 61 der 72 Passagieresterben.

1 5: 22. Mai 2007:Boot mit 57 Menschen vorMalta verschollen.

1 6: 11 . Juni 2008:Schiff von Ägypten nachGriechenland sinkt. 51verschollen. Einer hatte SOSabgegeben.

1 7: 1 0. Mai 2008:Boot sinkt vor Teboulba(Tunesien). Drei Leichengeborgen, 47 vermisst.

1 8: 1 9. August 2006:I tal ienische Marine versenktFlüchtl ingsboot vorLampedusa bei der Rettung.1 0 Tote, 40 vermisst.

1 9: 9. Oktober 2008:Boot aus Keitra (Tunesien)kentert. Eine Leiche an Strandangeschwemmt, 48verschollen.

20: 6. Mai 2011 :Boot mit 600 Flüchtl ingenkentert vor Tripol is, 48 Tote.

(Quelle: "Fortress Europe")a

28: 1 3. Januar 201 2:Kreuzfahrtschiff "CostaConcordia" havariert vorI tal ien, 32 Tote.

miz. ­ Zeitschrift zu Migration

ESPAÑA

Während in Europa die Öf­fentlichkeit bestürzt ist, wenn32 Personen bei der Havarieeines Kreuzfahrtschiffes ster­ben, kommen jährlich ­ häufigunbeachtet ­ tausende Flücht­linge im Mittelmeer auf demWeg nach Europa ums Leben.Laut UNHCR (United NationsHigh Commissioner for Refu­gees) sollen 2011 1500 Men­schen, bei dem Versuch nachEuropa zu gelangen, im Mit­telmeer gestorben sein, wobeidie tatsächliche Zahl der Totenund Vermissten wohl nochsehr viel höher ist.Diese Übersicht über dieschlimmsten Schiffsunglückeim Mittelmeer von 2006 bisJanuar 2012 wurde am 18.Januar 2012 nach dem Schiff­sunglück der "Costa Concor­dia" in der taz veröffentlicht.Im Kommentar schrieb derKorrespondent Domimic John­son an diesem Tag:"Hunderte, wenn nicht Tau-sende von ihnen enden alsnamenlose Leichen auf hoherSee oder auf verlassenen fel-sigen Stränden. Tausende,wenn nicht Zehntausende vonihnen enden in der Unterwelteines krisengeschüttelten Eu-ropas, das für sie weder Platznoch Menschlichkeit übrighat.Die Passagiere der "CostaConcordia" beklagen zu RechtPannen und Schlamperei, undunter Wasser im Schiffsrumpfspielen sich jetzt bei der Su-che nach den letzten Vermiss-ten menschliche Dramen ab.Auch die vieltausendfachenKlagen und die Trauer derHinterbl iebenen der Opfer derSeefestung Europa verdienenes, Gehör zu finden. Die Totensind unter uns: ob die vom Lu-xuskreuzer oder die vomFischkutter."

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ÜBERSICHT

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Las migraciones hacen pe-queño el mundo y los países.Y, sin remedio, dejan lasmuchas fronteras físicas queexisten en meras trabas den-tro de un mapa que no es denadie y que no sirve para na-da. Contra el hambre, contralas desigualdades de riquezay sociales, contra las persecu-ciones económicas y políticas(si a veces no son lo mismo)casi no hay barrera que impi-da el empuje de las personasque intentan huir de las des-gracias y encontrar, dondesea, la posibi l idad de accedera un mundo mejor y más ju-sto. Como muchos otros paí-ses, España siempre fue uncruce de caminos, un lugar depaso para infinidad de pueb-los y culturas que, en realidad,no hacían otra cosa que mi-grar desde sus lugares de ori-gen y buscar nuevosacomodos, aunque muchasveces el movimiento estuvieradisfrazado de guerras por elterritorio y de poder o de im-perio. Los pueblos siempreiban de acá para allá y al con-trario, como si en realidad elser humano no tuviera asenta-miento fel iz en ninguna parte,ni siquiera en su propia casa.Como mil lones de españoles,yo no he vivido donde nací, nisiquiera he desarrol lado mi vi-da por las cercanías. Mi fami-l ia tuvo que salir del lugar porfalta de trabajo y medios paravivir, lo que siempre resultó unpequeño drama. Antes, mipadre, había estado siete

años de manera “paralegal”(con algunos derechos perono con todos) trabajando enmalos trabajos en Francia.Pero cuando allí, tras la l lama-da “revolución de Mayo del68” (1 968), comenzaron a est-ar económicamente las cosasmal, los primeros que tuvieronque salir, dejar las fábricas yvolver a andar y retroceder allugar de origen fueron los másdébiles en el sistema, los emi-grantes, los que se habían idoforzados de su propio país, yque en el país de llegada eranlos inmigrantes. Eso significa-ba volver a rehacer vidas,proyectos e ilusiones porquedonde “supuestamente” esta-ba la riqueza tampoco las co-sas funcionaron. Mi famil ia,como la de cientos de miles,encontró dentro de otra zonade España su lugar definitivo,su nuevo espacio, mucho másimportante ya que el propio lu-gar de origen: así los españo-les de las zonas pobres,Extremadura, Casti l la, Anda-lucíaa, pasaron a ser vascos,catalanes o madri leños, segúndonde hubiera sido el lugar dellegada. Unos años antes,habían sido franceses, alema-nes o suizos, que estas fueronlas sociedades que les aco-gieron, aunque para la ma-yoría fuera de maneratemporal. Unas cuantas déca-das antes de esto, cuandoentre los años 1 950 y 1 970 seprodujeron las grandes migra-ciones de españoles a otraszonas de España o de Euro-

pa, a principios del siglo XX,la migración española fue so-bre todo a América, a EstadosUnidos y Canadá, o a paísesmás accesibles para ellos porlas afinidades culturales comoMéxico, Venezuela o Argenti-na. España era un país deterribles miserias y desi-gualdades y no quedaba otraopción que buscar fuera loque en casa no había.Muchas famil ias no volvieron,porque perecieron en el inten-to, y otras muchas consiguie-ron progresar y olvidar casipara siempre a la “madre pa-tria”.Ahora, con las convulsionesfinancieras y sociales del sis-tema económico que nos do-mina, comienza a ocurrir lomismo. Con una tasa de des-empleo general superior al 25por ciento, y con una tasa dedesempleo juvenil por encimadel 50 por ciento, son cientosde miles los españoles (fun-damentalmente jóvenes) losque salen de sus casas paraencontrar otros lugares dondeprogresar o vivir con mejoresperspectivas de desarrol lopersonal. Con la única dife-rencia de que ahora, quizá porla revolución de las nuevastecnologías y la buena prepa-ración educativa, no se vetanto como un drama o frus-tración personal. Se abren anuevas culturas, mundos yoportunidades sin echar mu-cho la vista atrás. Y tambiénintentan volver a sus casas obuscar nuevos territorios de

ESPAÑA

Y vuelta a empezar ...

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ESPAÑA

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acogida una buena parte delos mil lones de migrantes defuera que llegaron a Españaentre las décadas de los 80 y90 del siglo pasado buscandoriqueza y que se han acabadotopando de nuevo con la po-breza. Aún habiendo echadoraíces y ser ya “más” españo-les que lo que decían sus pas-aportes, no les queda otraopción que salir a la búsquedauna vez más, porque dondeestán no tienen futuro. Tienenun doble drama añadido. AEspaña llegaron buscandotrabajo gentes de Latinoaméri-ca (Ecuador, sobre todo, Perú,Argentinaa), de Europa (Ru-manía, fundamentalmente) yde África (Marruecos, o depaíses subsaharianos comoSenegal). Todos lo tienen aho-ra muy difíci l . La España dehoy está atrapada con esasrealidades; como en el pasa-do, está volviendo a empezar,quiere hallar fuera lo que encasa no se encuentra y por-que los derechos fundamenta-les se suprimenconstantemente o se niegan.

Pero al mismo tiempo queesto curre, los más desespe-rados de la Tierra, los que notienen nada, siguen queriendollegar a España, por ser “lafrontera sur” de un mundo quetal vez sea pobre y desigualpero nunca tanto como lo esel suyo, pues, lamentable-mente, también hay cate-gorías para la pobreza. Y paraimpedir el empuje de esta per-sistente migración de perso-nas y como ocurre en tantasfronteras del planeta, se si-guen tej iendo grandes murosartificiales de hormigón, val lasalambradas infranqueables o,sencil lamente, se echa la vistahacia otro lado o se deja queuna parte de los que lo inten-tan mueran en ríos o maresfronterizos, como ocurre enEspaña en el Estrecho de Gi-braltar, una pequeña franja demar de apenas 1 4 kilómetrosque separa a España de Áfri-ca, donde en las últimas déca-das han dejado su vida demanera periódica miles depersonas que llevaban en las

pateras (las pequeñas embar-caciones con las que intentan“entrar en Europa”) lo únicoque tenían: la i lusión por en-contrar un mundo mejor. Aun-que si l legan al otro lado,nunca es fácil y, con frecuen-cia se topan con las peoresalambradas, con la de la indi-ferencia, con la del encarcela-miento en Centros deInternamiento para Extranje-ros “i legales” (cárceles en lasombra), la de la constantepersecución policial por no“tener papeles” (estar de ma-nera no legal en el país de lle-gada), o la de no tener accesoal trabajo o a los serviciosasistenciales mínimos paramantener una vida digna; y,tal vez, con las peores fron-teras, la de la explotación la-boral o sexual o la del racismoy la xenofobia.

Manuel G. Blázquez es pe-riodista español freelance yautor de guías de viaje en Du-Mont Reiseverlag.

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SPANIEN

Revindicaciones en «El Ejido», Andalucía, donde muchos inmigrantestrabajan en invernaderos bajo condiciones miserables

FOTO: BODO MARKS

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ESPAÑA

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Migration lässt die Welt unddie einzelnen Länder kleinerwerden. Und, da gibt es keinVertun, sie lässt al l ‘ die Grenz-zäune, die es gibt, zu reinenMarkierungen auf einer Land-karte werden, die niemandemgehören und zu nichts nutzesind. Gegen den Hunger, ge-gen die ungleiche Vertei lungvon Reichtum und sozialerVersorgung, gegen wirtschaft-l iche und politische Verfolgung(wenn es sich dabei manch-mal nicht sowieso um ein unddieselbe Sache handelt), gibtes keine Mauer, die demDruck der Leute standhaltenkönnte, die versuchen, denMissständen zu entfl iehen und- wo auch immer - den Zu-gang zu einer besseren undgerechteren Welt zu finden.Wie viele andere Länder auchwar Spanien seit jeher eineWegkreuzung, ein Durch-gangsort für unzählige Völkerund Kulturen, die in Wirkl ich-keit nichts anderes getan ha-ben, als fortzugehen von ihrenUrsprungsorten und eine neueZuflucht zu suchen. Nur ka-men diese Bewegungen oftgetarnt als Kriege daher, alsKriege um Land, um Machtoder Imperien. Die Völker ha-ben sich schon immer aufWanderschaft begeben, vonhier nach dort und von dortnach hier, so als hätte derMensch nirgendwo eine glück-l iche Heimstatt, nicht einmal in

seinem eigenen Haus.Wie Mil l ionen anderer Spanierauch habe ich nicht dort ge-lebt, wo ich geboren wurde,nicht einmal in der Nähe mei-nes Geburtsortes. Wegen feh-lender Arbeit und fehlenderMittel musste meine Famil iefortgehen, das kam immer ei-ner kleinen Katastrophegleich. Zuvor hatte mein Vatersieben Jahre lang „paralegal“(d.h. , er hatte einige Rechte,aber nicht al le) in Frankreichgelebt und war dort inschlechten, einfachen Jobs tä-tig. Aber als es dann, nachdem sogenannten revolutio-nären Mai von 1 968, wirt-schaftl ich bergab ging, warendie ersten, die gehen muss-ten, die die Fabriken zurück-lassen, sich erneut aufmachenund in ihre Heimatländer zu-rückkehren mussten, dieSchwächsten des Systems,die Auswanderer, diejenigen,die ihr Land gezwungenerma-ßen hatten verlassen müssenund die in dem AufnahmelandEinwanderer gewesen waren.Das bedeutete, erneut vonvorn anzufangen, das Leben,die Projekte und Träume neugestalten zu müssen, denndort, wo vermeintl ich Wohl-stand herrschte, l ief es auchnicht gut.Meine Famil ie, wie die hun-derttausend anderer, fand ih-ren Lebensmittelpunkt in eineranderen Region Spaniens, ein

neues Heim, inzwischen sehrviel wichtiger als der Her-kunftsort: so wurden aus denSpaniern der armen Landstri-che Extremadura, Kasti l ien,AndalusienaBasken, Katala-nen oder Madri lenen, je nachdem wo sie schließlich gelan-det waren. Einige Jahre zuvorwaren sie Franzosen, Deut-sche oder Schweizer gewesen- das waren die Länder, diesie aufgenommen hatten,auch wenn das für die meistennur vorübergehender Naturwar.Während es zwischen 1 950und 1 970 zu Auswanderungs-wellen in andere GebieteSpaniens oder Länder Euro-pas kam, war einige Jahr-zehnte davor, zu Beginn des20.Jahrhunderts, das Ziel derspanischen Auswanderer voral lem Amerika gewesen, dieVereinigten Staaten und Ka-nada, oder - wegen der kultu-rel len Nähe – ihnen besserzugängliche Länder wie Mexi-ko, Venezuela oder Argentini-en. In Spanien herrschtebittere Armut, große sozialeUngleichheit und es blieb ih-nen keine andere Wahl, als inder Ferne das zu suchen, wases zuhause nicht gab. VieleFamil ien kehrten nicht zurück,weil sie bereits bei dem Ver-such umkamen; vielen ande-ren gelang esvoranzukommen und „lamadre patria“ nahezu für im-

SPANIEN

Und noch einmal von vorn J

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INTERVIEW

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SPANIEN

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mer zu vergessen.Heute, in Zeiten finanziel lerund sozialer Erschütterungendes Wirtschaftssystems, dasuns beherrscht, beginnt dasgleiche noch einmal von vorn.Mit einer Arbeitslosenrate vonüber 25% und einer Jugendar-beitslosigkeit von mehr als50%, sind es hunderttausendeSpanier (die meisten jungeLeute), die ihr Zuhause verlas-sen, um andere Orte zu fin-den, in denen sievorankommen und besserePerspektiven haben, sich per-sönlich weiterzuentwickeln.Der einzige Unterschied ist –möglicherweise aufgrund derDigitalen Revolution und derguten Ausbildung –, dass diesnicht so sehr als Tragödieoder persönliche Frustrationerlebt wird. Sie öffnen sich ge-genüber neuen Kulturen, Wel-ten und Chancen, ohne denBlick zu häufig zurück zu wer-fen.Auch auf den Weg, zurücknach Hause oder auf die Su-che nach neuen Aufnahmelän-dern, begibt sich ein guter Teilder Mil l ionen von Migranten,die in den 80er und 90er Jah-ren des vergangenen Jahr-hunderts - auf der Suche nachWohlstand - nach Spanien ka-men, was nun damit endet,dass sie erneut der Armutausgesetzt sind. Auch wennsie begonnen haben, Wurzelnzu schlagen und „spanischer“zu sein als ihre Pässe es an-geben, haben sie keine ande-re Wahl, als sich ein weiteresMal auf die Suche zu bege-ben. Denn dort, wo sie jetztsind, haben sie keine Zukunft.Ihr Drama ist ein Doppeltes.Auf der Suche nach Arbeit ka-

men sie nach Spanien, Leuteaus Lateinamerika (aus Ecua-dor vor al lem, aus Peru, Ar-gentiniena), aus Europa(insbesondere aus Rumänien)und aus Afrika (aus Marokkound den Ländern südlich derSahara wie dem Senegal). Füral le ist es jetzt sehr schwierig.Das heutige Spanien ist ge-fangen in diesen Realitäten;wie in der Vergangenheit be-ginnt es wieder von vorn, manwil l in der Ferne suchen, wasman zu Hause nicht vorfindet,weil die Grundrechte – hier imweiteren Sinne - regelmäßigunterdrückt oder geleugnetwerden.Aber während dies geschieht,wollen die „Allerverzweifels-ten“ dieser Erde, die, die garnichts besitzen, weiterhin gernnach Spanien, weil es die süd-l iche Grenze einer Welt bi ldet,die arm und ungleich seinmag, aber niemals in demAusmaß wie ihre eigene.Denn auch bei der Armut gibtes leider verschiedene Stufen.

Und, um dem Strom andau-ernder Migration Einhalt zugebieten - wie es an vielenGrenzen des Planeten der Fallist - wird entweder weiterge-baut an großen „unnatürl i-chen“ Mauern aus Beton undan unüberwindbaren Stachel-drahtzäunen, oder man schauteinfach weg, oder man lässtzu, dass ein Teil derjenigen,die es versuchen, in den an-grenzenden Flüssen und Mee-ren umkommt, wie das inSpanien in der Meerenge vonGibraltar passiert - einemMeeresstreifen von nur 1 4 Ki-lometern Breite, der Spanien

von Afrika trennt. Dort habenin den letzten Jahrzehnten inregelmäßigen Abständen Tau-sende ihr Leben gelassen, dieauf ihren „pateras“ (eine Artkleinem Floß, auf dem sieversuchten, „Eintritt nach Eu-ropa“ zu erlangen) das einzigemit sich führten, was sie be-saßen: die I l lusion, eine bes-sere Welt zu finden.Auch wenn sie es auf die an-dere Seite schaffen, ist es nieeinfach, denn häufig treffensie auf die schl immsten allerZäune: auf die Gleichgültig-keit, auf Auffanglager (Ge-fängnisse im Schatten) für„i l legale“ Ausländer, auf stän-dige polizei l iche Verfolgung,weil sie keine Papiere besit-zen, oder darauf, dass sienicht arbeiten dürfen oderdass sie keinerlei Zugang zusozialer Versorgung haben,um ein menschenwürdigesLeben führen zu können. Undviel leicht treffen sie auf dieschl immsten aller Grenzen,die der Ausbeutung bei derArbeit, der sexuellen Ausbeu-tung, dem Rassismus und derFremdenfeindl ichkeit.

Manuel G. Blázquez ist spani-scher Freelance-Journalistund Autor von Reiseführerndes DuMont-Reiseverlages

Dieser Text ist die Über­setzung des spanischsprachi­gen Artikels: "La migración enEspaña", der auf Seite 15 zufinden ist.Übersetzung: Anke Voß

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miz.: Wer sind die Personen,die an den „Deutsch-als-Fremdsprache-Kursen“ tei l-nehmen?A. Stern: Das ist quer durchdie Bank. Das ist sehr, sehrunterschiedl ich. Die Teilneh-mer sind Leute, die jetzt neunach Deutschland kommen,jung sind, keinen Job kriegenund Deutsch lernen wollen.Es sind ältere Leute, die even-tuel l lange in Deutschland le-ben und Kenntnisse besitzen,die aber nicht ausreichen.Die Teilnehmer wollen entwe-der „freiwil l ig“ weiter lernenoder sie werden von der Aus-länderbehörde oder von derArbeitsagentur dazu verpfl ich-tet.Es sind Leute mit einem gerin-gen Bildungsniveau, für diedas Lernen ungewohnt ist, diein ihren Herkunftsländern niein die Schule gegangen sind.Es sind aber auch hochgebil-dete Leute dabei - Akademi-ker, manchmal mit mehrerenAbschlüssen, die bloß eineneue Sprache lernen müssen,weil sie eine andere Mutter-sprache sprechen. Und manhat natürl ich auch die Men-schen aus den verschiedens-ten Ländern,die ganze Palette.miz.: Was sind die Gründe da-für, dass sie nach Deutsch-land kommen?Stern: Die Gründe sind ganz

unterschiedl ich. Entwederhandelt es sich um Famil i-ennachzug oder die Leutekommen aus finanziel lenGründen nach Deutschland.Letzteres tritt in letzter Zeit im-mer mehr in den Vordergrund.Besonders Menschen aus denKrisenländern Spanien, I tal i-en, Griechenland und Portugalkommen aufgrund derschlechten wirtschaftl ichenBedingungen und dem Fach-kräftemangel in Deutschlandhierher. Auch aus Polen ha-ben wir immer mehr Teilneh-mer, weil die Hürden fürpolnische Staatsbürger hier zuarbeiten und zu wohnen ver-ringert wurden.Entscheidungen auf politi-scher Ebene z.B. Beitritte indie EU usw. verändern alsoauch die Ströme.Auch politische Entwicklungensind Auslöser dieser Bewe-gungen. Beispielsweise habenwir auch Teilnehmer aus Re-gionen, in denen politischeKrisen herrschen - Afghanis-tan, Iran, Irak - also politischeFlüchtl inge, die hier Asyl be-antragen.miz.: Wie viele DaF-Teilneh-mer haben Sie jährl ich?Stern: Wir haben um die elf-tausend Belegungen im Jahr.miz.: Was für unterschiedl iche„Einbürgerungstest-Kurse“gibt es und was sind die Inhal-te?

Stern: Der Einbürgerungstestbeinhaltet 330 Fragen. 300Fragen sind zu der Kultur undGeschichte Deutschlands. Au-ßerdem gibt es noch 1 0 bun-deslandspezifische Fragen –in unserem Fall ist das Ham-burg. Zusätzl ich dazu werdennoch 20 Fragen nach demZufal lsprinzip gezogen. DerTest ist eine eigene Zusam-menstel lung, die sich von derdes Nachbarn unterscheidet.Jeder Teilnehmer bekommtalso seinen eigenen Test.Die meisten der Test-Teilneh-mer besuchen keine Kurse beiuns, sondern lernen für denTest eigenständig, denn esgibt nur die Pfl icht, den Testzu absolvieren.Voraussetzung für die Einbür-gerung ist nicht nur, dass manseit 8 Jahren im Land lebt,sondern auch, dass man sei-nen Lebensunterhalt selbstverdient. Das bedeutet, dassdie Leute erwerbstätig sindund keine Zeit - Kapazitäten -haben, Kurse zu belegen. Diemeisten informieren sich überdas Internet. Dort sind Fragenund Antworten, Bücher undBroschüren zu finden.Es gibt einige wenige, die be-legen unseren 1 6-stündigenVorbereitungskurs, der kurzdie wichtigsten Themen be-handelt.miz.: Könnten Sie den Alltagder Teilnehmer des Vorberei-

INTERVIEW

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SPANIEN

Angelina Stern, Leiterin des Zentrums "Deutsch als Fremdsprache" an derHamburger VHS, über das Teilnehmerprofil, die Situation der Teilnehmer undTeilnehmerinnen und den Einbürgerungstest

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INTERVIEW

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tungskurses beschreiben?Stern: Das sind Leute, dieschon seit langem in Deutsch-land leben und gut integriertsind. Da ist nichts Besonde-res. Das sind Leute, die sindintegriert, haben einen Job, ei-ne Famil ie und wollen bloßeinen deutschen Pass.miz.: Und bei den DaF-Teil-nehmern?Stern: Die DaF-Teilnehmerhaben einen hohen Druck, siemüssen zusehen, dass sieschnell Deutsch lernen.Man muss bedenken, dassman die deutsche Sprache fürdas Leben braucht.Das ist nicht freiwil l ig wie einHobby - wie beispielsweiseYoga.Man braucht die Sprache, umhier in seinem Leben weiter-zukommen.Insofern steht ein andererDruck - eine andere Notwen-digkeit und Wichtigkeit - da-hinter.

Das Interview wurde am 29.Oktober 201 2 geführt von MaxCan Demirdi lek

Angelina Stern, 48,ist Leiterin des Zen-trums "Deutsch alsFremdsprache" an

der Hamburger Volks-hochschule (VHS)

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INTERVIEW

Ruben Herzberg, 61 , Schulleiter des GanztagsgymnasiumsKlosterschule undvier Jahre lang Vorsitzender der „Jüdischen Gemeinde inHamburg“, spricht über seine Lebensgeschichte, dieIntegration von Juden im heutigen Deutschland und seineMotivation, sich so stark zu engagieren

miz.: In vier Jahren sind Sie65, denken Sie daran aufzu-hören?Herzberg: Das ist eine sehrpersönliche Frage. Bis vor ei-nigen Jahren habe ich ge-dacht, ich werde bis zumletzten Tag, der es mir er-laubt, berufl ich tätig sein wol-len. Jetzt denke ich, einhalbes Jahr oder dreiviertelJahr früher in den Ruhe-

stand, kann nicht schaden.Aber darüber denke ich nochnach.miz.: 1 934 ist Ihr Vater als20-Jähriger aus seiner Ge-burtsstadt Berl in geflohen.Können Sie dieses Erlebnisein wenig beschreiben? Washat das für ihn bedeutet?Herzberg: Er war bis dahinkein bewusster Jude gewe-sen. Die

Ruben Herzberg bei einer Rede in der Johann-Gerhard-Oncken Kirche im Hamburger Grindelviertel im Apri l 2009

FOTO: UNBEKANNT

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INTERVIEW

miz. ­ Zeitschrift zu Migration20

INTERVIEW

jüdischen Traditionen hattensich beim ihm – bei seiner Fa-mil ie – nicht intensiv erhalten.Sein Vater – mein Großvater -war ein überzeugter Atheistund hatte sich innerl ich ganzstark von allen rel igiösen Fra-gen befreit. Mein Vater war einganz normaler Berl iner Junge– wie er dachte. Er wuchsweltl ich und gut integriert inBerl in auf.Erst mit dem Machtantritt derNazis wurde es für meinenVater knallhart spürbar. DieFirma, in der mein Vater jahre-lang als Lehrl ing beschäftigtwar, wurde „arisiert“ und damitverbunden war dann derRausschmiss der jüdischenMitarbeiter, zu denen mein Va-ter gehörte. Hauptsächlichaufgrund der Aussichtslosig-keit Arbeit zu finden, hat meinVater dann Deutschland ohneEltern als 20-Jähriger in Rich-tung Palästina, dem britischenMandatsgebiet im östl ichenMittelmeer, verlassen.miz.: Und Ihre Mutter?Herzberg: Meine Mutter ist1 920 geboren, sie ist also et-was jünger als mein Vater. Siehat viel einschneidender dieAusgrenzung als junge Jüdinin der Schule erlebt. Sie wur-de nach vorne gerufen undvorgeführt unter dem Motto:„Schaut euch mal die Carlaan. Typisch jüdisch ist siezwar nicht mit al len Merkma-len, aber immerhin, die ange-wachsenen Ohrläppchenkönnt ihr euch anschauen“.Sie ist dann als 1 6-Jährige -auch ohne Eltern - nach Pa-lästina, was für sie die einzigeAlternative war. Dort habensich meine Eltern dann ken-nengelernt.Ihre Großeltern mütterl icher-

seits sind nach Auschwitz ge-kommen und wurden dortermordet. Was ist dann in Ih-rer Mutter vorgegangen? Wiehat sie sich gefühlt?Erst einmal zur Faktenlage.Meine Großeltern mütterl i-cherseits, die Eltern meinerMutter und ihr jüngerer, da-mals 1 7-jähriger Bruder sindim März 1 943 von Hagen inWestfalen aus nach Auschwitzdeportiert worden. Sie sinddann unmittelbar zu Tode ge-kommen. Ganz geklärt istnoch nicht, ob sie viel leichtschon auf dem Transport umsLeben gekommen sind oderdirekt bei der Ankunft vergastworden sind.Meine Mutter hat das sehr nie-dergedrückt. Sie wollte niewieder nach Deutschland zu-rück.Meine Mutter hat mich aberimmer davor bewahrt zu den-ken, al le Deutschen warenNazis. Da bin ich ihr sehrdankbar für. Das war groß vonihr, muss ich schon sagen.Dabei hat sie aber nicht ge-sagt, al le wurden unterjocht,keiner hat es gewusst, keinerhat es gewollt.miz.: Wie kam es dann, dassSie 1 958 trotzdem nachDeutschland zurückgekehrtsind?Herzberg: Mein Vater hat denGedanken, nach Deutschlandzurück zu gehen, nie aufgege-ben, denn er konnte sich indem entstehenden israeli-schen Staat, 1 948 gegründet,nie so wirkl ich akklimatisieren– auch im wörtl ichen Sinne.Die Hitze hat ihn fertig ge-macht. Auch berufl ich hat ernicht so richtig Fuß gefasst.Er, der eigentl ich Kaufmannwar, hat zwischenzeitl ich als

Orangenpflücker, als Kellner,als Schiffssteward und auf ei-nem Hafenschlepper gearbei-tet und Briefe sortiert. Fürmich war er der preußischeBeamtentyp. Aber in Israelmusste man improvisieren. Erbeschwerte sich immer wie-der: „Warum gibt es keineFahrpläne an den Bushalte-stel len!“Er wollte immer wieder zurückin sein altes Berl in seiner Ju-gend. Sinnbild dafür war der„Blaue Engel“ mit MarleneDietrich. Was in der Nazizeitpassiert war, das wusste er.Aber er hat es nicht bis zumletzten wahrhaben wollen, erhat es immer ein Stück weitverdrängt.Jedenfal ls wollte er zurück zuseinem Berl in der späten 20erJahre, was es aber in den50er Jahren nicht gab. Letzt-endl ich sind meine Mutter undich, trotz anfänglicher Wider-stände, 1 958 meinem Vaternach Deutschland gefolgt.miz.: Und Ihre Schwester?Herzberg: Meine Schwesterist 9 Jahre älter als ich und alssie von den Plänen erfuhr,ging sie die Wände hoch undsagte: „Ins Land der Mördergehe ich nicht – auf keinenFall . " Meine Mutter suchtedann für meine 1 6-JährigeSchwester einen Platz im Kib-buz – eine Art ursozial istischeGemeinschaftssiedlung. Nacheinem Jahr ging meineSchwester dann für zwei Jah-re zum Mil itär.miz.: Sie haben bis zu Ihremsiebten Lebensjahr in Haifagelebt. Wie erging es Ihnendort?Herzberg: Da habe ich in denletzten Jahren immer intensi-ver darüber nachgedacht. Es

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INTERVIEW

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war merkwürdig.Ich habe schnell gemerkt,dass ich mit meiner deutschenMuttersprache, die meine El-tern zuhause in Haifa intensivpflegten, eine Sonderrol lespielte. Wir sprachen zuhauseDeutsch, denn meine Eltern,die nicht so gut hebräisch

konnten, wollten ihren Kindernkein falsches Hebräisch bei-bringen.Meine Schwester hingegen -die noch stärker als ich vonder Schule und dem Kinder-garten geprägt war- gab dieParole aus: „Deutsch sprecheich nicht, das ist die Spracheder Mörder.“Aber sobald ich gut genug He-bräisch konnte, war das dieSprache, die ich benutzte.Deutsch blieb aber die emotio-nal besetzte Sprache und

wenn es mir schlecht ging, be-nutzte ich Deutsch. Und icherinnere noch - und das trifftden Kern deiner Frage, glaubeich - an Situationen auf Spiel-plätzen, die hat es mehrfachgegeben. Kinder schlagensich ja manchmal die Knie blu-tig und dann heult man auch.

Heulend habe ich mich dannmeiner Mutter auf Deutsch ge-nähert und meine Mutter hatmich dann auf Deutsch ge-tröstet. Mehrfach hat es dannin solchen Situationen Er-wachsene gegeben, die ein-gegriffen haben auf Hebräischoder auch auf Jiddisch undmeiner Mutter Vorhaltungengemacht haben, wie sie dennmit diesem jungen Sabre – Is-rael i – auf Deutsch - manch-mal fiel auch das Wort „in derSprache der Mörder“ - spre-

chen könne. Viele dieserMenschen waren, was ich erstim Nachhinein begriffen habe,KZ-Überlebende mit Tätowie-rungen aus Konzentrationsla-gern auf dem Unterarm.Mir ist dann ziemlich früh klargeworden, dass es da einProblem mit unserer Sprache

und unserer Herkunft gibt. Eswar eine eigenartige Gemen-gelage. Ich war schon irgend-wie Migrantenkind, obwohl ichnatürl ich zur Mehrheitsgesell-schaft der Juden in Israel ge-hörte.Als wir dann in Deutschlandwaren, habe ich auch schnellgemerkt, dass ich, wenn ichweiter Hebräisch spreche,auch irgendetwas falsch ma-che.miz.: Wie ist Ihr „Schulweg“ inDeutschland verlaufen?

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INTERVIEW

Ruben Herzberg bei einem Gespräch mit der 88-Jährigen KZ-Überlebenden EstherBauer in der Klosterschule in Hamburg

FOTO: DIRK RABENSTEIN

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INTERVIEW

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Herzberg: Ich war auf einerGrundschule in Frankfurt undhabe dann auf dem Gymnasi-um Wöhlerschule Abitur ge-macht. Danach habe ich inFrankfurt und Marburg stu-diert, zunächst Politik, Ge-schichte und Englisch.Aufgrund der schlechten Stu-diensituation in Frankfurt habeich Englisch nicht mehr weiterstudiert. Also habe ich Politik,Geschichte und Germanistikstudiert. Viel leicht hätte ichnoch ein zwei Semester aus-halten sollen, dann wäre ichjetzt Englischlehrer und wäreauch nicht unglückl ich.Dann haben meine Frau undich nacheinander Referendar-stel len in Hamburg bekom-men. Das war unser Traumund der hat sich erfül lt.Beim Referendariat war ichals erstes auf dem Gymnasi-um Blankenese, das meineFrau nun seit 6 Jahren leitet –da hat sich auch ein Kreis ge-schlossen. Danach war ich einJahr lang am Christianeum.Nach dem Referendariat habeich dann eine Stel le an einerBerufsschule, der Handels-schule an der Anckelmann-straße, bekommen. Dannhabe ich das Glück gehabt, ei-ne Stel le an einer Gesamt-schule zu bekommen –damals Jahnschule, heuteIda-Ehre-Schule.Letztendl ich habe ich michdann auf die freie Schulleiter-stel le an der Klosterschule be-worben und bin nun seit 1 8Jahren hier Schulleiter.miz.: Warum haben Sie sichfür das „Lehrersein“ entschie-den?Herzberg: Eigentl ich wollteich Psychoanalytiker werden,denn die Schriften von Sig-

mund Freud haben mich da-mals sehr fasziniert. Aber umMedizin zu studieren, hätte ichwegen meines Abiturs nochwarten müssen, und das woll-te ich nicht.Probeweise habe ich dann einPraktikum an meiner altenSchule – die ich gleichzeitiggel iebt und gehasst habe - einPraktikum gemacht. Das Prak-tikum habe ich dann bei einemLehrer gemacht, den ich sehrverehrt habe, weil ich seinenUnterricht als sehr gewinnbrin-

gend angesehen habe. Als icheinige Stunden unter seinerRegie unterrichtet hatte, sagteer mir: „Also, weißt du, wenndu nicht Lehrer wirst, dannmachst du was falsch in dei-nem Leben!“So bin ich dann zum Lehrer-beruf gekommen.miz.: Ihr Vater war überzeug-ter Atheist. Wie kommt es,dass Sie dem jüdischen Glau-ben angehören?Herzberg: Das ist auch so ei-ne komplizierte Frage mit demGlauben. Von einem, der Vor-sitzender einer großen jüdi-schen Gemeinde war, vondem nimmt man viel leicht an,dass er sehr rel igiös ist.Das ist aber nicht so. Ich binkein wirkl ich rel igiöserMensch. Für mich ist die Zu-gehörigkeit zum Judentum ei-ne durch meine Biografiebestimmte Tatsache, der ichmich immer gestel lt habe –der ich mich nie entzogen ha-be. Die Aufgabe als Gemein-devorsitzender ist auch keinerel igiöse Aufgabe, sondernbeinhaltet eine übergreifendeVerantwortung – für diese„Körperschaft des öffentl ichenRechts“.miz.: Wie sehr haben der Ho-locaust und der Nationalso-zial ismus ihr Leben geprägt?Herzberg: Ich glaube schonziemlich entscheidend, ob ichwil l oder nicht.Also allein die Tatsache, dassich nicht in Deutschland auf-gewachsen bin - in den wichti-gen Jahren der Kindheit -, istdurch den Nationalsozial ismusund die Judenverfolgung ver-ursacht worden.Sicher auch die Studienwahlhat damit zu tun. Ich wollteschon genau wissen, was da

INTERVIEW

Jüdisches Leben inDeutschlandDie dem Zentralrat derJuden in Deutschlandangeschlossenen 1 08Gemeinden undLandesverbände zählten2005 rund 1 00.000Mitgl ieder.Schätzungen besagen,dass es nochmal rund1 00.000 nichtpraktizierende Juden inDeutschland gibt, somit gibtes ca. 200.000 Juden inDeutschland. Vor derMachtübernahme der Naziswaren es mehr als doppeltso viele.HamburgIn Hamburg gibt es einmaldie Jüdische Gemeinde inHamburg, die im Gegensatzzur Liberalen JüdischenGemeinde in Hamburg,welche rund 250 Mitgl iederhat, dem Zentralrat derJuden in Deutschlandangehört. Die JüdischeGemeinde in Hamburg zähltrund 3.000 Mitgl ieder undist eine der größtenGemeinden Deutschlands

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INTERVIEW

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eigentl ich passiert ist. Gerademein Politikwissenschaftsstu-dium mit historischemSchwerpunkt hat dazu sehrviel Gelegenheit geboten.Während des Studiums hatteich auch Zeit, mich mit Fra-gen, die mich auch heutenoch beschäftigen, auseinan-der zu setzten, z.B. „Wie kannman dafür sorgen, dass Men-schen mit verschiedenen Kul-turen und Traditionen friedl ichauf dieser Welt zusammenle-ben?“Ich leite immerhin eine Schulemit 930 Schülern und 80 Lehr-kräften und anderen Mitarbei-tern. Das Zusammenlebenvon Menschen verschiedenerHerkunft und Hintergründenso zu gestalten, dass mannicht nur das Gefühl hat, wirhaben es gerade so ausgehal-ten miteinander – wie es imWeltmaßstab sehr häufig ge-schehen ist -, sondern, wir le-ben hier zusammen undbereichern uns in unserer Un-terschiedl ichkeit - das betrach-te ich als den „Dauerauftrag“schlechthin.miz.: Wie sehen Sie die Situa-tion der jüdischen Bevölke-rung in Deutschland undHamburg?Wo muss noch am meistengetan werden?Herzberg: Der größte Teil derJuden, die heute in Deutsch-land leben, haben einen rechtjungen Migrationshintergrund.Sie kommen zum größten Teilaus den Ländern der ehemali-gen Sowjetunion zu uns. Diewichtigste Aufgabe ist die Inte-gration in das Hamburg oderDeutschland von heute. Dazugehören nicht nur Sprachkur-se, sondern auch eine Berufs-perspektive. Das ist ein

richtiger Spagat. Denn Inte-gration kann auch missver-standen werden, alsAnpassung bis zur Unkennt-l ichkeit. Und das ist ja auch ei-ne Forderung, die unreflektiertvon Teilen der Mehrheitsge-sel lschaft immer auch auf Mi-granten einströmt. Wir l iebeneuch hier, wenn wir nicht mer-ken, dass ihr noch eine ande-re kulturel le oder rel igiöseIdentität mit euch tragt, dieeuch auch noch wichtig ist.Das geht hin bis zu solchenFormulierungen wie: „Sie se-hen ja gar nicht jüdisch aus.“Das finde ich ganz schreck-l ich. Es geht darum, dass dieUnterschiedl ichkeit als Wertbegriffen und anerkannt wird.Das ist mit Bl ick auf die jüdi-sche Minderheit gar nicht malso einfach. Es gibt immer wie-der jüdische Famil ien, dieganz großen Wert darauf le-gen, dass ihre Kinder in derSchule gar nicht als Judenidentifiziert werden – auch aufder Klosterschule.Viele der Migranten haben inden Ländern der ehemaligenSowjetunion erfahren, dass esein Stigma ist Jude zu sein.Aber im heutigen Deutschlandgehört kein Mut dazu, sich alsJude identifizieren zu lassen.Es ist wichtig, auf der einenSeite dafür zu sorgen, dasses eine Verankerung im Hierund Jetzt gibt und sich jüdi-sche Migranten als Hambur-ger fühlen, ohne dabei ihrejüdische und auch eine weite-re Identität, z.B. die russische,wegzuradieren. Das ist einAuftrag, den die jüdischen Ge-meinden heute in Deutschlandhaben und den sie, glaubeich, auch ganz gut erfül len.Aber das ist nicht einfach!

miz.: Was ist Ihre Motivation,sich so stark zu engagieren?Herzberg: Ich habe mich indiesen vier Jahren als Vor-sitztender der Jüdischen Ge-meinde in Hamburg einbisschen übernommen, glau-be ich, und deshalb auch keinzweites Mal kandidiert.Die Motivation ist eigentl ichganz banal. Jeder von uns hatdieses eine Leben und jederTag, den wir leben, ist der ein-zige dieser Art. I rgendwannhabe ich gedacht: Das mussman nutzen und die Dinge, dieman kann, intensiv tun. Viel-leicht l iegt das auch daran,dass ich drei Jahre lang ohneklare Berufsperspektive war.Als ich dann freudig eine Stel-le bekommen habe, habe ichmir gesagt: Jetzt wirst du dichnicht über zu viel Arbeit be-schweren und alles, was dutun darfst, auch gerne tun.Und ich glaube, das ist nochheute so.

Ich habe das Bedürfnis zuwissen, warum tue ich dasund jenes, und dass ich Dingetue, die nicht jeder machendarf. Ich empfinde das, sagenwir, als ganz großes Ge-schenk.

Ruben Herz-berg, 61 , warbis vor einemJahr vier Jahre

lang Vorsitztenderder „Jüdischen Gemeindein Hamburg“ und ist Schullei-ter des GanztagsgymnasiumsKlosterschule in Hamburg

Das Interview wurde am 29.Oktober 201 2 geführt vonMax Can Demirdi lek

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MIGRATIONSHINTERGRUND?

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INTERVIEW

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In Deutschland wurden imLaufe der letzten Jahrzehnteimmer wieder neue Bezeich-nungen gewählt, um die hierlebenden Menschen ausländi-scher Herkunft zu betiteln.Das kann man auch ganz gutan meiner Biographie festma-chen. Mein Vater kam als Un-ternehmer nach Deutschland,noch bevor es das Gastarbei-terabkommen mit der Türkeigab. Obwohl ich in Deutsch-land geboren wurde, war ichzunächst genau wie meine El-tern ganz einfach Ausländerin.Ich hatte einen türkischenPass. Wenige Jahre späterklang der Begriff al lerdingsschon sehr negativ. I rgend-wann merkte man, dass eineUnterscheidung gebrauchtwurde zwischen denen, diewirkl ich aus dem Ausland ka-men und denen, deren Famil i-en mal gekommen waren, dieaber selbst hier groß wurden.Nun wurde von Migranten ge-sprochen. Erst habe ich michdarüber gefreut, dass es maleinen neutraleren Begriff gab.Der ist aber mittlerweile ir-gendwie fast zur gleichenSchublade verkommen. Inzwi-schen besitze ich „nur noch“einen Migrationshintergrundund werde somit jener Kate-gorie zugetei lt, die derzeit

wohl am häufigsten verwendetwird, wenn es um das ThemaIntegration geht. „Mit Migrati-onshintergrund“ – eine Zu-schreibung, die vieleBetroffene ablehnen, weil esso klingt als seien sie keinvollwertiger und gleichberech-tigter Teil dieser Gesellschaft.Inzwischen wächst die Zahlderjenigen, die „ohne Migrati-onserfahrung“ einen „Migrati-onshintergrund“ haben. Klar,es sind die folgenden Genera-tionen, die übrigens in klassi-schen Einwanderungsländernnicht als Migranten erfasstwerden. Ob dieser Begriff, dereine so heterogene Gruppevon Menschen beschreibt,überhaupt eine hilfreiche Ka-tegorie für die Analyse und Lö-sung politischerProblemstel lungen ist, möchteich hier gerne erörtern.Sei es der Sohn eines inDeutschland lehrenden fran-zösischen Gastprofessors, diein Deutschland geboreneTochter einstiger türkischerZuwanderer oder der gedulde-te Flüchtl ing aus dem Sudan.Ob Aussiedler, langjährigerdeutscher Staatsbürger oderAsylbewerber. Sie al le geltenin der Statistik als Menschenmit Migrationshintergrund.Dass sie in sehr unterschiedl i-

cher Form von Aspekten derIntegration bzw. Nicht-Integra-tion betroffen sein können, istoffenkundig. Trotzdem wirktder Ausdruck „Migrationshin-tergrund“ in Deutschland häu-fig wie eine pauschaleDiagnose. Er wird schnellmissverstanden und assoziiertmit Attributen wie „problembe-haftet“, „benachtei l igt“ und„fremd“ bzw. „nicht vol l zuge-hörig“. Die große Gruppe der„Menschen mit Migrationshin-tergrund“ ist rein statistischbetrachtet mehrheitl ichschlechter in Schule und Aus-bildung und ist deutl ich stärkervon Arbeitslosigkeit betroffen.Auch gelten ihre Deutsch-kenntnisse als nicht ausrei-chend. Von solchenscheinbaren Erkenntnissen istes nur noch ein kleiner Schrittzu noch krasseren Pauschali-sierungen wie „die sind al lefaul, ungebildet und potenziel lkriminel l“ – es wird schnelldeutl ich, welch fatale Wirkungder inflationäre und vor al lemundifferenzierte Gebrauch ei-nes solchen Begriffes wie „Mi-grationshintergrund“ entfalten,welch negative Konnotation erbekommen kann.Integration gelingt da, wo esdie gleichen Chancen auf Teil-habe an der Gesellschaft, auf

MIGRATIONSHINTERGRUND?

Die SPD-Bundestagsabgeordnete Aydan Özoğuz über die Vor- und Nachteile desBegriffes "Migrationshintergrund"

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MIGRATIONSHINTERGRUND?

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Bildung und Arbeit gibt. Undja, hier gibt es Defizite, Be-nachtei l igungen und Aufholbe-darf in der statistischenGruppe der Menschen mit Mi-grationshintergrund. Dasshierbei jedoch viel seltener dieHerkunft oder kulturel le, viel-leicht auch rel igiöseZugehörigkeit, eineRolle spielt und viel-mehr sozio-ökonomi-sche Faktorenentscheidend sind,wird bislang zu seltenerkannt und betont.Natürl ich spielt geradebei jungen Kindern,die nicht in Deutsch-land geboren sindoder deren Elternnicht Deutsch spre-chen, die fremde Her-kunft eine Rolle fürden Stand ihrerSprachkenntnisse, diemitentscheidend fürden schulischen Er-folg sind. Wir müssendarum intensiv imfrühkindl ichen undschulischen Bereichauf Sprachfördermaß-nahmen setzen. Dassdiese aber auch vonvielen Kindern ohnebesagten Migrations-hintergrund benötigt werden,ganz einfach weil zum Bei-spiel zuhause keine Büchergelesen werden oder kaumnoch miteiander gesprochenwird, wird häufig verkannt, tei l-weise wohl auch verdrängt.Migrant oder Nicht-Migrant isthier nicht die richtige Katego-rie. Es geht essentiel l um dieVerbindung von sozialer Her-kunft und Bildungserfolg. Die-

se Verknüpfung führt beiKindern aus Famil ien mit Zu-wanderungsgeschichte insge-samt betrachtet häufiger zuBenachtei l igung, da die Elternund Großeltern, die zu unsnach Deutschland gekommensind bzw einst angeworben

wurden, häufig aus bildungs-fernen Schichten stammen,selber mit Sprachproblemenzu kämpfen haben, tei ls nichtdie finanziel len Mittel zur Bil-dungsförderung (Bücher, Ma-terial ien etc.) aufbringenkönnen und auch das deut-sche Schulsystem kaum ken-nen. Die im Bildungsbereichauftretenden Schwächen undihre sozialen Ursachen sind

jedoch in den meisten Fällendie gleichen, ganz unabhängigder Kindes- oder Elternher-kunft. Hier hi lft uns ein Begriffwie „Migrationshintergrund“nicht weiter. Er sagt über diemöglichen Schwierigkeitenoder Potenziale eines Kindes

und den entscheiden-den sozio-ökonomi-schen famil iärenHintergrund nichtsaus. Und auch, wenndie Eltern unmotiviertsind und ihren Eltern-pfl ichten nur mäßig bisgar nicht nachkom-men, trifft das wohlkaum auf al le Men-schen eines Landesoder einer Kultur zu.Auch in deutschenFamil ien gibt es dasPhänomen leider im-mer wieder und eshilft, immer zuerstnach kulturel len Grün-den zu suchen bzw.diese zu vermuten.Unterschiede in Her-kunft, Kultur und Reli-gion sollten wedergeleugnet noch dra-matisiert, sondernvielmehr nüchternaber differenziert zurKenntnis genommen

werden. Eine alleinige Kate-gorie macht hier keinen Sinnund führt leicht dazu, komple-xe, individuel l sehr unter-schiedl iche Situationen undBedingungen über einenKamm zu scheren. Wir sol ltenden Blick schärfen für dieKernziele im Bildungsbereich:Sprachkompetenz, flächende-ckendes Erreichen von Schul-abschlüssen, funktionierender

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Aydan Özoğuz © Aydan Özoguz

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Übergang von der Schule inAusbildung und schließlich Ar-beitsmarkt. Für al le, denensich hier keine Chancen-gleichheit bietet, muss Inte-grations- undGesellschaftspolitik Lösungenentwickeln. Denn Bildung istder Schlüssel zur Arbeitsweltund Arbeit ist ein wesentl icherFaktor für erfolgreiche Eigen-ständigkeit. Aus ihr speisensich Anerkennung, gesell-schaftl iche Teilhabe und einweitgehend selbstbestimmtesLeben. Zu diesen Lösungengehört einerseits, zu versu-chen, ungleiche Startbedin-gungen durch entsprechendeFördermaßnahmen auszuglei-chen, aber auch andererseitsstrukturel ler Diskriminierungentgegenzuwirken. Denn aufdem deutschen Arbeitsmarktspielt leider die Herkunft oft-mals eine Rolle und führt zuBenachtei l igung. In einer aktu-el len Studie stel lte das For-schungsinstitut zur Zukunftder Arbeit fest, dass Bewerbe-rinnen und Bewerber aufJobs, Praktika oder Ausbil-dungsstel len mit türkischenNamen insgesamt 1 4 Prozentweniger positive Antworten er-halten – trotz gleicher Qualifi-kationen. Das Modell deranonymisierten Bewerbungwäre hier eine Maßnahme, diefür mehr Chancengleichheitsorgen kann. Ein weitererPunkt ist die schwierige Aner-kennung von ausländischenBerufsabschlüssen, die dazuführt, dass viele Menschen mitim Ausland erworbenen Quali-fikationen weit unter ihrem ei-gentl ichenQualifikationsniveau arbeiten

müssen. Taxifahrende Inge-nieure oder Erzieherinnen, diein Deutschland nur als Reini-gungskraft arbeiten können,sind keine Seltenheit. Zwargibt es seit dem 1 . Apri l 201 2ein Gesetz für den Rechtsan-spruch auf ein Anerkennungs-verfahren. Bisher wurden abernur 1 00 Abschlüsse deutsch-landweit anerkannt, obwohlMinisterin Schavan bis März201 3 mit 25.000 anerkanntenAbschlüssen gerechnet hatte.Zurück zur Ausgangsfrage:Hilft uns der Begriff „Migrati-onshintergrund“ dabei, daskomplexe Feld der „Integrati-on“ zu verstehen, Problemezu erkennen und Lösungen zuschaffen?Ich denke, es ist deutl ich ge-worden, dass ich meine: Ehernicht. Ich verstehe zwar, dasses gerade für statistischeZwecke hilfreich bzw. unab-dingbar ist, Kategorien zu bil-den, um Dinge zu ordnen, zuvergleichen und verständl icherzu machen. Auch ich ertappemich natürl ich im Zuge meinerArbeit immer wieder dabei,Begriffe wie „Migrationshinter-grund“ oder „Zuwanderungs-geschichte“ zu verwenden.Das ist kaum zu verhindern.Dennoch handelt es sich umeinen schwammigen Begriff,der versucht, eine zu hetero-gene Gruppe zusammenzu-fassen. Der Begriff büßtzunehmend an Fähigkeit ein,etwas konkretes zu Beschrei-ben und legt vor al lem den Fo-kus auf die falschen Aspekte,wenn er mögliche Ursachenvon Problemen erklären soll .Integration ist primär eine so-ziale Herausforderung, die die

gesamte Gesellschaft betrifftund nicht auf diejenigen mitnicht-deutscher Herkunft be-grenzt. Ich wünsche mir, dasswir langfristig wegkommenvon der ewigen Eintei lung in„die“ und „wir“. Jeder Mensch,der in unserer Gesellschaftlebt, sol l unabhängig von sei-ner ethnischen, nationalen,kulturel len oder rel igiösenHerkunft die gleichen Chan-cen auf Teilhabe und Verwirk-l ichung haben und diese auchnutzen. Die Migration, die ja invielen Fällen persönlich niestattgefunden hat, sondernnur aus Erzählungen der El-tern oder Großeltern bekanntist, könnte dann wirkl ich inden Hintergrund treten.

Aydan Özoğuz, 45, ist SPD-Bundestagsabgeordnete fürHamburg-Wandsbek und seitDezember 2011 stel lvertreten-de Bundesvorsitzende. Sie istunter anderem Mitgl ied imAusschuss Famil ie, Senioren,Frauen und Jugend mitSchwerpunkt für Jugend-schutz und Neue Medien undin der Enquete-Kommission„Internet und digitale Gesell-schaft“. Außerdem ist sie Inte-grationsbeauftragte derSPD-Bundestagsfraktion. Siestudierte Anglistik, spanischeSprache und Literatur sowiePersonalwirtschaft. Sie istverheiratet und hat eineTochter.

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BERICHT

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Am 1 . Januar 1 971 kam ichals 1 7-Jähriger mit dem Zugzum Studium nach Siegen (ei-ner Stadt an den Ländergren-zen Rheinland-Pfalz undNordrhein-Westfalen).In der Türkei hätte ich Medizinstudieren können, meine El-tern hätten es mir auch finan-ziert, aber ich wollte in dieWelt hinaus – andere Länderkennenlernen. Nach dem Ab-schluss in Deutschland hatteich vor, mich erneut aufzuma-chen und anderswo zu leben(z.B. in Neuseeland, Austral i-en, Kanadaa). Das war meinAntrieb.Für mein Studium musste ichein Jahr lang ein Praktikummachen, das hieß, um 5:00Uhr aufstehen und um 6:1 5Uhr in Arbeitskleidung fertigzum Arbeiten sein. Es warWinter, überal l lag dickerSchnee und es war richtig kalt(um -20°C). Während desFußweges von der Wohnungzur Arbeit ist die Flüssigkeit inder Nase gefroren.Bei der Frühstückspause inder Lehrwerkstatt bot ich denLehrl ingen meine Frühstücks-brote an (so war es in der Ge-sel lschaft, in der ich großgeworden bin, übl ich – manteilte). Die Lehrl inge nahmendie Brote an und aßen sie,aber gaben mir von ihremFrühstück nichts ab. Zwei Ta-

ge blieb ich hungrig beimFrühstück. Ich erfuhr, dass je-der sein eigenes Essen isstund nicht mit anderen tei lt. Je-der Lehrl ing musste seinen El-tern Miete und Küchengeldzahlen. Jeder lebte individuel lfür sich und musste allein klarkommen. Diese andere Kulturwar für mich neu. Es gab na-türl ich viele weitere Unter-schiede, die ich nach undnach kennengelernt habe.Nachbarn, die in dem gleichenHaus wohnten, riefen an undtelefonierten lange, anstatt zukl ingeln und sich über ihre An-l iegen persönlich zu unterhal-ten. Viele Dinge waren fürmich nicht „normal“ und merk-würdig.Eine Menge Verhaltenswei-sen habe ich mit der Zeit aberzu schätzen gelernt, so findeich den Kontakt untereinanderdirekt und offen. Ich habe fest-gestel lt: Jede Kultur hat ihreguten und schlechten Werte.Weil ich die Vergleichsmög-l ichkeiten hatte, habe ich michintensiv damit auseinanderge-setzt und versucht, gute Werteaus der jeweil igen Kultur zuübernehmen und mich vonden schlechten zu befreien.Über die Grenzen verschiede-ner Kulturen hinweg gibt esviele gemeinsame menschli-che Werte.Leider habe ich immer wieder

erfahren, dass die Menschenunterschiedl icher Kulturennicht die Gemeinsamkeitensuchen, sondern den Unter-schied. Dabei wird das Ande-re, Trennende - nicht dasGemeinsame – von Medien,Politik und Staatsorganen ne-gativ verstärkt und die Ge-sel lschaft gespalten.Zurück zu meinem Praktikum:damit es als Studienleistunganerkannt wurde, musste ichin verschiedenen Abteilungenarbeiten. Öfter wurde ich inder jeweils neuen Abteilungvom Abteilungsverantwortl i-chen begrüßt: „Du Ital iener?“Meine Antwort war: „Nein, ichkomme aus der Türkei. “ Meis-tens folgte dann diese Reakti-on: „Ah, du Freund, türkischund deutsch Freunde!“Ich konnte überhaupt nichtverstehen, warum so vieleLeute Hass auf I tal iener zuhaben schienen. Denn oft ha-be ich Schimpfwörter und Be-leidigungen über „die“ I tal ienergehört.Mit der politischen und wirt-schaftl ichen Entwicklung än-derte sich die Rolle „der“I tal iener und andere Migran-tengruppen wurden zu den„Haupt- Sündenböcken“: vonden Griechen zu den Jugosla-wen, danach zu den Nordafri-kanern und schließlich zu denTürken.

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BERICHT

Am 1 . Januar 1 971 kam ich nach Deutschland - meine Erfahrungen, Erlebnisseund Einschätzungen

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BERICHT

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Heutzutage benötigt die Euro-päische Union eine neue ge-meinsame Identität und damitoffenbar eine Abgrenzung vonanderen Kulturkreisen, alsoneue Sündenböcke und Fein-de.Ich denke, nach dem 11 . Sep-tember 2001 wurden der Islamund die damit verbundenenGesellschaften zu demFeindbild großer Teileder westl ichen Welt.Und wie sieht die Situa-tion heute in Deutsch-land aus?Bei einer mündlichenPrüfung in der Gruppean der Universität Sie-gen zum Thema Strö-mungslehre in den 70erJahren habe ich Folgen-des erlebt: Als ich mehr-mals die richtige Antwortzu einer Frage gebenkonnte und andere Stu-denten nicht, war derDozent unglaublich wü-tend und aufgebracht. Erschrie die Studenten an:„Schämt euch! Ein Aus-länder kann die richtigeAntwort geben, Ihr Deut-schen aber nicht!“Trotz der besonderenhistorischen Last hatVieles im Laufe der Zeiteine demokratische Ent-wicklung durchlaufen und sichzum Positiven verändert.Bis vor kurzem wurdeDeutschland von der Politikund großen Teilen der Gesell-schaft nicht als Einwande-rungsland angesehen, heutejedoch gibt es sogar einigekonservative Politiker, dieDeutschland als Einwande-rungsland akzeptieren.

Allerdings ist Rechtsradikal is-mus nach wie vor stark vertre-ten. Und weiterhin gibt es –auch in gebildeteren Mil ieus –jede Menge Vorurtei le gegenMenschen mit Migrationshin-tergrund.Obwohl ich ein politisch enga-gierter und interessierterMensch bin, bekomme ich

meistens kein Flugblatt in dieHand gedrückt, wenn Flug-blätter (zu Themen wie Anti-Atomkraft-Bewegung, Volks-zählung oderParteienwerbung) vertei lt wer-den. Wenn ich dann nachfra-ge, warum mir keins gegebenwerde, wird es meistens pein-l ich. Dann kommt häufig diegleiche Antwort: „Ich habe Sie

nicht gesehen.“ Nur: Meineblonde Frau, die neben mirgeht, hat das Flugblatt erhal-ten.Meine Erfahrung ist, dassDunkelhaarige von vielen inder Gesellschaft als „Auslän-der“ - das heißt, nicht als„vol lwertiges“ Mitgl ied der Ge-sel lschaft - und somit gleich-

zeitig als desinteressiertan Politik und Gesell-schaft betrachtet wer-den.Auch Medien und Politi-ker tragen mit Hetzkam-pangen dazu bei. Diese– wie die „Sarrazin-De-batte“ oder die „Asylde-batte“ - sind einbeliebtes Mittel, Ressen-timents zu schüren.Die Gesellschaft mussbereit sein, die Men-schen aufzunehmen undals Mitgl ieder der Ge-sel lschaft zu akzeptie-ren.Es muss aufhören mitFragen wie, „Wo kommstdu her?“Das ist sicherl ich häufignicht böse gemeint, son-dern nur Neugierde,aber mit der Zeit wird eslästig. Denn dadurch in-teressiert der Unter-schied, nicht das

Gemeinsame.Auch im Bekanntenkreis gibtes ähnliche Erlebnisse. Es isteigenartig – bei bestimmtenThemen - gefragt zu werden: „Wie ist das denn in deinerHeimat?“Damit ist unbewusst gemeint:„Du gehörst zu einer anderenKultur und Gesellschaft!“Aber, welche Heimat meinen

BERICHT

Vom Sirekci-Bahnhof inIstanbul aus fuhr ich 1 971nach Siegen in Deutschland

FOTO: THOMAS KRANZ &ANGELIQUE SCHIEMENTZ

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BERICHT & PLEQ

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die Leute?Die, in der ich seit 1 980 lebe –Hamburg -, die, in der ich von1 971 bis 1 979 gearbeitet undstudiert habe – Siegen – oderdie, in der ich geboren wurdeund siebzehn Jahre lang ge-lebt habe – die Türkei? Natür-l ich meinen sie die Türkei.1 7 Jahre Türkei, 42 JahreDeutschland –welches ist mei-ne Heimat?Heimat ist für mich dort, woman sich wohl fühlt und lebenmöchte. Und diese Heimatkann sich im Laufe der Zeitändern. Die ganze Welt kannmeine Heimat sein – Grenzenwurden im Laufe der Ge-schichte geschaffen. Was zumir gehört und wo ich mich zu-hause fühle, ist unabhängigvon nationalen Grenzen.Unterschiedl iche Kulturen gibtes auch innerhalb vonDeutschland – man brauchtnur Hamburg mit Bayern, demSiegerland oder den Bundes-ländern der ehemaligen DDRzu vergleichen. Das zeigt,dass es möglich ist, sich aufdie Gemeinsamkeiten zu kon-zentrieren. Auch muss mach-bar sein, dass Personen mit„Migrationshintergrund“ frei-heitl ich und ohne Assimilati-onsdruck leben können undgleichzeitig ein Austausch derunterschiedl ichen Kulturenstattfindet.Natürl ich müssen auch die so-genannten Migranten bereitsein, sich der Gesellschaft zuöffnen. Das ist ein Prozessvon Geben und Nehmen.Alles in al lem bin ich der Mei-nung, dass Integration gelin-gen kann und auch imInteresse der Gesellschaft –

im Hinbl ick auf ihre Zukunfts-fähigkeit - sein sol lte. Dafürstehen alle in der Verantwor-tung: die Politik, Medien, ge-sel lschaftl iche Gruppen undjeder Einzelne – z.B. auchLehrer, Eltern und Schüler.In den vergangenen vierzigJahren hat sich einiges, wennauch verzögert, zum Positivenverändert.Mein Traum ist, eine Gesell-schaft zu erreichen, in der je-der einzeln und frei wie einBaum und friedl ich und ge-meinschaftl ich wie ein Waldleben kann.Um so eine Gesellschaft zuschaffen, braucht es sozialeGerechtigkeit, Frieden, undressourcenschonenden Um-gang mit der Natur.Der Weg zu solch einer idea-len Gesellschaft ist lang undein wichtiger Schritt dorthin istdie Öffnung der Bevölkerungs-gruppen zueinander, sodassdie sichtbaren und unsichtba-ren Grenzen überwundenwerden.Ich wünsche mir, dass sich dieGesellschaft so entwickelt,dass anonymisierte Bewer-bungen überflüssig werden,man nicht nach dem Äußerenbeurtei lt wird und sich nichtbedroht fühlen muss – wie beiden NSU-Morden wiederdeutl ich geworden – und derRassismus an Macht verl iert.Um es in Ella Fitzgeralds Wor-ten zu sagen:„Es ist nicht wichtig, woher dukommst; es ist wichtig, wohindu gehst. “ Ahmet Demirdilek

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GEDICHT/PFLEQ

Die nachfolgenden zwei Textedrehen sich beide um dasProjekt PfleQ – Pflege imQuartier – in Hamburg-Bil ls-tedt. Der Grundgedanke desProjektesPfleQ war, die Ausbildung jun-ger Menschen mit Migrations-hintergrund im Pflegebereichzu fördern und zu begleiten.Daraus entwickelte sich unteranderem die Idee, einenSchreibwettbewerb zu veran-stalten. Unter dem Titel "Altwerden in der Fremde" arbei-teten die jungen Teilnehmerin-nen und Teilnehmer an ihrenTexten.Die besten Beiträge wurden imSeptember 2011 von einer Ju-ry aus bekannten Persönlich-keiten - Özlem Topçu (DieZeit), Samy Deluxe (Rap-per),Hüseyin Yı lmaz (Türki-sche Gemeinde Hamburg),Jul ia Solovieva (Radiojourna-l istin, Fi lmemacherin), MichelAbdollahi (Poetry Slam,Schauspielhaus) - ausgewähltund bei einer Preisverleihungausgezeichnet.Der nachfolgende Text "fremdsind wir, fremd bleiben wir,fremd sterben wir" von ÖzlemAlagöz ist der Siegerbeitragdes Wettbewerbs.Danach - im zweiten Text -stel lt die Qualifizierungsleiterinvon PfleQ, Rukiye Çankıran,das Projekt, insbesondere dieSchreibwerkstatt, in der jungeTalente sich ausprobierenkonnten und Unterstützungerhielten, kurz vor.

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BERICHT & PLEQ

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GEDICHT/PFLEQ

Die Geschichte kenne ich, seitich denkenkann. Es ist die Geschichtemeiner Großeltern,die aus einem fremdenLand aufbrachen, um ihrGlück ineinem fremden Land zufinden. IhreGeschichte begann vor 46Jahren, alssie aus ihrem kleinen ÖrtchennachDeutschland kamen.fremd sind wir...Der Mensch strebt immernach demewigen Glück, jedoch mussman auchso manche Last auf sichnehmen, denndas Leben in der Fremde mitFremdenist eine Herausforderung undeinKampf mit sich und seinerUmwelt.Der ewige Kampf umAnerkennungund Akzeptanz ist ein Ringenmit einerunsichtbaren Wand, die nichtumgangenwerden kann, da sie auf denersten Blickfür beide Seiten unsichtbarbleibt.fremd bleiben wir...Der Traum vom finanziel lbesserenLeben in der Fremde warauch derTraum meiner Großeltern. Inihrereigenen Heimat hatten sie ihrganzesGeld verloren und ihnen bliebnichtsanderes übrig, als ihregeliebte Heimatzu verlassen und in einemfremden Landneu zu beginnen.

ach, wenn ich einmal reichwär. . .Jeder Anfang ist schwer, aberdieSprachlosigkeit, dieUnmöglichkeit, sichin dem „neuen" Landverständigen zukönnen, ist dasSchrecklichste.du bist nichts, niemand,wertlos...Meine Großmutter hatte esleicht. Durchihre sprachliche Begabungerlernte sieDeutsch und war schnell inder Lagesich zu verständigen. AlsFabrikarbeiterinin einer Schokoladenfabrikversuchtesie, sich eine neue Existenzaufzubauen.Da mein Großvater kränklichwar,musste sie die Famil ieernähren. KeineArbeit ist leicht und sobegannen auchdie harten Zeiten. In derTürkei war sieHausfrau und führte einunbeschwertesLeben. In Deutschland schienalles sodunkel und kalt zu sein. Manerfreutesich an der leckerendeutschen Schokolade,denn die Fabrikarbeiterdurftendie Mängelprodukte mit nachHausenehmen, so auch meineGroßmutter.Ja, deutsche Schokoladeschmeckteanders und machte jedenUnglückl ichenglückl ich.deutsche schokolade...Man arbeitete hart und sparte

sehr viel- in der Hoffnung, eines Tageswiederzurück in die Heimat zugehen, sich einkleines Häuschen zu kaufenund mitFreunden und VerwandtentürkischenKaffee zu trinken.türkischer kaffee...Nach den ersten Jahrengewöhnte mansich an das kalte Leben inDeutschlandund war sogar glückl ich. DieKinderwuchsen heran und gingensogar zurSchule. Großmutter warglückl ich, dieschönen Kleider und tol lenLäden, dieman aus türkischenKinofi lmen kannte,lagen ihr zu Füßen. Nein,zurück wolltesie nicht mehr.wenn das fremde zur heimatwird....Auch wenn man sich eineneue Existenzaufgebaut hatte und glückl ichwar, fühlteman sich fremd. Man waranders, einGast, der sich eine neueHeimat erschl ichenhatte. Ein Gast, derunerwünscht war?fremd sind wir...Darüber dachte maneigentl ich nichtnach, denn es gab wichtigereDinge.Die Jahre vergingen mit harterArbeitund den schönen Ferien in deraltenHeimat. Die Haare wurdengrau, aberin Deutschland färbte man

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sich dieHaare, so auch meineGroßmutter. Manarbeitete und im Sommerbesuchte mandie Heimat und vertei lte seinedeutscheSchokolade an Freunde undVerwandte.Dort war man hoch angesehen.Manwurde sogar beneidet für dastol le Lebenin der Fremde. Ja, man bekamfür seineharte Arbeit gerechtes Geldund etwasanderes kannte man nicht. Sovergingendie Jahre, ohne über den SinndesLebens nachzudenken.leben...Gerade als meine Großmutterglaubte,dass die Zeit der harten Arbeitzu Endewar und man doch wieder indie Heimatzurückkehren und das Alter inRuhegenießen könnte, erkrankte siean Krebs.Mit dem Tod hatte man nichtgerechnet,aber er kam schneller alsgedacht.Der Tod traf sie in der Fremde.fremd sterben wir???Fremd sind, fremd bleiben wir,fremdsterben wir. Was bleibt, ist dieHoffnungfür die nächsten Generationen:nachdem ewigen Glück in der neuenHeimat.HOFFNUNG.

Özlem Alagöz

Das Bil lstedter Projekt PfleQ!(Pflege im Quartier) unter-stützte junge Migranten imHamburger Osten dabei, eineArbeit bzw. einen Ausbil-dungsplatz zu finden, insbe-sondere im Pflegebereich.Gefördert mit EU-Mitteln undauf drei Jahre festgesetzt ha-ben die Mitarbeiter diesesProjekt mit Leib und Seeledurchgeführt. Am 31 .1 0.201 2wurden die Türen geschlos-sen. Viele Teilnehmer trauernnun dem Projekt nach, dennhier hatten sie ein Zuhausegefunden, sie fühlten sich ver-standen und gut aufgehobenbei der bunten Mitarbeiter-schaft des Projektes. Als Rol-lenvorbilder - denn allePädagogen, Lehrer und Bera-ter hatten eine eigene Migrati-onsgeschichte oderMigrationserfahrung und wa-ren mit mehreren Sprachenaufgewachsen - haben sieden jungen Menschen zurSeite gestanden.Neben vielen Beratungsange-boten, z.B. zu Schulden,Wohnungsnot, famil iären Pro-blemen und Bildungsangebo-ten, wie Deutsch, Unterricht inden Herkunftssprachen, Eng-l isch, Bewerbungstrainings,Fotografie-Kursen, Theater-workshops, wurden die Teil-nehmer motiviert über dasThema Migration, Fremde undHeimat zu schreiben. Sie wa-ren immer Mittelpunkt desProjektes, um ihre Wünscheund Ziele ging es. Sie hattendas Wort.Es wurde zu einem Schreib-wettbewerb aufgerufen. BeimSchreiben konnten die Teil-

nehmer ihren Gedanken undGefühlen Raum geben undihre Kreativität zeigen. Zuerstganz schüchtern, dann immerinteressierter, kamen die Ein-sendungen. Bei der Preisver-leihung, in der die bestenTexte präsentiert wurden,standen die Autoren im Mittel-punkt - junge Migranten, dieim Alltag eher Zuschauer sindund am Rand Platz nehmen.Dieser Wettbewerb war für al-le Beteil igten eine großartigeBestätigung.Die Idee mit dem Schreibensollte im Projekt weiter laufen,obwohl es gar nicht das The-ma war, denn ursprünglichsollten die Jugendlichen beiihren Bewerbungen unter-stützt werden. Eine Schreib-werkstatt wurde ins Lebengerufen. Einige der Teilneh-mer dieser Schreibwerkstattwaren erst seit kurzer Zeit inDeutschland, andere warenschon als Kinder eingewan-dert oder sogar hier geboren.Alles junge Autoren, Men-schen aus Afghanistan, derTürkei, dem Iran und Afrika,die etwas zu erzählen hatten.Manchmal war es mehrDeutschunterricht alsSchreibwerkstatt, manchmalwurde nur Tee und Kaffee ge-trunken und erzählt, aber amEnde sind kleine Texte ent-standen. Diese sind nun alskleines „Büchlein“ gedrucktworden. Die Autoren und Pro-jektmitarbeiter sind mächtigstolz auf dieses Produkt. DasProjekt ist zwar zu Ende, dieErinnerungen und die kleinenTexte bleiben aber erhalten.Rukiye Çankıran

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Wer hat nicht schon mal imUrlaub im Süden davon ge-träumt, dort ein Haus, einApartment mit Pool und Mee-resblick das Seine nennen zudürfen? Wann immer es geht,hier dem schlechten Wetterund der Kälte im Winter ent-fl iehen zu können, um dortdann alles nach den eigenenBedürfnissen gestaltet, vor al-lem aber ewig sonniges Wet-ter und mehr Wärmegenießen zu können. Tatsäch-l ich hört man immer öfter vonMenschen, die sich diesenTraum haben verwirkl ichenkönnen.Immobil ienfirmen und ein-schlägige Magazine werbenunaufhörl ich dafür, es ihnengleich zu tun. Angesprochenwerden Menschen, denen esin den nördl ichen europäi-schen Ländern mit entwickel-ter Industrie relativ gut geht.Ihr regelmäßiges Arbeitsein-kommen ist höher als sie esfür die tägl ichen Ausgabenund die gute Ausbildung derKinder benötigen, der Ertragaus Ersparnissen ist mit derKrise auf dem Finanzmarktimmer geringer und damit diefinanziel le Vorsorge für das Al-ter unsicherer geworden. Viel-leicht ist das Vermögen nochdurch eine gute Erbschaft an-gewachsen. Es fehlt vielenMenschen hier zu Hause ei-gentl ich an nichts, es geht ih-nen gut und nun können siesich auch das leisten, was frü-her nur den ganz Reichen vor-behalten war. Die

Traumimmobil ie im Süden, woVater und Mutter von derstressigen Arbeit daheim sorichtig abschalten können, dieKinder bestimmt bald neue,spannende Freunde finden,wo es noch so viel zu entde-cken gibt, wo ewig die Sonnescheint und das Meer rauscht.Richtig Luxus, für al le!Auf derartige Sehnsüchte hat-te man sich in den letzten Jah-ren in Südeuropa guteingestel lt. Riesenflächen anschönen einsamen Küsten-streifen wurden günstig vonImmobil ienfirmen aufgekauft,Bauunternehmer verdientengut daran, dort Siedlungenvon hübschen Reihen- undApartmenthäusern zu errich-ten, großzügige Einzelhäusermit Pool und Garten kamendazu, zuweilen auch noch einGolfplatz und eine Luxushotel-anlage in der Nähe. Alles per-fekt – anscheinend.Es wurden zu viele derartigeFeriensiedlungen errichtet undimmer mehr davon fandennicht den erhofften reißendenAbsatz. Immer mehr Immobil i-en konnten zur Freude derKäufer nun viel bi l l iger amMarkt angeboten werden,trotzdem gibt es viel Leer-stand und z.B. Spaniens Wirt-schaft leidet seit Jahrendarunter – und schlimmernoch, die ehemals beeindru-ckende wilde Landschaft istmit diesen Geisterstädten auflange Zeit zerstört.Wie ergeht es aber den Glück-l ichen, die sich dort einkaufen

konnten? Sind sie nun frei vonSorgen und restlos zufrieden?Zu Anfang ist meistens dieBegeisterung groß. Da kannman gestalten, ein neues,schöneres Heim entwerfenund einrichten, einen Gartenanlegen, neue Freunde findenund miteinander feiern. Aberschon dabei merkt man, dassin einem anderen Land ande-re Sitten herrschen – auchsolche, die einem gar nichtgefal len. Auf viele Handwerkerist kein Verlass, dabei warensie doch so freundlich. Auchfehlt es ihnen oft an guter be-rufl icher Ausbildung und imfremden Land an den ge-wohnten Baumaterial ien, sodass das Ergebnis gerne malanders ausfäl lt, als man essich vorgestel lt hatte. Aber wiekann man das klarmachen,wenn man die Landessprachenicht gut spricht? Also mussman jemanden finden, der dasfür einen übernimmt – undden natürl ich auch für seineLeistungen bezahlen. Hat mannicht das nötige Kleingeld, umz. B. einen Gärtner zu be-schäftigen, stel lt man fest,dass viele Stunden, die mansonst am Strand verbringenkonnte, oder auf Entde-ckungsfahrten durch die Um-gebung, nun mit demSchaffen im Garten vergehen.Wem das nicht richtig Spaßmacht, der ist mit einem eige-nen Grundstück schlecht be-raten. Und wer das Gärtnernmag, stel lt fest, dass erstdann, wenn man wieder weg-

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fahren muss, der Garten indem Zustand ist, den mandann so richtig genießenmöchte.Mit dem Besitz im Ausland isteinem auch sehr schnell dieBürokratie des Landes aufden Fersen. Da durchschautman erst mal gar nicht, wozudiese oder jene Formulareerst an dieser und dann an je-ner Stel le eingereicht werdenmüssen, oder wenn dies nichtgeschehen ist, plötzl ich Straf-zettel mit empfindl ich hohenForderungen ins Haus geflat-tert kommen. Auf der anderenSeite fäl lt es schwer, die Ge-duld für behördl iche Genehmi-gungen, die wiederum oftjahrelang auf sich warten las-sen, aufzubringen und dabeistets den freundlichen Um-gangston gegenüber den ver-meintl ichen Autoritäten zuwahren.Sind diese (ersten) Hürden er-folgreich genommen, dannsetzt bei vielen reiselustigenMenschen auch der Wunschnach neuen Zielen und ande-

ren Orten ein – aber das einstübrige Geld ist nun an das Fe-riendomizi l gebunden. Leidersetzt dann bei vielen ein ge-wisser Frust ein. So Mancherigelt sich z.B. in der deutschenKolonie vor Ort ein und dorttauscht man untereinanderseine Enttäuschungen aus.Das Gesundheitswesen bietetlängst nicht den Service, denwir in Deutschland gewohntsind. Durch die hohe Mehr-wertsteuer (über 20%) sinddie Preise gestiegen, ohnedass die Produkte die ge-wohnte Qualität bieten. DieStraßen sind in schlechtemZustand und das Benzin istteurer als zu Hause. DasFernsehprogramm ist gerade-zu unerträgl ich, aber zumGlück kann man ja über Satel-l it das deutsche empfangen.Restaurantbesuche sind ge-genüber früher unerschwing-l ich geworden a Klagen aufhohem Niveau.Es ist schon eine Herausfor-derung, mit seiner Bindung anein Fleckchen Er-

de, wo die Sonne mehr als inDeutschland scheint, die Win-ter aber auch ungemütl ichfeucht sind, umzugehen. Spä-testens dann ist der Zeitpunktgekommen, sich intensiv umden Erwerb der Landesspra-che zu bemühen und viel zurKultur des Landes zu lesen.Nur so kann man verstehen,in welch andere Verhältnisseman sich begeben hat. Überden lebendigen Austausch mitEinheimischen, die das Inter-esse an ihnen und ihrem Le-benssti l meist mit großerOffenheit und Herzl ichkeit ho-norieren, wird der Wechselvon einem Land ins andereauch zu einer großen persön-l ichen Bereicherung. So man-ches an den eigenen, dochrecht zufäl l ig entwickelten Ge-wohnheiten kann hinterfragtwerden. Man erkennt, aufwelch unterschiedl iche Weiseund in welch unterschiedl i-chen Systemen Menschen le-ben und zu ihrem Glück findenkönnen. Diese Systeme zuentdecken und zu verstehenkann ungeheuer spannendund erfül lend sein.Wer sich das Abenteuer, sichin einem Land des Südenszeitweise oder auf Dauer nie-derzulassen, leisten kann undnicht die I l lusion eines sor-genfreien Daseins dort hegt,der kann sich wirkl ich glück-l ich schätzen. Es ist eben ein-fach ein Luxus!

Annette Spiering lebt die Hälf-te des Jahres in Hamburg unddie andere in ihrem Haus imAlentejo, Portugal

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Häufig der Traum vieler "Luxusmigranten" - hier einStrand an der Algarve

FOTO: RAINERSTURM /PIXELIO.DE

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