Moderne Architektur und sozialer Wohnungsbau- das Beispiel ... · 2 Stadtentwicklung und...

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Moderne Architektur und sozialer Wohnungsbau- das Beispiel der Stadt Brüssel Studienseminar vom 14. bis 17. Juni 2011 Ein Bericht von Walter Neuling Ende Juni führte ein 4-tägiges Studienseminar die Kolleginnen und Kollegen des DGB in der Architektenkammer NRW nach Brüssel. Organisiert von der Landesarbeitsgemeinschaft „Ar- beit und Leben“ und betreut von der Vertretung des DGB in Brüssel standen Aspekte der Stadtentwicklung und des Wohnungsbaus auf der Agenda. Das Ziel Brüssel war aus ver- schiedenen Gründen gewählt worden: - In Brüssel ist die Abhängigkeit der städtebaulichen Situation von gesellschaftlicher und politischer Entwicklung deutlich erkennbar und nachvollziehbar. - Der Konflikt zwischen der Entwicklung des Dienstleistungssektors mit entsprechen- den Büroflächen und der Wohnsituation in urbanen Zentren wird hier besonders deut- lich. - Nicht zuletzt wird sich Brüssel in der Zukunft mehr und mehr zu einer Hauptstadt Eu- ropas entwickeln und damit hohe Aufmerksamkeit für die Entwicklung der Stadt und des Wohnens auf sich ziehen. Einführung in das Programm im Sitzungsraum der DGB-Vertretung in Brüssel Das Hauptthema des Seminars „Moderne Architektur und sozialer Wohnungsbau“ erschließt sich aus den historisch gewachsenen Schichten der Stadt Brüssel. Bei der Erschließung dieser Schichten waren die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der ARAU „Atelier de Recherche et dÁction Urbaines“ hoch sachkundige Referenten und Exkursionsbegleiter. Diese Organi- sation setzt sich im Sinne eines Anti- Le Corbusier für die Revitalisierung und Belebung des urbanen Zentrums Brüssels durch Wohnungen und soziale Infrastruktur ein.

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Moderne Architektur und sozialer Wohnungsbau- das Beispiel der Stadt Brüssel

Studienseminar vom 14. bis 17. Juni 2011 Ein Bericht von Walter Neuling Ende Juni führte ein 4-tägiges Studienseminar die Kolleginnen und Kollegen des DGB in der Architektenkammer NRW nach Brüssel. Organisiert von der Landesarbeitsgemeinschaft „Ar-beit und Leben“ und betreut von der Vertretung des DGB in Brüssel standen Aspekte der Stadtentwicklung und des Wohnungsbaus auf der Agenda. Das Ziel Brüssel war aus ver-schiedenen Gründen gewählt worden:

- In Brüssel ist die Abhängigkeit der städtebaulichen Situation von gesellschaftlicher und politischer Entwicklung deutlich erkennbar und nachvollziehbar.

- Der Konflikt zwischen der Entwicklung des Dienstleistungssektors mit entsprechen-den Büroflächen und der Wohnsituation in urbanen Zentren wird hier besonders deut-lich.

- Nicht zuletzt wird sich Brüssel in der Zukunft mehr und mehr zu einer Hauptstadt Eu-ropas entwickeln und damit hohe Aufmerksamkeit für die Entwicklung der Stadt und des Wohnens auf sich ziehen.

Einführung in das Programm im Sitzungsraum der DGB-Vertretung in Brüssel Das Hauptthema des Seminars „Moderne Architektur und sozialer Wohnungsbau“ erschließt sich aus den historisch gewachsenen Schichten der Stadt Brüssel. Bei der Erschließung dieser Schichten waren die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der ARAU „Atelier de Recherche et dÁction Urbaines“ hoch sachkundige Referenten und Exkursionsbegleiter. Diese Organi-sation setzt sich im Sinne eines Anti- Le Corbusier für die Revitalisierung und Belebung des urbanen Zentrums Brüssels durch Wohnungen und soziale Infrastruktur ein.

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Stadtentwicklung und –struktur Für die heutige Struktur sind nach unseren Erkenntnissen maßgebliche Entwicklungen:

- die Erhaltung und stark touristische Nutzung von nur geringen Teilen der mittelalterli-chen Stadt

- die repräsentative Umgestaltung Brüssels im 19.Jahrhundert unter einer konstitutio- nellen Monarchie mit Leopold II an der Spitze - der Bau eines Eisenbahntunnels unter der Altstadt - die Errichtung und Ausbreitung der europäischen Institutionen sowie der NATO - die komplizierte föderale Struktur Belgiens und die Verwaltungssituation in Brüssel

Die mittelalterliche Stadt Brüssel war eine der größten und reichsten Städte Europas. Sie wurde 1695 durch französische Truppen fast vollständig zerstört, die Dimension der Stadt ist heute noch durch die Ringstrasse erfahrbar. Geblieben ist das großartige und von Touristen geschätzte Gebäudeensemble des „Großen Platzes“ mit Rathaus und Hotel de Ville. (Der Platz wurde 1998 mit seinem Ensemble zum Weltkulturerbe der UNESCO).

Die Gründung des Staates Belgien und der auf Kohle, Stahl und Textilien beruhende Reich-tum dieses Landes prägen auch heute noch die Struktur der Stadt. Unter Leopold II (1835-1909) veränderte sich das Stadtbild Brüssels grundlegend. Der auch aus der Ausplünderung der Kolonie Kongo stammende Reichtum wurde für repräsentative Bauprojekte vor allem auf den Hügeln im Osten der Stadt eingesetzt.

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Historische Altstadt und Justizpalast, Parc und Regierungsviertel, Europaviertel, Triumphbogen

Eine Voraussetzung war die Verrohrung des Flusses Senne, der als Kloake für drei Cholera-Epedemien verantwortlich gemacht wurde. Auf dem ehemaligen Flussgelände wurde nach Plänen des Pariser Architekten Haussmann ein Prachtboulevard angelegt, der „Boulevard Anspach“. Gesäumt von prachtvollen Fassaden liegt, bezeichnend für die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft des 19.Jh, die Börse.

Die Börse am Boulevard Anspach

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Später erfolgte die Verfüllung der Hafenbecken im Stadtgebiet, am ehemaligen Fischereiha-fen liegt heute auf einem ansprechend gestalteten Platz vor der Kirche St Catherine ein Schwerpunkt von hochwertigen Fischrestaurants.

Quai aux Briques, ehemaliges Becken des Fischereihafens Besonders beeindruckend ist der Bau des Justipalastes als Ausdruck bürgerlicher Macht und liberaler Gesinnung. Er entstand an Stelle alter Adelssitze in den Jahren 1866 bis 1883 am Ende einer Achse, die vom alten Königsplatz bergauf führt.

Justizpalast vom Place Royale gesehen

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Dass ein so städtebaulich exponierter Punkt nicht wie sonst in Europa mit einem Schloss, sondern einem gewaltigen Gerichtgebäude gekrönt wird, zeigt das Selbstbewusstsein der bürgerlichen Gesellschaft des neuen Staates Belgien. Der Respekt vor der Justiz als Grund-lage des bürgerlichen Staates wurde hier in Stein gemeißelt.

Justizpalast Der Justizpalast galt mit einer Ausdehnung von 160x150m lange als das weltweit größte Gebäude und wurde erst mit dem Bau des Pentagon in Washington von diesem Platz ver-drängt.

Justizpalast – Portal und Halle

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Als östlicher Rand der Prachtbauten entstand zur 50-Jahr Feier des Staates Belgien der Ju-belpark mit halbkreisförmigen Prachtbauten, die heute Museen beherbergen. Zwischen den beiden halbkreisförmigen Säulenreihen entstanden die drei Bögen des Cinquantenaire mit einer Quadriga.

Eine Parallelität ergab sich auf der Sommerexkursion 2011 in Detmold. Interessant ist der Vergleich zwischen dem Parc de Bruxelles und dem Kaiser-Wilhelm Platz in Detmold. In bei-den Fällen dient ein Park als Grundgerüst zentraler staatlicher Institutionen der konstitutio-nellen Monarchien des späten 19.Jahrhunderts. Auf der Südseite des Parcs de Bruxelles liegt der Königspalast, auf der Nordseite Parlament und Bundesregierung. Auf der Ostseite finden sich Botschaften sowie die Regionalregierung von Brüssel. Auf der Westseite die größte Bank des Landes, im Parc das königliche Theater.

Parc de Bruxelles

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Königspalast (18Jh, umgebaut 1904) Parlament (1783) Ähnliches fanden wir am Kaiser-Wilhelm Platz mit lippischem Parlament und Regierung, Postamt und Kirche. Die Situation ist auch vergleichbar mit dem Lustgarten in Berlin, dessen vier Seiten von den tragenden Säulen des preußischen Staates gesäumt werden: Das Schloss (König), das Zeughaus (Militär), der Dom (Kirche) und Alte Nationalgalerie (Künste). Als interessanten Kontrapunkt gegen die Liberalen setzten die zu Beginn des 20. Jahrhun-derts erstarkenden Katholischen Parteien den Bau einer Kathedrale auf der Westseite der Stadt, die Heilig Kreuz Basilika. Diese Kirche, im Art Deco-Stil von 1920 bis in die 50er hinein errichtet, ist auch heute noch eine der größten katholischen Kirchen der Welt.

Die erstarkenden Sozialisten setzten Ende des 19. Jh mit dem Bau des Volkshauses in Brüssel ein drittes bauliches Ausrufezeichen. Erstmalig nur mit den neuen Baustoffen Stahl und Glas errichtete der Architekt Victor Horta 1896-1899 in der „Art Nouveau“ ein herausra-gendes Gebäude des Jugendstils. Dieses Gebäude ist heute leider durch einen modernen Hochhausbau ersetzt worden. Bereits die historische Stadt war geteilt in die Unterstadt in der Flussniederung der Senne und die Oberstadt auf den östlich angrenzenden Hügeln. Im Gegensatz zu anderen europäi-schen Städten, bei denen die Wohnviertel des Adels und der reichen in der Hauptwindrich-tung auf der Westseite der Städte liegen, war die Oberstadt im Osten der bevorzugte Wohn-ort des Adels und später des gehobenen Bürgertums.

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Die topographische und soziale Spaltung der Stadt wurde beginnend mit den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts durch den Bau eines Eisenbahntunnels verschärft. Der Bau dieses Tunnels, der 1954 fertig gestellt wurde und den Bahnhof Nord mit der Station Midi verbindet, schlug eine Schneise in die Stadt, die mit dem Bau von Geschäfts- und Bürohäusern ge-schlossen wurde. Wohnungen und sonstige Infrastruktur entstand nicht, so dass zumindest in den Abendstunden ein fast menschenleerer unbelebter Streifen die Oberstadt und Unter-stadt trennt.

Congressäule und Liechtensteiner Botschaft an der Grenze der Oberstadt Symptomatisch ist der Ersatz einer großen Freitreppe aus der Unterstadt zum Place du Congrès / Congresplein mit der Kongress-Säule (Colonne du Congrès/Congreskolom). Die Säule erinnert an die Erschaffung des belgischen Staates und der Verfassung durch die Na-tionalversammlung 1830-1831 und beherbergt auch das „Grabmal des Unbekannten Solda-ten“. Sie wurde durch ein Parkhaus ersetzt, in dem die fußläufige Verbindung über fast höh-lenartige Gänge geführt wird.

Treppe zum Place Royale (Oberstadt) Treppe unterhalb Congressplein

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Mit der Gründung der EWG 1956 setzte ein Prozess ein, an dessen Ende Brüssel durch die Verträge von Amsterdam 1997 zur „europäischen Hauptstadt“ wird. Heute haben die drei wichtigen Institutionen der EU (Kommission, Rat und Parlament) ihren Sitz in Brüssel. Die Entwicklung der Europäischen Union und der damit verbundene Raumbedarf waren 1958 nicht absehbar, die bauliche Entwicklung der Einrichtungen der Kommission erfolgte zum Teil ungeplant bzw. ohne konzeptionelle städtebauliche Planung. Das heutige Europaviertel entstand aus dem Abriss gewachsener Quartiere in der Erweite-rung des belgischen Regierungsviertels. Allein die EU-Kommission nutzt heute in Brüssel 65 Gebäude. Später wird Brüssel auch noch Sitz der NATO, so dass ein bis heute ungebroche-ner Boom an Büroneubauten und Umnutzung von Wohngebäuden für Büros entsteht.

Gare du Luxembourg und Europaparlament Neben den ca. 30.000 EU- und NATO-Bediensteten arbeiten noch ca. 20.000 Menschen in Verbindungs- und Lobbybüros. Es gibt geschätzt ca. 3000 Lobby-Büros und noch einmal 3000 Consultingbüros mit Bezug zur Gemeinschaft und den Mitgliedsstaaten. Brüssel verfügt mit 14 Mio. qm Bürofläche nach Paris und London über die drittgrößte Bürofläche der Welt. Während dies aber in Paris und London eine Quote von ca. 3 qm pro Einwohner bedeutet, sind dies in Brüssel ca. 14 qm pro Einwohner.

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Berlaymont – Sitz der EU Kommission Private Investitionen in Wohnraum sind in Brüssel in den vergangenen Jahren weitgehend ausgeblieben. Vorherrschend ist der Ersatz oder die Umwandlung von Wohnhäusern durch Büros. Ein großer Teil der im Jugendstil errichteten Wohngebäude wird heute als Bürofläche genutzt. Dies gilt auch für das Haus der skandinavischen Gewerkschaften, in dem das DGB-Verbindungsbüro als Mieter untergebracht ist.

DGB-Verbindungsbüro Aus städtebaulicher Sicht besteht heute die Forderung, ein neues Europaviertel auf einer der großen brachliegenden Bahngelände zu entwickeln. Diese Absicht hat bereits heute zu einer leichten Entspannung bei den Mieten sowohl für Büros als auch für Wohnungen geführt.

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Baustile Prägende Baustile für das Stadtbild des 19. und frühen 20. Jahrhundert sind Historismus, Jugendstil und Art Deco. Insbesondere der Jugendstil wird auch durch entsprechende Füh-rungen, u.a. durch ARAU, touristisch in Wert gesetzt.

Jugendstil Art Deco (Citroen-Niederlassung 1926) Als Architektonisch fragwürdig wird eine zeitweise geltende Bauvorschrift eingestuft, nach der beim Ersatz von Altbauten durch Neubauten die alte Fassade erhalten bzw. in den Neu-bau integriert werden soll. Die Kollegen von ARAU bezeichnen diesen Stil als „ Fassadismus“.

Fassadismus

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Staat und Verwaltung Die belgische Staatsorganisation und der Verwaltungsaufbau gelten als einer der komplizier-testen der Welt. Seit 1980 ist Belgien ein föderaler Staat, seit dieser Zeit hat sich die Aufga-benwahrnehmung auf verschiedene Ebenen verlagert. Der belgische Staat ist heute v.a. verantwortlich für die Bereiche Justiz, Finanzen, Außen und Verteidigung. Unterhalb der Zentralebene existieren eine territoriale und eine personengruppenbezogene Struktur. Belgien besteht heute aus den drei Regionen Wallonie, Flandern und Brüssel-Capitale (seit 1989). Diese Regionen sind vor allem für Fragen des Verkehrs, Bauens, der Umwelt und Wirtschaft zuständig. Daneben bestehen gleichwertig die Verwaltungen der Sprachgemeinschaften Deutsch, Französisch und flämisch (niederländisch). Diese Sprachgemeinschaften sind vor allem für die Bereiche Bildung und Soziales zuständig. Unterhalb der Regionen bestehen in Flandern und der Wallonie jeweils fünf Provinzialverwaltungen mit 308 bzw. 262 Kommunen. Baulich hat diese Struktur dazu geführt, dass im Zentrum von Brüssel ein großes Areal ehe-maliger Föderalministerien, vor allem das Bildungsministerium, leer steht und brach fällt.

Ruinen ehemaliger Regierungsgebäude im Zentrum von Brüssel Brüssel ist aber auch Hauptstadt der Provinz und Sprachgemeinschaft der Flamen sowie der Sprachgemeinschaft der Franzosen, so dass neben den bestehenden Gebäuden der Zent-ralregierung ein erheblicher Gebäudebedarf für die Mittelebenen entstand. Der auf den ersten Blick einheitliche Agglomerationsraum Brüssel-Capitale besteht aus 19 selbständigen Kommunen mit eigenen Räten, Verwaltungen und auch Bauvorschriften.

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Dies wird u.a. daran deutlich, dass z.B. in der Stadt Brüssel eine Bauhöhe von 68 m nicht überschritten werden darf, während in der Gemeinde St. Josse im Bereich des Nordbahnho-fes Hochhäuser erlaubt sind und auch gebaut wurden.

Da sich belgische Kommunen noch stärker als in Deutschland aus Anteilen der Gewerbe- und Einkommenssteuer finanzieren, galt die Hoffnung von St. Josse, eine der ärmsten Kommunen Belgiens, auf zusätzliche Einnahmen aus Vermietung in Bürohochhäusern. Da allerdings der Büroraum in Brüssel zu fast 70% von öffentlichen Einrichtungen und Institutio-nen angemietet wird, erfüllt sich diese Hoffnung nur sehr unzureichend. Für den Bereich des Bauens und des Verkehrs in der Region Brüssel-Capital ist übergrei-fend die Region zuständig. Die administrative und soziale Situation sowie die Pläne der Re-gionalregierung wurden der Seminargruppe in einem Gebäude der Brüsseler Regionalregie-rung erläutert.

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Gespräch mit dem Kabinettschef des zuständigen Staatssekretärs, Herrn Pol Zimmer

Ergänzend wurden zur sozialen Situation in Brüssel und zur Wohnungsbausituation Anmer-kungen von Herrn Werner van Mieghem gemacht, der eine Mietervereinigung vertritt (Rassemblement bruxellois pour le droit a l`habitat – Recht auf Wohnen in Brüssel). Soziale Ausgangssituation Brüssel hat eine stark zunehmende Bevölkerung von 907.000 Einwohnern in 1989, über 1,1 Mio. in 2010. Für 2030 wird von einer Größe von über 1,3 Mio. ausgegangen. Insgesamt ist die Bevölkerung in den letzten Jahren also um ca. 120.000 Menschen angestiegen. Ursa-che ist sowohl eine im europäischen Vergleich sehr hohe Geburtenrate als auch Zuzug, der z.T. auch als Bewegung zurück vom Land in die Stadt verläuft. Brüssel weist mit über 53.000 € pro Kopf ein sehr hohes Bruttoinlandprodukt auf (NRW ca. 28.000 €), die Mehrzahl der Bürgerinnen und Bürger gilt jedoch als arm. Der Durchschnitts-verdienst in Brüssel ist der niedrigste der drei belgischen Regionen, kennzeichnend ist eine hohe Jugendarbeitslosigkeit, 32 % der Kinder leben in Arbeitslosen-Familien. Wohnungssituation Die Mehrzahl der Einwohner Brüssels sind Mieter. Insgesamt ist ein Bestand von ca. 550.000 Wohnungen in der Region Brüssel vorhanden. Die Eigentumsstruktur der Mietwoh-nungen ist stark zersplittert, bei den privaten Eigentümern besitzen über 50 % der Eigentü-mer drei oder weniger Mietwohnungen. Der Leerstand an Wohnungen wird nicht erfasst, geschätzt wird eine Zahl von etwa 15.000 Wohnungen. Der Leerstand resultiert in vielen Fällen aus der Hoffnung auf Umwandlung in Büroraum. Die Stadt Brüssel besitzt eine große Anzahl von Wohnungen, die i.d.R. zu den Konditionen des freien Marktes vermietet werden. Darunter befinden sich anspruchsvolle Wohnprojekte wie die umgebaute Hauptfeuerwache im Stadtteil Marollen.

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Zu Wohnungen umgebaute Hauptfeuerwache, davor täglicher Flohmarkt Der soziale Wohnungsbau spielt quantitativ keine herausragende Rolle. Insgesamt existieren in Brüssel 38.960 Sozialwohnungen, in denen ca. 81.000 Menschen leben. Nur 25 % dieser Wohnungen haben mehr als drei Zimmer, die Durchschnittsmiete beträgt 225 € zzgl. 95 € Nebenkosten. Hinzu kommen ca. 22 000 kommunale Wohnungen bzw. kommunal geförderte Wohnungen, die tendenziell für schwächere Einkommen zur Verfügung gestellt werden können Die Wohnungen werden nach definierten Sozialkriterien vergeben. Unter Berücksichtigung dieser Kriterien wären in Brüssel ca. 40 % der Einwohner anspruchsberechtigt. Das entsprä-che einem Bedarf von ca. 200.000 Wohnungen. Aktuell stehen auf der Warteliste der Woh-nungsgesellschaften 36.000 Haushalte. Wohngeld in unserem Sinne gibt es nicht, auf ver-schiedenen Wegen, insbesondere durch kommunale Regelungen, werden etwa 5.000 Haus-halte unterstützt. Die Wohnungen befinden sich im Eigentum von 33 Wohnungsbausgesellschaften, die zwi-schen 270 und 3.100 Wohnungen besitzen und verwalten, also insgesamt sehr klein struktu-riert. Die Sozialwohnungen finden sich verteilt im gesamten Großraum Brüssel, zum Teil auch in der Nachbarschaft sog. besserer Quartiere. Es besteht eine Dachorganisation der Gesellschaften, die Societe du Logement de la Region Bruxelles-Capital/SLRB. Als Förder- und Aufsichtsbehörde ist seit 1990 die Regionalregie-rung Brüsse-Capitale zuständig. In der Bauzeit der 38.000 Wohnungen sind zwei Schwerpunkte auszumachen: 7.100 Wohnungen (19%) der Wohnungen stammen aus der Zeit zwischen 1920 und 1930, 12.200 Wohnungen (32%) aus der Dekade 1970-1980. Seit 2000 sind nur 1.059 Wohnungen gebaut worden. Es besteht seit einigen Jahren ein Regierungsprogramm, nach dem bis 2010 50.000 Sozialwohnungen gebaut werden sollten. Dieses Ziel wurde deutlich nicht erreicht. Dies ist in erster Linie auf den Mangel an verfügbaren Grundstücken zurückzuführen. Alle 33 Gesellschaften zusammen verfügen zurzeit nur über 45 ha Fläche.

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Es besteht eine hohe Konkurrenz um den Baugrund, die Grundstückspreise sind von 2000 bis 2010 im Schnitt von 350.-€/m² auf 580.-€/m² gestiegen. Entsprechend ist in diesem Zeit-raum auch die Preissteigerung beim Kauf von Einfamilienhäusern um 127% sowie bei Woh-nungen um 50% sehr hoch. Selbst die Gemeinden sind hier sehr zurückhaltend, da sie auf Grund ihrer starken Abhän-gigkeit von Gewerbe- und Einkommensteuern die verfügbaren Flächen für Büros oder hoch-wertigen Wohnraum freihalten möchten. Die bereitgestellten Fördermittel für den sozialen Wohnungsbau werden daher nicht abgerufen. Insgesamt steigt das Interesse privater Investoren am Wohnungsbau. Es richtet sich aber eher auf Wohnungen im hochwertigen Bereich. Inwieweit diese zunehmenden Aktivitäten zu einer Entspannung beitragen oder durch „Luxusmodernisierungen“ preiswerter Wohnraum wegfällt, bleibt abzuwarten. Ein interessantes Beispiel fanden wir im Stadtteil Les Marolles. Hinter der repräsentativen Fassade des 19.Jahrhunderts befand sich eine Kaffeerösterei, die heute zu aufwendigen Wohnungen sowie zu einem Architekturbüro umgebaut wurden

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Programm der Regionalregierung Die Regionalregierung hat folgende Ziele für die Wohnungsbaupolitik in der Region Brüssel:

- 15 % mehr öffentliche Wohnungen - Sanierung des Bestandes insbesondere unter energetischen Aspekten - Verwaltungsvereinfachung

Zur Erreichung dieser Ziele wurde am 10.08.2010 ein Vertrag zwischen der Regionalregie-rung und der SLRB geschlossen, in dem die Hauptaufgaben festgelegt werden. Die Erhö-hung des Wohnungsbestandes wird ohne Planzahl festgelegt, Ziel ist eine Quote von 15 % Wohnungen im öffentlichen Sektor bis 2020. Das Management soll rationalisiert werden, ggf. unter Reduzierung der Zahl der Wohnungs-baugesellschaften, das Mietvertragsrecht soll neu gestaltet werden. Ca. 1.800 leer stehende Sozialwohnungen sollen durch Instandsetzung nutzbar gemacht werden, der übrige Bestand wird renoviert. Bei der Instandsetzung sind ökologische Kriterien wie energetische Sanierung in Verbindung mit der Verbesserung der gesamten Umweltsituation in Brüssel vorrangig (70 % der CO2 Immissionen in Brüssel stammt aus Heizungen). Besonderes Gewicht soll auf Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen gelegt werden. Daneben spielen Aspekte wie Abfallreduzierung, Artenschutz und Biodiversität und aktive Mobilität mit ÖPNV und Fahrrad eine große Rolle.

In der Stadt Brüssel besteht bereits ein gutes System von Leihfahrrädern für Kurzzeitentleihen

Insgesamt steht hierfür bis 2013 ein Budget von 1,3 Mrd. € zur Verfügung, davon 540 Mio. € für Neubau und 76 Mio. € für die Instandsetzung. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind nach Auskunft der SLRB ca. 4.500 Wohnungen auf dem Weg. Die SRLB fungiert als Projektent-wickler und Projektträger und übergibt die fertigen Objekte den Gesellschaften.

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Einzelprojekte Im Rahmen von ARAU geführter Exkursionen haben wir eine Reihe von Projekten des sozia-len Wohnungsbaus aus allen Epochen besucht. Im Folgenden einige maßgebliche Daten und Bilder der besuchten Siedlungen. (Die Ziffern sind die Objektbezeichnungen der SLRB.) Erste Arbeiterwohnungen der 1. sozialistischen Stadtregierung vom Ende des 19. Jh im neo-gotischen Stil, Lage innerhalb des Stadtringes.

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Reihenblockbebauung „Hellemans“ Baujahr 1916, 236 Wohnungen, renoviert. Daneben typische Wohnungen aus den 60er Jahren, schlechter Zustand (Stadt Brüssel, Stadtteil Les Marolles(07A, 07H).

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„Logis“ und „Floral“, Baujahr 1921/22 Gartenstadt in Anlage und Stil stark an England ori-entiert, im Kern 550 Wohneinheiten, später erweitert auf 1.660 Wohneinheiten, genossen-schaftliche Organisation, hohe Nachfrage (Gemeinde Watermaal-Bosvoorde im Südosten der Region) (04A, 05A).

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„Cite´ moderne“, Baujahr 1924/25, (ähnlich Werkbundsiedlung) 350 Wohneinheiten, starker Sanierungsbedarf insbesondere des Betons und der Dächer (Gemeinde St. Agatha-Berchem im Nordwesten der Region) (03B, 03C).

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„Cite´ Diongre“, Baujahr 1926, 179 Wohneinheiten, Art Deco, modernisiert (Gemeinde Molenbeek- Saint Jean im Westen der Region)( 24E)

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Ein ausführlicher Besuch galt dem Projektes „Val Maria“ (Stadt Brüssel an der nördlichen Grenze der Region, 15B). Hier führte die Gruppe Gespräch mit Pierre Hargot, Direktor des Bauträgers „Home Familial Bruxellois“, den Architektinnen der SLRB sowie Mietervertretern. Die Siedlung ist als gartenstadtartige Anlage in den 50 er Jahren entstanden, der Bestand von ca. 490 Wohnungen wurde in den letzten Jahren vollständig renoviert.

Eine Ergänzung erfolgte 2009 um 58 Wohnungen im Niedrigenergiestandard und Gemein-schaftseinrichtungen/Sozialraum. Einzelne ältere z.T. allein stehende Mieter in großen Woh-nungen des Altbestandes zogen in die neuen z.T. kleineren Wohnungen um. Es handelt sich ausschließlich um Sozialwohnungen, ein hoher Bevölkerungsanteil stammt aus dem Mahgreb. (1964 schlossen Belgien und Marokko ein bilaterales Abkommen ab, wonach 100.000 Berber-Marokkaner nach Belgien einreisen durften. Nachgeholt haben diese dann durchschnittlich 5-6 Familienmitglieder). Nur ca. 15 % der Mieter sind erwerbstätig, ein hoher Rentneranteil ist kennzeichnend.

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Die Mieter haben in der Eigentümergesellschaft ein Mitspracherecht mit 50% Anteil der Sitze im Aufsichtsrat des Projekts. Im Neubaubestand erfolgte eine jährliche Überprüfung der Ein-kommen und bei Steigerung Mietanpassung auch über das Niveau des freien Marktes hin-aus. Die Nachfrage ist hoch, 15.000 Personen stehen auf der Warteliste, die jährliche Fluk-tuation beträgt nur etwa 40 Wohnungen.

Ein typisches Problem zeigte sich zum Abschluss: Die Anbindung der fertigen, inneren Straßenerschließung an das öffentliche Straßennetz (Stadt Brüssel) ist nur provisorisch.

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Kolleginnen und Kollegen mit ARAU-Mitarbeiterinnen und Vertretern des Bauträgers „Home Familial Bruxellois“

Autor: Walter Neuling Mitglied der DGB-Kollegengruppe in der Vertreterversammlung der Architektenkammer NRW Stv. Vorsitzender des Ausschusses Landschaftsarchitekten in der AK NW