Moltmann, Jürgen - Theologie Der Hoffnung, 6. a. (BEvTh 38, Chr. Kaiser, 1966, 346pp)_304_322_OS

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J URGEN MOL TMANN CHR. KAISER VERLAG MüNCHEN

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J URGEN MOL TMANN

CHR. KAISER VERLAG MüNCHEN

Eschatologie ist das beherrschende

Stichwort der Theologie im 20. Jahr­

hundert. Die Entdeckung des escha­

tologischen Charakters des Neuen

Testamentes hat das Verständnis

dessen, was Christentum ist, tief­

greifend umgeprägt . Schon zur

Genüge? Die Konsequenzen der

eschatologischen Entdeckung for­

dern stärker, tragen aber auch wei­

ter, als die Theologie bisher bedacht

hat. Ihre Bedeutung beschränkt sich

nicht auf die Fachtheologie. In einer

Zeit, in der die Menschheit der

Realisierung früherer Utopie ent­

gegeneilt und sich zugleich vor ihr

fürchtet und in der revolutionäre

Bewegungen als säkularer Nieder­

schlag christlicher Hoffnung das

Bestehende erschüttern, ist die Chri­

stenheit nach dem Gehalt und den

praktischen Konsequenzen ih·rer

Zukunftserwartung gefragt. Tiefes

theologisches Verstehen und umfas- .

sende Kenntnis des heutigen Gei­

steslebens mußten sich vereinigen,

um ein in dieser Lage so förderndes

Buch wie dieses entstehen zu lassen.

Prof. D. Helmut Gollwitzer, Berlin

Dieses Buch halte ich für einen

wichtigen Vorstoß in systematisch

kaum erschlossenes Neuland und

für das Zeichen einer sich anbah­

nenden neuen Fragestellung im Ge­

samtbereich der Theologie.

Prof. D. Ernst Käsemann, Tübingen

CHR. KAISER VERLAG MÜNCHEN

Eine ,meditatio vitae futurae' im schönsten und tiefsten Sinn des Wortes hat uns hier der Verfasser geschenkt- nicht so sehr im indivi­duellen Sinn, sondern vor allem im Horizont des verheißenen Reiches Gottes. Sie fordert die evangelische Theologie kühn und bedacht her­aus, die Eschatologie nicht mehr in den entfremdenden Kategorien des griechischen Logos, sondern im hoff­nungsbegründenden Wort der V er­heißung zu bedenken. Ein Ton wird hier laut, wie er bisher im Ver­ständnis von Eschatologie weder bei Rudolf Bultmann noch bei Karl Barth gehört ward. Kirchenblatt für die reform. Schweiz

Ein Musterbeispiel heutigen theo· logischen Denkens und Schreibens. Aus diesem Buch ergeben sich Kon­sequenzen für die Systematik, aber auch für die Praxis, die kaum ab­zusehen sind.

Hans J ürgen S chultz (Süddeutscher Rundfunk)

Dieses umfassende Werk ist alles andere als eine "aufgewärmte Lehre von den letzten Dingen" im Sinne eines Schlußkapitels der Dogmatik. Maltmann unternimmt es vielmehr sozusagen die gesamte kirchliche Lehre von der Hoffnung auf den wiederkommenden Christus her neu zu entwerfen. Es gelingt ihm nicht nur, lang vermißte Horizonte der biblischen Botschaft wieder zu ent­decken, sondern auch die vielfach verdächtigte Apokalyptik wieder in ihr Recht einzusetzen.

Stuttgarter Evang. Sonntagsblatt

CHR. KAISER VERLAG MÜNCHEN

Jürgen Moltmann, Theologie der Hoffnung

Beiträge zur evangelischen Theologie Theologische Abhandlungen, herausgegeben von E. Wolf

Band 38

JÜRGEN MOLTMANN

THEOLOGIE DER HOFFNUNG

Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen

einer christlichen Eschatologie

CHR. KAISER VERLAG MÜNCHEN

1966

Sechste, durchgesehene Auflage

© 1964 Chr. Kaiser Verlag München Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe

und der Übersetzung bei Chr. Kaiser Verlag. - Printed in Germany Umschlag- und Einbandentwurf von Ingeborg Geith

Satz und Druck: Buchdruckerei Georg Wagner, Nördlingen

Meiner Frau

VORWORT

Die hier vorliegenden Versuche und Ansätze tragen den Titel "Theologie der Hoffnung" nicht darum, weil sie die Eschatologie als ein besonderes Lehrstück noch einmal und in Konkurrenz zu bekannten Lehrbüchern entfalten wollen. Sie möchten vielmehr zeigen, wie die Theologie aus Hoffnung und in eschatologischer Ausrichtung über ihr Thema nachzu­denken beginnen kann. Darum fragen sie nach dem Grund der Hoffnung des christlichen Glaubens und nach der Verantwortung dieser Hoffnung im weltlichen Denken und Handeln heute. Die vielfältig geführten Aus­einandersetzungen möchten nicht als Absagen und Verurteilungen ver­standen werden. Es sind notwendige Gespräche über eine gemeinsame Sache, die so reich ist, daß sie immer neue Hinsichten verlangt. Darum hoffe ich, es möchte in ihnen deutlich werden, daß auch kritische Fragen Zeichen theologischer Gemeinschaft sein können. Zu danken habe ich darum allen, von denen ich Anregungen empfing, und allen, von denen ich Widerspruch erfuhr. Für das Lesen der Korrekturen und manche Hinweise danke ich meinem Assistenten, Herrn Karl-Adolf Bauer.

10. September 1964 Jürgen Moltmann

VORWORT ZUR 3. AUFLAGE

Die Kürze der Zeit, in der eine dritte Auflage dieses Buches notwendig wurde, gibt mir keine Gelegenheit zur sachlichen Bearbeitung einzelner Kapitel und zur ausführlicheren Darlegung mancher Gesichtspunkte. Es konnten, wie schon in der zweiten Auflage, nur eine Reihe von Druck­fehlern und V ersehen korrigiert werden. Da von einigen theologischen und nichttheologischen Lesern eine explizite Auseinandersetzung mit Ernst Bloch und seinem Werk "Das Prinzip Hoffnung", Suhrkamp 1959, dem die "Theologie der Hoffnung" nächst

der holländischen Apostolatstheologie ganz offensichtlich viel verdankt, vermißt wurde, gibt die dritte Auflage in einem Anhang ein Gespräch mit Ernst Bloch wieder, das in der "Evangelischen Theologie", 23, 1963, 537-557, erschien. Von den bisher erschienenen Rezensionen möchte ich auf Man/red Kühn, "Theologie der Hoffnung" -Hoffnung für die Theologie, Deutsches Pfar­rerblatt, 65, 1965, Nr. 7, 193-196, und auf ]ürgen Seim, Theologie als intellectus spei, Kirche in der Zeit, 20, 1965, 5, 202-206, verweisen. Ihre Zustimmung und ihre Kritik haben mir zu denken gegeben.

5.Juni 1965 Jürgen Moltmann

INHALT

Einleitung: Meditation über die Hoffnung . . . . 11

1. Welchen Logos hat die christliche Eschatologie? 11

2. Die Hoffnung des Glaubens. 15

3. Die Sünde der Verzweiflung 18

4. Betrügt die Hoffnung den Menschen um das Glück der Gegenwart? 21

5. Hoffen und Denken . . . . . . . . . . . . . . 27

KAPITEL 1: ESCHATOLOGIE UND OFFENBARUNG

§ 1 Die Entdeckung der Eschatologie und ihre Unwirksamkeit . 31

§ 2 Verheißung und Offenbarung Gottes. 35

§ 3 Transzendentale Esd1atologie 38

§ 4 Die Theologie der transzendentalen Subjektivität Gottes 43

§ 5 Die Theologie der transzendentalen Subjektivität des Menschen 51

§ 6 Heilsgeschichtliche Eschatologie und "progressive Offenbarung" 61

§ 7 "Geschichte" als indirekte Selbstoffenbarung Gottes 67

§ 8 Die Eschatologie der Offenbarung . 74

KAPITEL II: VERHEISSUNG UND GESCHICHTE

§ 1 Epiphanienreligion und Verheißungsglaube 85

§ 2 Das Verheißungswort . 92

§ 3 Die Erfahrung der Gesd1ichte 95

§ 4 Offenbarung und Gotteserkenntnis 101

§ 5 Verheißung und Gesetz 108

§ 6 Verheißung in prophetischer Eschatologie 112

§ 7 Die Vergeschichtlichung des Kosmos in apokalyptischer Eschatologie 120

KAPITEL III:

AUFERSTEHUNG UND ZUKUNFT JESU CHRISTI

§ 1 Evangelium und Verheißung

§ 2 Der Gott der Verheißung

§ 3 Paulus und Abraham . .

§ 4 Der urchristliche Enthusiasmus der Erfüllung und die eschatologia

CrUClS . • • • • • • • • . • · · •

§ 5 Der" Tod Gottes" und die Auferstehung Christi

§ 6 Die historische Frage nach der Auferstehung Christi und die Fraglich-

125

129

134

140

150

keit des historischen Umgangs mit der Geschichte . . . . . . 156

§ 7 Die formgeschichtliche Frage nach den Osterberichten und die Frag-

lichkeit ihrer existentialen Interpretation . . . . . . . . . 166

§ 8 Die eschatologische Frage nach dem Zukunftshorizont in der Verkün­

digung des Auferstandenen . . . . . . . . . . . . . . 173

§ 9 Die Identität des als auferstanden Erscheinenden mit dem gekreuzig-

ten Christus 179

§ 10 Die Zukunft Jesu Christi 184

§ 11 Die Zukunft der Gerechtigkeit 185

§ 12 Die Zukunft des Lebens . . 189

§ 13 Die Zukunft des Reiches Gottes und der Freiheit des Menschen 197

§ 14 Zusammenfassung und Rechenschaft . . . . . . . . . 204

KAPITEL IV: ESCHATOLOGIE UND GESCHICHTE

§ 1 Kritik und Krise . . . . . . .

DAs "AUFGELÖSTE RÄTSEL DER GEscHICHTE":

§ 2 Die historische Methode

§ 3 Historische Heuristik

§ 4 Historiologie

. 210

218

220

225

§ 5 Esd1atologie der Geschichte - Geschichtsphilosophischer Chiliasmus 240

§ 6 Tod und Schuld als Triebkräfte der Historie

§ 7 Die Eigenart historischer Universalbegriffe

§ 8 Hermeneutik der christlichen Sendung .

1. Die Gottesbeweise und die Hermeneutik .

2. Sendung und Auslegung .

243

248

250

250

259

a) Hermeneutik des Apostolates 260

b) Die Menschwerdung des Menschen in der Hoffnung der Sendung 262

c) Die Vergeschichtlichung der Welt in der Sendung

d) Die Tradition der eschatologischen Hoffnung

KAPITEL V: EXODUSGEMEINDE

Bemerkungen zum eschatologischen Verständnis der Chri,stenheit in der

modernen Gesellschaft

§ 1 Der Kult des Absoluten und die moderne Gesellschaft

§ 2 Religion als Kult der neuen Subjektivität

§ 3 Religion als Kult der Mitmenschlichkeit

§ 4 Religion als Kult der Institution

§ 5 Die Christenheit im Erwartungshorizont des Reiches Gottes

§ 6 Der Beruf der Christenheit an der Gesellschaft

ANHANG: "DAS PRINZIP HOFFNUNG" UND DIE "THEOLOGIE

DER HOFFNUNG" Ein Gespräch mit Ernst Bloch

1. Ernst Blochs "Meta-Religion" .

2. Homo absconditus und Deus absconditus

3. Die Heimat der Identität und das Reich Gottes

4. Exterritorialität zum Tode und Auferstehung der Toten

5. Hoffnung und Zuversicht

Personenregister

Bibelstellenregister

265

268

280

287

292

296

299

304

313

317

321

326

331

335

339

EINLEITUNG

MEDITATION ÜBER DIE HOFFNUNG

1. Welchen Logos hat die christliche Eschatologie?

Man nannte lange Zeit die Eschatologie die "Lehre von den letzten Dingen" oder die "Lehre von dem Letzten". Unter diesen letzten Dingen verstand man Ereignisse, die einmal am Ende der Zeit über die Welt, die Geschichte und die Menschen hereinbrechen werden. Dazu gehörte die Wiederkunft Christi in universaler Herrlichkeit, Weltgericht und Reichs­vollendung, allgemeine Totenauferstehung und neue Schöpfung aller Dinge. Diese Endereignisse sollten von einem Jenseits der Geschichte ins Diesseits hereinbrechen und die Geschichte, in der sich hier alles regt und bewegt, beenden. Indem man aber diese Ereignisse auf den "jüngsten Tag" vertagte, verloren sie ihre weisende, aufrichtende und kritische Bedeutung für alle jene Tage, die man hier, diesseits des Endes, in der Geschichte zubrachte. So führten diese Lehren vom Ende ein eigentümlich steriles Dasein am Ende der christlichen Dogmatik. Sie waren wie ein loser Anhang, der in apokrypher Unwesentlichkeit verkam. Sie hatten keine Beziehung zu den Lehren von Kreuz und Auferstehung, Erhöhung und Herrschaft Christi, ergaben sich nicht folgenotwendig daraus. Sie waren davon so weit entfernt, wie die Predigten am Totensonntag von Ostern. In dem Maße, wie das Christentum zur Nachfolgeorganisation der römischen Staatsreligion wurde und hartnäckig deren Ansprüche vertrat, überließ man die Eschatologie und ihre mobilisierende, revolutionierende und kritische Einwirkung in die jetzt zu lebende Geschichte den enthu­siastischen Sekten und den revolutionären Gruppen. Indem der christ­liche Glaube die ihn tragende Zukunftshoffnung aus seinem Leben aus­schied und die Zukunft in ein Jenseits oder die Ewigkeit transponierte, die biblischen Zeugnisse, die er tradierte, aber randvoll von messianischer Zukunftshoffnung für die Erde sind, wanderte die Hoffnung gleichsam aus der Kirche aus und kehrte sich in welcher verzerrten Gestalt auch immer gegen die Kirche. In Wahrheit aber heißt Eschatologie die Lehre von der christlichen Hoff-

12 Einleitung

nung, die sowohl das Erhoffte wie das von ihm bewegte Hoffen umfaßt. Das Christentum ist ganz und gar und nicht nur im Anhang Eschatologie, ist Hoffnung, Aussicht und Ausrichtung nach vorne, darum auch Auf­bruch und Wandlung der Gegenwart. Das Eschatologische ist nicht etwas am Christentum, sondern es ist schlechterdings das Medium des christ­lichen Glaubens, der Ton, auf den in ihm alles gestimmt ist, die Farbe der Morgenröte eines erwarteten neuen Tages, in die hier alles getaucht ist. Denn der christliche Glaube lebt von der Auferweckung des gekreu­zigten Christus und streckt sich aus nach den Verheißungen der univer­salen Zukunft Christi. Eschatologie ist das Leiden und die Leidenschaft, die am Messias entstehen. Darum kann die Eschatologie eigentlich kein Teilstück christlicher Lehre sein. Eschatologisch ausgerichtet ist vielmehr der Charakter aller christlichen Verkündigung, jeder christlichen Existenz und der ganzen Kirche. Es gibt darum nur ein wirkliches Problem der christlichen Theologie, das ihr von ihrem Gegenstand her gestellt ist und das durch sie der Menschheit und dem menschlichen Denken gestellt wird: das Problem der Zukunft. Denn das, was uns in den biblischen Testamenten der Hoffnung begegnet als das Andere, als das, was wir uns nicht schon aus der gegebenen Welt und unseren schon gemachten Er­fahrungen mit ihr ausdenken und ausmalen können, das begegnet uns als Verheißung eines Neuen und als Hoffnung auf eine Zukunft aus Gott. Der Gott, von dem hier geredet wird, ist kein innerweltlicher oder außer­weltlicher Gott, sondern der "Gott der Hoffnung" (Röm. 15, 13), ein Gott mit "Futurum als Seinsbeschaffenheit" (E. Bloch), wie er aus dem Exodus und der Prophetie Israels bekannt wurde, den man darum nicht in sich oder über sich, sondern eigentlich immer nur vor sich haben kann, der einem in seinen Zukunftsverheißungen begegnet und den man darum auch nicht "haben" kann, sondern nur tätig hoffend erwarten kann. Eine rechte Theologie müßte darum von ihrem Zukunftsziel her bedacht wer­den. Eschatologie sollte nicht ihr Ende, sondern ihr Anfang sein. Wie aber soll einer von der Zukunft reden, die noch nicht da ist, und von kommenden Ereignissen, bei denen er doch noch nicht dabei gewesen ist? Sind das nicht Träume, Spekulationen, Sehnsüchte und Befürchtun­gen, die alle im Vagen und Dogefähren bleiben müssen, da sie niemand nachprüfen kann? Der Ausdruck "Eschato-logie" ist falsch. Eine "Lehre" von den letzten Dingen kann es nicht geben, wenn unter "Lehre" eine Sammlung von Lehrsätzen verstanden wird, die man aus Erfahrungen, die immer wiederkehren und von allen gemacht werden können, ver­steht. Der griechische Ausdruck "Logos" bezieht sich auf Wirklichkeit, die da ist und immer ist und im ihr entsprechenden Wort zur Wahrheit

Meditation über die Hoffnung 13

gebracht wird. In diesem Sinne ist von der Zukunft kein Logos möglich, es sei denn, daß die Zukunft die Fortsetzung oder regelmäßige Wieder­kehr der Gegenwart ist. Sollte aber die Zukunft etwas überraschend Neues bringen, so läßt sich darüber nichts sagen und es kann darüber auch nichts Sinnvolles gesagt werden, denn nicht im Zufällig-Neuen, sondern nur im Bleibenden und regelmäßig Wiederkehrenden kann logosgemäße Wahrheit liegen. Die Hoffnung kann Aristoteles zwar den "Traum eines Wachenden" nennen, aber sie ist für die Griechen doch ein übel aus der Büchse der Pandora. Wie aber kann dann die christliche Eschatologie die Zukunft zur Sprache bringen? Die christliche Eschatologie redet nicht von der Zukunft über­haupt. Sie geht aus von einer bestimmten geschichtlichen Wirklichkeit und sagt deren Zukunft an, deren Zukunftsmöglichkeit und Zukunftsmächtig­keit. Christliche Eschatologie spricht von Jesus Christus und seiner Zu­kunft. Sie erkennt die Wirklichkeit der Auferweckung Jesu und verkün­det die Zukunft des Auferstandenen. Darum ist für sie die Begründung aller Aussagen über die Zukunft in der Person und der Geschichte Jesu Christi der Prüfstein der eschatologischen und utopischen Geister. Wenn aber der gekreuzigte Christus auf Grund der Auferweckung eine Zukunft hat, so bedeutet das umgekehrt, daß alle Aussagen und Urteile über ihn zugleich etwas über die Zukunft aussagen müssen, die von ihm zu erwarten ist. Die Weise also, wie die christliche Theologie über Christus spricht, kann nicht die Weise des griechischen Logos oder der Lehrsätze aus Erfahrung sein, sondern nur die Weise der Hoffnungs­sätze und der Zukunftsverheißungen. Alle Christusprädikate sagen nicht nur, wer er war und ist, sondern implizieren Aussagen darüber, wer er sein wird und was von ihm zu erwarten ist. Sie alle sagen: "Er ist unsere Hoffnung" (Kol. 1, 27). Indem sie so verheißend seine Zukunft zur Welt ankündigen, weisen sie den Glauben an ihn in die Hoffnung auf seine noch ausstehende Zukunft. Die Hoffnungssätze der Verheißung greifen der Zukunft vor. In den Verheißungen kündigt sich die verborgene Zu­kunft schon an und wirkt durch erweckte Hoffnung in die Gegenwart hinein. Lehrsätze finden ihre Wahrheit in ihrer kontrollierbaren Entsprechung zur vorliegenden erfahrbaren Wirklichkeit. Die Hoffnungssätze der Ver­heißung aber müssen in einen Widerspruch zur gegenwärtig erfahrbaren Wirklichkeit treten. Sie resultieren nicht aus Erfahrungen, sondern sind die Bedingung für die Möglichkeit neuer Erfahrungen. Sie wollen nicht die Wirklichkeit erhellen, die da ist, sondern die Wirklichkeit, die kommt. Sie wollen die Wirklichkeit, die da ist, nicht im Geiste abbilden,

14 Einleitung

sondern die Wirklichkeit, die da ist, in die Veränderung hineinführen, die verheißen ist und erhofft wird. Sie wollen der Wirklichkeit nicht die Schleppe nachtragen, sondern die Fad\:el voran. Damit machen sie die Wirklichkeit geschichtlich. Wird aber die Wirklichkeit geschichtlich wahr­genommen, so muß man mit]. G. Hamann fragen: "Wer will vom Gegen­wärtigen richtige Begriffe nehmen, ohne das Zukünftige zu wissen?" Gegenwärtiges und Zukünftiges, Erfahrung und Hoffnung treten in der christlichen Eschatologie in Widerspruch zueinander, sodaß durch sie dem Menschen nicht Entsprechung und Einstimmigkeit mit dem Gegebenen zuteil wird, sondern er in den Widerstreit von Hoffnung und Erfahrung hineingezogen wird. "Auf Hoffnung hin sind wir gerettet. Eine Hoff.:. nung aber, die man sieht, ist keine Hoffnung; denn was einer sieht, wes­halb hofft er noch? Wenn wir dagegen hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir darauf mit Geduld" (Röm. 8, 24.25). überall richtet sich im Neuen Testament die christliche Hoffnung auf das noch nicht Sichtbare, ist darum ein "Hoffen wider Hoffen" und verurteilt damit das Sicht­bare und jetzt Erfahrbare zu einer gottverlassenen und zu überholenden, vergehenden Wirklichkeit. Der Widerspruch, in den die Hoffnung den Menschen zur vorliegenden Wirklichkeit seiner selbst und der Welt ver­setzt, ist eben der Widerspruch, aus dem diese Hoffnung selbst geboren wird, es ist der Widerspruch der Auferstehung zum Kreuz. Christliche Hoffnung ist Auferstehungshoffnung, und sie beweist ihre Wahrheit im Widerspruch der darin in Aussicht gestellten und verbürgten Zukunft der Gerechtigkeit gegen die Sünde, des Lebens gegen den Tod, der Herr­lichkeit gegen das Leiden, des Friedens gegen die Zerrissenheit. Calvin hat diese Diskrepanz, in die die Auferstehungshoffnung stellt, sehr genau erkannt: "Uns wird das ewige Leben verheißen - aber uns, den Toten. Man verkündigt uns selige Auferstehung - inzwischen sind wir von Ver­wesung umgeben. Gerechte werden wir genannt - und doch wohnt in uns die Sünde. Wir hören von unaussprechlicher Seligkeit - inzwischen aber werden wir hier von unendlichem Elend erdrü~t. überfluß an allen Gütern wird uns verheißen - reich sind wir aber nur an Hunger und Durst. Was würde aus uns, wenn wir uns nicht auf die Hoffnung stemmten, und unser Sinn auf dem durch Gottes Wort und Geist er­leuchteten Wege mitten durch die Finsternis hindurch über diese Welt hinauseilte!"(zu Hehr. 11, 1). In diesem Widerspruch muß die Hoffnung ihre Kraft beweisen. Darum darf auch die Eschatologie nicht in die Ferne schweifen, sondern muß ihre Hoffnungssätze im Widerspruch zur erfahrenen Gegenwart des Leidens, des Bösen und des Todes formulieren. Es ist darum immer nur

Meditation über die Hoffnung 15

schwer möglid1, eine Eschatologie für sich zu entfalten. Viel wichtiger ist es, die Hoffnung als das Fundament und als Triebfeder des theologi­smen Denkens überhaupt aufzuweisen und die esmatologisme Perspek­tive in die theologismen Aussagen von Gottes Offenbarung, von der Auferstehung Christi, von der Sendung des Glaubens und von der Ge­smichte hineinzubringen.

2. Die Hoffnung des Glaubens

Im Widerspruch des Verheißungswortes zur erfahrbaren Wirklimkeit des Leidens und des Todes stemmt sim der Glaube auf die Hoffnung und "eilt über diese Welt hinaus", sagte Calvin. Er meinte damit nicht, daß der mristlime Glaube weltflümtig, wohl aber daß er zukunftssürutig sei. Glauben, das heißt in der Tat Grenzen übersmreiten, transzendieren und im Exodus stehen. So jedom, daß damit die bedrückende Wirklim­keit nimt untersmlagen oder übersmlagen wird. Der Tod ist wirklicher Tod und die Verwesung ist stinkende Verwesung. Smuld bleibt Sdmld und das Leiden bleibt aum für den Glauben ein Aufsmrei ohne fertige Antwort. Der Glaube übersillreitet diese Realitäten nimt ins Himmlisme und Utopisme, er träumt sim nimt in eine andere Wirklimkeit. Er kann die in Leid, Sruuld und Tod vermauerten Grenzen des Lebens nur dort übersmreiten, ~o sie real durmbromen sind. Nur in der Namfolge des vom Leiden, vom Sterben in der Gottverlassenheit und vom Grabe auf­erweckten Christus gewinnt er Aussimt ins Weite, wo keine Bedrängnis mehr ist, in die Freiheit und in die Freude. Dort, wo in der Aufer­weckung des Gekreuzigten die Grenzen durd1bromen sind, an denen alle mensmliruen Hoffnungen sim bremen, dort kann und muß sim der Glaube zur Hoffnung weiten. Dort wird er zur Tiapp1Ja(a und zur p.axpo&up.(a. Dort wird seine Hoffnung zur "Leidensmaft für das Möglime" (Kierkegaard), weil sie Leidensmaft für das Ermöglimte sein kann. Dort gesmieht in der Hoffnung die extensio animi ad magna, wie es im Mittelalter hieß. Der Glaube erkennt den Anbrum dieser Zukunft der Weite und der Freiheit in dem Christusgesmehen. Die Hoffnung, die sim daran entzündet, ermißt die Horizonte, die sim damit über einem versmlossenen Dasein öffnen. Der Glaube bindet den Mensd1en an Christus. Die Hoffnung öffnet diesen Glauben für die umfassende Zu­kunft Christi. Die Hoffnung ist darum der "unzertrennlime Begleiter" des Glaubens. "Fehlt diese Hoffnung, so mögen wir nom so geistreim und geziert vom Glauben zu reden wissen - wir können uns darauf ver-

16 Einleitung

lassen, daß wir keinen haben! Die Hoffnung ist nichts anderes als die Erwartung der Dinge, die nach der Überzeugung des Glaubens von Gott wahrhaftig verheißen sind. So ist der Glaube gewiß, daß Gott wahr­haftig ist, und die Hoffnung erwartet, daß er zu gelegener Zeit seine Wahrheit offenbart; der Glaube ist gewiß, daß er unser Vater ist, die Hoffnung erwartet, daß er sich an uns stets als solcher erweisen wird; der Glaube ist gewiß, daß uns das ewige Leben gegeben ist, die Hoffnung erwartet, daß es einst enthüllt werden wird: der Glaube ist das Funda­ment, auf dem die Hoffnung ruht, die Hoffnung nährt und stützt den Glauben. Niemand kann von Gott irgendetwas erwarten, wenn er nicht zuvor seinen Verheißungen glaubt, aber ebenso muß unser schwacher Glaube, um nicht ermattet niederzusinken, dadurch unterstützt und er­halten werden, daß wir geduldig hoffen und warten. Die Hoffnung er­neuert und belebt den Glauben je und je und sorgt dafür, daß er immer wieder kräftiger sich erhebt, um bis ans Ende zu beharren" (Calvin, Institutio III 2, 42). So hat im christlichen Leben der Glaube das Prius, aber die Hoffnung den Primat. Ohne die Christuserkenntnis des Glau­bens wird die Hoffnung zur Utopie, die sich in leere Luft streckt. Ohne die Hoffnung aber verfällt der Glaube, wird er zum Kleinglauben und endlich zum toten Glauben. Durch den Glauben kommt der Mensch auf die Spur des wahren Lebens, aber allein die Hoffnung erhält ihn auf dieser Spur. So macht der Glaube an Christus die Hoffnung zur Zuver­sicht. So macht die Hoffnung den Glauben an Christus weit und führt ihn ins Leben hinein. Glauben heißt, die Grenzen in vorgreifender Hoffnung überschreiten, die durch die Auferweckung des Gekreuzigten durchbrachen sind. Beden­ken wir das, so kann dieser Glaube nichts mit Weltflucht, Resignation und Ausflucht zu tun haben. In dieser Hoffnung schwebt die Seele nicht aus dem Jammertal in einen imaginären Himmel der Seligen und löst sich auch nicht von der Erde. Denn sie setzt, mit Ludwig Feuerbach zu sprechen, "an die Stelle des Jenseits über unserem Grabe im Himmel das Jenseits über unserem Grabe auf Erden, die geschichtliche Zukunft, die Zukunft der Menschheit". (Das Wesen der Religion 1848.) Sie erkennt in der Auferstehung Christi nicht die Ewigkeit des Himmels, sondern die Zukunft eben der Erde, auf der sein Kreuz steht. Sie erkennt in ihm die Zukunft eben der Menschheit, für die er starb. Darum ist ihr das Kreuz die Hoffnung der Erde. Darum ringt diese Hoffnung um leiblichen Ge­horsam, weil sie leibliche Lebendigmachung erwartet. Darum nimmt sie sich in Sanftmut der zerstörten Erde und der geschundenen Menschen an, weil ihr das Erdreich verheißen ist. Avecrux- unica spes!

Meditation über die Hoffnung 17

Das aber bedeutet umgekehrt nichts anderes, als daß der so Hoffende sich niemals wird abfinden können mit den Gesetzen und Zwangsläufig­keiten dieser Erde, weder mit der Unausweichlichkeit des Todes noch mit dem fortzeugend Böses gebärenden Bösen. Die Auferweckung Christi ist ihr nicht nur ein Trost in einem angefochtenen und zum Sterben verurteilten Leben, sondern auch der Widerspruch Gottes gegen das Leiden und Sterben, gegen die Erniedrigung und Beleidigung, gegen die Bosheit des Bösen. Christus ist der Hoffnung nicht nur Trost im Leiden, sondern auch der P:otest der Verheißung Gottes gegen das Lei­den. Wird von Paulus der Tod der "letzte Feind" genannt (1. Kor.15, 26 ), so muß umgekehrt der auferstandene Christus und mit ihm die Auferstehungshoffnung zum Feind des Todes und einer Welt, die sich mit ihm einrichtet, erklärt werden. Der Glaube tritt in diesen Wider­spruch ein und wird darum selber ein Widerspruch gegen die Welt des Todes. Darum macht der Glaube, wo immer er sich zur Hoffnung ent­faltet, nicht ruhig, sondern unruhig, nicht geduldig, sondern ungeduldig. Er besänfEgt nicht das cor inquietum, sondern ist selber dieses cor in­quietum im Menschen. Wer auf Christus hofft, kann sich nicht mehr abfinden mit der gegebenen Wirklichkeit, sondern beginnt an ihr zu leiden, ihr zu widersprechen. Frieden mit Gott bedeutet Unfrieden mit der Welt, denn der Stachel der verheißenen Zukunft wühlt unerbittlich im Fleisch jederunerfüllten Gegenwart. Hätten wir nur das vor Augen, was wir sehen, so würden wir uns heiter oder verdrossen mit den Dingen abfinden, wie sie eben sind. Daß wir uns aber nicht abfinden, daß es zwischen uns und der Wirklichkeit zu keiner freundlichen Harmonie kommt, das macht die unauslöschliche Hoffnung. Sie hält den Menschen unabgefunden bis zur großen Erfüllung aller Verheißungen Gottes. Sie hält ihn in statu viatoris, in jener Weltoffenheit, die, da sie durch die Verheißung Gottes in der Auferstehung Christi geöffnet ist, durch nichts als durch die Erfüllung eben dieses Gottes aufgehoben werden kann. Diese Hoffnung macht die christliche Gemeinde zu einer beständigen Unruhe in menschlichen Gesellschaften, die sich zur "bleibenden Stadt" stabilisieren wollen. Sie macht die Gemeinde zum Quellort immer neuer Impulse für die Verwirklichung von Recht, Freiheit und Humanität hier im Lichte der angesagten Zukunft, die kommen soll. Diese Gemeinde ist verpflichtet zur "Verantwortung der Hoffnung", die in ihr ist (l.Petr. 3, 15). Sie wird angeklagt "wegen der Hoffnung und der Auferstehung der Toten" (Act. 23, 6). Wo immer dieses geschieht, da tritt die Christen­heit in ihre Wahrheit ein und wird zum Zeugen der Zukunft Christi.

18 Einleitung

3. Die Sünde der Verzweiflung

Wenn der Glaube so für sein Leben auf die Hoffnung angewiesen ist, so ist die Sünde des Unglaubens offenbar von der Hoffnungslosigkeit ge­tragen. Man sagt zwar gewöhnlich, Sünde an ihrem Ursprung sei dieses, daß der Mensch sein wolle wie Gott. Aber es ist nur die eine Seite der Sünde. Die andere Seite solchen Hochmutes ist die Hoffnungslosigkeit, die Resignation, die Trägheit und Traurigkeit. Aus ihr entstehen die tristesse und die Frustration, die alles Lebendige mit den Keimen einer süßen Verwesung erfüllen. In der Offenbarung Johannis 21, 8 werden unter den Sündern, deren Zukunft der ewige Tod ist, vor Ungläubigen, Abgöttischen, Totschlägern und anderen die "Verzagten" genannt. Für den Hebräerbrief ist der Abfall von der lebendigen Hoffnung als Unge­horsam gegenüber der Verheißung in der Bedrückung, als Weggespült­werden vom wandernden Gottesvolk, jene Sünde, die dem Hoffenden auf seinem Wege droht. Die Versuchung besteht dann nicht so sehr darin, titanenhaft wie Gott sein zu wollen, sondern in der Schwäche, im Klein­mut, in der Ermüdung, das nicht sein zu wollen, was Gott einem zu­mutet. Gott hat den Menschen erhöht und ihm Aussicht ins Freie und Weite geschenkt, aber der Mensch bleibt zurück und versagt sich. Gott ver­heißt eine Neuschöpfung aller Dinge in Gerechtigkeit und Frieden, aber der Mensch tut so, als wäre und bliebe alles beim Alten. Gott würdigt ihn seiner Verheißungen, aber der Mensch traut sich das nicht zu, was ihm zugemutet wird. Das ist die Sünde, die den Glaubenden zutiefst bedroht. Nicht das Böse, das er tut, sondern das Gute, das er unterläßt, nicht seine Untaten, sondern seine Versäumnisse klagen ihn an. Sie klagen ihn des Mangels an Hoffnung an. Denn diese sogenann­ten Unterlassungssünden gründen allemal in Hoffnungslosigkeit und Kleinglauben. "Nicht so sehr die Sünde stürzt uns ins Unheil als viel­mehr die Verzweiflung", sagte Johannes Chrysostomos. Darum zählte das Mittelalter die acedia oder tristitia unter die Sünden wider den heiligen Geist, die zum Tode führen. ]oseph Pieper hat in seinem Traktat "über die Hoffnung", 1949, sehr schön gezeigt, wie diese Hoffnungslosigkeit zwei Formen annehmen kann: sie kann Vermessenheit: praesumptio, sein, und sie kann Verzweif­lung: desperatio, werden. Beides sind Formen der Sünde gegen die Hoff­nung. Die Vermessenheit ist eine unzeitige, eigenwillige Vorwegnahme der Erfüllung des von Gott Erhofften. Die Verzweiflung ist die unzei­tige, eigenmächtige Vorwegnahme der Nichterfüllung des von Gott Er-

Meditation über die Hoffnung 19

hofften. Beide Weisen der Hoffnungslosigkeit durch vorweggenommene Erfüllung oder durch preisgegebene Hoffnung heben das Unterwegssein der Hoffnung auf. Sie empören sich gegen die Geduld der Hoff­nung, die auf den Gott der Verheißung traut. Sie wollen ungeduldig "jetzt schon" Erfüllung oder "überhaupt nicht" Hoffnung. "In der Ver­zweiflung wie in der Vermessenheit erstarrt und gefriert das eigentlich Menschliche, das die Hoffnung allein in strömender Gelöstheit zu be­wahren vermag" (S. 51). So setzt auch die Verzweiflung Hoffnung voraus. "Wonach wir keine Sehnsucht haben, das ·kann weder Gegenstand unserer Hoffnung noch unserer Verzweiflung sein" (Augustin). Der Schmerz der Verzweiflung liegt wohl darin, daß eine Hoffnung da ist, aber kein Weg zur Erfüllung sich auftut. So wendet sich die erregte Hoffnung gegen den Hoffenden und verzehrt ihn. "Leben heißt Hoffnung begraben", heißt es in einem Roman Fontanes, und es sind die "gestorbenen Hoffnungen", die er in ihm schildert. Es gehen der Glaube und die Zuversicht in den Hoffnungen verloren. Darum möchte die Verzweiflung die Seele vor Enttäuschungen bewahren. "Hoffen und Harren macht manchen zum Narren." Darum versucht man auf dem Boden der Wirklichkeit zu bleiben, "klar zu den­ken und nicht mehr zu hoffen" (A. Camus), und fällt doch der schlimm­sten aller Utopien mit diesem sogenannten Realismus der Tatsachen an­heim; der Utopie des status quo, wie R. Musil diesen Realismus ge­nannt hat. Die Verzweiflung an der Hoffnung muß dabei nicht einmal ein ver­zweifeltes Gesicht zeigen. Sie kann auch die bloße, schweigende Abwe­senheit von Sinn, Aussicht, Zukunft und Absicht sein. Sie kann das Gesicht lächelnder Entsagung zeigen: bonjour tristesse! Was bleibt, ist ein gewisses Lächeln derer, die ihre Möglichkeiten durchgespielt haben und nichts in ihnen fanden, das zur Hoffnung Veranlassung geben könn­te. Was bleibt, ist ein taedium vitae, ein Leben, das sich selbst nur noch ein wenig mitmacht. Es gibt kaum eine Verhaltensweise, die in den Ver­wesungsprodukten einer nicht-eschatologischen, verbürgerlichten Chri­stenheit und dann folgend in einer nicht mehr christlichen Welt so allgemein aufweisbar ist, wie die acedia, die tristesse, die Kultivierung und spielerische Manipulation mit der verblichenen Hoffnung. Wo aber die Hoffnung nicht zur Quelle neuer, unbekannter Möglichkeiten findet, da endet das belanglose, ironische Spiel mit den Möglichkeiten, die man hat, in Langeweile oder in Ausbrüchen ins Absurde. Am Beginn des 19. Jahrhunderts finden wir im deutschen Idealismus an vielen Stellen die Gestalt der Vermessenheit. Für Goethe, Schiller,

20 Einleitung

Ranke, Karl Marx und viele andere wurde Prometheus der Heilige der Neuzeit. Prometheus, der den Göttern das Feuer stahl, stand gegen die Gestalt des gehorsamen Gottesknechtes. Es konnte auch Christus in eine Prometheusfigur verwandelt werden. Damit verbunden war viel­fach ein philosophischer, revolutionärer Chiliasmus, der endlich jenes Reich der Freiheit und Menschenwürde zu bauen sich anschickte, das man von dem Gott jenes Gottesknechtes vergeblich erhofft hatte. In der Mitte des 20. Jahrhunderts finden wir in der existentialistischen Belletristik die andere Gestalt des Abfalls von der Hoffnung. Darum hat sich der heilige Prometheus in die Figur des Sisyphus verwandelt, der wohl den Weg kennt, den Kampf und die Entscheidung, auch die Geduld der Arbeit, aber ohne Aussicht auf Erfüllung. Hier kann der gehorsame Gottesknecht verwandelt werden in die Figur des ehrlich Gescheiterten. Es gibt keine Hoffnung und keinen Gott mehr. Es gibt nur noch jenes "klar denken und nicht hoffen" und die ehrliche Liebe und Mitmensch­lichkeit wie bei Jesus. Als gewänne das Denken Klarheit ohne die Hoff­nung! Als gäbe es Liebe ohne Hoffnung für das Geliebte!- Weder in der Vermessenheit noch in der Verzweiflung liegt die Kraft der Erneuerung des Lebens, sondern nur in der ausharrenden und gewissen Hoffnung. Vermessenheit und Verzweiflung zehren von dieser Hoffnung und zechen auf ihre Kreide. "Wer aber das Unverhoffte nicht erhofft,. der wird es nicht finden", heißt es in einem Spruch Heraklits. "Die Uniform des Tages ist die Geduld und die Auszeichnung der armselige Stern der Hoffnung über ihren Herzen" (I. Bachmann). Allein die Hoffnung ist "realistisch" zu nennen, weil nur sie mit den Möglichkeiten, die alles Wirkliche durchziehen, ernst macht. Sie nimmt die Dinge nicht, wie sie gerade stehen oder liegen, sondern wie sie gehen, sich bewegen und in ihren Möglichkeiten veränderlich sind. Nur solange die Welt und die Menschen in ihr sich in einem unabgeschlossenen Frag­ment- und Experimentzustand befinden, haben irdische Hoffnungen einen Sinn. Sie greifen ins Mögliche der geschichtlichen, bewegten Wirk­lichkeit vor und entscheiden die geschichtlichen Prozesse durch ihren Ein­satz. Darum sind Hoffnungen und Antizipationen der Zukunft nicht ein verklärender Schimmer über einem grau gewordenen Dasein, sondern sind realistische Wahrnehmungen der Horizonte des Real-Möglichen, die alles in Bewegung versetzen und in Veränderlichkeit erhalten. Die Hoffnung und das ihr entsprechende Denken können sich darum den Vorwurf des Utopischen nicht gefallen lassen, denn sie strecken sich nicht nach dem aus, was "keinen Ort" hat, sondern nach dem, "was noch keinen Ort" hat, aber einen solchen gewinnen kann. Jener Realismus der

Meditation über die Hoffnung 21

nackten Tatsachen, der ausgemachten Vorhandenheiten und Gesetzmäßig­keiten, jenes an seinen Möglichkeiten verzweifelte Kleben an der vor­gefundenen Wirklichkeit, muß dagegen viel mehr den Vorwurf des Utopischen auf sich ziehen, denn für sie hat das Mögliche, das Zukünftig­Neue, mithin die Geschichtlichkeit der Wirklichkeit "keinen Ort". So erweist sich die Verzweiflung, die meint, am Ende zu sein, als illusionär, solange noch nichts zu Ende ist, sondern alles noch voll von Möglich­keiten steckt. So erweist sich auch der positivistische Realismus als illusio­när, solange die Welt kein Fixum von Tatsachen, sondern ein Wege­geflecht von Prozessen ist, solange die Welt sich nicht nur nach Gesetzen bewegt, sondern auch diese Gesetze selber beweglich sind, solange das Notwendige in ihr das Mögliche, nicht aber das Unabänderliche ist. Auch die Hoffnungssätze der christlichen Eschatologie müssen sich gegen die erstarrte Utopie des Realismus durchsetzen, wenn sie den Glauben am Leben erhalten und den Gehorsam in der Liebe auf den Weg zur irdi­schen, leiblichen, gesellschaftlichen Wirklichkeit bringen wollen. Für sie ist die Welt alles Möglichen voll, nämlich aller Möglichkeiten des Gottes der Hoffnung. Sie sieht die Wirklichkeit und die Menschen in der Hand des­sen, der vom Ende her in die Geschichte hineinspricht: "Siehe, ich mache alles neu", und gewinnt an diesem gehörten Verheißungswort die Frei­heit zur Erneuerung des Lebens hier und zur Veränderung der Gestalt dieser Welt.

4. Betrügt die Hoffnung den Menschen um das Glück der Gegenwart?

Der härteste Einwand gegen eine Theologie der Hoffnung entspringt nicht aus Vermessenheit oder Verzweiflung, denn diese beiden Grundstel­lungen menschlichen Existierens setzen Hoffnung voraus, sondern er steht gegen die Hoffnung aus der Religion des demütigen Einverständnisses in die Gegenwart auf. Ist der Mensch nicht immer nur in der Gegenwart ein Seiender, ein Wirklicher, ein mit sich Gleichzeitiger, ein Einverstan­dener und Gewisser? Die Erinnerung fesselt ihn an das V ergangene, das nicht mehr ist. Die Hoffnung entwirft ihn auf das Zukünftige, das noch nicht ist. Er erinnert sich gelebt zu haben, aber er lebt nicht. Er erinnert sich geliebt zu haben, aber er liebt nicht. Er erinnert sich der Gedanken anderer, aber er denkt nicht. Ahnlieh scheint es ihm in der Hoffnung zu ergehen. Er hofft zu leben, aber er lebt nicht. Er erwartet, einmal glück­lich zu werden, und diese Erwartung läßt ihn am Glück der Gegenwart vorübergleiten. Nie ist er in Erinnerung und Hoffnung ganz bei sich

22 Einleitung

selbst und ganz in seiner Gegenwart. Immer hinkt er ihr nach oder eilt er ihr voraus. Erinnerungen und Hoffnungen scheinen ihn um das Glück ungeteilten Gegenwärtigseins zu betrügen. Sie berauben ihn seiner Gegen­wart und reißen ihn in die Zeiten hinein, die nicht mehr sind oder noch gar nicht sind. Sie übergeben ihn dem Nichtseienden und überlassen ihn dem Nichtigen. Denn diese Zeiten bringen ihn in den Strom der Ver­gänglichkeit. Dessen Sog aber ist das Nichts. Pascal beklagte diesen Betrug der Hoffnung: "Niemals halten wir uns an die Gegenwart. Wir nehmen die Zukunft vorweg, als käme sie zu langsam, als wollten wir ihren Gang beschleunigen; wir erinnern uns an die Vergangenheit, wie um sie aufzuhalten, da sie zu rasch entschwindet: Torheit, in den Zeiten herumzuirren, die nicht unsere sind, und die einzige zu vergessen, die uns gehört, und Eitelkeit, denen nachzusinnen, die nicht sind, und die einzige zu verlieren, die besteht . . . Kaum denken wir je an die Gegenwart, und denken wir an sie, so nur, um hier das Licht anzuzünden, über das wir in der Zukunft verfügen wollen. Niemals ist die Gegenwart Ziel, Vergangenheit und Gegenwart sind Mittel, die Zukunft allein ist unser Ziel. So leben wir nie, sondern hoffen zu leben, und so ist es unvermeidlich, daß wir in der Bereitschaft, glück­lich zu sein, es niemals sind" (Pensees Nr. 172). Immer hat sich der Protest gegen die christliche Hoffnung und die von ihr geprägte Be­wußtseinstranszendenz auf das Recht der Gegenwart, auf das doch immer naheliegende Gute und die ewige Wahrheit in jedem Augenblick ver­steift. Ist "Gegenwart" nicht die einzige Zeit, in der der Mensch ganz da ist, die ihm ganz und der er ganz gehört? Ist "Gegenwart" nicht Zeit und doch zugleich mehr als Zeit im Sinne des Kommens und Vergehens, nämlich ein nunc stans und insofern auch ein nunc aeternum? Nur von der Gegenwart kann man sagen, daß sie "ist", und nur gegen­wärtiges Sein ist Beständigkeit in Anwesenheit. Sind wir ganz gegen­wärtig - tota simul -, so sind wir mitten in der Zeit der vergänglichen und vernichtenden Zeit entrückt. So hatte es auch Goethe sagen können: "Alles dieses Vorübergehende las­sen wir uns gefallen, bleibt uns nur das Ewige jeden Augenblick gegen­wärtig, so leiden wir nicht an der vergänglichen Zeit." Er hatte diese ewig ruhende Gegenwart in der "Natur" selber gefunden, weil er "Na­tur" als die aus sich bestehende Physis verstand: "Alles ist immer da in ihr. Vergangenheit und Zukunft kennt sie nicht. Gegenwart ist ihre Ewigkeit." Sollte darum nicht auch der Mensch wie sie gegenwärtig werden?

Meditation über die Hoffnung

"Warum in die Ferne schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah! Lerne nur das Glück ergreifen, denn das Glück ist immer da."

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So ist die wahrhafte Gegenwart nichts anderes als die Ewigkeit, die der Zeit immanent ist, und es kommt darauf an, in dem Scheine des Zeit­lichen und Vorübergehenden die Substanz, die immanent, und das Ewige, das gegenwärtig ist, zu erkennen, sagte der junge Regel. Nicht anders versuchte Nietzsche, die Last und den Betrug der christlichen Hoffnung darin loszuwerden, daß er in der Gegenwart "das ewige Ja des Seins" suchte und in der "Treue zur Erde" die Liebe der Ewigkeit fand. Das An-wesen des Seins selber auf die Zeit ist immer nur die Gegenwart, der Augenblick, der Kairos, das Jetzt. Es ist wie der Mittag, an dem die Sonne hoch steht und nichts mehr Schatten wirft noch im Schatten steht. Doch ist es nun nicht nur das Glück der Gegenwart, sondern es ist mehr, es ist der Gott der Gegenwart, der ewig-gegenwärtige Gott, es ist nicht nur das gegenwärtige Sein des Menschen, sondern mehr noch die ewige Gegenwart des Seins, um das die christliche Hoffnung zu betrügen scheint. Nicht nur der Mensch wird betrogen, sondern mehr noch Gott selbst wird betrogen, wo die Hoffnung den Menschen keine ewige Gegen­wart finden läßt. Erst damit erhebt sich der Einwand der "Gegenwart" gegen die Zukunftshoffnung zur vollen Größe. Es ist nicht nur der Vor­wurf des Lebens gegen die Qual der Hoffnung, die ihm auferlegt wird, sondern auch der Vorwurf der Gottlosigkeit im Namen jenes Gottes, des­sen wesentliche Eigenschaft das numen praesentiae ist. Doch im Namen welchen Gottes macht sich "Gegenwart" gegen die Hoffnung auf das, was noch nicht ist, geltend? Es ist im Grunde noch immer und immer wieder der Gott des Parmeni­des, von dem es im Fragment 8 (Diels) heißt: "Das eine Sein war nie­mals, niemals wird es sein, denn jetzt Ist es zumal als Ganzes« (vuv eanv op.ou 1tiiv). Dieses "Sein" ist nicht "immer", wie es noch bei Homer und Hesiod hieß, sondern es "ist" und ist "jetzt". Es hat keine Erstreckung in den Zeiten, seine Wahrheit steht im "jetzt", seine Ewigkeit ist Gegen­wart, es "ist" zumal und in einem (tota simul). Die Zeiten, in denen Le­ben entsteht und vergeht, verblassen vor der Epiphanie der ewigen Gegen­wart des Seins zu bloßen Erscheinungen, in denen Sein und Nichtsein, Tag und Nacht, Bleiben und Vergehen vermischt sind. Im Schauen der ewigen Gegenwart aber ist "das Entstehen verloschen und verschollen der Untergang". Der Mensch wird in der Gegenwart des Seins, im ewi-

24 Einleitung

gen Heute, unsterblich, unverletzlich und unantastbar (G. Picht). Wenn, wie Plutarch überliefert, auf dem Torbogen des delphischen Apollotem­pels der Name Gottes mit EI wiedergegeben wurde, so könnte auch die­ses im Sinne der ewigen Gegenwart heißen: "Du bist". In der ewigen Nähe und Gegenwart des Gottes kommt es zum Erkennen des Mensch­seins und zur Freude an ihm. Der Gott des Parmenides ist "denkbar", weil er das ewige, eine und volle Sein ist. Nichtseiendes, V ergangenes und Zukünftiges sind hingegen nicht "denkbar". Im Schauen der jetzigen Ewigkeit dieses Gottes wird das Nichtseiende, werden Bewegung und Wandlung, Geschichte und Zu­kunft undenkbar, denn sie "sind" nicht. Das Schauen dieses Gottes er­möglicht keine sinnvolle Erfahrung der Geschichte, sondern nur die sinn­volle Negation der Geschichte. Der Logos dieses Seins befreit und ent­hebt von der Macht der Geschichte zur ewigen Gegenwart. Tief ist im Kampf gegen den scheinbaren Betrug der christlichen Hoff­nung der Gottesbegriff des Parmenides in die christliche Theologie einge­drungen. Wenn bei Kierkegaard in dem berühmten 3. Kapitel seiner Schrift über den "Begriff der Angst" die verheißene "Fülle der Zeiten" aus dem Erwartungshorizont der Verheißung und der Geschichte heraus­gelöst wird, und die "Fülle der Zeiten" der "Augenblick" als das Ewige genannt wird, so befinden wir uns eher im Bannkreis des griechischen Denkens als der christlichen Gotteserkenntnis. Zwar modifiziert Kierke­gaard das griechische Verständnis der Zeitlichkeit durch die christliche Einsicht in die radikale Sündhaftigkeit und steigert die griechische Dif­ferenz zwischen logos und doxa zum Paradox, aber liegt darin wirklich mehr als eine Modifikation der "Epiphanie der ewigen Gegenwart"? "Das Gegenwärtige ist nicht ein Begriff der Zeit. Das Ewige als das Ge­genwärtige ist die aufgehobene Sukzession der Zeit. Der Augenblick be­zeichnet das Gegenwärtige als ein solches, das kein V ergangenes und kein Zukünftiges hat. Der Augenblick ist ein Atom der Ewigkeit. Er ist der erste Reflex der Ewigkeit in der Zeit, ihr erster Versuch, die Zeit gleich­sam anzuhalten." Es ist verständlich, daß dann auch der Glaubende in Parallele zu dem nach Parmenides und Plato Schauenden beschrieben werden muß. Es ist der Glaubende der ganz Gegenwärtige. Er ist im höchsten Sinne mit sich selbst gleichzeitig und einig. "Und daß man mit des Ewigen Hilfe mit sich selbst heute ganz und gar gleichzeitig ist, das ist der Gewinn der Ewigkeit. Der Glaubende kehrt dem Ewigen gleich­sam den Rücken zu, eben, damit er es ganz bei sich habe in dem Tag heute. Der Christ glaubt und so ist er des morgenden Tages quitt." Ähnlich heißt es bei Ferdinand Ebner, dessen personales Denken und des-

Meditation über die Hoffnung 25

sen Pneumatologie der Sprache die neue Theologie beeinflußte: "Das ewige Leben ist gleichsam das Leben in absoluter Gegenwart und ist tat­sächlich das Leben des Menschen in seiner Bewußtheit der Gegenwart Gottes." Denn Gottes Wesen ist es, absolute Geistesgegenwart zu sein. Darum ist des Menschen "Gegenwart" nichts anderes als die Gegenwart Gottes. Er tritt aus der Zeit heraus und lebt in der Gegenwart. So lebt er "in Gott". Glaube und Liebe sind darum zeitlose Akte, die uns der Zeit entrücken, weil sie uns ganz "gegenwärtig" machen. Christlicher Glaube bedeutet dann, in die Nähe Gottes, in der Jesus lebte und wirkte, einstimmen, denn Leben im unscheinbaren, alltäglichen Heute ist ja Leben in erfüllter Zeit und Leben in der Nähe Gottes. Den nie wiederkehrenden Augenblick zu ergreifen, ganz mit sich einig, ganz bei sich selbst und bei der Sache zu sein, das bedeutet "Gott". Die Gottes­begriffe, die in der Ferne und Abwesenheit Gottes aufgestellt werden, fallen weg in seiner Nähe, sodaß ganz gegenwärtig zu sein bedeutet, daß "Gott" geschieht, denn das "Geschehen" der unverkürzten Gegenwart ist das Geschehen Gottes. Diese Seinsmystik der gelebten Gegenwart setzt eine Gottunmittelbar­keit voraus, die dem Glauben, der um Christi willen Gott glaubt, nicht zu eigen werden kann, ohne daß die geschichtliche Vermittlung und Ver­söhnung Gottes mit dem Menschen im Christusgeschehen und damit dann auch die Wahrnehmung der Geschichte in der Kategorie der Hoffnung verschwinden. Das ist nicht der "Gott der Hoffnung", denn dieser ist gegenwärtig, indem er seine und des Menschen und der Welt Zukunft verheißt und Menschen in die Geschichte, die noch nicht ist, sendet. Der Gott des Exodus und der Auferstehung "ist" nicht ewige Gegenwart, sondern er verheißt seine Gegenwart und Nähe dem, der seiner Sendung in die Zukunft folgt. JHWH als der Name des Gottes, der seine Gegen­wart und sein Reich allererst verheißt und in die Aussicht der Zukunft stellt, ist ein Gott "mit Futurum als Seinsbeschaffenheit", ein Gott der Verheißung und des Aufbruches aus der Gegenwart in die Zukunft, ein Gott, aus dessen Freiheit das Kommende und Neue quillt. Sein Name ist nicht eine Chiffre für die "ewige Gegenwart" und kann aud1 nicht mit EI, "Du bist", wiedergegeben werden. Es ist sein Name ein Wegname, ein Verheißungsname, der neue Zukunft erschließt, dessen Wahrheit in Geschichte erfahren wird, sofern seine Verheißung ihren Zukunftshori­zont erschließt. Es ist darum, wie Paulus sagt, der Gott, der die Toten auferweckt und das Nichtseiende ins Sein ruft (Röm. 4, 17). Dieser Gott ist gegenwärtig, wo man seiner Verheißungen in Hoffnung und Ver­wandlung gewärtig ist. An dem Gott, der das Nichtseiende ins Sein ruft,

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wird auch das Noch-nicht-Seiende, das Zukünftige "denkbar", weil es erhoffbar wird. Das "Jetzt" und "Heute" des Neuen Testamentes ist ein anderes, als das "Jetzt" der ewigen Gegenwart des Seins bei Parmenides, denn es ist ein "Jetzt" und ein "Plötzliches", in dem das Neue der verheißenen Zukunft aufblitzt und einleuchtet. Es ist nur in diesem Sinne ein "eschatologisches" Heute zu nennen. "Parusie" war für die Griechen Inbegriff der Gegen­wart des Gottes, Inbegriff der Anwesenheit des Seins. Parusie Christi aber wird im Neuen Testament nur in Erwartungskategorien erfaßt, meint darum nicht praesentia Christi, sondern adventus Christi, und ist nicht seine ewige Gegenwart, die die Zeit zum Stillstand bringt, sondern seine "Zukunft", wie die Adventslieder sagen, die das Leben in der Zeit eröffnet, denn das Leben der Zeit ist Hoffnung. Der Glaubende wird nicht in den hohen Mittag des Lebens gestellt, sondern in die Morgenröte eines neuen Tages, in der Nacht und Tag, Vergehendes und Kommendes miteinander ringen. Darum lebt der Glaubende nicht in den Tag hinein, sondern über den Tag hinaus in Erwartung der Dinge, die laut den Ver­heißungen des creator ex nihilo und des Totenerweckers kommen sollen. Diese Gegenwart der kommenden Parusie Gottes und Christi in den Verheißungen des Evangeliums vom Gekreuzigten entrückt nicht aus der Zeit, bringt auch nicht die Zeit zum Stillstand, sondern öffnet Zeit und bewegt Geschichte, denn sie ist nicht eine Abblendung vom Leiden am Nichtseienden, sondern eine Aufnahme und Annahme des Nichtseienden in Erinnerung und Hoffnung. Kann es denn ein "ewiges Ja des Seins" geben ohne ein Ja zu dem, was nicht mehr ist, und zu dem, was noch nicht ist? Kann es denn Einstimmigkeit und Gleichzeitigkeit des Men­schen im Heute geben ohne Versöhnung durch Hoffnung mit dem Un­gleichzeitigen und Uneinstimmigen? Die Liebe entrückt nicht aus dem Schmerz der Zeit, sondern nimmt den Schmerz des Zeitlichen auf sich. Die Hoffnung macht bereit, das "Kreuz der Gegenwart" zu tragen. Sie kann das Tote festhalten und das Unverhoffte erhoffen. Sie kann die Bewegung bejahen und die Geschichte wollen. Denn ihr Gott ist nicht der, der "niemals war noch je sein wird, weil er jetzt zumal als ein Gan­zes Ist", sondern Gott ist der, "der da lebendig macht die Toten und ruft dem, das nicht ist, daß es sei". Der Bann des Dogmas der Hoffnungs­losigkeit: ex nihilo nihil fit, wird dort gebrochen, wo der als Gott er­kannt wird, der die Toten erweckt. Wo man im Glauben und in der Hoffnung auf dieses Gottes Möglichkeiten und Verheißungen hin zu leben beginnt, erschließt sich die ganze Fülle des Lebens als des geschicht­lichen und darum zu liebenden Lebens. Nur im Horizont dieses Gottes

Meditation über die Hoffnung 27

wird eine Liebe möglich, die mehr ist als philia, Liebe zum Seienden und Gleichen; nämlich agape, Liebe zum Nichtseienden, Liebe zum Unglei­chen, Unwürdigen, Wertlosen, zum Verlorenen, Vergänglichen und To­ten; eine Liebe, die das Vernichtende des Schmerzes und der Entäuße­rung auf sich nehmen kann, weil sie aus der Hoffnung auf creatio ex ni­hilo ihre Krafl: empfängt. Sie sieht nicht vom Nichtseienden weg, um zu sagen, es ist nichts, sondern sie wird selber zur Zauberkrafl:, die es zum Sein bringt. In ihrer Hoffnung ermißt die Liebe die eröffneten Möglich­keiten der Geschichte. In der Liebe trägt die Hoffnung alles in die Ver­heißungen Gottes hinein. Betrügt diese Hoffnung den Menschen um das Glück der Gegenwart? Wie sollte sie dieses tun! Ist sie doch selber das Glück der Gegenwart. Sie preist die Armen selig, nimmt sich der Mühseligen und Beladenen, der Erniedrigten und Beleidigten, der Hungernden und Sterbenden an, weil sie die Parusie des Reiches für sie erkennt. Die Erwartung macht das Leben gut, denn erwartend kann der Mensch seine ganze Gegenwart an­nehmen und Freude nicht nur in der Freude, sondern auch im Leide, und Glück nicht nur im Glück, sondern auch im Schmerz finden. So geht die Hoffnung durch Glück und Schmerz hindurch, weil sie Zukunfl: auch für das Vergehende, Sterbende und Tote an den Verheißungen Gottes er­blicken kann. Darum wird es heißen, daß ohne Hoffnung zu leben, wie nicht mehr zu leben ist. Hölle ist Hoffnungslosigkeit, und nicht umsonst steht am Eingang der Hölle Dantes der Satz: "Laßt alle Hoffnung fah­ren, die ihr hier eintretet." Ein Ja zur Gegenwart, das deren Sterben nicht sehen kann und will, ist eine Illusion und eine Eskapade, die auch an der Ewigkeit keinen Halt findet. Die Hoffnung, die auf den creator ex nihilo gesetzt wird, wird dann zum Glück der Gegenwart, wenn sie in der Liebe allem treu wird und nichts dem Nichts überläßt, sondern allem jene Offenheit für das Mögliche aufzeigt, in dem es leben kann und wird. Das wird in Ver­messenheit und Verzweiflung gelähmt und im Traum von der ewigen Gegenwart verfehlt.

5. Hoffen und Denken

Nun könnte alles bisher über die Hoffnung Gesagte nichts anderes als ein hymnischer Lobpreis auf einen guten Affekt des Herzens sein. Es könnte die christliche Eschatologie auch ihre tonangebende Rolle im Ganzen der Theologie wiedergewinnen und bliebe doch ein steriles Theologumenon, wenn es nicht gelingt, die Konsequenzen für ein neues

28 Einleitung

Denken und Handeln im Umgang mit den Dingen und Verhältnissen dieser Welt daraus zu ziehen. Solange die Hoffnung nicht das Denken und Handeln von Menschen umgestaltend ergreift, bleibt sie auf dem Kopf stehen und unwirksam. Darum muß die christliche Eschatologie den V ersuch machen, Hoffnung ins weltliche Denken und Denken in die Hoffnung des Glaubens zu bringen. Im Mittelalter hatte Anselm von Canterbury für die Theologie den seit­her maßgeblichen Grundsatz aufgestellt: fides quaerens intelleeturn- cre­do, ut intelligam. Dieser Grundsatz gilt auch für die Eschatologie, und es könnte sein, daß es für die christliche Theologie heute von entscheiden­der Bedeutung ist, dem Grundsatz zu folgen: spes quaerens intelleeturn - spero, ut intelligam. Wenn es die Hoffnung ist, die den Glauben er­hält, trägt und nach vorne zieht, wenn es die Hoffnung ist, die den Glaubenden in das Leben der Liebe hineinzieht, dann wird es auch die Hoffnung sein, die das Denken des Glaubens, sein Erkennen und Beden­ken des Menschseins, der Geschichte und der Gesellschaft mobilisiert und antreibt. Er hofft, um zu erkennen, was er glaubt. Darum wird alle seine Erkenntnis als eine vorgreifende, fragmentarische, die verheißene Zukunft präludierende Erkenntnis auf die Hoffnung aufgetragen sein. Darum wird umgekehrt die Hoffnung, die der Glaube an Gottes Verheißung öffnet, zum Querulanten im Denken, zur Triebkraft, zur Unruhe und zur Qual des Denkens werden. Durch die von der Verheißung Gottes immer weiter gezogene Hoffnung wird die eschatologische Ausrichtung und die eschatologische Vorläufigkeit alles Denkens in der Geschichte aufgedeckt. Führt die Hoffnung den Glauben ins Denken und ins Leben hinein, so kann sie sich als eschatologische Hoffnung nicht länger so von den klei­nen, auf erreichbare Ziele und sichtbare Veränderungen im menschlichen Leben gerichteten Hoffnungen dadurch distanzieren, daß sie diese in ein anderes Reich verweist, ihre eigene Zukunft aber für überirdisch und rein geistlicher Natur hält. Die christliche Hoffnung richtet sich auf ein novum ultimum, auf Neuschöpfung aller Dinge durch den Gott der Auferstehung Christi. Sie eröffnet damit einen umfassenden, auch den Tod umfassenden Zukunftshorizont, in den hinein sie weckend, relativie­rend und ausrichtend auch die begrenzten Hoffnungen auf Erneuerung des Lebens nehmen kann und muß. Sie wird die Vermessenheit in diesen Hoffnungen auf bessere Freiheit des Menschen, auf gelungenes Leben, auf Recht und Würde für den Mitmenschen, auf Beherrschung der Mög­lichkeiten der Natur, zerstören, weil sie in diesen Bewegungen das von ihr erwartete Heil nicht findet, weil sie sich durch diese Utopie und ihre Verwirklichung nicht mit dem Dasein versöhnen läßt. Sie wird also diese

Meditation über die Hoffnung 29

Zukunftsvisionen auf eine bessere, menschlichere, friedlichere Welt über­holen auf Grund ihrer "besseren Verheißungen" (Hehr. 8, 6), weil sie weiß, daß solange noch nichts "sehr gut" ist, wie nicht "alles neu" ge­worden ist. Sie wird aber die Vermessenheit in diesen Hoffnungsbewe­gungen nicht im Namen "getroster Verzweiflung" zu zerstören suchen, denn es steckt in solchen Vermessenheiten immer noch mehr wahre Hoffnung als im skeptischen Realismus und auch mehr Wahrheit. Ge­gen die Vermessenheit hilft nicht die Verzweiflung, die sagt: es bleibt doch alles beim Alten, sondern nur die beharrliche, zurechtbringende Hoffnung, die sich im Denken und Handeln artikuliert. Der Realismus oder gar der Zynismus waren niemals gute Bundesgenossen des christ­lichen Glaubens. Wenn aber die christliche Hoffnung die Vermessenheit in den Zukunftsbewegungen zerstört, so tut sie es nicht um ihrer selbst willen, sondern um die Keime der Resignation in diesen Hoffnungen zu zerstören, die sich spätestens im ideologischen Terror der Utopien zeigen, mit denen die erhoffte Versöhnung mit dem Dasein zur erpreßten Ver­söhnung wird. Damit aber rücken dann die Bewegungen geschichtlicher Veränderung in den Horizont des novum ultimum der Hoffnung. Sie werden von der christlichen Hoffnung aufgenommen und weiter getra­gen. Sie werden zu vorlaufenden und darin auch vorläufigen Bewegungen. Ihre Ziele verlieren ihre utopische Starrheit und werden zu vorläufigen, vorletzten, darum beweglichen Zielen. Die christliche Hoffnung kann sich gegen solche Richtungsstöße in der Menschheitsgeschichte nicht auf das Vergangene und Gegebene versteifen und sich der Utopie des status quo verbünden. Sie ist vielmehr selber aufgerufen und ermächtigt zur schöpferischen Veränderung der Wirklichkeit, denn sie hat Hoffnung für die ganze Wirklichkeit. Endlich wird die Hoffnung des Glaubens selbst zur unerschöpflichen Quelle für die schöpferische, erfinderische Phantasie der Liebe werden. Sie provoziert und produziert ständig ein antizipie­rendes Denken der Liebe zum Menschen und zur Erde, um die neu auf­brechenden Möglichkeiten im Lichte des verheißenen Zukünftigen zu ge­stalten, um nach Möglichkeit hier das Bestmögliche zu schaffen, weil das Verheißene in Möglichkeit steht. Sie wird also ständig die "Leidenschaft für das Mögliche", Erfindungsgabe und Elastizität im Sichverwandeln, im Aufbrechen aus dem Alten und im Sicheinstellen auf das Neue er­wecken. Immer war die christliche Hoffnung in diesem Sinne revolutio­när wirksam in der Geistesgeschichte der von ihr betroffenen Gesell­schaften. Nur war es oft nicht die kirchliche Christenheit, in denen ihre Impulse wirksam wurden, sondern die schwärmerische Christenheit. Das wirkte sich für beide zum Schaden aus.

30 Einleitung

Wie aber kann das Erkennen und Bedenken der Wirklichkeit aus eschato­logischer Hoffnung getrieben werden? Luther hat dazu einmal eine auf­blitzende Erleuchtung gehabt, die jedoch weder von ihm selber noch von der protestantischen Philosophie realisiert wurde. Er schreibt über das "Harren der Kreatur", von dem Paulus Röm. 8, 19 spricht, 1516: "An­ders philosophiert und denkt der Apostel über die Dinge als die Philo­sophen und Metaphysiker. Denn die Philosophen richten das Auge auf die Gegenwart der Dinge und reflektieren allein die Eigenschaften und Wesenheiten. Der Apostel aber reißt unsere Augen vom Anblick der Gegenwart der Dinge weg, von ihrem Wesen und Eigenschaften, und richtet sie auf deren Zukunft. Er spricht nicht vom Wesen oder Wirken der Kreatur, von actio, passio oder Bewegung, sondern mit einer neuen, seltsamen und theologischen Vokabel spricht er von der Aussicht der Kreatur ( exspectatio creaturae)". Wichtig ist in unserem Zusammen­hang, daß er von der theologisch verstandenen "Aussicht der Kreatur" und ihrer Erwartung her ein neues Denken und also ein der christlichen Hoffnung entsprechendes Erwartungsdenken über die Welt fordert. Die Theologie wird darum von der in der Auferweckung Christi verheiße­nen Aussicht für die ganze Kreatur her zu einem eigenen, neuen Beden­ken der Geschichte von Menschen und Dingen kommen müssen. Die christliche Eschatologie kann nicht auf dem Felde der Welt, der Ge­schichte und der ganzen Wirklichkeit auf den intellectus fidei et spei ver­zichten. Ein schöpferisches Handeln aus Glauben ist unmöglich, ohne ein neues Denken und Entwerfen aus der Hoffnung. Das bedeutet für das Erkennen, Begreifen und Bedenken der Wirklich­keit wenigstens dieses, daß im Medium der Hoffnung die theologischen Begriffe nicht zu Urteilen werden, die die Wirklichkeit auf das fixieren, was sie ist, sondern zu Vorgriffen, die der Wirklichkeit ihre Aussicht und ihre zukünftigen Möglichkeiten aufdecken. Theologische Begriffe fixieren die Wirklichkeit nicht, sondern sie werden von der Hoffnung expandiert und antizipieren zukünftiges Sein. Sie hinken nicht hinter der Wirklich­keit her und schauen nicht auf sie mit den Nachtaugen der Eule der Mi­nerva, sondern sie erleuchten die Wirklichkeit, indem sie ihr Zukunft vorweisen. Ihr Erkennen ist nicht vom Willen zum Beherrschen, sondern von der Liebe zur Zukunft der Dinge getragen. "Taoturn cognoscitur, quantum diligitur" (Augustin). Es sind damit Begriffe, die in Bewegung begriffen werden und praktische Bewegungen und Veränderungen her­vorrufen. "Spes quaerens intellectum" ist der Ansatz zur Eschatologie unq, wo sie gelingt, wird sie zur docta spes.

KAPITEL I

ESCHATOLOGIE UND OFFENBARUNG

§ 1

Die Entdeckung der Eschatologie und ihre Unwirksamkeit

Die Entdeckung der zentralen Bedeutung der Eschatologie für die Bot­schaft und die Existenz Jesu und für das Urchristentum, die im Ausgang des 19. Jahrhunderts durch ]ohannes Weiß und Albert Schweitzer ihren Anfang nahm, ist ohne Zweifel eines der bedeutendsten Ereignisse in der neueren protestantischen Theologie. Sie wirkte schockierend und war wie ein Erdbeben in den Fundamenten nicht nur der theologischen Wissen­schaft, sondern auch der Kirche, der Frömmigkeit und des Glaubens im Rahmen der protestantischen Kultur des 19. Jahrhunderts. Lange bevor Weltkriege und Revolutionen das abendländische Krisenbewußtsein her­vorriefen, hatten Theologen wie Ernst Troeltsch den noch kaum begrif­fenen Eindruck: "Es wackelt alles." Die Erkenntnis des eschatologischen Charakters des Urchristentums ließ die selbstverständliche harmonische Synthese von Christentum und Kultur als Lüge erscheinen (Franz Over­beck). Jesus erschien in dieser Welt mit ihren religiösen Sicherheiten und Selbstverständlichkeiten im Denken und Wollen als ein Fremder mit einer ihr fremden apokalyptischen Botschaft. Zugleich entstand das Ge­fühl der Befremdung und der krisenhaften Verlorenheit dieser Welt. "Die Flut steigt- die Dämme brechen", sagte Martin Kähler. Um so erstaunlicher ist es, daß das "Neue" in der Entdeckung der eschatolo­gischen Dimension der gesamten christlichen Botschaft nur als "Krise" des überkommenen, bestehenden und vorhandenen Christentums wahr­genommen wurde, die man zu verarbeiten, zu bewältigen und zu über­winden habe. Keiner der Entdecker hat mit seiner Entdeckung wirklich Ernst gemacht. Die sog. "konsequente Eschatologie" war niemals wirk­lich konsequent und hat darum bis heute ein eigentümliches Schatten­dasein geführt. Schon die Begriffe, mit denen man das Eigentümliche der eschatologischen Botschaft Jesu zu erfassen versuchte, zeigen eine typische und fast hilflose Inkommensurabilität. ]ohannes Weiß gab 1892 in seinem bahnbrechenden Werk "Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes"

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seine Erkenntnis mit folgenden Worten wieder: "Das Reich Gottes nach Auffassung Jesu (ist) eine schlechthin überweltliche Größe, die zu dieser Welt in ausschließendem Gegensatze steht ... Die religiös-ethische Ver­wendung dieser Vorstellung in der neueren Theologie, welche dieselbe völlig ihres ursprünglichen eschatologisch-apokalyptischen Sinnes entkleidet hat, (ist) unberechtigt. Man verfährt nur scheinbar biblisch, indem man den Ausdruck in einem anderen Sinne als Jesus braucht. "1 Gegenüber dem Jesusbild seines Schwiegervaters Albrecht Ritschl ist dieser Satz eine scharfe Antithese. Aber ist das "Überweltliche" schon das "Eschatolo­gische"? Jesus erscheint hier nicht mehr als Morallehrer der Bergpredigt, aber mit seiner eschatologischen Botschaft wird er zum apokalyptischen Schwärmer. "Mit dieser Welt hat er nichts mehr gemein, er steht mit einem Fuße schon in der zukünftigen. "2 So kehrte J ohannes Weiß aus seinem Vorstoß in das Niemandsland der Eschatologie alsbald zum liberalen J esusbild zurück. Nicht anders erging es Albert Schweitzer. Das Große an seinem Werk lag darin, daß er mit der Fremdartigkeit Jesu und seiner Botschaft gegenüber allen liberalen J esusbildern des 19. Jahrhunderts Ernst machte. "Mit der Eschatologie wird es eben unmöglich, moderne Ideen in Jesus hineinzu­legen und sie von ihm durch die neutestamentliche Theologie wieder als Lehen zurückzuempfangen, wie es noch Ritschl ganz unbefangen tat. "3

Das Erschreckende an Schweitzers Werk ist aber auf der anderen Seite, daß ihm jeder Sinn für Eschatologie - sowohl theologisch wie philoso­phisch - abging. Die Konsequenzen, die er aus seiner Entdeckung der Apokalyptik Jesu zog, galten der endgültigen Überwindung und Ver­nichtung des für illusionär gehaltenen Eschatologismus. Seine Lebens­und Kulturphilosophie ist von der Überwindung jenes quälenden Ein­drucks geleitet, den er in der 1. Auflage der "Geschichte der Leben-Jesu­Forschung" so wiedergab: "Stille ringsum. Da erscheint der Täufer und ruft: Tuet Buße! Das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen! Kurz dar-

1. Job. Weiß, Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes, 1892, 49 f. 2. Ebd., 2. Aufl., 145. über die Grenzen der Erkenntnis der eschatologischen Botschaft Jesu bei Joh. Weiß vgl. F. Holmström, Das eschatologische Denken der Gegenwart, 1936, 61 ff. 62: "Weiß will zwar aus der neutestamentlichen Theologie den Ritschlschen Reich­Gottes-Gedanken ausmerzen, doch bleibt dieser in der systematischen und praktischen Theologie immer noch ungebrochen zurück." 71: "Für das gegenwärtige Christentum hat normative Bedeutung also nicht die eschatologische J esusgestalt, sondern das traditionelle liberale Idealbild des sittlichen Weisheitslehrers." "Die ,zeitgeschichtliche' Schranke in Joh. Weiß' eigener Auffassung von der Bedeutung des eschatologischen Motivs ist also darin enthalten, daß er ihm in Jesu eigener Verkündigung nur die Bedeutung einer zeit­geschichtlichen Schranke zuerkennt." 3. A. Schweitzer, Von Reimarus zu Wrede. Eine Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, 1. Aufl. 1906, 322.

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auf greift Jesus als der, welcher sich als der kommende Menschensohn weiß, in die Speichen des W eltrades, daß es in Bewegung komme, die letzte Drehung mache und die natürliche Geschichte der Welt zu Ende bringe. Da es nicht geht, hängt er sich dran. Es dreht sich und zermalmt ihn. Statt die Eschatologie zu bringen, hat er sie vernichtet. Das Weltrad dreht sich weiter und die Fetzen des Leichnams des einzig unermeßlich großen Menschen, der gewaltig genug war, um sich als den geistigen Herrscher der Menschheit zu erfassen und die Geschichte zu vergewal­tigen, hängen noch immer daran. Das ist sein Siegen und Herrschen. "4

Das "Rad der Geschichte", die Sinnfigur der ewigen Wiederkehr des Gleichen, tritt an die Stelle der eschatologischen Pfeilrichtung der Ge­schichte. Die Erfahrung von zweitausend Jahren ausgebliebener Parusie macht heute Eschatologie unmöglich. Durch die Begründer der "dialektischen Theologie" wurde nach dem ersten Weltkrieg die dergestalt idealistisch verdrängte und zur Unwirk­samkeit verurteilte Eschatologie in die Mitte der nicht nur exegetischen, sondern nun auch dogmatischen Arbeit gestellt. Programmatisch heißt es in der 2.Auflage 'de'S "Römerbriefs" bei Karl Barth 1922: "Christentum, das nicht ganz und gar und restlos Eschatologie ist, hat mit Christus ganz und gar und restlos nichts zu tun. "5 Was aber heißt hier "Escha­tologie"? Nicht die Geschichte, die stumm und unabsehbar weiterläuft, bringt die eschatologische Zukunftshoffnung in eine Krise, wie Albert Schweitzer sagte, sondern umgekehrt bringt nun das transzendental ein­brechende Eschaton jede Geschichte des Menschen in ihre letzte Krise. Damit aber wird das Eschaton zur transzendentalen Ewigkeit, zum tran­szendentalen Sinn aller Zeiten, allen Zeiten der Geschichte gleich nah und ferne. Ob man die Ewigkeit transzendental verstand, wie Barth, und vom Ungeschichtlichen, übergeschichtlichen oder "Urgeschichtlichen" sprach, ob man das Eschaton existential verstand, wie Buhmann, und vom "eschatologischen Augenblick" sprach oder ob man es axiologisch verstand, wie Paul Althaus, und "jede Woge des Meeres der Zeit gleich­sam an den Strand der Ewigkeit schlagen" sah, überall fiel man in diesen Jahren gerade im Bemühen um eine Überwindung der frommen heils­geschichtlichen und der säkularen fortschrittsgläubigen Geschichtsescha­tologie einer transzendentalen Eschatologie anheim, mit der die Ent­deckung der urchristlichen Eschatologie wiederum eher verdeckt als ent­faltet wurde. Gerade die transzendentalistische Fassung der Eschatologie hat den Durchbruch eschatologischer Dimensionen in der Dogmatik ver-

4. Ebd. 1906, 367. Diese Stelle ist in den späteren Auflagen gestrichen worden. 5. Der Römerbrief, 2. Aufl. 1922, 298.

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hindert. So bleibt als Ergebnis des "eschatologischen Ringens der Gegen­wart" zunächst das unbefriedigende Resultat zu verzeichnen, daß es wohl eine christliche Eschatologie im Rahmen einer heilsgeschichtlichen Geschiehtsauffassung gibt, für die die Eschatologie lediglich die End- und Schlußgeschichte betrifft, daß es wohl eine transzendentale Eschatologie gibt, für die das Eschaton soviel wie die transzendentale "Gegenwart des Ewigen" bedeutet, und daß es eine existential interpretierte Eschatologie gibt, für die das Eschaton der Kairos kerygmatischer Betroffenheit ist, daß aber die christliche Eschatologie noch keineswegs in der Lage ist, den kategorialen Rahmen dieser Denkformen zu sprengen. Das aber ist die unabweisbare Aufgabe theologischen Denkens, wenn jener "Entdeckung" der eschatologischen Botschaft des Urchristentums vor sechzig Jahren ein angemessenes Verständnis und Konsequenzen für die Theologie und für die Existenz der Kirche folgen sollen. Nun sind diese Denkformen, in denen die eigene Sprache der Eschato­logie noch heute verdeckt wird, durchweg die Denkformen des griechi­schen Geistes, der im Logos die Epiphanie der ewigen Gegenwart des Seins erfährt und darin die Wahrheit findet. Auch wo die Neuzeit kan­tianisch denkt, ist im Grunde dieser Wahrheitsbegriff intendiert. Die eigene Sprache der christlichen Eschatologie ist aber nicht der griechische Logos, sondern die Verheißung, wie sie das Sprechen, Hoffen und Er­fahren Israels geprägt hat. Nicht im Logos der Epiphanie der ewigen Gegenwart, sondern im hoffnungsbegründenden Wort der Verheißung hat Israel Gottes Wahrheit gefunden. Darum ist hier in ganz anderer und offener Weise die Erfahrung der Geschichte gemacht worden. Escha­tologie als Wissenschaft ist darum nicht im griechischen Sinne und auch nicht im Sinne neuzeitlicher Erfahrungswissenschaft möglich, sondern nur als ein Hoffnungswissen und insofern als ein Wissen um Geschichte und um die Geschichtlichkeit der Wahrheit. Diese Differenzen zwischen grie­chischem und israelitisch-christlichem Denken, zwischen Logos und Ver­heißung, zwischen Epiphanie und Apokalypsis der Wahrheit sind heute auf vielen Gebieten und mit verschiedenen Methoden aufgedeckt wor­den. Dennoch hat Georg Picht recht, wenn er sagt: "Die Epiphanie der ewigen Gegenwart des Seins verstellt bis heute die eschatologische Offen­barung Gottes. "6 Um zu einem wirklichen Verständnis der eschatolo­gischen Botschaft zu kommen, ist es also notwendig, ein Verständnis und eine Offenheit dafür zu gewinnen, was mit "Verheißung" im Alten und Neuen Testament gemeint ist, und wie im weiteren Sinne ein Sprechen, Denken und Hoffen, das durch Verheißung bestimmt ist, Gott, die 6. G. Picht, Die Erfahrung der Geschichte, 1958, 42.

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Wahrheit, die Geschichte und das Menschsein erfährt. Es ist weiter nötig, auf die ständigen Auseinandersetzungen zu achten, in die der Verhei­ßungsglaube Israels mit den Epiphanienreligionen der Umwelt auf allen Gebieten des Lebens geriet und in denen seine eigene Wahrheit aufleuch­tete. Diese Auseinandersetzungen durchziehen auch das Neue Testament, namentlich dort, wo das Christentum dem griechischen Geist begegnete. Sie sind der Christenheit auch heute aufgegeben, und zwar nicht nur in der Selbstdarstellung der Theologie in der Neuzeit, sondern auch im Be­denken der Welt und in der Erfahrung der Geschichte. Die christliche Eschatologie in der Sprache der Verheißung wird dabei ein wesentlicher Schlüssel für die Freisetzung der christlichen Wahrheit sein. Denn immer war der Verlust der Eschatologie - nicht nur als Anhang zur Dogmatik, sondern als das Medium theologischen Denkens überhaupt - die Bedin­gung für die Möglichkeit der Anpassung der Christenheit an ihre Umwelt und damit der Selbstaufgabe des Glaubens. Wie im theologischen Denken die Einarbeitung des Christentums in den griechischen Geist es undeutlich werden ließ, von welchem Gott man eigentlich redete, so übernahm das Christentum in seiner gesellschaftlichen Gestalt das Erbe der antiken Staatsreligion. Es installierte sich als "Krone der Gesellschaft" und als ihre "heilende Mitte" und verlor seine beunruhigende, kritische Kraft eschatologischer Hoffnung. An die Stelle des Exodus aus den festen La­gern und der bleibenden Stadt, von dem der Hebräerbrief redet, trat der feierliche Introitus religiöser Weltverklärung in die Gesellschaft. Auch diese Konsequenzen sind zu bedenken, wenn es zu einer Freisetzung eschatologischer Hoffnung aus den Denkformen und Verhaltensweisen der überkommenen Synthesen des Abendlandes kommen soll.

§2

Verheißung und Offenbarung Gottes

Mit der thematischen Zusammenstellung von "Verheißung" und "Offen­barung" soll nicht nur nach dem Verhältnis beider zueinander gefragt werden, sondern es soll ein Verständnis der "Offenbarung Gottes" ent­wickelt werden, das insofern "eschatologisch" ist, als es die Sprache der Verheißung aufzudecken versucht. Die Offenbarungsbegriffe der syste­matischen Theologie sind durchweg geprägt durch die Aufnahme und Auseinandersetzung mit der griechischen Metaphysik der Gottesbeweise. "Offenbarungstheologie" steht darum heute betontermaßen in Antithese

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zur sog. "natürlichen Theologie". Damit aber sind diese Offenbarungs­begriffe ständig befangen von der Frage nach der Beweisbarkeit oder Unbeweisbarkeit Gottes. Offenbarungstheologie kann in dieser Front eine negative, natürliche Theologie als Partner bei sich haben und sich selbst aus dem Dogma der Unbeweisbarkeit Gottes gewinnen. Einem so gewonnenen Offenbarungsbegriff droht aber der Verlust aller Inhalte. Seine Reduktion auf das Problem der Erkenntnis Gottes führt den viel beklagten Formalismus der Offenbarungstheologie herauf. Nun hat aber gerade die neuere alttestamentliche Theologie gezeigt, daß die Worte und Sätze vom "Offenbaren Gottes" im Alten Testament durchgängig mit Sätzen der "Verheißung Gottes" verbunden sind. Gott offenbart sich auf die Weise der Verheißung und in der Verheißungs­geschichte. Es stellt sich von daher die Frage an die systematische Theo­logie, ob das sie leitende Verständnis der Offenbarung Gottes nicht von der Art und der Zielrichtung der Verheißung beherrscht sein muß. In der religionsvergleichenden Erforschung der besonderen Eigenart des is­raelitischen Glaubens tritt heute immer stärker die Differenz zwischen seiner "Verheißungsreligion" und den Epiphanienreligionen der offen­baren Götter der Umwelt Israels heraus. Diese Epiphanienreligionen sind alle "Offenbarungsreligionen" auf ihre Weise. Jeder Ort in der Welt kann zur Epiphanie des Göttlichen und zur bildhaften Transparenz der Gottheit werden. Der wesenhafte Unterschied liegt hier darum nicht zwischen den sog. Naturgöttern und einem Offenbarungsgott, sondern zwischen dem Gott der Verheißung und den Epiphaniengöttern. Die Dif­ferenz liegt also noch nicht in der Behauptung von göttlicher "Offen­barung" überhaupt, sondern in den verschiedenen Vorstellungen und Redeweisen vom Offenbaren und Sichzeigen der Gottheit. Es ist offen­sichtlich von entscheidender Bedeutung, in welchem Fragezusammenhang die Rede von Offenbarung auftaucht. Es ist etwas anderes, wenn man fragt: wo und wann wird das Göttliche, Ewige, Unvergängliche und Ur­anfängliche im Menschlichen, Zeitlichen und Vergänglichen epiphan? -und etwas anderes, wenn man fragt: wann und wo offenbart der Gott der Verheißung seine Treue und in ihr sich selbst und seine Gegenwart? Das eine fragt nach der Gegenwart des Ewigen, das andere nach der Zu­kunft des Verheißenen. Ist aber Verheißung bestimmend für die Rede vom Offenbaren Gottes, so enthält jedes theologische Verständnis der biblischen Offenbarung implizit ein leitendes Verständnis von Escha­tologie. Die christliche Lehre von Offenbarung Gottes muß dann aber explizit weder in die Gotteslehre gehören - als Antwort auf die Gottes­beweise oder auf den Beweis seiner Unbeweisbarkeit, noch in die An-

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thropologie- als Antwort auf die mit der Fraglichkeit menschlicher Exi­stenz mitgesetzte Gottesfrage des Menschen. Sie muß eschatologisch ver­standen werden, nämlich im Verheißungs- und Erwartungshorizont der Zukunft der Wahrheit6". Die Frage nach dem Verständnis der Welt aus Gott und des Menschen aus Gott - das war das Anliegen der Gottes­beweise - kann erst beantwortet werden, wenn erkennbar wird, von welchem Gott die Rede ist und in welcher Weise, bzw. mit welcher Ab­sicht und Tendenz er sich offenbart. Wir werden also einigeneuere syste­matische Offenbarungsbegriffe einmal auf das sie leitende Verständnis von Eschatologie und zum anderen auf ihre immanente Verkoppelung mit herkömmlichen Gottesbeweisen hin zu untersuchen haben. Die andere Veranlassung, Offenbarung von Verheißung her zu verste­hen, ergibt sich aus der reformatorischen Theologie. Das Korrelat des Glaubens ist für die Reformatoren nicht eine Offenbarungsvorstellung, sondern wird von ihnen als promissio Dei namhaft gemacht: fides et pro­missio sunt correlativa. Der Glaube wird durch Verheißung ins Leben gerufen und ist darum wesenhaft Hoffnung, Zuversicht und Vertrauen auf den Gott, der nicht lügen, sondern seinem Verheißungswort die Treue halten wird. Das Evangelium ist für die Reformatoren mit pro­missio geradezu identisch. Erst in der protestantischen Orthodoxie wurde unter dem Zwang der Frage nach Vernunft und Offenbarung, nach Na­tur und Gnade, das Offenbarungsproblem zum zentralen Thema der Prolegomena der Dogmatik. Erst als ein Vernunftbegriff und ein Natur­begriff theologisch verwendet wurden, die nicht aus einem Verständnis der Verheißung gewonnen, sondern damals von Aristoteles übernommen wurden, ergab sich das Offenbarungsproblem in seiner bekannten Ge­stalt. Es entstand jener Dualismus von Vernunft und Offenbarung, der die theologische Rede von Offenbarung zunehmend irrelevant für das Erkennen und den Umgang des Menschen mit der Wirklichkeit werden ließ. Aus dieser verhängnisvollen Geschichte ergibt sich die Aufgabe, die Rede von der Offenbarung Gottes nicht länger antithetisch gegen das jeweilige Welt- und Selbstverständnis des Menschen zu setzen, sondern eben dieses Welt- und Selbstverständnis in den eschatologischen Hori­zont der Offenbarung als Verheißung der Wahrheit hineinzunehmen und dafür zu öffnen. Der überall auffallende Formalismus im modernen Offenbarungsbegriff gründet in dem ganz selbstverständlich erscheinenden methodischen Ansatz, den theologischen Gehalt von "Offenbarung" aus dem Wort "Offenbarung" zu gewinnen. "Ganz allgemein ver­stehen wir unter Offenbarung die Aufdeckung von Verhülltem, die Erschließung von

6a. So auch G. Gloege, R.G.G.3 IV, 1611: "Der Begriff der Offenbarung gehört der Eschatologie zu."

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Verborgenem" (R. Bultmann)1. "Im Neuen Testament (weist) dn:oxcr),un:'"CEW auf die Be­seitigung einer Verhüllung, q>aYEpoüv auf das Hervortreten des Verborgenen, 01JAOUY auf die Kundgabe des sonst Unbekannten und ')'Ympt~EtY auf die Mitteilung des sonst nicht Zugänglichen" (0. Weber)8• "Eine verschlossene Tür wird geöffnet, eine Decke weggezogen. In der Finsternis wird es hell, eine Frage findet ihre Ant­wort, ein Rätsel seine Lösung" (K. Barth)9• Aus dieser allgemeinen Worterklä­rung ergibt sich für Bultmann dann die für ihn entscheidende Frage, ob Offen­barung eine Wissensmitteilung oder ein Geschehen sei, das mich in eine neue Lage meiner selbst versetzt10• Sofern jeder Mensch um seinen Tod weiß und durch ihn in eine radikale Fraglichkeit seiner Existenz versetzt wird, kann er vorgängig auch wissen, was Offenbarung und Leben ist. Gottes Offenbarung erweist sich als Geschehen an der je eigenen Existenz und damit als Antwort auf das durch die Fraglichkeit des Daseins Erfragte. Barth hingegen spezifizierte den allgemeinen Sprachgebrauch von Offenbarung im christlichen Verständnis dahin, daß hier Offenbarung die Selbstoffen­barung des Schöpfers alles Seienden, des Herrn alles Seins und darum transzendente Selbstoffenbarung Gottes sei. Während Bultmann bemüht ist, gegen den orthodox­supranaturalistischen Offenbarungsbegriff den geschichtlichen Ereignischarakter der Offenbarung herauszustellen, ging es Barth um die absolute Selbständigkeit, Unbegründ­barkeit, Unableitbarkeit und Unvergleichlichkeit der Selbstoffenbarung Gottes. So sehr Bultmann sein Offenbarungsverständnis im Rahmen eines neuen Gottesbeweises aus der Existenz entfaltete, so sehr steht der von Barth entwickelte Begriff der Selbstoffenbarung Gottes in Korrespondenz zum ontologischen Gottesbeweis Anselms, wie er ihn 1931 in seinem Buch "Fides quaerens intellectum" gedeutet hat. Dieses Anselmbuch enthält sehr wesentliche Prolegomena zur "Kirchlichen Dogmatik". Das aber heißt, daß beide mit bestimmten theologischen Traditionen ringen und vom Offenbarungsbegriff her den Ansatz zu einer neuen Rede von Offenbarung Gottes gewinnen, ohne daß zunächst ge­fragt wird, worauf und auf was denn die Worte für das Offenbaren Gottes im Alten und Neuen Testament bezogen sind. Der Ansatz bei der allgemeinen Worterklärung läßt diese Ausdrücke für "Offenbaren" zunächst dort stehen, wo sie von Hause aus, und d. h. wo sie in den Epiphanienreligionen stehen. Um so schwerer wird es hernach, gerade in der "Offenbarung Gottes" das Sachlich-Neue der biblischen Verkündigung zu erkennen. Es wird zu wenig beachtet, daß die Ausdrücke der "Offenbarung" in den biblischen Schriften durchweg aus ihrem ursprünglichen religiösen Zusammenhang her­ausgebrochen und in einer anders gearteten Sinnbedeutung verwendet werden. Diese anders geartete Sinnbedeutung ist vorherrschend vom Verheißungsgeschehen bestimmt.

§3

Transzendentale Eschatologie

Welches Verständnis von Eschatologie steckt leitend und vorherrschend im Begriff der "Selbstoffenbarung Gottes", wie er bei Barth vorliegt, und im Verständnis der Offenbarung als der "Erschließung eigentlichen Selbstseins" des Menschen, wie er bei Bultmann vorliegt?

7. Glauben und Verstehen, 111, 1960, 1. 8. Grundlagen der Dogmatik, I, 1955, 188. 9. Das christliche Verständnis der Offenbarung, ThEx NF 12, 1948, 3. Vgl. auch S. 5: "Offenbarung im christlichen Verständnis des Begriffs meint Offenbarung, Enthüllung eines Sachverhaltes, welcher dem Menschen nicht nur faktisch, sondern grundsätzlich verborgen ist." 10. Glauben und Verstehen, 111, 1960, 2.

Transzendentale Eschatologie 39

Wir werden finden, daß der Gedanke der Selbstoffenbarung sowohl in seiner theologischen wie in seiner anthropologischen Gestalt im Banne einer "transzendentalen Eschatologie" formuliert ist. Ich wähle den Aus­druck "transzendentale Eschatologie", mit dem Jakob Taubes und Hans Urs von Balthasar lmmanuel Kants Endlehre bezeichnet haben, weil er besser als die geläufige Bezeichnung "präsentische Eschatologie" die Denkkategorien trifft, in denen hier das entsprechende Offenbarungs­verständnis formuliert wird. Im Rahmen einer transzendentalen Eschatologie wird die Frage nach der Zukunft und dem Ziel der Offenbarung mit einer Reflexion beant­wortet: das Wozu ist das Woher, das Ziel ist identisch mit dem Ursprung der Offenbarung. Wenn Gott nichts anderes als "sich selbst" offenbart, so liegt das Ziel und die Zukunft seiner Offenbarung in ihm selbst. Ge­schieht Offenbarung am Menschen-selbst, so liegt ihr Ziel darin, daß der Mensch zu seiner Eigentlichkeit und Ursprünglichkeit, also zu sich selbst komme. Damit aber fallen Offenbarung und Eschaton jeweils zusammen in jenem Punkt, der als Gottes oder des Menschen "Selbst" bezeichnet wird. Offenbarung erschließt dann nicht verheißend eine Zukunft und hat auch keine Zukunft, die mehr wäre als sie selbst, sondern Offenba­rung Gottes ist dann das Zukommen des Ewigen zum Menschen oder das Zukommen des Menschen zu sich selbst. Mit eben dieser Reflexion auf das transzendente "Selbst" wird die Eschatologie zur transzenden­talen Eschatologie. "Offenbarung" wird ihr zufolge zur Apokalypse der transzendenten Subjektivität Gottes oder des Menschen. Die klassische, philosophische Gestalt transzendentaler Eschatologie fin­det sich bei Immanuel Kant. Ihre Grundzüge finden sich überall wieder, wo Offenbarungstheologie in der Neuzeit kantianisch denkt. Kant hat in seiner kleinen, fast vergessenen Schrift "Das Ende aller Dinge", 1794, die kosmologische und heilsgeschichtliche Eschatologie des 18. Jahrhun­derts einer seinen großen Kritiken an der theologischen Metaphysik ent­sprechenden Kritik unterzogen.H Ein verstandesmäßiges Wissen kann es von den "letzten Dingen" nicht geben, da diese "Gegenstände ... ganz über unsern Gesichtskreis hmausliegen"12• Vergeblich ist es deshalb, über das, was "sie an sich und ihrer Natur nach sind, nachzugrübeln" 13•

Nimmt man sie als partikulare, dem Verstand zugängliche Gegenstände, so sind sie "gänzlich leer" 14• Es läßt sich kein beweisbares und zwingen-11. Zitiert nach der Ausgabe: I. Kant, Zur Geschichtsphilosophie (1784-1798), ed. A. Buchenau, Berlin 1947, 31 ff. Zur Analyse und Beurteilung: Hans Urs von Balthasar, Prometheus. Stud. zur Geschichte des deutschen Idealismus, 1947, 91 ff.; ]. Taubes, Abendlän.-l_ische Eschatologie, 1947, 139 ff.; H. A. Salmony, Kants Schrift: Das Ende aller Dinge, 1962. 12. AaO. 40. 13. Ebd. 14. Ebd.

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des Wissen von ihnen erreichen. Doch sind sie darum nicht in jeder Be­ziehung für "leer" zu halten. Denn was der Verstand mit Sicherheit als nichtig verwerfen zu müssen meint, gewinnt durch die praktische Ver­nunft eine eigene, höchst existentielle, nämlich sittliche Bedeutung. Die Vorstellungen von den letzten Dingen sind darum ethisch zu prüfen und im Bereich der sittlichen Vernunft, des praktischen Selbstseinkönnens, zu vergegenwärtigen. Methodisch wird man davon ausgehen, als hätten "wir es hier bloß mit Ideen zu tun, ... die die Vernunft sich selbst schafft", als "spielten" wir mit solchen Ideen, die "in praktischer Absicht uns von der gesetzgebenden Vernunft selbst an die Hand gegeben wer­den", um sie nach "moralischen, auf den Endzweck aller Dinge gerich­teten, Grundsätzen zu denken"15•

Mit dieser kritischen Aneignung überkommener eschatologischer Vorstel­lungen hat Kant nun nicht nur eine ethische Reduktion der Eschatologie vorgenommen. Ihre erste Wirkung liegt vielmehr darin, daß durch den Ausschluß eschatologischer Hoffnungskategorien die der theoreti­schen Vernunft erscheinende und wahrnehmbare Wirklichkeit nun von ewigen Bedingungen möglicher Erfahrung her rationalisierbar wird.16

Ist von den Eschata als von dem übersinnlichen keine Erkenntnis mög­lich, so haben eschatologische Perspektiven ihrerseits auch keine Relevanz für die Erkenntnis der erfahrbaren Welt. "Und da unsere Anschauung jederzeit sinnlich ist, so kann uns in der Erfahrung niemals ein Gegen­stand gegeben werden, der nicht unter die Bedingung der Zeit gehörete"17•

15. AaO. 44. Der ganze Abschnitt lautet: "Da wir es hier bloß mit Ideen zu tun haben (oder damit spielen) die die Vernunft sich selbst schaffi, wovon die Gegenstände, (wenn sie deren haben) ganz über unsern Gesichtskreis hinausliegen, die indes, obzwar für die spekulative Erkenntnis überschwenglich, darum doch nicht in aller Beziehung für leer zu halten sind, sondern in praktischer Absicht uns von der gesetzgebenden Vernunft selbst an die Hand gegeben werden, nicht etwa um über ihre Gegenstände, was sie an sich und ihrer Natur nach sind, nachzugrübeln, sondern wie wir sie zum Behuf der moralischen, auf den Endzweck aller Dinge gerichteten Grundsätze zu denken haben (wodurch sie, die sonst gänzlich leer wären, objektive, praktische Realität bekommen): - so haben wir ein freies Feld vor uns, dieses Produkt unsrer eignen Vernunft, den all­gemeinen Begriff von einem Ende aller Dinge, nach dem Verhältnis, das er zu unserm Erkenntnisvermögen hat, einzuteilen und die unter ihm stehenden zu klassifizieren" (Sperrungen von mir). 16. Kant: "Das stehende und bleibende Ich (der reinen Apperzeption) macht das Cor­relatum aller unserer Vorstellungen aus" (Kr. d. r. Vernunft A 123). "Die Zeit also, in der aller Wechsel der Erscheinungen gedacht werden soll, bleibt und wechselt nicht" (Kr. d. r. Vernunft B 225). "Die Zeit ist nichts anderes als die Form des innern Sinnes, d. h. des Anschauens unserer selbst und unseres inneren Zustandes" (ebd. B. 49). Dazu G. Picht, aaO. 40: "Die ständige Gegenwart der Ewigkeit- das ist der Grund des Zeitbegriffs bei Kant .... Es ist die religiöse Erfahrung der in der Metaphysik tradierten Theologie, die Gott als das Absolute, das heißt als die unwandelbare Substanz in ihrer ewigen Präsenz begriff." 17. Kritik der reinen Vernunft, B 52.

Transzendentale Eschatologie 41

Während für Herder die Eschatologie noch den inneren Drang und den Zukunftshorizont für einen dynamisch offenen Kosmos alles Lebendigen bezeichnete, entsteht für Kant der sinnliche Eindruck vom "Maschinen­werk dieser Welt" und vom "Mechanismus der Natur"18• Die res gestae der Geschichte sind darum für den Verstand den res extensae der Natur grundsätzlich gleich. So fällt mit der kosmologischen Eschatologie auch jede denkbare geschichtliche und heilsgeschichtliche Eschatologie un­ter die Kritik. An ihre Stelle tritt nicht einfach eine ethische Eschatologie von moralischen Endzwecken. Das ist nur eine Konsequenz. Vielmehr ordnen sich die Eschata zu ewigen, transzendentalen Bedingungen für eine mögliche Selbsterfahrung in praktischer Hinsicht. Der Mensch, der "als zur Sinnenwelt gehörig, sich notwendig den Gesetzen der Cau­salität unterworfen erkennt", wird "im Praktischen doch zugleich sich auf der anderen Seite, nämlich als Wesen an sich selbst, seines in einer intelligibelen Ordnung der Dinge bestimmbaren Daseins bewußt"19• Der sittlich Handelnde gelangt "über den Mechanism der blind wirkenden Ursachen hinaus" 20 "in eine ganze andere Ordnung der Dinge, als die eines bloßen Mechanism der Natur" 21 • Er gelangt in jenes ungegen­ständliche, nichtobjektivierbare Reich der Freiheit und des Selbstseinkön­nens. So wird, wie Hans Urs von Balthasar treffend bemerkt, "die Transzendentalphilosophie zur Methodik der inneren Apokalypse" 22 •

An die Stelle kosmologischer und geschichtlicher Eschatologien tritt die praktische Verwirklichung eschatologischer Existenz. G. W. F. Regel hat in seiner Jugendschrift "Glauben und Wissen" mit dem Untertitel "oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität", 1802 das Ungenügen an den Ergebnissen dieser Reflexionsphilosophie ein­drücklich beschrieben. "Die große Form des Weltgeistes aber, welche sich in jenen Philosophien erkannt hat, ist das Prinzip des Nordens und, es religiös angesehen, des Protestantismus, die Subjektivi­tät, in welcher Schönheit und Wahrheit in Gefühlen und Gesinnungen, in Liebe und Ver­stand sich darstellt. Die Religion baut im Herzen des Individuums ihre Tempel und Altäre, und Seufzer und Gebete suchen den Gott, dessen Anschauung es sich versagt, weil die Gefahr des Verstandes vorhanden ist, welcher das Angeschaute als Ding, den Hain als Hölzer erkennen würde. Zwar muß auch das Innere äußerlich werden, die Absicht in der Handlung Wirklichkeit erlangen, die unmittelbare religiöse Empfindung sich in äußerer Bewegung ausdrücken und der die Objektivität der Erkenntnis fliehende Glaube sich in Gedanken, Begriffen und Worten objektiv werden; aber das Objektive scheidet der Verstand genau von dem Subjektiven, und es wird dasjenige, was keinen Wert hat und nichts ist, so wie der Kampf der subjektiven Schönheit gerade dahin gehen muß, sich gegen die Notwendigkeit gehörig zu verwahren, nach welcher das Subjektive objektiv wird ... Es ist gerade durch ihre Flucht vor dem Endlichen und das Festsein der Subjek-

18. Kritik der praktischen Vernunft, A 174. 19. Ebd. A 72. 20. Ebd. A 191. 21. Ebd. A 74. 22. H. Urs von Balthasar, aaO. 92.

42 Eschatologie und Offenbarung

tivität, wodurcl:! ihr das Schöne zu Dingen überhaupt, der Hain zu Hölzern, die Bilder zu Dingen, welche Augen haben und nicht sehen, Ohren und nid!t hören, und, wenn die Ideale nicht in der völlig verständigen Realität genommen werden können als Klötze und Steine, zu Erdichtungen werden und jede Beziehung auf sie als wesenloses Spiel oder als Abhängigkeit von Objekten und als Aberglauben erscheint"23•

Hegel hat diese Kritik an der Reflexionsphilosophie der transzenden­talen Subjektivität Kants später in seiner Romantikkritik weiterge­führt24. Er hat dabei vor Augen, was man die "Zweigleisigkeit der modernen Geistesgeschichte" genannt hat (J. Ritter), in der notwendig dialektisch zu Descartes Methodisierung der Welterfahrung Pascals lo­gique du cceur, in der zum rationalen System der Aufklärung die ästhe­tische Subjektivität, in der zur historischen Skepsis die ahistorische Mystik der einsamen Seele, in der zum Positivismus wertfreier Wissen­schaft (Max Weber) das appellierende Denken der Existenzphilosophie (Karl Jaspers) treten muß. Für die Theologie entstand daraus das Dilem­ma, daß in dem Maße, wie die Christusgeschichte für den Verstand zu einer "zufälligen Geschichtswahrheit" wurde, der Glaube in ein unver­mitteltes Schauen "ewiger Vernunftwahrheiten" überführt wurde: daß in dem Maße, wie die geschichtliche Verkündigung zum "bloß histori­schen Kirchenglauben" versank, der Glaube zum "reinen, gottunmittel­baren Vernunftglauben" sich erhob. Hegel hat dabei erkannt, daß beides, Verdinglichung und Subjektivität, in diesem Prozeß Abstraktionspro­dukte der Reflexionsphilosophie sind und darum einander dialektisch bedingen. In beidem vollzieht sich eine Negation und ein Ausbruch der Geschichte: "Die Welt ist wie geronnen, nicht das Meer des Seins, sondern das Sein in ein mechanisches Uhrwerk verwandelt"25. Ein neuer natur­wissenschaftlicher Kosmosbegriff verdeckt die Erfahrung der Wirklich­keit als Geschichte. Auf der anderen Seite verglimmt die Existenz des Menschen zur unaussprechbaren, einsamen Subjektivität, die alle Berüh­rung und Entäußerung in die Wirklichkeit fliehen muß, um bei sich selbst zu bleiben. Man entgeht dieser Entzweiung in Verdinglichung und Sub­jektivität nicht- auch theologisch in der Überlieferung des Evangeliums an die moderne Welt nicht - wenn man die eine Seite dieses Denkens für nichtig, defizient, abständig und verfallen erklärt. Vielmehr wird es in der Theologie darum gehen müssen, die festgewordenen Gegensätze 23. Zit. nach der Ausgabe der "Philos. Bibliothek", F. Meiner, 62 b, 1962, 3. Man ver­gleiche den fast wörtlichen polemiscl:!en Bezug auf die in Anm. 15 zitierte Stelle von Kant. 24. Vgl. dazu G. Rohrmoser, Subjektivität und Verdinglicl:!ung. Theologie und Gesell­schaft im Denken des jungen Hegel, 1961, 75 ff.; 0. Pöggeler, Hegels Kritik der Roman­tik, Phil. Diss. Bonn 1956; ]. Ritter, Hegel und die französische Revolution. AGF des Landes Nordrhein-Westfalen, 63, 1956. 25. K. ]aspers, Descartes und die Philosophie, 2. AuD. 1948, 85.

Die Theologie der transzendentalen Subjektivität Gottes 43

wieder flüssig zu machen, in ihrer Gegensätzlichkeit zu vermitteln und zu versöhnen. Das aber ist nur möglich, wenn die Kategorie der Ge­schichte, die in diesem Dualismus ausfällt, so wiederentdeckt wird, daß sie jenen Gegensatz nicht leugnet, sondern umgreif!: und als Moment eines weiterführenden Prozesses versteht. Die Offenbarung Gottes kann weder im Rahmen der Reflexionsphilosophie der tranzendentalen Sub­jektivität dargestellt werden, für die die Geschichte zum "Mechanism" eines in sich geschlossenen Wirkungszusammenhanges entleert ist, noch kann sie dargestellt werden im Anachronismus einer heilsgeschichtlichen Theologie, für die der "Hain« noch nicht zu "Hölzern« geworden und die "Heilige Geschichte" noch nicht historisch-kritisch durchforstet ist. Vielmehr wird es darauf ankommen, diese Abstraktionsprodukte moder­ner Negation von Geschichte wieder flüssig zu machen und als geschicht­liche Gestalten des Geistes in einem eschatologischen Prozeß zu verstehen, der durch die Verheißung aus Kreuz und Auferstehung Christi in Hoff­nung und in Gang gehalten wird. Die von Kant transzendental verstan­denen Bedingungen möglicher Erfahrungen müssen dafür als geschicht­lich gleitende Bedingungen verstanden werden. Nicht die stehende Zeit ist die Kategorie der Geschichte, sondern die Geschichte, die aus der eschatologischen Zukunft der Wahrheit erfahren wird, ist die Kategorie der Zeit.

§4

Die Theologie der transzendentalen Subjektivität Gottes

Karl Barth hat die totale Neufassung seines Römerbriefkommentars in der 2. Auflage 1921 unter anderem damit begründet, daß er "bessere Belehrung über die eigentliche Orientierung der Gedanken Platos und Kants" seinem Bruder Heinrich Barth zu verdanken habe26• Es wird auf diesen Einfluß zurückzuführen sein, daß die dynamischen und kos­mologischen Perspektiven nicht abholde Eschatologie aus dem "Römer­brief" in der 1. Auflage von 1919 von nun an bei ihm in den Hinter­grund trat und die frühe dialektische Theologie mit den gedanklichen Mitteln der Zeit-Ewigkeit-Dialektik arbeitete und im Banne der trans­zendentalen Eschatologie Kants stand. Hier wurde das "Ende« gleich­bedeutend mit dem "Ursprung" und das Eschaton zur transzendentalen

26. Der Römerbrief, 2. Aufl. 1922, Vorrede VI.

44 Eschatologie und Offenbarung

Begrenzung der Zeit durch die Ewigkeit. "Unvergleichlich steht der ewige Augenblick allen Augenblicken gegenüber, gerade weil er aller Augenblicke transzendentaler Sinn ist", kommentierte Barth zu Röm. 13, 12: "Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber nahe herbeigekom­men. "27 "Von der wirklichen Endgeschichte wird zu jeder Zeit zu sagen sein: das Ende ist nahe!"28 Seine Auslegung von 1. Kor. 15 zeigt das entsprechende Desinteresse an einer endgeschichtlichen Eschatologie: "End­geschichte müßte gleichbedeutend sein mit Urgeschichte; die Grenze der Zeit, von der er redet, müßte die Grenze aller und jeder Zeit und damit notwendig Ursprung der Zeit sein"29•

Diese transzendentale Eschatologie arbeitete geschichtsphilosophisch mit einer Kombination aus dem Rankewort, daß "jede Epoche unmittelbar zu Gott" sei, und dem Wort von Kierkegaard, daß es "dem Ewigen gegen­über nur eine Zeit gibt: die Gegenwart". "Jeder (sc. Augenblick) trägt das Geheimnis der Offenbarung ungeboren in sich, jeder kann qualifi­zierter Augenblick werden", sagte Barth 1922 und heißt es bei Bult­mann 1958 im Schlußabschnitt von "Geschichte und Eschatologie" fast wörtlich, allerdings mit dem Zusatz: "Du mußt ihn erwecken. "29"

Was bedeuten diese eschatologischen Sätze - wenn man sie "eschatolo­gisch" nennen will- für das Verständnis der Offenbarung Gottes? Karl Barth hat seine Lehre von der "Selbstoffenbarung" Gottes zuerst ausführlich in seinem Aufsatz über "Die dogmatische Prinzipienlehre Wilhelm Herrmanns", 1925 in Aufnahme und Oberwindung des berühm­ten Herrmannsehen "Selbst" entwickelt30• Der Gedanke der "Selbst­offenbarung" hat eine Vorgeschichte im 19. Jahrhundert in der theolo­gischen Hegelschule. Für das 20. Jahrhundert und namentlich für Barth und Bultmann aber stammt die Betonung des "Selbstcc im Zusammen­hang der Offenbarung von W. Herrmann, dessen Marburger Schükr beide waren. Ohne auf W. Herrmanns Theologie näher einzugehen31,

können wir hier einen Satz aus seiner Schrift "Gottes Offenbarung an uns", 1908, voranstellen, um das Problem im Gedanken der "Selbst­offenbarung" anzuzeigen: "Wir können Gott nicht anders erkennen, als dadurch, daß er sich uns selbst offenbart, indem er auf uns wirkt. "32

27. Ebd. 484. 28. Die Auferstehung der Toten, 2. Aufl. 1926, 60. 29. Ebd. 59. 29a. Vgl. Römerbrief, 2. Aufl. 1922, 483 mit R. Bultmann, Geschichte und Eschatologie, 1958, 183 f. 30. In: Die Theologie und die Kirche, Ges. Vorträge, II. Band, 1928, 240 ff. 31. V gl. dazu zuletzt Th. Mahlmann, Das Axiom des Erlebnisses bei Wilhelm Herrmann, NZSTh 4, 1962, 11 ff. 32. Gottes Offenbarung an uns, 1908, 76.

Die Theologie der transzendentalen Subjektivität Gottes 45

Dem Aktualismus, der in diesem Satz Offenbaren, Wirken und Erkennen Gottes zusammenbindet, stimmen Barth und Bultmann zu. Strittig - nicht für die Interpretation dieses Satzes im Sinne W. Herrmanns, sondern für den Ausgang und Abgang von Barth und Bultmann von W. Herrmann - ist das sachliche Verständnis. Meint dieser Satz, daß Gott sich-selbst - an uns offenbaren müsse oder daß Gott sich - an uns­selbst offenbaren müsse? - Bezieht sich das "Selbst" der Selbstoffen­barung sachlich auf Gott oder auf den Menschen?-Was W. Herrmann mit diesem Satz meinte, ist klar. Offenbarung ist nicht Belehrung und nicht Gefühlsregung. Offenbarung Gottes ist nicht objektiv erklärbar, wohl aber erlebbar am eigenen Selbst des Men­schen, nämlich in der nichtobjektivierbaren Subjektivität im wehrlosen Dunkel des gelebten Augenblicks der Betroffenheit. Gottes Offenbaren im Wirken an uns-selbst ist darum so unergründlich, so unableitbar und in sich selbst begründet wie das gelebte Leben, das keiner erklären, wohl aber jeder erleben kann33• Darum ist kein Stichwort für die Theologie W. Herrmanns bezeichnender als das anthropologisch gemeinte "Selbst". Barth aber stellt in seinem Aufsatz dar, daß das Wörtlein "selbst" doch nicht in diesem Sinne das letzte Wort in der Theologie der Offenbarung sein könne. "Herrmann weiß: das Geheimnis Gottes, Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist ,erfährt' man eben nicht. ,Auch wo er sich offen­bart, bleibt Gott im Dunkel wohnen'. "34 Gerade an der Trinitätslehre zeige sich schon bei Herrmann bei aller Betonung der Selbsterfahrung ein Vorbehalt. Ob diese Bemerkung für W. Herrmann zutreffend ist, mag dahingestellt sein. Für die Entfaltung der Theologie Barths ist es wichtig, daß er hier einsetzt und weitergeht, indem er an die Stelle der im Herr­mannsehen "Selbst" gemeinten Subjektivität des Menschen die Subjektivi­tät Gottes setzt. Er fragt: "Ist nicht bei der Majestät des dreieinigen Gottes an die unaufhebbare Subjektivität Gottes, der exklusiv sich selbst setzt, exklusiv durch sich selbst erkennbar ist im actus purissimus seines dreifaltigen Personseins" zu denken?35 "Der Löwe zerbricht seinen Kä­fig, ein ganz anderes ,Selbst' ist dann auf den Plan getreten mit seiner Wahrhaftigkeit". Erst "darum und dann fragt der Mensch nach seinem ,Selbst', weil und wenn es Gott gefällt, ihm sich ,Selbst' zu erkennen

33. Dieses sind Gedanken und Parallelen, die Herrmann in der Begegnung mit der auf­kommenden Lebensphilosophie von Bergson, Simmel und Driesch zog. Vgl. Th. Mahl­mann aaO. 29: "Das Leben schaff!: sich seine Rechtfertigung durch seine Tat (ZThK 12, 1912, 75). Daß Leben in sich selber gründet, nur auf sich selbst zurückgeht, heißt also, daß Leben Selbstbehauptung ist, seine Selbstdurchsetzung immerfort unbegründbar vollzieht." 34. K. Barth, aaO. 262. 35. Ebd. 264.

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zu geben, weil und wenn Gottes Wort zu ihm gesprochen ist. Zu beginnen wäre in der Dogmatik mit dem Deus dixit, nicht aber der völlig aus~ sichtslose Versuch zu machen, es, womöglich wieder als bloßen ,Glau­bensgedanken', auf dem Gipfel ein.es angeblichen ,Erlebens' (als ob es davon ein ,Erleben' gäbe!) erst zu gewinnen"36• Für Barth gründet darum die theologische Wissenschaft nicht im religiösen Erlebnis, sondern in der Autopistie, dem lnsichgegründetsein der christlichen Wahrheit, und" was begründet ist, das soll man fein unbegründet lassen"37•

Herrmann hatte- das war sein kantianisches Erbe- die objektive Unbe~ gründbarkeit der Offenbarung, ihre Unerweislichkeit für die theoretische Vernunft, als selbstverständlich hingenommen. Die Nichtobjektivierbar­keit Gottes und die Nichtobjektivierbarkeit je eigener Existenz oder des je eigenen "Selbst" bildeten für ihn ein und dasselbe Geheimnis. Die Nichtbegründbarkeit Gottes und die Nichtbegründbarkeit und gratuite gelebten Lebens verschmolzen für ihn ineinander. Darum war Gotteser­kenntnis für ihn der "wehrlose Ausdruck religiösen Erlebens". Die "Ge­fahr" des Verstandes und der Objektivation wurde von ihm gerade so gesehen, wie Hegel es beschrieben hatte. "Alles, was die Wissenschaft an­fassen kann -, ist tot. "38 "Erkennen heißt Bemächtigen, etwas sich dienst­bar machen. Diese der Wissenschaft unfaßbare Welt des Lebendigen ... wird uns durch Selbstbesinnung erschlossen, d. h. durch auf­richtige Besinnung auf das, was wir tatsächlich erleben. "39 Darum kann man von Gott nicht sagen, was er objektiv selbst ist, sondern nur, was er an uns selbst wirkt. Für Barth aber kann diese wehrlose Unbegründbarkeit des religiösen Erlebens noch nicht die gesuchte Autopistie und Autusie in Anspruch nehmen, sondern nur Hinweis sein auf den wirklich in sich selbst be­gründeten Grund, der wirklich "in keinem Sinne ,Objekt', sondern unaufhebbares Subjekt ist"40 • Es ist die Souveränität des durch sich selbst seienden Gottes gegenüber und entgegen allen Bewußtseinssetzun­gen des Menschen. Auch die negative Rede von der Unbeweisbarkeit, der Unbegründbarkeit und der Nichtobjektivierbarkeit Gottes erreicht noch nicht jene Kehre des Denkens, die Barth fordert; jene Kehre zur trinita­risch ausgesprochenen, transzendentalen Subjektivität Gottes, der im Akt des Deus dixit dem Menschen sich selbst offenbart. Es ist eine Kehre des Denkens, wie sie im ontologischen Gottesbeweis bei Anselm und dann

36. Ebd. 267. 37. Ebd. 267. 38. RE 16, 592. Zit. bei Th. Mahlmann, aaO. 21. 39. ZThK 22, 1912, 73. Zit. bei Th. Mahlmann, aaO. 35. 40. K. Barth, aaO. 269.

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ausgeführt bei Hegel vorgebildet ist und von Barth in dem Gedanken der Selbstoffenbarung Gottes in seinem Namen später weitergeführt wurde. Das Herrmannsme "Selbst" wird bei Barth auf diesem Wege theologisch. Dom ist zu beamten, daß es alle seine Eigensmaften, alle Beziehungen und Abgrenzungen bei sim behält, in denen es von Herrmann formu­liert worden war. Gott kann nimt bewiesen werden, weder aus dem Kosmos nom aus der Abgründigkeit mensmlimer Existenz. Er beweist sim durm sim selbst. Seine Offenbarung ist der von Gott selbst geführte Gottesbeweis41 •

Niemand mamt Gott offenbar als nur er selbst. Wer dieser Gott ist, das ergibt sim erst aus seiner Offenbarung. Er offenbart nimt dieses und je­nes, sondern sim selbst. Indem Gott in seiner Offenbarung der Handeln­de ist, ist er der sim selbst Besmreibende42• Gott kann in seiner Selbst­offenbarung nimt empfohlen und verteidigt werden, sondern er kann nur geglaubt w;erden, und zwar dadurm, daß er sim selbst glaubwürdig mamt43• Sein Wort, in weidlern er selbst gegenwärtig ist, kann und braumt nimt bewiesen zu werden. Es setzt sim selbst durm. Dort, wo bei Herrmann die Gotteserkenntnis als der "wehrlose Ausdruck religiö­sen Erlebens" stand, steht nun die Selbstoffenbarung Gottes in der Ver­kündigung des Deus dixit in gleimer Wehrlosigkeit; nämlim unbegründ­bar und darum unzerstörbar, unbeweisbar und darum unwiderlegbar, sim selbst begründend und beweisend. Nun könnten alle diese Überlegungen über die Subjektivität Gottes aum sublime Gottesspekulationen sein. Barth aber mömte, wenn er von Got­tes Selbstoffenbarung redet, von nimts anderem spremen, als von "jenem kleinen Büsmel von Namrimten" aus der römismen Kaiserzeit über die Existenz ] esu Christi. Gerade hier in Bezug auf diese Gesmimte erheben sim aber eine Reihe von Fragen: Meint "Selbstoffenbarung Gottes" Gottes ewiges Selbstverständnis? Ist mit der Trinitätslehre die ewige trinitarisme Reflexion Gottes auf sim selbst gemeint? Meint "Selbstoffenbarung" die reine Gegenwart des Ewigen ohne Gesmimte und Zukunft? Die Wendung zum "Selbst" be­hält aum im Gedanken der Selbstoffenbarung Gottes jenen reflektori­smen Klang aus dem Denken W. Herrmanns. Sie enthält die Reflexion, die entsteht, namdem Gott nimt mehr aus der Welt auf die Weise der Gottesbeweise beweisbar ist, und ist insofern ein polemismer Ausdruck,

41. Das christliche Verständnis der Offenbarung, aaO. 7. 42. Ebd. 8. 43. Ebd. 13.

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der vom Fragezusammenhang der Beweislichkeit Gottes befangen ist. Es ist darum schwierig, ihn auf jenes Nachrichtenbüschel über Jesus von Nazareth anzuwenden, denn diese Aussagen und Mitteilungen sind nicht auf dem Boden der griechischen Metaphysik der Gottesbeweise ent­standen, sondern stehen in einem ganz anderen Zusammenhang. An sich legt sich hier die Möglichkeit nahe, die Strukturen der Perso­nalität, personalen Selbstseins, personaler Selbstreflexion und Selbster­schließung auf Gott zu übertragen. Barth ist diesen Weg in den theolo­gischen Personalismus jedoch nicht gegangen, sondern hat den Gedanken der Selbstoffenbarung im Zusammenhang der Trinitätslehre entfaltet und mit der Verkündigung der Herrschaft Gottes verbunden. Die Trini­tätslehre ergibt sich aus der Entfaltung der Selbstoffenbarung, d. h. aus den Fragen nach Subjekt, Prädikat und Objekt des Geschehens "Deus dixit". Gott selbst ist der Offenbarer, das Offenbaren und das Offen­barte44. Während im ersten Entwurf seiner Dogmatik, in der "Christ­lichen Dogmatik I", 1927, noch der Herrmannsehe Gedanke der Subjek­tivität vorherrschend ist, tritt er dann in der "Kirchlichen Dogmatik" I, 1, 1932, zugunsten einer ausgeführten Lehre von der immanenten Trinität zurück. Doch scheint auch hier die immanente Fassung der Trinität Gottes der Offenbarung Gottes den Charakter einer transzen­dentalen Abgeschlossenheit zu verleihen als einem "in sich geschlossenen Novum"45. Wichtiger noch als die trinitarische Entfaltung der Selbst­offenbarung Gottes erscheint in diesem Zusammenhang ihre Verbindung mit der "Herrschaft Gottes". Daß Gott sich "selbst" offenbart, heißt, daß er sich "als Gott und Herr" offenbart. Selbstoffenbarung heißt also für Barth nich~ personalistische Selbsterschließung Gottes nach Analogie mitmenschlicher Ich-Du-Beziehung. Gott offenbart sich in der Tat als "jemand" und als "etwas" für den Menschen, nicht als reines, absolutes Du. Das wäre im übrigen wie das Individuum "ineffabile". Er offen­bart sich "als" der Herr. Die Ankündigung der basileia ist der konkrete Inhalt der Offenbarung. Was jedoch Herrschaft Gottes heißt, ergibt sich wiederum aus dem konkreten Handeln Gottes in seiner Offen­barung dem Menschen gegenüber, so daß auch hier zunächst noch Inhalt und Akt zusammenfallen. Was besagt in diesem Zusammen­hang "Selbstoffenbarung"? Es sagt, daß Gott sich in seiner Offen­barung nicht verstellt, nicht in Maske erscheint, sich nicht mit etwas anderem identifiziert, als was er selbst ist, daß er das, als was er sich offenbart, "zuvor in sich selber" ist, daß folglich der Mensch es in

44. Christliche Dogmatik, I, 1927, 127, 154 ff., 140. 45. Kirchliche Dogmatik, I, 1, 1932, 323.

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der Offenbarung Gottes als des Herrn mit Gott selbst zu tun hat, sich auf ihn selbst verlassen kann. Indem Gott also "etwas": seine Herr­schaft, und "jemanden": nämlich sich in seinem Sohn, offenbart, offen­bart er sich selbst. Macht man sich diesen Zusammenhang klar, so erweist sich die Kritik von G. Gloege und W. Pannenberg46 an Barths Theologie der Selbstoffenbarung, in der sie gnostisches Wortverständnis und modernen Personalismus vermuten, als unzutreffend. Fragwürdig erscheint dann aber auch W. Krecks Deutung der Selbstoffenbarung: "Es muß deshalb bei Barths grundlegendem erkenntnistheoretischen Satz hier bleiben: Gott (und darum auch der Mensch als Gottes Geschöpf und Ebenbild) kann nur durch Gott erkannt werden." 47 Kreck stellt diesen Satz gegen jede Erkenntnis auf dem Wege der analogia entis. Dieser bekannte Satz ist aber kein christlich-theologischer, sondern stammt aus der neuplatonischen Gnosis, taucht so in den mystischen Reflexionen des Mittelalters auf und findet sich auch in Hegels Religionsphilosophie. Er stellt für sich genommen die höchste Stufe der Selbstreflexion des Absoluten auf dem Boden griechischer Religions­philosophie dar. Mit diesem Grundsatz würde aus Offenbarung und Gotteserkenntnis ein in sich geschlossener Kreis entstehen, der streng genommen nicht durchbrechbar ist. Auf jenes Büschel von geschichtlichen Nachrichten, von dem der christliche Glaube lebt, ist er nicht anwendbar, sondern eher auf eine esoterische Gnosis. "Offenbarung" müßte aber gerade den Grenzüberschritt vom Gleichen zum Ungleichen enthalten, wenn es Offenbarung sein soll. Für Gotteserkenntnis auf Grund von Offenbarung müßte eher der umgekehrte Grundsatz gelten: Nur Ungleiches erkennt einander. Gott wird nur von Nicht-Gott, nämlich vom Menschen, als "Gott" und "Herr" erkannt. Nun meint Kreck mit diesem Satz natürlich die Pneumatologie: "Niemand kann Jesus einen Herrn heißen, außer durch den hl. Geist." (1. Kor. 12, 3). Aber es steckt dieser Geist im Christusgeschehen und im Wort und nicht in einem göttlichen Zirkel supra nos. Die immanente Fassung der Trinitätslehre ist immer in Gefahr, den geschichtlich-escha­tologischen Charakter des hl. Geistes, der der Geist der Totenauferstehung ist, zu verdecken. Barth hat die transzendentale Eschatologie seiner dialektischen Phase später selber revidiert. "Es zeigte sich darin, daß ich nun wohl mit der Jenseitigkeit des kommenden Reiches, aber gerade nicht mit seinem Kom­men als solchem ganzen Ernst zu machen mich getraute. "48 Zur ange­führten Stelle aus dem Kommentar zu Röm. 13, 12 heißt es nun: "Man sieht auch, wie ich dabei gerade an dem Besonderen dieser Stelle, näm­lich an der Teleologie, die sie der Zeit zuschreibt, an ihrem Ablauf zu einem wirklichen Ende hin ... vorbeigegangen bin ... Ausgerechnet das einseitig überzeitliche Verständnis Gottes, das zu bekämpfen ich ausge­zogen war, blieb als allein greifbares Ergebnis auf dem Plan. "49 Das aber heißt doch, daß in diesem "überzeitlichen Verständnis" die Wahr­heit Gottes sowohl hinsichtlich des Begriffs von Eschaton wie des Begriffs von Offenbarung als Epiphanie der ewigen Gegenwart und nicht als

46. G. Gloege, Art. Offenbarung dogm. RGG, 3. Aufl. IV, Sp. 1611. W. Pannenberg, Offenbarung als Geschichte, 1961, 14. 47. In: Antwort. Festschr. für Karl Barth, 1956, 285. 48. Kirchliche Dogmatik, II, 1, 716, vgl. auch I, 2, 55 ff. 49. Ebd. II, 1, 716.

50 Eschatologie und Offenbarung

Apokalypse der verheißenen Zukunft genommen worden war. Wenn nun aber, wie gezeigt, Barths Begriff der Selbstoffenbarung Gottes von eben dieser transzendentalen Eschatologie geprägt ist, müßte es dann nicht zu einer entsprechenden Revision im Offenbarungsverständnis kommen? Kann dann der Eindruck stehen bleiben, als meine "Selbst­offenbarung Gottes" die "reine Gegenwart Gottes", eine "ewige Gegen­wart Gottes in der Zeit", eine "Gegenwart ohne Zukunft"50? Kann man dann sagen, die Ostergeschichte "redet nicht eschatologisch"? Wäre dem so, dann wäre das Christusgeschehen der Auferstehung selber schon die eschatologische Erfüllung und wiese nicht über sich hinaus auf etwas noch Ausstehendes, zu Erhoffendes und zu Erwartendes. Das Verständnis der Christusoffenbarung als Selbstoffenbarung Gottes beantwortet die Fra­ge nach der Zukunft und dem Ziel, die durch Offenbarung angezeigt werden, mit einer Reflexion auf den Ursprung der Offenbarung, auf Gott selbst. Mit dieser Reflexion aber wird fast unmöglich, auf Grund der Offenbarung des Auferstandenen noch von einer ausstehenden Zu­kunft Jesu Christi zu reden. Soll der Gedanke der Selbstoffenbarung nicht unter der Hand zu einem Ausdruck für den Gott des Parmenides werden, so muß er geöffnet werden für die Verheißungsaussagen des 3. Glaubensartikels. Doch nicht so, daß die in der Christusoffenbarung verheißene zukünftige Erlösung nur zum Anhang und zur noetischen Enthüllung der Versöhnung in Christus würde, sondern so, daß sie deren wirkliches Ziel und deren wahre Tendenz, mithin deren real-ausständige, noch nicht erreichte und noch nicht verwirklichte Zukunft verheißt. Dann würde das Wort Gottes- Deus dixit- nicht der nackte Selbstbeweis der ewigen Gegenwart sein, sondern als Verheißung eines Ausstehenden Zu­kunft erschließen und gewähren. Dann würde sich durch diese Offen­barung in Verheißung eine neue Wahrnehmung der Offenheit der Ge­schichte nach vorne ergeben. Es würden nicht alle Zeiten gleich unmittel­bar zu Gott und gleich-gültig vor der Ewigkeit, sondern sie würden in einem vom verheißenen Eschaton her bestimmten Prozeß wahrgenommen. Wenn die Offenbarung Gottes in der Auferstehung Christi in sich selber eine eschatologische Differenz enthält, dann eröffnet sie Geschichte in der Kategorie der Erwartung und der Erinnerung, der Gewißheit und der Gefährdung, der Verheißung und der Buße.

50. Ebd. I, 2, 125 f. Auch in der "Kirchlichen Dogmatik", I, 1, 486 f. kann "eschatolo­gisch" soviel bedeuten wie "die Beziehung auf die ewige Wirklichkeit", und "zukünftig" das, was ,.von Gott her auf uns zukommt".

§5

Die Theologie der transzendentalen Subjektivität des Menschen

Die Tatsache, daß Rudolf Bultmann der bei weitem treuere Schüler W. Herrmanns ist, ist von vielen positiv und negativ vermerkt worden. Sei es, daß man feststellt, die existentiale Fragestellung Bultmanns er­hebe nur den Ansatz W. Herrmanns zur ontologischen Begrifflichkeit51, sei es, daß man umgekehrt bei W. Herrmann schon eine Überwindung des Kautsehen Idealismus und eine Vorwegnahme der Dimensionen mo­dernen existentialen Fragens und Sehens findet52• Am Herrmannsehen Erbe bei Bultmann entzündete sich auch Barths Kritik53• In der Tat geht das leidenschaftliche Pathos des "selbst" bei Herrmann in Bultmanns Betonung des "Selbstverständnisses" ein und das von Herrmann vor­dringlich empfundene Problem der selbsteigenen Aneignung des Glau­bens kehrt wieder im Problem des Verstehens. Den Übergang vom Kan­tianismus des frühen Herrmann zur Existentialtheologie Bultmanns er­möglichte zweifellos der Einfluß der Lebensphilosophie auf den späten Herrmann. Von den Herrmannsehen Grundsätzen tritt in der Theologie Bultmanns am stärksten die exklusive Existenz- bzw. Selbstbezogenheit aller Aus­sagen über Gott und sein Handeln heraus. Zwar heißt es in seinem zu­stimmenden Aufsatz zur dialektischen Theologie 1924 über "Die liberale Theologie und die jüngste theologische Bewegung": "Der Gegenstand der Theologie ist Gott, und der Vorwurf gegen die liberale Theologie ist der, daß sie nicht von Gott, sondern vom Menschen gehandelt hat. Gott bedeutet die radikale Verneinung und Aufhebung des Menschen. "54 Dennoch schließt gerade dieser Aufsatz mit den program­matischen Sätzen: "Gegenstand der Theologie ist ja Gott, und von Gott redet die Theologie, indem sie redet vom Menschen, wie er vor Gott gestellt ist, also vom Glauben aus. "55 So kann von Gott nur im Zusam­menhang mit der eigenen Existenz geredet werden. Handelt es sich im

51. 0. Schnübbe, Der Existenzbegriff in der Theologie R. Bultmanns, 1959, 82. 52. E. Fuchs, Hermeneutik, 1954, 30. 53. K. Barth, Rudolf Buhmann. Ein Versuch, ihn zu verstehen. ThSt, 34, 1952, 47: "Kann man ihm gerecht werden, wenn man nicht sieht, daß er die für ihn charakteristi­sche Vereinfachung, Konzentration und Ethisierung - die Anthropologisierung der christ­lichen Botschaft und des christlichen Glaubens, aber auch seinen heiligen Respekt vor der ,profanen' Eigengesetzlichkeit der Welt und ihrer Wissenschaft, aber auch seinen Abscheu vor der Werkgerechtigkeit eines Fürwahrhaltens von Dingen, die man eigent­lich nicht für wahr halten kann, bei Herrmann lernen konnte und wahrscheinlich gelernt hat, lange bevor er sich Heideggers Methode und Begriffe aneignete?" 54. Glauben und Verstehen, I, 1933, 2. 55. Ebd. 25.

52 Eschatologie und Offenbarung

Glauben um die Erfassung der eigenen Existenz, so bedeutet das zugleich die Erfassung Gottes und umgekehrt. "Will man von Gott reden, so muß man offenbar von sich selbst reden.« 56

Diese Existenz- bzw. Selbstbezogenheit aller Aussagen über Gott und sein Handeln ist exklusiv. Auch das ist Herrmannsches Erbe. Sie schließt in sich die Abweisung aller nicht existentiell verifizierbaren, unter Ab­sehung der eigenen Existenz mythologisch oder weitbildhaft entworfe­nen, objektiven Aussagen über Gott ein, ja gewinnt sich erst aus der ständig neu herzustellenden Antithese von Weltanschauung und Selbst­verständnis, von objektivierten Aussagen und der Nicht-objektivierbar­keit Gottes und der Existenz. Hier liegt seit seiner Rezension von Barths "Römerbrief«, 1922, das Schwergewicht seiner Kritik an der theologischen Entwicklung Barths57 •

Betrachten wir zunächst die These von der unanschaulichen, verborgenen Korrelation von Gottes und des Menschen "Selbst" bei Bultmann. Für ihn stehen wie für W. Herrmann Gott und des Menschen "Selbst« in einer nicht gelösten Beziehung aufeinander. Der Mensch ist schöpfungs­mäßig darauf angelegt, er selbst zu sein. Darum ist die Fraglichkeit die Struktur des menschlichen Daseins. Der Mensch steht wesenhaft in der Frage nach sich selbst. In und mit seiner Existenzfrage meldet sich die Gottesfrage. "Wir können nicht über unsere Existenz reden, da wir nicht über Gott reden können; und wir können nicht über Gott reden, da wir nicht über unsere Existenz reden können. Wir könnten nur eins mit dem andern . . . wenn gefragt wird, wie ein Reden von Gott möglich sein kann, so muß geantwortet werden: nur als ein Reden von uns. "58 Darum gewinnt der Mensch nur in Gott sich selbst und nur, wo er sich selbst ge­winnt, gewinnt er Gott. Beidem, Gott und dem menschlichen Selbst, bzw. der je eigenen Existenz, eignet die Nichtobjektivierbarkeit. Der geschlos­sene Wirkungszusammenhang der erkennbaren, erklärbaren, objektiv aufweisbaren Welt der Dinge und der Geschichte ist darum aufgehoben, a) wenn ich von Gottes Handeln rede und b) wenn ich von mir selbst rede. "Im Glauben ist der geschlossene Zusammenhang, den das objekti­vierende Denken darbietet (bzw. herstellt), aufgehoben, ... wenn ich von Gottes Handeln rede. Im Grunde hebe ich ihn schon auf, wenn ich von mir selbst rede. «59 Die Aussagen der Schrift reden aus der Existenz und in die Existenz hinein. Sie haben sich nicht vor dem Forum einer objekti-

56. Ebd. 28. 57. Christliche Welt, 1922, Nr. 18-22. Jetzt in: Anfänge dialektischer Theologie, I, ThB 17, 2, 1962, 119 ff. 58. Glauben und Verstehen, I, 1933, 33. 59. Kerygma und Mythos, II, 1952, 198.

Die Theologie der transzendentalen Subjektivität des Menschen 53

vierenden Wissenschaft von Natur und Geschichte zu rechtfertigen, da diese die nichtobjektivierbare Existenz des Menschen gar nicht in den Blick bekommt60. Damit ist das Programm der existentialen Interpreta­tion und der Entmythologisierung gesetzt. Diese Interpretation ist ge­leitet von der mit der Fraglichkeit des Daseins mitgesetzten Gottesfrage und ist darum gerichtet auf ein Verstehen von weder mythischer noch wissenschaftlicher Objektivität, sondern auf die je eigene Aneignung in der Spontaneität jener nichtobjektivierbaren, weil transzendentalen Sub­jektivität61. Während Barth sich damit von W. Herrmann losrang, daß er - wie ge­zeigt - die nichtobjektivierbare Subjektivität Gottes im Akt des Deus dixit von der Subjektivität des Menschen, daß er Gottes "Selbst" von des "Menschen Selbst" schied, bleibt Bultmann im Banne der verborgenen Korrelation von Gott und Selbst stehen. Darum wird für ihn nicht eine Trinitätslehre zum Maß und zur Entfaltung der Selbstoffenbarung Gottes, sondern an ihre Stelle tritt die Erschließung der Eigentlichkeit oder des Selbstseins des Menschen. Zwar ist Gottes Handeln, Gottes Offenbaren und Gottes Zukunft unbeweisbar, aber das bedeutet keines­falls eine Willkürlichkeit der Aussagen, sondern alle entsprechenden Aus­sagen werden gleichsam nichtobjektiviert verifiziert am Zusiehselbst­kommen des Menschen. An die Stelle der Gottesbeweise aus der Welt und aus der Geschichte tritt nicht etwa eine willküreröffnende Unbeweisbarkeit Gottes, sondern ein existentieller Gottesbeweis, ein Re­den und Denken Gottes als dem in der Existenzfrage des Menschen Er­fragten. Das ist eine Fortsetzung, Vertiefung und Neufassung des einzi­gen, von Kant übrig gelassenen Gottesbeweises, des moralischen Gottes­beweises der praktischen Vernunft. Gott ist - objektiv- unbeweisbar, sein Handeln und Offenbaren ebenfalls. Aber er beweist sich dem glau­benden "Selbst". Das ist kein Beweis der Existenz Gottes, sondern ein Beweis Gottes durch Existieren in Eigentlichkeit. Zwar läßt die christ­liche Hoffnung in dieser Interpretation die Zukunft als Gottes Zukunft "leer" im Sinne der mythologischen, prognostischen Zukunftsbilder und verzichtet auf alle Wunschträume. Es gibt jedoch ein sehr genaues Kri­terium für das, was denn dann Gottes "Zukunft" sei, nämlich "die Er­füllung des menschlichen Lebens"62, nach der in der Fraglichkeit mensch­lichen Daseins gefragt wird. "Eschatologie (hat) gänzlich ihren Sinn als

60. Ebd. 187. 61. Zu Bultmanns Gleichsetzung der theologischen Anthropologie mit der Anthropologie der transzendentalen Subjektivität vgl. W. Anz, Verkündigung und theologische Refle­xion, ZThK 58, 1961, Bh. 2, 47 ff., bes. 68 ff. 62. Glauben und Verstehen, III, 1960, 90.

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Ziel der Geschichte verloren und ist im Grunde als Ziel des individuel­len Seins verstanden. "63 Eschatologie kann darum so wenig wie für Kant eine Lehre von den "letzten Dingen" bieten für den Prozeß der Welt, sondern der Logos des Eschaton wird zur Macht der Befreiung von der Geschichte, zur Macht der Entweltlicbung der Existenz im Sinne der Be­freiung vom Sichverstehen aus der Welt wie aus den Werken. Dieser Gottesbeweis aus der Existenz, in dessen Rahmen hier theologisch gefragt und geredet wird, hat eine lange dogmengeschichtliche Vor­geschichte. Der Hinweis von Kar! ]aspers, daß "Existenz und Transzen­denz" in philosophischer Sprache die Wiedergabe der mythischen Aus­drucksweise von "Seele und Gott" sei und sowohl in der einen wie in der anderen Sprache durch "nicht Welt" definiert werde64, weist wie auch gelegentliche Zitate bei Bultmann65 auf Augustin zurück. Von Augustin über die Mystik des Mittelalters und die Reformation bis in den Ratio­nalismus der Aufklärung hinein und bis zu W. Herrmann hat dieser Gottesbeweis aus der Existenz seine Spur in das abendländische Bewußt­sein eingegraben. Die Identifizierung der Verborgenheit Gottes und des menschlichen Selbst, bzw. seiner Seele (nicht als Substanz im aristotelischen Sinne, sondern als Subjekt) setzt schon bei Augustin voraus, daß der Mensch sich selbst unmittelbar gegeben sei und sich darum seiner selbst unmittelbar gewiß werden könne, während ihm die Welt, die Dinge der Natur und die Ereignisse der Geschichte nur durch die Sinne vermittelt zugänglich seien. "Unter allen Dingen, die man kennen, wissen und lieben kann, ist uns keines so gewiß, wie daß wir sind. Hier beunruhigt uns keine Täuschung durch bloßen Schein der Wahr­heit. Denn wir erfassen sie nicht wie die Dinge außer uns und mit irgendwelchen leib­lichen Sinnen, sondern ohne daß sich irgendwie eine trügerische Vorstellung der Phan­tasie geltend machen könnte, steht mir durchaus fest, daß ich bin, daß ich weiß und daß ich liebe."66 In dieser Unmittelbarkeit hat gegenüber anderen Gottesbeweisen, etwa dem kosmologisch-ästhetischen, die Augustin kennt, dieser den Vorrang: "Noli foras ire, in te ipsum redi, in interiore homine habitat veritas." Dieser Weg zur Gotteserkenntnis aus der Selbsterkenntnis hat in der augustinischen Mystik des Mittelalters, namentlich bei Bernhard von Clairvaux, Schule gemacht. Es ist aus der Augustinrenaissance der Refor­matoren zu verstehen, wenn Calvin sagt: "All unsere Weisheit, sofern sie wirklich den Namen Weisheit verdient und wahr und zuverlässig ist, umfaßt im Grunde eigentlich zweierlei: die Erkenntnis Gottes und unsere Selbsterkenntnis. Diese beiden aber hängen vielfältig zusammen und es ist darum nun doch nicht so einfach zu sagen, welche denn an erster Stelle steht und die andere aus sich heraus bewirkt."67 Calvin entwickelt das Ver­hältnis beider durchaus dialektisch: ohne Gotteserkenntnis keine Selbsterkenntnis, ohne Selbsterkenntnis keine Gotteserkenntnis. Ebenso im Banne augustinischer Tradition steht es, wenn Luther lapidar formuliert: "Cognitio Dei et hominis est sapientia divina et pro­prie theologica. Et ita cognitio Dei et hominis, ut referatur tandem ad deum justificantem et hominem peccatorem, ut proprie sit subjectum Theologiae homo reus et perditus et deus

63. Ebd. III, 102. 64. Philosophie, li, 1932, 1. 65. Z. B. Kerygma und Mythos, li, 1952, 192. 66. De civitate Dei, XI, 26. Ahnlieh auch: De lib. arb. li, 3 und De trinitate, X, 10. 67. Institutio I, 1, 1. Übersetzung nach 0. Weber.

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justificans vel salvator. quicquid extra istud argurnenturn vel subiectum quaeritur, hoc plane est error et vanitas in Theologia."68 Während in der augustinischen Mystik jedoch die Korrelation von Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis als eine unmittelbare und un­vermittelte genommen werden konnte, ist für die Reformatoren und noch für Pascal beides vermittelt durch die Christuserkenntnis: der gekreuzigte Christus ist der Spiegel der Gottheit und der Spiegel unserer selbst. Dennoch ist auch bei den Reformatoren wie schon bei Augustin in dieser Konzentration der Theologie auf Gottes- und Selbst­erkenntnis kein Platz mehr für ein Bedenken der Welt Gottes. Dieses droht vielmehr aus der Theologie entlassen zu werden. Bei Descartes entfallen alle Gottesbeweise aus der Welt. "Semper existimavi duas quaestiones, de Deo et de Anima, praecipuas esse ex iis quae Philosophiae potius quam Theologiae ope sunt demonstrandae. "60 Die cartesianische Meditation 3 über das unmittelbare Selbstbewußtsein und das darin mitgesetzte Gottes­bewußtsein nimmt- vermittelt durch die französische Augustinrenaissance des 17. Jahr­hunderts- die zitierte Reflexion Augustins auf. Indem aber der Gottesbeweis im unmittel­baren Selbstbewußtsein geführt wird und der Reflektierende sich selbst und Gott "per eandem facultatem" und "simul" erkennt, wird das Feld der res extensae der gott-losen, seins-vergessenen Berechenbarkeit ausgeliefert. Seit der naturwissenschaftlichen und der historischen Aufklärung hat sich die Theologie in ihrem Reden und Denken und ihrer Verkündigung von Gottes Handeln immer stärker auf jene, gerade durch die aufkläre­rische Verweltlichung der Welt freigesetzte Subjektivität des Menschen ausgerichtet. Ahnlieh wie in den angeführten Stellen bei Bultmann heißt es auch bei G. Ebeling: "So meldet sich in der Fraglichkeit der Identität des Menschen die Fraglichkeit Gottes an."70

Dieser Gottesbeweis aus der Existenz in Gestalt der aus der Fraglichkeit mensch­licher Existenz erhobenen Gottesfrage hat die gleiche Voraussetzung wie die Got­tesbeweise aus der Welt oder der Geschichte. Er setzt eine vorgegebene Gottesver­bundenheit der Seele, des Selbst oder der Existenz voraus, auch wenn diese Verbunden­heit nicht objektiv bewiesen, sondern nur subjektiv in der Gewißheitserfahrung erlebt werden kann. Im schöpfungsmäßigen cor inquietum steht der Mensch in der Frage nach Gott, ob er es weiß oder nicht.

Seine besondere Radikalität hat dieser Gottesbeweis an der Existenz aus der neuzeitlichen Form der Subjektivität als dem Produkt der Re­flexionsphilosophie bekommen. Indem diese Subjektivität sich als die un­erfaßbare Unmittelbarkeit des Existierens versteht, gewinnt sie sich durch Abgrenzung vom Nicht-Ich, von der Welt der überschaubaren, be­rechenbaren, verfügbaren Dinge und der eigenen Objektivationen. Um im eigentlichen Sinne Person sein zu können, muß sich der Mensch von

68. WA 40, II, 327 f. 69. Descartes, Meditationes de prima philosophia. Deutsch in: Taschenbuchausgaben der Philos. Bibliothek, 21, ed. A. Buchenau, 1947, III. Vgl. zum Gottesbeweis aus dem unmittelbaren Selbstbewußtsein die 3. Meditation, 27 ff. 70. Wort und Glaube, 1960,441 f. S. 366 wird ausführlich begründet, inwiefern sich die umfassende Wirklichkeitsanalyse, die heute auf das Ergebnis der Wahrnehmung der "radikalen Fraglichkeit der Wirklichkeit" hinauslaufe, mit dem Unternehmen der soge­nannten Gottesbeweise berühre. Diese Analogie wird jedoch sofort von Ebeling verengt: "Das Problem der wahren Transzendenz scheint uns an ganz anderer Stelle aufzubrechen als da, wo es die herkömmlichen sogenannten Gottesbeweise fixierten: nicht bei der Frage nach dem primum movens oder dergleichen, sondern bei den das Personsein betreffenden Problemen, wie der Sinnfrage, der Schuldfrage, der Frage nach Kommunikation usw." Diese im Personsein aufbrechenden Probleme sind aber nicht "ganz anders" als die aus der Welterfahrung sich stellenden.

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seiner Welt radikal unterscheiden. Alle Aussagen über die Gottesbezie­hung der Person werden nur durch ihr Gegenteil, die Weltbeziehung de­finierbar. Der Mensch unterscheidet dann ständig sein Weltsein von sei­nem eigenen Selbstsein und macht so die Welt zur Welt in der Säkulari­sierung und sich zur reinen personalen Empfängnis aus Gott. Dieser Vorgang, die je eigene Subjektivität aus der unendlichen Reflexion aus allen Weltbezügen heraus zu gewinnen, ist neuzeitlich. In dieser Anti­these tauchte der Gottesbeweis aus der Existenz weder bei Augustin noch bei den Reformatoren auf. Sie kannten vielmehr ein, wenn auch verbor­genes Wirken Gottes in der Welt, in Natur und Geschichte und erhellten es durch die Lehre von Schöpfungsordnungen. Der von W. Herrmann und R. Bultmann angenommene Wissenschaftsbegriff des Kantianismus aber läßt dieses nicht mehr zu. Für sie ist wissenschaftliches Erkennen ob­jektivierendes Denken und ist kategorial aus auf einen "geschlossenen Wirkungszusammenhang" und eine gesetzmäßige Ordnung der Welt, so­wohl in der Naturwissenschaft wie in der Historie. Für die unter diesen Kategorien gemachte Erfahrung der Wirklichkeit bleibt Gott und sein Handeln prinzipiell verborgen. Darum kommt es wie bei Kierkegaard zu einer Allianz von theoretischem Atheismus und gläubiger Innerlich­keit. Theologisch erheblich kann darum nur dieses wissenschaftliche Be­mühen als solches werden, und zwar für das existierende Subjekt des Er­kennens. Wenn dieses wissenschaftliche Denken und Umgehen mit der Wirklichkeit im Arbeitsdenken und im Herrschaftswillen des Menschen gründet, in seinem Willen zum Verfügen, zum überschauen, zum V er­rechnen und Sich-behaupten und Sich-sichern, so rückt diese W eltbemäch­tigung theologisch in die Nähe der Selbstvergewisserung des Menschen aus seinen Werken. Das bedeutet, daß nun die Dimension der "Welt" für den von der Verkündigung der Gnade betroffenen Menschen nur noch im Rahmen der Rechtfertigungsfrage relevant wird; in der Frage, ob er sich selbst "aus der Welt" wie aus dem Verfügbaren seiner Werke, oder "aus Gott", dem Unverfügbaren, verstehen will. "Welt" und "Gott" treten damit für das nach sich selbst fragende Subjekt in eine ra­dikale Alternative. Der Mensch kommt "zwischen Gott und Welt" zu stehen (Gogarten). Daß diese Alternativstellung von "Gott" und "Welt" eine Vorgeschichte in der Gnosis und in der Mystik hat, braucht nicht er­wähnt zu werden. Wichtiger ist es, daß durch ein solches theologisches "Welt"verständnis sowohl der wissenschaftliche wie der praktische Um­gang des Menschen mit der Wirklichkeit in eine Gesetzlichkeit hinein­genötigt werden, die dieser Wirklichkeit nicht entspricht. Fällt das ob­jektive Erkennen der Welt und der Geschichte theologisch notwendig

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unter "das Gesetz"? Ist überhaupt ein Selbstverständnis des Menschen denkbar, das nicht durch das Verhältnis zur Welt, zur Geschichte, zur Gesellschaft bestimmt ist? Kann menschliches Leben Bestand und Dauer gewinnen ohne Entäußerung und Objektivierung, und verflüchtigt es sich ohne dieses nicht ins Nichts in der unendlichen Reflexion? - Es ist die Aufgabe der Theologie, Gotteserkenntnis in einer Korrelation von Weltverständnis und Selbstverständnis zu entwickeln. Der kategoriale Rahmen einer transzendentalen Subjektivität beherrscht nun auch Bultmanns Offenbarungsverständnis. In der Offenbarung Got­tes geht es demzufolge um das Zu-sich-selbst-Kommen, das wahre Sich­verstehen des Menschen. "Offenbarung wird ... als diejenige Erschlie­ßung von Verborgenem bezeichnet, die für den Menschen schlechthin not­wendig und entscheidend ist, soll er zum ,Heil', zu seiner Eigentlichkeit gelangen. "71 Damit wird einmal vorausgesetzt, daß der Mensch von sich aus nicht zu seiner Eigentlichkeit gelangen kann, sondern nach Offen­barung fragen muß, zum anderen aber notwendig dazu bestimmt ist, zu seiner Eigentlichkeit zu kommen. Wird ihm seine Eigentlichkeit durch Offenbarung erschlossen, so erschließt sich ihm darin Gottes Gottheit. Christliche Verkündigung und christlicher Glaube antworten auf diese vorausgesetzte Frage des Menschen nach sich selbst, die er mit seiner fraglichen Existenz selber ist, nicht durch das, was sie sagen und vermit­teln, sondern durch das, was sie sind. "Die Offenbarung vermittelt kein weltanschauliches Wissen, sondern sie redet an. Daß der Mensch in ihr sich selbst verstehen lernt, bedeutet, daß er je sein fetzt, den Augenblick, als einen durch die Verkündigung qualifizierten verstehen lernt. Denn das Sein im Augenblick ist sein eigentliches Sein. "72 Offenbarung ist in diesem Sinne das Geschehen von Predigt und Glaube. Offenbarung ist das Ereignis der cixo~ 't'~<; rcta't'e:w<;. "Die Predigt ist selbst Offenbarung und redet nicht nur von ihr." 73 "Erst im Glauben erschließt sich der Gegenstand des Glaubens; deshalb gehört der Glaube zur Offenbarung selbst." 74 Nicht in dem, was das Wort der Verkündigung aussagt und worauf es verweist, sondern darin, daß es anredend, zusprechend und appellierend "geschieht", liegt das Ereignis der Offenbarung. "Was ist also offenbar geworden? Gar nichts, sofern die Frage nach Offenbarung nach Lehren fragt ... Aber alles, insofern dem Menschen die Augen ge­öffnet sind über sich selbst und er sich selbst wieder verstehen kann."'5

Hier ist also das Geschehen anredender Verkündigung und verstehender, aneignender Glaubensentscheidung selbst die Offenbarung. Da die lei-

71. Glauben und Verstehen, III, 1960, 2. 72. Ebd. 30. 73. Ebd. 21. 74. Ebd. 23. 75. Ebd. 29.

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tende Frage nach Offenbarung die Fraglichkeit menschlicher Existenz selber ist, erschließt die Offenbarung Selbstverständnis in Eigentlichkeit, Gewißheit und Identität mit sich selbst. Das aktuelle Geschehen der Offenbarung ist selber die Gegenwart des Eschaton, denn das "Sein im Augenblick" von Verkündigung und Glauben ist "eigentliches Sein" des Menschen. Eigentliches Sein aber meint die Wiederherstellung der menschlichen Ursprünglichkeit im Sinne der Geschöpflichkeit und den Gewinn der Endgültigkeit im Sinne der Eschatologie. Beides erfüllt sich in der durch Wort und Glauben bestimmten Geschichtlichkeit. Im "Augenblick" der Offenbarung fallen Schöpfung und Erlösung zusam­men76. Das, was offenbart wird, ist identisch mit dem Geschehen, daß Offenbarung geschieht. Hier erheben sich zwei Fragen: 1. Indem die Fraglichkeit menschlicher Existenz exklusiv zur leitenden Frage nach Offenbarung und Heil erhoben wird, und diese Frage alter­nativ zugespitzt wird auf das Sichverstehen aus der verfügbaren "Welt" oder dem unverfügbaren "Gott", wird offensichtlich die Selbstverständ­lichkeit des "Selbstverständnisses" weder hermeneutisch an den überlie­ferten Texten, noch theologisch in Frage gestellt. Warum aber soll das Vorverständnis, das den Menschen nach "Offenbarung" fragen läßt, nur ein "nichtwissendes Wissen" "um sich selbst" und "nicht ein Welt­wissen"77 sein? Warum ist das Wort, das von jeher das Licht der Men­schen war, "natürlich nicht eine kosmologische oder theologische Theorie, sondern ein Sich-selbst-Verstehen in der Anerkennung des Schöpfers"78? Warum gibt Offenbarung nicht eine "Weltanschauung", sondern ein neues "Selbstverständnis"? Was in diesem Zusammenhang von Bultmann als "natürliche" und selbstverständliche Alternative vorausgesetzt wird, ist mitnichten "natürlich", sondern beschreibt exakt eine bestimmte "Weltanschauung" und eine bestimmte Geschiehtsauffassung und Zeit­analyse, nach welcher der Mensch sich selber in seinen sozialen, leiblichen und geschichtlichen Weltbezügen fraglich geworden ist und sein Selbst­sein durch Unterscheidung von der Außenwelt und durch Reflexion aus seinen Objektivationen gewinnt. Grundsätzlich aber liegen "Weltan­schauung" und "Selbstverständnis" auf der gleichen Ebene. Das eine setzt 76. Ebd. 29: "Es ist nicht ein anderes Licht in Jesus erschienen, als es in der Schöpfung immer schon leuchtete. Der Mensch lernt sich im Lichte der Erlösungsoffenbarung nicht anders verstehen, als er sich immer schon verstehen sollte angesichts der Offenbarung in Schöpfung und Gesetz, nämlich als Gottes Geschöpf." 77. Ebd. 26: "Es gibt also eine ,natürliche Offenbarung' ... Aber ... das Wissen um sie ist nicht ein Weltwissen, eine theistische Gottesanschauung, sondern es ist ein Wissen des Menschen um sich selbst." 78. Ebd. 26. Vgl. auch: Das Evangelium des Johannes, 12. Auf!. 1952, 27 ff.

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das andere voraus und ist unlösbar mit ihm verbunden. Nur in der Ent­äußerung in die Welt erfährt der Mensch sich selbst. Ohne Objektivie­rung ist keine Selbsterfahrung möglich. Immer ist das menschliche Selbst­verständnis gesellschaftlich, sachlich und geschichtlich vermittelt. Ein un­mittelbares Selbstbewußtsein und eine undialektische Identität mit sich selbst ist dem Menschen nicht möglich, das zeigt gerade noch die dialek­tische Entgegensetzung von Welt und Selbst bei Buhmann. 2. Es stellt sich theologisch die Frage, ob wirklich der Mensch im Ge­schehen der Offenbarung in Verkündigung und Glaube schon "zu sich selbst" in jener Eigentlichkeit, die Ursprünglichkeit und Endgültigkeit in einem ist, kommt. Dann wäre offenbar der Glaube selbst das prakti­zierte Ende der Geschichte und der Glaubende wäre selbst schon der Vollendete. Es stünde ihm nichts mehr aus und es gäbe nichts, zu dem hin er sich weltlich, leiblich und geschichtlich unterwegs befände. Gottes "Zukünftigkeit" wäre eine "ständige" und des Menschen Offenheit im "Unterwegs-sein" wäre ebenfalls "ständig" und "nähme kein Ende"79 •

Gerade damit aber würde sich die dergestalt "eschatologisch" verstan­dene Existenz des Glaubens umkehren ZU einerneuen Figur der "Epipha­nie der ewigen Gegenwart"80• Käme Jesus mit seinem Wort im Glauben selber schon "zum Ziel"81, so ist es schwer denkbar, daß sich Glaube auf promissio richtet und daß der Glaube selber ein Ziel hat (1. Petr. 1, 9), zu dem hin er unterwegs ist, daß "noch nicht erschienen ist, was wir sein werden" (1. Joh. 3, 2), und also der Glaube auf etwas aus ist, was ihm verheißen ist, was aber noch nicht erfüllt ist. Wenn gerade die Glauben-

79. Glauben und Verstehen, 111, 121: " ... seine ständige Zukünftigkeit ist seine Jen­seitigkeit." 111, 165: " ... der Gott der Geschichte ... der immer kommende Gott." Das U rehristenturn im Rahmen der antiken Religionen, 2. Aufl. 1954, 228: "Die Offenheit der christlichen Existenz nimmt kein Ende." 80. Das hat schon ]. Schniewind gesehen und kritisiert. KuM, I, 100 ff. 103: "Wenn man unter ,eschatologischer Haltung' ein Leben aus dem Unsichtbaren, Unverfügbaren versteht, so wird der Begriff des Eschatologischen zu weit gefaßt. Er deckt sich dann mit dem der Religion überhaupt." 105: "Die Eschatologie fragt nach dem eis ti, fragt nach dem telos, dem Sinn und Ziel dieses Zeitverlaufes, aber nicht nach ewiger Gegen­wart." 81. G. Ebeling, Das Wesen des christlichen Glaubens, 1959, 68, 72; Wort und Glaube, 1960, 311 u. ö. Das hindert nicht daran, Glauben als "wesenhaft auf Zukunft bezogenen Glauben" (248) zu verstehen und zu sagen: " ... der Glaube ist Zukunft" (Wesen des christl. Glaubens, aaO. 231). Diese Zukunft des Glaubens erscheint aber nur in der Reflexion auf die Dimension des Glaubens selbst, wird als "reine (d. h. doch unvermittelte) Zu­kunft" oder "Zukünftigkeit" verstanden. Damit aber wird Glaube als Hoffnung ver­ewigt. Zukunft als Zukünftigkeit und Hoffnung als Hoffen werden damit zu Dimen­sionen oder zu ekstatischen Erstreckungen des "Jetzt des Ewigen". Vgl. Theologie und Verkündigung, 1962, 89 f. und die Kritik von H. Schmidt, Das Verhältnis von neuzeit­limem Wirklichkeitsverständnis und christlichem Glauben in der Theologie G. Ebelings, KuD 9, 1963, 71 ff.

60 Eschatologie und Offenbarung

den auf Grund des eschatologisch verstandenen "Angelds des Geistes", der der Geist der Totenauferweckung ist, auf des Leibes Erlösung war­ten, so bekunden sie damit, daß sie noch nicht zur Identität mit sich selbst gekommen sind, sondern in Hoffnung und Zuversicht daraufhin leben und der Wirklichkeit des Todes hier widerstehen. Gerade im Zusammen­hang der eschatologischen Differenz des "Noch nicht", in welcher der Glaube sich ins Künftige erstreckt, taucht eine Möglichkeit auf, die Welt wahrzunehmen, die nicht identisch ist mit der Verwendung des Begriffs "Welt" als dem Inbegriff der Verfallenheit, des Gesetzes und des Todes, in der Antithese der Rechtfertigungslehre. Wartet der Glaube auf des "Leibes Erlösung" und auf die leibhaftige Auferstehung vom Tode und auf die Vernichtung des Todes, so tritt er in die Wahrnehmung einer tiefen leiblichen Solidarität mit dem "Harren der Kreatur" (Röm. 8, 20 ff.) ein, sowohl in der Unterworfenheit gegenüber dem Nichtigen, wie in der universalen Hoffnung. Die Welt gerät ihm dann nicht unter den Gesichtspunkt des "Gesetzes". Sie ist ihm nicht nur "Welt" im Sinne der defizienten Möglichkeit des Sich-aus-der-Welt-Verstehens, sondern er nimmt sie wahr in der eschatologischen Perspektive der Verheißung. Die Welt selber ist mit ihm dem Nichtigen unterworfen auf Hoffnung hin. Die Zukunft, die ihm die Verheißung des Gottes der Auferstehung öff­net, ist der Kreatur mit ihm und ihm mit der Kreatur gegeben. Die Krea­tur selber ist "unterwegs", und homo viator steht zusammen mit der Wirklichkeit in einer zukunfl:soffenen Geschichte. Er gerät also nicht "in die Lufl:" "zwischen Gott und Welt", sondern gerät mit der Welt in jenen Prozeß, den die eschatologische Verheißung Christi eröffnet. Es ist nicht möglich, von der gläubigen Existenz in Hoffnung und radikaler Offenheit zu sprechen und zugleich die "Welt" für einen Mechanismus oder einen in sich geschlossenen Wirkungszusammenhang im objektiven Gegenüber zum Menschen zu halten. Damit verschwimmt die Hoffnung zur Hoffnung der einsamen Seele im Gefängnis einer versteinerten Welt und wird zum Ausdruck gnostischer Erlösungssehnsucht. Die Rede von der Offenheit des Menschen wird bodenlos, wenn die Welt selber gar nicht offen ist, sondern ein geschlossenes Gehäuse ist. Ohne eine kosmo­logische Eschatologie ist eschatologische Existenz des Menschen nicht aus­sagbar. Die christliche Eschatologie kann sich darum nicht mit dem kan­tianischen Wissenschafts- und Wirklichkeitsbegriff abfinden. Auch die Weise der Welterfahrung ist kein Adiaphoron. Weltbild und Glaube sind vielmehr untrennbar; gerade darum, weil der Glaube die Welt nicht zum Bilde der Gottheit und nicht zum Bilde des Menschen werden lassen kann.

§6

Heilsgeschichtliche Eschatologie und "progressive Offenbarung"

Der ältere Gedanke, Gottes Offenbarung als "progressive Offenbarung" zu verstehen, ist von der Absicht geleitet, die Offenbarung geschichtlich und die Geschichte der Welt als Offenbarung zu nehmen. Derartige Vor­stellungen stammen aus der späten Föderaltheologie (J. Coccejus) und der frühpietistischen Geschichtstheologie, der sog. "prophetischen" und "ökonomischen" Theologie des 17. und 18. Jahrhunderts82• Gegen das orthodoxe, supranaturalistische und doktrinäre Offenbarungsverständnis wurde hier die Bibel als ein Geschichtsbuch gelesen, als der göttliche Kommentar zu den göttlichen Handlungen in der Weltgeschichte. Dieses neue geschichtliche Verständnis der Offenbarung war in einer Wieder­geburt des eschatologischen Chiliasmus im nachreformatorischen Zeit­alter begründet. Es war der Aufbruch eines neuen, eschatologischen Den­kens, der den Sinn für Geschichte ins Leben rief. Die Offenbarung in Christus wurde darum als ein Durchgangsstadium für einen weiterrei­chenden "Reich-Gottes"-Prozeß geschichtlich wahrgenommen und als letztes, aber über sich hinausweisendes Datum der Zukunft verstanden. Gottes Offenbarung ist demzufolge nicht ein "ewiger Augenblick" und das darin aufleuchtende Eschaton nicht "futurum aeternum", sondern die Christusoffenbarung ist dann das letzte, entscheidende Prozeßmo­ment einer Reichsgeschichte, deren Vorgeschichte im Sündenfall, aber auch schon mit der Schöpfung beginnt - sei es mit dem Protevangelium Gen. 3, 15 oder mit der Verheißung der Gottesebenbildlichkeit Gen. 1, 28-und deren Endgeschichte über die Christusoffenbarung geschichtlich und noetisch hinausreicht. Die Christusoffenbarung wird damit eingeordnet in eine übergeordnete Offenbarungsgeschichte, deren Progressivität sich im Gedanken der stufen- und staffelweisen Heilsentwicklung nach einem vorgefaßten Heilsplan ausspricht. Diese heilsgeschichtliche "Plan"theo­logie hat manche auffallende Parallelen zum naturwissenschaftlichen

82. G. Schrenk, Gottesreich und Bund im älteren Protestantismus, vornehmlich bei J. Coccejus, 1923; Gr. Möller, Föderalismus und Geschichtsbetrachtung im 17. und 18. Jh., ZKG 3. Folge I, L. Bd. 1931, 397 ff.; ]. Moltmann, J. Brocard als Vorläufer der Reich-Gottes-Theologie, ZKG 4. Folge IX, LXXI. Bd. 1960, 110 ff.; G. Weth, Die Heilsgeschichte, 1931; F. W. Kantzenbach, Vom Lebensgedanken zum Entwicklungs­denken in der Theologie der Neuzeit, ZRGG 15, 1963, 55 ff.; E. Fülling, Geschichte als Offenbarung, 1956: Zur kritischen Beurteilung siehe K. G. Steck, Die Idee der Heils­geschichte. Von Hofmann- Schlatter- Cullmann, ThSt H. 56, 1959. Stecks Schlußbemer­kung, Fichtes Satz heute neu zu erwägen: "Nur das Metaphysische, keineswegs das Historische macht selig; das letzte macht nur verständig", scheint mir allerdings angesichts des Kontextes, in dem dieser Satz bei Fichte selber steht, keine Lösung anzudeuten.

62 Eschatologie und Offenbarung

Deismus des 17. und 18. Jahrhunderts und ist durchaus ein frommes Kind der Aufklärungszeit. Darum kann sie sich sowohl pietistisch wie rationalistisch, heilsgeschichtlich wie fortschrittsgeschichtlich äußern83 •

Ihr eigentliches Pathos liegt dabei jedoch weniger in der Aufklärung des göttlichen Heilsplans der Geschichte, sondern vielmehr darin, aus den geschichtlich aufeinander und über sich hinausweisenden Zeugnissen der Schrift von der Geschichte ein "Hoffnungssystem" (J. A. Bengel) zu ent­wickeln und mit ihm die Frage nach der Zukunft und dem Ziel der Chri­stusoffenbarung für die Völker, für die Leiblichkeit, für die Natur und für Israel zu beantworten. Diese Theologie einer heilsgeschichtlich-pro­gressiven Offenbarung Gottes in der Geschichte - gedacht als esoterisches Wissen eingeweihter Zirkel- ist insofern "ökonomisch", als sie die "Öko­nomien", die Heilsveranstaltungen Gottes in der Vergangenheit zur Er­kenntnis bringt und so vergangene Geschichte in begriffene Geschichte aufhebt und auf der anderen Seite aus den Wegen Gottes in der Vergan­genheit Schlüsse für sein zukünftiges Handeln zieht. Sie ist im letzten Sinne "prophetisch", da sie die Zukunft aus den über die Gegenwart hinausweisenden Weissagungen und Ereignissen der Vergangenheit zu entwerfen und zu enthüllen sucht. Ihre Wahrheit liegt sicherlich darin, daß sie sich überhaupt aufmachte, nach der inneren Tendenz und dem eschatologischen Horizont der Zu­kunft in der geschichtlichen Gottesoffenbarung zu fragen. Ihre Verfüh­rung aber ist darin zu sehen, daß sie die eschatologische Progressivität der Heilsgeschichte aus anderen "Zeichen der Zeit" als aus Kreuz und Auferstehung in Erfahrung zu bringen suchte: aus einem apokalyptisch gedeuteten Verfall der Kirche und dem Altern der Welt oder aus einem optimistisch gedeuteten Fortschritt der Kultur und der Erkenntnis, daß also Offenbarung zu einem Prädikat der Geschichte wurde und "Ge­schichte" deistisch zu einem Substitut für Gott wurde. Die Bedingung für diese Möglichkeit heilsgeschichtlicher Theologie liegt in der Neublüte apokalyptischen Hoffensund Denkens, die sowohl theo­logisch wie profan mit der Geburt der "Neuzeit" verbunden ist. Doch handelt es sich um eine Apokalyptik in kosmologischer und welt­geschichtlicher Hinsicht, die auf einem historiko-theologischen Gottes­beweis aus der Geschichte beruht. Sie ist nicht durch das Feuer der Kant­schenKritik gegangen und hat sichdieser Kritik-auch in ihren Vertretern

83. Es sei nur an die erstaunliche Parallelität zwischen pietistischem und aufklärerischem Chiliasmus erinnert, an Bengel und Lessing, Chr. A. Crusius und tltinger, Herder und Menken, Hegel und von Hofmann, Rothe und Blumhardt. Vgl. dazu Fr. Gerlich, Der Kommunismus als Lehre vom tausendjährigen Reich, 1921.

Heilsgeschichtliche Eschatologie und vProgressive Offenbarung" 63

im 19. Jahrhundert- nie gestellt, diese Kritik ihrerseits auch kaum kri­tisiert. Wo sie in der romantischen Theologie der Heilsgeschichte im 19. Jahrhundert auftritt, behält sie durchweg diesen unkritischen Cha­rakter. Damit aber ließ sie sich niemals wirklich auf den Geist der Neu­zeit ein und geriet in die Abständigkeit einer esoterischen Kirchenlehre. Doch ist damit der Wahrheitsgehalt dieses theologischen Denkens noch nicht abgetan. Seine verborgene Polemik gegen einen abstrakten Mate­rialismus und einen ungeschichtlichen Historismus muß beachtet werden, auch wenn diese Polemik aufs Ganze gesehen mißlungen ist. Im württembergischen Pietismus wurde bei]. A. Bengel und Fr. Ötinger die Geschichte als ein lebendiger "Organismus" verstanden. Ötingers "Theologia ex idea vitae deducta", 1765, führte den Begriff des Lebens in die Theologie ein und versuchte damit, Raum für ein ganzheitliches Denken zu schaffen84• Dieser Begriff des Lebens und des Organismus war weniger naturalistisch, als vielmehr eschatologisch ausgerichtet auf den erwarteten Durchbruch der himmlischen Lebensherrlichkeit in der Auferstehung. Er hatte seine polemische Front im mechanistischen Weh­bild der aufklärerischen Naturwissenschaft und in dem damit verbunde­nen idealistischen Subjektivismus. Das Geschichtliche sollte nicht als eine Sammlung von außerhalb des Menschen befindlichen Tatsachen berech­net, sondern als ein "organisch" den Menschen umschließender "Lebens­strom" verstanden werden. Wenngleich die verwendeten Ausdrücke aus dem Naturleben stammen und zum Erfassen der Geschichte wenig kom­mensurabel erscheinen, so ist die in ihnen ausgesprochene Kritik an La­mettries "L'homme machine" und am ungeschichtlichen naturwissen­schaftlichen Materialismus der westeuropäischen Aufklärung beachtlich. Der Eindruck vom "Maschinenwerk der Welt" und von dem "Hain", der zu "Hölzern" geworden ist, wird mit der Lebenstheologie der Heils­geschichtler angegriffen. Damit gewinnen die neuen Zentralbegriffe "Ge­schichte" und "Leben" Bedeutung für die Überwindung der neuzeit­lichen Spaltung in "Subjektivität und Verdinglichung". Sie sind von He­gel auch in diesem Sinne vermutlich aus der württembergischen Tradi­tion aufgenommen worden. Jedenfalls ist es den Intentionen von Ötinger entsprechend, wenn Karl Marx in seiner Kritik am abstrakten natur­wissenschaftlichen Materialismus und an Ludwig Feuerbach sagt: "So­bald dieser tätige Lebensprozeß dargestellt wird, hört die Geschichte auf, eine Sammlung toter Fakta zu sein, wie bei den selbst noch abstrakten Empirikern, oder eine eingebildete Aktion eingebildeter Subjekte, wie

84. W. A. Hauck, Das Geheimnis des Lebens. Naturanschauung und Gottesauffassung Fr. Chr. Otingers, 1947.

64 Eschatologie und Offenbarung

bei den Idealisten"85• Beide Abstraktionen, Subjektivität und Verding­lichung, gewinnen Realität und verlieren ihren abstrakten, geschichts­losen Charakter im dialektischen Prozeß. Die Frage ist nur, worin dieser Prozeß besteht, wessen Prozeß er ist und worauf er zielt. Weiter hat die Idee der Heilsgeschichte einen betont antihistoristischen Tenor. Auberlen erklärte: "Die jetzige Aufgabe der Theologie besteht in der Überwindung des rationalistischen unhistarischen Historizismus ... durch Erkenntnis der heiligen Geschichte. "86 Bemerkenswert ist an die­sem Satz nur die Behauptung, daß der Historismus "unhistorisch" sei. Seine Überwirtdung durch eine offensichtlich nicht rationale Erkenntnis der "heiligen Geschichte" bleibt illusionär, solange nicht ein neues Ver­ständnis von ratio gewonnen werden kann. Die heilsgeschichtliche Theo­logie hat es niemals vermocht, die historischen Verstehensprinzipien sel­ber kritisch zu verändern, und erscheint darum im Zeitalter historisch­kritischer Forschung stets als eine anachronistische Verschleierung der Krise, in die die Offenbarungstheologie in der Neuzeit geraten ist. Die "Entzauberung" der Geschichte durch historische Wissenschaß: kann kei­nesfalls durch eine romantische, metahistorische, gläubige Verzauberung der Geschichte wieder rückgängig gemacht werden. Nur wenn der histo­risch-kritischen Wissenschaß: ihre eigene Geschichtlichkeit als Vorausset­zung und methodisches Prinzip aufgedeckt wird, kann in ihr die Mög­lichkeit verwirklicht werden, die Geschichte "geschichtlich" zu verstehen, und einen "unhistarischen Historismus" zu überwinden. Die herkömm­liche, heilsgeschichtliche Theologie verhält sich zur historischen Kritik ähnlich wie Goethes Farbenlehre zu Newtons Lichtanalyse. Sie hat ästhetische und poetische Kategorien für sich, doch keine, mit denen die Realität der heutigen Geschichte erfaßt und verändert werden könnte. Das eigentliche Anliegen der heilsgeschichtlichen Theologie lag nun aber

85. Frühschriften, ed. Landshut, 1953, 350. Vgl. auch 330: "Unter den der Materie ein­geborenen Eigenschaften ist die Bewegung die erste und vorzüglichste, nicht nur als mechanische und mathematische Bewegung, sondern mehr noch als Trieb, Lebensgeist, Spannkraft, als Qual - um den Ausdruck Jacob Böhmes zu gebrauchen - der Materie . . . . In seiner Fortentwicklung wird der Materialismus einseitig ... Die Sinnlichkeit ver­liert ihre Blume und wird zur abstrakten Sinnlichkeit des Geometers. Die physische Bewe­gung wird der mechanischen oder mathematischen geopfert. Der Materialismus wird men­schenfeindlich", weil er, wie es an anderer Stelle (338, 346, 354) heißt, "sich aus der Geschichte ausschließt". Dieser romantische Kampf von Marx gegen den sinnlichen Materialismus Feuerbachs und den abstrakten, naturwissenschaftlichen Materialismus wiederholte sich in der russischen Revolution praktisch im Konflikt zwischen Trotzki und Stalin. Trotzki verstand den Revolutionär nicht als "Ingenieur der Macht", son­dern als "Arzt" am Lebensprozeß des sozialen Organismus. Dieser Konflikt wiederholte sich theoretisch in der Diskussion zwischen G. Lukacs, K. Korschund Lenin. 86. Zitiert nach G. Weth, aaO. 97.

Heilsgeschichtliche Eschatologie und »progressive Offenbarung« 65

weniger im metahistorischen Erfassen der "heiligen Geschichte« als viel­mehr im Aufweis eines weltgeschichtlich-eschatologischen Horizontes der Offenbarung. Diese Absicht liegt dem Begriff der "progressiven Offen­barung" zugrunde. Im Banne einer transzendentalen Eschatologie wird, wie gezeigt, die Offenbarung gleich-gültig gegenüber den Zeiten der Geschichte. Alle Zei­ten werden gleich unmittelbar zur Ewigkeit, und Geschichte wird zum Inbegriff der Vergänglichkeit. Mit Recht sagt R. Rothe in seinem be­rühmten Offenbarungsaufsatz: "Diese (scil. die Schrift) zeigt uns eine ganz anders geartete Offenbarung. Sie beschreibt sie vor allem als eine Reihe, und zwar eine stetig in sich zusammenhängende Reihe von wun­derbaren Geschichtstatsachen und Geschichtsveranstaltungen, an die sich dann, in bestimmtem pragmatischen Zusammenhange mit ihnen, über­natürliche Erleuchtungen von Propheten anknüpfen, in mannigfacher Form, als Visionen und als innere Ansprachen durch den Geist Gottes, weniger zum Behufe der Mitteilung von neuen, religiösen Lehrerkennt­nissen als zum Behufe der Vorausandeutung zukünftiger Geschichtsereig­nisse. "87 Beide Gestalten der Offenbarung, die "äußere Manifestation" und die "innere Inspiration"- eine Unterscheidung als" Tatoffenbarung" und "W ortoffenbarung", die immer wieder gemacht wird, - sind ge­schichtlich bedingt, woraus folgt, daß die göttliche Offenbarung sich all­mählich durch die Dialektik von Geschehen und Wort in einer Reihen­folge vorangekündigter und geschehender Ereignisse vollzieht und auf ein Ende in der Erfüllung ihrer selbst hindrängt. "Die fortschreitende Entwicklung des Reiches des Erlösers ist zugleich eine stetig fortschrei­tende Offenbarung der absoluten Wahrheit und Vollkommenheit des­selben. "88 So wird bei R. Rothe, dann in Abwandlung auch bei Bieder­mann und E. Troeltsch, Offenbarung Gottes wohl als Selbstoffenbarung verstanden, verbunden jedoch mit der heilsgeschichtlich orientierten Vor­stellung von einer eschatologisch-progressiven, dialektisch fortschreiten­den Selbstverwirklichung des Offenbarers. Das aber bedeutet, daß die gegenwärtige Geschichte, die Geschichte der Neuzeit in ihrer Progressivi­tät von Kultur, Wissenschaft und Technik als Prozeßmoment der sich selbst verwirklichenden Offenbarung Gottes und seines Reiches darge­stellt werden muß. Die kulturprotestantische Theologie der progressiven Offenbarung mußte darum die apologetische Frage eines überholten, an­tiquarisch gewordenen Christentums nach seiner eigenen Aktualität da­mit beantworten, daß sie die verborgene Christlichkeit oder Reichs-

87. R. Rothe, Zur Dogmatik, 1863, 59. 88. Ethik, 1867, § 570. Vgl. auch A. E. Biedermann, Christliche Dogmatik, 1884, § 987.

66 Eschatologie und Offenbarung

geschichtlichkeit der das überkommene Christentum überholenden Neu­zeit aufwies. "Warum sperrt sich die Kirche gegen die kulturelle Ent­wicklung?", fragte R. Rothe und antwortete: "0, ich schreibe es mit Er­röten nieder: aus Furcht für den Glauben an Christus. Das ist mir nicht Glaube, sondern Kleinglaube. Aber das ist eben die Folge jenes Unglau­bens an die wirkliche, an die effektive Weltherrschaft des Heilandes."89

Bei E. Troeltsch lautet diese Frage: "Sind wir noch unter die Kontinuität des Christentums zu stellen oder wachsen wir in eine religiöse Zukunft hinein, die nicht mehr christlich ist?"90 Seine Antwort war die Idee einer progressiven Offenbarung, die in jeder Zeit neu den Zeitgeist mit der überlieferten christlichen Verkündigung zur Synthese bringt. Ahnliehe Fragen und Antworten waren in den Kreisen um die Blumhardts und bei den "Religiös-Sozialen" lebendig. Wenngleich die Theologie der progressiven Offenbarung es niemals zu einer "Überholung der Moderne" (Rosenstock-Huessy) gebracht hat, so stecken doch Momente in ihr, die nicht schon dadurch erledigt sind, daß eine transzendentale Eschatologie alle Zeiten der Geschichte gleich-gültig macht. Wenngleich die Idee der Heilsgeschichte philosophisch anachroni­stisch und theologisch deistisch ist, ist in ihr doch die Frage nach dem eschatologischen Zukunftshorizont der Christusoffenbarung für die Welt, die sich in Geschichte befindet, aufbewahrt. D. h. alle Themen der heils­geschichtlichen Eschatologie - wie die Sendung an die Völker, das Ge­spräch über die Zukunft Israels, die Zukunft der Weltgeschichte, der Kreatur und des Leibes- sind die eigentlichen Themen christlicher Escha­tologie überhaupt, nur können sie nicht im herkömmlichen Sinn heils­geschichtlich gedacht werden. Die entscheidende Frage ist die, ob "Offen­barung" die erhellende Deutung eines vorhandenen, dunklen Lebens­prozesses in der Geschichte ist, oder ob Offenbarung selber den Prozeß der Geschichte setzt, treibt und anführt; ob mithin, wie Barth fragte, Offenbarung ein Prädikat der Geschichte ist oder Geschichte als ein Prä­dikat der eschatologischen Offenbarung verstanden, erfahren und erwar­tet und im Gehorsam gewollt werden muß.

89. R. Rothe, Vorträge, 1886, 21. 90. Glaubenslehre, 1925, 49.

§7

"Geschichte" als indirekte Selbstoffenbarung Gottes

Ein noch in mancher Hinsicht offener V ersuch, das theologische Bedenken der "Selbstoffenbarung" Gottes aus der Reflexionsphilosophie der trans­zendentalen Subjektivität zu lösen, findet sich in dem Programmheft "Offenbarung als Geschichte", 1961, von W. Pannenberg, R. Rendtorff, U. Wilckens und T. Rendtorff91 •

Der seit Kants Kritik und dem auf ihr fußenden Wissenschaftsbegriff entstandene Eindruck der Unbeweisbarkeit Gottes und seines Handeins in der Geschichte und der objektiven Unausweisbarkeit der Offenbarung hatte die Theologie genötigt, von Offenbarung nur noch im Rahmen und Fragezusammenhang der transzendentalen Subjektivität zu reden. Da­mit aber war die Theologie keineswegs endlich zu ihrem eigenen Ge­schäft gekommen, sondern war vielmehr in eine negative Allianz zu einer bestimmten, neuzeitlichen Weise der Welterfahrung geraten. Soll dieser Bann gebrochen werden und eine Alternative zu dieser Art Offen­barungstheologie gefunden werden, so muß damit notwendig eine Alter­native zum modernen, nachkantianischen Wissenschaftsbegriff, zum kri­tischen Vernunftbegriff und zur Historik des historisch-kritischen Um­gangs mit der Wirklichkeit verbunden sein. Eine Alternative zur Offen­barungstheologie des Glaubens muß dann auch jene Kritik des Wissens kritisieren, die Kant aufstellte, "um zum Glauben Platz zu bekommen". Sie muß die Frage nach Gott nicht mehr exklusiv aus der Fraglichkeit der Subjektivität des Menschen, sondern inklusiv aus der Fraglichkeit der Wirklichkeit im Ganzen erheben und von Gottes Offenbaren und Handeln in diesem umfassenden Fragezusammenhang reden. Der Ansatz in "Offenbarung als Geschichte" geht darum nicht von dem Gottesbeweis aus der Existenz, bzw. dem Aufweis der Frage nach Gott aus der Fraglichkeit der Existenz aus, sondern von dem Beweis Gottes aus dem Kosmos, bzw. dem Aufweis der Frage nach Gott aus dem Auf­weis der Frage nach der Wirklichkeit im Ganzen. An die Stelle der "Ke­rygmatheologie" und der Vorstellung von einer unmittelbaren Selbst­offenbarung Gottes im appellierenden Wort tritt darum die Erkenntnis einer "indirekten Selbstoffenbarung Gottes im Spiegel seines Geschichts-

91. Vgl. ferner: W. Pannenberg, Heilsgeschehen und Geschichte, KuD 5, 1959, 218-237, 259-288; R. Rendtorff, "Offenbarung" im Alten Testament, ThLZ 85, 1960, 833-838; Kl. Koch, Spätisraelitisches Geschichtsdenken, HistZ Aug. 1961; W. Pannenberg, Her­meneutik und Universalgeschichte, ZThK 60, 1963, 90 ff.; R. Rendtorff, Gesdllchte und Wort im Alten Testament, EvTh 22, 1962, 621 ff.

68 Eschatologie und Offenbarung

handelns" 92• "Die Begebenheiten werfen als Taten Gottes ein Licht auf Gott selbst zurück, teilen indirekt etwas über Gott selbst mit. "93 Da aber jedes einzelne Geschehen als Tat Gottes genommen das Wesen Got­tes nur partiell beleuchtet, kann Offenbarung im Sinne der vollen Selbst­offenbarung Gottes in seiner Herrlichkeit nur dort möglich sein, wo das Ganze der Geschichte als Offenbarung verstanden wird. "Die Geschichte als Ganze ist also Offenbarung Gottes. Da sie noch nicht zuende ist, wird sie erst vom Ende her als Offenbarung erkennbar. "94 Darum findet die volle Selbstoffenbarung Gottes nicht "am Anfang, sondern am Ende der offenbarenden Geschichte statt" 95 • Ein solches Ende der Geschichte haben die spätjüdischen Apokalyptiker in der allgemeinen Totenauferstehung in außerordentlichen Visionen vorausgeschaut. Im (Auferstehungs-) "Geschick" Jesu von Nazareth ist das Ende der Geschichte darum vor­weg ereignet. Denn mit seiner Auferstehung ist an ihm bereits geschehen, was allen anderen Menschen noch bevorsteht96• Ist seine Auferstehung die "Vorwegereignung", die Antizipation, die Prolepse des universalen Endes, dann ist folglich in seinem Geschick Gott indirekt selbst offenbar als der Gott aller Menschen97•

Diese universalgeschichtliche Theologie stellt sich zunächst offensichtlich als eine Erweiterung und Überholung der griechischen Kosmostheologie dar. Es tritt an die Stelle des kosmologischen Gottesbeweises, der aus der "Wirklichkeit als Kosmos" auf die eine göttliche cipx~ schloß und so einen kosmologischen Monotheismus aufwies, eine Geschichtstheologie, die aus der Einheit der "Wirklichkeit als Geschichte" im gleichen Rück­schlußverfahren auf den einen Gott der Geschichte schließt98• Die er­kenntnistheoretische Methode bleibt die gleiche, nur tritt an die Stelle des in sich geschlossenen Kosmos, der in ewiger Wiederkehr des Gleichen in seiner Symmetrie und Harmonie zur Theophanie wird, ein zukunfts­offener Kosmos mit teleologischem Gefälle. "Geschichte" wird damit zum neuen Inbegriff der "Wirklichkeit in ihrer Totalität"99• An die Stelle der metaphysischen Einheitsspitze des Kosmos tritt der eschatologische Ziel-92. Offenbarung als Geschichte, aaO. 15. 93. Ebd. 17. 94. R. Rendtorff, ThLZ aaO. 836. 95. Offenbarung als Geschichte, 95. 96. Ebd. 104. 97. Ebd. 98, 104 ff. 98. Zur Verwendung des Rückschlußverfahrens vgl. W. Pannenberg, Die Aufnahme des philos. Gottesbegriffs als dogmatisches Problem, ZKG 70, 1959, 11; ders. Heils­geschehen und Geschichte, aaO. 129; ders. Offenbarung als Geschichte, 104. Dieses Rück­schlußverfahren setzt eine ungelöste Verbundenheit Gottes mit der Geschichte voraus, auf deren Boden von dieser auf ihn geschlossen werden kann. Da dieses auch die Grund­lage des kosmologischen Gottesbeweises ist, wird "Geschichte" hier als indirekte Theo­phanie verstanden, ebenso wie seinerzeit der Kosmos in der griechischen Kosmologie. Es fragt sich aber, ob Geschichte in diesem Sinne biblisch verstanden wird. 99. Heilsgeschehen und Geschimte, aaO. 222.

,.Geschichte" als indirekte Selbstoffenbarung Gottes 69

und Einheitspunkt der Geschichte. Wie von jener metaphysischen Ein­heitsspitze her der Kosmos als indirekte Gottesoffenbarung, so wird nun vom Ende der Geschichte her Geschichte als indirekte Gottesoffenbarung

~ erkennbar. Das beibehaltene Rückschlußverfahren der Gotteserkenntnis­"im Spiegel seiner Geschichtstaten" - führt dazu, daß Gotteserkenntnis grundsätzlich erst möglich wird post festurn und aposteriori im Rück­blick auf vollendete Tatsachen und eingetroffene Weissagungen in der Geschichte. Das aber wäre Gotteserkenntnis mit den Augen der "Eule der Minerva", die ihren Flug laut Hegel erst dann beginnt, "wenn eine Gestalt des Lebens alt geworden ist und sich vollendet hat" 100• An die Stelle der Kerygmatheologie, die Gott im Geschehen des anredenden Wortes wahrnimmt, würde dann eine Geschichtstheologie treten, die Gott aus der "Sprache der Tatsachen" vernimmt. Wie in der griechischen Kos­mostheologie das ewige Sein Gottes im Seienden indirekt erscheint und aus ihm erschlossen werden kann, so würde hier Gottes Wesenheit in den Ge-wesenheiten der Geschichte wiedererkannt. Nun macht zwar die Tatsache, daß das "Ende der Geschichte" noch nicht da ist, sondern sich allererst im Geschick Jesu vorwegereignet hat, auch das Erkennen Gottes in der Geschichte zu einer stets nur proleptischen, antizipatorischen Er­kenntnis. Dennoch wird die alttestamentliche Grunderkenntnis, daß "Geschichte das zwischen Verheißung und Erfüllung hineingespannte Ge­schehen" sei, von der Pannenberg und Rendtorff ausgingen, im Grunde preisgegeben zugunsten einer sich an der "Wirklichkeit im Ganzen" in Uberbietung der griechischen Kosmostheologie bewährenden, universal­geschichtlichen Eschatologie101". Diese gewinnt ihren eschatologischen Charakter nur daraus, daß die Wirklichkeit noch nicht im Ganzen an­schaulich ist, weil sie noch nicht zu Ende ist. Damit aber droht der Ver­heißungsgott des Alten Testamentes zu einem Theos epiphanes zu wer­den, dessen Epiphanie das Ganze der Wirklichkeit darstellen wird in ihrer Vollendung. Die Welt wird einmal Theophanie, indirekte Selbst­offenbarung Gottes in Totalität sein. Da sie es noch nicht ist, ergibt sich eine Zukunftsoffenheit der Wirklichkeit und eine eschatologisch qualifi­zierte "Vorläufigkeit" aller Welt- und Gotteserkenntnis. Das aber würde heißen, daß die Denkstrukturen der griechischen Kosmostheologie grund­sätzlich bleiben, nur werden sie eschatologisch verwendet. Das beibehal­tene Rückschlußverfahren führt dabei zu einem Verständnis von "ge­schichtlicher Tatsache", das sich mit dem darin implizierten Begriff von 100. G. W. F. Regel, Grundlinien der Philosophie des Rechtes. ed. J. Hoffmeister, 4. Aufl. Berlin 1956, Vorrede 17. 101 a. Dieses ist kritisch auch schon von ]. Robinson, Heilsgeschichte und Lichtungsge­schichte, EvTh 22, 1962, 116, bemerkt worden.

70 Eschatologie und Offenbarung

Sein, von "Spiegel" und "Bild", gegen die Verbindung mit Glauben und Hoffen und sogar mit "Geschichte" zu sträuben scheint101b. Es bleibt un­deutlich, ob an die Stelle der Theophanie in der Natur nur eine Theo­phanie in der Geschichte als zukunftsoffener Natur tritt, oder ob die grundsätzlich andere Bedingung für die Möglichkeit der Wahrnehmung der Wirklichkeit als Geschichte, nämlich aus der Verheißung, gemeint ist. Diese der Worttheologie entgegengestellte Geschichtstheologie bleibt solange der Kritik Kants an der theologischen Metaphysik ausgesetzt, als sie nicht selber kritisch auf die Bedingung für die Möglichkeit der Wahrnehmung der Wirklichkeit als Geschichte im eschatologisch und theologisch qualifizierten Sinne reflektiert. Wenn es heißt, daß diese "Theologie der Geschichte" sich von der herkömmlichen heilsgeschicht­lichen Theologie darin unterscheide, "daß sie prinzipiell historisch veri­fizierbar" sein wolle102, so ist gerade diese These nicht möglich, solange nicht der Begriff des "Historischen" verwandelt und von eben der Theo­logie der Geschichte her neu geprägt wird. So lange in dieser Theologie der Geschichte "Gott" als das mit der Frage nach der Einheit und Ganzheit der Wirklichkeit Erfragte genommen wird, ist der Ausgangspunkt offensichtlich ein anderer als in der Frage nach Gott und seiner Verheißungstreue in der Geschichte, die durch Ver­heißung und Erwartung allererst aufgeworfen wird, wie es im Alten Testament geschieht. Damit ist die von Pannenberg bearbeitete Frage nach einem entsprechenden Weltverständnis der Theologie oder nach einer Bewährung der Gottesaussagen an dem Ganzen der Wirklichkeit allerdings ebensowenig irrelevant, wie die Frage nach einem ent­sprechenden Selbstverständnis oder der Bewährung der Gottesaussagen am menschlichen Dasein bei Buhmann. Die "Theologie der Geschichte" ist vielmehr eine notwendige Ergänzung für die "Theologie der Exi­stenz". Der Streit zwischen Worttheologie und Geschichtstheologie der Offen­barung ist unlösbar, solange nicht diese beiden Endprodukte der Ab-101 b. Hierin hat H. G. Geyer, Gesdlichte als theologisches Problem, EvTh 22, 1962, 103, recht, wenn er sagt: "Ein Faktum hat als abgeschlossenes seine Zeit gehabt und das ihm entsprechende Bewußtsein ist die Erinnerung und deren methodisch entwickelte Form des historischen Wissens; die Verheißung indes hat ihre Zeit stets noch vor sich." Aller­dings gibt es auch Hoffnung im modus der Erinnerung und als historisches Geschehen, das seine Zukunft noch vor sich hat. Nur müßte das in einem neuen Begriff von Erin­nerung und historischem Wissen formuliert werden. Vgl. ]. .Moltmann, Verkündigung als Problem der Exegese, MPTh 52, 1963, 24 ff. K. Barth, Römerbrief, 2. Auf!. 1922, 298: "Was nicht Hoffnung ist, das ist Klotz, Block, Fessel, schwer und eckig wie das Wort Wirklichkeit; es befreit nicht, sondern nimmt gefangen." E. Bloch, Das Prinzip Hoff­nung, I, 1959, 242: "Das factumist eine geschiehtsiremde Klotzmaterie." 102. W. Pannenberg, Heilsgesdlehen und Gesdlid1te, aaO. 287.

"Geschid1te• als indirekte Selbstoffenbarung Gottes 71

Straktion aus der Reflexionsphilosophie in einem übergreifenden oder offenen Dritten überwunden werden. Dieser Versuch liegt in einer zwei­ten Hinsicht der Entfaltung von "Offenbarung als Geschichte" im Be­griff der "Vberlieferungsgeschichte" vor103. Mit einem Verständnis der Geschichte als Überlieferungsgeschichte wird nicht mehr eine Alternative zur Kerygmatheologie geboten, wie im - doch nur polemisch gemeinten -Ausdruck von der "Sprache der Tatsachen", sondern wird der Versuch unternommen, das Auseinandergetretene - nämlich "Wort", Wortgesche­hen, Deutung, Wertung usw. auf der einen, und "Faktum", Tatsachen und Tatsachenzusammenhänge auf der anderen Seite - wieder zu um­greifen. Die Geschichtstheologie der "Sprache der Tatsachen" meint nicht die bruta facta, wie sie der positivistischen Historie als Endprodukte der Abstraktion von der Überlieferung erscheinen, sondern meint diese gött­liche "Sprache der Tatsachen im Kontext des Überlieferungs- und Er­wartungszusammenhanges, in den hinein die Begebenheiten sich ereig­nen"104. In diesem Sinne ist "Geschichte immer auch überlieferungsge­schichte"105."Überlieferungsgeschichte ist eben als der tiefere Begriff von Geschichte überhaupt anzusehen. "105" Die Gott offenbarenden Ereignisse müssen in und mit dem Überlieferungszusammenhang genommen wer­den, in den hinein sie geschehen sind und mit dem zusammen allein sie ihre ursprüngliche Bedeutung haben. Die moderne Trennung von "Fak­tizität" und "Bedeutung" wird im Verständnis der Geschichte als über­lieferungsgeschichte damit in analoger Weise aufgehoben wie in der "Theologie des Wortgeschehens" von G. Ebeling. Kommen dort die Ereignisse mit dem Wort zur Geltung, dem sie sich ursprünglich kund­getan haben, so hier die Worte und Überlieferungen mit den geschicht­lichen Ereignissen106. Die entscheidende Frage aber stellt sich darin, wie die cartesianische und kantianische Aufspaltung der Wirklichkeit und ihrer Wahrnehmung überwunden wird. Die Absicht, die wirklichen Ge­schehnisse in ihrem ursprünglichen Erfahrungs- und Überlieferungszu­sammenhang zu nehmen, in welchem sie damals zur Sprache kamen, kann sowohl hermeneutisch vom Wortgeschehen wie universalhistorisch vom Ereignis im Ganzen der geschichtlichen Wirklichkeit ausgehen. Bei­des aber muß sich ausweisen an der historischen Kritik, die das neuzeit­liche Bewußtsein an den Überlieferungen übt und üben muß. Daß Ver-

103. Besonders betont findet sich diese Wendung in den Aufsätzen von W. Pannenberg und R. Rendtorff in: Studien zur Theologie der alttestamentlichen Überlieferungen, 1961. 104. W. Pannenberg, Offenbarung als Geschichte, aaO. 112. 105. Offenbarung als Geschichte, aaO. 112. 105 a. W. Pannenberg, Studien zur Theologie der alttestamentlichen Überlieferungen, 1961,139. 106. Theologieund Verkündigung, 1962, 55.

72 Eschatologie und Offenbarung

gangenheit uns in der "Sprache der Überlieferung" begegnet und nur darin zugänglich ist, ist nie bestritten worden. Fraglich war nur, ob diese "Sprache der Überlieferung" in Bezug auf die der historischen Kritik zugängliche Wirklichkeit "stimmt". Die historische Kritik an den christlichen Überlieferungen setzt seit der Aufklärung in zunehmender Radikalität eine Krise der Traditionen voraus, wenn nicht gar einen revolutionären Traditionsbruch107• Seit dieser Krise und dieser Kritik ist "Tradition" nicht mehr "das Selbstverständliche". Das Verhältnis zur Geschichte als Tradition ist ein reflektiertes geworden und hat seine Un­mittelbarkeit verloren. Will man darum "Geschichte als Überlieferung" verstehen, so muß ein neuer Begriff von "Überlieferung" gewonnen wer­den, der die historische Kritik und ihr Krisenbewußtsein von Geschichte in sich aufhebt, ohne sie zu verneinen oder zu verharmlosen. Dieses Pro­blem läßt sich nicht schon mit dem Nachweis erledigen, daß auf mancher­lei Wegen und Irrwegen auch das neuzeitliche Geschichtsdenken über­lieferungsgeschichtlich aus dem biblischen Geschichtsdenken stamme, denn es geht ja nicht so sehr um die Herkunft des modernen historischen Be­wußtseins als um seine Zukunft. Als besonders schwierig erweist sich theologisch die These, daß die Auf­erweckung Jesu von den Toten die historisch nachweisbare Prolepse, die Antizipation und Vorwegereignung des Endes der Universalgeschichte sei, sodaß in ihr in vorläufiger Weise das Ganze der Wirklichkeit als Geschichte anschaulich würde. Die These, daß dieses Geschehen der Auf­erweckung Jesu grundsätzlich "historisch" verifizierbar sein müßte, müßte zuvor den Begriff des Historischen so verwandeln, daß er Auf­erweckung durch Gott zuläßt und in dieser Auferweckung das angesagte Ende der Geschichte erkennbar machen kann. Die Auferweckung J esu historisch verifizierbar zu nennen, setzt einen Geschichtsbegriff voraus, der von der Erwartung einer allgemeinen Totenauferstehung als des Endes und der Vollendung der Geschichte beherrscht ist. Zwischen Ge­schichtsbegriff und Auferstehung liegt somit ein Zirkel des V erstehens vor. Die theologisch erhebliche Frage ist aber, ob ein solches apokalyptisches Geschichtsverständnis - dazu in Reduktion auf die Erwartung allgemei­ner Totenauferweckung- ausreicht, um die Ostererscheinung des Aufer­standenen im Überlieferungs- und Erwartungszusammenhang ihrer Wahrnehmung durch die Jünger zu erfassen. Wenn allein das Aufer­weckungs"geschick" Jesu die Vorwegereignung des Endes aller Geschichte

107. Vgl. das Diskussionsvotum von J. Ritter zu dem Vortrage von J. Pieper, über den Begriff der Tradition, AGF NRW 72, 1958, 45 ff.

,.Geschichte« als indirekte Selbstoffenbarung Gottes 73

und die Antizipation des allen Menschen ausstehenden "Geschicks" wäre, so hätte der auferstandene Jesus selber keine Zukunft mehr. Es wäre auch nicht er selber, auf den die ihn erkennende Gemeinde warten würde, sondern nur die Wiederholung seines Geschicks an ihr selber. Sie würde darauf warten, daß sich an ihr das wiederholen werde, was be­reits an Jesus geschehen ist, nicht aber auf die Zukunft des Auferstande­nen. So gewiß die Ostererscheinungen Jesu in den apokalyptischen Kate­gorien der Erwartung der allgemeinen Totenauferstehung und als An­fang des Endes aller Geschichte erfahren und verkündigt worden sind, so gewiß ist doch die Auferweckung Jesu nicht nur als der erste Fall von endzeitlicher Totenauferstehung allein gedacht, sondern als Ursprung des Auferstehungslebens aller Glaubenden. Es wird nicht nur gesagt, daß Jesus der Erste aus der Auferstehung sei und die Glaubenden wie er Auferstehung finden werden, sondern es wird verkündet, daß er die Auferstehung und das Leben selber sei, und daß folglich die Glaubenden ihre Zukunft in ihm finden und nicht nur wie er finden. Darum warten sie auf ihre Zukunft, indem sie auf seine Zukunft warten. Der apokalyp­tische Erwartungshorizont reicht keineswegs aus, um die nachösterliche Apokalyptik der Gemeinde zu begreifen. An die Stelle apokalyptischer Selbstbewahrung auf das Ende tritt die Sendung der Gemeinde. Sie läßt sich nur verstehen, wenn der auferstandene Christus selber noch eine Zu­kunft hat; eine universale Zukunft für die Völker. Nur dann hat das Zukommen der Gemeinde im Apostolat zu den Völkern einen geschicht­lichen Sinn. Der apokalyptische, universalgeschichtliche Deutungshori­zont des Ganzen der Wirklichkeit ist sekundär gegenüber dem verhci­ßungs- und sendungsgeschichtlichen Horizont dieser Weltveränderung. Es mag endlich theologisch an der Einlinigkeit universalgeschichtlicher Apokalyptik liegen, daß die theologische Bedeutung des Kreuzes Jesu hinter seiner Auferweckung zurücktritt. Zwischen den Erwartungen der spätjüdischen Apokalyptik und der christlichen Eschatologie steht das Kreuz Jesu. Darum ist aller christlichen Auferstehungseschatologie der Charakter einer eschatologia crucis aufgeprägt. Das ist mehr als nur eine Zäsur im überlieferungsgeschichtlichen Zusammenhang apokalyptischer Erwartungen. Der Widerspruch des Kreuzes durchzieht auch die Exi­stenz, den Weg und das theologische Denken der Gemeinde in der Welt. Sollte es das Anliegen des Programms von "Offenbarung als Geschichte" sein, von der Auferstehungshoffnung her theologische Begriffe und Um­gangsweisen mit der Wirklichkeit zu entwerfen, um nicht länger in der genannten negativen Allianz mit dem Geist der Neuzeit zu verharren, so entspricht es durchaus der von Barth und Bonhoeffer aufgestellten

74 Eschatologie und Offenbarung

Forderung, die "Herrschaft Christi" bis in die Weltwirklichkeit hinein konsequent zu bezeugen und darzustellen. Ob der Ausdruck der "Bewäh­rung der Gottheit des biblischen Gottes an der Gesamtheit der jeweiligen Wirklichkeitserfahrung"108 dem angemessen ist, bleibt die Frage, denn diese Aufgabe wird weniger auf eine Bestätigung oder überbietung hinauslaufen, als auf Konflikt und Differenz. Die unkritische Ver­wendung von Begriffen wie "historisch", "Geschichte", "Tatsachen", "Überlieferung", "Vernunft" usw. in einem theologischen Sinne scheint zu zeigen, daß der methodische, praktische und weltanschauliche Atheis­mus der Neuzeit eher umgangen als ernst genommen wird. Wenn eben dieser Atheismus - wie Hegel und Nietzsche es am tiefsten verstanden haben - aus einer nihilistischen Wahrnehmung des "spekulativen Kar­freitags": "Gott ist tot"109 entspringt, so ließe sich Theologie eigentlich nur noch als Auferstehungstheologie gegenüber dieser Wirklichkeit, ge­genüber dieser Vernunft und gegenüber einer so beschaffeneo Gesellschaft vertreten; und zwar als Eschatologie der Auferstehung als der Zukunft des Gekreuzigten. Eine solche Theologie muß das "Kreuz der Gegen­wart" (Hegel), ihre Gottlosigkeit und Gottverlassenheit, annehmen und daran den "Geist der Auferstehung" theoretisch und praktisch beweisen. Dann aber würde Offenbarung Gottes sich nicht als Geschichte dieser Gesellschaft erweisen und bewähren, sondern würde dieser Gesellschaft und dieser Zeit den eschatologischen Prozeß der Geschichte allererst er­öffnen. Für den Theologen geht es nicht darum, die Welt, die Geschichte und das Menschsein nur anders zu interpretieren, sondern sie in der Er­wartung göttlicher Veränderung zu verändern.

§8

Die Eschatologie der Offenbarung

Es ist letztlich immer ein Einfluß griechischen Denkensund Fragens, wenn man die Offenbarung Gottes, die in den biblischen Schriften bezeugt wird, als "Epiphanie der ewigen Gegenwart" versteht. Das bezeichnet eher den Gott des Parmenides als den Gott des Exodus und der Aufer­stehung. Die Offenbarung des auferstandenen Christus ist keine Ge­stalt dieser Epiphanie der ewigen Gegenwart, sondern nötigt zu einem

108. Offenbarung als Geschichte, aaO. 104 Anm. 17 u. ö. 109. G. W. F. Regel, Glauben und Wissen. Philos. Bibi. 62 b. F. Meiner, 1962, 123 f.

Die Eschatologie der Offenbarung 75

Verständnis von Offenbarung als Apokalypsis verheißener Zukunft der Wahrheit. An dieser Zukunft der Wahrheit, in der Verheißung offenbar, erfährt der Mensch die Wirklichkeit als Geschichte in ihren Möglichkei­ten und Gefährdungen und es zerbricht ihm die Fixierung der Wirklich­keit zum Bilde der Gottheit. Von der "Offenbarung" spricht die christliche Theologie, wenn sie auf Grund der Ostererscheinungen des Auferstandenen die Identität des Auferstandenen mit dem Gekreuzigten erkennt und verkündigt. Jesus wird in den Ostererscheinungen wahrgenommen als der, der er wirklich war. Das begründet die "historische" Erinnerung des Glaubens an das Leben, Wirken, den Anspruch und das Leiden Jesu von Nazareth. Aber die Christustitel, mit denen diese Identität Jesu in Kreuz und Aufer­stehung angesprochen und bezeichnet wird, greifen zugleich alle in die noch nicht erschienene Zukunft des Auferstandenen vor. Damit werden die Ostererscheinungen und Offenbarungen des Auferstandenen offen­sichtlich verstanden als Vorschein und Verheißung seiner noch zukünfti­gen Herrlichkeit und Herrschaft. Jesus wird in den Ostererscheinungen wahrgenommen als der, der er wirklich sein wird. Der "springende Punkt" für ein christliches Offenbarungsverständnis liegt darum weder in dem, "was in dem Menschen J esus zur Sprache kam" (Ebeling), noch in dem "Geschick Jesu" (Pannenberg), sondern beides miteinander verbindend in der Selbigkeit Jesu im qualitativen Unterschied von Kreuz und Auferstehung. Diese Identität im unend­lichen Widerspruch wird theologisch verstanden als ein Identifika­tionsgeschehen, als Akt der Treue Gottes. Darauf gründet sich die Verheißung der noch ausstehenden Zukunft Jesu Christi. Darauf gründet sich die Hoffnung, die den Glauben durch die Anfechtung der gottverlassenen Welt und des Todes trägt. "Offenbarung" in diesem Geschehen hat nicht den Charakter logosge­mäßer Erhellung vorhandener Wirklichkeit des Menschen und der Welt, sondern trägt hier konstitutiv und grundsätzlich den Charakter der Verheißung und ist darum eschatologischer Art. "Verheißung" ist grund­sätzlich etwas anderes als ein "Wortgeschehen", das den Menschen und seine ihn angehende Wirklichkeit zur Wahrheit und zur Einstimmigkeit bringt. "Verheißung" ist zunächst auch noch etwas anderes als eine escha­tologisch ausgerichtete Einsicht in die Wirklichkeit als Universalgeschich­te. Verheißung kündigt eine Wirklichkeit aus der Zukunft der Wahrheit an, die noch nicht ist. Sie steht in einer spezifischen inadaequatio rei et intellectus zur vorhandenen und gegebenen Wirklichkeit. Sie greift auf der anderen Seite nicht nur voraus in den geschichtlichen Vorraum des

76 Eschatologie und Offenbarung

Real-Möglichen und erhellt diesen. Vielmehr entsteht "das Mögliche" und damit "das Zukünftige" durchaus aus dem Verheißungswort Gottes und geht damit über das Real-Mögliche oder Real-Unmögliche hinaus. Sie erleuchtet nicht eine Zukunft, die irgendwie immer schon der Wirk­lichkeit inhärent ist. Vielmehr ist "Zukunft" jene Wirklichkeit, in der die Verheißung sich erfüllt und zur Ruhe kommt, weil sie ihr ganz ent­spricht und gemäß ist. Die Verheißung, die in der Auferstehung Christi liegt, findet erst in jenem Geschehen, das als "Neuschöpfung aus dem Nichts", als "Auferstehung der Toten", als "Reich" und "Gerechtigkeit" Gottes angesprochen wird, eine Wirklichkeit, die ihr gemäß ist und ihr ganz entspricht. Das Offenbarwerden der Gottheit Gottes hängt darum ganz und gar an der wirklichen Erfüllung der Verheißung, wie umge­kehrt die Erfüllung der Verheißung in der Treue und im Gottsein Gottes ihren Wirklichkeits- und Möglichkeitsgrund hat. "Verheißung" hat in­sofern nicht in erster Linie die Funktion, die seiende Wirklichkeit der Welt oder des Menschseins zu erhellen, zu deuten, zur Wahrheit zu bringen und im sinnvollen Verstehen das Einstimmen des Menschen in sie zu erwecken, sondern sie eröffnet vielmehr im Widerspruch zur vor­handenen Wirklichkeit ihren eigenen Prozeß um die Zukunft Christi zur Welt und zum Menschen. Offenbarung, als Verheißung erkannt und in Hoffnung ergriffen, begründet und eröffnet damit einen Spielraum von Geschichte, der von der Sendung, von der Verantwortung der Hoffnung, durch Annahme des Leidens am Widerspruch der Wirklichkeit und durch Aufbruch in die verheißene Zukunft erfüllt ist. Damit ist die Notwendigkeit, ein angemessenes Daseinsverständnis und universalgeschichtliche Orientierung zu erlangen, keineswegs überflüssig gemacht. Nur wird beides, die Erhellung der Geschichtlichkeit mensch­licher Existenz und die antizipatorische Erhellung universalgeschichtli­cher Zusammenhänge und Aussichten, dem apostolischen Geschichtspro­zeß, den Gottes Offenbarung in Verheißung ins Leben ruft, zuzuordnen sein. Das Gott offenbarende Verheißungsgeschehen kann nur in und an der Fraglichkeit der Wirklichkeit der Welt im Ganzen und des Mensch­seins selber artikuliert werden, aber es geht darin nicht auf und ist damit nicht identisch. Es nimmt beides hinein in den ihm eigenen Fragezusa:m­menhang, in welchem Zusammenhang sich das Wissen der Wahrheit in Gestalt der auf die Erfüllung der Verheißung offenen Frage darstellt. Ist es richtig, daß die Erscheinungen des Auferstandenen als Vorschein seiner eigenen Zukunft zu verstehen sind, so sind sie im Zusammenhang der alttestamentlichen Verheißungsgeschichte, nicht aber in Analogie zur griechisch verstandenen Epiphanie der Wahrheit zu begreifen. Die Oster-

Die Eschatologie der Offenbarung 77

zeugen nehmen den Auferstandenen nicht im Glanz der himmlischen, überirdischen Ewigkeit wahr, sondern im Vorschein und Anbruch seiner eschatologischen Zukunft zur Welt. Er ist ihnen nicht der "Verewigte", sondern der "Kommende". Sie sahen ihn nicht als den, der er in zeitloser Ewigkeit ist, sondern als den, der er sein wird in seiner kommenden Herrschaft. Man kann darum sagen: Der Auferstandene begegnet als der Lebendige, sofern er sich in Bewegung, im Ausschreiten auf sein Ziel hin befindet110• "Er ist sich selbst noch Zukunft." 111 Mit der Aufer­stehung ist sein Werk "nod1 nicht beendet, noch nicht abgeschlos­sen"112. Diese Sätze stammen aus dem Spätwerk K. Barths und zeigen deutlich, in welche Richtung die Revision seiner Ewigkeitseschatologie laufen muß. Die Erscheinungen des Auferstandenen wurden als Ver­heißung und Antizipation real ausstehender Zukunft wahrgenommen. Weil in diesen Erscheinungen offenbar ein Prozeß vernehmbar wurde, provozierten sie Zeugnis und Sendung. Die Zukunft des Auferstandenen wird darum hier gegenwärtig in der Verheißung und wird angenommen durch leidensbereite Hoffnung und wird begriffen in einem kritischen Hoffnungsdenken über die Menschen und die Dinge. Was aber heißt es, daß der Auferstandene in seiner Offenbarung die Verheißung seiner eigenen Zukunft ist? Es müßte heißen, daß Jesus sich als der Christus in Identität und Differenz mit sich selbst offenbart und identifiziert. Er offenbart und identifiziert sich als der Gekreuzigte und insofern in Identität zu sich selbst. Er offenbart sich als der Herr auf dem Wege zu seiner kommenden Herrschaft und insofern in Differenz zu dem, was er sein wird. Die Offenbarung seiner Zukunft ist in seinen Er­scheinungen darum eine "verborgene". Er ist der verborgene Herr und der verborgene Heiland. Durch die Hoffnung ist das Leben der Glauben­den verborgen mit ihm in Gott; doch in einer Verborgenheit, die auf zukünftige Enthüllung angelegt und aus ist und daraufhin drängt. Die Zukunft Jesu Christi ist in diesem Zusammenhang die Offenbarung und Veröffentlichung des Gekommenen. Der Glaube richtet sich hoffend und 110. K. Barth, Kirmliche Dogmatik, IV, 3, 377: "Er selbst begegnet uns hier aum in dem konkreten Sinn als Lebendiger, daß er ... sich offenbar gerade hier in Bewegung, auf seinem Weg als gottmenschlicher Mittler, im Ausschreiten von seinem Anfang her zu dem in ihm smon beschlossenen und angezeigten Ziel befindet ... Als Offenbarer seines Werkes ist er selbst noch nicht an seinem Ziel, geht ihm vielmehr selbst erst entgegen: von seinem Anfang in der Offenbarung seines Lebens her entgegen dem Ziel seiner nom nicht geschehenen Offenbarung des in seinem Leben besmlossenen Lehens aller Mensmen, der ganzen Kreatur, ihres Lebens als neue Schöpfung auf einer neuen Erde unter einem neuen Himmel." Während das Auferstehungsgeschehen in der Offenbarungslehre Barths im Zeichen der "reinen Gegenwart Gottes" steht, kommt es in seiner Versöhnungslehre in das Zeichen der .Antizipation" der universalen Erlösung und Vollendung zu stehen. 111. Ebd. 378. 112. Ebd. 385.

78 Eschatologie und Offenbarung

erwartend auf die Offenbarung dessen, was er in Christus schon verbor­gen gefunden hat. Und doch ist mit der Zukunft des Auferstandenen, mit dem, was mit seiner Auferstehung verheißen, intendiert und in Aus­sicht gestellt ist, nicht nur eine noetische Erwartung verbunden. Seine Zu­kunft ist nicht nur die Enthüllung eines Verborgenen, sondern auch die Erfüllung eines Verheißenen. Die Offenbarung in den Erscheinungen des auferstandenen Christus ist darum nicht nur als "verborgen", sondern auch als "unabgeschlossen" zu bezeichnen und auf eine Wirklichkeit zu beziehen, die noch nicht da ist. Es steht noch aus und ist noch nicht geschehen und noch nicht erschienen, aber in seiner Auferstehung ver­heißen und verbürgt, ja mit seiner Auferstehung als folgenotwendig gesetzt: das Ende des Todes und neue Schöpfung, in der im Leben und in Gerechtigkeit aller Dinge Gott alles in allem ist. So ist mit der Zukunft des Auferstandenen auch eine kreatorische Erwartung verbunden. Das Wort, in dem dieses zur Sprache kommt, ist darum Evangelium und Epangelia in einem. Bezieht sich "Offenbarung" im Zusammenhang der Ostererscheinungen nicht auf einen in sich abgeschlossenen Vorgang oder auf die Präsenz der Ewigkeit, so muß sie als eine offene, nach vorne weisende und führende Offen­barung verstanden werden. Diese ihre eschatologische Offenheit wird allerdings nicht angefüllt, fortgeführt und vollendet durch die nachfol­gende Kirche und ihre Geschichte. Ist die Offenbarung des Auferstande­nen auf seine eigene Zukunft und Verheißung hin offen, so überholt ihre Zukunftsoffenheit alle nachfolgende Kirchengeschichte und ist ihr schlech­terdings überlegen. Die Erinnerung an die ergangene Verheißung - an die Verheißung in ihrer Er-gangenheit, nicht in Ver-gangenheit - bohrt als Stachel im Fleische jeder Gegenwart und öffnet sie für die Zukunft. In diesem Sinne wird die Offenbarung des Auferstandenen nicht durch die nolens volens weiterlaufende Geschichte "geschichtlich", sondern steht gleichsam als primum movens an der Spitze des geschichtlichen Pro­zesses. Die Wirklichkeit des Menschen und seiner Welt wird an ihr "ge­schichtlich" und die auf sie gesetzte Hoffnung macht alle Wirklichkeit als unzureichend vergänglich und überholbar. Es ist die promissio inquieta, an der das augustinische cor inquietum in Wahrheit entsteht. Es ist die promissio inquieta, die die menschliche Welterfahrung nicht zum in sich geschlossenen Kosmosbild der Gottheit werden läßt, sondern die Welt­erfahrung der Geschichte offen hält. Ist Offenbarung in diesem Sinne Verheißung, so ist sie auf den Prozeß zu beziehen, den die Sendung macht. Der Prozeß der Zeugen der escha­tologischen Hoffnung, die jeder Gegenwart ihre Hoffnung zu verant-

Die Eschatologie der Offenbarung 79

warten haben, das Apostolat, das die Völkerwelt in diesen Prozeß ver­wickelt, und der Aufbruch aus der Gegenwart eines in sich verschlossenen Daseins in die verheißene Zukunft -, das ist diejenige Geschichte, die die­ser Art Offenbarung hier "entspricht", weil sie von dieser Offenbarung ins Leben gerufen wird. Geschichtsbewußtsein ist Sendungsbewußtsein, und das Wissen um Geschichte ist ein Veränderungswissen. Nun ist diese Offenbarung Gottes im Verheißungsgeschehen immer nur aussagbar im Hinblick auf und in Auseinandersetzung mit der jeweiligen Welterfahrung und Existenzerfahrung des Menschen. Darin liegt die Be­rechtigung der dargestellten Offenbarungsverständnisse im Rahmen des Beweises Gottes aus der Existenz oder des Beweises Gottes aus dem Gan­zen der Wirklichkeit. Wird Gott nicht im Hinblick auf die Selbst- und Welterfahrung des Menschen zur Sprache gebracht, so gerät die Theolo­gie ins Ghetto, und die Wirklichkeit, mit der der Mensch umgeht, wird der Gottlosigkeit ausgeliefert. Seit der Zeit der frühchristlichen Apolo­geten wird die promissio Dei, von der die biblischen Schriften reden, immer in Gestalt des griechischen Logos bedacht. Doch ist zu beachten, daß zwischen den beiden extremen Möglichkeiten von Ghetto und Assi­milation die promissio Dei immer als ein Ferment der Zersetzung des griechischen Logos gewirkt hat, nämlich dergestalt, daß die erhellende Wahrheit des griechischen Logos eschatologisiert und damit vergeschieht­licht wurde. In diesem Vorgang kann die Theologie auch heute ihre Wahrheit pole­misch und befreiend erweisen. Doch gerade wenn aus der Wahrnehmung der Offenbarung Gottes in der Verheißung gefragt wird, in welchem Lichte dann das Menschsein des Menschen und die Wirklichkeit der Welt erscheinen, gerät man in die Nähe der Unternehmungen der GottesbeJ weise und der "natürlichen Theologie".

Einer alten Definition zufolge versteht man unter "natürlicher Theologie" eine "theo­logia naturalis, generalis et immediata", d. h. eine mit der Wirklichkeit mitgesetzte, allgemein zugängliche und unmittelbare, nicht vermittelte Gotteserkenntnis. Dazu gehörten die Erkenntnis, daß die Welt Gottes Welt ist oder daß das mit der Frage nach dem Ursprung oder dem Ganzen der Wirklichkeit Erfragte Gott ist, und zum anderen die Erkenntnis der Sonderstellung des Menschen im Kosmos, ein allgemeiner Begriff vom Menschsein als Gefordertsein durch das Gesetz Gottes, bzw. die Erkenntnis, daß das in der Fraglichkeit menschlichen Daseins Erfragte Gott ist. Wie immer diese Gottesbeweise oder Aufweise der Frage nach Gott als allge­mein zugänglich von der christlichen Theologie entworfen wurden, immer wurden sie so entworfen, daß sie eine hinweisende und passende Entsprechung zur "übernatürlichen, besonderen und geschichtlichen vermittelten" Gotteserkenntnis hergaben. Was immer in der abendländischen Theologie derart als "natürliche Theologie" aufgenommen und entworfen wurde, war niemals "natürlich" und weder "allgemein-menschlich" noch "unmittelbar". Genauer betrachtet enthielt die "natürliche Theologie" immer geschieht-

80 Eschatologie und Offenbarung

lieh vermittelte Erkenntnisse aus bestimmten geistigen Traditionen; aus der Stoa, aus Plato und Aristoteles usw. Der gesunde Menschenverstand, auf den man rekurrierte, erweist sich immer als abendländisch geprägter und geschichtlich entwickelter Menschen­verstand. Das "Natürliche" an der "natürlichen Theologie" war also mitnichten "von Natur", sondern immer von Geschichte und war eine Aufnahme dessen, was im gesell­schaftlichen Sinne als natürlich, d. h. als selbstverständlich galt. Der Aristoteles, der als Kirchenvater der natürlichen Theologie galt, ist weiterhin keineswegs identisch mit dem historischen Aristoteles, sondern war ein christlich-theologisch verarbeitetes, aristoteli­sches Erbe. Was als "Natur" und als "allgemeines Gottesbewußtsein" christlich namhaft gemacht wurde, war immer schon bestimmt von jenem Inhalt, auf den es als allgemeiner Rahmen weisen sollte. So ist "natürliche Theologie" in der Tat eine Voraussetzung der Offenbarurigstheologie, nämlich in dem Sinne, daß Offenbarung sie in ihrer besonderen Gestalt sich voraus setzt, schaff!: und entwirft. Damit ist das Geschäft der natürlichen Theologie keineswegs erledigt. Sie gehört vielmehr notwendig zum Bedenken der Natur und des Menschseins von der Offenbarung her. Sie gehört darum weiter notwendig zur Theologie überhaupt, wenn diese die universale Weite der Offenbarung Gottes aussprechen will. Als Voraus-setzung der Theologie gehört sie aber in die Darstellung des universalen, eschatologischen Erwartungshorizontes der Offenbarung. In diesem Sinne hat H. ].!wand recht mit seiner These: "Die natürliche Offenbarung ist nicht das, wovon wir herkom­men, sondern das Licht, auf das wir zugehen. Das Iumen naturae ist der Abglanz des Iumen gloriae ... Die Umkehr, die heute von der Theologie gefordert ist, besteht darin, die Offenbarung unserem Aon, die natürliche Theologie aber dem kommenden Aon zuzuweisen." 113 In diesem Sinne ist "natürliche Theologie", Theologie der Existenz und Theologie der Geschichte ein Lichthof, ein Widersd1ein des zukünftigen göttlichen Lichtes am unzureichenden Material der gegenwärtigen Wirklichkeit, ein Vorschein und ein Vorweis der verheißenen universalen Herrlichkeit Gottes, der sich allen und an allem als der Herr erweisen wird. Was als "natürliche Theologie" bezeichnet wird, ist in Wahr­heit theologia viatorum, Antizipation der verheißenen Zukunft in der Geschichte durch gehorsames Denken. Sie bleibt darum stets geschichtlich, vorläufig, wandelbar und offen. Ist sie ein Erkennen und Bedenken der Wirklichkeit, in der jeder Mensch steht, aus Glauben und Hoffnung, so hat sie darum auch nicht das Pathos in sich, daß sich ihre Aussagen "von selbst verstehen", sondern ist wesentlich polemisch oder "eristisch ", wie E. Brunner sagte. Man wird die Gottesbeweise herumdrehen müssen und nicht Gott aus der Welt, sondern die Welt aus Gott, nicht Gott aus der Existenz, sondern die Exi­stenz aus Gott aufweisen und zwar in steter Auseinandersetzung mit anderen Wahr­heitsbehauptungen und Sinnerweisungen. In diesem Sinne gehört die Arbeit der "natür­lichen Theologie" nicht in die praeambula fidei, sondern in die fides quaerens intellectum.

Der Mensch, der von dieser Offenbarung Gottes in Verheißung betrof­fen wird, wird identifiziert- als das, was er ist- und zugleich differen­ziert- als das, was er sein wird. Er kommt zu "sich selbst", aber in Hoff­nung, denn er ist noch nicht dem Widerspruch und dem Tode entnom­men. Er findet zum Leben, aber verborgen in der verheißenen, noch nicht erschienenen Zukunft Christi. So wird der Glaubende wesentlich zum Hoffenden. Er ist "sich selbst" noch Zukunft und ist sich verheißen. Seine Zukunft hängt ganz und gar am Ausgang des Prozesses des Auferstande­nen, denn er hat seine Zukunft auf die Zukunft Christi gesetzt. So wird er mit sich selbst einstimmig in spe, aber mit sich selbst uneinstimmig in

113. H. J. [wand, Nachgelassene Werke, I, Glauben und Wissen, 1962, 290 f.

Die Eschatologie der Offenbarung 81

re. Gerade der sich der Verheißung Anvertrauende wird sich selbst zum Rätsel und zur offenen Frage, er wird sich zum homo absconditus. Auf der Spur der Verheißung gerät er auf die Suche nach sich selbst, wird sich zur offenen Frage an die Zukunft Gottes. Darum steht gerade der Hoffende nicht einstimmig und zentrisch in sich selbst, sondern steht ex­zentrisch zu sich selbst in jener facultas standi extra se coram Deo, wie Luther es nannte. Er ist sich selbst in der Hoffnung auf Gottes Verhei­ßung voraus. Das Verheißungsgeschehen bringt ihn noch nicht in eine Heimat der Identität, sondern nimmt ihn hinein in die Spannungen und Differenzen der Hoffnung, der Sendung und der Entäußerung. Begegnet ihm Offenbarung als Verheißung, so identifiziert sie ihn nicht unter Ab­sehung vom Negativen, sondern öffnet ihn für den Schmerz, die Geduld und "ungeheure Macht des Negativen", wie Hegel sagte. Sie macht ihn bereit, den Schmerz der Liebe und der Entäußerung in dem Geiste auf sich zu nehmen, der Jesus von den Toten auferweckte und der das Tote lebendig macht. "Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes." "Die Kraft des Geistes ist nur so groß als ihre Außerung, seine Tiefe nur so tief, als er in seiner Auslegung sich auszubreiten und sich zu verlieren getraut. "114 So führt die verhei­ßene Identität den Menschen in die Differenz der Entäußerung hinein. Er gewinnt sich selbst, indem er sich verläßt. Er findet das Leben, indem er den Tod auf sich nimmt. Er kommt zur Freiheit, indem er Knechts­gestalt annimmt. So kommt die Wahrheit zu ihm, die auf die Auferste­hung der Toten vorausweist. Wenn aber das Verheißungsgeschehen der Auferstehung den Menschen identifiziert, indem sie ihn in die Entäußerung seiner selbst führt, so ist diese Selbsterfahrung unmittelbar verbunden mit einer entsprechenden Welterfahrung. Der Mensch gewinnt sich nicht durch Unterscheidung von "der Welt", sondern durch Entäußerung in sie hinein. In welcher Weise aber muß dann "Welt" erfahren werden?- Sie kann dann nicht als ein starrer Kosmos von ausgemachten Fakten und ewigen Gesetzen genom­men werden. Denn wo nichts Neues mehr geschehen kann, endet auch die Hoffnung und verliert sie alle Aussicht auf Verwirklichung des Er­hofften. Nur wenn die Welt selber "alles Möglichen voll" ist, kann die Hoffnung in der Liebe wirksam werden. Zur Hoffnung gehört das Wis­sen, daß draußen das Leben so wenig fertig ist wie im Ich, das an diesem draußen arbeitet.115 So hat die Hoffnung nur dann eine Chance

114. G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, ed. ]. Hoffmeister, PhB 114, 1949, 29 und 15. 115. E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, I, 1959, 225.

82 Eschatologie und Offenbarung

zum sinnvollen Dasein, wenn die Wirklichkeit selber geschichtlich im Fluß ist und die geschichtliche Wirklichkeit einen offenen Vorraum des Möglichen aufweist. Die christliche Hoffnung ist nur dann sinnvoll, wenn die Welt für den veränderlich ist, auf den diese Hoffnung hofft, und also für das offen ist, worauf diese Hoffnung hofft; wenn sie alles (Gott-)Möglichen voll ist und offen ist für die Auferstehung der Toten. Wäre die Welt ein in sich geschlossener Wirkungszusammenhang, so könnte die Hoffnung sie entweder für die Erfüllung selber halten oder aber sich gnostisch ins überweltliche transzendieren und reflektieren. Dann aber gäbe sie sich selbst preis. Aus der verheißenen Zukunft der Wahrheit wird die Welt als Geschichte erfahrbar. Der eschatologisd1e Sinn des Verheißungsgeschehens der Auf­erstehung Christi öffnet in Erinnerung und Erwartung den Sinn für Ge­schichte. Jede Anschauung, die Welt als einen in sich geschlossenen Kos­mos oder die Geschichte als ein Universum, welches die göttliche Wahr­heit in sich birgt und aus sich heraus zeigt, zu verstehen, wird darum zer­brochen und ins eschatologische "Noch-nicht" transponiert. Der von Ver­heißung und Erwartung bestimmte Charakter des Transzendierens und der Vorläufigkeit unseres Wissens als eines Hoffnungswissens nimmt den offenen Horizont der Zukunft der Wirklichkeit wahr und wahrt so die Endlichkeit menschlicher Erfahrung. Auf Grund des Verheißungsgesche­hens der Auferstehung Christi Gott und die Gesd1ichte zusammenzu­denken, heißt nicht, Gott aus der Welt oder aus der Geschichte zu bewei­sen, sondern umgekehrt die Welt als gott- und zukunftsoffene Geschichte zu erweisen. Die christliche Theologie wird sich also nicht abfinden kön­nen, sondern wird sich lösen müssen von der kosmologisch-mechanisti­schen Denkweise, wie sie in den positivistischen Wissenschaften vorliegt; im Positivismus der wissenschaftlichen Entzauberung der Welt, mit wel­chem die Welt nicht nur "gottlos" wird, wie Max Weber sagte, sondern auch eine Welt ohne Alternative und ohne Möglichkeiten und ohne Zu­kunft wird, und in den versachlichten und institutionalisierten Verhält­nissen der wissenschaftlichen Zivilisation der modernen Gesellschaft, wel­cher ebenfalls mit der Zukunft auch ihre eigene Geschichtlichkeit verloren zu gehen droht. Die Theologie wird sich aber nur so davon lösen können, daß sie dieses Denken und diese Verhältnisse auflöst und in die eschato­logische Bewegung der Geschichte zu stellen sich bemüht. Sie wird sich nicht so davon lösen können, daß sie sich auf eine romantische Verklä­rung der Wirklichkeit zurückzieht. Das "Holz" wird nicht wieder zum "Hain", die "Historie" nicht wieder zur "Heiligen Gesdüchte" und die Traditionen des Abendlandes werden nicht wieder zu eindeutigen, über-

Die Eschatologie der Offenbarung 83

lieferungsgeschichtlichen Zusammenhängen. Die Erfahrung der Welt als Geschichte ist kaum so möglich, daß man sich wieder auf die Erfahrung der Geschichte als Schicksal in jener Passivität, in der man Geburt und Tod erleidet, oder auf die Erfahrung der Geschichte als Zufall besinnt. "Das allgemeine Bestreben der menschlichen Vernunft ist auf die Ver­nichtung des Zufalls gerichtet", bemerkte treffend schon W. von Hum­boldt. Die wissenschaftlichen und technischen Bemühungen der Neuzeit sind wenigstens seit der französischen Revolution darauf aus, das Ende dieser Geschichte, das Ende der Geschichte des Zufalls, der Kontingenz, des überraschenden, Krisenhaften und Katastrophalen heraufzuführen. Diesem sich rundenden wissenschaftlich-technischen Kosmos seine eigene Geschichtlichkeit zu erweisen, heißt nicht, ihm das Krisenhafte seiner selbst aufzudecken, sondern ihm und den Menschen darin jene Geschichte aufzuweisen, die aus der verheißenen Zukunft der Wahrheit erfahren wird. Beide Formen des Geistes - die Verdinglichung der Welt und die Subjektivität der Existenz - stehen aus der Geschichte heraus, die aus der Zukunft der Wahrheit erfahren wird. "Geschichte" kann für die christ­liche Theologie darum nicht bedeuten, daß sie die Wahrheit Gottes wie­der im Bunde mit alten Schicksals- und Zufallserfahrungen verkündet, sondern daß sie diese Welt selber in den Prozeß der Verheißung und der weitertreibenden Hoffnung stellt. Das Problem der Geschichte stellt sich in der "Neuzeit" nicht so sehr als Differenz zwischen griechischer Kos­mosverklärung und biblischer Geschichtshoffnung dar, sondern als Dif­ferenz zwischen einem wissenschaftlichen und technischen Chiliasmus, der die Geschichte in der Geschichte zu beenden sucht, und einer Eschatologie der Geschichte, die aus dem Verheißungsgeschehen der Auferstehung ent­springt und für die das "Ende der Geschichte" in der "Neuzeit" so wenig das verheißene und erwartete Ende ist, wie ihr die "Neuzeit" nicht die "neue Zeit" im apokalyptischen Sinne - wie dieser Ausdruck doch ge­meint war - sein kann. Der Positivismus, der ursprünglich von Auguste Comte durchaus chiliastisch gemeint war, kann darum nur dadurch ver­geschichtlicht werden, daß er eschatologisch durch einen neuen Erwar­tungshorizont transzendiert und überholt wird. Dann wird seine ge­schichtliche Gestalt und Bedeutung und die Endlichkeit seines Erkenntnis­horizontes aufgedeckt. Die christliche Theologie kann in der Weise ihre Wahrheit an der Wirk­lichkeit des Menschen und der Wirklichkeit der den Menschen angehen­den Welt erweisen, daß sie die Fraglichkeit des menschlichen Daseins und die Fraglichkeit der Wirklichkeit im Ganzen aufnimmt und hineinnimmt in die eschatologische Fraglichkeit des Menschseins und der Welt, die

84 Eschatologie und Offenbarung

durch das Verheißungsgeschehen geöffnet wird. "Vom Tode bedroht" und "der Nichtigkeit unterworfen": das ist der Ausdruck allgemeiner Daseins- und W elterfahrung. "Auf Hoffnung hin": das ist offenbar die Weise, in der christliche Theologie diese Fragen aufnimmt und an die verheißene Zukunft Gottes richtet.

KAPITEL II

VERHEISSUNG UND GESCHICHTE

Will man dem eigentümlich vieldeutigen, unbetonten und dennoch breit gestreuten Reden von "Offenbarung" im Alten Testament auf die Spur kommen und es für die Dogmatik fruchtbar machen, so ist es nicht rat­sam, davon auszugehen, daß jeder Mensch aus seiner von Chaos und Ver­gänglichkeit bedrohten Existenz heraus nach "Offenbarung" frage, noch bei der Frage einzusetzen, wie der verborgene Gott, der Ursprung und das Absolute, dem ihm entfremdeten Menschen offenbar werde. Viel­mehr ist es notwendig, sich nicht nur Antworten, sondern auch die Frage­stellungen nach Offenbarung aus dem Alten Testament selber geben zu lassen, bevor man systematische Konsequenzen zieht. Wenn dieses im folgenden versucht werden soll, so ist es natürlich unmöglich, einzel­exegetische Hinweise aufzunehmen. Es muß aber um Klärung und Be­stimmung der in der Exegese verwendeten Begriffe gehen. Man wird da­bei oft auf religionsgeschichtliche Vorstellungen stoßen und solche auch verwenden müssen. Es sollen damit jedoch keine allgemeinen religions­geschichtlichen Voraussetzungen impliziert werden. Die Aufgabe liegt nicht darin, die verschiedenen religiösen Vorstellungen und Glaubens­weisen einem allgemeinen Religionsbegriff zu subsumieren. Aber die Konturen dessen, was Verheißung und Hoffnung heißt, treten im Ange­sicht der anderen Religionen und Glaubensweisen, mit denen es ringt und in Auseinandersetzung liegt, am deutlichsten zu Tage und können darum im Vergleich und Streit am besten erhellt werden.

§ 1

Epiphanienreligion und Verheißungsglaube

Fragt man nach einer Summierung der religionsgeschichtlichen Erkennt­nisse aus der Erforschung Israels und seiner orientalischen Umwelt, so zeigen sich unter diesem Gesichtspunkt die Materialien des Alten Testa-

86 Verheißung und Geschichte

mentes als "synkretistische Dokumente". "Israel hat einen Synkretismus von nomadischer und bäuerlich-kanaanäischer Religiosität vollzogen. Durch diesen Synkretismus ist es geworden, was es dann in klassischer Zeit war. "1 Der Ausdruck "Synkretismus" bedarf dabei der näheren Klärung. Er kann keineswegs eine spannungslose Verschmelzung dispa­rater Elemente meinen und natürlich auch kein Bündnis feindlicher Brü­der gegen einen gemeinsamen dritten Gegner, wie ursprünglich bei den Kretern. Er kann nicht einmal nur Vermischung bedeuten, sondern soll den Kampfprozeß zwischen zwei miteinander nicht vereinbaren Glau­bensweisen zum Ausdruck bringen. Es ist ein Prozeß, der in verschiede­nen geschichtlichen Situationen an verschiedenen Konfliktstoffen ent­brennt und gerade aus den verschiedenen Spannungsmomenten die Eigenart der ringenden Gegner erkennbar werden läßt. Was hier mit­einander im Streit liegt, läßt sich an keiner Stelle räumlich oder zeitlich, ja auch kaum säuberlich ideologisch abgrenzen. Dennoch zeigt sich der Kampfprozeß an jeder Stelle, sowohl im Konflikt Israels mit seinen Nachbarn als auch innerhalb des empirischen Israel selber. Er kann sich in bestimmten geschichtlichen Situationen besonders klar zeigen. Er kann auch jahrhundertelang latent und bis zur Unkenntlichkeit verborgen sein. Die "religiöse Sonderstellung" Israels wird darum nur schwerlich an einer einzigartigen "Religion Israels" erhebbar, wohl aber doch darin, daß ein solcher spannungsgeladener Kampfprozeß seine ganze Geschichte durchzieht. Die allgemeine, kultur- und religionsgeschichtliche Bestimmung dieser Spannungstendenzen hat m. E. am einleuchtendsten Victor Maag in der Nachfolge von M. Buher u. a. gegeben. Er sieht die Spannung darin, daß im palästinensischen Israel die kinetisch-vektorischen Momente der alten Nomadenreligion und die statischen Momente der kanaanäischen Landes­religion aufeinandertreffen. "Nomadenreligion ist Religion der Verhei­ßung. Der Nomade lebt nicht im Zyklus von Saat und Ernte, sondern in der Welt der Migration. "2 "Dieser inspirierende, führende, behü­tende Nomadengott unterscheidet sich von den Göttern der Agrarvölker in verschiedener Hinsicht ganz grundsätzlich. Die Völkergötter sind lo­kal gebunden. Der Transmigrationsgott der Nomaden aber ist territorial und lokal nicht gebunden. Er wandert mit, ist selber unterwegs. "3 Dar­aus ergibt sich ein verschiedenes Daseinsverständnis: "Da wird das Da­sein als Geschichte empfunden. Dieser Gott führt zu einer Zukunft, die

1. V. Maag, Malkf1t Jhwh, V. T. Suppl. VII, 1960, 137. 2. Ebd.140. 3. Ebd. 139 f.

Epiphanienreligion und Verheißungsglaube 87

nicht bloße Wiederholung und Bestätigung der Gegenwart ist, sondern Ziel der jetzt in Gang befindlichen Ereignisse. Das Ziel ist die Sinn­gebung für die Wanderung und ihre Nöte; und die heutige Entscheidung zum Vertrauen auf den berufenden Gott ist zukunftsträchtig. Das ist das Wesen der Verheißung in der Sicht der Transmigration. "4

Sicherlich enthält Maags Sicht der nomadischen Verheißungsreligion im Gegensatz zur mythischen und magischen Kulturlandreligion ideal­typische Momente, aber sie macht doch die Spannung verständlich, in der Israel sich befand, und, was noch wichtiger ist, sie macht die Frage erheblich, wie und wodurch es gekommen ist, daß Israel beim Übergang vom nomadischen und halbnomadischen zum seßhaften Leben in Kanaan nicht wie eigentlich alle Völker und Stämme beim Schritt über diese erste Kulturschwelle der Menschheit die Nomadenreligion und den Verheißungsgott zugunsten der Land, Leben und Kultur heiligenden Epiphaniengötter preisgegeben hat, sondern den Landbesitz und das Bauen und Wohnen im Lande als eine neue Geschichtserfahrung in die ursprüngliche Verheißungsreligion einzubringen vermochte. Das Eigen­tümliche des geschichtlichen Israel scheint weder in seiner nomadischen Herkunft zu liegen, die es mit anderen gemeinsam hat, noch in der Land­nahme und dem Übergang zu Acker- und Städtebau, welche es ebenfalls mit anderen gemeinsam hat, sondern in der Tatsache, die jenen Kampf­prozeß hervorruft und sich in verschiedenen Situationen zeigt, daß die israelitischen Stämme den Verheißungsgott aus der Wüste zusammen mit dem ihm entsprechenden Daseins- und Weltverständnis im Lande mit den ganz neuen Landerfahrungen behielten und die Anstrengungen unter­nahmen, die neuen Erfahrungen im Lande vom Verheißungsgott her zu machen und zu bewältigen. Der damit geforderte Kampfprozeß zeigt sich sehr deutlich am Gottes­verhältnis und hier wiederum an den Vorstellungen von Erscheinen und Offenbaren Gottes. Der älteste und wohl gemeinorientalische Sprach­gebrauch begegnet dort, wo die Gottheit "sich zeigt"5• Das Niphal von raah ist terminus technicus für solche Hierophanien. Diese sind ursprüng­lich an einen bestimmten Ort gebunden, der dann kultisch als Ort der göttlichen Epiphanie verehrt wird. Ex. 3, 2 begegnet eine solche Wen­dung: "Da erschien ihm der mal'ak Jahwe in der Feuerflamme mitten aus dem Dornbusch heraus." Von solchen Erscheinungen, durch die Orte zu Kultorten geheiligt werden, ist das orientalische Kulturland randvoll.

4. Ebd.140. 5. R. Rendtorff, Die Offenbarungsvorstellungen im Alten Israel, in: Offenbarung als Geschichte, 1961, 23 f.

88 Verheißung und Geschichte

Steine, Gewässer, Bäume, Haine, Berge usw. können zu Trägern von Hierophanien werden. Es bilden sich Kultlegenden, die die Atiologie solcher geheiligter Orte mitteilen und Ritualien, die dem Lande ringsum und denen, die darauf wohnen und bauen, die Weihe der Götter ver­leihen. Solche Kultorte sind gleichsam Türen, durch die die Götter wei­hend auf das Land kommen und die Menschen, die darauf wohnen, die Heiligung ihrer Landkultur erfahren. Menschen werden dadurch zu "Wohngenossen der Götter" (M. Eliade)6• Ihre Kultur wird im Kult am Ort der Hierophanie durch Rückbindung an das heilige Urgeschehen der Kosmogonie oder durch Anschluß an das heilige Zentrum der Welt vor dem Chaos gesichert. Das Bauen und Wohnen wird geheiligt und ge­sichert durch mythische und magische und rituelle Entsprechungsverhält­nisse zum Ewigen, Ursprünglichen, Heiligen und kosmisch Geordneten. Entsprechend wird die verfließende, Schrecken des Chaos entbergende Zeit ordnend geheiligt durch heilige Feste, die die Epiphanie, die Ankunft der Götter feiern und so die Menschen zu "Zeitgenossen der Götter" machen. Die verderbende Zeit wird regeneriert durch periodische Rück­kehr zur uranfänglichen Zeit. Der Heiligung des Raumes zum Wohnen und Bauen, der vom Chaos bedroht ist, an den Epiphanienorten ent­spricht die Heiligung der Zeit in der zyklischen Wiederkehr der Ephi­phanie der Götter in den Festzeiten6••

Es macht dabei keinen wesentlichen Unterschied, sondern ist Fortsetzung und Sublimierung dieser Epiphanienfrömmigkeit, die um den Theos epi­phanes kreist, ob diese polytheistisch eine Vielzahl von Lokalgottheiten verehrt, oder pantheistisch alle Räume und Zeiten des Göttlichen voll findet (Thales: 1tli\l't'a. 1rA~p"f) &siiiv 6b), ob das Unsichtbare, die göttliche Ursprungswelt, durch eine Stufenfolge von Zwischeninstanzen epiphan wird, ob Landesfürsten als Theos epiphanes oder Lehrer und Wunder­täter als theios aner auftreten, oder ob dieses Göttliche, Absolute, Ewig­Ursprüngliche durch sich selbst epiphan werdend gedacht wird. Die na­türliche Theologie der griechischen Religionsphilosophie und orientalische Religionsphilosophien haben diese Epiphanienfrömmigkeit zur Voraus­setzung und zur bleibenden Grundlage. Aus ihr stammt die hier ent-6. M. Eliade, Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, rde 31 1957, 21 ff. und 53 ff. 6a. W. F. Otto, Die Gestalt und das Sein, 1955, 255: "Das Fest bedeutet immer die Wiederkehr einer Weltstunde, mit der das Klteste, Ehrwürdigste und Herrlichste wieder da ist; eine Rückkehr des goldenen Zeitalters, wo die Ahnen so nahe mit den Göttern und Geistern verkehrten. Das ist der Sinn festlicher Erhabenheit, die, wo immer es wirk­liche Feste gibt, von allem anderen Ernst und aller anderen Freude verschieden ist. c

6b. Vgl. zur grundlegenden Bedeutung dieses Satzes für die altgriechische Religion und Philosophie W. faeger, Die Theologie der frühen griechischen Denker, 1953, 31 ff.

Epiphanienreligion und Verheißungsglaube 89

scheidende Frage nach dem "Sichzeigen", "Erscheinen" und "Offen­baren" des Göttlichen. Es ist dabei wichtig zu sehen, daß diese Epipha­nien ihren Sinn in sich selber, in ihrem Sichereignen tragen. Denn wo sie sich ereignen, geschieht die Weihe von Ort, Zeit und Menschen in dem Geschenk der Entsprechung und der Teilhabe der immer bedrohten menschlichen Kultur an dem ewigen göttlichen Kosmos. Die Bedrohung des menschlichen Daseins von den Chaosgewalten und vom Nichtigen wird überwunden durch die Epiphanie der ewigen Gegenwart. Mensch­liches Sein kommt in die Deckung des ewigen Seins, versteht sich in Ent­sprechung und Teilhabe als geborgen von der Gegenwart des Ewigen. Es ist nun das Auffallende, daß Israel die "Erscheinungen" Jahwes in ihrem Sinngehalt nur in geringem Maße als eine solche Weihe von Ort und Zeiten verstand, sondern daß sich für Israel das "Erscheinen" Gottes unmittelbar verbindet mit dem Ergehen von göttlicher Verheißungs­rede7. Wo Jahwe "erscheint", geht es offenbar nicht in erster Linie dar­um, Ort und Zeit seiner Erscheinung zu kultivieren. Der Sinn der Er­scheinungen an bestimmte Menschen zu bestimmten Situationen liegt in der Verheißung. Die Verheißung aber weist von den Erscheinungen ihres Ergehens fort in die angesagte, noch nicht wirkliche Zukunft hinein. Der Sinn der Erscheinung liegt dann nicht in dieser selber, sondern in der Verheißung, die in ihr vernehmbar wird, und in der Zukunft, in die sie weist. In den verschiedenen überlieferungsschichten solcher Verheißungs­erscheinungen treten im Glauben Israels dann sogar die epiphanistischen Begleitumstände zurück hinter dem Ruf und der Weisung zur Zukunft. Damit wird der epiphanienreligiöse Offenbarungsbegriff verwandelt. Er wird dem Verheißungsgeschehen untergeordnet. Offenbarung wird von dem Verheißungsinhalt der Offenbarung her verstanden. Jahwes Offen­baren dient hier offensichtlich nicht dazu, die bedrohte Gegenwart in Deckung zu bringen mit seiner Ewigkeit, sondern bewirkt vielmehr, daß die Hörer der Verheißung deckungsungleich werden mit der sie umge­benden Wirklichkeit, indem sie sich in Hoffnung und Aufbruch aus­strecken nach der verheißenen, neuen Zukunft. Nicht die religiöse Sank­tionierung der Gegenwart, sondern der Aufbruch aus der Gegenwart zur Zukunft ist die Folge. Haben die mythischen und magischen Kulte der 7. R. Rendtorlf, aaO. 24. Ebenso urteilt auch W. Zimmerli, "Offenbarung" im Alten Testament, EvTh 22, 1962, 16: "Die Heiligkeit eines Ortes soll durch den Bericht vom Erscheinen der Gottheit an dieser Stelle legitimiert werden. Dann aber ist im AT eine Geschichte zu erkennen, nach welcher immer mehr nur noch das Gerippe des tspo~ A61o~ zurückbleibt, immer weniger Gewicht auf das sinnenfällige Erscheinen J ahwes fällt, dafür aber immer voller die göttliche Verheißungsrede als der eigentliche Gehalt der Offenbarungsszenen heraustritt. Das Gewicht wird von der sinnenfälligen Erschei­nung, der Manifestation Jahwes weg auf die Ankündigung seines Handeins verlagert. •

90 Verheißung und Geschichte

Epiphanienreligion den Sinn, die Schrecken der Geschichte zu vernichten durch Rückbindung an das heilige Urgeschehen, und sind sie in ihrer Tendenz "antihistorisch" (M. Eliade)8, so eröffnet der verheißende Gott im Verheißungsgeschehen allererst den Sinn für Geschichte in der Kate­gorie der Zukunft und wirkt infolgedessen "historisierend"9• Diese, der mythischen Welt gegenläufige Tendenz, Epiphanie und Offenbarung vom Verheißungsgeschehen her zu verstehen, ist offensichtlich der Grund dafür, warum dieWortefür "Offenbarung" im Alten Testament so vieldeutig und unsystematisch verwendet werden. Jahwe ist nicht in diesem Sinne ein "Erscheinungsgott". Sinn und Ziel seiner "Erscheinungen" liegen nicht in diesen selbst, sondern in der Verheißung und deren Zukunft. Die Effekte des Prozesses zwischen Verheißungsglauben und Epiphanien­frömmigkeit in der Geschichte Israels sind von der alttestamentlichen Forschung an vielen Stellen aufgewiesen worden. Wo die Züge Israels ins Land kommen, empfangen sie das Land und die neuen Erfahrungen des seßhaften Lebens als "Erfüllung der Verheißung", als Verwirkli­chung der Zusage des Verheißungsgottes aus der Wüste, der ihre Väter auf die Wanderung dorthin brachte. Das Leben in der Fülle und Meh­rung des eigenen Volkes wird ebenso aus der Verheißung verstanden. Man vergewissert sich also des eigenen Daseins durch geschichtliche Er­innerung an die vorgängige Verheißung des Führungsgottes der noma­dischen Väter und sieht in der Gabe des Landes und des Volkes die sicht­bar eingehaltene Treue Jahwes. Das ist eine wesentlich andere Daseins­vergewisserung, als wie sie Israel in den Landes- und Fruchtbarkeits­kulten in Palästina vorfand. Land und Leben werden nicht mittels der Epiphanienfrömmigkeit in die Deckung der Götter gebracht, sondern werden als ein Stück Geschichte im großen Gang der Verheißungs­geschichte verstanden10•

Die naturreligiösen zyklischen Jahresfeste, die man vorfand und auf­nahm, werden einer gewichtigen "Historisierung" unterzogen. Sie wer­den auf die geschichtlichen Daten der Verheißungsgeschichte gedeutet11•

Die mythischen und magischen Ritualien, die das genannte Ent­sprechungsverhältnis zwischen bedrohtem menschlichen Dasein und dem bergenden göttlichen Sein herstellen, werden "futurisiert", d. h. sie wer­den auf die Zukunft der göttlichen Verheißung gedeutet. Darauf hat V. Maag an Hand der Ritualien des J erusalemer Reichskultes verwiesen12•

8. M. Eliade, Der Mythos der ewigen Wiederkehr, 1953, 125. 9. G. von Rad, Theologie des Alten Testamentes, II, 1960, 117. 10. W. Zimmerli, Verheißung und Erfüllung, EvTh 12, 1952, 39 ff. 11. G. von Rad, aaO. 117 ff. 12. V. Maag, aaO. 150: "Sprach das Ritual von Jerusalem vom Könige, der den Welt-

Epiphanienreligion und Verheißungsglaube 91

Die ihrem Herkommen nach magischen Formeln werden in die göttliche Zukunftsverheißung integriert. Der Ausdruck "Eschatologie", der an die­ser Stelle für den neuen Sinn, in welchem die mythischen und magischen Formeln umgedeutet werden, verwendet wird, ist mit Recht umstritten, da er gemeinhin "letzte" und nicht nur "zukünftige" Dinge meint. Dar­um wird es richtiger sein, auf den Grundcharakter der Verheißungsreli­gion hinzuweisen. In ihr könnte das durchhaltende und treibende Motiv solcher Uminterpretationen in diesen Stadien der Geschichte Israels lie­gen. So wenig man die Entstehung von "Eschatologie" aus dem hohlen Herzen der Enttäuschungserlebnisse an Kult und Ritual herleiten kann, so wenig kann man von einer Eschatologie der Nomaden sprechen. Wohl aber könnte sich der Verheißungsglaube als das primum movens erweisen für die Bewältigung der Kulturlandsituationen und später für die Be­wältigung der weltgeschichtlichen Situationen in Israel, wenigstens in be­stimmten Kreisen des empirischen Israel. Es ist wesentlich die Kraft der Verheißung und des Verheißungsglaubens, Menschen in einer bewegen­den, gespannten inadaequatio rei et intellectus zu halten, solange die pro­missio, die den intellectus beherrscht, noch nicht ihre Entsprechung in der Wirklichkeit gefunden hat. In der Verheißung, die das Bewußtsein des Hoffenden in einem alle Erfahrung und Geschichte transzendieren­den Noch-nicht erhält, finden wir den Grund für das Zerbrechen der mythischen und magischen Entsprechungsverhältnisse, für ihre Histori­sierung der Naturfeste auf die Daten der Verheißungsgeschichte und die Futurisierung ihrer Inhalte auf die Zukunft der Verheißung. Aus der Verheißung stammt das Element der Unruhe, das kein Sichabfinden mit einer Gegenwart, die unerfüllt ist, zuläßt. Unter dem Leitstern der Ver­heißung wird diese Wirklichkeit nicht als göttlich stabilisierter Kosmos erfahren, sondern als Geschichte im Fortschreiten, Hintersichlassen und Aufbrechen zu neuen, noch nicht geschauten Horizonten. Die eigentliche Frage ist nun die, ob und wie neuartige Erfahrungen in der Landnahme und später in den weltgeschichtlichen Konflikten vom Verheißungsglau­ben bewältigt werden, wie sie einbezogen werden in die jede Gegenwart transzendierende Verheißung und wie die Verheißung in diesen Erfah­rungen ihre Auslegung und Ausfächerung erfährt.

frieden heraufführe, so hörte das alte Nomadenherz dies noch in den Erwartungskate­gorien und verstand es wie die Väterverheißungen. So wurde die ihrem Herkommen nadt magische Formel zur göttlichen Zukunftsverheißung." Interessant ist auch seine Bemerkung S. 114: "Was Ordnung in dieser Welt ist, das haben die kosmogonischen Götter am Anfang ein für allemal fixiert. Mythus und Ritual des Neujahrsfestes stellen die denkbar mächtigste Sanktionierung des positiv Existenten und

§2

Das Verheißungswort

Wenn wir in der Verheißung ein Stichwort der "Erwartungsreligion K

Israels vor uns haben, so muß nun geklärt werden, was denn unter "Ver­heißung" und zwar unter "Verheißung des (Führungs)gottes" zu ver­stehen sei13•

a) Eine Verheißung ist eine Zusage, die eine Wirklichkeit ankündigt, die noch nicht da ist. Damit eröffnet Verheißung das Aus-sein des Menschen auf zukünftige Geschichte, in der die Erfüllung der Verheißung zu er­warten ist. Handelt es sich um eine göttliche Verheißung, so ist damit angezeigt, daß die erwartete Zukunft sich nicht aus dem Rahmen der Möglichkeiten entwickeln muß, die in der Gegenwart angelegt sind, son­dern aus dem entspringt, was dem Gott der Verheißung möglich ist. Das kann auch das nach Maßgabe gegenwärtiger Erfahrung unmöglich Er­scheinende sein14•

b) Die Verheißung bindet den Menschen an die Zukunft und öffnet ihm den Sinn für Geschichte. Sie öffnet nicht den Sinn für Weltgeschichte überhaupt und auch nicht für die Geschichtlichkeit der menschlichen Exi­stenz an sich, sondern bindet ihn an ihre eigene Geschichte. Ihre Zukunft ist nicht das leere Wohin möglicher Veränderung und die Hoffnung, die sie erweckt, ist nicht Offenheit für das Zukünftige überhaupt. Ihre Zu­kunft, die sie eröffnet, ist ermöglicht und bestimmt durch die verheißene Erfüllung. Es handelt sich dabei zunächst immer um "Geschichtshoff­nungen" (M. Buher). Die Verheißung nimmt den Menschen in Hoff­nung und Gehorsam in ihre eigene Geschichte hinein und prägt, sofern dieses geschieht, seine Existenz in einer bestimmten Weise der Geschicht­lichkeit. c) Die Geschichte, die durch Verheißung bestimmt und eröffnet ist, be­steht nicht in der Wiederkehr des Gleichen, sondern hat ein bestimmtes Gefälle auf die verheißene und ausstehende Erfüllung hin. Diese unum­kehrbare Richtung ist nicht von dumpf treibenden Kräften oder eigen­gesetzlichen Entwicklungen bestimmt, sondern von dem weisenden Wort, Gültigen in Staat und Gesellschaft dar. Diese positivistische Statik kennt keine neuen Horizonte, denen ein Volk entgegengeführt werden könnte, keinen Gott, der unterwegs ist, Menschen schauen zu lassen, was sie noch nie gesehen hätten .... Zu solchem Positi­vismus aber hat sich JHWH nie wirklich bequemt, auch wenn ihm Hof- und Tempel­kreise diesen natürlich auch zuzumuten versuchten." 13. Zum Terminus "Führungsgott" vgl. M. Buber, Königsturn Gottes, 2. Auf!. 1936, XI; Der Glaube der Propheten, 1950, 8. 14. Vgl. zum Folgenden die Bestimmungen der Verheißung durch W. Zimmerli, Ver­heißung und Erfüllung, EvTh 12, 1952, 38 ff.

Das Verheißungswort 93

das auf die Freimacht und die Treue Gottes verweist. Nicht Entwicklung, Fortschritt und Fortgang trennen die Zeiten in das Gestern und Morgen, sondern das Verheißungswort macht den Schnitt in das Geschehen und teilt die Wirklichkeit in die eine, die vergeht und gelassen werden kann, und die andere, die erwartet und gesucht werden muß. Was Vergangen­heit und was Zukunft ist, wird an dem Verheißungswort sichtbar. d) Ist das Wort ein Verheißungswort, so besagt das, daß dieses Wort seine Wirklichkeitsdeckung noch nicht gefunden hat, daß es vielmehr zur gegenwärtig und ehedem erfahrbaren Wirklichkeit im Widerspruch steht. Nur darum kann an dem Wort der Verheißung der Zweifel entstehen, der das Wort an der gegebenen Wirklichkeit mißt. Nur darum kann an diesem Wort der Glaube entstehen, der die gegenwärtige Wirklichkeit an diesem Wort mißt. Als "Zukunft" ist dabei diejenige Wirklichkeit ge­meint, in der das Verheißungswort seine Entsprechung, seine Antwort und seine Erfüllung bekommt, in der es eine Wirklichkeit findet bzw. schafft, die ihm gemäß ist und in der es zur Ruhe kommt. e) Das Verheißungswort schafft darum immer einen spannungsgeladenen Zwischenraum zwischen dem Ergehen und dem Einlösen der Verheißung. Damit verschafft es dem Menschen einen eigenartigen Raum der Freiheit zum Gehorsam und zum Ungehorsam, zur Hoffnung und zur Resigna­tion. Die Verheißung weist diesen Zeitraum an und steht offensichtlich in Korrespondenz zu dem, was darin geschieht. Das unterscheidet, wie W. Zimmerli einleuchtend sagt, die Verheißung von Kassandraweis­sagungen und die von ihr geöffnete Geschichtserwartung vom Schick­salsglauben15. f) Wird die Verheißung nicht vom verheißenden Gott abstrahiert, son­dern ihre Erfüllung gerade der freien Treue Gottes zugetraut, so besteht kein vordringliches Interesse an einer festen juristischen Systematik von geschichtlichen Verbindlichkeiten in einem Verheißungs-Erfüllungs-Sche­ma, weder im Nachweis desFunktionierenseines solchen in der Vergan­genheit noch in Zukunftsberechnungen. Vielmehr können die Erfüllungen durchaus das Moment des überraschenden und Neuen gegenüber der vernommenen Verheißung enthalten. Darum geht die Verheißung auch nicht mit den historischen Umständen und dem historischen Vorstellungs­material, in welchem sie vernommen wurde, zugrunde, sondern kann sich - interpretiert - wandeln, ohne ihren Gewißheits-, Erwartungs- und Be­wegungscharakter zu verlieren. Sind es Verheißungen Gottes, so muß Gott auch als das Subjekt der Erfüllungen angesehen werden.

15. W. Zimmerli, ehd. 44.

94 Verheißung und Geschichte

g) Der besondere Charakter der alttestamentlichen Verheißungen kann darin gesehen werden, daß die Verheißungen nicht durch die Geschichte Israels - weder durch Enttäuschungen noch durch Erfüllungen - liqui­diert wurden, sondern durch die erfahrene Geschichte Israels vielmehr ständig neue und weitende Auslegungen erfuhren. Dieser Zug wird sicht­bar, wenn man sich die Frage stellt: wie kommt es, daß die Stämme Is­raels bei der Landnahme keinen Götterwechsel vornahmen, sondern der Verheißungsgott aus der Wüste ihr Gott im Lande blieb? - Eigentlich erfüllen sich mit Landnahme und Mehrung des Volkes die Väterverhei­ßungen, und der Verheißungsgott aus der Wüste macht sich in dem Maße überflüssig, wie seine Verheißungen in Erfüllungen übergehen. Die er­langte Seßhaftigkeit im Lande hat mit dem Verheißungsgott auf der Wüstenwanderung nur noch wenig zu tun. Für die Bewältigung der Landeskultur bieten sich die Lokalgottheiten an. Man könnte nun sagen, daß die Landverheißungen der Väter sich erfüllen und liquidiert werden, daß aber etwa im Heerbann Israels in den heiligen Kriegen die Führungs­und Schutzverheißungen weiterziehen und aktuell bleiben. Man könnte aber auch sagen, daß der in seinen Verheißungen wahrgenommene Gott allen erfahrbaren Erfüllungen überlegen bleibt, weil in allen Erfüllun­gen die Verheißung, und was noch in ihr steckt, noch nicht mit der Wirk­lichkeit deckungsgleich wird und darum ständig überschüssig bleibt. Die Erfüllungen in der Landnahme erfüllen die Verheißung nicht in dem Sinne, daß sie diese wie einen Wechsel liquidieren und ad acta einer ver­klärten Vergangenheit legen. Die "Erfüllungen" werden genommen als Auslegungen, Bestätigungen und Weiterungen der Verheißung. Mit der Größe der Erfüllungen wächst in den verschiedenen Traditionsschichten der Verheißungsüberlieferung offenbar auch die Verheißung für die aus­legende Erinnerung. Es tritt hier nirgends das auf, was man die "Melan­cholie der Erfüllungen" nennen könnte. Man könnte diesen eigentüm­lichen Sachverhalt der über Erfüllungserlebnisse hinaus weiterwandern­den Verheißung auch an der Spur der Verheißung im menschlichen Hof­fen und Wünschen aufzeigen. Es sind im Grunde nicht die Erfüllungs­und Parusieverzögerungen, die dem Menschen Enttäuschungen bereiten. Derartige "Enttäuschungserlebnisse" sind oberflächlich und banal und gründen in einer gesetzlichen Abstraktion der Verheißung vom verhei­ßenden Gott. Im Grunde enthält dagegen jedes Erfüllungserlebnis, so­fern darauf als auf ein erlebtes reflektiert wird, eine Enttäuschung. Menschliches Hoffen, Sehnen und Wünschen reicht, wo es einmal durch bestimmte Verheißungen angeregt ist, weiter als alle denkbaren und er­lebbaren Erfüllungen. Wen, in welchen begrenzten Verheißungen auch

Die Erfahrung der Geschichte 95

immer, der Hauch der Zukunft getroffen hat, der bleibt unruhig, drän­gend, fragend und suchend über alle Erfüllungserlebnisse hinaus und diese bekommen in seinem Munde einen Beigeschmack von Traurigkeit. Das Noch-nicht der Erwartung überholt jede jetzt-schon eintreffende Er­füllung. Darum wird jede jetzt-schon eintreffende Erfüllungsrealität zur Bestätigung, Auslegung und Freisetzung größerer Hoffnung. Wollte man dieses zum Verständnis der "sich erweiternden und ausfächernden Ver­heißungsgeschichte"16 heranziehen, fragt man nach dem Grund für den beständigen Mehrwert der Verheißung gegenüber der Geschichte, so muß man wieder ein abstraktes Verheißungs-Erfüllungs-Schema ver­lassen. Man muß dann auf die theologische Deutung dieses Vorganges zurückgreifen: der Grund für den Mehrwert der Verheißung und ihre ständige überschüssigkeit über die Geschichte liegt in der Unaus­schöpflichkeit des Verheißungsgottes, der sich in keiner geschichtlichen Wirklichkeit erschöpft, sondern erst "zur Ruhe" kommt in einer Wirk­lichkeit, die ihm ganz entspricht17.

§ 3

Die Erfahrung der Geschichte

Unter dem Stern der Verheißung Gottes wird die Wirklichkeit als "Ge­schichte" erfahrbar. Der Spielraum dessen, was als "Geschichte" in Er­fahrung, in Erinnerung und Erwartung gebracht werden kann, wird er­öffnet und erfüllt, wird offenbar und gestaltet durch Verheißung. Die Verheißungen Gottes erschließen die Horizonte der Geschichte, wo­bei unter "Horizont" einer treffenden Formulierung von H. G. Gada­mer zufolge "keine starre Grenze" zu verstehen ist, sondern "etwas, in das wir hineinwandern und das mit uns mitwandert"18. Israel hat in die­sen Wauderhorizonten der Verheißung gelebt und in ihren Spannungs­feldern die Wirklichkeit erfahren. Auch als die Zeiten der nomadischen Wanderungen in Palästina aufhörten, blieb doch diese Weise der Er-· fahrung, Erinnerung und Erwartung der Wirklichkeit als Geschichte er­halten und prägte sein ganz eigentümliches Verhältnis zur Zeit. Der pa-·

16. G. von Rad, Typologische Auslegung des Alten Testamentes, EvTh 12, 1952, 25 f. 17. G. von Rad, Es ist noch eine Ruhe vorhanden dem Volke Gottes, (1933), Gesam­melte Studien zum Alten Testament, ThB 8, 101 ff. 18. H. G. Gadamer, Wahrheit und Methode, 1960, 231 ff., 286 ff.

96 Verheißung und Geschichte

lästinensische Kulturraum prägte diesem Volk nicht die Zeit zur Figur der zyklischen Wiederkehr, sondern es setzte sich umgekehrt immer wie­der ein geschichtliches Zeiterlebnis dominierend gegen ein ungeschicht­liches Raumerlebnis durch und machte aus den bewohnten Räumen des Landes Zeiträume einer übergreifenden Geschichte. Was darin als "Geschichte" in den Veränderungsmöglichkeiten der Wirk­lichkeit erfahrbar wurde, reichte immer so weit, wie die Verheißungen Gottes die Erinnerung und die Erwartung spannten. "Geschichte gab es also für Israel nur, sofern und soweit Gott mit ihm gegangen ist; nur diese und keine andere zeitliche Erstreckung kann so bezeichnet werden. "19

Dieses Mitgehen Gottes aber wurde immer in dem Spannungsfeld zwi­schen einer offenbar gewordenen Verheißung einerseits und der zu er­wartenden Einlösung dieses Versprechens andererseits gesehen. In die­sem Spannungsbogen ist für Israel die Geschichte interessant geworden. "Nur da, wo Jahwe mit seinen Taten und seinem Wort sich geoffenbart hatte, gab es für Israel Geschichte. "20 Das aber heißt, daß die Erfahrung der Wirklichkeit als Geschichte für Israel darin ermöglicht war, daß ihm Gott in seinen Verheißungen offenbar wurde und es das Offenbarwerden Gottes immer wieder im Lautwerden seiner Verheißungen verstand. Werden nun Ereignisse in einem solchen Horizont erinnerter und erwar­teter Verheißungen erfahren, so werden sie als wahrhaft "geschichtliche" Ereignisse erfahren. Sie haben dann nicht nur den Charakter der Zu­fälligkeit, der Individualität und der Relativität, die man gemeinhin ge­schichtlichen Ereignissen zuschreibt, sondern sie haben dann zugleich auch immer den Charakter einer nach vorne weisenden Unabgeschlossenheit und Vorläufigkeit. Nicht nur Verheißungsworte, sondern auch die Er­eignisse selbst, sofern sie im Horizont von Verheißung und Hoffnung als "geschichtliche" Ereignisse in Erfahrung gebracht werden, zeigen in sich etwas, was noch aussteht, was noch unabgegolten ist und noch nicht ver­wirklicht ist. "Da ist alles in Bewegung, die Dinge gehen nie auf, und aus Erfüllung entsteht unversehens wieder die Verheißung von noch Grö­ßerem. Hier trägt nichts seinen letzten Sinn in sich, sondern ist jeweils Angeld von noch Größerem. "21 Bei überschießender Verheißung werden die geschichtlichen Fakten niemals als in sich abgeschlossene Vorgänge betrachtbar, die ihre Zeit gehabt haben und ihre Wahrheit aus sich her-

19. G. von Rad, Theologie des Alten Testamentes, Il, 1960, 120. 20. G. von Rad, Offene Fragen im Umkreis einer Theologie des Alten Testamentes, ThLZ 88, 1963, Sp. 409. 21. G. von Rad, Typologische Auslegung, aaO. 29. Vgl. auch S. 30: "Es ist also sehr häufig in der Darstellung des Faktums etwas, das das tatsächlich Geschehene transzen­diert."

Die Erfahrung der Geschichte 97

aus zeigen können. Sie müssen als Stationen auf einem Wege und als Mo­mente in einem Prozeß verstanden werden, die weiterziehen. Die so "ge­schichtlich" erinnerten Ereignisse haben darum ihre letzte Wahrheit noch nicht in sich, sondern empfangen sie erst vom Ziel der zugesagten und zu erwartenden Verheißung Gottes her. Dann aber geben die so in Erfah­rung gebrachten Ereignisse als "geschichtliche" Ereignisse einen Vorschein des verheißenen Zukünftigen. Sie haben bei überschießender Verheißung immer einen provisorischen Charakter. In ihnen steckt das Moment der Pro-visio, d. h. sie deuten etwas an und weisen etwas vor, was in ihnen selbst noch nicht voll da ist. Darum nötigen die Geschichten, wenn sie so erfahren und überliefert werden, jede neue Gegenwart zur Auseinander­setzung und zur Interpretation. So erfahrene Ereignisse "müssen" über­liefert werden, denn es wird in ihnen etwas gesehen, was auch für künf· tige Generationen bestimmend ist. Sie werfen ihre Schatten oder ihr Licht voraus. Auf der anderen Seite dürfen sie auch von jeder neuen Gegenwart frei interpretiert und aktualisiert werden, denn sie stehen niemals so fest, daß man sich darauf beschränken könnte, sie in ihrem Gewesensein nur noch festzustellen22•

Die alten Geschichtsüberlieferungen sprechen Erfahrungen aus, die Israel mit seinem Gott und dessen Verheißungen gemacht hat. Greifen diese Verheißungen aber in jene Zukunft hinüber, die sich vor der Gegenwart auftut, so können in diesen Geschichtserzählungen nicht nur Erfahrungen der Vergangenheit erzählt werden. Vielmehr wird alles Erzählte und Dargestellte aus dieser Vergangenheit dazu führen, sich und die eigene Gegenwart jener Zukunft auszusetzen. Die Wirklichkeit der Geschichte wird im Horizont der Wirkungsgeschichte der Verheißungen Gottes er­zählt. Die Themen der israelitischen Geschichtserzählungen, die Erz­vätergeschichten, die Wüstenwanderung, die Davidgeschichte, werden als zukunftsträchtige Themen behandelt. Selbst dort, wo die geschichtliche Überlieferung in sagenhafte Überlieferung übergeht, ist die speziell is­raelitische Überlieferung von Hoffnungen und Erwartungen auf Jahwes Verheißungen beherrscht. Weil und sofern in der erfahrenen Geschichte etwas steckt, was die Geschichte in ihrem Geschehensein transzendiert und zukunftsträchtig ist, muß diese Geschichte einmal immer wieder in Erinnerung gerufen und vergegenwärtigt werden, und muß sie zum ande­ren der Gegenwart so ausgelegt werden, daß diese sich und ihren Weg in die Zukunft aus der Geschichte verstehen und auch sich selber in der Wirkungsgeschichte der Verheißungen Gottes finden kann.

22. Vgl. dazu H. W. Wolff, Das Geschichtsverständnis der alttestamentlichen Prophetie, EvTh 20, 1960, 218 ff. Dazu G. von Rad, Offene Fragen, aaO. 413 f.

98 Verheißung und Geschichte

Gerade im Vergleich mit den Geschichtserzählungen anderer Völker und Religionen tritt das Besondere israelitischer Geschichtserzählung als "ver­heißungsgläubige Historiographie" 23 heraus. "In den griechischen und römischen Mythologien und Gerrealogien wird die Vergangenheit als immerwährender Ursprung vergegenwärtigt; nach jüdischer und christ­licher Geschiehtsauffassung ist die Vergangenheit ein Versprechen der Zukunft. Folglich wird die Interpretation der Vergangenheit rückwärts­gewandte Prophetie. "24

Immer wieder zeigt sich in der Geschichte Israels, daß die Verheißungen, denen Israel seine Existenz verdankt, sich über die geschichtlichen Um­brüche hinweg als ein Kontinuum erweisen, in dem Israel die Treue sei­nes Gottes erkennen konnte25• Man könnte vielleicht sagen: die Ver­heißungen gehen sich verwirklichend in die Ereignisse ein, aber sie gehen in keinem Ereignis auf, sondern bleiben überschüssig und zukunftswei­send. Darum wird die Wirklichkeit, die kommt und erwartet wird und die geht und verlassen wird, als Geschichte erfahren, nicht aber als kos­mischer und immer wiederkehrender Bestand. Sie wird nicht in der Epi­phanie der ewigen Gegenwart erfahren, sondern in Erwartung der Apo­kalypse und der Erfüllung verheißener Zukunft. Darum ist auch die Gegenwart selber nicht die Gegenwart des Absoluten, bei der und in der man bleiben könnte, sondern die gleichsam vorrückende Frontlinie ziel­gerichteter Zeit im Wauderhorizont der Verheißung. Ist die Verheißung Gottes die Bedingung für die Möglichkeit, Wirklichkeit geschichtlich zu erfahren, so ist die Sprache geschichtlicher Tatsachen die Sprache der Ver­heißung, sonst können die Ereignisse weder "geschichtlich" noch "spre­chend" genannt werden. Die Verheißungen Gottes erschließen für Israel Geschichte und behalten in allen geschichtlichen Erfahrungen die Führung. Wo vom Verheißungsprozeß abstrahiert wird, werden die geschichtlichen Ereignisse ihres Horizontes beraubt, der sie "geschichtlich" macht. Wo die Verheißungen ihre geschichtserschließende Kraft und Bedeutung ver­lieren, da runden sich gleichsam die Ereignisse der Geschichte zu Fakten der Vergangenheit, zu in sich abgeschlossenen Vorgängen. Sie werden dann in anderen Erhellungshorizonten betrachtet und dargestellt. Wo Gottes Offenbarwerden nicht mehr in Verheißung und Sendung gesehen wird, kann beispielsweise auf das ewige, unvergängliche und absolute Wesen der Gottheit reflektiert werden. Dann geraten die geschichtlichen

23. W. Zimmerli, Verheißung und Erfüllung, aaO. 50. 24. K. Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, 2. Aufl. 1953, 15. 25. H. W. Wollf, Das Kerygma des Jahwisten, EvTh 24, 1964, 97.

Die Erfahrung der Geschichte 99

Ereignisse in die Sphäre der Vergänglichkeit. Sie weisen dann nicht mehr als provisorische Ereignisse auf die Zukunft der Verheißung, sondern spiegeln als vergängliche und relative Ereignisse das ewige Unvergäng­liche der Gottheit wider. Dann kann grundsätzlich "nichts Neues unter der Sonne" geschehen. Eine Geschichte von solchen Tatsachen kann dann als eine Folge von abgeschlossenen Vorgängen, als Abbildfolge von ewi­gen Ideen angeschaut werden. In ihrer Gewesenheit sucht man dann die ewige Wesenheit zu erkennen. In ihrem Wirkungszusammenhang sucht man dann ewige Gesetze zu erkennen. Man muß sich dafür jedoch nach anderen Bedingungen der Möglichkeit für die Wahrnehmung der Wirk­lichkeit als Geschichte umsehen. Doch erhebt sich dabei ständig die Frage, ob dieses andere Geschichtsbild und die aus ihm genommenen Bezeich­nungen eigentlich in der Lage sind, die Geschichte geschichtlich zu nehmen und den theologischen und philosophischen Vergleich mit der verhei­ßungsgläubigen und hoffnungsbestimmten Geschichtserfahrung Israels auszuhalten vermögen. Schon die Anwendung des Ausdrucks "Tatsache", "göttliche Geschichts­tatsache" vermag nicht das wiederzugeben, was Israel in der Geschichte erfahren hat, denn der in diesem Ausdruck implizierte Begriff von Sein, Absolutheit, Unverrückbarkeit und Endgültigkeit sperrt sich gegen die Verbindung mit Verheißung, Hoffnung und Zukunft, und darum auch mit "Geschichte"26•

Nun haben auch die Beobachtungen, daß sehr viele Zukunftsworte der Propheten, namentlich ihre politischen Voraussagen, nicht so eingetrof­fen sind, wie sie ursprünglich gemeint waren, und also die Geschichte viele Verheißungsworte überholt und damit antiquiert hat, dazu Anlaß gegeben, Geschichte nicht mehr von Verheißung her zu verstehen, son­dern in der Geschichte eine jene Verheißungsworte übergreifende Wirk­lichkeit zu sehen. "Die Geschichte hat die Worte überholt."27 Kann man

26. Die Verwendung des Ausdrucks "göttliche Geschichtstatsache" in der "Theologie des Alten Testamentes" von G. von Rad ist an manchen Stellen undeutlich und läßt vielerlei Deutungen zu. Ist nach I, 112 der "Glaube Israels grundsätzlich geschichtstheologisch fundiert", d. h. "weiß (er) sich gegründet auf Geschiehtstarsachen und weiß (er) sich gestaltet und umgestaltet von Fakten, in denen er die Hand Jahwes wirksam sah", so ist dieses doch eben, wie G. von Rad im folgenden selber betont, "der Glaube Israels", für den diese "Tatsachen" auf Grund der Gottesverheißungen, in die sie verwoben sind, zukunftsträchtig sind, und nicht ein Verständnis von Tatsachen, wie es sich der historisch­kritischen Betrachtung ergibt. Sind nach II, 117, die "gemeindegründenden Geschichts­taten (Jahwes) absolut", so meint das doch, daß sie ihre zeitliche Vergänglichkeit durch ihren Verheißungscharakter ins Zukünftige überholen, nicht aber Absolutheit im Sinne der Unvergänglichkeit. 27. W. Pannenberg, Offenbarung als Geschichte, Nachwort zur 2. Auf!., 132.

100 Verheißung und Geschichte

in bezug auf das Alte Testament grundsätzlich von einem "Zurückblei­ben der Geschichte hinter der Zusage" sprechen28 und also von Erwar­tungen, die immer wieder die neuen geschichtlichen Situationen transzen­dieren und "geschichtlich" machen, oder "überholt die Geschichte die Worte" und zeigt sich im Bewußtsein Israels schon etwas von einem Ge­schichtsverständnis, das Verheißung, Hoffnung und Sendung nach vorne nicht mehr zur Bedingung seiner Möglichkeit hat?-Nun ist es sicher so, daß es außer den Verheißungen, die auf der Strecke der Geschichte geblieben sind, auch und gerade solche Verheißungen gibt, die Israel in einem theologischen und einem geschichtlichen Sinne zu "Israel" gemacht haben, in deren ständiger Erinnerung und immer neuer Aufnahme und Interpretation Israel darum seine Identität und seine Kon­tinuität gefunden hat. Das sind nicht nur die "Grundverheißungen" aus dem Exodus und dem Sinaibund - "Ich bin der Herr, Dein Gott" 29 -,

sondern etwa auch die Abrahamverheißungen30• Weder kann man sa­gen, daß erstarrte Verheißungsformeln in der Lage waren, neue Ge­schichtserfahrungen zu bewältigen, noch kann man sagen, daß eine numi­nose Geschichte in ihrem dunklen Weiterlaufen die Verheißungen anti­quiert habe. Der Prozeß von Wort und Geschichte verlief doch so, daß man weder darauf aus war, durch die Geschichte die formelle Bestätigung der alten Verheißungen zu bekommen, noch die Verheißungen nur als Deutungen der Geschicl:J.te zu nehmen. Die wirklich neuen Erfahrungen, etwa in der Landnahme und dann später im Zusammenbruch des Reiches, konnten vielmehr als Auslegungen der überkommenen Worte durch neue Taten Jahwes, und die neuen Ereignisse konnten vom bezeugten Wort der Treue Jahwes her verstanden werden. So finden wir Verheißung und Gescl:J.ichte in einem Prozeß der Wandlungen vor, in welchem die über­lieferungstraditionell der Verheißungen zur Bewältigung der neuen Ge­scl:J.ichtserfahrungen antraten und die neuen Geschichtserfahrungen als Verwandlungen und Auslegungen der Verheißungen verstanden wurden. Niemals ging jedoch aus diesen Wandlungsprozessen ein nicht mehr durcl:J. Verheißungen eröffnetes und gebundenes Geschichtsverständnis hervor. Niemals hat man auf die übermacht der Geschichte und die Ohnmacht der überholten Verheißungen reflektiert und die weitere Zu­kunft anderen Mächten als dem verheißenden Gott überlassen. Der Spannungsbogen von Verheißung und Erfüllung ist durch den schlichten Fortgang der Geschichte Israels nicht überholt worden, sondern hat viel

28. W. Zimmerli, "Offenbarung" im Alten Testament, EvTb 22, 1962, 31. 29. So F. Baumgärtel, Verheißung, 1952, 133. 30. H. W. Wolff, Das Kerygma des Jahwisten, aaO. 95 ff.

Offenbarung und Gotteserkenntnis 101

stärker den geschichtlichen Fortgang Israels geschaffen. Er ist durch jene Geschichtserfahrungen, denen die alten Erwählungstraditionen nicht mehr gewachsen waren, bei den Propheten eigentlich nur spannender geworden. Nur darf man sich den Spannungsbogen, der in Verheißung seine Eröffnung und in Erfüllung sein Ziel hat, nicht zu schematisch vor­stellen. Zwischen Verheißung und Erfüllung stehen eine ganze Fülle prozeßhafter Zwischenglieder, wie Auslegung, Entfaltung, Inkraftset­zung, Aufrichtung, Erneuerung usw. Zwischen Verheißung und Erfül­lung spannt sich der Prozeß der Wirkungsgeschichte des Wortes; ein Uberlieferungsgeschehen, in welchem die Verheißung interpretiert und aktualisiert den Kommenden überliefert wird und jede neue Gegenwart in Hoffnung und Gehorsam der angesagten Zukunft ausgesetzt wird. Dieses Uberlieferungsgeschehen, durch welches Kontinuität in den Wechselfällen der Geschichte geschaffen wird, kann nicht schon an sich selber als ein tieferer Begriff für Geschichte genommen werden. Der Über­lieferungsvorgang, in dem man Geschichte erinnert und neue geschicht­liche Erfahrungen macht, wird nur vom tradendum der Verheißung und der durch sie in Aussicht gestellten Zukunft für die Geschehnisse her verständlich.

§4

Offenbarung und Gotteserkenntnis

Wie wird Gott erkennbar, wenn seine Offenbarungen wesentlich Ver­heißungen sind, die neue, geschichtliche und eschatologische Zukunftshori­zonte erschließen? Wie muß Offenbarung Gottes verstanden werden, wenn Erwählung, Bund, Verheißung und Sendung nicht nur akzidentiell, sondern wesentlich zum Offenbarungsgeschehen hinzugehören?-Für W. Zimmerli81 meint Offenbarung "Selbstvorstellung", "Selbstdarstellung" und "Selbsterschließung" Gottes. Darauf verweisen für ihn die formelhaft wiederkehrenden Wendungen: "Und sie werden erkennen, daß ich Jahwe bin."32 In diesem Satz der Got­teserkenntnis tritt in seltsam eckiger Formulierung an die Stelle der Objektaussage ein Nominalsatz, in der Jahwes Ich als Subjekt erscheint. Gotteserkenntnis ist damit nicht auf prädikables Objekt (Er- Jahwe) bezogen, sondern offensichtlich auf ein Geschehen von Offenbarung, in welchem Jahwe bis in den Erkenntnisvorgang hinein das Subjekt ist. Zimmerli nennt darum die stereotype Wendung "ani Jahwe" eine "Selbstvorstel­lungsformel" und findet in ihr das eigentliche Offenbarungsverständnis des Alten Testa-

31. Vgl. W. Zimmerli, Gottes Offenbarung. Gesammelte Aufsätze, ThB 19, 1963, und seinen Aufsatz: "Offenbarung" im Alten Testament, EvTh 22, 1962, 15-31. 32. Gottes Offenbarung, aaO. 16.

102 Verheißung und Geschichte

mentes. Wie aber werden die exegetischen Beobad1tungen an dieser durd1laufenden Formel von ihm verstanden und gedeutet? Diese Selbsterschließung Jahwes ist ein "Revelationswort, in dem das Ich in seinem Ich-Charakter sich erschließt"33• "Selbst­vorstellung" meint "das Heraustreten im unverwechselbar einmaligen Ich-Geheimnis, das im Namen ausgesagt ist"34• "Ein bisher Ungenannter tritt aus seiner Unbekannt­heit heraus, indem er sich in seinem Eigennamen erkennbar und nennbar macht. Das Gewicht liegt auf der Nennung des Eigennamens Jahwe, der in sich die Fülle und die volle Ehre des sich Nennenden enthält." 35 Im von ihm selbst ausgesagten Eigennamen ist dieses Ich als das unverwechselbar Individuelle und Persönliche gesichert36• Das Aus­sagen des Namens ist- wie in profanen Analogien: ich bin Joseph, ich bin David- nicht eine Prädikataussage, sondern ein Akt der Selbsterschließung, "ein durch und durch personales Geschehen"37• Es ist der als Subjekt in seinem Namen "sich selbst verkün­digende Gott" 38.- Was bedeutet für dieses personale Verständnis der Selbstoffenbarung Gottes "Geschichte"? Geschichte ist dann das "kreatürliche, frei von Gott gehandhabte Werkzeug" 39, der "Ort der Gotteserkenntnis" 40, der "Ort, an dem die Wahrheit seines Offenbarungswortes im Vollzuge erkennbar wird" 41• Das Geschehen kann, wo Jahwe Verkündiger bestellt, die den Namen Jahwes über ihm ausrufen, zur "leibhafl:en Anrede" an den Menschen werden. Es wird dann zu einem Geschehen, das im Heute als Anruf unter dem Namen Jahwes gehört und im Gehorsam beantwortet sein will42• Geschichte ist dann "ein Vorletztes" und hat gegenüber dem personalen Selbsterweis Jahwes nur "dienende Funktion"43.-Worauf zielen dann die Verheißungen Gottes? Wird die Selbst­offenbarung so personal verstanden, dann verlieren offenbar die Sachankündigungen in den Verheißungen ihr Schwergewicht. "Vielmehr kommt in dieser Formel (sei!. der Selbstvorstellungsformel) zum Ausdruck, wie vollkommen die Sachaussage von dem alleinigen Heraustreten des ,Ich' verschlungen ist." 44 "Jahwe selber ist die Zukunft, von der die Propheten reden." 45 "All das, was Jahwe seinem Volk zu sagen und anzukündi­gen hat, erscheint als eine Entfaltung der grundlegenden Aussage: Ich bin Jahwe." 46 Die Verheißungsgeschichte dient dann der immer tieferen Erkenntnis Gottes auf Seiten des Menschen. Hier erheben sich einige Fragen: Läßt sich in diesen personalen Umschreibungen der Offenbarung Jahwes, mit welchen zweifellos das unaufgebbare Herrsein Gottes bis in den Erkenntnisvorgang hinein zum Ausdruck gebracht wird, ein transzendentales Miß­verständnis der Selbstoffenbarung Gottes vermeiden? Wenn die Verheißungsrede der eigentliche Gehalt der alttestamentlichen Offenbarungs­szenen ist, kann man diese dann umkehren und die Personepiphanie des Ich-Jahwe zum eigentlichen Gehalt der Szenen der Verheißungsgeschichte werden lassen? Wenn Offenbarung Gottes so personal verstanden wird, warum muß die Selbstvorstellung J ahwes ihre Explikation im verheißenden Wort finden? Wenn aber Verheißung konstitutiv ist

33. "Offenbarung", aaO. 22. 34. Ebd. 21. 35. Gottes Offenbarung, aaO. 11. 36. "Offenbarung", aaO. 21. 37. Gottes Offenbarung, aaO. 124. 38. Ebd. 126. 39. "Offenbarung", aaO. 28. 40. "Offenbarung", aaO. 29. 41. Gottes Offenbarung, aaO. 22. 42. "Offenbarung", aaO. 28 f. 43. Ebd. 29. 44. "Offenbarung", aaO. 21. 45. Verheißung und Erfüllung, EvTh 12, 1952, 44. 46. Gottes Offenbarung, aaO. 20.

Offenbarung und Gotteserkenntnis 103

für das Offenbarwerden Jahwes, liegt dann nicht in der Selbstvorstellungsformel mehr als nur ein sich erschließendes Persongeheimnis, nämlich eine Treuezusage, die auf zu­künftiges Geschehen weist47 ? Dann aber würde die durch Verheißung und den Eidschwur der Treue Jahwes eröffnete Geschichte nicht zum an sich gleichgültigen Ort und Material der Gotteserkenntnis. Dann würde der Name Jahwes nicht nur sein Persongeheimnis erschließen, sondern zugleich ein Wegname und Verheißungsname sein, der das Verläß­liche im Dunkel der Zukunft aufweist. Alles dies sagt Zimmerli auch48, aber die per­sonalen Umschreibungen der Selbstoffenbarung Gottes scheinen in einer gewissen Span­nung zur erkannten theologischen Bedeutung der Verheißung zu stehen. Offenbarung J ahwes steht ja nicht nur am Anfang der Verheißungsgeschichte, sodaß die Verheißungen und Gebote in seinem "Namen" gegeben werden, sondern auch in jener Zukunft, auf die die Verheißungen weisen und die Gebote auf einen Weg stellen. Dort aber wird nicht nur der Personname Jahwes offenbar, sondern seine Gottheit und Herrlichkeit wird in allen Landen offenbar, sodaß jene Verheißung "ich bin Jahwe" sich in dem "kabod Jahwe", der alles erfüllt, erfüllen wird. Dann aber sind die Sachankündigungen der Verheißungen identisch mit der Verherrlichung der einen und einzigartigen Gottheit Gottes an allen Dingen. Daß "Jahwe selbst" die Zukunft ist, von der die Propheten reden, müßte dann heißen, daß in seiner alles erfüllenden Herrlichkeit, seinem Frieden und seiner Gerechtigkeit als in einem real zu erwartenden Geschehen die ganze Schöp­fung gut wird und zurecht kommt. Das aber ist in einem personalistischen oder gar transzendentalen Offenbarungsbegriff nur schwer aussagbar. Gegen Zimmerlis Offenbarungsverständnis hat R. Rendtorff eingewandt, daß Zimmerli zu Ex. 3 selber erklärt habe: "Gott stellt sich durch Rückverweis auf schon Bekanntes oder früher Geschehenes als der Bekannte vor." 49 Es ist nicht ein unbekannter Gott, der in seiner Namensnennung aus seiner Unbekanntheit heraustritt, sondern "derselbe", der mit den Vätern war. Darum liegt für Rendtorff das eigentliche, Gott offenbarende Moment im Rückverweis auf die bisherige und schon bekannte Geschichte. "Der Gott, der hier redet, ist der, der schon bisher immer wieder seine Macht erwiesen hat." 50 "Der Blick ist also auf das bevorstehende Geschehen gerichtet; aber durch Verbindung mit dem Rückverweis auf das bisherige Handeln des Gottes der Väter wird das in der Zukunft er­wartete Geschehen hineingestellt in die ganze bisherige Geschichte dieses Gottes. "51 So wird für Rendtorff Gott aus dem Zusammenhang der von ihm gewirkten Geschichte offen­bar, erkennbar und prädikabel. Durch seine Geschichtstaten wird er von jedem erkannt, der die Augen für das Geschehen selbst öffnet. Das "Geschehen selber" kann und soll dem, der es sieht, Erkenntnis Jahwes wirken. Die Formel "Ich bin Jahwe" kann darum, wenn namentlich die mit ihr jeweils verbundenen Tat- und Werkformeln in den Nebensätzen beachtet werden, nicht nur als personale Selbstvorstellungsformel genommen werden, sondern ist eher ein prägnanter Ausdruck für den im Geschehen offenkundigen Macht­anspruch Jahwes. "Jahwe" wäre demnach kein das Ich-Geheimnis offenbarender Eigen­name, sondern ein Gottesprädikat, das aus der Erfahrung der Geschichte gewonnen

47. Gottes Offenbarung, aaO. 21; vgl. auch 100 f. 48. "Offenbarung", aaO. 19: "Gott stellt sich damit in diese Geschichte, deren weitere Zukunft in den dann folgenden Verheißungen sichtbar gemacht wird, hinein und redet aus ihr." Gottes Offenbarung aaO. 100 f.: "Vielmehr leitet die Kundgabe des Namens unmittelbar hinüber zu der Verheißung J ahwes, geschichtlich mit Israel handeln zu wollen. Wenn man Jahwe in der Folge in seinem Namen erkennen will, so gilt es nicht, verborgene Hintergründigkeiten aus diesem Namen herauszuhören, sondern auf das Israel zugewandte (J ahwe, ,euer Gott') geschichtliche Tun dieses sich so in seinem Namen Offenbarenden zu achten." 49. Offenbarung als Geschichte, aaO. 33. 50. Ebd. 51. Ebd. 33 f.

104 Verheißung und Geschichte

wird und soviel besagt wie "der Mächtige". Nicht der Name ist Gegenstand der Erkennt­nis, sondern der in ihm enthaltene Machtanspruch. Jahwe wird durch seine Geschichts­taten offenbar. "Diese ganze Geschichte zielt also darauf ab, Erkenntnis Jahwes zu wirken, Erkenntnis dessen, daß er nur Gott ist und Macht hat." 52 Unserer Frage nad1 der vollen Selbstoffenbarung Gottes entspricht im Alten Testament der Ausdruck "kabod Jahwe". Die Herrlichkeit Jahwes wird offenbar in Geschichtstaten, auf dielsrael zurück­sieht. Bei den Propheten wird sie von einem zukünftigen Geschehen erwartet. Dann werden alle Völker die Herrlichkeit Jahwes selbst erkennen.- Hier hat Geschichte nicht nur eine dienende Funktion für die personale Gottesbegegnung, sondern die Geschichte "selbst" macht offenbar. Jahwe wird als "der Mächtige" im Spiegel seiner Geschichtstaten erkennbar. Der geschichtliche Zusammenhang des neuen mit dem bisherigen Handeln Gottes mamt Gottes Gottheit erkennbar. Wird aber auf diese Weise die Geschichte selbst als indirekte Selbstoffenbarung Gottes verstanden, so tritt offenbar an die Stelle des Kosmos als Theophanie die Geschichte als Theophanie53• Das führt notwendig zu dem Gedanken, daß der eine Gott in der Einheit der Universalgeschichte von ihrem Ende her indirekt erkennbar wird. Nun handelt es sich bei dem alttestamentlichen Rückver­weis neuer Offenbarungen Gottes auf schon Bekanntes aber nicht um den Rückschluß von der Wirkung auf die Ursache oder von der Tatsache auf den Sachtäter, sondern um ein Wiedererkennen der Selbigkeit Gottes von Verheißung zu Erfüllung: "Ihr werdet erkennen, daß ich, Jahwe, geredet habe und es tue" (Ez. 37, 14). Die ergangene Ver­heißung wird erinnert, wo im Geschehen die Treue Jahwes offenbart wird. Auch der zukünftige kabod Jahwe, der allen Völkern die Gottheit Jahwes offenbaren wird, ist kein unbezeugtes Geschehen, sondern Israel ist zum "Zeugen für die Völker" bestellt (]es. 55, 4). Nicht die zu Ende gebrachte Geschichte macht Gott offenbar, sondern Gottes uni­versales Offenbarwerden im Zukommen seiner Kabod-Fülle bringt die Geschichte zu Ende, Trotz dieser Einwände muß aber die Ergänzung festgehalten werden, die Rend­torff zu Zimmerlis Offenbarungsbegriff liefert: "Gott selbst" kann nicht nur heißen: Gott in Person, Gott in seinem Ich-Geheimnis, sondern muß immer auch heißen: Gott als Gott und Herr, Gott in seinem Herrschaftsgeheimnis. Wo Gott selbst offenbar wird, wird seine Herrschaft und seine Macht offenbar, und seine Herrschaft und Macht wird offenbar, wo seine Segens-, Friedens- und Gerechtigkeitsverheißungen von ihm selbst erfüllt werden. Das Erkennen: "Ich bin Jahwe" und das Erkennen seiner Herrlichkeit, die geschieht, sind ein und dasselbe.

Wenn wir Gottesoffenbarung und Erkenntnis Gottes im Verheißungs­horizont der Geschichte verstehen wollen, so werden wir zu folgenden Ergebnissen gelangen können: 1. Gott offenbart sich als "Gott", wo er sich als derselbe zeigt und so als derselbe erkannt wird. Er wird identifizierbar, wo er sich mit sich selbst im geschichtlichen Akt seiner Treue identifiziert. Die Voraussetzung für die Erkenntnis Gottes ist das Offenbarwerden Gottes durch Gott. Inso­fern bleibt Gott bis in den menschlichen Erkenntnisvorgang hinein das Subjekt und der Herr. Menschliches Erkennen ist antwortendes Erkennen. Sind aber die Offenbarungen Gottes Verheißungen, so wird Gott "selbst" offenbar, wo er "Bund und Treue hält ewiglich" (Ps. 146, 6). Wo Gott in seiner Treue zu gegebener Verheißung sich zu dem bekennt, der zu sein er versprach, wird er selbst in seiner Selbigkeit offenbar und erkenn­bar. "Gott selbst" kann dann nicht als Reflexion auf seine transzendente

52. Ebd. 36. 53. Vgl. S. 68.

Offenbarung und Gotteserkenntms 105

Ichheit verstanden werden, sondern muß als seine Selbigkeit in geschicht­licher Treue zu seinen Verheißungen verstanden werden. Bekennt sich Gott in Anknüpfung, Bestätigung, Erneuerung, Weiterführung und Er­füllung zu seinem Bund und seinen Verheißungen, so bekennt sich Gott zu Gott, so bekennt er sich zu sich selbst. Indem er seine Treue geschicht­lich beweist, offenbart er sich selbst. Denn das Wesen, die Identität des Verheißungsgottes liegt nicht in seiner geschichtsenthobenen Absolutheit, sondern in der Beständigkeit der von ihm frei gewählten Relation zu seinen Geschöpfen, in der Beständigkeit seiner erwählenden Barmherzig­keit und Treue. Erkenntnis Gottes vollzieht sich darum nicht angesichts eines transzendenten Über-Ich und auch nicht angesichts eines dunklen Geschichtsverlaufes, sondern angesichts des geschichtlichen Handeins Gottes im Horizont der Verheißungen Gottes. Gott offenbart sich in seinem Namen, der insofern sein Persongeheimnis erschließt, als er sein Treuegeheimnis erschließt. Der Name Gottes ist ein Verheißungsname, der seine Gegenwart auf dem Wege verheißt, auf den Verheißung und Berufung stellen. Der Name Gottes und die Verheißungen im Namen Gottes sind darum nicht allein Selbstvorstellungsformeln, sondern sie teilen auch etwas "über" Gott mit, denn er sagt sich in ihnen für seine Zu­kunft gut. Sie teilen mit, wer er sein wird. Sie teilen mit, daß er und wo er zu finden sein wird auf dem Wege, den die Verheißung in die Zukunft weist. Darum ist das Offenbarwerden Gottes und die korrespondierende Erkenntnis Gottes immer mit geschichtlicher Erzählung und Erinnerung und mit prophetischer Erwartung verbunden. Beides sind nicht nur Ent­faltungen seiner Selbstoffenbarung, sondern gehört offensichtlich kon­stitutiv zum Offenbarwerden seiner Treue und Selbigkeit und Einzigkeit hinzu. Martin Buber hat erklärt: "Es darf als religionsgeschichtlicher Grundsatz ausgesprochen werden, daß Gotteserfahrung mit der Erfahrung einer einzelnen Erscheinung, Gotteserkenntnis aber mit der Identifikation zweier, Erkenntnis also mit Wiedererkenntnis beginnt. "54 Das ist m. E. spezifisch alttestamentlich gedacht. Gott erkennen, heißt ihn wieder­erkennen. Ihn wiedererkennen aber heißt, ihn in seiner geschichtlichen Treue zu seinen Verheißungen erkennen, ihn darin als denselben und darum ihn selbst erkennen. Die Identifizierung zweier Erfahrungen ist nur dort möglich, wo eine Selbstidentifikation oder die Offenbarung ge­schichtlicher Treue vorliegt, da doch dieser Gott seine Verheißungen mit seinem Namen verbürgt.

54. M. Buber, Königturn Gottes, 2. Aufl. 1936, XLIII.

106 Verheißung und Geschichte

2. Ist Gotteserkenntnis ein Wiedererkennen Gottes, weil Offenbarung Gottes heißt, daß Gott sich zu Gott in geschichtlicher Treue zu seinen Verheißungen bekennt, so kann kaum gesagt werden, daß der geschicht­liche Zusammenhang bestimmter geschichtlicher Ereignisse "selbst" Gott offenbar mache. Wohl aber offenbart die Verheißungsgeschichte, d. h. die durch Verheißung und Bund eröffnete und erwartete Geschichte, die Treue Gottes, sofern er sich selbst darin die Treue hält. Wieder­um wäre es eine Übertragung des griechrschen Erkenntnisbegri.ffs, wollte man sag,.en, daß Gotteserkenntnis immer erst a pasteriori auf Grund erfüllter Verheißungen möglich wäre, wenn sich der Ver­heißungsgott im geschichtlichen Erfolg als der Erfolgsgott seiner Pro­pheten beweise. Gott wird nicht erst am Ende der Geschichte erkannt, sondern inmitten der werdenden, offenen und auf das Spiel der Ver­heißungen gesetzten Geschichte. Darum muß diese Erkenntnis ständig der ergangenen Verheißungen und der geschehenen Treue Gottes ein­gedenk bleiben und zugleich ein eigentümliches Hoffnungswissen sein. Es muß ein Wissen sein, das nicht nur die geschehene Geschichte wider­spiegelt - als geistiges Abbild vollendeter Geschichtstatsachen -, sondern es muß ein beteiligtes Wissen, ein praktisches Wissen, ein Wissen sein, das auf die Zuversicht verheißener Treue Gottes aufgetragen ist. Gott erkennen heißt Gott erleiden, sagt ein alter Satz. Leiden aber heißt verändert und verwandelt werden. Gotteserkenntnis ist dann ein anti­zipierendes Wissen um die Zukunft Gottes, ein Erkennen der Treue Gottes, die aufgetragen ist auf die Hoffnungen, die durch seine Ver­heißungen ins Leben gerufen werden. Gotteserkenntnis ist dann eine Erkenntnis, die nach vorne zieht - nicht nach oben - in noch Unabge­goltenes, noch Ausstehendes hinein. Es ist ein Wissen, nicht um das Aus­sehen vergangener Geschichte, sondern um die Aussichten der ergangenen Verheißungen und der ergangenen Treue Gottes. Gotteserkenntnis wird dann in steter Erinnerung an das Ergangensein von Erwählung, Bund, Verheißung und Treue Gottes in die verheißene Zukunft Gottes vor­greifen. Es ist eine grenzenüberschreitende Erkenntnis im Erinnerungs­und Erwartungshorizont der Verheißung, denn das Wissen um Gott ist immer zugleich das Wissen um die eigene geschichtliche Berufung durch Gott. So wenig die Verheißungen Deuteworte für vorliegende Wirklichkeit sind, sondern Tatworte zu erwartender Treuegeschehnisse Gottes, so wenig kann Gotteserkenntnis ein Resurne der Sprache vollendeter Tat­sachen sein. Die Wahrheit der Verheißung liegt nicht in einer aufweis­baren Entsprechung zur Wirklichkeit, die da war oder da ist. Sie liegt

Offenbarung und Gotteserkenntnis 107

nicht in der adaequatio rei et intellectus. Die Verheißung beweist ihre Wahrheit hier vielmehr in der spezifischen inadaequatio intellectus et rei, in die sie die Hörer hineinstellt. Sie steht in einem aufweisbaren Widerspruch zur geschichtlichen Wirklichkeit55• Sie hat ihre Ent­sprechung noch nicht gefunden und zieht darum den Geist ins Zukünftige, nämlich in gehorsame und schöpferische Erwartung, und stellt ihn in den Widerstand gegen die vorliegende Wirklichkeit, die die Wahrheit nicht in sich hat. Sie provoziert so eine besondere Seinsinkongruenz im hoffen­den und vertrauenden Bewußtsein. Sie verklärt nicht die Wirklichkeit im Geiste, sondern ist auf ihre Veränderung aus. Darum entbindet sie nicht Kräfte der Anpassung, sondern setzt seinskritische Kräfte frei. Sie transzendiert die Wirklichkeit nicht in ein unwirkliches Reich der Träume, sondern nach vorne in die Zukunft einer neuen Wirklichkeit. 3. Die Wirklichkeitsdeckung der Verheißung liegt in der Glaubwürdig­keit und der Treue dessen, der sie gibt. Doch bliebe diese Begründung abstrakt und würde dem Charakter der Verheißung als des Wortes, in dem Gott sich selbst verspricht und als Ich-Jahwe dem Menschen gegen­übertritt, nicht gerecht, wenn davon abgesehen würde, daß Verheißungen effektiv auf ein reales, futurisches Erfüllungsgeschehen aus sind. Ein theologischer Personalismus vermag diese Zukunft, in die die Verheißung weist, nur als personale Zukunft Gottes "selbst" auszusprechen. Die Hoffnung auf die Verheißungen Gottes hofft aber doch nicht auf Gott selbst oder auf Gott überhaupt, sondern sie erhofft von seiner künftigen Treue auch die Erfüllung des Verheißenen. Sicher kann man sagen: die Hoffnung hofft auf das Kommen der Treue Gottes, sie erwartet die ver­heißene Zukunft vom Zukommen Gottes selbst und nicht abgesehen von ihm. Doch wäre es wohl eine Abstraktion, die der alttestamentlichen Hoffnung nicht gerecht würde, wann man diese Hoffnung als spes puris­sima in Deum purissimum beschreiben würde56• Die Hoffnung erhofft, wo sie sich an die Verheißungen hält, vom Kommen Gottes auch "dies und das", nämlich seine erlösende und zurechtbringende Herrschaft in allen Dingen. Sie hofft nicht nur personal "auf ihn", sondern auch sach­lich auf seine Herrschaft, seinen Frieden und seine Gerechtigkeit auf Erden. Sonst könnte unter der Hand die Hoffnung selber sich in eine

55. Wird nicht gegenüber dem Dtn. 18, 21 f. und Jer. 28,9 angedeuteten Kriterium echter Prophetie im "Eintreffen des Wortes" Jer. 23, 22 und 29 ein anderes Kriterium genannt: ,.Ist mein Wort nicht wie Feuer, spricht der Herr, und wie ein Hammer der Felsen zer­sduneißt"? 56. M. Luther, WA 5, 166: Adeo scil. omnia a nobis aufferenda sunt, ut nec optima dei dona, idest ipsa merita, reliqua sint, in quibus fidamus, ut sit spes purissima in pu­rissimum deum: tune dem um homo vere purus et sanctus est."

108 Verheißung und Geschichte

Art Erfüllung verwandeln und es gäbe nichts mehr, wonn sich das Hoffen erfüllt. Das Verständnis der Verheißung muß beides, den personalen und den geschichtlich-sachlichen Wahrheitsbegriff, verbinden. Die Gewißheit der Hoffnung entspringt aus der Glaubwürdigkeit und der Treue des Ver­heißungsgottes. Das Wissen der Hoffnung erinnert die Treue dieses Gottes in der Geschichte und greift in vielen Vor-stellungen, ja Real­utopien, der wirklichen Erfüllung voraus, ohne doch damit die Freiheit des verheißenden Gottes anzutasten. Eine Hoffnungsgewißheit ohne solches Wissen wäre ein vages Abenteuer. Ein Wissen ohne solche Ge­wißheit wäre Geschichtsspekulation. Der in seinen Verheißungen gegenwärtige Gott ist für den menschlichen Geist ein Gegen-stand in dem Sinne, daß er dem menschlichen Geiste entgegen-steht solange, bis eine Wirklichkeit geschaffen wird und erkenn­bar wird, die seinen Verheißungen ganz entspricht und "sehr gut" ge­nannt werden kann. Darum machen nicht die Erfahrungen den Glauben und die Hoffnung, sondern der Glaube und die Hoffnung machen Er­fahrungen und bringen den menschlichen Geist zu einem immer neuen, unruhigen Transzendieren seiner selbst.

§5

Verheißung und Gesetz

Wenn die Verheißungen Gottes einen spannungsgeladenen Zeitraum zwischen ihrem Ergehen und ihrem Eintreffen schaffen und damit Frei­heit zum Gehorsam eröffnen, so wird die Frage nach Weisungen, diesen Zeitraum und die so bestimmte Existenz in ihm auszufüllen, erheblich. Das ist verständlich, da eine Verheißung nicht unentrinnbares Schicksal ansagt, sondern Menschen auf einen Weg bringt, der in ein anderes Land und eine andere Wirklichkeit führt. Orientieren wir uns wieder am Leit­bild des nomadischen Lebens, so werden wir sagen können, daß ur­sprünglich Verheißung mit Gehorsam und Gehorsam mit Ortswechsel und Existenzwandel verbunden sind. Man muß sich aufmachen und dort­hin gehen, wohin die Verheißung weist, wenn man der Erfüllung teil­haftig werden will. Verheißung und Geheiß, Weisung des Zieles und Weisung des Weges gehören darum ganz unmittelbar zusammen. Man wird in diesem Zusammenhang auch den rechtlichen Charakter der

Verheißung und Gesetz 109

Verheißung beachten müssen. Verheißung ist die eine Seite des Bundes, in welchem die Gemeinschaft Gottes mit dem Volk seiner Wahl gestiftet wird. Insofern gründet Verheißung in Erwählung, und Erwählung ist immer eine Berufung in die Verheißungsgeschichte hinein. Wem immer Verheißungen erteilt werden, dem verbündet sich Gott und den ver­bündet sich Gott. Erstreckt sich der Bund, in dem Gott sich in seiner Freiheit an die Treue zur erteilten Verheißung bindet, auf eine Zukunft einzuhaltender Erfüllungen, so ist dieser Bund nicht als ein historisches Faktum betrachtbar, sondern als ein geschichtliches Ereignis zu verstehen, das über sich hinaus in die angesagte Zukunft weist. Man wird den Bund zu verstehen haben als ein Geschichte stiftendes Ereignis, das bestimmte Möglichkeiten der Geschichte eröffnet. Man wird den Bund verstehen müssen als einen "geschichtlichen Prozeß" oder, wie Jacques Ellul aus juristischen Parallelen erklärt, als einen "sukzessiven Vertrag", der sich nicht im einmaligen Vorgang erschöpft, sondern dessen Wirkungen fort­gehen bis zur verheißenen Erfüllung57• Insofern eignet der Bundes­verheißung mitsamt den Bundesweisungen bleibende und treibende Be­deutung bis zur Erfüllung. Der Gehorsam, den die Weisungen verlangen, entsteht aus der festen Zuversicht und ist eine selbstverständliche Konsequenz aus der Verhei­ßung. Den Bund, den Gott stiftet, "halten" heißt sowohl die Zusagen der Verheißung "halten" wie "seine Gebote halten". Die Gebote "hält" man durch Gehorsam. Die Verheißungen "hält" man, indem man "mit ganzem Herzen und allen Kräften" auf sie vertraut und hofft und nicht zweifelt. Alle Gebote sind Explikation des einen Gebotes, Gott zu lieben und ihm anzuhangen (Dtn. 6, 5), und dieses eine Gebot ist nur die Kehr­seite der Verheißung. Es gebietet, was die Verheißung bietet. Darum wird nicht nur der Ungehorsam unter Strafe des Nichterfahrens der Erfüllung gestellt, sondern auch die Resignation, die Ermüdung, der Abfall von der lebendigen Hoffnung. Verzagtheit und Verzweiflung sind Sünde und zwar Ursprung der Sünden58• Darum sind umgekehrt die Gebote "leicht" zu erfüllen in der Kraft der Hoffnung und des Bar­rens auf Gott. Die Gebote des Bundes, die die Verheißungshoffnung in den leibhaftigen Gehorsam weisen, sind nichts anderes als die ethische Kehrseite der Verheißung selber. Das verheißene Leben erscheint in

57. j. Ellul, Die theologische Begründung des Rechtes, 1948, 37 f. 58. Verzweiflung und Verzagtheit sind nur die Kehrseite der superbia, in der Luther den Ursprung aller Sünden sah. Vgl. dazu den schönen Traktat von]. Pieper, über die Hoffnung, 1949, 51 ff., und K. Barth, Kirchliche Dogmatik, IV, 2 § 65: "Des Menschen Trägheit und Elend."

110 Verheißung und Geschichte

ihnen als das gebotene Leben. Darum sind die Gehorsamsweisungen ebenso wie die Hoffnungsweisungen auf jenen Horizont bezogen, der sich vor der Gegenwart vom geschichtlichen Datum des Bundes her ent­faltet und die Gegenwart zum Frontraum im Anbruch des verheißenen Neuen macht. Die Gebote haben in dieser Verbundenheit mit den Ver­heißungen des Bundes allemal eine parakletische und paränetische Be­deutung, sie sind aber nicht juristische Konditionen oder das, was man theologisch gemeinhin "Gesetz" nennt59• Wenn die Gebote die ethische Seite der Verheißung sind und der Gehorsam die Frucht der Hoffnung, dann sind die Gebote so wenig wie die Verheißungen starre Normen, sondern gehen zusammen mit der Verheißung, Geschichte treibend und sich wandelnd durch die Zeiten der Erfüllung entgegen. Sie sind nicht abstrakte Norm von idealen Ordnungen, die immer sind und in der Zeit abbildhaft erscheinen, sondern sind realer Vorschein auf jenen geschicht­lichen Horizont hin, der vom geschichtlichen Datum des Bundes für be­stimmte Menschen entworfen wird. Die Gebote haben darum ebenso wie die Verheißungen einen futurischen Tenor. Sie zielen auf jene Wirk­lichkeit menschlicher Würde, deren der Mensch durch die Gemeinschaft des verheißenden Gottes gewürdigt wird. Die theologische Reflexion auf das Gesetz kann darum offenbar in dem Augenblick einsetzen, wo das Nichteintreffen oder die Verzögerung der Erfüllung die Verheißung selber fraglich macht. Die theologische Re­flexion, die das Gesetz von seiner Zukunft löst, kann entstehen in dem Hohlraum des Verheißungsverzuges und aus den der verheißenen Zu­kunft widersprechenden Geschichtserfahrungen. Das Nichteintreffen von Verheißungen, auf die man sich verlassen hatte, die Anfechtung, die im Ausbleiben des Schutzes und der Führung des verheißenden Gottes er­wächst, macht folgende theologische Reflexionen möglich: a) Gott lügt. Es war seine Verheißung und sein Bund, aber er hat sie nicht eingehalten. "Wie ein Trugbach wardst Du mir, wie ein Wasser, auf das kein Verlaß ist" (Jer. 15, 18). b) Gott ist treu. Er verleugnet sich selber nicht. Was er sagt, das geschieht. Geschieht es mithin nicht, so war es nicht Gottes Verheißung, sondern die Lüge falscher Propheten. Die Geschichte selber weist sie als falsche Propheten aus. Derartige Reflexionen haben sich offensichtlich häufig schon gegen die charismatischen Führer Israels erhoben. c) Die Reflexion richtet sich auf den angefochtenen oder gar schon ent­täuschten Menschen selbst. Der Grund für die Vorenthaltung der Er-

59. Vgl. zu diesem Abschnitt G. von Rad, Theologie des Alten Testamentes, li, 402 ff.: "Das Gesetz".

Verheißung und Gesetz 111

füllung, für die Ferne und Abwesenheit Gottes und für sein Gericht, liegt im Menschen, sei es in seinem Abfall von der Hoffnung auf den Gott der Verheißung in Abgötterei (goldenes Kalb) oder Götzendienst, sei es im Ungehorsam gegen die Weisungen der Gebote. Es muß dann nach der verborgenen Verunreinigung und Sünde geforscht und Reini­gung und Sühne gesucht werden, um die Verheißung wieder in Stand zu setzen. Mit eben dieser letzten Reflexion aber wird die Verheißung dann zu einem Objekt und wird vom verheißenden Gott abstrahiert. Sie wird zu einem Objekt, dessen Kraft durch Buße und Kult manipulierbar wird. Während ihrem Wesen nach eine göttliche Verheißung die Kraft zur Er­füllung in der Treue und Macht des verheißenden Gottes selber trägt, entsteht in der Reflexion des Hohlraumes ihres Verzuges eine eigentüm­liche Konditionalisierung der Verheißung. Ihre Erfüllung wird an den Gehorsam gebunden und der Gehorsam als conditio sine qua non und als menschliche Gegenleistung verstanden. Vollkommener Gehorsam gemäß der Verheißung und ihrer Weisungen muß die Erfüllung herbeiführen, während jede Unvollkommenheit weiteren Anlaß zum Verzuge bietet. Hier entsteht eine vielfach schillernde und historisch sehr zu differenzie­rende Umkehrung der Subjekte: ist Gehorsam eine Konsequenz der Verheißung, die zu Aufbruch und zielgerichteter Wanderung hinreißt und die Erfüllung der Kraft des verheißenden Gottes zutraut, so kann nun umgekehrt die Erfüllung als Konsequenz des menschlichen Gehor­sams angesehen werden. Dabei muß der menschliche Gehorsam noch nicht einmal als effektive causa der Erfüllung verstanden sein, sondern kann auch nur als occasio für die Erfüllung durch Gott selbst genommen werden. Damit aber liegt die Kraft der Verheißung zu ihrer Erfüllung nicht mehr in der Treue Gottes selbst, sondern im gehorsamen Menschen. Solche Reflexionen sind auch im Alten Testament nicht fremd. Sie treten offensichtlich schon sehr früh auf. Sie treten überall auf, wo im Verlust des zugesagten Heils, in Unglück und Gottesferne im Volke die Fragen aufbrechen: Warum? Weshalb? Wie lange? Diese Fragen werden im Volksklagelied lebendig und die versuchten Antworten werden vom Bund und vom Gottesrecht her gegeben. Ist es denkbar, daß die letzte Reflexion im spätjüdischen Rahbinismus beherrschend wird? Könnte u. U. die spätjüdische Thora-Theologie ein Gestaltmotiv in dem haben, was neutestamentlich oft als "Parusieverzögerung" bezeichnet wird?- In der jüdischen Theologie der Neuzeit begründet die Umkeh­rung der Subjekte offenbar jene merkwürdige Nähe zum deutschen Idealismus, zum aktivistischen Messianismus und zum russischen Gottes-

112 Verheißung und Geschichte

bauerntum. Dann wird "die Erlösung seiner Welt der Macht unserer Umkehr überantwortet. Gott will seine Schöpfung nicht anders als mit unserer Hilfe vollenden können. Er will sein Reich nicht offenbaren, ehe wir es gegründet haben" 60•

Man könnte dieses "die Verheißung in der Gestalt des Gesetzes" nennen. Dann wäre in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, daß Paulus seinen Streit mit dem Thora-Judentum und dem Judenchristentum zwar über das Gesetz, aber doch um die Verheißung führt (Gal. 3, 15 ff.). Verheißung in Gestalt des Gesetzes oder Verheißung in Gestalt des Evangeliums, das ist dann die Frage. Und es könnte sein, daß die "Ver­heißung in Gestalt des Evangeliums" den ursprünglichen Sinn des Ge­setzes als verheißungsgebundener Weisung wieder ans Licht bringt.

§6

Verheißung in prophetischer Eschatologie61

Seit der Wiederentdeckung des eschatologischen Charakters der Worte in den biblischen Zeugnissen ist der Begriff "Eschatologie" ins Schwimmen geraten. Betraf er in orthodoxer Dogmatik jenen letzten, oft beziehungs­los angehängten Artikel "de novissimis", so ist er heute in Exegese und Dogmatik vieldeutig geworden und meint, je nachdem auf welche Ma­terialien er angewendet wird, einfach "zukünftig" oder "über die Gegen­wart hinausgehend" oder "letzte Zeit" oder "transzendent" oder "auf ein letztes Ziel ausgerichtet" oder "letztgültig". In der alttestamentlichen Wissenschaft spitzt sich der terminologische Streit darauf zu, ob man Geschichtshoffnungen schon eschatologisch nennen kann oder ob man den Begriff auf Weissagungen reservieren soll, die vom Ende der Geschichte

60. M. Buber, Gog und Magog, 1949, 297. H.-J. Kraus, Gespräch mit M. Buher, EvTh 12, 1952, 76 ff. Es verbindet sich damit auch noch ein anderer Gedanke: J.ahwe bedarf im Mysterium der Tat Israels als seines Sohnes. Vgl. L. Baeck, Das Wesen des Juden­tums, 2. Auf!. 1959, 132 ff.; H. Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Juden­tums, 2. Auf!. 1929, 140, 172, 233, 431. 61. Vgl. zum Folgenden: M. Buber, Der Glaube der Propheten, 1950; Th. C. Vriezen, Prophecy and Eschatology, V. T. Suppl. I, 1953, 199-229; H. W. Wolff, Das Geschichts­verständnis der alttestamentlichen Prophetie, EvTh 20, 1960, 218r235; G. von Rad, Theo­logie des Alten Testamentes, II, 125 ff.: "Die Eschatologisierung des Geschichtsdenkens durch die Propheten"; 0. Plöger, Theokratie und Eschatologie, 1959; D. Rößler, Gesetz und Geschichte, 1960; Kl. Koch, Spätisraelitisches Geschichtsdenken am Beispiel des Buches Daniel, Hist. Zeitschrift 1961, Bd. 193, 1-32.

Verheißung in prophetischer Eschatologie 113

überhaupt und also von Ereignissen reden, die außerhalb des Geschicht­lichen liegen62 • Kann man unterscheiden zwischen Geschichtseschatolo­gien und kosmologischen Eschatologien, zwischen innergeschichtlichen Eschatologien und transzendentalen Eschatologien? Meint das Eschaton nur "Zukünftiges" oder wird in ihm die Zukunft absolut genommen im Gegensatz zur Geschichte?-Es ist nur schwer möglich, bestimmte Vorstellungskomplexe als "escha­tologische Schemata" zu eruieren. Es ist auch kaum möglich, die Punkte festzustellen, an denen man sagen kann: hier endet prophetische V er­heißung und dort beginnt die Eschatologie. Man wird aber zunächst sagen können: solche Verheißungen und Erwartungen sind eschatolo­gisch, die sich auf ein Geschichtlich-Zukünftiges richten im Sinne des letzten Horizontes. Nun paßt der Begriff des "Horizontes" als einer Erwartungslinie, die mitwandert und zu weiterem Vordringen einlädt, schon auf den allgemeinen Begriff von Verheißung. "Der Gottesglaube Israels ist zukunftshaltig. "63 In der Tat ist die Vergegenwärtigung des Zukünftigen in Gerichtsandrohung und Heilsverheißung nicht ein Spezifikum der Propheten der klassischen Zeit, sondern man könnte es eher umgekehrt sagen, daß die klassische Prophetie ein Spezifikum des israelitischen Verheißungsglaubens ist64• "Dieser in die Zukunft wei­sende Glaube hat verschiedenartige Motive übernommen, um anschaulich zu machen, worum es jeweils bei der Zukunft Gottes geht. "65 Das setzt den Glauben an den verheißenden Gott, der der zukünftige ist, voraus, und kann nicht psychologisch erklärt werden aus einer Enttäuschung am kultischen Theos epiphanes, der nachträglich "eschatologisiert" wird66•

Das aber würde dann heißen, daß die prophetische Eschatologie entstan­den ist auf dem Boden des israelitischen Verheißungsglaubens, und daß in der prophetischen Eschatologie der Verheißungsglaube mit neuen Gottes-, Gerichts- und Geschichtserfahrungen ringt und dabei neue, tiefe Verwandlungen erfährt. Es tritt bei den Propheten bei aller Novität ihrer Botschaft kein anderer Gott mit seinem Anspruch an Israel heran als der Deus spei.

62. G. von Rad, aaO. 128 als Frage an G. Hölscher, S. Mowinckel und G. Fohrer. 63. Vgl. auch 0. Procksch, Theologie des Alten Testamentes, 1950, 582. Vgl. auch M. Buber, aaO. 8. 64. Vgl. dazu die neuen Fragen in der Prophetenforschung: R. Bach, Die Aufforderung zur Flucht und zum Kampf im alttestamentlichen Prophetenspruch, 1962; R. Rendtorff, Erwägungen zur Frühgeschichte des Prophetenturns in Israel, ZThK 59, 1962, 145 ff. 65. ]epsen, Art. Eschatologie, in: RGG 3. Aufl. II, Sp. 661. 66. So etwa M. Buber, Königtum Gottes, 2. Aufl. 1936, X, und S. Mowinckel, Psalmen­studien II, 324. Dazu G. von Rad, aaO. 130: "Halten wir uns an die Aussagen der

114 Verheißung und Geschichte

Was im verheißenen Zukünftigen das letzte Zukünftige ist, was im ge­schichtlichen Novum das Novum ultimum ist, ergibt sich aus der Per­spektive, in der gesehen wird in die jetzt leere, dann aber erfüllte Zeit. Die Zeitvorstellungen ergeben sich erst aus den Erwartungen. Dabei ist es durchaus möglich, daß die eschatologischen Perspektiven sich ausweiten und daß das, was einer Generation als das "Letzte" erschien, einer späte­ren sich als innergeschichtlich und überholbar erweist. Die Vorstellungen vom "Ende" und vom "Ziel" hängen allemal davon ab, wovon etwas das Ende und wofür etwas das Ziel sein soll. Was als "Zeit" hieran wahrgenommen wird, ist dann konkrete Zeit an den Vorgängen ge­schichtlicher und erwarteter Veränderungen. Insofern wandeln sich mit den Erwartungen auch das Zeitempfinden und die Zeitvorstellung. Der abstrakte naturwissenschaftliche Zeitbegriff, der seit Kant das Denken der Neuzeit kategorial bestimmt, darf hier noch nicht angewandt wer­den, bevor er nicht auf seinen eschatologischen, und das heißt bei Kant transzendentalen Horizont geprüft worden ist67•

Wann und wie aber werden aus Geschichtshoffnungen "eschatologisch" zu nennende Hoffnungen?- Wann wird eine Verheißung eine eschatolo­gische Verheißung? Ist es aufweisbar und denkbar, daß der geschichtliche Wauderhorizont der Verheißung an letzte Grenzen stößt? Der Begriff "Eschatologie" soll hier verwendet werden, um das Beson­dere der Propheten im Unterschied zu den früheren Sprechern des Jahweglaubens und im Unterschied zu den späteren Apokalyptikern zu bezeichnen. Man hat religionsgeschichtlich die "Bewältigung" der Landeskultur in der Landnahme Israels als die erste entscheidungsreiche Schwelle bezeich­net, über die die Stämme Israels schritten. In dieser "Erschließung des sedentären Erlebnisbereiches durch den Jahwismus" 68 erhielt dieser sel­ber beträchtliche Weiterungen. Man könnte die "Bewältigung" der großen weltgeschichtlichen Erfahrungen des 7. und 6. Jahrhunderts, in denen Israel staatlich unterging und doch sich selbst religiös überlebte69 ,

als die zweite große Schwelle bezeichnen. Auch auf dieser Schwelle er­fährt der Verheißungsglaube ungeheure Erweiterungen: er entfaltet sich in der Botschaft der klassischen Propheten, die eng mit diesen Geschiehts­und Gerichtserfahrungen verbunden ist, zur prophetischen Eschatologie. Die Botschaft dieser Propheten erhebt sich im Schatten der aus Assur,

Propheten, so geht es nicht an, das ,Enttäuschungserlebnis' als den eigentlich auslösenden Faktor an die Spitze zu stellen." 67. Vgl. S. 38 ff. 68. V. Maag, aaO. 153, Anm. 1. 69. A. Alt, Die Deutung der Weltgeschichte im Alten Testament, ZThK 56, 1959, 129.

Verheißung in prophetischer Eschatologie 115

Babyion und Persien heraufziehenden Bedrohung und Vernichtung des völkischen, staatlichen und palästinensischen Israel in beiden Reichen. Die Propheten sehen die Vernichtung des Bestandes und der gesamten bisherigen Verheißungs- und Erfüllungsgeschichte, die Israel seinem Gott verdankt, vor Augen. Sie deuten diese Geschichte des Untergangs als Gericht Jahwes über sein abtrünniges Volk. Damit tritt für sie das neue Geschichtshandeln Jahwes in der Völkergeschichte, die für Israel zur Geschichte des Untergangs wird, gleichrangig neben und sogar in Kon­kurrenz zu den in Kult und Festen erinnerten Geschichtstaten Jahwes in der eigenen Vergangenheit. Dieses neue, noch dunkle und unabsehbare Handeln Jahwes wird sogar zu einer überbietung und Ablösung des vergangeneo Handeins am Volke führen. Im geschichtlichen Gericht über Israel liquidiert J ahwe nicht nur die Verschuldungen Israels, sondern liquidiert auch seine eigenen Bundessetzungen in der unergründlichen Freiheit zu Neuem. Es "muß von einer eschatologischen Botschaft überall dort gesprochen werden, wo von den Propheten der bisherige geschichtliche Heilsgrund negiert wird", sagt in seiner neuen Sicht der Dinge G. von Rad70• "Aber darauf sollte man denBegriff dann auch beschränken. Er sollte nicht da in Anwendung kommen, wo Israel sonst in irgendeinem gläubigen Sinne von seiner Zukunft oder etwa von der Zukunft einer seiner sakralen Institutio­nen gesprochen hat. Aber da, wo Israel von seinen Propheten aus dem Heilsbereich der bisherigen Fakten herausgestoßen wurde und wo sich sein Heilsgrund mit einemmal in ein kommendes Gottesgeschehen hinaus ver­lagerte, da erst wird die prophetische Verkündigung eschatologisch. "70" Da­mit ist der psychologischen Erklärung der "Eschatologie", die Mowinckel und Buher nach dem Vorbilde A. Schweitzers gaben, nicht stattgegeben. Nicht aus "Geschichtsenttäuschungen" an den geglaubten Verheißungen, die an Land, Kult und Tempel hingen, hat sich die Geschichtshoffnung eschatologisiert. Wohl aber an Erfahrungen, die als Gericht Jahwes ver­standen wurden, und zwar nicht nur als Gericht über ein ungehorsames Volk, gemessen an denalten Bundessa tzungen, sondern auch als Gericht über die bisherige Geschichte Jahwes selber mit diesem Volk. Inwiefern wird in diesem Abbruch des Bisherigen und dem Anbruch eines bisher unbe­kannten, neuen Gotteshandeins die Botschaft der Propheten "eschatolo­gisch"?- Das kann ja nicht nur im Umbruch von der "Zukunft des ge­kommenen" Jahwe, die man bis dahin auch kannte, zur "Zukunft des kommenden" Jahwe, die man bis dahin nicht kannte, liegen.

70. G. von Rad, aaO. II, 131 f. 70a. G. von Rad, aaO. 132.

116 Verheißung und Geschichte

Mit der Androhung, daß aus der Geschichte der anstürmenden Völker Jahwes Gericht über Israel käme, wird eine ganz entscheidende Univer­salisierung des Gotteshandeins erkannt. Die Erfahrung, zwischen den Großmächten der Welt zusammenzubrechen, wird als Gericht Jahwes verstanden. Doch schon bei Amos wird diese Gerichtsandrohung univer­sal: Gott richtet alles Unrecht, auch an den Völkern, die sein Gesetz nicht kennen. Folglich ist der Gott, der sein abtrünniges Volk durch die Völker richtet, auch ihr Herr und wird auch ihr Richter sein. Denn wenn er die Völker zu Gerichtsvollstreckern über Israel einsetzt, so ist er offensicht­lich auch ihr Gott und Herr. Richtet er Israel nach seinem Gesetz durch diese Völker, so wird er auch diese Völker nach seinem, zunächst nur Israel gegebenen Gesetz richten. Durch ihren Ansturm auf Israel und darin, daß Israel unter der Botschaft der Propheten diesen Ansturm als Gericht seines Gottes nehmen muß, werden die Völker in das Geschick Israels hinein verwickelt und geraten in Gericht und Segen in den Bann­kreis Jahwes. Politisch sterbend nimmt Israel gleichsam die Völker in die Hand und in die Zukunft seines Gottes hinein. Genau damit werden die Zukunftsandrohungen und Zukunftsverheißungen Jahwes aus ihrer geschichtlichen Beschränktheit auf das eine Volk und auf seine bestimmte geschichtliche Zukunft herausgenommen und werden eschatologisch. Der Wauderhorizont der Zukunftsansagen des verheißenden Gottes erreicht in seiner Weite auf "alle Völker" die Grenzen der menschlichen Wirklich­keit überhaupt, wird universal und damit eschatologisch. Der Horizont des kommenden Gottes erreicht damit ein non plus ultra. So umfassend auf alle Völker und so tief bis an die Wurzel der irdischen Existenz gehend die Gerichtsbotschaft der Propheten ist, so deutet sie doch wiederum auf eine andere Zukunft hin, auf einen Tag Jahwes, der sich aus der Nacht des Gerichtes erheben wird. Dieses Gericht bedeutet wohl Vernichtung des Volkes und der Geschichte, der sich dieses Volk in seinem Bestand verdankt, aber es bedeutet nicht Vernichtung der Treue Jahwes zu sich selbst. Es kann darum als Gericht in Vorbereitung eines letzten Neuen und als Vernichtung um der größeren Vollendung willen begriffen werden. So entstehen Endvisionen vom kommenden, nie ge­schauten neuen Heil, vom neuen Bund, von der kommenden Herr­lichkeit Jahwes in seiner Herrschaft über die Erde: und zwar nicht nur für Israel, sondern sozusagen für alle am Gericht über Israel beteiligten Völker, die in die Geschichte Jahwes mit Israel verwickelt wurden. Erst durch die erwähnte Universalisierung des Gerichtes hindurch wird das kommende Heil Jahwes eschatologisch in seiner Weite und Ent­schränkung.

Verheiß.ung in prophetischer Eschatologie 117

Wie wird es vorgestellt?- Zunächst wird "das Neue", dessen Kommen geweissagt wird, vorgestellt in Analogie zum bisherigen Heilshandeln Gottes in der Erfüllungsgeschichte seiner Verheißungen in der Ver­gangenheit des Volkes als neue Landnahme, als Einsetzung eines neuen David und eines neuen Zion, als neuer Exodus, als neuer Bund. Es wird also vorgestellt als "Erneuerung" und als Wiederkehr des Verlorenen und Vergaugenen in den Entsprechungen von Ende und Anfang71 • Aber es sind Analogien, die das durchaus Nicht-Analoge deuten wollen. Es kann nicht nur um Restitution der guten Vergangenheit gehen, denn es ist von Jahwe schon Neuesund Unbekanntes geschehen. Das Gericht ist universal geworden, und darum werden die Völker, zunächst die am Gericht beteiligten, dann pars pro toto durch sie "alle Völker", in das neue, kommende Handeln Gottes hineingenommen. Schon im Gericht verherrlicht sich Jahwe an ihnen. Um wieviel mehr wird er sich an ihnen verherrlichen, wenn sein neues Heilshandeln in Israel an den Tag kommt. "Das Heil ist universal geworden, wenn es auch israelitisch ist und über Israel seinen Weg in der Welt nimmt."72 Sicher sind diese Heils­visionen, die darin "eschatologisch" zu nennen sind, daß sie in ihrer Entschränkung alle räumlichen und nationalen Grenzen sprengen und bis an die Grenze menschlicher Wirklichkeit in "allen Völkern" gehen, israelozentrische Eschatologien. Das ergibt sich schon aus der Aussage­form der Analogie zur vergangeneu Heilsgeschichte Jahwes mit seinem Volk und aus der zugrundeliegenden Gerichtserfahrung in der Geschichte, die sich auf Israel konzentriert. Doch verbindet sich mit der Ausweitung der Gerichtsandrohung und der Heilsverheißung an alle Völker auch schon das, was Th. C. Vriezen die "Missionsaufgabe Israels" nennt: Licht der Völker und Zeuge Jahwes in seinem Rechtsprozeß mit den Völker­göttern zu sein. Je mehr aber das neue, kommende Heilshandeln Gottes alle Analogien aus der erfahrenen und überlieferten Geschichte Israels mit seinem Gott sprengt und das Gericht, das an Israel beginnt, durch die Völkergeschichte läuft, um so mehr erheben sich erste Spuren einer menschheitlichen universalen Eschatologie. Doch beginnt hier vermutlich schon das, was man Apokalyptik nennen muß. Von einer wirklichen "Eschatologie" wird man also erst sprechen können an Stellen, wo der geschichtlich beschränkte und perspektivische Hori­zont auf das angesagte Zukünftige im Eschaton das Proton der ganzen Schöpfung erreicht, wo der Horizont des sich ankündigenden und kom-

71. G. von Rad, aaO. li, 131; H. W. Wolff, aaO. 224 f. 72. Tb. C. Vriezen, Theologie des Alten Testamentes in Grundzügen, 1957,311.

118 Verheißung und Geschichte

menden Gottes auf alle Völker geht, denn es gibt nichts, was darüber­hinaus in der Weite noch gedacht werden kann. Zusammen mit dieser Universalisierung geht aber doch auch eine Inten­sivierung der Verheißung bis an die Grenzen der Existenz überhaupt. Der alte Verheißungsglaube erwartete von der Nähe und dann von der Ankunft des verheißenden Gottes Führung, Bewahrung, Schutz, Segen, Lebensfülle usw. und füllte diese Erwartungen aus dem Material der Entbehrungen, des Preisgegebenseins an Hunger, Durst, Elend, Unter­drückung und Bedrohung durch die Feinde. Das heißt, die Erwartungen füllen sich vorstellungsmäßig aus den gegenteiligen Erfahrungen, die man unter der Ferne und Verborgenheit des Verheißungsgottes machte. Das Positive wird allemal vorgestellt aus der Negation des Negativen. Entsprechend füllen sich die visionären Vorstellungen der prophetischen Verheißungen aus den negativen Erfahrungen des Gerichtes Jahwes. Das aber heißt, daß sich die Visionen von der verheißenen Verherrlichung Jahwes an den neuen Gerichtserfahrungen explizieren. Jahwes kom­mende Herrlichkeit zeigt sich in der Überwindung und Wendung des erfahrenen Gerichtes zum Segen. Sollte man es theologisch sagen, so müßte man erklären: es zeigt sich in der Überwindung Gottes durch Gott, des richtenden, tötenden Gottes durch den rettenden, lebenschaffen­den Gott, des Zornes Gottes durch seine Güte. Wollte man es an den betroffenen Menschen explizieren, so muß das kommende neue Han­deln Jahwes explizierbar werden an der Überwindung der Gerichts­erfahrungen, der Überwindung von Hunger und Armut, von Erniedri­gung und Beleidigung, von Völkerkriegen und Vielgötterei und endlich vom Sterben in der Verlassenheit durch Gott. Diese Überwindungen der erfahrenen Negativa des Daseins, die als Gericht Jahwes verstanden werden, fassen sich zusammen im Erwartungsgehalt, der mit dem Zu­kommen der Kabodfülle Jahwes verbunden ist. Die Erwartungsgehalte in den "Weissagungen" sind also einerseits angefüllt mit Erinnerungen und Analogien an gute Erfüllungsgeschichte Jahwes in der Vergangenheit des eigenen Volkes, deren Wiederkehr man erhofft; andererseits sind sie angefüllt mit Negationen des Negativen der neuen Gerichtserfahrungen. Dafür können dann auch Vorstellungen aus anderen Völkern vom Völkerfrieden usw. aufgenommen werden, sofern sie eschatologisiert werden können. Eine Grenze bleibt aber zunächst in der prophetischen Botschaft erhalten: der Tod. Solange der Tod als natürliche Grenze des Lebens empfunden wird, bleibt Gott ein Gott der Lebendigen. Wird aber der Tod- wenig­stens der frühe Tod - als Ausschluß von der Verheißung erfüllten und

Verheißung in prophetischer Eschatologie 119

vollendeten Lebens und also als Wirkung des Gerichtes erfahren, so muß die Hoffnung auf die Überwindung des Gerichtes Gottes durch seine lebenschaffende Herrlichkeit sich auch an dieser Grenze explizieren. Dar­um taucht am Rande der prophetischen Botschaft das Sterben als Er­leiden des göttlichen Gerichtes auf, und das messianische Heil, worin das Gericht aufgehoben wird, expliziert sich in einer Überwindung des Sterbens und des Todes. Jahwe bleibt ein Gott der Lebendigen. Das Leiden an der letzten Grenze des Lebens führt nicht zur Übernahme ägyptischer Jenseitsvorstellungen. Wird aber die Todesgrenze als Gericht Jahwes verstanden, so reicht seine Macht auch über den Tod hinaus. Auch die Toten können als in seinen Verheißungs- und Herrschafts­bereich hineingenommen erkannt werden, und auch der Tod selber er­scheint als eine Möglichkeit in seiner Hand, die gewendet werden kann, und nicht mehr als fixierte Wirklichkeit, die ihm in seinem Wirken eine Grenze setzt. Eschatologisch wäre also weiterhin eine Verheißung zu nennen, deren Erwartungshorizont alle Erfahrungen des totalen Ge­richtes an Leben und Sterben übersteigt und sie überwindet. Nur wenn der Erwartungshorizont über die als letzte Schranken des Daseins emp­fundenen Grenzen, also über den Tod, hinausgeht, ist ein eschaton, ein non plus ultra, ein novum ultimum erreicht. Die Universalisierung der Verheißung findet in der Verheißung der Herrschaft fahwes über alle Völker ihr eschaton. Die Intensivierung der Verheißung findet an der Infragestellung des Todes ihre Schwelle zum Eschatologischen. Nun ist allerdings zu beachten, daß diese Grenzen des Eschatologischen, die hier terminologisch fixiert wurden, bei den klassischen Propheten nirgends klar und säuberlich so erscheinen. Sie stehen inmitten der Ge­schichte ihres Volkes und in jenem Übergang vom Abbruch des Alten zum Anbruch des Neuen. Für sie steht die Geschichte nicht still, wie in den apokalyptischen Visionen von der Endzeit. Sie stehen nicht wie die apokalyptischen Konventikel entweltlicht der "Welt", den Völkern und Israel als Volk gegenüber, sodaß sie sich Betrachtungen über die Welt­haftigkeit der Welt und ihr zukünftiges Schicksal hingeben könnten. Hier ist vielmehr noch alles in Bewegung und die Geschichte, deren Zukunft sie ankündigen, ist beweglich. Sie selber wissen sich mit ihrer Botschaft als Moment der Bewegung der Geschichte Gottes. Darum sprechen sie wohl von der "Geschichte" als dem "Werk Jahwes" oder dem "Plan Jahwes" (Jes. 28, 29), auch vom "Gesamtplan Jahwes" (Jes. 10, 12). Aber das ist nicht eine apokalyptisch vom Ende, an dem die Dinge still stehen, her überschaute Geschichte, sondern angekündigte Zukunft mit-

120 Verheißung und Geschichte

ten im Prozeß der Geschichte. Wenn sie vom Jahweplan sprechen, so meinen sie nicht Einsicht in die göttliche Determination der Welt, son­dern die Festigkeit seiner geschichtlichen Treue. Sie sehen die Gerichte und die Geschichte in der Freiheit Jahwes, nicht als unabänderliches Schicksal. Darum sind die Pläne Jahwes "widerrufbar" für Jahwe, und ihre Verkündigung führt die Gegenwart in Entscheidungen, die auch für die Zukunft des Gotteshandeins von Einfluß sind. Gegenüber einem apo­kalyptischen Geschichtsfatalismus kann man darum die Beweglichkeit der Geschichte, wie die Propheten sie sehen und wie sie in ihr mit ihrem eigenen Zeugnis stehen, als "gezieltes Gespräch des Herrn der Zukunft mit Israel" bezeichnen73• Man könnte also sagen, die prophetische Bot­schaft erreicht wohl in ihrer Weite und ihrer existentiellen Tiefe die Grenzen der Wirklichkeit und wird darin eschatologisch, aber diese Gren­zen sind nicht prädeterminiert, sondern sind selber fließend.

§7

Die Vergeschichtlichung des Kosmos in apokalyptischer Eschatologie

Das Phänomen und der Gehalt spätjüdischer Apokalyptik sind schwer zu deuten74• Handelt es sich um legitime Fortsetzungen der propheti­schen Botschaft oder um einen Abfall vom prophetischen Verheißungs­glauben? -Handelt es sich um das Eindringen des iranisch-dualistischen Weltbildes oder war, wenn dem so ist, eine innere Aufgeschlossenheit dafür aus der prophetischen Botschaft schon angelegt? Man wird zunächst sagen können, daß die futurisch-eschatologische Blickrichtung Propheten und Apokalyptikern gemeinsam ist. Dann aber wird man sofort differenzieren müssen. a) Die Apokalyptik hegt eine religiöse, deterministische Geschichtsauf­fassung. Die Zeitenfolge der Aonen liegt von Anfang an fest und die Geschichte entrollt sukzessive einen Jahweplan. In der Prophetie aber fehlt die Vorstellung, daß die eschata seit Urzeiten festliegen. b) Das Gegenüber zum geschichtlich handelnden Gott ist in der Apoka­lyptik die "Welt" unter der Macht des Bösen. Bei den Propheten handelt es sich aber um "Israel und die Völker".

73. H. W. Wolff, aaO. 231. 74. Vgl. die völlig verschiedene Beurteilung durch G. von Rad, aaO. II, 314 ff. einerseits und durch Kl. Koch, aaO., und W. Pannenberg, Offenbarung als Geschichte, 1961, 103 ff., andererseits.

Die Vergeschichtlichung des Kosmos in apokalyptischer Eschatologie 121

c) Die apokalyptische Erwartung richtet sich nicht mehr auf eine Voll­endung der Schöpfung durch Überwindung des Bösen durch das Gute, sondern auf die Trennung von Gut und Böse und darum auf die Ab­lösung der "Welt unter der Macht des Bösen" durch die kommende "Welt der Gerechtigkeit". Hier zeigt sich ein fatalistischer Dualismus, der so bei den Propheten noch nicht vorliegt. d) Das Gericht wird nicht in der Freiheit Gottes gesehen als widerruf­bar und abwendbar, wenn es sein kann, durch Buße, sondern als unab­änderliches Schicksal, das feststeht und kommt, als fatum irreparabile. e) Die Propheten standen mitten im Volke Israel und also auch in seiner Geschichte. Die Apokalyptiker stehen in der nachexilischen Jahwege­meinde der Gerechten75•

f) Die Propheten haben ihren Standort bei ihren Weissagungen ganz offen in ihrer geschichtlichen Gegenwart genommen. Von da aus entrollen sie ihre geschichtlichen Perspektiven. Der Apokalyptiker aber verschleiert seinen eigenen geschichtlichen Standort. Zusammenfassend fragt es sich, ob sich im apokalyptischen Denken nicht im Grunde ein geschichtsloses Denken anmeldet. Ist die apokalyptische Periodisierung der Weltgeschichte nach dem Jahweplan nicht eine uni­versalgeschichtliche Interpretation älterer und fremder kosmologischer Schemata? Die Apokalyptik als "Wissenschaft des Höchsten" hat einen solchen enzyklopädischen Charakter, ebenso wie die esoterische Apoka­lyptik der pietistischen, heilsgeschichtlichen Theologie des 17. und 18. Jahrhunderts in der Christenheit. Auf der anderen Seite hat man mit guten Gründen darauf hingewiesen, wie sehr das apokalyptische Geschichtsbild im israelitischen Geschiehts­clenken wurzelt und mit der prophetischen Eschatologie verbunden ist. In diesem Zusammenhang wird Daniel zum Vollstrecker des Testamentes der Propheten mit seinem ersten "universalgeschichtlichen Entwurf" der Weltgeschichte76•

Dieser widersprüchliche Eindruck entsteht dadurch, daß in der prophe­tischen Eschatologie der Verheißungshorizont sowohl in seiner Weite als in seiner Tiefe die Grenzen dessen erreicht, was als kosmische Endlich­keit bezeichnet werden kann. Wenn aber der geschichtliche Wauderhori­zont der geschichtlichen Hoffnungen diese eschata erreicht, dann stellt sich die Möglichkeit ein, den geschichtlichen Ort der Perspektive zu ver­lassen und vom geschauten Ende her die Geschichtsläufe der Welt rück­läufig zu lesen, so als sei die Universalgeschichte ein Universum, ein

75. 0. Plöger, aaO. 63 ff. 76. Kl. Koch, aaO. 31.

122 Verheißung und Geschichre

prädeterminierter Geschichtskosmos. Alte kosmologische Zahlenspekula­tionen werden eingesetzt, um der Ordnung des Raumes entsprechend eine Ordnung der Gezeiten der Weltgeschichte herzustellen. Die Welt­reiche werden fixiert. Das Eschaton wird zum fatum. Dann aber tritt an die Stelle der Erwählung, die zu Hoffnung und Gehorsam bestimmt, - die Vorsehung, die die Ereignisse bestimmt. An die Stelle der Ver­heißung, der man auf Hoffnung wider augenscheinliche Hoffnung ver­traut, tritt- das Enddrama. An die Stelle des Eschaton, das Gott in seiner Freiheit heraufführt, tritt - ein Finale der Geschichte, das durch den Zeitlauf an den Tag kommt. An die Stelle der Treue Gottes, der man die Erfüllung der verheißenen Zukunft in seiner Freiheit zutraut, tritt- der Plan Gottes, der von Urzeiten an festliegt und den die Geschichte suk­zessive enthüllt. Aus einer geschichtlichen Theologie wird eine Geschichts­theologie und aus einer geschichtlichen Eschatologie wird eine eschatologi­sche Geschichtsbetrachtung. Ebenso wie in der heilsgeschichtlichen Theolo­gie des 18. Jahrhundert steckt in der Apokalyptik ein vernehmlicher Deismus des fernen Gottes. Auf der anderen Seite darf nicht übersehen werden, daß sich in den spekulativen Apokalypsen immer auch ein adhortatives Moment findet. Es ist die Adhortation zur Perseveranz im Glauben des Gerechten: wer beharrt bis ans Ende, der wird selig werden. Damit aber sind Glaube und Unglaube, Gut und Böse, Erwählung und Verwerfung, Gerechte und Ungerechte festgelegt und es gilt, in dem zu bleiben, was einer ist. Das wiederum entspricht durchaus dem Sitz der Apokalyptik im Leben der separierten Konventikel. Was ergibt sich aus den Vergleichen der prophetischen Eschatologie zur frühisraelitischen Geschichtshoffnung einerseits und zur kosmologisdlen Apokalyptik andererseits? Wenn wir so fragen, dann fragen wir jetzt nach den systematischen Konsequenzen für den Entwurf von Eschatolo­gie überhaupt. Zunächst finden wir eine extrem widersprüchliche, theologische Bewer­tung der Apokalyptik. Für G. von Rad ist die typisch apokalyptische Periodisierung der Weltgeschichte von der Weltvollendung her "nichts anderes als Interpretation und Aktualisierung älterer kosmologisch­mythologischer Schemata"77• Für Kl. Koch und W. Pannenberg stellt sie den ersten weltgeschichtlichen Entwurf auf dem Boden prophetischer Eschatologie dar. Beide Urteile gründen in der Bemerkung, daß die Apo­kalyptik kosmologische Schemata auf die Geschichte anwendet, sodaß damit entweder "die Geschichte" zum Stillstand kommt oder aber "die

77. G. von Rad, aaO. II, 321.

Die Vergeschichtlichung des Kosmos in apokalyptischer Eschatologie 123

Geschichte" als Inbegriff für die Wirklichkeit in Totalität durchschaubar wird. Nun stellt sich aber bei Betrachtung des Verhältnisses von Eschatologie und Kosmologie in der Apokalyptik noch eine dritte Deutungsmöglich­keit und eine dritte theologische Beurteilungsmöglichkeit ein. Natürlich stellen sich in der Anwendung kosmologischer Schemata auf die vom Eschaton her bestimmte Geschichte die von von Rad und Koch aufgezählten Effekte ein. Es könnte aber die Eigenart und die theologische Bedeutung der Apokalyptik umgekehrt darin liegen, daß es in ihr gar nicht um eine kosmologische Deutung der eschatologischen Geschichte geht, sondern um eine eschatologische und geschichtliche Deutung des Kosmos. Es könnte sein, daß die kosmisch vorgegebenen Grenzen der Wirklichkeit, die der geschichtliche Wanderhorizont der Verheißungen in der Eschatologie er­reicht, nicht als fixierte und prädeterminierte Größen angesehen werden, sondern selber in Bewegung geraten. Es könnte sein, daß die eschatolo­gisch gewordene Verheißung die Grenzen auch dessen durchbricht, was als Schöpfung und Kosmos ätiologisch bis dahin angesprochen wurde, sodaß das Eschaton keine Wiederkehr des Anfangs und nicht eine Rück­kehr aus der Entfremdung und aus der Welt der Sünde zum reinen Ur­sprung wäre, sondern am Ende weiter ist, als je der Anfang gewesen ist. Dann würde in der Apokalyptik nicht die Eschatologie kosmologisch und damit stabil, sondern es würde umgekehrt die Kosmologie eschatologisch und der Kosmos würde geschichtlich in den Prozeß des Eschaton hinein­gezogen. Dieses wäre dann die andere Seite des Ringens zwischen Escha­tologie und Kosmologie in der Apokalyptik, die bisher unbeachtet blieb, weil man theologisch nur an der Eschatologie, nicht aber an der Kosmologie interessiert war. Ringt in der Botschaft der Propheten, so könnte man sagen, die israelitische "Geschichtshoffnung" mit den welt­geschichtlichen Erfahrungen und wird in diesem Ringen die Weltgeschich­te verstanden als Funktion der eschatologischen Zukunft Jahwes, so ringt in der Apokalyptik die geschichtliche Eschatologie mit der Kosmologie und macht den Kosmos verstehbar in diesem Ringen als geschichtlichen Prozeß der Äonen in apokalyptischer Perspektive. Dann würde in apo­kalyptischer Sicht keineswegs die Geschichte, die durch Geschichtshoff­nungen getrieben wird, zum Stillstand gebracht, sondern es würde um­gekehrt die universal gewordene Geschichtshoffnung den Kosmos in Be­wegung versetzen. Natürlich erleidet in einem solchen Ringen die Esdla­tologie gewichtige Einbußen. Aber man darf nicht nur sie beachten, son­dern muß auch sehen, was in ihnen gewonnen wird. Das "All" wird nicht mehr, wie in heidnischer Kosmologie, astralmythisch oder panthei-

124 Verheißung und GesdJichte

stisch oder mechanistisch zum Inbegriff der Welt und des Genügens an ihr, sondern spaltet sich in die Aonen im apokalyptischen Prozeß; in eine Welt, die kommt, und eine, die vergeht. Das apokalyptische totum meint etwas anderes als das kosmologische All. Die ganze Welt gerät in den eschatologischen Geschichtsprozeß Gottes, nicht nur die Menschen­und Völkerwelt. Die Umkehr des Menschen in der prophetischen Bot­schaft bekommt dann ihr Korrelat in der Umkehr des ganzen Kosmos, von der die Apokalyptik redet. Die prophetische Revolution der Völker­welt weitet sich aus auf die kosmische Revolution aller Dinge. In das eschatologische Leiden des Gottesknechtes werden nicht nur die Märtyrer hineingenommen, sondern die gesamte Kreatur wird in das endzeitliche Leiden hineingenommen. Das Leiden wird universal und sprengt die Allgenugsamkeit des Kosmos ebenso wie dann die eschatologische Freude in einem "neuen Himmel und einer neuen Erde" wiederklingen wird. M. a. W.: die Apokalyptik denkt ihre Eschatologie zwar kosmologisch, aber das ist nicht das Ende der Eschatologie, sondern der Anfang einer eschatologischen Kosmologie oder einer eschatologischen Ontologie, für die das Sein geschichtlich wird und der Kosmos sich öffnet zum apoka­lyptischen Prozeß. Diese Vergeschichtlichung der Welt in der Kategorie der universalen eschatologischen Zukunft ist theologisch von ganz unge­heurer Wichtigkeit, wird doch durch sie die Eschatologie zum univer­salen Horizont der Theologie überhaupt. Ohne Apokalyptik bleibt theologische Eschatologie stecken in der Völkergeschicllte der Menschen oder in der Existenzgeschichte des einzelnen. Auch das Neue Testament hat das Fenster nicht geschlossen, das die Apokalyptik ihr in die Weite des Kosmos und ins Freie über die gegebene kosmische Wirklichkeit hin­aus geöffnet hat.

KAPITEL III

AUFERSTEHUNG UND ZUKUNFT JESU CHRISTI

§ 1

Evangelium und Verheißung

Fragt man nach dem Verständnis der Offenbarung Gottes im Neuen Testament, so stößt man auf die aus dem Alten Testament bekannte Tatsache, daß es an einem eindeutigen Offenbarungsbegriff fehlt. Was im Neuen Testament unter Offenbarung verstanden wird, ist darum wiederum nicht aus dem ursprünglichen Sinngehalt der verwendeten Worte zu verstehen, sondern nur aus dem Geschehen, auf das sie hier angewendet werden. Aus dem Geschehen, auf das im Neuen Testament die Ausdrücke für "offenbaren" angewendet werden, empfangen diese eine eigentümliche verheißungsgeschichtliche und messianische Dynamik. Mit Kreuz und Auferweckung Christi ist, so läßt sich zunächst der allgemeine Eindruck wiedergeben, die eine Offenbarung Gottes, die Herrlichkeit seiner Herrschaft, die Gerechtigkeit, Leben und Freiheit enthält, auf die Menschheit zu in Bewegung geraten\ Im Evangelium von dem Chri­stusgeschehen ist diese Zukunft in den Verheißungen Christi schon Ge­genwart. Es verkündet den gegenwärtigen Anbruch dieser Zukunft, und so kündigt sich umgekehrt diese Zukunft in den Zusagen des Evangeliums an. Die Verkündigung Christi versetzt damit in ein Offenbarungsge­schehen, das die Nähe des kommenden Herrn enthält. Sie macht damit die Wirklichkeit des Menschen "geschichtlich" und setzt sie geschichtlich aufs Spiel. Die eschatologische Tendenz der Christusoffenbarung weist sich darin aus, daß das Offenbarungswort Euangelion und Epangelia in einem ist. ]. Schniewind hat mit Recht Epangelia in der paulinischen Theologie als das "Komplement" zum Evangelium bezeichnet2• Das Evangelium von der Offenbarung Gottes in Christus gerät darum in die Gefahr seiner Un-

1. H. Schulte, Der Begriff der Offenbarung im Neuen Testament. Beitr. zur Evang. Theol. Bd. 13, 1949, 23. 2. ThWNT, II, 575. Art. "epangelia" von Schniewind/Friedrich.

126 Auferstehung und Zukunft ]esu Christi

vollständigkeit und seines Verfalls überhaupt, wenn in ihm die Dimen­sion der Verheißung nicht beachtet wird. Ebenso verdirbt die Christolo­gie, wenn in ihr nicht die Dimension der "Zukunft Christi" als ein kon­stitutives Element angesehen wird. In welcher Weise aber wird gegenüber der alttestamentlichen Ver­heißungsgeschichte im Neuen Testament "Verheißung" verkündigt? In welcher Weise wird im Neuen Testament der Zukunftshorizont der Ver­heißung in der Auseinandersetzung mit den Anschauungen der helle­nistischen Mysterienreligionen zur Geltung gebracht? Der Zugang zur Christologie ist in der christlichen Dogmatik auf ver­schiedenen Wegen gesucht worden. Wir nehmen hier zwei grundsätzliche Entwürfe heraus, um an ihnen das Problem aufzuzeigen. Seit der griechischen Formation der christlichen Dogmatik ist man durch­weg von der allgemeinen Gottesideee der griechischen Metaphysik auf das Geheimnis Jesu zugegangen: der eine Gott, nach welchem alle Men­schen auf Grund ihrer Erfahrung der Wirklichkeit suchen, ist in Jesus von Nazareth erschienen; sei es, daß die ewige, höchste Idee des Guten und Wahren in ihm ihren vollkommensten Lehrer gefunden hat, sei es, daß das ewige Sein, der Ursprung aller Dinge, in ihm Fleisch geworden ist und in der Welt des Vergänglichen, Sterblichen und in die Vielheit Zerstreuten erschien. Das Geheimnis Jesu ist dann die Inkarnation des einen, ewigen, ursprünglichen, wahren und unwandelbaren, göttlichen Seins. Dieser Weg wurde in der altkirchlichen Christologie auf viel­fältige Weise beschritten. Ihre Probleme ergaben sich darum daraus, daß man den Vater Jesu Christi mit dem einen Gott der griechischen Meta­physik identifizierte und ihm die Eigenschaften dieses Gottes zuschrieb. Wird aber die Gottheit Gottes in seiner Unveränderlichkeit, Unwandel­barkeit, Leidensunfähigkeit und Einheit gesehen, so wird das geschicht­liche Wirken dieses Gottes in dem Christusgeschehen von Kreuz und Auferstehung ebenso unaussagbar wie seine eschatologische Zukunftsver­heißung. In der Neuzeit ist man oft von einem allgemeinen Verständnis des Menschseins in der Geschichte aus auf das Geheimnis Jesu zugegangen: Geschichte gibt es immer, seit es den Menschen gibt. Daß aber die Exi­stenz des Menschen auch als eine geschichtliche erfahren und gedacht wird, daß die Geschichtlichkeit der menschlichen Existenz radikal ent­hüllt wird, ist mit Jesus in die Welt gekommen. Mit Wort und Wirken Jesu ist die entscheidende Wende im Selbst- und Weltverständnis des Menschen herbeigeführt, denn das Selbstverständnis des Menschen in der Geschichte ist durch ihn als Verständnis der Geschichtlichkeit mensch-

Evangelium und Verheißung 127

licher Existenz zur Wahrheit gebracht. An die Stelle einer allgemeinen Gottesfrage und Gottesidee, die durch Jesus zur Wahrheit gebracht und so verifiziert wird, wird hier ein allgemeiner :Begriff vom Menschsein, eine allgemeine Fraglichkeit der menschlichen Existenz vorausgesetzt, die durch Jesus zur Wahrheit gebracht und so verifiziert wird. Beide Zugänge zum Geheimnis Jesu gehen vom Universalen aus, um es am Konkreten seiner Person und seiner Geschichte zur Wahrheit zu bringen. Beide Zugänge zur Christologie müssen zwar nicht am Alten Testament vorbeigehen, aber sie haben es nicht mit Notwendigkeit auf ihrem Wege. Der Zugang Jesu zu allen Menschen aber hat das Alte Testament mit Gesetz und Verheißung notwendig zur Voraussetzung. Es ist darum die Frage, ob man nicht mit der theologischen Erheblich­keit der beiden folgenden Sätze ernst machen muß: 1. Es ist Jahwe, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der Gott der Verheißung, der Jesus von den Toten auferweckte. Wer der Gott ist, der durch und an Jesus offenbar wird, ergibt sich allein aus seiner Diffe­renz und Identität zum Gott des Alten Testamentes. 2. fesus war Jude. Wer Jesus ist und welches Menschsein durch ihn offen­bar wird, ergibt sich aus seinem Konflikt mit Gesetz und Verheißung des Alten Testamentes. Macht man mit diesen Ausgangspunkten ernst, so führt der theologische Erkenntnisweg unumkehrbar vom Besonderen zum Allgemeinen, vom Geschichtlichen zum Eschatologisch-Universalen. Der erste Satz würde bedeuten, daß der Gott, der sich in Jesus offen­bart, als der Gott des Alten Testamentes, als der Gott des Exodus und der Verheißung, als der Gott mit "Futurum als Seinsbeschaffenheit", bedacht werden muß, und darum nicht mit dem griechischen Gottesver­ständnis, mit der "ewigen Gegenwart" des Seins des Parmenides, mit der höchsten Idee Platos und mit dem unbewegten Beweger des Aristo­teles identifiziert werden darf, auch nicht in seinen Eigenschaften. Wer er ist, sagt nicht die Welt im Ganzen, sondern sagt die Verheißungsge­schichte Israels. Seine Eigenschaften können nicht durch Negation der Sphäre des Irdischen, Menschlichen, Sterblichen und Vergänglichen aus­gesagt werden, sondern nur durch Erinnerung und Erzählung seiner Ver­heißungsgeschichte. In Jesus Christus aber hat sich der Gott Israels als der Gott aller Menschen offenbart. So geht der Weg vom concretum zum concretum universale, nicht aber umgekehrt. Die christliche Theologie hat diesem Wege nachzudenken. Es ist nicht eine allgemeine Wahrheit in J esus konkret geworden, sondern das konkrete, einmalige, geschicht­liche Ereignis der Kreuzigung und Auferweckung Jesu durch Jahwe, den

128 Auferstehung und Zukunft ]esuChristi

Gott der Verheißung, der aus dem Nichts das Sein schafft, wird durch den universalen eschatologischen Horizont, den es vorauswirft, allge­mein2". Der Gott der Verheißungen Israels wird durdJ. die Aufer­weckung Jesu von den Toten der Gott aller MensdJ.en. Die dJ.ristlidJ.e Verkündigung dieses Gottes wird sich darum immer in einem voraus­entworfenen und intendierten Horizont allgemeiner Wahrheit bewegen und vorgreifende Allgemeinheit und AllgemeinverbindlidJ.keit bean­sprudJ.en, auch wenn ihre eigene Universalität eschatologischer Natur ist und nicht aus der Abstraktion vom Besonderen zum Allgemeinen entsteht. Wird auf der aruderen Seite mit der Erkenntnis theologisch ernst ge­macht, daß Jesus Jude war, so heißt das, daß er nicht als Spezialfall allgemeinen Menschseins, sondern nur im Zusammenhang und im Kon­flikt mit der alttestamentlichen Verheißungsgeschichte zu verstehen ist. Durch das Geschehen von Kreuz und Auferstehung, das nur im Zu­sammenhang des Konfliktes von Gesetz und Verheißung verständlich ist, wird er zum Heil aller Menschen aus Juden und Heiden. Erst im Christusgeschehen wird das geboren, was theologisch als "der Mensch", der "wahre Mensch" und die "Menschheit" bezeichnet werden kann: "Nicht Jude noch Grieche, nicht Knecht noch Freier, nicht Mann noch Weib" (Gal. 3, 28). Nur indem die wirklichen, geschichtlichen und reli­giösen Differenzen der Völker, Gruppen und Stände im Christusgesche­hen der Rechtfertigung des Sünders zerbrochen werden, kommt das in Aussicht, was wahres Menschsein sein kann und sein wird. Der Weg geht hier vom Geschichtlich-Einmaligen zum Universalen, weil er vom kon­kreten Geschehen zum Allgemeinen in einem eschatologischen Richtungs­sinn geht. Die christliche Verkündigung wird sich darum wiederum in diesem Horizont allgemeiner Wahrheit bewegen und den Anspruch uni­versaler Verbindlichkeit erheben. Sie wird ihn entfalten müssen in Aus­einandersetzung mit andersartigen anthropologischen Allgemeinbegrif­fen der Humanitas, auch und gerade weil ihr eigener Allgemeinbegriff vom Menschsein von eschatologischem Sinngehalt ist. Sie wird beispiels­weise nicht davon ausgehen können, daß der Mensch das Wesen sei, das Logos und Sprache habe, um dann diesen Wesenszug durch das Recht­fertigungsgeschehen zu verifizieren, sondern wird umgekehrt von dem Geschehen der Rechtfertigung und Berufung ausgehen, um dann dieses

2a. Die Wendung liegt im Neuen Testament in dem €cpcf7ta:~ vor, in welchem die ge­schichtliche Einmaligkeit und die universale eschatologische Verbindlichkeit ineinander verschmolzen sind. Vgl. E. Käsemann, Das Problem des historischen Jesus, in: Exege­tische Versuche und Besinnungen, I, 1960, S. 200 f.

Der Gott der Verheißung 129

Geschehen, das theologisch den Menschen zum Menschen macht, vor anderen Behauptungen des Wesens des Menschen zu verantworten.

§2

Der Gott der Verheißung

Beachten wir diesen Zugaflg zur Christologie, so ist es von besonderer Bedeutung, daß im Neuen Testament Gott als der "verheißende Gott" erkannt und benannt wird. Er ist der &eo~ hrxnetA.ttp.evo~ (Hehr. 10, 23; 11, 11 u. ö. ). Das wesentliche Gottesprädikat liegt darum in dem Satz: ITta't'o~ o hrxnetA.ttp.evo~. Sein Wesen ist nicht seine Absolutheit an sich, sondern seine Treue, mit der er sich in der Geschichte seiner Ver­heißung als "derselbe" identifiziert und offenbart. Seine Gottheit steht in der Beständigkeit seiner Treue, die im Widerspruch von Gericht und Gnade glaubwürdig wird. Das Gott offenbarende Wort trägt also grund­sätzlich den Charakter der Verheißung und ist darum eschatologischer Art. Es ist begründet und offen auf das Treuegeschehnis Gottes. Es stellt auf einen Weg, dessen Ziel es verheißend zeigt und verbürgt. Es stellt den Empfänger in eine unüberbrückbare Differenz und Feindschaft zur vorliegenden Wirklichkeit dieser Welt. Es begründet Hoffnung und Kritik und erwartet die Beharrlichkeit in der Hoffnung. Daraus ergibt sich grundsätzlich eine andere Gotteserkenntnis als die Erkenntnis des &eo~ erwprxv~~ im Umkreis der Epiphanienreligionen, der hellenistischen Mysterienreligionen und endlich der griechischen Metaphysik, auch wenn sich de facto im Neuen Testament überall Syn­kretismen zeigen. Das Leben, Wirken, Sterben und Auferwecktwerden ]esu wird darum nicht nach Maßgabe des Auftretens von Epiphanien­göttern beschrieben, sondern in den Erwartungskategorien des verheißen­den Gottes. ]esus ist kein &eto~ av~p, obwohl in manchen Schichten der Überlieferung derartige Vorstellungen verwendet werden. Die Evange­lien sind keine Kultlegenden, sondern bieten historische Erinnerung unter den Auspizien eschatologischer Hoffnung, obwohl sich auch kultlegenden­hafte Züge finden lassen Die christliche Missionsrede ist keine gnostische Offenbarungsrede2", obwohl auch dieser Typ gelegentlich benutzt wird.

2b. Vgl. G. Bornkamm, Studien zu Antike und Urchristentum, 1959, 128 ff. Die pauli­nische Verkündigung ist zu unterscheiden von den Offenbarungsreden der 3eTot &v3pamot, die sich als Beauftragte oder Repräsentanten einer Gottheit vorstellen, himmlische

130 Auferstehung und Zukunft fesu Christi

"Wiewohl also das Christentum mitten in dem religiösen Leben seiner Zeit steht, kann der Epiphanieglaube es zunächst nur als Formelement der Darstellung beeinflussen. Denn es steht unter dem Schutz des alttesta­mentlichen Gottesgedankens, der das einmalige und umfassende Handeln Gottes an der Welt erwartet. "3

Das Wort haneHa stammt aus hellenistischem Sprachgebrauch4•

Dort wird es durchweg verwendet für Versprechungen, Gelübde und Zusagen, die Menschen ihren Göttern machen. Daß Gott der "verheißen­de Gott" sei, ist hier offenbar unbekannt. Sprachlich scheint eine alt­testamentliche Vorgeschichte zu fehlen, wenngleich sie eigentlich nur in den alttestamentlichen Überlieferungen vorgegeben ist. "Durch das Judentum hat eTCaneHa seine Eigenart als Offenbarungswort Gottes in der Heilsgeschichte erhalten. "5 Hier wurde eine Theologie der Ver­heißungen Gottes ausgebildet, und zwar sowohl in der rabbinischen Thoratheologie wie in den apokalyptischen Traditionen. Bezeichnet dort Verheißung den verheißenen Lohn der Gerechten und ist sie an die Thoragerechtigkeit gebunden, so bezeichnet sie hier im Zusammenhang von Erwählung und Gesetz die "zukünftige Welt" im Gegensatz zu dieser Welt, die das nicht tragen kann, was dem Gerechten verheißen ist. In beiden Überlieferungen wird Gott als der erkannt, der verheißt, und dessen Treue die Erfüllung verbürgt. So sehr wie für das Rabbinat und die Apokalyptik die Gestalt Abrahams als des vorbildlich Gerechten im Brennpunkt des Interesses an Ver­heißung, Gesetz und Gerechtigkeit Gottes steht, so sehr stellt auch Paulus diese Gestalt in den Mittelpunkt seiner Auslegung von Evangelium und Verheißung6• Doch ist sein Rückgriff auf Abraham als den "Vater der Verheißung" gegenüber Mose und dem Gesetz darin begründet, daß für

Kunde bringen, zur Bekehrung aufrufen und Heil verheißen. Ihr Kennzeichen ist der "hierophantische Stil" ihrer Botschaft. Der Stil der paulinischen Predigt gleicht dagegen eher dem Stil der kynisch-stoischen Diatribe, obgleich er sich und seine Predigt offenbar nicht als stoische Weisheitsrede verstand, sondern in apokalyptischer Erwartung als "Vorläufer des Weitendes" (vgl. E. Käsemann, ZThK 60, 1963, 80) redete. 3. H. Schulte, aaO. 66. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt die Untersudmng von Elpidius Pax, Epiphaneia. Ein religionsgeschichtlicher Beitrag zur biblischen Theologie. Münchener Theol. Studien, 1955. 4. Ich folge hier dem Artikel "epangelia" im ThWNT. 5. Th WNT, II, 578. 6. Vgl. dazu Chr. Dietzfelbinger, Paulus und das Alte Testament, ThEx NF 95, 1961; E. Schlink, Gesetz und Paraklese, in: Antwort. Festschr. für K. Barth, 1956, 323 ff.; V. Wilckens, Die Rechtfertigung Abrahams nach Röm. 4, in: Studien zur alttestament­lichen Überlieferung, 1961, 111 ff.; G. Klein, Röm. 4 und die Idee der Heilsgeschichte, EvTh 23, 1963, 4,24 ff.; E. Jüngel, Das Gesetz zwischen Adam und Christus, ZThK 60, 1963, 42 ff.

Der Gott der Verheißung 131

Paulus das Christusgeschehen nicht eine Erneuerung des Gottesvolkes, son­dern ein "neues Gottesvolk" aus Juden und Heiden ins Leben ruft. Sein Streit mit dem Judenchristentum geht zwar um Gesetz und Evangelium, aber er dreht sich eigentlich um die Verheißung. Ist ihm Christus das "Ende des Gesetzes" (Röm. 10, 4), so ist er ihm doch nicht das Ende der Verheißung, sondern vielmehr deren Wiedergeburt, Befreiung und In­kraft-Setzung. Paulus schließt die überlieferten Verheißungen Abrahams mit der Ver­heißung des Lebens zusammen und versteht "Leben" offenbar nicht mehr im Zusammenhang von Land, FrU<htbarkeit und Mehrung, sondern als "Leben aus dem Tode" (Röm. 4, 15. 17). Wie dem Judentum, so ist es auch ihm gewiß, daß Gott seine Zusagen hält. Doch die Begründung dieser Zuversicht ist neu: weil Gott die Macht hat, Tote zu erwecken und das, was nicht ist, ins Sein zu rufen, darum ist die Erfüllung seiner Verheißung möglich; weil er Christus von den Toten auferweckt hat, darum ist die Erfüllung seiner Verheißung gewiß. Mangelnde Zuversicht und Zweifel am Erfüllungswillen Gottes ist darum ein Raub an Gottes Ehre. Der Unglaube ist Zweifel an Gottes Wahrhaftigkeit, an seiner Allmacht und seiner Treue (Röm. 4, 20). Der Unglaube läßt Gott nicht Gott sein, denn er zweifelt an der Zuverlässigkeit Gottes, die seine Ver­heißungen verbürgt. Die konkrete Gestalt solchen Unglaubens sieht Paulus offenbar in der Theologie der Thoragerechtigkeit, in welcher die Kraft der Verheißung zu ihrer Erfüllung an die Erfüllung des Gesetzes gebunden wird. Ist aber die Verheißung Gottes an das Gesetz gebunden, so ist die Verheißung außer Kraft gesetzt: sie steht dann nicht mehr in der Kraft des verheißenden Gottes, sondern in der Kraft des gehorsamen Menschen. Gottes Zorn aber wird offenbar über alle, die das Gesetz un­erfüllt lassen oder es übertreten. Darum schließen sich Gesetz und Ver­heißung aus, wie sich der Ruhm aus den Werken des Gesetzes und der Ruhm Gottes, der die Sünder rechtfertigt und die Toten erweckt, aus­schließen. Das Gesetz hat nicht die Kraft des verheißenen Lebens und der Auferstehung in sich, sondern dedn das Leben zum Tode auf und führt es in den Tod. Das Gesetz hat nicht die Kraft der Rechtfertigung in sich, sondern die Kraft, die Sünden aufzudecken und überschwenglich zu machen. Denn die Verheißung ist in der Gestalt des Gesetzes kraftlos gemacht worden. Wie für Paulus die Rechtfertigung des Gottlosen und das Leben aus der Auferweckung von den Toten zusammengehören, so gehören für ihn auch die Gerechtigkeit des Glaubens und die In-kraft­Setzung der Verheißung in der Auferweckung Christi zusammen. "Wenn die vom Gesetz Erben sind, so ist der Glaube entwertet und die Ver-

132 Auferstehung und Zukunft ]esu Christi

heißung kraftlos geworden" (Röm. 4, 14). Wird umgekehrt die Ver­heißung durch Gott in Kraft gesetzt, so schenkt sie Gerechtigkeit aus Glauben. "Deshalb heißt es ,aus Glauben<, damit es nach Gnade gehe, auf daß die Verheißung fest ( ßeßa[av ) bleibe allem Samen, nicht dem allein, der unter dem Gesetz ist, sondern auch dem, der des Glaubens Abrahams ist, welcher ist unser aller Vater" (Röm. 4, 16). Verheißung wäre nicht mehr die Verheißung Gottes, der die Toten lebendig macht und das Nichtseiende ins Sein ruft, wenn sie etwas mit dem Gesetz zu tun hätte. "Wenn das Erbe aus dem Gesetz kommt, so kommt es nicht mehr aus der Verheißung" (Gal. 3, 18). Wollte man das Erbe der Ver­heißung durch Gesetzeserfüllung erreichen, so würde man dieses Erbe verlieren, denn Gott hat sich Abraham durch die Verheißung als gnädig erwiesen (Gal. 3, 18). Erben der Verheißung und Abrahams Kinder sind darum in Wahrheit die, die im Glauben an Christus der Verheißung teilhaftig werden (Gal. 3, 29). Durch das Evangelium nämlich werden die Völker der Verheißung in Christus teilhaftig (Eph. 3, 6 ). Es ist deutlich erkennbar, wie hier das Evangelium in seiner Antithese zum Gesetz auf die Verheißung bezogen wird. Abraham wird von Pau­lus nicht als Beispielfigur für sein neues Verständnis der Glaubensge­rechtigkeit verwendet, sondern es geht im Streit um das Erbe Abrahams zwischen dem Evangelium von der Auferweckung des gekreuzigten Christus und der Thora um die "Kraft der Verheißung". Ist Christus das "Ende der Thora" (Röm. 10, 4), so ist er doch für Israel da, "um der Wahrhaftigkeit Gottes willen, um die Verheißungen der Väter in Kraft zu setzen" (Röm. 15, 8). Sind die wahren Erben Abrahams, des Vaters der Verheißung, die, an denen sich im Christusgeschehen die Verheißung Abrahams in der Kraft des rechtfertigenden und Leben aus dem Tode schaffenden Gottes erweist, so fällt der heilsgeschichtliche Vorrang der Juden vor den Heiden dahin. Was Israel verheißen war, das gilt nun allen Glaubenden aus Juden und Heiden. Die Verheißung ist nicht mehr exklusiv, sondern wird inklusiv. Sie wird universal. Diese Universali­sierung der Verheißung entspringt aus der Freisetzung der Verheißung von ihrer Umklammerung durch das Gesetz und die Erwählung Israels. Ist die Verheißung in der Kraft Gottes, wie sie sich in der Auferweckung des Gekreuzigten und ihr zufolge in der Rechtfertigung und Berufung des Gottlosen zeigt, voraussetzungslos geworden - aus Gnaden und nicht aus dem Gesetz -, so ist sie auch schrankenlos geworden und gilt darum "ohne Unterschied". Liegt also im Christusgeschehen die In-kraft­setzung ( ßeßa[wat<;) der Verheißung, so heißt das nichts geringeres, als daß die Verheißung in Christus durch Gottes Treue und Wahrhaftigkeit

Der Gott der Verheißung 133

wahr gemacht ist, und zwar gänzlich, unverbrüchlich, für immer und für alle. Ihrer Erfüllung steht nichts mehr im Wege, denn die Sünden sind vergeben in ihm (Hehr. 9, 15). Zwischen dieser ein-für-alle-Mal gesche­henen In-kraft-Setzung der Verheißung und ihrer Erfüllung in der Ver­herrlichung Gottes steht nur noch die Zuverlässigkeit Gottes selbst. Dar­um bestimmt nun die Verheißung die Existenz und das Handeln und Leiden des Empfängers. Es wird nicht umgekehrt die Erfüllung der Ver­heißung durch die Existenz und das Verhalten des Empfängers bestimmt. Das Evangelium hat in der Verheißungsgeschichte des Alten Testamentes seine unaufgebbare Voraussetzung. Die alttestamentliche Verheißungs­geschichte findet im Evangelium nicht einfach eine Erfüllung, die sie auf­hebt, sondern sie findet im Evangelium ihre Zukunft. "Alle Gottesver­heißungen sind Ja in ihm und sind Amen in ihm" (2. Kor. 1, 20). Sie sind in Christus zur eschatologischen Zuversicht geworden, indem sie freigesetzt und in Kraft gesetzt, voraussetzungslos und universal wurden. Die Verheißungsgeschichte, die sich das Evangelium voraussetzt, wird nicht annulliert. Das Israel, das mit der vorausgesetzten Verheißung in Blick kommt, wird nicht paganisiert1, es wird ihm vielmehr im Evan­gelium die Zukunft und die Zuversicht seiner eigenen Verheißungen er­öffnet. Das Christusgeschehen kann wie eine Umkehr der Verheißungs­geschichte verstanden werden: die Ersten werden die Letzten sein. Nicht die Heiden werden kommen und anbeten, wenn in der Endzeit der Zion von seiner Schmach erlöst wird, sondern Israel wird kommen, wenn die Fülle der Völker in Christus der Verheißung teilhaftig geworden ist (Röm. 9-11). So ist das Evangelium nicht als Überholung oder gar als Beendigung der Verheißungen Israels zu verstehen. Es ist in einem letzten, eschatologischen Sinne dieser Verheißungen mit ihnen sogar identisch. Auf der anderen Seite wird das Evangelium selbst unverständlich, wenn nicht in ihm selber die Strukturen der Verheißung erkannt werden. Es würde seine eschatologisch ausrichtende Kraft verlieren und zur gnostischen Offenbarungsrede oder zur Moralpredigt werden, wenn nicht deutlich würde, daß das Evangelium auf Erden und in der Zeit Verheißung der Zukunft Christi ist. Das Evangelium ist Verheißung und ist als Verheißung Angeld der verheißenen Zukunft. "Neu ist das Gotteswort in Christus allein deshalb, weil seine Erfüllung nicht mehr wie einst gefährdet und zerschlagen werden kann, sondern unumstößlich geworden ist; und als einmalig gilt es trotzseiner mannigfachen irdischen

7. Gegen G. Klein, aaO. 436.

134 Auferstehung und Zukunft fesu Christi

Bewegung und Bezeugung undtrotzseiner Prolepse im Alten Testament, weil es in Christus nicht nur das eine eschatologische Heil aufs neue offenbart, sondern darüber hinaus auch die Verwirklichung dieses Heils abschließend verbürgt. Als solches ist es bereits in der Geschichte da und ergreifbar, jedoch nicht anders denn als Verheißung, d. h. als Ausrichtung und Hinweis auf eine noch ausstehende Zukunft. ''7"

§3

Paulus und Abraham

Wie ist der Zusammenhang von Evangelium und Verheißung und da­mit in einem weiteren Sinne das Verhältnis des N euen zum Alten Testament zu bedenken? Zwei Konzeptionen legen sich nahe, die ein­ander radikal widersprechen: man kann die Kontinuität im Rahmen einer heilsgeschichtlichen Geschiehtsauffassung verstehen8• Man kann die Diskontinuität im Rahmen einer existentialen Interpretation des Evangeliums verstehen9• Beide Verstehensweisen verwenden Geschichts­begriffe, mit denen die vielfältigen Perspektiven, unter denen Paulus das Verhältnis des Evangeliums zu Gesetz und Verheißung erhellt, nur schwer erfaßbar sind. Für eine wie immer verstandene heils- oder erwählungsgeschichtliche Auffassung der Kontinuität wird das Evangelium als Erfüllung der vorausgegangenen Geschichte verstanden. Das Christusgeschehen darf darum nicht als ein isoliertes Faktum für sich genommen werden. Es be­darf immer des Zeugnisses jener Geschichte, deren Erfüllung es ist, um in seinem universal-eschatologischen Heilssinn verständlich zu werden. Nur am Zeugnis der "Schrift" des Alten Testamentes erweist das Evan­gelium das Christusgeschehen als Erfüllung der Erwählungsgeschichte Gottes. Das geschieht nicht nur so, daß das neutestamentliche Heilsge­schehen zum Leitfaden der Auslegung des Alten Testamentes wird, son­dern auch umgekehrt so, daß das alttestamentliche Heilsgeschehen zum Leitfaden für das Verständnis des Christusgeschehens wird. Zwar hat

7a. E. Käs~mann, Das wandernde Gottesvolk, 4. Aufl. 1961, 12 f. 8'. Diese zeigt am besten der Aufsatz von U. Wilckens, Die Rechtfertigung Abrahams nach Röm. 4, aaO. 9. Diese tritt am klarsten in dem gegen Wilckens gerichteten Aufsatz von G. Klein, Röm. 4 und die Idee der Heilsgeschichte, aaO. heraus.

Paulus und Abraham 135

Paulus die alttestamentliche Abrahamsverheißung in einen universal­eschatologischen Horizont gerückt; aus dem "Land" ist die Welt, aus seinem "Samen" sind alle Völker geworden9". Aber diese Neuinterpre­tation muß sich als die Wahrheit der zu interpretierenden Sache erweisen. Die christliche Abrahamdeutung muß den Anspruch erheben, daß "dieser Anfang der Erwählungsgeschichte mit der Verheißung Gottes und dem Glauben Abrahams wesenhaft auf ihr Ende als ihre Erfüllung" weist10•

Daraus ergibt sich einmal ein "erwählungsgeschichtliches" Verständnis der Erfüllung im Christusgeschehen und zum andern ein "wesenhaftes", d. h. vom Ende der Geschichte her einsichtiges, dem Abrahamgeschehen "in Wahrheit" zugrundeliegendes Verständnis des Sinnes dieser Geschich­te. Das Christusgeschehen steht damit in einer bestimmten Geschichte, deren Wesen und Wahrheit es als seine Erfüllung offenbart. Der christ­liche Glaube gründet sich in Geschichte, er steht selbst in Geschichte und er vertraut auf Geschichte. Glaube und Geschichte gehören zuhauf. Der Glaube ist nicht eine jeweils individuelle und darin allgemeine Möglich­keit, sondern er verdankt sich einer bestimmten Erwählungsgeschichte und ist ein konkretes Vertrauen auf künftiges Tun Gottes. Was hier als heils- oder erwählungsgeschichtliche Kontinuität von Abra­ham zu Christus behauptet wird, ist noetisch zweifellos nur vom Chri­stusgeschehen her zugänglich. Die Auslegung und Aneignung der Abra­hamsverheißung im christlichen Glauben kann sich jedoch nicht als Ein­sicht in einen "wesenhaften" Zusammenhang von Abraham zu Christus darstellen. Der christliche Glaube ist keine Wesensschau der Geschichte hinter die zeitlichen und konkreten Aussagen der alttestamentlichen Über­lieferung. Das "Neue" des Neuen Testamentes ist nicht schon in der Auf­deckung des Wesens und der Wahrheit des Alten Testamentes zu ver­stehen. Die Kontinuität läßt sich nicht schon durch ein vom Ende her einsichtig werdendes Wesen der Geschichte bestimmen. Für eine existentiale Interpretation der Diskontinuität rückt dagegen "Geschichte" aus dem Erhellungshorizont der Verheißung in den des Gesetzes. Geschichte wird hier zum Inbegriff der Existenz unter dem Gesetz, des Sich-verstehen-müssens des Menschen aus seinen Werken und in Analogie dazu aus gesicherten, ausweisbaren Zusammenhängen der

9a. Während U. Wilckens von einer Ausweitung der Verheißung Abrahams in der pau­linischen Exegese spricht, aaO. 124, ist man sonst offenbar geneigt, von einer "pauli­nischen Reduktion" der Abrahamverheißungen auf das Faktum der Verheißung an Abraham bei zurücktretender Beachtung ihres Inhaltes zu sprechen. Vgl. Chr. Dietz­felbinger, aaO. 7 ff. 10. V. Wilckens, aaO. 125.

136 Auferstehung und Zukunft fesu Christi

Geschichte. "Geschichte" wird hier verstanden als Macht der Generation. Sie wird zum Inbegriff der Vergänglichkeit und der Degeneration. Sie wird zum Bereich der berechenbaren, objektiv aufweisbaren und ver­fügbaren Zuhandenheiten des Menschen. Alle Geschichtsauffassungen, die überschaubare Zusammenhänge liefern, gehören damit grundsätzlich in den Bereich des defizienten, objektivierenden Denkens. Sich aus der Geschichte zu verstehen, ist darum gleichbedeutend mit dem Selbstver­ständnis des Menschen aus der Welt. Wird in dieser Weise Geschichte vom Gesetz her verstanden, so gehören Glaube und Geschichte niemals zuhauf; der Glaube liegt vielmehr "quer" zur Geschichte und sprengt jede Art von geschichtlicher Kontinuität, auch jene heils- und erwäh­lungsgeschichtlich verstandene. Der Glaube befreit von der Geschichte und ist selbst die eschatologische Krise der Geschichte im Individuum. Das Kontinuum zwischen Abraham und den Glaubenden ist darum nicht als ein "Produkt geschichtlicher Entwiddung" anzusehen, sondern nur als "ein Rückentwurf des Glaubens" zu verstehen10', der historisch nicht aufweisbar ist und darum wiederum selbst Gegenstand des Glaubens sein muß. In dieser Antithese von Geschichte und Glaube wird nun aber der Glaube dialektisch auf einen negativen Geschichtsbegriff fixiert, von dem er sich immer wieder abheben muß. Auf der anderen Seite wird die Geschichte dialektisch auf einen subjektivistischen Glaubensbegriff fixiert, durch wel­chen sie immer wieder unter jene Gleichsetzung von gesetzlichem und objektivierendem Denken fallen muß. Es ist ersichtlich, wie sehr in dieser Gleichsetzung von gesetzlichem und objektivierendem Denken der mo­derne positivistische Geschichtsbegriff der Neuzeit durchschlägt. Er macht es, daß das forschende, erkennende und objektivierende Subjekt sich selbst durch diese Reflexion von der Macht der Geschichte, der Herkunft und der Überlieferung befreit und in den objektiv unerfaßbaren Hinter­grund einer transzendentalen Subjektivität und Spontaneität rückt. Was der dergestalt subjektivierte Glaube an der Geschichte erkennt, muß dann zum "Ausdruck" des Glaubens selber werden. Was der so verstandene Glaube über Abraham sagt, wird zum "Entwurf" des Glaubens, an den der Glaube in seiner Unbeweisbarkeit glaubt. Damit aber wird es unver­ständlich, warum Paulus an der Gestalt Abrahams nicht nur sein eigenes Verständnis der Glaubensgerechtigkeit exemplifiziert, sondern sich mit dem Judentum und dem Judenchristentum um die Erbschaft Abrahams streitet. Das "Neue" des Neuen Testamentes wird in diesem Gegensatz

10a. Vgl. G. Klein, aaO. 440.

Paulus und Abraham 137

zur "Geschichte" überhaupt, unter die dann auch die Verheißungsge­schichte des Alten Testamentes eo ipso fällt, ebenso unaussagbar wie das "Neue" in der Gnosis. Indem es aber in der Antithese zur Geschichte als dem Objektiven, Aufweisbaren und Verfügbaren das "Alte" so fixiert, wird das "Neue" nichts anderes als der Glaube in Gestalt der unmittel­baren Subjektivität, ihrer reinen Empfängnis aus dem Unverfügbaren. So betrachtet ist das "Neue" nicht sehr neu, wenigstens nicht im Verhält­nis zum enthusiastischen, gnostischen Neuheitspathos. Das Alte Testa­ment wird dann nicht als geschichtliches Zeugnis der Verheißung mit der Erfüllung im Neuen Testament zusammen präsent gehalten, sondern es kann nur antithetisch als das stets überwundene vom transzendental verstandenen Christusglauben präsentiert werden. Nun ist es zweifellos richtig, daß Paulus den generationsgeschichtlichen Zusammenhang der Juden mit Abraham als einen per se soteriologischen verwirft. Doch stellt er dagegen kaum einen christlichen Glaubensentwurf von Abraham, sondern betrachtet Abraham und seine Verheißung offen­sichtlich als eine theologisch und sachlich notwendige Streitsache mit dem Thorajudentum. über unausweisbare und zu glaubende Glaubensent­würfe kann man nicht streiten. Eine Wesensschau der Geschichte kann man eigentlich auch nur einsehen oder eben nicht einsehen. Paulus aber verfährt mit Abraham und seiner Verheißung "sachlich" in dem Sinne, daß er sie als Streitsache in einem notwendigen Prozeß mit dem Juden­tum versteht. So geht es wirklich um die rechte Auslegung der Verhei­ßung Abrahams zwischen dem Anspruch der Thora und dem Anspruch des Evangeliums. Die Kontinuität zu Abrahams Verheißung kann darum weder als Produkt geschichtlicher Entwicklung noch als Rückentwurf des Glaubens aufgefaßt werden. Die Kontinuität der Abrahamsverheißung ist nach Paulus da, wo die Verheißung eschatologisch in Kraft gesetzt ist. Geht es Paulus in diesem Sinne um die "Sache" der Verheißung Abra­hams, so ist seine Auslegung und Aneignung weder durch die geschicht­liche Entwicklung vorgegeben noch durch seine Glaubensphantasie ge­macht. Sein Evangelium ergibt sich nicht wesensnotwendig aus der Er­wählungsgeschichte, aber die Verheißung Abrahams taucht in seinem Evangelium auch nicht willkürlich auf. Weil sein Evangelium die Ver­heißung als im Christusgeschehen in Kraft gesetzt verkündigt, bringt es die überlieferte Verheißung Abrahams in eine neue Geschichte. Die Ver­heißung findet im Evangelium ihre eschatologische Zukunft, das Gesetz hingegen sein Ende. Das "Neue" des Evangeliums ist also nicht "ganz neu". Es erweist seine Neuheit, weil es sich gegen das Alte, gegen das Menschsein im Zusammenhang von Gesetz, Sünde und Tod, durchsetzt

138 Auferstehung und Zukunft ]esu Christi

und dadurch das Alte zum "Alten" macht. Es erweist aber seine eschato­logische Neuheit darin, daß es sich an der vorausverkündigten Verhei­ßung Gottes expliziert. Paulus erkennt im Evangelium von Christus die Verheißung Abrahams wieder und erinnert darum mit dem Evangelium von Christus auch die Verheißung Abrahams. Die Geschichte von Gesetz und Evangelium ist am theologischen Problem der Vergangenheit orien­tiert. Die Geschichte von Verheißung und Evangelium ist aber am escha­tologischen Problem der Zukunft orientiert. Ohne die Beziehung des Evangeliums auf das, was vorausverheißen ist, verliert es seinen eigenen Bezug auf die eschatologische -Zukunft und droht, sich in eine gnostische Offenbarungsrede zu verwandeln. Ohne Bezug auf die Verheißung im Evangelium verliert der Glaube die ihn treibende Kraft der Hoffnung und wird zur Gläubigkeit. Indem das Evangelium sich als In-kraft-setzung der Verheißung des Gottes Abrahams durch denselben Gott darstellt, muß es in einen Rechts­prozeß um die Zukunft der Verheißung mit dem Judentum eintreten und muß es auf der anderen Seite Heiden zur Hoffnung auf den verheißenden Gott bringen. Es hat dann das Alte Testament weder als geschichtlichen Ausweis seiner Erfüllung noch als Beispielgeschichte menschlichen Schei­terns an Gott bei sich. So sehr die Verheißung im Evangelium in Kraft gesetzt ist, so sehr ist auch das Alte Testament, sofern es Verheißungs­geschichte bezeugt, im Neuen Testament in Kraft gesetzt und neu ge­worden. Formal betrachtet, ereignet sich zwischen der im Alten Testament viel­schichtig bezeugten Verheißung Abrahams und dem im Neuen Testa­ment bezeugten Evangelium von Christus eine "Wortgeschichte"10", eine Überlieferungsgeschichte oder die Wirkungsgeschichte der überlieferten Hoffnung. Diese Wort- und Überlieferungsgeschichte ist sachlich von jener Zukunft bestimmt, die von der überlieferten und immer neu auf­gefaßten Verheißung angekündigt und verheißen ist. Darum sieht offen­bar Paulus jene Kontinuität in der "Schrift" gegeben, deren Sinn und Ziel er in der gegenwärtigen Hoffnung findet (Röm. 15, 4). Was die "uns zuvor geschriebene" Schrift bietet, muß also Möglichkeiten und Zu­kunft enthalten, auf die gegenwärtiges Hoffen sich ausrichten kann. Die Auslegung und Vergegenwärtigung des "zuvor" Geschriebenen muß dar­um auf das in ihm Verheißene, Offene, Unabgegoltene und Zukunfts­weisende achten. Weil das Evangelium Menschen auf die Zukunft escha­tologischen Heils ausrichtet, hat es in den zuvor erteilten und geschriebe­nen Verheißungen seine Voraussetzung und vergegenwärtigt es mit der lOb. So E. ]üngel, ZThK 60, 1963, 46.

Paulus und Abraham 139

Zukunft Christi auch die Zukunft des zuvor Verheißenen (Röm. 1, 2)11•

Es knüpft an ergangene, aber noch unerfüllte Verheißungen an und nimmt sie in sich auf. Das ist ein verheißungsgeschichtlicher Vorgang. Die zuvor verheißene Verheißung wird nicht heilsgeschichtlich gedeutet, sie wird auch nicht als okkasioneller Anlaß zu einem neuen Glaubens­entwurf genommen, sondern sie wird in Kraft gesetzt. Damit geschieht an ihr etwas - und wie es das Neue Testament versteht - eschato­logisch "Neues", aber dieses Neue geschieht mit ihr. Die Erinnerung der zuvor ergangenen Verheißung fragt nach der Zukunft in der Vergangen­heit. Sie ist beherrscht von jener Erwartung, die durch die eschatologische In-kraft-setzung und Freisetzung der Verheißung eröffnet ist. Man ist der Verheißung Abrahams eingedenk, um Juden und Heiden das Evan­gelium von Christus zu verkündigen und sie in das neue Gottesvolk zu rufen. Darum gehört dieses Eingedenksein zur Verkündigung des Evan­geliums notwendig hinzu. Für diese Weise des Eingedenkseins ergangener Verheißung und für diese Hoffnung im modusder Erinnerung stellt sich die Alternative von einem heilsgeschichtlichen Zusammenhang, den die Geschichte zeugt, und unausweisbaren Glaubensentwürfen nach rück­wärts, die der subjektive Glaube zeugt, nicht mehr. Man nimmt die er­gangenen Verheißungen in die eigene, durch das Evangelium eröffnete eschatologische Zukunft hinein und führt sie ins Weite. Man deutet nicht vergangene Geschichte. Man emanzipiert sich nicht von Geschichte über­haupt, sondern man geht in die vom verheißenen und verbürgten Escha­ton her bestimmte Geschichte hinein und erwartet von ihr nicht nur die Zukunft der Gegenwart, sondern auch die Zukunft der Vergangenheit.

11. E. füngel, aaü. 45: "In die Vergangenheit gehört gegenüber dem Evangelium einer­seits die Verheißung, andererseits das Gesetz. Die Verheißung gehört als die geschichtliche Voraussetzung des Evangeliums in die Vergangenheit, und zwar in dem Sinne, daß das Evangelium sich die Verheißung voraussetzt (cf. Röm. 1, 2). Weil die Verheißung im Evangelium ihre Zukunft und von dieser Zukunft her ihre eigene Zeit hat, nenne ich die Weise, in der die Verheißung gegenüber dem Evangelium zur Vergangenheit gehört, das Zuvor des Evangeliums. Weil das Gesetz im Evangelium sein Ende hat und von diesem Ende her zur Vergangenheit gemacht wird, nenne ich die Weise, in der das Gesetz gegenüber dem Evangelium zur Vergangenheit gehört, das Vorher des Evangeliums."

§4

Der urchristliche Enthusiasmus der Erfüllung und die eschatologia crucis

Der Verheißungscharakter des Evangeliums läßt sich nun nicht nur aus dem Sprachgebrauch vornehmlich bei Paulus und im Hebräerbrief er­heben. Er zeigt sich noch deutlicher in den Konflikten, in die Paulus mit verschiedenen Tendenzen im Urchristentum verwickelt war. Solange das Christentum im Bereich des apokalyptischen, den Messias erwartenden Judentums blieb, war ihm ein eschatologisches Verständnis des Christus­geschehens und des Evangeliums selbstverständlich. Nur blieb man eben hier auch in den Grenzen der jüdischen Erwartungen und verstand sich als das "erneuerte Gottesvolk" und behauptete das Evangelium als den "erneuerten Bund" Israels. Erst der Schritt zu den Heiden nötigte zu einem neuen Verständnis des Evangeliums. Das Evangelium zeigt sich als wirksam, indem es die Gottlosen rechtfertigt und die Heiden zum Gott der Hoffnung ruft. Die Kirche, die darin aus Juden und Heiden entsteht, kann darum nicht mehr als das "erneuerte Gottesvolk", sondern nur noch als das "neue Gottesvolk" verstanden werden. Mit diesem Überschritt auf außerisraelitischen, hellenistischen Boden aber entstanden nicht geringe Probleme. Konnte man die Kirche hier nicht mehr als christliche Synagoge verstehen, so legte sich auf der anderen Seite das Mißverständnis der Kirche als einer christlichen Mysterienreligion nahe. Es erhebt sich die Frage, was denn das Christentum daran hinderte, sich als christliche Mysterienreligion im Hellenismus zu präsentieren. Was erwies sich im Erbe als resistent gegenüber einer solchen Assimilation? Das Verständnis des christlichen Glaubens als Mysterienreligion ist uns greifbar in jenem hellenistischen Enthusiasmus, mit dem Paulus in Ko­rinth im Streite liegt12• Doch zeigen auch die verschiedenen Hymnen und Bekenntnisfragmente in den paulinischen und deuteropaulinischen Briefen, daß ähnliche Vorstellungen vermutlich Grundanschauungen der gesamten Christenheit im Wirkungskreis der hellenistischen Mysterien­religionen gebildet haben. Es handelt sich dabei durchweg um den Ein­fluß der Epiphanienfrömmigkeit jener Zeit auf das Christentum, von der man sagen kann: "Da der mythische Mensch nur der Gegenwart lebt, ist Epiphanie für ihn bereits Erfüllung. Ein eschatologisches Denken ist ihm fremd. "13 Der Einfluß dieser Frömmigkeit zeigt sich nicht nur

12. Im folge hier den exegetisdl-theologisdlen Arbeiten von E. Käsemann. 13. Elp. Pax, aaO. 266.

Der urchristliche Enthusiasmus der Erfüllung u. die eschatologta crucis 141

als Formelement der Selbstdarstellung des Christentums auf hellenisti­schem Boden, sondern reimt durmaus in das Verständnis des Christus­geschehens hinein. Das Christusgeschehen kann hier völlig unesmatolo­gism als Epiphanie der ewigen Gegenwart in Gestalt des sterbenden und auferstehenden Kultkyrios verstanden werden. Dann aber tritt an die Stelle des Wahrheitsausweises xa-ra -ra~ rpa<pa~ die kultische Epiphanie als Ausweis ihrer selbst in einem zeitlosen Sinne. Mit der Taufe in das Sterben und Auferstehen Christi ist dann das Erlösungsziel bereits er­reicht, denn in ihr ist die Ewigkeit sakramentale Gegenwart. Der gläu­bige Teilhaber ist aus dem Reich des Todes, der Mächte und des alten 1\on der Vergänglichkeit in das ewig-gegenwärtige Reim der Freiheit, des himmlischen Lebens und der Auferstehung versetzt. Er hat auf Erden nur noch sein neues, himmlisches Wesen in Freiheit zu repräsentieren. In der sakramentalen und pneumatischen Gegenwart Christi ist den Empfängern Auferstehung von den Toten schon zuteil geworden und ist ihnen ewige Gegenwart. Der irdische Leib und die weltlichen Verhält­nisse versinken ihm zu einem wesenlosen Schein, in dessen Unbeachtlich­keit die himmlische Freiheit zu beweisen ist14• "Es ist bei diesen Heiden­christen, wie der 1. Kor. durchweg zeigt, ein Gesamtverständnis der Überlieferung im Schwange, dessen Vorstellungsrahmen nicht - wie bei Paulus selbst- die urchristliche Eschatologie der frühjüdischen Tradition, sondern offenbar hellenistische Epiphanievorstellung ist. Von daher ist alles religiöse Erleben und Denken so sehr auf das je gegenwärtige Widerfahrnis des Geistes als der epiphanen Vergegenwärtigung des er­höhten Kyrios orientiert, daß in diesem Gesamtaspekt die Inhalte der eschatologisch orientierten Tradition einbeschlossen sind. "14"

In welchem Verhältnis steht diese, hier nur grob umrissene christliche Mysterienreligion zu den urchristlichen, apokalyptischen Erwartungen, die sich an dem Rätsel und der offenen Frage der Ostererscheinungen Jesu entzündeten? Lagen schon in der ursprünglichen Apokalyptik Bedingun­gen für die Möglichkeit der Verwandlung in die Epiphanienfrömmigkeit der hellenistischen Mysterienreligion vor? Blieb die hellenistische Myste­rienreligion in ihrer Christianisierung noch das, was sie ursprünglich war? Offenbar hat der Enthusiasmus der christlichen Mysterienreligion seine

14. J. Schniewind, Die Leugner der Auferstehung in Korinth, in: Nachgelassene Reden und Aufsätze, 1952, 110 ff.; E. Käsemann, Zum Thema der urchristlichen Apokalyptik, ZThK 59, 1962, 277. 14a. U. Wilckens, Der Ursprung der Oberlieferung der Erscheinung des Auferstandenen in: Dogma und Denkstruktur, 1963, 61.

142 Auferstehung und Zukunft fesu Christi

Voraussetzung in einem apokalyptischen Enthusiasmus der Urchristen­heit, der in der Geisterfahrung die Erfüllung langerwarteter V erheißun­gen erkennen zu können glaubte. Dieser nichthellenistische, apokalyp­tische Enthusiasmus, der sich in dem Bewußtsein, in der Erfüllungszeit der Gottesverheißungen zu leben, erhob, war allerdings in der Lage, dann später diese Erfüllung mit der zeitlosen Epiphanie der ewigen Gegenwart Gottes zu identifizieren. Er war theologisch in der Lage, die ursprünglichen, zeitlich-teleologischen Aussagen der Erfüllung von Ver­heißungen in das zeitlos Typische der Präsenz des Ewigen zu übersetzen. Er war damit umgekehrt in der Lage, der von den Griechen in den My­sterienkulten gesuchten ewigen Gegenwart den Christuskult als die wahre Gegenwart des Ewigen anzubieten. Es ist also ein wechselseitiger Vorgang, der einerseits sein Ergebnis als "präsentische Eschatologie", andererseits aber auch als "Präsenz der Ewigkeit" darstellen konnte. Die enthusiastische Erfüllungseschatologie konnte sich griechisch darstellen und die griechische Vorstellung von der Präsenz der Ewigkeit konnte sich als Erfüllung eschatologischer Erwartungen anbieten. Darum blieb auch in der christlichen Mysterienreligion das Pathos der Endgültigkeit und der Einzigartigkeit erhalten, auch wenn der ausdrückliche Zusammen­hang mit den alten eschatologischen Zukunftshoffnungen verloren ging. Doch wurde aus dem Endzeitlichen das Endgültige und aus dem End­gültigen das Ewige15• Aus diesem Umsetzungsprozeß wird das Absolut­heitspathos der alten Kirche verständlich, die sich mit dem Abbau der eschatologischen Erwartungskategorien keineswegs in die vorhandenen Re­ligionen und Kulte relativierte, sondern das Bekenntnis zu dem einen Gott, das sich dann mit den Mitteln der griechischen Metaphysik formulieren ließ, durchaus mit dem Pathos der endzeitliehen und einzigartigen Offen­barung des einzigen Gottes in Christus verband. Dieser oft dargestellte Umsetzungsprozeß vollzog sich nicht so sehr auf dem Boden einer, auf Grund enttäuschter Naherwartung und ausbleibender Parusie Christi

15. Diese Verwandlung hat sehr treffend H. von Soden erkannt. Vgl. Urchristentum und Geschichte, I, 1951, 29: "Das Christentum ist in seinem ursprünglichen Auftreten be­kanntlich Botschaft vom Weitende, vom neuen, himmlischen Aeon, und insofern kritisch gegen alle Kultur gewesen. Es war jedoch gerade in der streng transzendentalen Fassung des neuen Aeons als von Gott wunderbar zu bewirkender Erneuerung begründet, daß die kritische Stellung zum alten, bestehenden Aeon praktisch sehr konservativ war. Als die endzeitliche Ordnung der Dinge erschien die bestehende als die geschichtlich endgül­tige ... Es ist überaus wichtig, sich dieses höchst eigentümliche Verständnis von Endzeit­lichkeit als Endgültigkeit, bzw. die Umsetzung von Endzeitlichkeit in Endgültigkeit, von Vergänglichkeit in Unabänderlichkeit im christlichen Altertum klar zu machen; sich da­mit klar zu machen, daß sich die eschatologische Revolution als konservativste Macht auswirken mußte ... "

Der urchristliche Enthusiasmus der Erfüllung u. die eschatologia crucis 143

preisgegebenen Eschatologie, sondern viel stärker auf dem Boden eines Erfüllungsenthusiasmus, der das zu erwartende Eschaton in die Gegen­wart der Ewigkeit, wie sie in Kult und Geist erfahren wird, verwan­delte. Weniger auf Grund enttäuschter Naherwartung als vielmehr auf Grund vermeintlicher Erfüllung aller Erwartungen geschah die akute Hellenisierung des Christentums und die ebenfalls akute Christianisie­rung des Hellenismus. "Naherwartung und Parusie ist da sinnlos geworden, weil alles von der Apokalyptik noch Erhoffte bereits ver­wirklicht erscheint. "16

Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesem Verständnis der präsen­tischen Eschatologie als Präsenz der Ewigkeit? Aus dem Verheißungs­geschehen, als welches das Reden und Wirken, das Sterben und Auf­erwecktwerden Jesu verstanden wurde, wird nun ein Erlösungsgesche­hen, das in der Weise eines Mysteriendramas kultisch nachvollzogen werden kann. Das sakramentale Geschehen gibt Anteil an dem Sterben und Auferstehen der Gottheit. Die feierliche Repräsentation nahm die Auferweckung Jesu als seine Inthronisation zum erhöhten Kyrios als schon vollzogen und darum nur noch zu repräsentieren an. "An die Stelle des verborgenen, in Wahrheit erst designierten Weltenherrn, auf dessen Wiederkunft in Herrlichkeit zur irdischen Machtergreifung die Gemeinde noch wartet, tritt der, welcher bereits jetzt über die Mächte und Gewal­ten und so über die bislang von diesen beherrschte Welt regiert. "17 Mit diesem Wechsel von der Apokalyptik der verheißenen, noch ausstehen­den Herrschaft Christi zur kultischen Präsenz seiner ewigen, himmlischen Herrschaft tritt zugleich die theologische Wahrnehmung des Kreuzes Christi zurück. Die Auferstehung Jesu wird als seine Erhöhung und Inthronisation verstanden und wird auf seine Inkarnation bezogen. Zwar kann seine Erniedrigung bis ans Kreuz als Vollendung seiner In­karnation verstanden werden, durch die er alles in seine Herrschaft zieht, doch wird damit das Kreuz zu einem Durchgangsstadium seines Weges zur himmlischen Herrschaft. Es ist das Kreuz nicht die bis zum erfüllen­den Eschaton hin bleibende Signatur seiner Herrschaft in der Welt. Wird seine Auferstehung in diesem Sinne als seine himmlische Inthronisation verstanden, so rückt das kultisch-sakramentale Geschehen, das ihn re­präsentiert, in eine Parallele zu seiner Inkarnation und wird als irdische Abschattung und Durchsetzung seiner himmlischen Herrschaft, seines himmlischen Lebens im Bereich des Irdischen, Vergänglichen und in die Vielzahl der Mächte Zerrütteten genommen.

16. E. Käsemann, ZThK 59, 1962, 278. 17. E. Käsemann, ebd. 274.

144 Auferstehung und Zukunft fesu Christi

Die Geschichte verliert dadurch ihre eschatologische Ausrichtung. Sie ist nicht das Feld des Leidens und der Hoffnung in der seufzenden Aussicht auf die Zukunft Christi zur Welt, sondern sie wird zum Feld der kinn­liehen und sakramentalen Enthüllung der himmlischen Herrschaft Chri­sti. An die Stelle des eschatologischen "Noch nicht" tritt ein kultisches "Nur noch" und wird zur Signatur der Geschichte post Christum. Es ist verständlich, daß dann diese Enthüllung der ewigen, himmlischen Herr­schaft Christi als Fortsetzung seiner Inkarnation aufgefaßt werden kann. In ihr wird fortgesetzt das Vergängliche im Lichte des Himmlisch-Un­vergänglichen, das Sterbliche im Licht des Himmlisch-Unsterblichen und das in die Vielheit Zerrüttete in der Herrschaft des Göttlich-Einen ver­klärt. Eine sakramental-heilsgeschichtliche Zukunftserwartung tritt dann an die Stelle der irdisch-eschatologischen: die Kirche durchdringt die Welt sukzessive mit himmlischer Wahrheit, himmlischen Lebenskräften und himmlischem Heil. Durch die eine Kirche wird die Welt dem mit dem einen Gott einigen Christus zugeführt und so zur Einheit und zum Heil gebracht. Die eschatologische Erwartung dessen, was "noch nicht" ge­schehen ist, wird zu einer noetischen Erwartung der universalen Ent­hüllung und Verklärung dessen, was bereits im Himmel geschehen ist. Der alte apokalyptische Dualismus, der den vergehenden Aon von dem kommenden Aon unterschied, verwandelt sich in einen metaphysischen Dualismus, der das Kommende als das Ewige und das Vergehende als die Vergänglichkeit versteht. Aus den Bürgern des kommenden Reiches werden die vom Himmel her Erlösten. Aus den Bürgern des vergehenden Aon werden die Irdischen, die von der Welt her sind. Das Kreuz endlich wird zu einem zeitlosen Sakrament des Martyriums, das den Märtyrer vollendet und mit dem himmlischen Christus vereinigt. Wir können mit diesen wenigen Hinweisen abbrechen. Die Tendenz zum Frühkatholizismus und zum Leben und Denken der alten Kirche ist sichtbar. Der Enthusiasmus eschatologischer Erfüllung im Christus­geschehen ist die Voraussetzung für diesen Umwandlungsprozeß des Christentums in eine enthusiastische Gestaltung der hellenistischen My­sterienreligion und in eine ökumenische W eltkirche. Man kann diese Ge­stalt der "präsentischen Eschatologie" oder einer nur noch unterschwellig eschatologisch bestimmten Religion der Präsenz des Ewigen eschatologia gloriae nennen, sofern sie überhaupt noch in eschatologischen Kategorien erfaßbar ist. In diesem Zusammenhang hat die leidenschaftliche Polemik des Paulus gegen den hellenistischen Enthusiasmus in Karinth sowie seine Korrektur an jener hellenistischen Theologie der Christenheit, die seitdem maß-

Der urchristliche Enthusiasmus der Erfüllung u. die eschatologia crucis 145

gehlich wurde, eine bleibende Bedeutung. Seine Kritik hat offensichtlich zwei Schwerpunkte: es ist einmal ein "eschatologischer Vorbehalt"18,

den er diesem Erfüllungsenthusiasmus entgegenhält. Das sind die soge­nannten "Relikte apokalyptischer Theologie", die sich in seiner Auf­fassung von der Auferstehung Christi, vom Sakrament, von der Gegen­wart des Geistes, vom irdischen Gehorsam des Glaubenden und natürlich in seiner Zukunftserwartung geltend machen. Es ist auf der anderen Seite seine Kreuzestheologie, mit der er jenem Enthusiasmus entgegen­tritt, der die Erde, auf der dieses Kreuz steht, verläßt. Beide Ansatz­punkte zur Kritik stehen in einem tiefen sachlichen Zusammenhang. Wir nennen darum die Grundlage seiner Kritik eschatologia crucis und mei­nen damit beide Einwände in einem. Wenn die Paulusinterpretation R. Bultmanns die anthropologische und existentiale Interpretation der Eigenart präsentischer Eschatologie durch Paulus in den Mittelpunkt der paulnischen Theologie stellt, so ist damit unzweifelhaft eine wichtige Modifikation der Theologie der ewi­gen Gegenwart aufgedeckt, aber eigentlich keine grundsätzliche Alter­native zu ihr. Die präsentische Eschatologie kann sowohl im mytholo­gischen Gewande wie in existentialer Interpretation erscheinen. Die "Gegenwart der Ewigkeit" kann sowohl in mythologischer, weitbild­hafter Sprache ausgedrückt werden, wie sie auch paradoxal als ein exi­stenzgeschichtliches nunc aeternum zur Sprache gebracht werden kann. Läge die paulinische Kritik nur in dieser Umsetzung, so läge in ihr zwar eine wichtige Modifikation der Theologie der hellenistischen Gemeinde, nicht aber eine wirklich verändernde Korrektur vor. Nun steht aber die Polemik, die Paulus dem Hellenismus entgegenbringt, sowohl im Zeichen einer neuen Erkenntnis der Bedeutung des Kreuzes Christi als auch im Zeichen einer neuen Erkenntnis wirklicher futurischer Eschatologie und wird damit zur Kritik an der präsentischen Eschatologie überhaupt19•

"Der antienthusiastische Kampf des Apostels wird jedoch letztlich und zutiefst im Zeichen der Apokalyptik ausgefochten. "20 Damit sind nicht bloße Wiederholungen oder leidige Restbestände spätjüdischer Apoka­lyptik bei Paulus gemeint, sondern damit ist seine eigene Apokalyptik gemeint, die sich an einer Eschatologie des Kreuzes entzündet und darum jedem eschatologischen Erfüllungsenthusiasmus widersteht. Gegen die mysterienhafte Vereinigung des Glaubenden mit dem ster­benden und auferstehenden Kultherrn behauptet Paulus eine eschato-

18. E. Käs,emann, ebd. 279. 19. E. Käsemann, ZThK 54, 1957, 14. 20. E. Käsemann, ZThK 59, 1962, 279.

146 Auferstehung und Zukunft ]esu Christi

logische Differenz: die Taufe vermittelt Anteil am Christusgeschehen der Kreuzigung und des Todes Christi. Christusgemeinschaft ist Leidens­gemeinschaft mit dem Gekreuzigten. Die Getauften sind mit Christus gestorben, wenn sie auf seinen Tod getauft werden. Aber sie sind nicht in einem kultischen Perfekt schon mit ihm auferstanden und in den Him­mel versetzt. Sie gewinnen an der Auferstehung Christi Anteil durch neuen Gehorsam, der sich im Raume der Hoffnung auf Auferstehung entfaltet. In der Kraft des Geistes, der Christus von den Toten aufer­weckt hat, können sie gehorsam das Leiden der Nachfolge auf sich nehmen und eben darin die zukünftige Herrlichkeit erwarten. "Vom Anteil an der Auferweckung wird nicht perfektisch, sondern futurisch gesprochen. "21 Christus ist auferstanden und dem Tode entnommen, aber die Seinen sind dem Tode noch nicht entnommen, sondern gewinnen erst durch ihre Hoffnung hier Anteil an dem Auferstehungsleben. So ist ihnen Auferstehung in der Hoffnung und als Verheißung gegenwärtig. Das ist eine eschatologische Gegenwärtigkeit des Zukünftigen, nicht eine kultische Präsenz des Ewigen. Der Glaubende findet nicht schon in Kult und Geist vollen Anteil an der Herrschaft Christi, sondern er wird durch die Hoffnung in die Spannungen und Differenzen des Gehorsams und des Leidens in der Welt geführt. Der Alltag wird darum Röm. 12, 1 ff. zur Sphäre des wahren Gottesdienstes. Indem Ruf und Verheißung den Glaubenden in den leiblichen und irdischen Gehorsam weisen, werden der Leib und die Erde in den Erwartungshorizont der kommenden Herr­schaft Christi gestellt. "Die Realität des neuen Lebens steht und fällt mit der promissio, daß Gott getreu bleibt und sein Werk nicht läßt. "22

Darum werden Anfechtung des Leibes und Widerspruch der Welt nicht als Zeichen einer paradoxalen Gegenwart des Ewigen verstanden, son­dern sie werden als Frage und als Ruf nach der kommenden Freiheit im Reiche Christi aufgenommen. Es ist nicht nur noch die Sphäre der Vergänglichkeit, in der der Glaubende seine himmlische Freiheit demon­strieren soll, sondern es ist die Wirklichkeit, in der die Gemeinde zu­sammen mit der ganzen Schöpfung nach der Erlösung von den Mächten des Nichtigen in der Zukunft Christi seufzt und ihr entgegenharrt (Röm. 8, 18 ff.). Der paulinische Imperativ zum neuen Gehorsam ist also nicht nur als Aufruf zur Demonstration des Indikativs des neuen Seins in Christus zu verstehen, sondern er hat auch seine eschatologische Voraus­setzung in der verheißenen und zu erwartenden Zukunft des Herrn zu Gericht und Reich. Darum sollte er nicht nur wiedergegeben werden mit

21. E. Käsemann, ebd. 22. E. Käsemann, Paulus und der Frühkatholizismus, ZThK 60, 1963, 83.

Der .urchristliche Enthusiasmus der Erfüllung u. die eschatologia crucis 147

dem Satz: Werde, der Du bist! sondern betontermaßen auch mit dem Satz: Werde, der Du sein wirst! Nicht der ewige Geist des Himmels ist den Glaubenden gegeben, sondern das eschatologische "Angeld des Geistes"; und zwar des Geistes, der Christus von den Toten auferweckt hat und die sterblichen Leiber leben­dig machen wird (Röm. 8, 11). Denn das Wort, das den Glaubenden in die Wahrheit führt, ist promissio des ewigen Lebens, aber noch nicht dieses Leben selbst. Die Wahrnehmung dieser eschatologischen Differenz bekundet sich auch in der Christologie des Apostels. Nimmt er 1. Kor. 15, 3-5, eine urchristliche Überlieferung des Auferstehungskerygmas auf, so sind seine Auslegungen in den folgenden Versen doch originell. Er zieht die Linien in die Zukunft aus und stellt dar, was zu erwarten ist, weil es mit der Auferstehung Christi in Aussicht gestellt ist und zur Zu­versicht wurde (1. Kor. 15, 25): "Er muß aber herrschen, bis er alle Feinde unter seine Füße gelegt hat. "22" Damit wird in dem Zukünftig­Möglichen etwas Notwendiges im Sinne des Verläßlichen und zu Er­wartenden aufgezeigt. Es werden die Tendenzlinien und die Latenzen des Auferstehungsgeschehens in die von ihm eröffnete Zukunft ausge­zogen. Mit der Auferweckung Jesu ist noch nicht alles geschehen. Es steht das Ende der Todesherrschaft noch aus. Es steht die Überwindung des Widerspruchs gegen Gott noch aus in jener zukünftigen Wirklichkeit, von der Paulus sagt, daß "Gott sein werde alles in allem" (1. Kor. 15, 28). Endlich kann auch die kommende Weltherrschaft Christi über alle Feinde noch einmal eschatologisch überholt werden, indem auch seine Herr­schaft noch nicht in sich selber die ewige Gegenwart Gottes ist, sondern in

22a. Das eschatologische Denken des Paulus verbindet stets das Perfekt der Auferwek­kung Jesu mit dem Futur der eschatologischen Zukunft. Beides wird in einem gegen­seitigen Begründungszusammenhang gesehen. Das urchristliche Bekenntnis, "daß Jesus gestorben und auferstanden ist" bekommt damit eine ganz andere Auslegung als im Mysterienkult der sterbenden und auferstehenden Gottheit. Das Christusgeschehen wird im Rahmen eschatologischer Erwartung auf das, was kommen wird, dargestellt, und die Zukunftserwartung wird begründet in dem Christusgeschehen. 1. Thess. 4, 14 ("wir glauben, daß Jesus gestorben und auferstanden ist, also wird Gott auf diese Weise aud:! die Entschlafenen ... ") ist dafür ebenso typisd:! wie seine Auslegung der Bekenntnis­formel 1. Kor. 15, 3-5 in 1. Kor. 15, 20 ff. Der Zusammenhang zwischen Auferstehung Jesu und der erwarteten Zukunft ist dabei weder einlinig apokalyptisch nod:! einlinig christologiscl:t, sondern wecl:tselseitig: Gibt es keine Auferstehung der Toten, so ist aud:! Christus nicl:tt auferstanden. Ist Christus auferstanden, so werden die Toten auferstehen und so "muß" Christus über alle Feinde, aud:! den Tod herrsd:!en. Es ist nicht ein heils­geschichtlicl:tes oEi:, sondern ein solches, das die innere Zukunftsnotwendigkeit und Zu­kunftstendenz im Auferstehungsgeschehen Jesu aufdeckt. Darum wird es nid:!t an die Scl:ticksalserwartung der Apokalyptik geheftet, sondern an den Kyriostitel Jesu. Vgl. dazu U. Wilckens, Der Ursprung der Überlieferung ... , in: Dogma und Denkstruktur, 1963, 57 ff.

148 Auferstehung und Zukunft fesu Christi

eschatologischer Vorläufigkeit der Allein- und Allherrschaft Gottes dient. Betrachtet man diese Perspektiven, so wird deutlich, daß die Oster­erscheinungen des auferstandenen Christus offenbar die theologische Antwort, er sei die Gegenwart des Ewigen, sprengen und zur Entfaltung einer neuen Eschatologie nötigen. Mit seiner Auferstehung ist ein escha­tologisch bestimmter Geschichtsprozeß in Gang gekommen, der auf die Vernichtung des Todes in der Herrschaft des Lebens aus der Auf­erweckung zielt und auf jene Gerechtigkeit hinausläuft, in der Gott an allem zu seinem Recht und die Kreatur darin zu ihrem Heil kommt. Nur vom Standpunkt einer präsentischen Eschatologie oder einer Theologie der ewigen Gegenwart aus kann das eschatologisch-antizipierende Den­ken, das Paulus 1. Kor. 15 zeigt, als ein Rückfall in überwundene apokalyptische Mythologie angesehen werden. Doch nicht eine existen­tiale Interpretation der Religion der ewigen Gegenwart überwindet deren Mythologie, sondern einzig eine Verheißungseschatologie kann die mythische und illusionäre Betrachtungsweise der Welt und der mensch­lichen Existenz in ihr überwinden, weil nur sie mit der Anfechtung, dem Widerspruch und der Gottlosigkeit dieser Welt auf eine sinnvolle Weise ernst macht, weil sie Glauben und Gehorsam in der Welt nicht dadurch ermöglicht, daß sie die Widersprüche unbeachtlich macht, sondern Glau­ben und Gehorsam aus der Hoffnung auf die Überwindung dieser Widersprüche durch Gott ermöglic.~t. Nicht in radikaler Entweltlichung gewinnt sich der Glaube, sondern durch hoffnungsvolle Entäußerung in die Welt hinein wird er zu einem Gewinn für die Welt. Indem er das Kreuz, das Leiden und Sterben mit Christus, indem er die Anfechtung und den Kampf um leiblichen Gehorsam annimmt und sich in den Schmerz der Liebe hineingibt, verkündet er die Zukunft der Auferste­hung, des Lebens und der Gerechtigkeit Gottes im Alltag der Welt. Die Zukunft der Auferstehung kommt zu ihm, indem er das Kreuz auf sich nimmt. So greifen futurische Eschatologie und Kreuzestheologie inein­ander. Weder wird die futurische Eschatologie isoliert wie in der spät­jüdischen Apokalyptik, noch wird das Kreuz zur Signatur der parado­xalen Gegenwart der Ewigkeit in jedem Augenblick wie bei Kierkegaard. Die eschatologische Erwartung der umfassenden Herrschaft Christi für die leibliche, irdische Welt bringt die Wahrnehmung und die Annahme der Differenz von Kreuz und Auferstehung hervor. Zuletzt ist zu beachten, daß Paulus weniger um einen Ausgleich von präsentischer und futurischer Eschatologie, also um einen Ausgleich von Apokalyptik und Hellenismus, bemüht ist. Der Sinngehalt der helleni-

Der urchristliche Enthusiasmus der Erfüllung u. die eschatologia crucis 149

stischen Vorstellung von der Gegenwart des Ewigen wird von ihm viel­mehr futurisiert und auf das noch ausstehende Eschaton angewendet. Jene umfassende Wahrheit, in der die Kreatur zur heilsamen Entspre­chung zu Gott kommt, jene umfassende Gerechtigkeit, in der Gott an allem zu seinen Recht kommt und alles recht wird, jene Herrlichkeit Gottes, in deren Widerschein alle Dinge verklärt werden und das ver­borgene Antlitz der Menschen aufgedeckt wird, das wird von Paulus in den Hoffnungshorizont jener Zukunft gesetzt, der der Glaube auf Grund der Auferweckung des Gekreuzigten entgegensieht. Die Fülle aller Dinge aus Gott, in Gott und zu Gott, liegt für ihn in der noch ausstehen­den Erfüllung der in Christus verbürgten Verheißungen. "Ewige Gegenwart" ist darum das eschatologische Zukunftsziel der Geschichte, nicht ihr inneres Wesen. Schöpfung ist darum nicht das Gegebene und Vorhandene, sondern dessen Zukunft, die Auferstehung und das neue Sein. Gott ist nicht jenseits irgendwo, sondern er kommt und als der Kom­mende ist er gegenwärtig. Er verheißt eine neue Welt des umfassenden Lebens, der Gerechtigkeit und Wahrheit und stellt mit dieser Ver­heißung ständig diese Welt in Frage; nicht weil sie dem Hoffenden nichts ist, sondern weil sie ihm noch nicht das ist, was ihr in Aussicht gestellt ist. Indem die Welt und das ihr verhaftete Menschsein so in Frage gestellt werden, werden sie "geschichtlich", denn sie werden aufs Spiel und in die Krisis der verheißenen Zukunft gesetzt. Wo das Neue beginnt, wird das Alte offenbar. Wo das Neue verheißen wird, wird das Alte vergänglich und überholbar. Wo das Neue erhofft und erwartet wird, kann das Alte verlassen werden. So ergibt sich "Geschichte" von ihrem Ende her in dem, was durch die vorauslaufende und aufleuchtende Ver­heißung geschieht und wahrnehmbar wird. Die Eschatologie geht nicht im Flugsand der Geschichte unter, sondern hält die Geschichte durch Kritik und Hoffnung in Atem; sie ist selber so etwas wie der Flugsand der Geschichte von weither. Der Eindruck allgemeiner Vergänglichkeit, der sich dem trauernden Blick nach rückwärts auf das, was sich nicht halten läßt, ergibt, hat in Wahrheit noch nichts mit Geschichte zu tun. Geschichtlich ist vielmehr jene Vergänglichkeit, die aus der Hoffnung, aus dem Exodus und aus dem Aufbruch in die verheißene, noch unsicht­bare Zukunft entsteht. Die Gemeinde Christi hat darum hier keine "blei­bende Stadt", weil sie die "zukünftige Stadt" sucht und darum aus dem Lager geht, um Christi Schmach zu tragen. Nicht darum hat sie hier keine bleibende Stadt, weil es in der Ge.schichte eben überhaupt nichts Bleibendes gibt. "Vergänglich" wird für die christliche Hoffnung nicht

150 Auferstehung und Zukunft ]esu Christi

nur das, was nach allgemeinem Eindruck dem Schicksal des Vergehens un­terliegt, sondern vergänglich wird ihr gerade das, was nach allgemeinem Eindruck immer ist und was alles Leben ins V ergehen stürzt, nämlich der Tod und das Böse. Vergänglich wird der Tod in der verheißenen Auferstehung. Vergänglich wird die Sünde in der Rechtfertigung des Sünders und der zu erhoffenden Gerechtigkeit. Weder verschlingt die Geschichte die Eschatologie (Albert Schweitzer), noch verschlingt die Eschatologie die Geschichte (Rudolf Buhmann). Der Logos vom Eschaton ist Verheißung dessen, was noch nicht ist, und macht daher Geschichte. Die promissio, die das Eschaton ankündigt und in der sich das Eschaton ankündigt, ist der Motor, das Motiv, die Triebfeder und die Qual der Geschichte.

§5

Der "Tod Gottes" und die Auferstehung Christi

Das Christentum steht und fällt mit der Wirklichkeit der Auferweckung Jesu von den Toten durch Gott. Es gibt im Neuen Testament keinen Glauben, der nicht apriori bei der Auferstehung Jesu einsetzt. Paulus nimmt offenbar eine Grundgestalt urchristlichen Bekennens auf, wenn er Röm. 10, 9 sagt:" Wenn Du mit dem Munde Jesus als den Herrn be­kennst und mit dem Herzen glaubst, daß Gott ihn von den Toten auf­erweckt hat, wirst Du gerettet werden." Das Bekenntnis zur Person Jesu als des Herrn und das Bekenntnis zum Werk Gottes, der ihn von den Toten auferweckt hat, gehören untrennbar zusammen, obgleich beide Formeln nicht zusammenfallen, sondern einander gegenseitig auslegen. Christlicher Glaube, der nicht Auferstehungsglaube ist, kann darum weder christlich noch Glaube genannt werden. Von der Erkenntnis des Auferstandenen und von dem Bekenntnis zu dem her, der ihn auferweckt hat, wird die Erinnerung an das Leben, Wirken, Leiden und Sterben Jesu in den Evangelien wach gehalten und formuliert. Aus der Wahr­nehmung des auferstandenen Christus entsteht die Wahrnehmung der eigenen Sendung in der Mission an die Völker. In der Erinnerung an seine Auferstehung gründet die inklusive Hoffnung auf die universale Zukunft Christi. Die Kernsätze der urchristlichen Missionsverkündigung lauten darum: 1. "den gekreuzigten Jesus hat Gott von den Toten auf­erweckt" (Act. 2, 24; 3, 15; 5, 31; 1. Kor. 15, 3; u. ö.), 2. "des sind wir Zeugen", 3. in ihm gründet die Zukunft der Gerechtigkeit für die Sünder

Der "Tod Gottes« und die Auferstehung Christi 151

und die Zukunft des Lebens für die dem Tode Unterworfenen. Die Sache, das Zeugnis und die eschatologische Hoffnung gehören im Osterkerygma zusammen. Sie können wohl in den Fragestellungen der Erforschung der näheren Umstände, Vorstellungen und Erwartungen unterschieden wer­den, nicht aber voneinander getrennt werden. Die Frage: was kann ich historisch wissen? kann hier nicht getrennt werden von der ethischen und existentiellen Frage: was soll ich tun? und von der eschatologischen Frage: was darf ich hoffen?, wie umgekehrt auch die anderen Fragen nicht isoliert werden können. Nur im Zusammenklang dieser drei Fra­gen erschließt sich die Wirklichkeit der Auferstehung. Wird heute nach der Wirklichkeit der Auferstehung Christi gefragt, so richtet sich die Frage vornehmlich darauf: Ist er auferstanden? In wel­chemmodusvon esse ist die Wirklichkeit der Auferstehung zu verstehen? - Ist er auferstanden im Sinne einer "historisch" zugänglichen Wirklich­keit? Ist er auferstanden im Sinne einer vorstellungs-und überlieferungs­geschichtlichen Wirklichkeit? Ist er auferstanden im Sinne einer Wirk­lichkeit, die unsere eigene Existenz betrifft? Ist er auferstanden im Sinne einer Hoffnungswirklichkeit menschlichen Wünschensund Hoffens? Die Frage nach der Wirklichkeit der Auferstehung Christi kann also von sehr verschiedenen, heute möglichen Verständnissen von Wirklich­keit geleitet sein. Darum steht nicht nur die Weise der Wirklichkeit der Auferstehung in Frage, sondern auch jene Wirklichkeit, aus der heraus die Frage nach der Wirklichkeit der Auferstehung geleitet, motiviert und formuliert wird. Wir werden darum zunächst versuchen müssen, den Ort der Frage auf­zusuchen, an dem die Antwort auf die Frage nach der Wirklichkeit der Auferstehung Christi einleuchten kann. Das kann keine Einzelfrage sein im Zusammenhang dessen, was aus der heutigen Wirklichkeit heraus fragemöglich ist, sondern das kann nur eine solche Frage sein, die die ganze heutige Welt-, Selbst- und Zukunftserfahrung umschließt; eine Frage, die wir mit unserer Wirklichkeit selber sind. Die nähere Fixie­rung der Frage nach der Wirklichkeit der Auferstehung, etwa in die Frage nach der Aktualität und Bedeutung dieser Kirchenlehre oder in die Frage nach der historischen Wahrscheinlichkeit der Faktizität der Auferstehung Jesu oder in die Frage nach ihrer Wirklichkeitsbedeutung für Herz und Gewissen oder in die Frage nach ihrem möglichen Hoff­nungsgehalt, läßt die Situation, aus der heraus und auf die hin gefragt wird, unbeachtet dort stehen, wo und wie sie als selbstverständlich an­genommen wird. Es könnte aber sein, daß die Erkenntnis der Wirklich­keit der Auferstehung gerade diese Situation fraglich macht.

152 Auferstehung und Zukunft fesu Christi

Nun ist es natürlich schwer, die Situation, aus der heute so oder so nach der Wirklichkeit der Auferstehung Christi gefragt werden kann, auf einen Nenner zu bringen. Es ist jedoch nicht zufällig, wenn diese Situa­tion in der Auslegung des Satzes von Hegel und Nietzsche gedeutet wird:

"Gott ist tot." Denn das ist nicht nur ein philosophisch-metaphysischer oder ein theo­logischer Satz, sondern dieser Satz scheint auch in den Fundamenten neuzeitlicher Welt- und Selbsterfahrung den methodischen Atheismus der Wissenschaften abzugeben. Alle Fragemöglichkeiten nach der Wirklich­keit der Auferstehung, die mit der Fragerichtung diese Wirklichkeit "historisch" oder "existential" oder "utopisch" fixieren, gründen in der a-theistischen Gestalt der historischen Erfassung der Geschichte, der Selbsterfassung des Menschen und seiner utopischen Erfassung der Zu­kunft. An keiner dieser Umgangsweisen mit der Wirklichkeit stellt sich der Gottesgedanke als notwendig ein. Er ist teils überflüssig, teils be­liebig geworden, jedenfalls in seiner herkömmlichen, theologisch-meta­physischen Gestalt. Darum ist auch die Verkündigung der Auferweckung Jesu von den Toten durch Gott teils überflüssig, teils beliebig geworden, solange unter "Gott" etwas aus der Geschichte, aus der Welt oder aus der menschlichen Existenz heraus Bekanntes verstanden wird. Nur wenn der "Gott der Auferstehung" zusammen mit der Erkenntnis der Auf­erstehung Jesu an dem aus der Geschichte, aus der Welt und aus der eigenen Existenz bekannt gewordenen "Tod Gottes" als "Gott" erwiesen werden kann, ist die Verkündigung der Auferstehung, sind Glaube und Hoffnung auf den Gott der Verheißung etwas Notwendiges, etwas Neuesund etwas real-objektiv Mögliches.

Die Genesis des Eindrucks "Gott ist tot" gibt dafür einige Hinweise. Der frühroman­tische Dichter fean Paullegte in seiner Schreckvision "Die Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei" sachgemäß diese Aussage dem auferstandenen und wiederkehrenden Christus in den Mund23• Er selbst wollte nur eine Vorstellung des Gefühls geben, wenn der Atheismus wahr wäre, und hat doch wie kein anderer auf den romantischen Nihilismus der Neuzeit gewirkt. Bei Stifter, Keller, Dostojewski und Nietzsche finden sich seine Spuren. Die "Mönche des Atheismus" (H. Heine), die Märty­rer der "Diktatur des Nichts" (Fr. Schlegel) sowie die "Dämonen" Dostojewskis sind von ihm beeinflußt24• In Jean Pauls Dichtung ist es die Stunde des jüngsten Gerichtes. Der Christus, den die Toten erwarten, kommt und verkündet: Es ist kein Gott. Ich habe mich geirrt. überall ist nur das stumme, starre Nichts, die Totenstarre der Unend­lichkeit. Die Ewigkeit liegt auf dem Chaos, zernagt es und wiederkäut sich. Diese Vision ist wie ein Kommentar zu 1. Kor. 15, 13 ff. Darum ist es bezeichnend, daß die Kunde:

23. Vgl. den Text bei G. Bornkamm, Studien zu Antike und Urchristentum, 1959, 245 ff. 24. W. Rehm, Experimentum medietatis, Studien zur Geistes- und Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts, 1947. Jetzt z. T. wiederabgedruckt in: Jean Paul- Dostojewski. Zur dichterischen Gestaltung des Unglaubens, 1962.

Der "Tod Gottes"' und die Auferstehung Christi 153

"Es ist kein Gott." als Verzweiflung an der Auferstehungshoffnung verkündet wird. Offen­bar hängen für Jean Paul Gottes Wirklichkeit und Auferstehungshoffnung sowohl für den Glauben wie für den Unglauben aneinander. Hegel hat 1802 den "Tod Gottes" als Grundgefühl der Religion der Neuzeit bezeichnet und in ihm eine neue Auslegung des Karfreitags gesehen: .Der reine Begriff aber oder die Unendlichkeit als der Abgrund des Nichts, worin alles Sein versinkt, muß den unendlichen Schmerz, - der vorher nur in der Bildung geschichtlich und als das Gefühl war, worauf die Religion der neuen Zeit beruht, das Gefühl: Gott selbst ist tot (das­jenige, was gleichsam nur empirisch ausgesprochen war mit Pascals Ausdrücken: Ia nature est telle qu'elle marq.ue partout un Dieu perdu et dans l'homme et hors de l'homme), - rein als Moment, aber auch nicht mehr denn als Moment der höchsten Idee bezeichnen und so dem, was etwa auch entweder moralische Vorschrift einer Aufopferung des empirischen Wesens oder der Begriff formeller Abstraktion war, eine philosophische Existenz geben und also der Philosophie die Idee der absoluten Freiheit und damit das absolute Leiden oder den spekulativen Charfreitag, der sonst historisch war, und ihn selbst in der ganzen Wahrheit und Härte seiner Gottlosigkeit wiederherstellen, aus welcher Härte allein, - weil das Heitre, Unergründlichere und Einzelnere der dogmati­schen Philosophien sowie der Naturreligionen verschwinden muß -, die höchste Totalität in ihrem ganzen Ernst und aus ihrem tiefsten Grunde, zugleich allumfassend, und in die· he.iterste Freiheit ihrer Gestalt auferstehen kann und muß" (Glauben und Wissen, aaO. 123 f.). Hege! meinte damit, daß der moderne Atheismus und Nihilismus, der alle dogmatischen Philosophien und alle Naturreligionen zum Verschwinden bringt, als. eine Universalisierung des geschichtlichen Karfreitags der Gottverlassenheit Jesu zu einem spekulativen Karfreitag der Verlassenheit alles Seienden verstanden werden könne. Erst dann kommt Auferstehung als Auferstehung der Totalität des Seins aus dem Nichts, erst dann kommt Geburt der Freiheit und der Heiterkeit aus dem unend­lichen Schmerz in eine allem Seienden notwendige Aussicht. Kommt so die moderne a-theistische Welt in den Schatten des Karfreitags zu stehen und wird der Karfreitag durch sie als Abgrund des Nichts, in dem alles Sein versinkt, begriffen, so ist auf der anderen Seite die Möglichkeit gegeben, diese versinkende Welt als Prozeßmoment der weltgeschichtlich und universal werdenden Offenbarung Gottes im Kreuz und in der Auferstehung der Wirklichkeit theologisch zu begreifen. Ihre Verderblichkeit liegt dann noch nicht in der Härte ihrer Gottlosigkeit, sondern ihr Verderben stellt sich erst ein, WO·

sie das Prozeßmoment der Entäußerung und des Todes Gottes aus dem dialektischen Prozeß Gottes abstrahiert und sich darauf fixiert. Der romantische Nihilismus vom "Tode Gottes" ist ebenso wie der wissenschaftlich-methodische Atheismus (etsi Deus non daretur) ein aus der Dialektik herausgebrochenes und darum in seiner prozessualen Bewegung nicht mehr begriffenes Prozeßmoment. Theologisch wird an Hegel jedenfalls dieses unvergeßlich deutlich, daß Auferstehung und Zukunft Gottes sich nicht nur an der Gottverlassenheit des gekreuzigten Jesus, sondern auch an der Gottverlassenheit der Welt zeigen müssen25• Diese spekulative Dialektik der Sache Gottes oder der höchsten Idee selbst wurde schon von Kierkegaard nicht mehr begriffen. Kierkegaard kehrte zum Dualismus Kants zurück und radikalisierte diesen. Das Zeitalter der unendlichen Re­flexion läßt keine objektive Gewißheit bezüglich des Seins oder der Selbstbewegung des. Gegenstandes mehr zu. Zweifel und Kritik lösen alle Vermittlung des Absoluten im Gegenständlichen auf. So bleibt als unversöhnbare Dialektik die paradoxe Gegensätz­lichkeit von theoretischem Atheismus und existentieller Innerlichkeit, von objektiver Gottlosigkeit und subjektiver Gläubigkeit übrig. Zur Innerlichkeit der unmittelbaren. und unvermittelbaren Beziehung von Existenz und Transzendenz fügt sich die Verach­tung des Auswendigen als des Absurden, Sinnlosen und Gottlosen. Kierkegaards "Ein-25. Zur Auslegung vgl. G. Rohrmoser, Subjektivität und Verdinglichung, 1961, 83 ff.; K. Löwith, Hegels Aufhebung der christlichen Religion, in: Einsichten. Festschr. für G. Krüger, 1962, 156 ff.

154 Auferstehung und Zukunft fesu Christi

zelner" fällt aus der Dialektik der Vermittlung und Versöhnung heraus und zurück auf die pure Unmittelbarkeit. Seine "Innerlichkeit" ist bis in wörtliche Parallelen hinein das aus der Dialektik herausgebrochene und aus ihrer Bewegung abstrahierte "unglück­liche Bewußtsein" aus Hegels Phänomenologie des Geistes. Indem das unglückliche Be­wußtsein der "schönen Seele" sich auf sich selbst fixiert und alle Herrlichkeit zusammen mit der Transzendenz in ihrer inneren Unmittelbarkeit sucht, fixiert es zugleich die Objektwelt auf deren starre Unveränderlichkeit und sanktioniert deren unmenschlichen und gottlosen Verhältnisse. Da keine Versöhnung von Innen und Außen erhoffbar ist, ist auch die Entäußerung an den Schmerz des Negativen, die Übernahme des Kreuzes der Wirklichkeit sinnlos. Die Gottverlassenheit und Absurdität der zur berechenbaren und technisierbaren Warenwelt gewordenen Welt kann nur noch zum negativen Anstoß für den Gewinn reiner Innerlichkeit dienen. Diese zum ewigen Paradox erstarrte Dialek­tik ist das Zeichen der Romantik und aller romantischen Theologie.

In einer anderen Auslegung taucht der Satz: Gott ist tot, bei Nietzsche und Feuerbach auf. "Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! ... Ist nicht die Größe die­ser Tat zu groß für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine größere Tat - und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!" (Fr. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Nr. 125). Hier wird der Tod Gottes dem ihn tötenden Menschen zugeschrieben, nicht der Entäußerung Gottes selbst. Gottes Tod ist die Erhebung des Menschen über sich hinaus. Die Geschichte, die der Mensch selbst in die Hand nimmt, erhebt sich auf dem Leichnam Gottes. Das Kreuz wird zum Symbol des Sieges des Menschen über Gott und sich selbst. "Tot sind alle Götter: nun wollen wir, daß der Übermensch lebe." Diese Begründung des Gefühls der Neuzeit: Gott ist tot, durch den Satz: wir haben ihn getötet, kommt der Feuerbachsehen Aufhebung Gottes, durch die der Mensch zu sich selbst komme, sehr nahe. Nur ist bei Nietzsche ein Ge­schehen und ein neues Seinsgeschick gemeint und nicht nur eine Resubjektivierung religiöser Objektivationen. Nicht das Zusiehselbstkommen des Menschen in seiner sinn­lichen Vorhandenheit und Unmittelbarkeit, sondern die Selbsttranszendenz und das übersichhinauskommen des Menschen ist die Konsequenz. Doch wird auch hier bei Nietz­sche der Ort, der metaphysisch gedacht, Gott eignete, als Ort der verursachenden Be­wirkung, nun nicht mehr in der Passivität, sondern in der Aktivität des menschlichen Subjektes erfahren (M. Heidegger, Holzwege, 1957, 236 ff.). Die" Welt" wird zum Ent­wurf und Gegenstand der Subjektivität. Sie wird infolgedessen "entzaubert" zum Stoff möglicher Veränderungen. Sie vermag die Subjektivität nicht mehr mit sich selbst zu vermitteln. Das allgewaltige Selbst wird zur abstrakten Identität. Diese neue Selbst­transzendenz in der Erfahrung der Beherrschbarkeit der Welt ist zwar das Ende jeder kosmologischen Metaphysik und Theologie, keineswegs aber das Ende der Metaphysik überhaupt, denn sie enthält eine Metaphysik der Subjektivität. Ihr "Atheismus" ist ein nur theoretischer Atheismus in Bezug auf die Objektwelt. Das Subjekt, das in der Tätig­keit des Menschen seiner selbst gewisse fundamenturn inconcussum, zieht hingegen alle herkömmlichen metaphysisch-theologischen Gottesprädikate auf sich (causa sui - bei Feuerbach und Marx, Transzendenz -bei Nietzsche). Wird der christliche Glaube theo­logisch in dieser Subjektivität angesiedelt, so muß er notwendig zur creatrix divinitatis werden, zur gottschaffenden und gottwagenden Kraft. Diese Mystik des Glaubens wird zum notwendigen Komplement der Mathematik, mit der der Mensch der Welt ihre Gesetze vorschreibt. Damit aber kehrt auch diese Auslegung des Satzes: Gott ist tot, zu den Gegensätzen des neuzeitlichen Bewußtseins zurück, deren Versöhnung Hegels Dialektik galt. Hege! hatte sowohl die mathematische Entgötterung der Welt wie den ihr ent­sprechenden Aufstand des Menschen in die unmittelbare Subjektivität als Prozeßmomente der Selbstbewegung des absoluten Geistes zu verstehen und aufzunehmen sich bemüht. Die folgenden Sätze, durch die Feuerbach die Hegeische Lösung charakterisiert und ad absurdum zu führen versucht, sind theologisch ungemein nachdenkenswert: "Die Hege!-

Der "Tod Gottes" und die Auferstehung Christi 155

sehe Philosophie ist der letzte großartige Versuch, das verlorene, untergegangene Chri­stentum durch Philosophie wiederherzustellen, und zwar dadurch, daß, wie überhaupt in der neueren Zeit, die Negation des Christentums mit dem Christentum selbst identi­fiziert wird . .. Nur dadurch wird dieser Widerspruch bei Hegel den Augen entrückt, verdunkelt, daß die Negation Gottes, der Atheismus zu einer objektiven Bestimmung Gottes gemacht wird - Gott als ein Prozeß und als ein Moment dieses Prozesses der Atheismus bestimmt wird. Aber so wenig der aus dem Unglauben wieder hergestellte Glaube ein wahrer, weil stets mit seinem Gegensatz behafteter Glaube ist, so wenig ist der aus seiner Negation sich wieder herstellende Gott ein wahrer, vielmehr ein sich selbst widersprechender, ein atheistischer Gott" (Grundsätze der Philosophie der Zukunft, 1843, § 21).

Hier zeigt sich, daß Feuerbach nur den Gott der dogmatischen Philosophie und der Naturreligion kennt, denn nur dieser ist in seiner abstrakten Identität auf den Menschen reduzierbar. Christlicher Glaube aber erhebt sich ständig auf dem Boden des überwun­denen Unglaubens und hat diesen als Anfechtung stets bei sich. Der auferstandene Christus ist und bleibt der gekreuzigte Christus. Der Gott, der sich in dem Geschehen von Kreuz und Auferstehung als "derselbe" offenbart, ist der sich im Widerspruch seiner selbst offenbarende Gott. Aus der Nacht des "Todes Gottes" am Kreuz, aus dem Schmerz der Negation seiner selbst, wird er in der Auferstehung des Gekreuzigten, in der Nega­tion der Negation als der Gott der Verheißung, als der kommende Gott erfahren. Wenn "Atheismus" in der Erkenntnis der universalen Bedeutung des Karfreitags seine Radi­kalität hat, so ist der Gott der Auferstehung in der Tat so etwas, wie ein "a-theistischer" Gott. Dieses meint wohl auch D. Bonhoeffer im Sinne Hegels - und nicht im Sinne Feuerbachs - wenn er schreibt: "Und wir können nicht redlich sein, ohne zu erkennen, daß wir in der Welt leben müssen- etsi deusnon daretur. Und eben dies erkennen wir­vor Gott! ... Gott gibt uns zu wissen, daß wir leben müssen als solche, die mit dem Leben ohne Gott fertig werden. Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott der uns ver­läßt ... Vor und mit Gott leben wir ohne Gott. Gott läßt sich aus der Welt heraus­drängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns." (Widerstand und Ergebung, 1951, 241 f.). Nur kann aus dem Kreuz der Gottverlassenheit nicht wie bei Hegel ein gottimmanentes Prozeß­moment gemacht werden. Eine Theologie der dialektischen Selbstbewegung des absoluten Geistes wäre dann nur eine Modifikation der dialektischen Epiphanie des Ewigen als Subjekt. Hegel versuchte, Glauben und Wissen zu versöhnen, doch um den Preis, daß er die Historizität des Offenbarungsgeschehens aufhob und es als ein ewiges Geschehen verstand. "Denn der Begriff tilgt die Zeit." Das Kreuz - die Verborgenheit Gottes und die Selbständigkeit des Menschen - wird aber nicht schon im Logos der Reflexion und des Bewußtseins "aufgehoben", sondern wird vorläufig aufgehoben in die Verheißung und in die Hoffnung auf ein noch ausstehendes, reales Eschaton, welches ein Stimulans für das Bewußtsein ist, aber nicht im Bewußtsein des Glaubens aufgeht. Das Kreuz be­zeichnet eine eschatologische Offenheit, die durch die Auferstehung Christi und den Geist der Gemeinde noch nicht geschlossen wird, sondern über beides hinaus offen bleibt auf die Zukunft Gottes und die Vernichtung des Todes. Wenn gerade bei Nietzsche der "tolle Mensch" unaufhörlich schreit: "Ich suche Gott", so weist das wohl in diese Rich­tung. Es ist etwas anderes, ob der "Tod Gottes" zur Inthronisation des vergotteten Men­schen führt, oder ob der "Tod Gottes" auf Grund des Vorscheins der Auferstehung in der Auferweckung Christi nach Auferstehung, Leben, Reich und Gerechtigkeit fragen, suchen und hoffen läßt und mit diesem Fragen, Suchen und Hoffen und deren Konse­quenzen in Kritik, Widerstand und Leiden die Welt, die sich auf dem Leichnam Gottes etabliert, in den geschichtlichen Prozeß der Zukunft der Wahrheit stellt. Die Welt ver­sinkt dann nicht im Abgrund des Nichts, sondern ihr Negatives wird ins Noch-nicht der Hoffnung aufgehoben. Die Welt wird nicht im ewigen Sein stabilisiert, sondern im Noch­nicht-Sein einer zukunftsoffenen Geschichte "gehalten".

§6

Die historische Frage nach der Auferstehung Christi

und die Fraglichkeit des historischen Umgangs mit der Geschichte

Die erste Frage nach der Wirklichkeit der Auferstehung Christi wird sich immer auf die Sache richten, die von den Osterzeugen berichtet und verkündigt wird. Da diese Sache als ein Geschehen, nämlich als die "Auf­erweckung Jesu von den Toten durch Gott" berichtet wird, wird die Frage nach der Wirklichkeit dieses Geschehens zunächst die Gestalt der historischen Frage annehmen. Auch wenn die Zeugen nicht nach der Art alter Chronisten oder moderner Historiker nur zu berichten suchten, was passiert war, so haben sie doch von einer Sache und einem Geschehen gesprochen, deren Wirklichkeit für sie außerhalb ihres eigenen Bewußt­seins und ihres eigenen Glaubens lag, an dessen Wirklichkeit sich ihr Bewußtsein in Erinnerung und Hoffnung allererst entzündete. Sie haben nicht nur ihr eigenes neues Selbstverständnis im Osterglauben bekunden wollen, sondern in und aus diesem heraus auch etwas von dem Weg Jesu und dem Auferweckungsgeschehen an Jesus berichtet. Ihre Aussagen ent­halten nicht nur Existenzgewißheit im modusder Rede: "Mir ist gewiß", sondern darin und damit auch Sachgewißheit im modusder Rede: "Es ist gewiß". Sie haben nicht nur verkündet, daß sie und was sie glauben, sondern damit und darin auch, was sie erkannt haben. Es sind gleichsam "selbstlose Zeugen"26• Darum ist es keineswegs selbstverständlich, daß der Sinn ihrer Aussagen das neue Selbstverständnis des Glaubens sei27 •

Die Osterberichte nötigen vielmehr selbst zu der Frage nach der Wirk­lichkeit des Geschehens, von dem sie künden. Nicht ihr eigener Glaube und auch nicht die Glaubensforderung oder das Glaubensangebot, das sie mit ihrer Verkündigung verbinden, gibt die Wirklichkeitsdeckung ihrer Aussagen her, sondern allein die Wirklichkeit des von ihnen Ausgesagten und V er kündigten muß ihre Aussage und ihre Verkündigung decken. Man würde die Ostertexte ihrer eigenen Intention entfremden, wenn man den "Sinn" dieser Aussagen allein in der Geburt des Glaubens

26. Vgl. zu diesem Ausdruck H. G. Gadamer, Zur Problematik des Selbstverständnisses, in: Einsichten, aaO. 84. 27. Vgl. dazu R. Bultmann, Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft zum historischen Jesus, SBA Heidelberg 1960, 27; H. Conzelmann, Jesus von Nazareth und der Glaube an den Auferstandenen, in: Der historische Jesus und der kerygmatische Christus, 1961, 191: "Man versteht die Erscheinungen des Auferstandenen selbstver­ständlich als in Raum und Zeit, also in der Welt spielend. Die Frage aber ist, was den Sinn der Erscheinungen und damit des Weitersagens derselben ausmacht ... Der Sinn der Aussage ist aber einfach, das Heil Gottes als das Ende des Welt-Seins festzustellen.•

Die historische Frage nach der Auferstehung 157

suchen würde. Es kann darum kein V erbot geben, hinter ihr Kerygma zurückzufragen, um nach der Wirklichkeit zu suchen, die seine Aussagen deckt und sie zuverlässig und glaubwürdig macht28 •

Nun haben diese Rückfragen der Vergewisserung jener Wirklichkeit, die die Auferstehungsverkündigung deckt, legitimiert und glaubwürdig macht, seit dem Tage, da die orthodoxe Wahrheitsbehauptung zerbrach, alle die Gestalt der historischen Rückfrage. Das entspricht den Texten, sofern sie selber von einem datierbaren Geschehen sprechen. Das ver­fremdet aber die Texte, wenn und soweit die historische Gestalt dieser Rückfrage ein bestimmtes Vorverständnis des Historisch-Möglichen im­pliziert, das sich seit der Geburt der Neuzeit nicht mit dem Verständnis des Historisch-Möglichen als des Gott-Möglichen deckt, das diese Texte selber haben. Der Begriff des Historischen, des Historisch-Möglichen und Historisch-Wahrscheinlichen ist in der Neuzeit an anderen Erfahrungen der Geschichte entwickelt worden als an der Erfahrung der Auf­erweckung Jesu von den Toten, nämlich seit der Aufklärung an der Erfahrung der Berechenbarkeit und Machbarkeit der Geschichte durch den Menschen. Der Streit zwischen den Jüngern und den Juden ging um die Frage: hat Gott ihn laut seinen Verheißungen von den Toten auf­erweckt, oder kann Gott ihn laut seinen Verheißungen nicht auferweckt haben? Der moderne Streit um die Auferstehung aber geht um die Frage, ob Auferstehung historisch möglich ist. Wenn, wie vielfach herausgestellt worden ist29, die Geschichtserfahrungen, aus denen heraus die Begrilfe des Historischen gebildet wurden, in der Neuzeit einen anthropozen­trischen Charakter tragen, "Geschichte" hier Geschichte des Menschen und das eigentliche Subjekt der Geschichte im Sinne des metaphysischen hypokeimenon der Mensch ist, so leuchtet es ein, daß unter dieser Vor­aussetzung die Aussage der Auferweckung Jesu durch Gott eine "histo­risch" unmögliche und darum "historisch" sinnlose Behauptung ist. Den­noch ist es auch unter dieser Voraussetzung ein sinnvolles Verfahren zu fragen, "wieweit und mit welchem Grade von Wahrscheinlichkeit die tatsächlichen Geschehnisse und ihr Ablauf noch zu ermitteln sind"30,

auch wenn man dabei an jene, mit dem vorausgesetzten Verständnis von geschichtlicher Tatsächlichkeit überhaupt mitgesetzten Grenzen des Hi­storischen stößt. Die Ergebnisse der Rückfragen im Erhellungshorizont

28. Das ist mit Recht von v. Campenhausen, Graß, Pannenberg, Wilckens u. a. betont worden. 29. K. Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, 1953. 30. Hans Frh. von Campenhausen, Der Ablauf der Osterereignisse und das leere Grab, 1952,7.

158 Auferstehung und Zukunft fesu Christi

des Neuzeitlich-Historischen führen weder zur grundsätzlichen Beweis­barkeit der Auferstehung noch zu einer grundsätzlichen historischen Skepsis. Sie hindern aber die Theologie daran, aus dogmatischen Grün­den "historische" Sachverhalte zu postulieren, und sie hindern die Theo­logie daran, verzweifelt den Boden der Geschichte überhaupt zu ver­lassen. Weder für den Historiker noch für den Theologen sind Methoden nach dem Satz zulässig: es kann nicht sein, was nicht sein darf. Nun wird aber die historische Frage nach der Wirklichkeit der Aufer­stehung Jesu durch die biblischen Texte nicht nur mit geschichtlichen Realien konfrontiert, sondern auch mit einem anderen Erfahrungs- und Bedeutungshorizont von Geschichte, in welchem die berichteten Ereig­nisse in ein anderes Licht rücken. Der Erfahrung der Geschichte, die sich in den historischen Fragehinsichten ausdrückt, begegnen nicht nur mehr oder weniger gut bezeugte, mehr oder weniger phantasievoll ausgemalte Ereignisse, sondern es begegnet dieser Erfahrung der Geschichte auch eine andere Erfahrung der Geschichte. Darum wendet sich die historische Frage nach der Wirklichkeit der Auferstehung Jesu auch zurück auf den historisch Fragenden und stellt seine Grunderfahrung der Geschichte, aus der heraus er historisch fragt, in Frage. Die historische Frage nach der Historizität der Auferstehung Christi wird dadurch um die Fraglichkeit des historischen Umgangs mit Geschichte überhaupt erweitert. Denn in der historischen Frage nach der Auferstehung wird zusammen mit dieser Frage immer auch ein historisches Weltverständnis an die Texte, die von der Auferstehung J esu reden, herangetragen. Dieses muß im Vorgang des Verstehens ebenso aufs Spiel gesetzt werden, wie die verkündete Auferstehung Jesu historisch aufs Spiel gesetzt wird. Wenden wir uns also nun der Rückkehr der historischen Frage nach der Auferstehung J esu auf den Fragenden zu. Es ist allgemein anerkannt, daß historisches Verstehen in der Neuzeit immer ein analogisches V erstehen ist und darum im Bereich des analo­gisch Verständlichen bleiben muß. E. Troeltsch hatte diese Methode der Analogie im historischen Verstehen ontologisch in der "zwischen allen historischen Vorgängen stattfindenden Korrelation" begründet. "Denn das Mittel, wodurch Kritik überhaupt möglich wird, ist die Anwendung der Analogie. Die Analogie des vor unseren Augen Geschehenden ... ist der Schlüssel zur Kritik. Täuschungen, ... Mythenbildungen, Betrug, Parteisucht, die wir vor unseren Augen sehen, sind die Mittel, derartiges auch an dem überlieferten zu erkennen. Die Übereinstimmung mit normalen, gewöhnlichen oder doch mehrfach bezeugten Vorgangsweisen, ... wie wir sie kennen, ist das Kennzeichen der Wahrscheinlichkeit für

Die historische Frage nach der Auferstehung 159

Vorgänge, die die Kritik als wirklich geschehen anerkennen oder übrig lassen kann. Die Beobachtung von Analogien zwischen gleichartigen Vor­gängen der Vergangenheit gibt die Möglichkeit, ihnen Wahrscheinlichkeit zuzuschreiben und das Unbekannte des einen aus dem Bekannten des anderen zu deuten. Diese Allmacht der Analogie schließt aber die prinzipielle Gleichartigkeit alles historischen Geschehens ein, die frei­lich keine Gleichheit ist, . . . aber jedesmal einen Kern gemeinsamer Gleichartigkeit voraussetzt, von dem aus die Unterschiede begriffen und nachgefühlt werden können. "31 Hängen historisches Verstehen und historische Kritik damit an dem Postulat und der Voraussetzung einer allem zugrundeliegenden, prinzipiellen Gleichartigkeit des Geschehens, so hängen ersichtlich historisches Verstehen und historische Kritik an einem bestimmten W eltverständnis. In diesem Weltverständnis wird ähnlich wie in der griechischen Kosmologie vorausgesetzt, daß allem geschichtlichen Wechsel und Wandel ein "Kern gemeinsamer Gleich­artigkeit" zugrundeliege und "alles ewig im Ionern verwandt" sei. Auf dem Boden dieser kernhaften Gleichartigkeit aber wird das Ge­schichtliche das nur noch Akzidentielle. Geschichtliche Ereignisse wer­den verständlich, wenn sie als "Erscheinungen" jenes Kernes gemein­samer Gleichartigkeit begriffen werden. Damit aber wird ihr Ereignis­charakter aufgehoben und die Geschichtlichkeit der Geschichte wird zugunsten einer Substanzmetaphysik des historischen Universums ver­nichtet. Bei L. von Ranke und der großen romantisc..hen Geschichts­schreibung wurde dieser Kern pantheistisch geahnt: alle Zeiten und Er­eignisse folgen darum sinnvoll aufeinander, "damit in allen geschehe, was in keiner einzelnen möglich ist, damit die ganze Fülle des dem menschlichen Geschlechte von der Gottheit eingehauchten geistigen Lebens in der Reihe der Jahrhunderte zutage komme" 32• Für H. von Sybel gewann die Gleichartigkeit ein mechanistisches Aussehen: "Vor­aussetzung, mit welcher die Sicherheit des Erkennens steht und fällt, ist die absolute Gesetzmäßigkeit in der Entwicklung, die gemeinsame Einheit in dem Bestande der irdischen Dinge. "33 Auch in der geisteswissenschafl:­lichen Hermeneutik der Geschichte der menschlichen Lebensäußerungen bei W. Dilthey beruht historisches Verstehen auf der vorausgesetzten Gleichartigkeit des zugrundeliegenden, unergründlichen Lebens. Zwar gibt es kein festes Wesen des Menschen, das als ein mit sich identisches

31. E. Troeltsch, Über historische und dogmatische Methode, 1898, Gesammelte Schrif­ten, Il, 729 ff. (bes. 731). 32. Zit. nach C. Hinrichs, Ranke und die Geschichtstheologie der Goethezeit, 1954, 168. 33. über die Gesetze historischen Wissens, 1864, 16.

160 Auferstehung und Zukunft fesu Christi

vor der Geschichte und unabhängig von ihr da wäre. "Der Typus Mensch zerschmilzt in dem Prozeß der Geschichte. "34 Daß aber menschliches Dasein an sich selbst hermeneutische Struktur hat, erweist sich als der bleibende und treibende Kern in der Geschichte menschlicher Lebens­äußerungen und Selbstauslegungen. Daß der Mensch sich aus seiner schöpferischen Unergründlichkeit heraus immer wieder selbst suchen und finden muß, immer wieder sich selbst formen und bestimmen muß, macht den Kern jener gemeinsamen Gleichartigkeit aus, die das historische Ver­stehen möglich und auch notwendig macht. Angesichts dieser Begründung historischen Verstehens aus einer meta­physischen Bestimmung des Kernes, der Substanz oder des Subjektes der Geschichte, gerät die christliche Theologie, die der Verkündigung der Auferstehung nachzudenken versucht, in große Schwierigkeiten. Ange­sichts der pantheistischen Bestimmung des Wesens der Geschichte, nach welcher es die ewige Idee nicht liebt, sich in einem Individuum ganz dar­zustellen, wird es ihr unmöglich, eine Person und ein Ereignis der Ge­schichte für absolut zu nehmen35• Angesichts der positivistischen und mechanistischen Bestimmung des Wesens der Geschichte als eines in sich geschlossenen Wirkungszusammenhanges von Kausalität und Konse­quenz erscheint die Behauptung einer Auferweckung Jesu durch Gott als ein Mythos von einem übernatürlichen Eingriff, dem alle Welterfahrung widerspricht. Angesichts endlich der lebensphilosophischen Bestimmung des schöpferischen, sich in Geschichte manifestierenden und objektivie­renden Lebensgrundes können die Ostertexte nur als Ausdruck von Lebensakten eines in sich unergründlichen Glaubens genommen werden. Eine Theologie der Auferstehung kann das dergestalt an sie herangetra­gene Problem der Geschichte auf mehrere Weisen zu lösen versuchen. Wenn, wie aus den wenigen Hinweisen ersichtlich, in unseren Begriff des Historischen der Auferstandene nicht hineinpaßt36, so kann sie die Rede von der Auferweckung Jesu durch Gott als "unhistorisch" gelten lassen und sich nach anderen Zugängen und Zueignungen der Wirklich­keit der Auferstehung für den modernen, historisch bestimmten Men­schen umsehen37• Doch überläßt sie eben damit das Feld des Erkennens und Umgehens mit Geschichte historischen Weltauslegungen. Ist die Wirklichkeit der Auferstehung mit historischen Mitteln der Neuzeit un-

34. Werke, VIII, 6, vgl. auch VII, 278 und dazu 0. Fr. Bollnow, Die Lebensphilosophie, 1958,41. 35. D. Fr. Strauß, Das Leben Jesu, II, 1835, 734. 36. Vgl. 0. Weber, Grundlagen der Dogmatik, II, 1962, 83. 37. Vgl. meinen Aufsatz: Exegese und Eschatologie der Geschichte, EvTh 22, 1962, 40 f.

Die historische Frage nach der Auferstehung 161

erfaßbar, so ist umgekehrt auch der moderne, erkennende Umgang mit Geschichte für den Glauben theologisch unerfaßbar. Die fides quaerens intelleeturn muß dann auf den intellectus fidei auf dem Felde der Ge­schichte verzichten. Das geschieht vornehmlich dadurch, daß man theo­logisch auf die historische Frage nach der Wirklichkeit der Auferstehung verzichtet und sich auf die zweite Frage konzentriert, die Frage nach dem Zeugnischarakter und dem Anspruchscharakter der Verkündigung des Osterglaubens. Man überläßt dann das Erkennen der Geschichte allen möglichen pantheistischen oder atheistischen Prinzipien und konzentriert sich auf die persönliche Begegnung, das nichtobjektivierbare Erleben oder die existentielle Entscheidung, in die das Osterkerygma führt. "So sind wir einfach gefragt, ob wir glauben, daß in solchen (visionären Oster­erlebnissen) Gott handelt, wie sie selbst es glauben, und wie die Ver­kündigung es behauptet. "38 In diesem "einfach" wird offenbar dann der Sprung aus dem vermittelnden, objektivierenden, historischen Er­kennen in die persönliche Entscheidung empfohlen. Auferstehung Christi ist dann weder mythisch noch historisch, sondern "nur in der Kategorie der Offenbarung" zu fassen39• Damit aber hängt die Auferstehungs­verkündigung in der Luft und die von ihr betroffene Existenz auch, ohne daß die Nötigung zur Verkündigung und die Notwendigkeit, sich angesichtsihrer überhaupt zu entscheiden, verständlich würden. Eine andere Möglichkeit liegt darin, die historische Methode und ihr Geschichtsverständnis nicht länger in ihrer substanzmetaphysischen oder positivistischen Gestalt für endgültig und unausweichlich zu nehmen, um sich dann von ihr in die subjektive Glaubensentscheidung abzustoßen, sondern nach neuen Wegen zu suchen, um die historischen Methoden selbst so weiterzuentwickeln, "daß sie das Ganze der Geschichte in ihrer Vielfalt zu erfassen vermögen" 40• Eine solche Erweiterung des histo­rischen Zugangs und der historischen Vermittlung der Geschichte kann sich auf die andere Seite des analogischen Verfahrens im historischen Verstehen richten. Die Erkenntniskraft des vergleichenden Verstehens muß ja nicht nur darin bestehen, im Ungleichartigen historischer Ereig­nisse und Lebensäußerungen nur das Gleichartige und Gemeinsame zu erkennen, sondern kann sich auch darauf richten, am Gleichartigen und Ahnlichen das Ungleichartige und Individuelle, das Zufällige und plötz­lich Neue wahrzunehmen41 • Ein einseitiges Interesse am Gleichartigen,

38. R. Bultmann, ThLZ 65, 1940, Sp. 246. 39. K. Barth, Die Auferstehung der Toten, 1924, 79 f. 40. R. Rendtorff, Geschichte und Überlieferung, in: Studien zur Theol. d. alttest. Ober­lieferungen, aaO. 94 Anm. 39. 41. W. Pannenberg, Heilsgeschehen und Geschichte, aaO. 266.

162 Auferstehung und Zukunft ]esu Christi

Immer-wieder-kehrenden, Typischen und Gesetzmäßigen würde das eigentlich Geschichtliche, das in dem Kontingenten und Neuen liegt, ein­ebnen und damit den Sinn für Geschichte am Ende ganz verlieren. Die vergleichende Methode des V erstehens kann also dahin erweitert werden, das Unvergleichliche, nie Dagewesene und Neue sichtbar zu machen. Zwar wird es nur im Vergleich sichtbar. Um es aber darin zu Gesicht zu bekommen, muß man sich aller vorausgesetzten Fixierungen des Kernes oder der Substanz der Geschichte entschlagen, diese Unterstellun­gen selber als vorläufig und wandelbar ansehen. Würde sich aber die christliche Theologie gegenüber den am Gesetzmäßigen und Gleicharti­gen interessierten historischen Methoden lediglich ergänzend am Indi­viduellen, Kontingenten und Neuen interessiert zeigen, so wäre das nur eine interessante Variante im historischen Bilde vom geschichtlichen Uni­versum, die immerhin auch ohne eine Theologie der Auferstehung mög­lich und denkbar wäre. Mit der Wiederentdeckung der Kategorie des Kontingenten ist noch nicht notwendig die Entdeckung einer theologi­schen Kategorie verbunden42• Denn mit der Auferweckung Christi ist nicht die Kategorie des Zufällig-Neuen verbunden, sondern die Erwar­tungskategorie des Eschatologisch-Neuen. Das Eschatologisch-Neue der Auferstehung Christi aber erweist sich als ein novum ultimum sowohl am Gleichartigen der immer-wieder-kehrenden Wirklichkeit wie am ver­gleichsweise Ungleichartigen neu aufbrechender geschichtlicher Möglich­keiten. Durch eine Erweiterung der historischen Betrachtungsweise um die Beachtung der Kontingenz kommt die Wirklichkeit der Auferstehung selber noch nicht in Sicht. Durch eine durchaus mögliche Überwindung der anthropozentrischen Gestalt der historischen Analogie gewinnt diese nicht unbedingt einen theologischen Charakter. Nur wenn das gesamte historische Universum mit Kontingenz und Kontinuität als an sich selber nicht notwendig, sondernkontingenterwiesen werden könnte, käme das in den Blick, was als das eschatologisch Neue der Auferstehung Christi formuliert werden kann. Die Auferstehung Christi meint nicht eine Mög­lichkeit in der Welt und ihrer Geschichte, sondern eine neue Möglichkeit von Welt, Existenz und Geschichte überhaupt. Nur wenn die Welt als kontingente Schöpfung aus der Freiheit Gottes und ex nihilo verstanden werden kann (contingentia mundi), wird Auferweckung Christi als nova creatio verständlich. Angesichts dessen, was mit der Rede von der Auf­erweckung Christi gesagt und verheißen wird, muß darum die tiefe Ir­rationalität des rationalen Kosmos der neuzeitlichen, wissenschaftlich­technischen Welt aufgedeckt werden. Mit der Auferweckung Christi ist

42. Ebd. 277. Vgl. dazu die Kritik von H. G. Geyer, EvTh 22, 1962, 97.

Die historische Frage nach der Auferstehung 163

nicht ein möglicher Prozeß in der Weltgeschichte gemeint, sondern der eschatologische Prozeß mit der Weltgeschichte. Endlich gibt es für die Theologie die Möglichkeit, von der theologisch und eschatologisch verstandenen Wirklichkeit der Auferstehung her einen eigenen Begriff von Geschichte und ein eigenes Verständnis der Historie von Geschichte zu gewinnen43 • Damit würde die Theologie der Aufer­stehung nicht länger einem vorhandenen Geschichtsbegriff eingepaßt_, sondern es müßte der Versuch unternommen werden, in Vergleich und Auseinandersetzung mit den vorhandenen Geschichtsverständnissen ein neues Verständnis für Geschichte in ihren letzten Möglichkeiten und Hoffnungen unter der Voraussetzung der Auferweckung Christi von den Toten zu gewinnen. Im Konflikt mit anderen Geschichtsbegriffen muß dann ein intellectus fidei resurrectionis entfaltet werden, der dazu be­fähigt, über Gott, Geschichte und Natur "christlich" zu sprechen. Die Auferstehung Christi ist ohne Parallele in der uns bekannten Geschichte. Sie kann aber gerade darum als ein "geschichte-stiftendes Ereignis" an­gesehen werden, von dem her alle übrige Geschichte erhellt, in Frage gestellt und verändert wird44• Die Weise der Verkündigung und der hoffenden Erinnerung dieses Geschehens muß dann als eine von diesem Geschehen her inhaltlich und prozessual ganz beherrschte Weise der histori­schen Erinnerung vorgestellt werden. Aus der hoffenden Erinnerung dieses Geschehens werden dann nicht allgemeine Gesetze des W eltge­schehens abgeleitet, sondern es wird mit der Erinnerung dieses einen und einmaligen Geschehens die Hoffnung auf die Zukunft des ganzen Welt­geschehens erinnert. Dann bietet sich die Auferstehung Christi nicht als Analogie zu dem, was immer und auch sonst erfahrbar ist, an, sondern als Analogie zu dem, was zu allem kommen soll. Die Erwartung dessen, was auf Grund der Auferstehung Christi kommen soll, muß dann alle erfahrbare Wirklichkeit und alle wirkliche Erfahrung zu einer vorläu­figen Erfahrung und einer Wirklichkeit werden lassen, die das noch nicht in sich enthält, was ihr in Aussicht gestellt ist. Sie muß darum allen sub­stanzmetaphysischen Fixierungen des Kernes gemeinsamer Gleichartig­keit im Weltgeschehen widersprechen und darum auch dem auf diesen gegründeten historischen Verstehen am Leitfaden der Analogie. Sie muß ein historisches Verstehen entwerfen, das am Leitfaden eschatologischer Analogie als Vorschein und Antizipation des Zukünftigen sich entfaltet. Die Auferweckung Christi ist dann nicht darum "geschichtlich" zu nen-

43. R. R. Niebuhr, Auferstehung und geschichtliches Denken, 1960. Vgl. dazu L. Land­grebe, Philosophie und Theologie NZSTh 23, 1963, 3 ff. 44. L. Landgrebe, aaO. 10 f.

164 Auferstehung und Zukunft ]esu Christi

nen, weil sie in der Geschichte, die von welchen anderen Kategorien auch immer erschlossen wird, geschehen ist, sondern sie ist darum geschichtlich zu nennen, weil sie Gesdüchte stiftet, in der man leben kann und muß, sofern sie künftigem Geschehen die Bahn weist. Sie ist geschichtlich, weil sie eschatologische Zukunft erschließt. Diese Behauptung muß sich dann bewähren im Konflikt mit anderen Geschichtsbegriffen, in deren Hinter­grund allemal andere "geschichtestiftende" Ereignisse, Schrecken oder Re­volutionen der Geschichte begründend stehen. Natürlich stellt sich hier als Einwand die Frage nach der allgemeinen Verbindlichkeit solcher theologischen Aussagen ein. Nimmt man den neuzeitlichen, historischen Zugang zur Geschichte als den heute einzig möglichen, redlichen und verbindlichen an, so ist man genötigt, das darin vorausgesetzte Verständnis der Wirklichkeit und der Geschichte als Ge­schick auch für das theologische Denken zu akzeptieren. Dieses Wirklich­keitsverständnis ist dann "uns vielmehr mit unserem geschichtlichen Stand­ort auferlegt" 45• Es ist das dieser Gesellschaft, in der Christen und Nicht­christen zusammen leben, Selbstverständliche, in dessen Rahmen man allein "verstehen" kann und will. Wenn in diesem heute allgemeinver­bindlichen und die Allgemeinheit verbindenden Wirklichkeitsverständnis die Götter naturwissenschaftlich und historisch schweigen, bzw. das Hören auf sie beliebig wird und dem einzelnen freigestellt ist, so kann sich dann eine Theologie der Auferstehung nur noch an der Stelle explizieren, die von diesem Wirklichkeitsverständnis unbetroffen und der Subjekti­vität des einzelnen anheimgestellt ist, d. h. aber nur an jener Subjekti­vität und Innerlichkeit des Menschen, die durch die Rationalisierung der Welt und die Historisierung der Geschichte freigesetzt ist. Theologie der Auferstehung kann dann nicht mehr im Rahmen einer Metaphysik der Geschichte von Auferstehungstatsachen reden, wohl aber kann sie noch im Rahmen einer Metaphysik der Subjektivität von einem Osterglauben reden, für den "Auferstehung Jesu" nur ein geschichtlich überholbarer Ausdruck von Glauben ist. In dieser Gestalt paßt dann der Auferste­hungsglaube ohne Auferstehungsbehauptungen exakt in das Wirklich­keitsverständnis der modernen Welt hinein und ist so etwas wie die letzte Religion dieser Gesellschaft. Bemüht sich die Theologie umgekehrt um ein theologisches Verständnis von Geschichte und um eine Revolution der historischen Denkungsart, so ist der Einwand berechtigt, daß die Theologie damit in das Ghetto einer innerkirchlichen Ideologie getrieben werde und sich mit niemandem mehr verständigen könne46 •

45. D~ ist der Einwand von Fr. Mildenberger, EvTh 23, 1963, 5, 274. 46. Ebd. 275.

Die historische Frage nach der Auferstehung 165

Nun ist aber die Kirche und mit ihr die Theologie weder die Religion dieser oder jener Gesellschaft noch eine Sekte. Weder kann man von ihr verlangen, daß sie sich dem jeweiligen, allgemeinverbindlichen Wirklich­keitsverständnis der Gesellschaft anpaßt, noch darf man erwarten, daß sie sich als willkürliche Sprache eines exklusiven Konventikels darstellt und nur für Glaubende da ist. So wie die Gemeinde mit der Gesellschaft, in der sie lebt, in einem Prozeß um die Wahrheit steht, so hat auch die Theologie an der Sendung der Gemeinde teil. Sie muß mit Geschichtsauf­fassungen und historischen Weltanschauungen in einem Prozeß um die Zukunft der Wahrheit liegen und darum auch im Streit um die Wirklich­keit der Auferstehung Jesu. Indem in der Auseinandersetzung mit und in der Zersetzung der neuzeitlichen historischen Wirklichkeitsbegriffe um die rätselhafte Wirklichkeit der Auferstehung Jesu gerungen wird, wird keineswegs nur um ein Detail ferner Vergangenheit gestritten, son­dern an dieser Wirklichkeit werden auch die historischen Mittel der Ver­gewisserung der Geschichte in Frage gestellt. Es wird um die Zukunft der Geschichte und um die Weise des Erkennens, des Hoffens und der Arbeit an dieser Zukunft gerungen. Es wird um die Erkenntnis der Sen­dung der Gegenwart und um die Bestimmung und die Aufgabe des Menschseins in ihr gestritten. Der Sinn der historischen Auseinandersetzung um die Auferstehung Christi ist niemals ein nur historischer gewesen. So weist die spezielle Frage nach der historischen Wirklichkeit der Auferstehung: was kann ich wissen? hinüber auf die ihr benachbarten Fragen: was soll ich tun? und: was darf ich hoffen? Welcher Zukunftshorizont von Möglichkeiten und Gefahren wird aus der vergangeneu Geschichte eröffnet? Eine ex­klusiv historisch gestellte Frage nach der Auferstehung verfremdet, wie gezeigt, die Texte der Osterberichte. Diese aber verfremden, wie gezeigt, dem Historiker seinen Kontext von Welterfahrung, in welchem er die Texte zu lesen sich bemüht. Alles wirkliche Verstehen beginnt mit solchen Verfremdungen.

§7

Die formgesdüdltlidle Frage nadl den Osterberidlten

und die Fraglichkeit ihrer existentialen Interpretation

Die seit der Aufklärung geläufige kritisdle Befragung der Auferstehungs­beridlte auf ihre historisme Ridltigkeit ist durdl die formgesdlidltlidle Befragung der Beridlte verändert und im Forschungsinteresse zu einem großen Teil audl abgelöst worden47 • Unter formgesdlidltlidlen Gesidlts­punkten wird nimt mehr nadl den historisdl zugänglichen Ereignissen gefragt, von denen die Beridlte reden und die möglidlerweise zum Be­ridlten genötigt haben, sondern nadl den kerygmatischen Motiven, die diese Beridlte geformt haben und nadl ihrem Sitz im Leben und in den Verhaltensweisen bestimmter Gemeinsdlafl:en. Es wird von den Formen auf das Gemeinschaftsleben und vom Gemeinsdlafl:sleben auf die Formen gesmlossen. Das eigentlidle Subjekt der Beridlte ist dann nidlt die zu be­ridltende Sadle, sondern das Gemeinsdlafl:sleben, das in ihnen seinen Ausdruck findet. Die formgesdlidltlidle Methode ist ursprünglidl eine soziologisdle Methode. Unter diesen Gesidltspunkten stellen sich die Ostertexte vornehmlim als Kerygma dar, als Verkündigungen der Ge­meinde aus Glauben zum Glauben. Man findet die Texte in einer spezi­fisdlen Verkündigungstradition vor, in der sie je nach Lage, Adressaten­und Gegnersdlaft in den versdliedenen Stadien der Überlieferung sehr frei variiert werden, theologisdl von den neuen Situationen bedingt an­gereidlert und verwandelt werden konnten. Die Erhebung soldler keryg­matisdler Wandlungen bestimmter Traditionsgüter und der Gesdlidlte der Formen ihrer Aussage in Gottesdienst, Katedlese, Paränese, Polemik usw. bradlte eine Fülle neuer Erkenntnisse zutage. Die Frage nach den zugrundeliegenden und begründenden Ereignissen war damit nidlt ab­getan, aber das Forschungsinteresse wurde dodl entsdleidend verlagert. Man fragte nidlt mehr im alten historisch-kritisdlen Sinne nadl der Hi­storizität des Ausgesagten, sondern fragte historisdl nadl den Motiven und Formen, nadl dem Motiv- und Formenwandel dieser Aussagen selbst. Die Erkenntnis aber, daß es sidl in diesen Texten nidlt um historische Beridlte, sondern um Glaubenszeugnisse der urdlristlidlen Gemeinden handelt, ist audl eine historische Erkenntnis. Die theologisdl erheblidle Frage stellt sidl erst dann, wenn die Ergebnisse der formgesdlidltlidlen Analysen der urdlristlidlen Verkündigung in einem anderen gesdlidltlidlen Boden als in der von ihnen ausgesagten

47. Vgl. E. Fascher, Die formgesdllchtliche Methode, 1924.

Die Osterberichte und die Fraglichkeit ihrer existentialen Interpretation 167

Wirklichkeit theologisch begründet werden, wenn man gar nicht mehr wissen will, wie es wirklich gewesen ist, sondern nur noch, wie die Gläu­bigen es gesehen und ihrem Glauben entsprechend dargestellt haben, wenn die Texte nicht mehr alsAussage über eine Wirklichkeit genommen, sondern nur noch als Ausdruck des Gemeindeglaubens verstanden wer­den. Gründen diese Zeugnisse und Verkündigungen in einem neuen Selbstverständnis der Existenz der Zeugen und Verkündiger? Ist der kerygmatische Charakter dieser Aussagen in einem historisch nicht mehr greifbaren Offenbarungsauftrag begründet? Aus der formgeschichtlichen Betrachtungsweise heraus bot sich offenbar die Möglichkeit an, an eine andere Begründung dieser Aussagen als in der Realität der zu verkün­digenden Ereignisse zu denken; sie nicht mehr als "Aussage über ... ", sondern als "Ausdruck von" persönlichem oder gemeinschaftlichem Glau­ben zu verstehen. DieserWechsel des Subjektes vollzog sich in der Allianz der formgeschichtlichen Forschung und der dialektischen Theologie, na­mentlich der existentialen Interpretation seit den zwanziger Jahren. Ist die Wirklichkeit der Auferstehung nicht als eine historisch zugängliche Wirklichkeit zu erfassen, so kann sie ja in einem anderen Sinne von "Wirklichkeit" für den Menschen wirklich werden. Sie kann für den Menschen Wirklichkeit sein in dem Sinne, wie er sich selber Wirk­lichkeit ist. Er wird seiner eigenen existentiellen Wirklichkeit auch nicht in historischer Distanz ansichtig, sondern nur in einer unmittelbaren Selbsterfahrung als einer stets neu zu vollziehenden Wirklichkeit. Ent­sprechend erscheint ihm dann die Auferstehung Christi nicht mehr im zweifelhaften Bilde historischer Überlieferung und historischer Rekon­struktionen, sondern die Auferstehung Christi wird ihm dann im Oster­glauben der Jünger und in der Verkündigung zu einer Wirklichkeit, die ihn in der Fraglichkeit seiner eigenen Existenz berührt und vor die Ent­sCheidung stellt. So zweifelhaft die Auferstehung in der historisch-ob­jektivierenden Betrachtung erscheint, so nahe und unmittelbar begegnet doch der Osterglaube der Jünger dem Menschen im Anspruch der V er­kündigung und in der Entscheidungsfrage des Glaubens. Der Osterglaube der Jünger stellt sich als eine Existenzmöglichkeit dar, die man in der Fraglichkeit des eigenen Existierens wiederholen und erwidern kann. Nur in dieser unmittelbaren Betroffenheit durch die heutige Predigt des Glaubens, im heutigen Anblick des Herrn, im heutigen Gehorsam gegen seinen absoluten Anspruch, in dem sich das heutige Heil erschließt, werden wir dann der Wirklichkeit der Auferstehung ansichtig48• Die

48. Vgl. H. Conzelmann, aaO. 196.

168 Auferstehung und Zukunft fesu Christi

"Wirklichkeit" der Auferstehung begegnet uns als Wort Gottes, als Ke­rygma, demgegenüber wir nicht mehr die historische Legitimationsfrage stellen können, sondern die uns fragt, ob wir glauben wollen oder nicht49 •

Die Verkündigung, die Jesus als den Auferstandenen verkündigt, muß "unser Herz und Gewissen" überführen. Sie muß so von seiner Aufer­stehung reden, daß diese nicht als historisches oder mythisches Ereignis erscheint, sondern als "eine Wirklichkeit, die unsere eigene Existenz trifft" 5°. Hier wird nach der "Wirklichkeit" der Auferstehung anders als histo­risch gefragt. Der Fragende ist nicht um ein historisch gesichertes Bild jenes Geschehens bemüht, sondern die Frage, die er an die Osterberichte stellt, ist die Fraglichkeit seines eigenen geschichtlichen Daseins. Er steht nicht außerhalb der Geschichte, um ihre Zusammenhänge zu überblicken, sondern er steht mit seiner Existenz und seinen Entscheidungen mitten in der Geschichte. Sein Interesse an der Geschichte ist darum identisch mit seinem Interesse an seiner eigenen geschichtlichen Existenz. Er wird darum in Begegnung mit den Ostertexten eine existentiale Exegese su­chen, in der sich Geschichtsauslegung und Selbstauslegung korrespon­dieren. Wenn aber die radikale Fraglichkeit seiner eigenen geschicht­lichen Existenz die Fragehinsicht an das Kerygma der Auferstehung abgibt, so richtet sich seine Frage nicht mehr auf das einstmalige Gesche­hensein der Auferstehung im Rahmen möglicher Analogien der Welt­geschichte, sondern auf das in diesen Berichten zum Ausdruck kommende Verständnis menschlicher Existenz51• An die Stelle jenes substanzmeta­physisch gedachten Kernes gemeinsamer Gleichartigkeit alles Geschehens, der analogisches Verstehen ermöglicht, tritt eine fundamentalontologisch gedachte Gleichartigkeit der Geschichtlichkeit menschlichen Existierens, die ein V erstehen von Existenz zu Existenz in Begegnung ermöglicht. Das Geschehensein der Auferstehung wird damit keinesfalls geleugnet, aber es liegt nicht im Blick des Interesses. Daß Gott außerhalb des Glau­bens nicht sichtbar sei, braucht keineswegs zu bedeuten, daß er außerhalb des Glaubens nicht ist, und auch nicht, daß "Gott" nur ein "Ausdruck" für gläubige Existenz sei, aber dieses extra nos Gottes und seines Han­deins liegt nicht im Blick des Interesses. Von existenzbetreffendem Inter­esse ist vielmehr der Osterglaube der Zeugen und das Existenzverständ­nis, das im Urchristentum als neue Möglichkeit menschlichen Existierens

49. R. Bultmann, KuM, I, 50. 50. R. Bultmann, ThLZ 65, 1940, Sp. 245. Vgl. dazu H. Graß, Ostergeschehen und Osterberichte, 2. Aufl. 1962, 268 ff. 51. V gl. dazu die hermeneutischen Grundsätze, die R. Bultmann, Glauben und Verstehen, II, 232, entwickelt hat.

Die Osterberichte und die Fraglichkeit ihrer existentialen Interpretation 169

zutage getreten ist. Dieses Verständnis von "Wirklichkeit" als eines Ge­schehens, das die Existenz triffl:, oder eines Geschehens "an Herz und Gewissen", kann dann auch zu einer neuen Weise des historischen V er­stehens führen. "Das Osterereignis als die Auferstehung Christi ist kein historisches Ereignis; als historisches Ereignis ist nur der Osterglaube der ersten jünger faßbar". Dieser historischen Feststellung entspricht durch­aus die theologische Feststellung, daß der Osterglaube an der historischen Frage nicht interessiert sei. "Für ihn bedeutet das historische Ereignis der Entstehung des Osterglaubens, wie für die ersten Jünger die Selbstbe­kundung des Auferstandenen, die Tat Gottes, in der sich das Heilsge­schehen des Kreuzes vollendet. "52 Damit aber verschiebt sich die "Wirk­lichkeit" der Auferstehung von einem Geschehen an dem gekreuzigten Jesus zu einem Geschehen an der Existenz der Jünger. Die Tat Gottes ist dann die Entstehung des Osterglaubens, sofern sich der Osterglaube als bewirkt durch die Selbstbekundung des Auferstandenen versteht. Die "Wirklichkeit" der Auferstehung ist dann nicht mehr eine Wirklichkeit an Jesus, sondern identisch mit der Wirklichkeit von Kerygma und Glau­be in einem historisch unausweisbaren, aber je und je gegenwärtigen "Heute" ohne Vergangenheit und Zukunfl:. Die unabweisbare Erkenntnis, daß die Osterberichte nicht "Berichte", sondern Verkündigung zum Glauben sein wollen, und daß zur Wirklich­keit der Auferstehung Jesu das Zeugnis universaler missionarischer Ver­kündigung unabtrennbar hinzugehört, kann auf dem geschilderten Wege dazu führen, nicht länger nach einer historischen Legitimation dieser Verkündigung zu fragen, sondern an deren Stelle eine existentielle Veri­fikation dieser Verkündigung an Herz und Gewissen oder an einem ge­schichtlichen Selbstverständnis im Rahmen einer allgemeinen geschicht­lichen Fraglichkeit menschlichen Existierens zu setzen. Der Obergang von der formgeschichtlichen Forschung zur existentialen Interpretation verläufl: ofl: in folgender Fragereihe: 1. An die Stelle der Frage: was sagen die Berichte sachlich aus? tritt die Frage: wer spricht in diesen Berichten? 2. Hat man festgestellt, daß die Gemeinde in diesen Berichten und dessen Formen ihren Bezug zu Jesus ausspricht, so fragt man weiter: wie ver­steht die Gemeinde ihren Bezug zu Jesus? 3. Hat man ihre christologischen Vorstellungen von Jesus festgestellt, so fragt man: wie versteht die Gemeinde sich selbst? Dann wird ihr Chri­stusverständnis in ihrem Glaubensverständnis und ihr Glaubensverständ-

52. R. Bultmann, KuM, I, 47.

170 Auferstehung und Zukunft fesu Christi

nis in ihrem Selbstverständnis begründet und als Ausdruck von Selbst­verständnis, nach welchem alle Menschen sich fragen, verstanden. Die Christologie ist dann das Variable, die Anthropologie die Konstante. So sehr die historische Frage mit ihrem vorausgesetzten historischen Fragehorizont die Auferstehungsverkündigung zum bloßen Bericht über die Ereignisse verfremdet, so sehr verfremdet die Frage nach dem in ihnen bekundeten und zum Ausdruck gebrachten Selbstverständnis mit ihrem vorausgesetzten Fragehorizont allgemeiner Fraglichkeit mensch­lichen Daseins diese Texte. Es bleibt in diesem Fragehorizont von "Wirk­lichkeit" als einer Wirklichkeit, die die Existenz trifft, unbeachtet, daß diese Texte von Gott und seiner Tat an Jesus reden und auch reden wol­len, daß sie von der Welt und der Zukunft reden und dieses keineswegs nur als "Ausdruck" eines neuen Selbstverständnisses meinen. Die existen­tiale Interpretation befragt die Texte auf den "Sinn" ihrer Aussagen und versteht unter diesem Sinn von vornherein Existenzwahrheit und nicht Sachwahrheit. Dieses ist zwar eine heute "sinnvolle" Weise der Aneig­nung damaliger Verkündigung, entspricht aber durchaus nicht deren eigener Intention. Auf der anderen Seite ist es durchaus nicht selbstver­ständlich, daß "V erstehen" heute nur im Kontext von "Selbstverständnis" der je eigenen Existenz bestehen muß. Das ist sowenig selbstverständlich wie die neuzeitliche Fixierung der Weltwirklichkeit zum "Weltbild" und die Rückprojektion der Zeit des Weltbildes in frühere Zeiten, die em durchaus anderes Verhältnis zur Welt hatten. Die neutestamentlichen Osterberichte verkündigen erzählend und er­zählen Geschichte verkündigend. Die moderne Alternative, ob sie als historische Quelle oder als kerygmatischer Entscheidungsruf zu lesen seien, ist ihnen selber fremd, ebenso wie ihnen die moderne Scheidung von Sachwahrheit und Existenzwahrheit fremd ist. Es wäre darum die Frage, ob die Erkenntnisse der formgeschichtlichen Forschung, daß, kurz gesagt, nicht Archivare, sondern Missionare diese Überlieferung gestaltet haben, nicht auf eine neue Weise wieder mit der Intention der histori­schen Frage zu verbinden seien, die nach den Ereignissen fragt, die diese Verkündigung zur Sprache bringt. Wenn die Wirklichkeit der Aufer­stehung Jesu uns nur auf die Weise missionarischer Verkündigung über­liefert und vermittelt ist und diese Weise der Überlieferung und Vermitt­lung offenbar zur Wirklichkeit der Auferstehung selber hinzu gehört, so muß gefragt werden, ob die innere Nötigung zu dieser Art der Aussage und der Mitteilung nicht in der Eigenart des Geschehens selber begründet ist. Denn als Zusatz oder Zufall ist sie eigentlich nicht erklärlich. Die Wirklichkeit, die hinter den verkündigenden Berichten steht, muß offen-

Die Osterberichte und die Fraglichkeit ihrer existentialen Interpretation 171

bar eine solche sein, die zur Verkündigung an alle Völker und zu immer neuen christologischen Konzeptionen nötigte. Der Auftrag und die Auto­risierung zu dieser universalen Sendung muß dann ein Bestandteil des Geschehens selber sein, von dem diese Sendung kündet. Wenn nicht mehr nur gefragt wird, wie die Gemeinde verkündigt hat und welchem Formenwandel ihre Verkündigung ausgesetzt war, sondern warum so geredet wurde und was zur Verkündigung herausforderte, dann ist man auf einem neuen Wege, die historische Frage zu stellen und die Existenz­wahrheit des Glaubens in der Sachwahrheit des zu Glaubenden begründet zu sehen. Es ist dann nicht mehr die Frage, ob diese Verkündigung im "historischen" Sinne stimmt, sondern ob und wie die Verkündigung durch das Geschehen, von dem sie redet, legitimiert und notwendig ins Leben gerufen wird. Es kann dann nicht nur historisch nach dem einst­malig V ergangenen gefragt und auch nicht nur existential der gegenwär­tige Anspruch interpretiert werden, sondern es muß nach dem Offenen, Unabgeschlossenen, Unerledigten und Ausstehenden, mithin nach der Zukunft gefragt werden, die dieses Geschehen ankündigt. Wenn in die­sem Geschehen etwas steckt, was sich noch nicht verwirklicht hat und auf eine bestimmte Zukunft aus ist, dann wird es verständlich, daß von die­sem Geschehen nicht auf die Weise eines Berichtes über einen in sich ab­geschlossenen Vorgang in historischer Distanz geredet werden kann, sondern nur auf die Weise einer erinnernden Hoffnung. Wenn dieses Geschehen der Auferweckung Jesu nur zusammen mit seiner universal­eschatologischen Zukunft recht verstanden werden kann, dann muß die diesem Geschehen einzig entsprechende Weise der Mitteilung die missio­narische Verkündigung an alle Völker ohne Unterschied sein; eine Mis­sion, die sich selber im Dienste der verheißenen Zukunft dieses Gesche­hens weiß. Nur die missionarische Verkündigung wird dem historischen und eschatologischen Charakter dieses Geschehens gerecht. Sie stellt die diesem Geschehen entsprechende Weise der Erfahrung der Geschichte, der geschichtlichen Existenz und der geschichtlichen Erwartung dar. Was eine heutige Zeit mit vergangeneu Zeiten der Geschichte zusam­menschließt, ist, sofern es sich um ein "geschichtliches" Verhältnis handelt, nicht der Kern gemeinsamer Gleichartigkeit und nicht eine allgemeine Geschichtlichkeit menschlichen Existierens überhaupt, sondern das Pro­blem der Zukunft. Der Sinn der jeweiligen Gegenwart wird nur im Lichte von Zukunftshoffnungen hell. Ein "geschichtliches" Verhältnis zur Ge­schichte wird darum nicht nur die faktischen Ereignisfolgen und Gesetz­mäßigkeiten aufklären wollen und auch nicht nur gewesene Existenz­möglichkeiten erkunden, um sie möglicherweise zu wiederholen, sondern

172 Auferstehung und Zukunft ]esu Christi

wird in der vergangeneu Wirklichkeit nach den Möglichkeiten fragen, die in ihr stecken. Ungewordene Zukunft liegt in der Vergangenheit. Erfüllte Vergangenheit kann von der Zukunft erwartet werden. Der positivistische Historismus reduziert die Geschichte auf datierbare und lokalisierbare Wirklichkeiten, ohne auf den Vorraum des Möglichen zu achten, der diese Wirklichkeiten umgibt, solange es sich um "geschicht­liche" Wirklichkeiten handelt. Es handelt sich in ihm um ein Abblen­dungs- und Abstraktionsverfahren, das der Historiker benutzen kann und muß, um zu eindeutigen Ergebnissen zu kommen, aber er muß sich auch stets über die Perspektivität seines Entwurfes im klaren sein. Die existentiale Interpretation sucht hingegen die Existenzmöglichkeit da­gewesener Existenz auf, um sie zu wiederholen und zu erwidern, ohne jedoch auf deren Ermöglichung durch Geschichte stiftende und die Ge­schichtlichkeit der Existenz eröffnende Ereignisse zu achten. Auch dieses ist ein Abblendungs- und Abstraktionsverfahren, das der Hermeneut benutzen muß, um zu Ergebnissen zu kommen, aber er muß sich auch stets über die Perspektivität eben dieses Entwurfes im klaren sein. Jen­seits von Historismus und Existentialismus steht der Versuch, geschicht­liche Phänomene weder in einer positivistischen Gesetzmäßigkeit noch in der Geschichtlichkeit menschlichen Existierens zu begründen, sondern sie in ihrer Bedeutung auf ihre Zukunft wahrzunehmen52". Das bedeutet nicht, daß die futurische und gar eschatologische Bedeutung geschicht­licher Phänomene in eine universalgeschichtlic.~e Teleologie eingefangen wird. Das bedeutet auch nicht, daß die Zukunft geschichtlicher Phäno­mene sich in der durch die Zukunft zur Verantwortung gerufenen Gegen­wart erschöpft. "Bedeuten" ist etwas, das zieht und sich weiterschickt zu dem, was es be-deuten, an-kündigen und vor-weisen will und was dergestalt noch nicht voll da ist. Wir erkennen geschichtliche Phänomene in der ihnen eigenen Geschichtlichkeit nur, wenn wir ihre Bedeutung für "ihre" Zukunft wahrnehmen. Erst daraufhin ergibt sich dann auch eine Wahrnehmung ihrer Bedeutung für unsere Zukunft und die Wahrneh­mung unserer Bedeutung für ihre Zukunft. In diesem Sinne ist das Geschehen der Auferweckung Christi von den Toten ein Geschehen, das nur im modus der Verheißung verstanden wird. Es hat seine Zeit noch vor sich, wird als "geschichtliches Phäno­men" nur in seiner Bezogenheit auf seine Zukunft begriffen und ver­mittelt dem Erkennenden eine Zukunft, in die er geschichtlich gehen muß. Man wird darum die Auferstehungsberichte immer auch eschatologisch

52a. Diese dritte Möglichkeit deutet R. Bultmann selber an: Glauben und Verstehen, III, 1960, 113 ff., 148 f.

Die eschatologische Frage nach dem Zukunftshorizont 173

lesen müssen unter der leitenden Frage: was darf ich hoffen? Erst mit dieser dritten Frage rückt die Erinnerung und das ihr entsprechende historische Wissen in einen der zu erinnernden Sache angemessenen Horizont. Erst von dieser Frage her rückt die Geschichtlichkeit der Existenz und das ihr entsprechende Selbstverständnis in einen Horizont, der der Geschichte, die die Geschichtlichkeit des Existierens begründet und eröffnet, angemessen ist.

§ 8

Die eschatologische Frage nach dem Zukunftshorizont

in der Verkündigung des Auferstandenen

Erfahrung und Urteil sind immer mit einem Horizont von Wirklich­keitserschlossenheit verbunden, in welchem etwas in Erscheinung tritt und erfahrbar wird und in welchem Urteile sinnvoll werden. Ein solcher Horizont enthält eine gewisse Vorbekanntheit dessen, was in Erfahrung gebracht wird. Er ist kein geschlossenes System, sondern bringt auch offene Fragen und Antizipationen bei und ist darum offen für Neues und Unbekanntes53 • Solche Horizonte können aus Überlieferungen ver­mittelt werden, sie können auch aus dem Kontext der eigenen Erfahrung und Weltvertrautheit stammen. Sie können aus der unabsehbaren Be­deutung bestimmter widerfahrener Ereignisse stammen, sie können auch aus eigenen Entwürfen gesetzt werden, mit denen bewußt Geschichte in Erfahrung gebracht wird. Ohne einen solchen Horizont und abstra­hiert davon ist kein Ereignis erfahrbar und aussagbar. In den Auferstehungsberichten stehen Erfahrung und Urteil offensicht­lich in einem dezidiert eschatologischen Horizont von Erwartungen, Hoffnungen und Fragen an die verheißene Zukunft. Schon die Bezeich­nungen "Auferweckung", "Auferstehung" usw. schließen eine ganze Welt von Erinnerungen und Hoffnung in sich. Die Auferstehungsberich­te stehen also nicht direkt in einem kosmologischen Horizont der Fragen nach dem Ursprung, dem Sinn und dem Wesen der Welt. Sie stehen auch nicht direkt in einem existentialen Horizont der Fragen nach dem Ur­sprung, Sinn und Wesen des menschlichen Daseins. Endlich stehen sie

53. Wir folgen hier dem Begriff des "Horizontes", wie er in der Phänomenologie von Edmund Busserl ausgebildet wurde. Vgl. E. Busserl, Erfahrung und Urteil, 1939, 26 ff., L. Landgrebe, Der Weg der Phänomenologie, 1963, 181 ff.; H. G. Gadamer, Wahrheit und Methode, 1960, 286 ff., 356 ff.

174 Auferstehung und Zukunft fesu Christi

auch nicht direkt in einem allgemeinen theologischen Horizont der Frage nach dem Wesen und der Erscheinung der Gottheit. Direkt stehen sie im speziellen Horizont der prophetischen und apokalyptischen Erwartun­gen, der Hoffnungen und der Fragen an das, was laut den Verheißungen dieses Gottes kommen soll. Was in den Auferstehungserscheinungen auf­leuchtet, wird darum an dem zuvor Verheißenen expliziert, und diese Explikation vollzieht sich wiederum auf die Weise der prophetischen Verkündigung und der eschatologischen Aussicht auf die Zukunft Christi, die in diesen Erscheinungen aufleuchtete. Christliche Eschatologie ist aus der Ostererfahrung entsprungen, und christliche Prophetie hat den Osterglauben bestimmt. Aber christliche Eschatologie hat die Osterer­fahrungen ausgelegt und zur Sprache gebracht in der Erinnerung und der Aufnahme des zuvor Verheißenen und- in bezug auf Jesus selbst- in Erinnerung und Aufnahme des zuvor Verheißenen und zuvor Verkündig­ten. Die Ostererscheinungen sind mit diesem eschatologischen Horizont verbunden, sowohl in dem, was sie voraussetzen und zur Erinnerung bringen, wie in dem, was sie selber sich voraus entwerfen und provo­zieren. Die Frage nach der Gottheit Gottes, die Frage nach dem Welt­sein der Welt und die Frage nach dem Menschsein des Menschen sind da­mit nicht irrelevant, aber sie geraten im Lichte der Ostererscheinungen in einen besonderen Horizont, sowohl hinsichtlich der Fragestellungen wie auch hinsichtlich des Ortes, an dem die Antwort gesucht wird. Sofern das zuvor Verheißene im Auferstehungsgeschehen universal und allge­mein wird, werden diese Fragen, die das Allgemeine betreffen, relevant. Sofern aber diese Universalität und Allgemeinheit im Ostergeschehen eschatologisch, d. h. in Hoffnung und Aussicht nach vorne, in Erscheinun~ tritt, werden diese Fragestellungen verwandelt, werden sie nicht mehr aus der Welterfahrung, aus der Selbsterfahrung des Menschen oder aus dem Begriff Gottes, sondern aus dem Geschehen der Auferstehung und in dem eschatologischen Horizont dieses Geschehens beantwortet. Christliche Eschatologie unterscheidet sich vom alttestamentlichen Ver­heißungsglauben sowie von der prophetischen und der apokalyptischen Eschatologie dadurch, daß sie christliche Eschatologie ist und von "Christus und seiner Zukunft"54 spricht. Sie ist sachlich bezogen auf die Person Jesu von Nazareth und auf das Ereignis seiner Auferweckung und spricht von der Zukunft, die in dieser Person und in diesem Gesche­hen angelegt ist. Christliche Eschatologie erforscht nicht die allgemeinen Zukunftsmöglichkeiten der Geschichte. Sie entfaltet auch nicht die all-

54. Vgl. die glückliche Formulierung von E. Thurneysen, Christus und seine Zukunfl:, Zwischen den Zeiten 9, 1931, 187 ff.

Die eschatologische Frage nach dem Zukunftshorizont 175

gemeinen Möglichkeiten des Menschseins, das auf Zukünftiges angelegt ist. Es ist daher richtig zu betonen, daß christliche Eschatologie in ihrem Kern Christologie in eschatologischer Perspektive ist55 •

So sehr die Erfahrungsweisen und die Mitteilungsformen der "Offen­barung Jesu Christi" in den Ostererscheinungen apokalyptische Vor­stellungen und Hoffnungen aus der spätjüdischen Tradition aufnehmen, so sehr sprengt doch der Inhalt dieser Offenbarung den Rahmen der spätjüdischen Apokalyptik. Denn Gott ließ nach Aussage der Osterbe­richte nicht den Lauf der Geschichte, nicht die Geheimnisse der oberen Himmelswelt, nicht den Ausgang des künftigen Weltgerichtes, sondern die Zukunft des gekreuzigten Christus für die Welt sehen56• Christliche Eschatologie oder eschatologische Christologie ist darum nicht als ein Spezialfall allgemeiner Apokalyptik zu verstehen. Christliche Eschato­logie ist nicht christianisierte Apokalyptik. Die Anknüpfung an apoka­lyptisches Vorstellungsmaterial und apokalyptische Hoffnungen geschieht in den Osterberichten und in der urchristlichen Ostertheologie offensicht­lich eklektizistisch. Bestimmte Erinnerungen werden an diesem Geschehen wach und werden in der Osterverkündigung mit erinnert, andere ver­fallen. Bestimmte Vorstellungen von der endzeitliehen Offenbarung Gottes werden verwendet, doch wird nicht die gesamte Weltanschauung und Lebenshaltung der spätjüdischen Apokalyptik restauriert. "Aufer­weckung von den Toten" gehört zwar auch, aber keineswegs durchweg und auch nicht einmal zentral zu den apokalyptischen Erwartungen end­zeitlicher Offenbarung Gottes. Wird aber Jesus als "der Erstling der Entschlafenen" bezeichnet, so fällt das insofern aus dem Rahmen der Apokalyptik, als damit gesagt wird, daß sich an diesem einen für alle die Totenauferweckung schon vollzogen habe, und daß diese Auferwek­kung nicht an einem Gesetzestreuen, sondern an dem Gekreuzigten ge­schehen sei und daher zukünftige Auferstehung nicht aus dem Gesetzes­gehorsam, sondern aus der Rechtfertigung des Sünders und dem Glauben an Christus zu erwarten sei. An die zentrale Stelle der Thora in der spätjüdischen Apokalyptik tritt damit die Person und das Kreuz Christi. An die Stelle des Lebens im Gesetz tritt die Christusgemeinschaft in der Nachfolge des Gekreuzigten. An die Stelle der Selbstbewahrung des Gerechten vor der Welt tritt die Sendung des Glaubenden in die Welt. An die Stelle der im Glanz der göttlichen Kabodfülle aufleuchtenden

55. W. Kreck, Die Zukunft des Gekommenen. Grundprobleme der Eschatologie, 1961, 120 ff. 56. Vgl. dazu V. Wilckens, Der Ursprung der Überlieferung der Erscheinung des Auferstandenen, 1963, 63 ff.

176 Auferstehung und Zukunft Jesu Christi

Thora tritt die apokalypsis kyriou, der Riebtstuhl Jesu Christi, vor dem alles offenbar werden wird. Nicht die kosmischen und weltgeschichtlichen Geheimnisse der Endzeit werden nach himmlischem Plan vorweg ent­hüllt,- "was deinem Volk widerfahren wird am Ende der Tage" (Dan. 10, 14) -, sondern die universale Zukunft der Herrschaft des gekreuzig­ten Christus über alles leuchtet in den Ostererscheinungen auf. Es bleibt aber die alttestamentliche, prophetische und apokalyptische Erwartung einer universalen Offenbarung und Verherrlichung Gottes an allen Dingen erhalten. Durch die Aufnahme und Erinnerung apokalyptischen Vorstellungsmaterials und apokalyptischer Erwartungen wird also keines­wegs die Einmaligkeit des Christusgeschehens eingeebnet, sondern das eschatologische "Ein für alle Mal" wird aussagbar durch Erinnerung des Zuvorverheißenen. Die christliche Zukunftshoffnung entspringt aus der Wahrnehmung eines bestimmten, einmaligen Geschehens, der Auferstehung und Erscheinung Jesu Christi. Doch kann theologisches Hoffnungswissen dieses Geschehen nur wahrnehmen, indem es den Zukunftshorizont zu ermessen sucht, den dieses Geschehen entwirft. Die Auferstehung Christi erkennen heißt da­rum, in diesem Geschehen die Zukunft Gottes zur Welt und die Zukunft des Menschen, die er an diesem Gott und seinem Handeln findet, er­kennen. Wo immer dieses Erkennen geschieht, vollzieht sich auch Erinne­rung an die Verheißungsgeschichte des Alten Testamentes in einer kriti­schen und verwandelnden Vergegenwärtigung. Christliche Eschatologie, die die unerschöpfliche Zukunft Christi ZU ermessen sucht, stellt das Ge­schehen der Auferstehung nicht in einen apokalyptischen, weltgeschicht­lichen Rahmen. Sie fragt vielmehr nach der inneren Tendenz des Auf­erstehungsgeschehens, sie fragt nach dem, was von dem Auferstandenen und Erhöhten rechtens erwartet werden kann und muß. Sie fragt nach der Sendung Christi und nach der Intention Gottes, der ihn von den To­ten auferweckte. Sie erkennt als innere Tendenz dieses Geschehens seine zukünftige Herrschaft über alle Feinde, auch über den Tod. "Er muß aber herrschen ... " (1. Kor. 15, 28). Sie erkennt als äußere Tendenz oder als Konsequenz dieser Tendenz die eigene Sendung: "Es muß allen Völkern das Evangelium gepredigt werden" (Mark. 13, 10)56". Die christliche Eschatologie spricht von der Zukunft Christi, die den Men­schen und die Welt ans Licht bringt. Sie spricht nicht umgekehrt von einer Weltgeschichte und einer Zeit, die Christus ans Licht bringt, und

56a. Vgl. auch die entsprechende, eschatologisch bestimmte &.va·ptT) zur Verkündigung bei Paulus 1. Kor. 9, 16. Dazu E. Käsemann, ZThK 56, 1959, 138-154, bes. 152 f.

Die eschatologische Frage nach dem Zukunftshorizont 177

auch nicht vom Menschen, dessen guter Wille Christus ans Licht bringt. Ausgeschlossen ist darum eine weltgeschichtlich-apokalyptische Einord­nung des Auferstehungsgeschehens und eine Datierung seiner Zukunft oder Wiederkunft. Nicht "die Zeit" bringt ihn an den Tag und nicht die Geschichte gibt ihm recht, sondern er bringt die Zeiten an seinen Tag. Die Wiederkunft Christi kommt nicht "von selbst", wie das Jahr 1965, sondern kommt von ihm selbst, wann Gott und wie er gemäß seiner Verheißung will. Ausgeschlossen ist darum auch die Verewigung der Zukunftsoffenheit der christlichen Hoffnung. Die Offenheit der christ­lichen Existenz nimmt ein Ende, denn sie ist nicht Offenheit für eine Zukunft, die leer bleibt, sondern hat die Zukunft Christi zur Voraus­setzung und findet in ihr ihre Erfüllung. Man könnte sagen, christliche Eschatologie ist Tendenzkunde der Auf­erstehung und Zukunft Christi und geht darum unmittelbar in das prak­tische Wissen der Sendung über. Dann ist die Alternative: entweder apokalyptische Zeitenberechnung und apokalyptischer Endschicksals­glaube - oder Ethik der Hoffnung falsch. Die spekulative Geschichts­deutung der kosmischen Apokalyptik wird nicht einfach durch eine mo­ralische Eschatologie ersetzt. Zwar tauchen solche Alternativen in man­chen Worten auf: Ihr wißt das Ende nicht, darum seid wachsam und betet. Dennoch werden Geschichtserfahrungen erheblich für die christ­liche Eschatologie. Es sind die Erfahrungen, die an Jesus und an der Sen­dung gemacht werden, nämlich Verfolgung, Anklage, Leiden und Mar­tyrium. Die Offenbarung Johannis und auch die kleine Apokalypse Mark. 13 zeigen, daß es sich hier keineswegs um apokalyptische Speku­lationen oder moralische Appelle allein, sondern um ein eschatologisches Erfassen jener Geschichte handelt, die an der Sendung Christi im Mar­tyrium zu erwarten ist und erfahren wird. Der Erfahrungsgehalt der christlichen Eschatologie ist also nicht jene "Weltgeschichte", die aus der Erkundung und dem Vergleich und der zeitlichen Aneinanderreihung großer weltgeschichtlicher Ereignisse zu einem universalgeschichtlich-apo­kalyptischen System entsteht, sondern es sind die Erfahrungen, die unter der weltgeschichtlichen Sendung "an alle Völker" gemacht werden. Das christliche Geschichtsbewußtsein ist nicht das Bewußtsein von den Jahr­tausenden des geschichtlichen Universums im geheimnisvollen Wissen um einen göttlichen Geschichtsplan, sondern ist ein Sendungsbewußtsein im Wissen um den göttlichen Auftrag, ist darum das Bewußtsein um den Widerspruch dieser unedösten Welt und um das Zeichen des Kreuzes, in welchem die christliche Sendung und die christliche Hoffnung stehen. Die Ostererscheinungen Christi sind offensichtlich Berufungserscheinun-

178 Auferstehung und Zukunft fesu Christi

gen. Darum fallen in ihnen die Erkenntnis Jesu Christi und die Erkennt­nis seiner Sendung und Zukunft zusammen. Darum fallen auch Selbst­erkenntnis und die Erkenntnis der eigenen Berufung und Sendung in seine Zukunft hinein zusammen. Der Horizont, in welchem die Aufer­stehung Christi als "Auferstehung" erkennbar wird, ist der Horizont von Verheißung und Sendung nach vorne in seine und seiner Herrschaft Zukunft hinein. Erst in diesem Zusammenhang, von ihm her und für ihn, tauchen jene Fragen auf, die sich auf die Zukunft der Weltgeschichte beziehen. Sie treten darum auf in Gestalt der Frage nach dem Geschick "Israels und der Völker" und werden beantwortet an jenem Angelpunkt der Geschichte der Kreuzigung Christi durch Juden und Heiden und sei­ner Auferstehung für Juden und Heiden. Sie werden beantwortet im Horizont der Sendung Christi und der Sendung der Gemeinde aus Juden und Heiden. Erst in diesem Zusammenhang taucht auch die Frage nach dem "wahren Menschsein" auf, nach dem, was den Menschen zum Menschen macht, und wird beantwortet mit der Erschließung eines Weges, einer Ver­heißung und einer Zukunft, in denen "die Wahrheit" zum Menschen kommt und er selbst in die Wahrheit gelangt. Die Christusgemeinschaft, das neue Sein in Christus, zeigt sich als der Weg zur Menschwerdung des Menschen. In ihr kündigt sich das wahre Menschsein an, und die noch verborgene und unerfüllte Zukunft des Menschseins kann in ihr gesucht werden. Das ist eine Weltoffenheit und Zukunftsoffenheit menschlicher Existenz, die begründet, eröffnet und in Atem gehalten wird von der Offenheit der Offenbarung Gottes, die sich im Auferstehungsgeschehen Christi ankündigt, in welcher dieses Geschehen über sich selber hinaus­weist in ein Eschaton der Fülle aller Dinge. Die Offenheit christlicher Existenz ist nicht ein Spezialfall allgemeinmenschlicher Offenheit. Sie ist nicht eine besondere Gestalt des schöpfungsmäßigen cor inquietum. Vielmehr entsteht das geschichtliche und Geschichte treibende cor inquie­tum des Menschen an der promissio inquieta und hängt an dieser, ist auf diese angewiesen. Die Auferstehung Christi ist promissio inquieta so lange, bis sie Ruhe findet in der Auferstehung der Toten und einer Totalität des neuen Seins. Durch die Erkenntnis der Auferstehung des Gekreuzigten wird der ständig und überall wahrnehmbare Widerspruch einer unedösten Welt, werden Trauer und Leiden an ihr hineingenom­men in die Zuversicht der Hoffnung, und wird auf der anderen Seite die Zuversicht der Hoffnung irdisch und universal. Jeder Doketismus in der Hoffnung, der die irdischen Verhältnisse oder die Leiblichkeit in ihrem Widerspruch verfallen läßt, sich auf Kirche, Kult oder gläubige Inner-

Identität des Auferstandenen mit dem gekreuzigten Christus 179

lichkeit reduziert, ist darum Leugnung des Kreuzes. Die aus Kreuz und Auferstehung geborene Hoffnung verwandelt das Nichtige, Wider­sprüchliche und Quälende der Welt in ihr "Noch nicht" und läßt es nicht im "Nichts" verenden.

§9

Die Identität des als auferstanden Erscheinenden

mit dem gekreuzigten Christus

Auf welche Weise werden in der Osterverkündigung das Kreuz und die Auferstehung Jesu, also das Historische und das Eschatologische mit­einander verbunden? Keiner der Osterberichte führt weiter zurück als bis zu den Erscheinun­gen des Auferstandenen. Nirgends wird der Vorgang der Auferweckung J esu selber auf eine historisierende oder mythologische Weise beschrie­ben. Was zwischen der Erfahrung seiner Kreuzigung und Grablegung und seinen Ostererscheinungen eigentlich geschehen ist, bleibt im Dunkel des noch unbekannten und des noch verborgenen Gottes. Doch wird dieses Geschehen zwischen den beiden Erfahrungen von Kreuz und lebendiger Erscheinung Jesu schon sehr früh als "Auferweckung von den Toten" bezeichnet. Es wird mit einem Ausdruck belegt, für den es bisher und sonst keine Erfahrungsgrundlage gibt. Es wird also als etwas be­zeichnet, für das es keine Analogien in der bekannten Geschichte, son­dern nur apokalyptische Verheißungen und Hoffnungen auf einen end­zeitlichen Beweis der Gottheit Gottesam Tode gibt. "Auferweckung von den Toten" ist ein Ausdruck, der sich als eine Erwartung auf den zu­künftigen Beweis der Schöpfermacht Gottes am Nichtseienden richtet. Was also "Auferstehung von den Toten" eigentlich ist und wie es in der Auferweckung Jesu "eigentlich gewesen ist", das zu wissen behaupten auch die neutestamentlichen Osterberichte nicht. Sie schließen aus den beiden, einander radikal widersprechenden Erfahrungen von Kreuz und Erscheinungen Jesu auf das dazwischenliegende Geschehen als auf ein eschatologisches Geschehen, für das die verifizierende Analogie allererst in Aussicht gestellt ist und kommen soll. D. h. sie sprechen mit dem Aus­druck "Auferweckung" nicht nur ein Urteil über ein Geschehen an Jesus aus, sondern zugleich eine eschatologische Erwartung. Diese Erwartung wird durch die Erfahrungen von Kreuz und Erscheinungen in bezug auf

180 Auferstehung und Zukunft fesu Christi

Jesus selbst gedeckt und bleibt doch Erwartung und Hoffnung, die der eigenen Erfahrung des Auferwecktwerdens vorangeht. Nun läßt sich über den Vorgang der Auferweckung des Gekreuzigten noch mehr sagen als nur dieses, daß es ein eschatologisches Geheimnis sei und daß die Behauptung der Jünger zu glauben wäre. Die Verkündigung der Jünger, er sei von den Toten auferweckt, entspringt nicht besonderer Imagination oder eigenartiger Inspiration, sondern sie entspringt und wird nötig aus dem Vergleich ihrer beiden widersprüchlichen Christus­erfahrungen. Die Erfahrung des Kreuzes J esu bedeutet für sie die Er­fahrung der Gottverlassenheit des Gottgesandten; also ein absolutes, Gott einschließendes nihil. Die Erfahrung der Erscheinungen des Ge­kreuzigten als des Lebendigen bedeutet darum für sie die Erfahrung der Nähe Gottes am Gottverlassenen, der Gottheit Gottes am gekreuzigten und toten Christus; also ein neues, das totale nihil vernichtendes totum. Beide Erfahrungen stehen in einem radikalen Widerspruch zueinander, wie Tod und Leben, Nichts und Alles, Gottlosigkeit und Gottheit Gottes. Wie aber kann es möglich sein, beide Erfahrungen auf ein und dieselbe Person zu identifizieren, ohne die eine oder die andere Erfahrung aufzu­lösen und belanglos zu machen? Um diesen Vorgang der Identifizierung verständlich zu machen, muß man wohl davon ausgehen, daß es sich in den Ostererscheinungen nicht nur um stumme Visionen, sondern zugleich damit und im Kern wohl zuerst um sogenannte Auditionen gehandelt hat. Darauf weist die Tat­sache, daß es sich in diesen Visionen durchweg um Berufungsvisionen handelte. Ohne vernommene Rede wäre es unwahrscheinlich und doch auch unmöglich gewesen, den Erscheinenden mit dem gekreuzigten Jesus zu identifizieren. Ohne gehörte Rede wären die Ostererscheinungen ge­spenstisch geblieben. Die Erscheinungen - die es religionsgeschichtlich be­trachtet auch sonst gibt - wären als Hierophanien eines anderen, neuen Himmelswesens genommen worden, wenn sie nicht mit Reden des Er­scheinenden verbunden gewesen wären. Der urchristliche Enthusiasmus zeigt, daß diese Möglichkeit, die Ostererscheinungen als Hierophanien eines neuen, göttlichen Pneumawesens zu verstehen, sehr nahe gelegen hat. Aus den Erscheinungen selber ergibt sich auch wohl kaum die Mög­lichkeit zur Identifikation des Erscheinenden mit dem Gekreuzigten. Die­se Möglichkeit wird darum in den Reden des Erscheinenden zu suchen sein. In seinen Reden muß so etwas wie eine Selbstidentifikation vorge­legen haben ("Ich bin es"). Dann kann die Selbstidentifikation des im Glanze des verheißenen göttlichen Lebens Erscheinenden mit dem Ge­kreuzigten als Akt der Selbstoffenbarung Jesu angesehen werden. Das

Identität des Auferstandenen mit dem gekreuzigten Christus 181

grundlegende Geschehen in den Ostererscheinungen liegt dann offenbar in der Offenbarung der Identität und Kontinuität Jesu im totalen Widerspruch von Kreuz und Auferweckung, von Gottverlassenheit und Gottes Nähe. Darum kann das ganze Neue Testament behaupten, daß die Jünger zu Ostern nicht irgendein neues Himmelswesen, sondern Jesus selbst gesehen haben. Der mit Ostern geglaubte und verkündigte Herr steht darum in einer immer neu zu suchenden und zu formulierenden und niemals preiszugebenden Kontinuität zum gekommenen, irdischen und gekreuzigten Jesus. Die einzige Brücke für die Kontinuität der ur­christlichen Verkündigung zur Geschichte und Verkündigung Jesu selbst führt über die Auferweckung des Gekreuzigten. Das ist eine Kontinuität in radikaler Diskontinuität oder eine Identität im totalen Widerspruch. Das Rätsel dieser geheimnisvollen Identität des gekreuzigten und aufer­weckten Christus ist offenbar das treibende Motiv in den christologischen Streitigkeiten der Urchristenheit. Es ist in seiner immer wieder auftre­tenden Fraglichkeit die eigentliche Konstante in den christologischen Streitigkeiten. Folgende Möglichkeiten stellen sich hier als Abwege ein: 1. Der irdische und gekreuzigte J esus ist ganz in das Himmelswesen des Auferstandenen und Erhöhten verschlungen. Die Erinnerung an sein Reden und Sterben wird so vom Aufblick auf sein gegenwärtiges Him­melswesen überwuchert, daß die Härte der Gottlosigkeit des Karfreitags nicht mehr wahrgenommen wird. Diese Tendenz führte zum Doketis­mus. 2. Die Ostererscheinungen werden nur als göttliche Bestätigung des An­spruchs des toten Propheten genommen, sodaß zwar seine Rede weiter­wirkt, nicht aber er selbst. Dann ist die "Auferstehung" nur die Legiti­mation und das Interpretament des Historischen. Die Linie der Konti­nuität verläuft von den Reden des toten Meisters zur Verkündigung der Gemeinde, die seine Rede fortsetzt. Sein Tod wird gleichsam durch die göttliche Bestätigung in den Ostererscheinungen aufgehoben. Die ver­bleibende Kontinuität ist dann eine direkte, wiederholende und geht an Kreuz und Auferweckung vorbei zum Selbst- oder Existenzverständnis J esu. Dann sind die Ostererscheinungen nicht Zeichen eines neuen Ge­schehens an Jesus, sondern die Geburt des Glaubens an Jesu Verkündi­gung. Diese Tendenz führte damals zum Ebionitismus. 3. Jesus Christus gestern gekreuzigt, heute auferstanden, ist in beiden Erscheinungsweisen "derselbe". Dann sind Kreuz und Auferstehung nur zwei Seinsweisen an seiner einen, ewigen und an sich selber unwandel­baren Person. Sein irdischer Tod und sein Auferstehungsleben werden dann relativ zu der einen Substanz in seiner Person, die in sich selber

182 Auferstehung und Zukunfl fesu Christi

jenseits von Tod und Leben stünde. Mit dieser Auffassung, wie sie vor­nehmlich in der altkirchlichen Christologie naheliegt, wird weder die Tödlichkeit seines Todes noch das überraschend-Neue seiner Auferwek­kung wahrgenommen. Diese Tendenz führte in den Modalismus. In Anbetracht dieser Entwürfe wird man sagen müssen, daß die Iden­tität Jesu nur als eine Identität in, nicht aber oberhalb von Kreuz und Auferstehung verstanden werden kann, daß sie also mit der Dialektik von Kreuz und Auferweckung verbunden bleiben muß. Dann gehören die Widersprüche von Kreuz und Auferweckung zu seiner Identität. Weder kann dann die Auferstehung auf das Kreuz, als dessen Bedeut­samkeit, noch kann das Kreuz auf die Auferstehung, als dessen Vorstufe, reduziert werden. Es handelt sich formal um eine dialektische Identität, die nur durch den Widerspruch besteht, und um eine Dialektik, die in der Identität besteht. Der apokalyptische Ausdruck "Auferweckung von den Toten durch Gott" bringt in die Personbestimmungen "gekreuzigt - auferstanden" eine Werkformel hinein. Mit der Auferweckung durch Gott wird Jesus identifiziert als der auferweckte Gekreuzigte. Dann liegt der Identitäts­punkt nicht in der Person Jesu, sondern extra se in dem Gott, der aus dem Nichts Leben und neues Sein schafft. Er ist dann ganz gestorben und ganz auferweckt. Für dieses Denken liegt in der Selbstoffenbarung J esu in seinen Erscheinungen die Offenbarung der Gottheit und der Treue Gottes. Dann muß man sagen, daß in diesem Geschehen, das in Kreuzi­gung und Ostererscheinungen erfahrbar wird, Gott sich zu Gott bekennt und seine Treue offenbar macht. Dann aber weist dieses Geschehen, das in Kreuz und Ostererscheinungen offenbar wird, auf die Verheißungen Gottes zurück und auf ein Eschaton der Offenbarung seiner Gottheit an allem voraus. Es muß dann als das eschatologische Treuegeschehnis Gottes verstanden werden und zugleich als eschatologische Verbürgung seiner Verheißung und als Anbruch der Erfüllung. Es ist folgerichtig, daß dann die Zukunft Christi nicht nur in seiner universalen Verherrli­chung erwartet wird, sondern daß seine Herrschaft der eschatologischen Offenbarung der Gottheit Gottes an allem, was ist und was nicht ist, subordiniert wird, wie es Paulus 1. Kor. 15, 28 andeutet. Was zwischen Kreuz und Ostererscheinungen geschehen ist, ist dann ein eschatologisches Geschehen, das auf zukünftige Offenbarung und universale Erfüllung angelegt ist. Es weist über sich selbst und auch über Jesus hinaus in die kommende Offenbarung der Herrlichkeit Gottes. Dann identifiziert sich Jesus in den Ostererscheinungen als der Kommende, und seine Identität in Kreuz und Auferweckung weist kommendem Geschehen die Richtung

Identität des Auferstandenen mit dem gekreuzigten Christus 183

und schafft ihm die Bahn. Der als auferstanden Erscheinende wird dann nicht als der Verewigte oder himmlisch Verherrlichte erkannt, sondern er tritt im Vorschein der kommenden, verheißenen Herrlichkeit Gottes in Erscheinung. Was an ihm geschah, wird als Anbruch und verbürgte Verheißung der kommenden Herrschaft Gottes über alles, als Sieg des Lebens aus Gott über den Tod verstanden. Kreuz und Auferstehung sind dann nicht nur modi an der Person Christi. Ihre Dialektik ist viel­mehr eine offene Dialektik, die ihre aufhebende Synthese erst im Escha­ton aller Dinge finden wird. Werden Kreuz und Auferstehung hingegen an der ewigen Person Jesu differenziert, so wird jenes Geschehen zwischen Kreuz und Ostern nicht als Offenbarung der Gottheit Gottes am Tode verstanden und nicht mehr als Schöpfertat Gottes genommen, sondern es wird als aÖ'toßacr~A.da Jesu verstanden: der Gekreuzigte ist auferstanden. Er ist auch ohne besonderen Eingriff Gottes auferstanden, weil er selbst Gott ist. Diese Auffassung aber macht aus Ostern die Geburt eines neuen Kultkyrios und kann sich nur schwer gegen die wirk­liche Erfahrung der bestehenden Herrschaft des Todes und der Mächte des Nichtigen über den Menschen behaupten. In den gehörten Reden des Erschienenen liegt, wenn man die Osterbe­richte summiert, nicht allein das Moment der Selbstidentifikation vor, sondern durchgängig auch ein Sendungs- und Verheißungsmotiv. Die Erscheinungen des Auferstandenen wurden von den Betroffenen als Be­auftragung zu Dienst und Sendung in der Welt erfahren, nicht aber als beseligende Erlebnisse der Vereinigung mit dem Göttlichen, das hier erscheint. Die Beauftragung zum apostolischen Dienst an der Welt galt als das eigentliche Wort des Auferstandenen. Seine Erscheinungen waren Berufungserscheinungen, die die Betroffenen in die Nachfolge der Sen­dung Jesu stellten. Die Offenbarung des Auferweckten identifizierte die Betroffenen mit der Sendung Jesu und stellte sie so in eine Geschichte hinein, die von Jesu Sendung und seiner im Vorschein von Ostern offen­bar und erhoffbar gewordenen Zukunft eröffnet und bestimmt ist. Die Wahrnehmung des Geschehens der Auferweckung an ihm führte also folgenotwendig in eine Wahrnehmung der eigenen Sendung und der eigenen Zukunft. Das wird eigentlich nur verständlich, wenn das Ge­heimnis der Person Jesu und seiner Geschichte in Kreuz und Aufer­weckung von seiner Sendung her und auf Gottes Zukunft zur Welt hin, der seine Sendung dient, begriffen wird. Nur wenn so seine Geschichte vom Eschaton her bestimmt gesehen wird, und nur wenn sich das eigene Geschichtsbewußtsein im Sendungsbewußtsein darstellt, kann die Aufer­weckung Jesu von den Toten "geschichtlich" genannt werden. Seine rät-

184 Auferstehung und Zukunft ]esu Christi

seihafte Identität im Widerspruch von Kreuz und Auferweckung ist darum als eine eschatologische Identität zu verstehen. Die Christustitel, mit denen sie ausgesagt wird, greifen in seine Zukunft vor. Es sind darum keine festen Titel, die fixieren, wer er war und ist, sondern gleichsam offene, gleitende Titel, die das, was er sein wird, verheißend ankündigen. Es sind darum zugleich dynamische Titel. Es sind bewegte und bewegen­de Begriffe der Sendung, die Menschen in ihre Arbeit an der Welt und ihre Hoffnung auf die Zukunft Christi einweisen wollen.

§ 10

Die Zukunft Jesu Christi

Fragen wir nun nach den Verheißungs- und Erwartungsinhalten der Zukunft des auferstandenen Christus, so stoßen wir auf Verheißungen, deren Gehalt aus den prophetischen Erwartungen des Alten Testamentes in gewissen Umrissen schon aufleuchtet, deren Gestalt aber durch das Reden, Leiden und Sterben Christi bestimmt ist. Die zu erwartende Zukunft Christi ist nur aussagbar in Verheißungen, die das in ihm und seiner Geschichte Verborgene und Angelegte im Vorschein und Vorweis herausholen und zutage bringen. Verheißung steht auch in diesem Falle zwischen Wissen und Nichtwissen, zwischen Notwendigkeit und Mög­lichkeit, zwischen dem, was noch nicht ist, und dem, was schon ist. Das durch Verheißung angeregte Wissen um die Zukunft ist darum ein Hoff­nungswissen, ist darum prospektiv und antizipatorisch, ist darum aber auch provisorisch, fragmentarisch, offen und über sich selbst hinausdräng­gend. Es weiß die Zukunft, indem es die Tendenzen und Latenzen des Christusgeschehens der Kreuzigung und der Auferstehung zu erheben sich bemüht und die durch dieses Ereignis eröffneten Möglichkeiten zu ermessen sucht. Die Ostererscheinungen des gekreuzigten Christus sind dabei das ständige Inzitament für das hoffende, antizipierende und auf der anderen Seite seinskritische und leidende Bewußtsein. Denn diese "Erscheinungen" lassen etwas von der eschatologischen Zukunft des Christusereignisses sehen, lassen darum nach der zukünftigen Offen­barung dieses Ereignisses suchen und fragen. Christuserkenntnis wird so zur vorgreifenden, provisorischen und fragmentarischen Erkenntnis seiner Zukunft, nämlich dessen, was er sein wird. Alle Christustitel greifen in diesem Sinne messianisch voraus. Auf der anderen Seite wird Zukunfts-

Die Zukunft der Gerechtigkeit 185

erkenntnis durch nichts anderes angetrieben als durch das Rätsel Jesu von Nazareth. Sie wird also Christuserkenntnis sein in der Nötigung zu erkennen, wer er ist und was in ihm angelegt und verborgen ist. Wenn wir aber das absconditum sub cruce als Latenz und das revelatum in resurrectione als Tendenz nehmen, wenn wir nach der Intention Got­tes in der Sendung Jesu fragen, so stoßen wir auf das zuvor Verheißene. Die missio Jesu wird allein verständlich an der promissio. Seine Zukunft, in deren Lichte er erkennbar wird als das, was er ist, wird im Vorschein erhellt durch die Verheißung der Gerechtigkeit Gottes, die Verheißung des Lebens aus der Auferstehung von den Toten und die Verheißung des Reiches Gottes in einerneuen Totalität des Seins.

§11

Die Zukunft der Gerechtigkeit

Gerechtigkeit meint "in Ordnung sein", im rechten Verhältnis stehen, meint Entsprechung und Einstimmigkeit und ist insofern der "Wahrheit" benachbart. Gerechtigkeit heißt aber auch "Bestehenkönnen", Bestand haben, Grund zum Existieren finden und ist insofern dem Dasein über­haupt benachbart. Gerechtigkeit meint im Alten Testament nicht Ober­einstimmung mit einer idealen Norm oder mit dem Logos des ewigen Seins, sondern bezeichnet ein geschichtliches Gemeinschaftsverhältnis, das durch Versprechen und Treue gestiftet wird. Preist Israel Gottes Gerech­tigkeit, so ist es dankbar seiner Treue zu seinen Bundesverheißungen eingedenk, die sich in der Geschichte Israels ereignete. Jahwes Gerechtig­keit ist seine Bundestreue. Darum "geschieht" seine Gerechtigkeit und dar­um kann man sie "erzählen" und für die Zukunft auf sie vertrauen und "Rettung" von dieser Gerechtigkeit erwarten. Indem Menschen auf Got­tes Bundestreue vertrauen und seinem Bund in Verheißung und Satzung gemäß leben, geben sie Gott recht und kommen sie zu Recht. Sie kom­men zurecht nicht nur im Verhältnis zu Gott, sondern auch untereinander und im Verhältnis zu den Dingen57• Diese Geschichte der Gottesgerechtig­keit wird offensichtlich nicht nur in Israels eigener Geschichte und nicht

57. G. von Rad hat gezeigt, wie Gerechtigkeit Gottes für Israel zum Inbegriff des rechten Verhältnisses von Gott und Mensch, von Mensch und Mitmensch und von Mensch und Welt wird. Vgl. Theologie des Alten Testamentes, I, 1958, 368 ff.

186 Auferstehung und Zukunft fesu Christi

nur in der menschlichen Geschichte, sondern im Geschehen und im Ge­schick der ganzen Schöpfung Gottes erkannt. Mit der Gerechtigkeit Gottes ist die Weise gemeint, wie er in Freiheit seinen Satzungen, seinem Wort und seinem Werk die Treue hält und Bestand verschafft. Gerech­tigkeit Gottes hat alles nötig, das dem Handeln Gottes sein Dasein ver­dankt, also die ganze Kreatur. Gerechtigkeit Gottes ist Inbegriff ihres Bestandes und Grund ihres Bestehens. Ohne sein Recht und seine Treue kann nichts bestehen, sondern versinkt alles im Nichts. Darum ist Ge­rechtigkeit Gottes universal. Sie betrifft die Rechtfertigung des Lebens und den Existenzgrund aller Dinge. Wird von Gottes Gerechtigkeit das Zu-Rechtkommen des Menschen mit sich selbst, mit seinesgleichen und mit der ganzen Kreatur erwartet, so kann sie zum Inbegriff einer uni­versalen, inklusiven Eschatologie werden, die von der Zukunft der Ge­rechtigkeit ein neues Sein aller Dinge erwartet. Gerechtigkeit Gottes be­zieht sich dann nicht nur auf eine neue Ordnung des Vorhandenen, son­dern auf einen neuen Existenzgrund und neues Lebensrecht der Kreatur überhaupt. So kann mit dem Kommen der Gottesgerechtigkeit auch neue Schöpfung erwartet werden. Im Neuen Testament wird von Paulus Gottesgerechtigkeit entsprechend als Gemeinschaftstreue Gottes, als ein Geschehen, das Gott schafft, und als ein Geschehen, aus dem neue Schöpfung und neues Leben hervorgehen, verstanden. Diese Gottesgerechtigkeit wird für Paulus im Evangelium offenbar (Röm. 1, 17) und im Glauben ergriffen. Es ist das christolo­gische Evangelium vom Kreuz und von der Auferstehung Christi durch Gott. In diesem Geschehen wird Gottesgerechtigkeit für die Ungerechten und Rechtfertigung des Lebens (Röm. 5, 18) für die offenbar, die vor dem Zorn Gottes in einem sowohl juristischen wie ontologischen Sinne nicht bestehen können. Es ist das eschatologische Evangelium, das jene Gottesgerechtigkeit, "auf die man hoffen muß" (Gal. 5, 5), als schon jetzt gegenwärtig und als in dem jetzt offenbarwerdenden Zorn Gottes rettend zuspricht. Es ist endlich das universale Evangelium, das auf die alles erfüllende, alles zu Gottes Recht und so zu Stand und Wesen bringende neue Schöpfung ausgerichtet ist. Gottesgerechtigkeit "geschieht" hier, und das Evangelium macht sie offenbar, indem es das Geschehen des Gehorsams Jesu bis zum Tode am Kreuz, indem es das Geschehen seiner Hingabe an diesen Tod und indem es seine Auferweckung und sein Leben als das Kommen der Gottesge­rechtigkeit zu den Rechtlosen verkündet. Die Verwirklichung und Offen­barung einer neuen Gottesgerechtigkeit für die Sünder wird damit zu dem Geheimnis Jesu Christi, das in der Verheißung des Evangeliums

Die Zukunft der Gerechtigkeit 187

aufgedeckt wird: "dahingegeben um unserer Sünden willen und aufer­weckt um unserer Gerechtigkeit willen" (Röm. 4, 25). "Er hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir wür­den die Gerechtigkeit Gottes in ihm" (2. Kor. 5, 21). So geschieht in ihm Versöhnung der Unversöhnten durch Gott. Es ist dabei wichtig zu sehen, daß diese Gottesgerechtigkeit ihren Grund sowohl im Geschehen der Kreuzigung wie der Auferweckung, also sowohl in seinem Sterben wie in seinem Leben hat. Eine einseitige Kreuzestheologie würde nur zum Evangelium von der remissio peccatorum gelangen, nicht aber zur pro­missio der neuen Gerechtigkeit, deren Leben in seinem Leben gründet und deren Zukunft in der Zukunft seiner Herrschaft besteht. "Was er gestorben ist, das ist er der Sünde gestorben zu einem Mal ( ecpcb-cae ), was er aber lebt, das lebt er Gott. Also auch ihr, haltet euch dafür, daß ihr der Sünde gestorben seid und lebet Gott in Christo J esu, unserm Herrn" (Röm. 6, 10. 11). Die offenbar werdende Gottesgerechtigkeit findet ihr Maß nicht an der Sünde, die sie vergibt, sondern an dem neuen Leben in der Herrschaft des auferweckten und erhöhten Christus, das sie ver­heißt und in das sie weist. Damit hängt es zusammen, daßangesichtsdes in Jesu Sterben und Leben begründeten Evangeliums der Gottesgerechtigkeit Sünde und Tod zusam­men gesehen werden. "Der Tod ist der Sünde Sold; aber die Gabe Gottes ist das ewige Leben in Christo J esu, unserm Herrn" (Röm. 6, 23; vgl. 1. Kor. 15, 55 ff.). Sünde ist darum als Ungerechtigkeit zu verstehen, als Grund- und Rechtlosigkeit, als das Nicht-bestehen-können. Das schließt sowohl die Verfallenheit an den Widerspruch gegen Gott und an die Lüge in sich, wie es auch das Sterben und das Versinken ins Nichts ein­schließt. Die Gottesgerechtigkeit, die in Kreuz und Auferweckung Jesu offenbar wird, umfaßt darum Versöhnung mit Gott und Rechtfertigung des Lebens. Sie umfaßt Vergebung von Schuld und Vernichtung desTo­desschicksals. Sie umfaßt Versöhnung und Erlösung des sterblichen Lei­bes. Sie geschieht im Zuspruch der Versöhnung und in der Verheißung der Lebendigmachung. Da Jesu Auferweckung und Erhöhung zum Herrn noch nicht die Vollendung seiner Herrschaft ist, sondern die Begründung und die V erbürgung seiner befreienden und zurechtbringenden Herrschaft über alles, ist Gottesgerechtigkeit im Glauben und in der Taufe gegen­wärtig, doch so, daß sie in einem Prozeß begriffen ist, der erst in der Parusie Christi vollendet wird. In diesem Prozeß hat man die Gottes­gerechtigkeit hier stets als zugesprochene, angefochtene und zu bewäh­rende Gabe, also im Zeichen von Verheißung und Anwartschaft58• Dann

58. Vgl. E. Käsemann, Gottesgerechtigkeit bei Paulus, ZThK 58, 1961, 368.

188 Auferstehung und Zukunft ]esu Christi

aber stellt die zugesprochene Gottesgerechtigkeit auf einen Weg, dessen Spannungen und dessen Ziel sie ankündigt. Diese eschatologische Diffe­renz in der Offenbarung Christi durch Evangelium und Verheißung begründet jene geschichtlichen und ethischen Aussagen, mit denen Paulus von dem "Herrschen der Gnade durch Gerechtigkeit" (Röm. 5, 21), vom "Knechtsdienst an der Gerechtigkeit" (Röm. 6, 13; 2. Kor. 3, 9) und vom "Gehorsam gegenüber der Gerechtigkeit" (Röm. 10, 3) spricht. Gottes­gerechtigkeit ist nicht nur offenbar gewordene Gabe, sondern auch die Macht des Gebers, die im Leben des Glaubenden wirksam wird. Darum beginnt der Gerechtfertigte an den Widersprüchen dieser Welt, der er leiblich solidarisch ist, zu leiden, denn er muß im Gehorsam die Gottes­gerechtigkeit an seinem Leibe, auf der Erde und an allen Kreaturen suchen. Ist Gottesgerechtigkeit Gottes Gemeinschaftstreue zu seiner Verheißung und dem Werk seiner Hände, so hat Rechtfertigung zuletzt nicht nur den Sinn, daß der Rechtlose ein Recht bekommt, vor Gott zu stehen und in seinem Gericht zu bestehen, sondern hat auch umgekehrt einen theo­logischen Sinn, daß nämlich Gott in diesem Geschehen zu seinem Recht an seiner Schöpfung kommt. Luther hatte das in der Römerbriefvor­lesung 1516 als ein wechselseitiges Geschehen von justificatio Dei activa et passiva zu deuten versucht: Rechtfertigung heißt, daß Gott den Menschen aus Gnaden rechtfertigt und daß der Mensch Gott recht gibt im Bekenntnis seiner Sünde, so daß in diesem wechselseitigen Geschehen nicht nur der Sünder, sondern auch Gott zu seinem Recht kommt59 • Löst man diese Einsicht Luthers aus der humilitas-Christologie, in der er sie formulierte, so wird man sagen können, daß darum, weil Gottesgerech­tigkeit Gabe und Macht und die Christusgemeinschaft des Glaubens sowohl das Mit-Christus-der-Sünde-Sterben wie das Leben unter seiner Herrschaft im Ausblick auf seine Zukunft ist, das Rechtfertigungsgesche­hen Angeld und Verheißung einer alles umfassenden Ins-Recht-setzung Gottes ist. Kommt Gott in der Rechtfertigung des Sünders zu seinem

59. M. Luther, Vorlesung über den Römerbrief 1515/16, ed. ]. Ficker, 1908, II, 65. Vgl. dazu H. ].!wand, Glaubensgerechtigkeit nach Luthers Lehre, 4. Auf!. 1964, 11 ff. Diese Wendung Luthers, im Rechtfertigungsgeschehen nicht nur Vergebung der Sün­den und Lebensrecht des Gottlosen vor Gott, sondern umgekehrt auch die Rechts­verwirklichung des Herrenrechtes Gottes zu erkennen, wurde der neutestamentlichen Theologie heute durch E. Käsemann wiedergewonnen. Vgl. Neutestamentliche Fragen heute, ZThK 54, 1957, 13 f., Gottesgerechtigkeit bei Paulus, ZThK 58, 1961, 367 ff. Nur mit dieser Wendung kann die Individualisierung des Rechtfertigungsgeschehens in die Offenbarung der Gottheit Gottes aufgehoben werden, und nur wo das geschieht, rückt die justificatio impii in den eschatologischen Horizont der resurrectio mortuorum und der creatio ex nihilo.

Die Zukunft der Gerechtigkeit 189

Recht, so ist diese Rechtfertigung Anfang und Vorschein seiner Allein­herrschafl:. Die im Christusgeschehen latente Gottesgerechtigkeit hat eine innere Tendenz zu einer Totalität des neuen Seins. Der Gerechtfertigte folgt dieser Tendenz im leiblichen Gehorsam. Sein Kampf um Gehorsam und sein Leiden an der Gottlosigkeit der Welt intendieren die Zukunfl: der Gerechtigkeit des Ganzen. So ist dieser Kampf Fragment und Prälu­dium der kommenden Gottesgerechtigkeit, denn schon er gibt Gott recht und schon in ihm kommt Gott zu seinem Recht auf seine Welt. So werden wir auch im Neuen Testament Gottesgerechtigkeit als Ver­heißung verstehen müssen. In ihr wird das Verheißene gegenwärtig dargereicht und wird doch ergriffen in der Hoffnung des Glaubens, die den Menschen bereit macht zum Dienst an der Zukunfl: der Gottes­gerechtigkeit im Ganzen.

§ 12

Die Zukunfl: des Lebens

Lebenserwartung und Wahrnehmung des Todes hängen unmittelbar zusammen in der Liebe. Nur in dem, was einer liebt, ist er verwundbar, und nur in der Liebe leidet der Mensch und nimmt die Tödlichkeit des Todes wahr. Welche Lebenserwartung und welche Todeserfahrung wur­den an den Verheißungen Israels lebendig? Es ist eine allgemein festgestellte und verwunderliche Tatsache, daß sich "der Jahweglaube mit einer besonderen Unduldsamkeit gegen alle For­men des Totenkultes gewendet"60 hat. "Es überrascht, daß die letzte Angst jüdisch sehr lange nicht bedacht und überträumt worden ist. Dies Volk war so diesseitig wie die Griechen, aber es lebte doch unvergleich­lich viel stärker auf Künftiges und Ziele hin. "61 Dieses Rätsel, daß der israelitische Verheißungsglaube mit hartnäckiger Exklusivität in die ge­schichtlichen und die diesseitigen Erfüllungen der Verheißungen verliebt ist, ist die Voraussetzung dafür, die Auferstehung Christi als die Aufer­stehung des Gekreuzigten und nicht als Symbol der Unsterblichkeitshoff­nung und der ihr entsprechenden Lebensresignation zu verstehen. Alles Tote repräsentiert für Israel den äußersten Grad von Unreinheit. Solche Verunreinigungen schließen vom Gottesdienst aus. Zwar gab es in Kanaan die Versuchung, Tote zu beschwören. Doch wird gerade im Wi-

60. G. von Rad, aaO. I, 275. 61. E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Il, 1959, 1323.

190 Auferstehung und Zukunft ]esu Christi

derspruch Israels dagegen deutlich, daß der Verheißungsglaube sich jeder sakralen Gemeinschaft mit den Toten entschlagen muß. Die Toten sind von Gott und der Lebensgemeinschaft mit ihm geschieden. Weil Gott und seine Verheißung Leben bedeuten, darum liegt des Todes eigentliche Bitterkeit nicht nur im Verlust des Lebens, sondern auch im Verlust Got­tes, in der Gottverlassenheit62 • Denn Leben heißt hier Loben und Dan­ken in der Gegenwart Gottes. Im Tode aber ist kein Lobpreis möglich und darum auch kein Dank und keine Übereinstimmung mit Gott. Lo­benkönnen und Nichtmehrlobenkönnen machen hier den Gegensatz von Leben und Tod aus63• Der Tod scheidet den Menschen von Gott, indem er ihn aus den Verheißungen und aus dem Loben reißt. Nicht nur das physische Ende, sondern auch Krankheit, Exil und Bedrängnis können vom lobenden Leben und vom gelobten Leben scheiden und als Tod ver­standen werden. Man hat sein Leben im Loben, Hoffen und Danken Gottes. Tod ist darum Ferne von Gott und Gottesferne. Unter dieser Voraussetzung wird es verständlich, daß die griechische Lehre von der allgemeinen Vergänglichkeit in der Welt des Scheins und von der wesenhaften Unsterblichkeit des wahren Seins der Seele kaum, dagegen aber die Auferstehungshoffnungen an den Rändern des Alten Testamentes und in der spätjüdischen Apokalyptik sehr wohl Eingang in Israel fanden. Diese Erwartung der Auferstehung der Toten steht in ihrer israelitischen Gestalt weder in einem anthropologischen Zusammen­hange- als Hoffnung für den Menschen über den Tod hinaus- noch in einem kosmologischen Zusammenhange - als Einsicht in unsterbliche Sub­stanzen, an denen der Mensch teilhat -, sondern in einem theologischen Zusammenhange- als Auslegung der Macht des Verheißungsgottes, dem auch der Tod sein Red1t nicht rauben kann, sondern der über den Tod hinaus zu seinem Recht kommen muß. So kann sich das Volk der V er­heißung nach Hes. 37, 11 nur noch im Bilde der verdorrten Totenge­beine, d. h. der vernichteten Hoffnung, verstehen und bekommt darüber die prophetische Botschaft einer neuenLebensverheißungJahwes zu hören: "Siehe, ich bringe Lebenshauch in Euch, so daß ihr lebt" (Hes. 37, 5). Das ist eine neue Lebensverheißung, denn sie hat nicht mehr die Be­dingung möglicher Umkehr bei sich, sondern verheißt ein Schaffen Jah­wes an seinem Volke jenseits der Grenze der Zeit und des Möglichen. Sie gewinnt darum die Gestalt der unbedingten, voraussetzungslosen Verheißung des Lebens aus dem Tode auf Grund eines Schaffens Jahwes

62. G. von Rad, aaO. I, 385. 63. Ebd. I, 367: "Loben und nicht mehr Loben stehen einander gegenüber wie Leben und Tod. Der Lobpreis wird zum elementarsten ,Merkmal der Lebendigkeit' schlechthin."

Die Zukunft des Lebens 191

ex nihilo. "Auferweckung der Toten" wird israelitisch also zunächst im Rahmen des Verheißungsglaubens formuliert: es geht nicht um natur­hafte Wiederbelebung, sondern um die Erfüllung der Lebensverheißungen Jahwes am erstorbenen Verheißungsträger. Erst in der Apokalyptik wird "Auferweckung der Toten" universal verstanden in dem Sinne, daß dieser Gott auch über den Tod hinaus zu seinem Gericht und Recht an Ungerechten und Gerechten kommen werde. Das entspricht durchaus der Ausbildung des israelitischen Bekenntnisses zu Gott dem Schöpfer und zu seiner Schöpfertreue. Die spätisraelitischen Gedanken der creatio ex nihilo und der resurrectio mortuorum bezeichnen die eschatologischen Ränder des Verheißungsglaubens64•

Man hat mit Recht gesagt: "Vielleicht liegt in diesem theologischen Va­kuum, um dessen Freihaltung von jeglicher Füllung durch sakrale Vor­stellungen Israel geradezu geeifert hat, eines der größten theologischen Rätsel des Alten Testamentes? Erst an seinem äußersten Rand werden Weissagungen laut, daß Gott den Seinen eine Auferstehung vom Tode bereiten werde. "85 Dieses "Vakuum" religiöser Vorstellungen und Hoff­nungsbilder gegen den Tod läßt auf der einen Seite die Tödlichkeit des Todes am gelobten, aus der Verheißung Gottes empfangenen Leben in seiner Härte unverhüllt erfahrbar werden. Es kann auf der anderen Seite nur durch eine Hoffnung ausgefüllt werden, die ein volles, unverkürztes und vorbehaltloses Ja zum Leben, zum Leibe und zur Erde ermöglicht und dennoch über den Tod hinausführt. Die Auferstehungshoffnung besiegt die Tödlichkeit des Todes nicht, indem sie Leben und Sterben als Inbegriffe der allgemeinen Vergänglichkeit unwesentlich macht, sondern indem sie den Sieg des Lobpreises und damit des Lebens über den Tod und über den Fluch der Gottverlassenheit, indem sie den Sieg Gottes über die Gottesferne ankündigt. Was bedeuten im Zusammenhang dieser Erwartungen Tod und Aufer­stehung Jesu Christi? Im Zusammenhang dieser Lebenserwartungen liegt in seinem Tode am Kreuz nicht nur das Ende des Lebens, das einer hatte, sondern auch das

64. W. Zimmerli, "Leben" und "Tod" im Buch des Propheten Ezedüel, in: Gottes Offen­barung, ThB 19, 1963, 191. Zimmerli verweist darauf, wie Ez. 37 in die Nähe des priesterschriftlichen Schöpfungsberichtes rückt und die konditionalen Lebenszusagen der Propheten - "kehrt um, so werdet ihr leben" - verankert sind in der unkonditional Anfang (Smöpfung) und Ende (Auferstehung der Toten) der Geschichte des Gottesvolkes umsmließenden Lebenszusage Gottes. Vgl. auch Chr. Barth, Die Errettung vom Tode in den individuellen Klage- und Dankliedern des Alten Testamentes, 1947; Robert Martin­Achard, De la mort a la resurrection d'apres ,Ancien Testament', 1956, und die Rezen­sion von Kl. Koch, VuF 1960/2, 1/2, 57-60. 65. G. von Rad, aaO. II, 362.

192 Auferstehung und Zukunft fesu Christi

Ende des Lebens, das einer liebt und auf das einer hofft. Der Tod Jesu wurde erfahren als der Tod des gesandten Messias Gottes und enthält darum auch den "Tod Gottes" in sich. So wird sein Tod erfahren und verkündet als Gottverlassenheit, als Gericht, als Fluch, als Ausschluß von dem verheißenen und gelobten Leben, als Verwerfung und Verdammnis. Im Zusammenhang dieser Lebenserwartungen muß seine Auferstehung dann nicht als Wiederkehr ins Leben überhaupt, sondern als Überwin­dung der Tödlichkeit dieses Todes verstanden werden; als Überwindung der Gottverlassenheit, als Überwindung des Gerichtes, des Fluches, als Anfang der Erfüllung des verheißenen und gelobten Lebens, also als Überwindung dessen, was im Tode tot ist, als Negation des Negativen (Hegel), als Negation der Negation Gottes. Es wird dann weiter verständlich, daß in J esu Auferstehung nicht ein privates Ostern für seinen privaten Karfreitag gesehen wurde, sondern der Anfang und der Ursprung der Aufhebung des universalen Karfrei­tags, jener Gottverlassenheit der Welt, die in der Tödlichkeit des Todes am Kreuz herauskommt. Darum wurde die Auferstehung Christi nicht nur als der erste Fall der allgemeinen Totenauferstehung und als Anfang der Offenbarung der Gottheit Gottes am Nichtsein verstanden, sondern auch als Ursprung des Auferstehungslebens aller Glaubenden und als bestätigte Verheißung, die sich an allen erfüllen und sich an der Töd­lichkeit des Todes selber als unwiderstehlich erweisen werde. Die Wahrnehmung des Auferstehungsgeschehens Christi ist darum eine hoffende und erwartende Erkenntnis dieses Geschehens. Sie nimmt die Latenz des ewigen Lebens, das aus Negation des Negativen, aus der Erweckung des Gekreuzigten und der Erhöhung des V erlassenen, sich im Lobpreis Gottes erhebt, in diesem Geschehen wahr. Sie nimmt die Ten­denz zur Auferstehung der Toten in diesem Geschehen der Auf­erweckung des einen an. Sie folgt der Intention Gottes, indem sie sich in die Dialektik des Leidens und Sterbens in Erwartung des ewigen Lebens und der Auferstehung hineingibt. Dieses wird als das Wirken des heiligen Geistes beschrieben. Der "Geist" ist nach Paulus der "leben­schaffende Geist", der Geist, der Christus von den Toten auferweckt hat und "in denen wohnt", die Christus und seine Zukunft wahrnehmen, und ihre "sterblichen Leiber lebendig machen wird" (Röm. 8, 11). Was hier "Geist" genannt wird, fällt nicht vom Himmel und fährt nicht enthusiastisch in den Himmel, sondern entspringt aus dem Aufer­stehungsgeschehen Christi und ist ein Vorschein und Angeld seiner Zu­kunft, der Zukunft der universalen Auferstehung und des Lebens. "Und wie sich die Macht der sarx darin erweist, daß sie den Menschen an das

Die Zukunft des Lebens 193

Vergängliche, im Grunde immer schon V ergangene bindet, an den Tod, so die Macht des pneuma darin, daß sie dem Glaubenden die Freiheit gibt, die Zukunft erschließt, das Unvergängliche, das Leben. Die Freiheit ist ja nichts anderes als das Offenstehen für die echte Zukunft, das Sich­bestimmen-lassen durch die Zukunft. So läßt sich pneuma als die Macht der Zukünftigkeit bezeichnen. "66 Doch werden Vergangenheit und Zu­kunft im Geist des Glaubens nicht am punctum mathematicum der Gegenwart und nicht an einem nunc aeternum, das in der Luft hängt, differenziert, sondern an jenem geschichtlichen Ereignis der Aufer­weckung des gekreuzigten Christus, an welchem die Macht der Vergäng­lichkeit, die Tödlichkeit des Todes überwunden und ein für alle Mal die Zukunft des Lebens eröffnet sind. Christus ist nicht auferstanden in den Geist oder in das Kerygma, sondern in jenen noch unausgemachten Vorraum der Zukunft, in den hinein die Tendenzen des Geistes und die Ankündigungen des Kerygma weisen. Dieser Vorraum der Zukunft läßt sich nicht auf seinen bloßen Existenzbezug in "Zukünftigkeit" reflektie­ren, sondern ist die Zukunft Jesu Christi und kann darum nur in Wahr­nehmung und Erkenntnis des geschichtlichen, Geschichte stiftenden und -eröffnenden Ereignisses der Auferstehung Christi ermessen werden. Der "Geist", der des "Fleisches Geschäfte tötet" und die Freiheit für die Zu­kunft schenkt, ist nicht ein ewiges Ereignis, sondern entspringt aus einem geschichtlichen Ereignis und eröffnet eschatologische Möglichkeiten und Gefahren. Er ist als Erinnerung Christi Verheißung seiner Zukunft und umgekehrt. Darum führt er in die "Gemeinschaft der Leiden Christi", in die Gleichgestaltung seines Todes, in die Liebe, die sich dem Sterben aussetzt, weil sie von der Hoffnung getragen wird. Darum führt er in die Zukunft jener Verklärung Jesu Christi, an der die Zukunft und die Verklärung des Menschseins und der Dinge hängt. "Wie er gekreuzigt ist aus Schwachheit, aber aus der Kraft Gottes lebt, so sind auch wir schwach durch ihn, aber werden mit ihm leben aus der Kraft Gottes" (2. Kor. 13, 4). So ist der Geist die Kraft des Leidens in der Teilnahme an der Sendung und an der Liebe J esu Christi und ist in diesem Leiden die Leidenschaft für das Mögliche, für das Kommende und Verheißene der Zukunft des Lebens, der Freiheit und der Auferstehung. Der Geist stellt den Menschen in die Tendenz dessen, was in der Auferstehung Jesu latent ist und was mit der Zukunft des Auferstandenen intendiert ist. Auferstehung und ewiges Leben sind die verheißene Zukunft und damit die Ermöglichung von leiblichem Gehorsam. Jede Tat ist Saat auf Hoff-

66. R. Bultmann, Theologie des Neuen Testamentes, 1953, 331.

194 Auferstehung und Zukunft fesu Christi

nung. So sind auch Liebe und Gehorsam Saat auf die Zukunft leiblicher Auferstehung hin. Im Gehorsam sind die im Geiste Lebendiggemachten unterwegs zur Lebendigmachung des sterblichen Leibes. So wie Verheißung zur Erfüllung, wie der Glaube zum Gehorsam und zum Schauen und die Hoffnung zum gelobten und endlich gelungenen Leben drängen, so drängt die Auferweckung Christi zum Leben im Geist und zum alles erfüllenden ewigen Leben. Dieses ewige Leben ist hier verborgen unter seinem Gegenteil, unter Anfechtung, Leiden, Sterben und Trauer. Doch ist diese seine Verborgenheit nicht ein ewiges Paradox, sondern Latenz in Tendenz, die nach vorne und nach draußen in den offenen, von Verheißungen durchzogenen Vorraum des Möglichen drängt. Im Dunkel des Schmerzes der Liebe entdeckt der Hoffende die Entzweiung von Ich und Leib67• Im Kampf um Gehorsam und um das

67. Die Interpretation von aüip.a. und Leiblichkeit bei R. Bultmann (Theologie des Neuen Testamentes, 191 ff.) scheint zu einseitig personalistisch zu sein. Für ihn ist aüiiJ'a. der Mensch, ,.die Person als ganze". ,.Er heißt aüiiJ'a., sofern er sich selbst zum Objekt seines Tuns machen kann oder sich selbst als Subjekt eines Geschehens, eines Erleidens erfährt. Er kann also aüiiJ'a. genannt werden, sofern er ein Verhältnis zu sich selbst hat" (192). ,.Der Mensch hat nicht ein aüiiJ'a., sondern er ist crüiiJ'a." (191 ). Mit dem ersten Satz wird zweifellos zutreffend wiedergegeben, was die neuere philosophische Anthropologie als die ,.exzentrische Position" des Menschen bezeichnet. Der zweite Satz aber hebt die Dialektik der exzentrischen Position des Menschseins auf. "Er ist weder allein Leib noch hat er allein Leib (Körper). Jede Beanspruchung der physischen Existenz verlangt einen Ausgleich zwischen Sein und Haben, Draußen und Drinnen" (H. Plessner, Lachen und Weinen, 3. Aufl. 1961, 48). Bultmann sieht in jenem ,.ein Verhältnis zu sich selbst Haben" des Menschen die Möglichkeit gegeben, ,.mit sich selbst einig zu sein oder sich selbst entfremdet, mit sich zwiespältig zu sein" (192). Das crüiiJ'a. meuiJ'a.'t:t:>t6v kann darum als Versöhnung des Zwiespaltes im Menschen zwischen Ich und Im verstanden werden (195). Es entspricht diesem Verständnis der Leiblid:lkeit als dem Verhältnis des Mensd:len zu sich selbst, wenn für G. Ebeling der Mensd:l im Glauben ,.zu sid:l selbst" kommt und zur Einstimmigkeit mit sich selbst gelangt (Theologie und Verkündigung, 1962, 84 ff.). Nun ist aber das Verhältnis des Menschen zu sich selbst nicht identisch mit seinem Ver­hältnis zu seinem Leibe. Seine leibliche, physische und soziale Existenz ist nicht identisd:l mit ,.Existenz" als dem Verhältnis zu sich selbst. Beide hängen so miteinander zu­sammen, daß der Mensch in dem Maße, wie er Selbst- und Subjektivitätsbewußtsein in der Reflexion bekommt, er ein gegenständliches Weltbewußtsein gewinnt und er seine leiblid:le, soziale und kosmische "Umwelt" zur gegenständlichen Welt distanziert. ,.Menschwerdung ist Erhebung zur Weltoffenheit kraft des Geistes" (M. Scheler, Die Stellung des Mensd:len im Kosmos, 2. Aufl. 1949, 41). Was dem Menschen als seine Leiblichkeit bewußt wird, ist gerade nicht das "Selbst", sondern das, wovon der Mensch sich selbst zu differenzieren versteht. Die Tatsache, daß er kraft Geist, Bewußtsein und Reflexion sich von sich selbst differenzieren kann, sich zu objektivieren vermag, macht die Doppeldeutigkeit seines Existierens aus: weder vermag er er selber zu sein, ohne sich zu haben, noch vermag er sich zu haben, ohne er selbst zu sein; weder gelingt ihm gänzliche Differenz und Objektivität, noch gänzliche Identität hinsichtlich seiner selbst. Stellt ihm die Verheißung der Rechtfertigung Versöhnung und Identität in Aussicht, so kann sie nicht allein Versöhnung des Menschen mit sich selbst meinen, sondern muß auch Erlösung seiner Leiblichkeit und der ihm gegenständlich gewordenen Welt meinen.

Die Zukunft des Lebens 195

Gottesrecht am Leibe entdeckt er den Widerspruch des Fleisches und seine Unterworfenheit unter die Feindschaft des Nichtigen und des Todes. Indem er auf den Sieg des Lebens zu hoffen und auf Auferstehung zu warten beginnt, nimmt er die Tödlichkeit des Todes wahr und vermag sich nicht mehr mit ihr abzufinden. Die Leiblichkeit, die so an der Hoff­nung heraustritt, ist offensichtlich der Ansatzpunkt für die Solidarität der Glaubenden mit der ganzen Kreatur, die wie er der Nichtigkeit unterworfen ist - auf Hoffnung hin. Die Leiblichkeit, auf deren Erlösung der Hoffende wartet, weil sie noch nicht geschehen ist, ist der existen­tielle Ansatzpunkt für die Universalität der christlichen Hoffnung und für das noch Unausgemachte des Erhofften. Die Hoffnung auf die Er­lösung des Leibes und die Hoffnung auf die Erlösung aller Kreatur von der Nichtigkeit sind eine Sache. Darum hängt an dieser Hoffnung auf Erlösung des Leibes die Universalität der christlichen Hoffnung. Auf der anderen Seite nimmt der Hoffende an den Widersprüchen des Leibes, an der schmerzlichen Differenz zwischen dem, was er hofft, und dem, was er erfährt, die Ausständigkeit seiner erhofften Zukunft wahr. Darum hängen an der Differenz zwischen Hoffnung und leiblicher Wirklichkeit die auf­klaffende Offenheit und das Futur der christlichen Hoffnung. Die kosmi­schen Vorstellungen der christlichen Eschatologie sind darum keineswegs mythologisch, sondern greifen in den offenen Vorraum des Möglichen vor aller Wirklichkeit hinein, formulieren das "Harren der Kreatur" auf nova creatio und präludieren das ewige Leben, den Frieden und die

Darum nimmt er kraf!:t der Verheißung und des hl. Geistes nicht nur seine Versöhnung, sondern damit zusammen zugleich die Unversöhntheit und Unerlöstheit des dem Tode unterworfenen Leibes und der den gottlosen Mächten unterworfenen Welt wahr. Die Versöhnung im Geiste versöhnt ihn noch nicht mit seinem Leibe und seiner Welt, so daß ihm diese zur "Umwelt" würden, so daß er wie das Tier (oder die Engel) zur Har­monie mit seiner Umgebung im Seienden gelangen könne. Es ist darum richtig, wenn E. Käsemann gegen Bultmann behauptet, daß "Leib" für Paulus eben nicht das Ver­hältnis des Menschen zu sich selbst, sondern jenes Stüdt Welt sei, das wir selber sind und für das wir als Gabe des Schöpfers Verantwortung tragen. "Es ist für den Apostel der Mensch in seiner Weltlichkeit, also in seiner Kommunikationsfähigkeit" (ZThK 59, 1962, 282). Wenn die Wahrnehmung seiner Leiblichkeit für den Menschen in seiner Erhebung zur Weltoffenheit kraf!: des Geistes begründet ist, wenn seine Leiblichkeit nicht das "Selbst" ist, sondern das, wovon er sich selbst zu differenzieren vermag, dann rüdten die Wahrnehmung der Leiblichkeit, der Sozialität und der Weltlichkeit zusammen. Dann ist die Wahrnehmung der unerlösten Leiblichkeit Ansatzpunkt für die Wahrnehmung der Solidarität des Menschen mit der ganzen unerlösten Kreatur. Dann kommt an diesem Zusammenhang endlich auch der existentielle Charakter aller gegenständlichen Aussagen des Menschen zum Vorschein. Objektive Aussagen sind keineswegs selbst- und existenzvergessene Aussagen, sondern gründen in der existentiellen Erhebung des Men­schen zur Weltoffenheit kraft des Geistes. Von hier aus wären Entmythologisierung und existentiale Interpretation zu überprüfen.

196 Auferstehung und Zukunft ]esu Christi

Heimat der Versöhnung aller Dinge. Sie bringen nicht nur zum Vor­schein, was in der "Weltoffenheit" des Menschen Zukunft bedeutet, son­dern auch was in der "Menschenoffenheit" der Welt Zukunft bedeutet (Vgl. das "Harren der Kreatur" und die "Freiheit der Kinder Gottes" in ihrem Korrespondenzverhältnis in Röm. 8, 20 ff.). An dem, was die Hoffnung auf Auferstehung und versöhntes, gelunge­nes Leben an der vorhandenen und erfahrbaren Wirklichkeit des Men­schen und der Welt differenziert und als das Negative enthüllt, wird das Positive der erhofften Zukunft für Mensch und Welt, für Geist und Leib, für Israel und die Völker, als Negation des Negativen zunächst aussagbar. Der "neue Himmel und die neue Erde, auf der Gerechtigkeit wohnt" (2. Petr. 3, 13), daß "Gott abwischen wird alle Tränen von ihren Augen und der Tod nicht mehr sein wird, noch Leid, Schmerz und Ge­schrei mehr sein werden" (Off. Joh. 21, 3 f.), das in der Klarheit Gottes aufgedeckte Angesicht und die durch den Geist der Auferstehung ver­klärte Leiblichkeit (1. Kor. 15, 35 ff.) sind solche Vor-stellungen und Bilder, in denen die Zukunft an den Erfahrungen einer negativen Gegen­wart vor-gestellt und "vor-heißen" wird, wie es früher hieß. Diese Vorstellungen und Bilder sind Fragmente aus einem durch die Hoffnung in seiner Beschädigung aufgedeckten und darum erlittenen Leben. Das Buch der Apokalypse ist das Buch der Märtyrer. Mögen diese Vorstel­lungen und Bilder zeitbedingt sein - sie sind es und müssen es sein, wenn sie zeitkritisch sein wollen -, so ist mit ihnen doch etwas intendiert, was den status quo allemal überschreitet und ihn in Bewegung bringt. Solange nicht "alles sehr gut" ist, bleibt die Differenz der Hoffnung zur Wirklichkeit, bleibt der Glaube unabgefunden und muß er hoffend und leidend die Zukunft bedrängen. So führt auch die Verheißung des Lebens aus der Auferstehung Christi in die Tendenz des Geistes, der im Leiden lebendig macht und auf das Lob der neuen Schöpfung aus ist. Das ist so etwas wie "progressive Offenbarung" oder "sich realisierende Eschatolo­gie", nur handelt es sich um den progressus gratiae selber. Nicht die objektive Zeit macht den Fortschritt. Nicht menschliche Aktivität macht die Zukunft. Es ist die innere Notwendigkeit des Christusgeschehens selber, dessen Tendenz darauf hinausläuft, das in ihm latente ewige Leben und das in ihm latente Recht Gottes an allem herauszubringen.

§ 13

Die Zukunft des Reiches Gottes und der Freiheit des Menschen

Die eigentliche Mitte und der ständig verwendete und inhaltlich sich wandelnde Grundbegriff der Eschatologie liegt zweifellos in dem, was als "Reich Gottes" und "Gottesherrschaft" verheißen und erwartet wird. Offenbar hat sich schon in Israels Frühzeit die Hoffnung auf Grund der Verheißung auf die Herrschaft Jahwes gerichtet. In seiner wirklichen, geschichtlichen Herrschaft zeigt sich seine Herrlichkeit. In der treuen und mächtigen Erfüllung seiner Verheißungen zeigt er sich als er selber, als Gott und Herr. Mit der Erwartung der Herrschaft Gottes verbunden ist die Erwartung, daß sein Volk, die Menschen und alles, was er ge­sdlaffen hat, zum Heil, zum Frieden, zum Glück, zum Leben, kurz, zu seiner wahren Bestimmung gelange. Der Glaube an seine Herrschaft findet im Bekenntnis, daß Jahwe König ist (Ri. 8, 22), seinen Ausdruck. Geht man in die nomadische Zeit israelitischer Stämme zurück, so stößt man auf den Gedanken, daß Jahwe der voranziehende Führer seines Volkes ist, daß er herrscht, indem er als Hirte führt, Weisungen erteilt, Rat gibt und die von ihm gewollte Zukunft anzeigt68• Seine Herrsdlaft meint also nicht zuerst ein Weltkönigtum über die naturhafte Umwelt des Menschen, sondern Führung in die Landschaften der Verheißung, also geschichtliche Herrschaft, die sich in einmaligen, unwiederholbaren, überraschend neuen, zielgerichteten Ereignissen zeigt. Gottesherrschaft meint ursprünglich Herrschaft in Verheißung, Treue und Erfüllungen. Leben unter seiner Herrschaft meint dann entsprechend ge­schichtliche Wanderung im Aufbruch und gehorsamer Zukunftsbereit­schaft; Leben, das aus Verheißung empfangen wird und auf Verheißung offen ist. Erst in den Auseinandersetzungen mit den Naturreligionen und mit theophanen Weltvorstellungen in Palästina, im Zusammenhang mit der Ausbildung des Schöpfungsglaubens und der prophetischen Eschatologie wird die Vorstellung von der Gottesherrschaft universal und wird zugleich diese Universalität der Herrschaft des einzigen Gottes eschatologisch verstanden. Die Rührnungen der Königsherrschaft Gottes über alle Dinge, sein Kommen, Recht und Gericht auf dem Erdboden, sind bezogen auf den Gott, der mit Israel unterwegs ist, den Gott der Verheißung und des Exodus. So können die Vorstellungen von der uni­versalen Theophanie angefüllt werden mit naturreligiösen Vorstellungen und diese doch zugleich auf dem Boden des geschichtlichen Verheißungs­glaubens in einen eschatologischen Rahmen gestellt werden.

68. Vgl. M. Buber, Königtum Gottes, 2. Aufl. 1936.

198 Auferstehung und Zukunft ]esu Christi

Es sind in der Vorstellung der Gottesherrschaft zwei Momente mitein­ander verknüpft: die Erinnerung und das Vertrauen auf seine geschicht­liche Herrschaft und die Erwartung seiner universalen Herrschaft, in der die Welt und alle Völker und Dinge zu seinem Universum, zu seiner Herrschaft und zu seinem Lobpreis werden. Beides kann nicht so differenziert werden, als wäre das erste nationale Beschränktheit und das zweite universaler Kosmosglaube. Vielmehr gründet die universale Erwartung in der Erinnerung an die spezielle geschichtliche Wirklichkeit seines herrscherliehen Handeins in Israel. Daß nach dem Zerbrechen der geschichtlichen Eigenständigkeit Israels die Er­wartung der Gottesherrschaft in der rabbinischen Theologie im Gehor­sam des Thoragerechten vergegenwärtigt wurde und in der apokalyp­tischen Theologie durch weltgeschichtliche Spekulationen futurisiert wurde und sein Kommen an weltgeschichtliche Abläufe delegiert wurde, zeigt die Unmöglichkeit an, ohne neue Erfahrungsgehalte die Verhei­ßung der Gottesherrschaft sowohl geschichtlich wie eschatologisch zu begreifen. Im Neuen Testament ist die ßaa~A.e.[a offensichtlich ein zentraler Begriff vornehmlich in der synoptischen Tradition, hier allerdings in allen Ober­lieferungsschichten. Namentlich werden Botschaft und Handeln, Wunder und Gleichnisse des vorösterlichen Jesus mit "Reich Gottes" wieder­gegeben. Jesus verkündigt das messianische Reich Gottes. Das Besondere seiner Verkündigung des Reiches liegt darin, daß er die Nähe, das Ein­gehen und Ererben des Reiches an die Entscheidung und Stellung der Hörer zu seiner eigenen Person bindet. Die Zukunft der Gottesherrschaft ist unmittelbar mit dem Geheimnis seiner eigenen Gegenwart ver­bunden. Dieses kann so verstanden werden, daß er als der letzte Prophet des kommenden Reiches die Entscheidung der Menschen angesichts seiner Botschaft zur letzten, und in diesem Sinne eschatologischen Entscheidung qualifiziert. Dieses kann auch als Transformation der Reich-Gottes-Tradition ver­standen werden. Dann hat Jesus die apokalyptische Frage nach den Ter­minen und geschichtlichen Umständen des Anbruches des Reiches über­wunden "durch die Konzentration auf den Existenzsinn der Ankündi­gung des Reiches"69 • Indem er seine Stunde als die letzte Stunde der Entscheidung verkündigt, entmythologisiert Jesus selbst die apokalyp­tischen Reichsbilder um der existentiellen Aktualisierung willen. "Die

69. H. Conzelmann, Art. Reich Gottes, RGG 3. Aufl. V, Sp. 915.

Die Zukunft des Reiches Gottts und die Freiheit des Menschen 199

eschatologische Verkündigung wie die sittliche Forderung weisen den Menschen auf sein Gestelltsein vor Gott, auf Gottes Bevorstehen, sie weisen ihn auf sein Jetzt als in die Stunde der Entscheidung für Gott. "70

Dann aber läge das Besondere der Reichsbotschaft J esu in deren existen­tieller Ethisierung, zu deren Gunsten alle kosmologisch-apokalyptischen Vorstellungen verblassen. Aus ihr allein aber entsteht für die urchrist­liche Gemeinde noch kein Grund und auch kaum ein Recht, seine Ver­kündigung fortzusetzen. Der Grund und das Recht der christlichen Gemeinde, seine Verkündigung fortzusetzen und sie auch ihrerseits zu transformieren, liegt doch in dem Ereignis, um dessentwillen sie überhaupt Jesu Reden und Handeln erinnerte und ihn selbst als den Herrn aller Welt verkündigte, nämlich in den Ostererscheinungen des Auferstandenen. Die Ostererscheinungen aber sind in einem apokalyp­tischen Erwartungshorizont wahrgenommen und verkündigt worden: Auferstehung als eschatologisches Ereignis - Jesus der Erstling der Auf­erstehung. Das Verständnis Jesu, das sich vom Geschehen der Aufer­weckung des Gekreuzigten durch Gott ergibt, mußte die Gemeinde mit der Erinnerung an das Verständnis Gottes und seines Reiches, das sich aus Jesu Worten und Taten ergibt, verbinden71 • Der eschatologische Entscheidungscharakter seiner Verkündigung der nahen Gottesherrschaft mußte darum auf den Entscheidungscharakter der Botschaft vom ge­kreuzigten und auferweckten Herrn übertragen werden. Damit aber gewann die Verkündigung der Gottesherrschaft einen neuen apokalyp­tischen Charakter und konnte mit den messianisch-apokalyptischen Christustiteln, wie Menschensohn, verbunden werden. Darin liegt eine Diskontinuität zwischen der Reichsbotschaft J esu und der christologischen Reichsootschaft der Gemeinde, wie es in dem Wort von A. Schweitzer sinnfällig zum Ausdruck kommt: Jesus verkündigte das Reich, und die Kirche verkündigte - ihn. Doch besteht diese Diskontinuität zu Recht. Die Gemeinde hat nicht das Selbstbewußtsein oder das Selbstverständnis Jesu fortzusetzen, sondern zu verkündigen, wer er ist. Das aber ergibt sich erst vom Ende her, d. h. vom Kreuz und von den Ostererscheinungen als dem Vorschein seines eschatologisch noch ausstehenden Zieles und 70. R. Bultmann, Theologie des Neuen Testamentes, 20. 71. Vgl. zum Folgenden die Diskussion um Gottesreich und Menschensohn: Pb. Viel­hauer, Gottesreich und Menschensohn in der Verkündigung Jesu, Festschr. f. G. Dehn 1957, 51 ff.; H. E. Tödt, Der Menschensohn in der synoptischen Überlieferung, 1959; E. Schweizer, Der Menschensohn, ZNW 50, 1959, 185 ff.; Ph. Vielhauer, Jesus und der Menschensohn, ZThK 60, 1963, 133 ff., an dessen systematische Bemerkungen zum Pro­blem, inwiefern sich Jesus nicht, die Gemeinde ihn aber mit Recht als den erwarteten Menschensohn verstand (173 f.), wir anknüpfen (jetzt a.: Aufsätze z. NT, Th.B. Bd. 31, 1965, s. 135 ff.).

200 Auferstehung und Zukunft ]esu Christi

Endes. Die Basis der christologischen Aussagen der Gemeinde ist nicht das Selbstverständnis J esu, sondern das, was ihm in Kreuz und Auf­erweckung geschehen ist. Sein Tod und seine Auferweckung markieren die Diskontinuität zwischen dem historischen Jesus und der urchrist­lichen Christologie. Seine Identität aber, die darin liegt, daß der als auferstanden Erscheinende der Gekreuzigte und kein anderer ist, ist zugleich die Brücke zum historischen Jesus, ist Grund und Anlaß für die historische Erinnerung an Jesu Verkündigung und Tun. Diese Erinne­rung mag in der evangelischen Tradition der Urchristenheit von man­chem Auferstehungs- und Geistenthusiasmus getrübt sein, doch sind die österlichen Christophanien der einzige zureichende Grund für die er­innernde Vergegenwärtigung seiner Verkündigung, ebenso wie sein Kreuz der einzig zureichende Grund ist, über dem sog. Ausbleiben der Parusie des Reiches seine Verheißung des Reiches nicht zu vergessen. Die evangelischen Berichte müssen dabei nicht unter das Verdikt einer phan­tasievollen Rückprojektion des Auferstehungsglaubens fallen. Sie erin­nern Jesus auf Grund der durch die Auferstehungserscheinungen geweck­ten Erwartungen auf seine Zukunft und stellen den irdischen, gekomme­nen Jesus im Lichte seiner mit Ostern erhoffbaren Zukunft dar. Diese Hoffnungen sind zweifellos ein starkes Motiv für historische Erinnerung und auch für historische Entdeckungen. Nicht aus seinem wie immer be­schaffenen Selbstverständnis, sondern aus dem mit Ostern glaubhaften und erhoffbaren Verständnis seiner Zukunft erschließt sich, was er "in Wirklichkeit" war und ist. Nicht die Erinnerung an den toten Meister im Lichte seines Todes, sondern die Erfahrung von Ostern nötigt zur Identifizierung Jesu. Nur die rätselhafte dialektische Identität des Auf­erstandenen mit dem Gekreuzigten nötigt zur Annahme einer Konti­nuität der urchristlichen Christologie mit der Botschaft Jesu selbst. Das "Selbstbewußtsein" Jesu nötigt nicht, ihn im Bewußtsein zu behalten, wohl aber ist das - von den Auferstehungserscheinungen geprägte -Bewußtsein von Jesus genötigt, nach seiner eigenen Kontinuität mit dem Bewußtsein Jesu zu fragen. Wenn aber so die Auferweckung Jesu von den Toten in die christliche Reichsbotschaft hineingehört, dann läßt sie sich kaum länger auf ihren "Existenzsinn" konzentrieren und existentiell ethisieren, sondern dann ist man genötigt, den universalen Horizont von Hoffnung und Ver­heißung über alle Dinge ebensoweit zu entfalten wie es die Apokalyptik getan hatte; - nicht in derselben Weise, aber in derselben kosmischen Weite. Darum sollte man nicht nur von Gottesherrschaft sprechen und damit die eschatologische Betroffenheit der Existenz des Menschen von

Die Zukunfl des Reiches Gottes und die Freiheit des Menschen 201

der absoluten Forderung meinen, sondern auch wieder vom Reiche Gottes und damit die eschatologische Weite seiner Zukunft für alle Dinge ent­falten, in die hinein die Sendung und die Liebe Christi den Hoffenden führen. Sind die im eschatologischen Erwartungshorizont wahrgenommenen Ostererscheinungen J esu Anlaß für die Erinnerung und Aufnahme der Reichsbotschaft Jesu, so sind sie zugleich auch Anlaß für die Verwand­lung dieser Reichsbotschaft. Die von Jesu Reichsbotschaft offen gehaltene Zukunft wird durch seine Auferstehungserscheinungen bestätigt, im Vor­schein als Anbruch seiner Parusie gewiß gemacht und benennbar als seine Zukunft. Es setzt sich in den späteren Schichten der synoptischen Tradition ein christologisches Verständnis des Reiches Gottes durch, in dem in Anknüpfung an die jüdische Vorstellung vom messianischen Reich die Vorstellung vom Reiche Christi, bzw. des Menschensohnes entwickelt wird. Es wandelt sich dann aber auch die Vorstellung vom Reich Gottes selber. Zwar bleibt die Ausrichtung auf die gegenwärtige Entscheidung zu neuem Gehorsam erhalten, aber dieser Ruf, der im Gehorsam ins neue Leben ruft, gewinnt Rückhalt und Ausblick in der Auferweckungs­tat Gottes. Der Herr des Reiches ist allein der Gott, "der Jesus von den Toten auferweckt hat" und sich darin als der creator ex nihilo beweist. Sein Reich kann dann nicht mehr in einer geschichtlichen Veränderung der gottlosen Zustände der Welt und der Menschen gesehen werden. Seine Zukunft ergibt sich nicht aus den Tendenzen der Weltgeschichte. Sein Herrschen ist sein Totenauferwecken und besteht darin, daß er das, was nichts ist, ins Sein ruft, und das da nichts ist, erwählt, daß er zunichte mache, was etwas ist (1. Kor. 1, 28). Damit wird es unmöglich, sich das Reich Gottes heilsgeschichtlich-deistisch als Ergebnis der Weltgeschichte oder eines Wehenplanes Gottes vorzustellen. Damit wird es auch un­möglich, sich das Reich Gottes "ohne Gott" vorzustellen und "Gott" selber als das "höchste Gut" ins Ideal des Reiches aufzulösen. Endlich hat das Rätsel der Ostererscheinungen - in der hellenistischen Gemeinde als "Erhöhung" verstanden - auch dazu geführt, Jesus als erhöhten Kultkyrios zu verstehen und sein Reich als seine verborgene himmlische Herrschaft zu preisen. So wurde, in welchem Vorstellungs­horizont auch immer, die Deutung der Auferstehung des Gekreuzigten maßgeblich für das Verständnis der Reich-Gottes-Verheißung. Aus den sehr verschiedenen V erständnissen, die sich so ergeben, halten wir folgende Züge fest: 1. Die Erfahrungen von Kreuz und Auferstehungserscheinungen J esu prägen die Reich-Gottes-Botschaft neu. Sein Kreuz und seir.e Auferste-

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hung "verstellen" in gewisser Weise die von ihm selbst offen gehaltene Zukunft und Ankunft des Reiches Gottes. Zugleich aber nimmt die Herr­schaft Gottes damit die konkrete Gestalt dieses Geschehens der Aufer­weckung des Gekreuzigten an. In diesem Geschehen ist das Reich Gottes nicht nur christologisch verstellt, sondern konkret vor-gestellt. Ist Jesus von den Toten auferweckt, so kann das Reich Gottes nichts geringeres als nova creatio sein. Ist der Auferstandene der Gekreuzigte, so ist das Reich teeturn sub cruce. Die kommende Herrschaft Gottes wird im Lei­den der Christen hier Gestalt, die sich auf Grund ihrer Hoffnung nicht der Welt gleichstellen können, sondern durch die Sendung und die Liebe Christi in die Nachfolge und Gleichgestaltung seiner Leiden hineingezo­gen werden. Mit dieser Beachtung des Kreuzes und der Auferstehung Christi wird das "Reich Gottes" nicht spiritualisiert und zu einer jenseiti­gen Größe, sondern wird diesseitig und wird zum Widerspruch und Gegensatz zu einer gottlosen und gottverlassenen Welt. 2. Mit der Erfahrung des Kreuzes und der Auferstehung J esu wird das "Reich Gottes" nicht nur christologisch verstanden, sondern auch auf eine neue Weise eschatologisch. Die ältesten Gemeinden lebten auf Grund der Kreuzes- und Ostererfahrungen nicht in einer "erfüllten Zeit", sondern der Zukunft entgegenharrend. Zwar konnten die Oster- und Geisterfah­rungen zu einer Erfüllungseschatologie des Geistes Anlaß geben, durch die die Erfahrungen des Kreuzes und des Widerspruchs der Wirklichkeit im Geiste überwunden zu sein schienen. Allein der Realismus des irdi­schen Kreuzes Jesu und des in der Sendung überall wahrnehmbaren Widerspruchs einer unedösten Welt ließen diesen religiösen oder kul­tischen Doketismus als Irrtum erscheinen. So hat sich gerade bei Paulus ein eschatologisches Verständnis des noch ausstehenden Reiches Gottes gegen den eschatologischen und kultischen Enthusiasmus durchgesetzt. Wenn die Auferweckung Jesu von den Toten Grund zu einer neuartigen Reichshoffnung bietet, dann kann die verheißene Zukunft noch nicht in der Geistbegabung selber liegen, sondern der "Geist« wird selber zum "Angeld" der noch ausstehenden Zukunft und "kämpft" daher gegen die "Werke des Fleisches". Wenn das Reich Gottes die Auferweckung der Toten impliziert, dann ist es neue Schöpfung, und dann kann der "erhöhte Herr" nicht als einer unter vielen Kultherren oder als der "wahre Kultherr" verstanden werden, sondern nur als der Kosmokrator. Die Herrschaft des auferstandenen und erhöhten Christus, wie sie in der Erhöhungschristologie der hellenistischen Gemeinde verstanden wurde, ist selber eschatologisch vorläufig und dient dem Zwecke der Alleinherr­schaft Gottes, in der alle Dinge neu werden. Dann aber verstellt das

Die Zukunfl des Reiches Gottes und die Freiheit des Menschen 203

christologische Verständnis der Reichsbotschaft nicht die Reichsbotschaft Jesu, sondern macht diese universal, öffnet sie für eine Totalität des neuen Seins. Die Ostererscheinungen werden dann zum Anlaß, die Herr­schaft Gottes über den Tod und die Gerechtigkeit Gottes an allen ver­gänglichen Dingen zu erwarten. Beginnt das Reich Gottes gleichsam mit einem neuen Schöpfungsakt, so ist endlich der Versöhner der Schöpfer, und so muß die eschatologische Aussicht auf Versöhnung die Versöhnung der ganzen Kreatur meinen und eine Eschatologie aller Dinge entfalten. Im Kreuz wird die Gottverlassenheit aller Dinge erkennbar, und mit dem Kreuz wird die reale Ausständigkeit des Reiches Gottes, in dem alle Dinge zu Recht, Leben und Frieden gelangen, erkennbar. Darum kann das Reich Gottes nichts Geringeres meinen als Auferstehung und neue Schöpfung, und die Reichshoffnung kann sich mit nichts Geringerem zufrieden geben. Um dieser Universalität willen führt die neue Reichs­hoffnung ins Leiden an der Verlassenheit und Unerlöstheit, an der Unterworfenheit aller Dinge unter das Nichtige. Sie führt in eine Solida­rität der Angst und des Harrens der ganzen Schöpfung nach der Freiheit der Kinder Gottes (Röm. 8, 22) und nimmt darin die Sehnsucht, die Qual, die unerfüllte Offenheit auf Gottes Zukunft in allen Dingen wahr. So ist das Reich Gottes hier gegenwärtig als Verheißung und Hoffnung für den Zukunftshorizont aller Dinge, die darum in ihrer Geschichtlich­keit wahrgenommen werden, weil sie ihre Wahrheit noch nicht in sich haben. Ist es als Verheißung und Hoffnung gegenwärtig, so wird diese seine Gegenwart bestimmt durch den Widerspruch des Zukünftigen, Mög­lichen und Verheißenen gegen eine schlechte Wirklichkeit. In der Reforma­tion hieß es, das Reich Gottes sei teeturn sub cruce et sub contrario. Man meinte damit, das Reich Gottes sei hier verborgen unter seinem Gegen­teil: seine Freiheit unter der Anfechtung, sein Glück unter dem Leiden, sein Recht unter der Rechtlosigkeit, seine Allmacht unter der Schwach­heit, seine Herrlichkeit unter der Unkenntlichkeit. Damit wurde das Reich Gottes in der Gestalt der Herrschaft des Gekreuzigten erkannt. Dieses ist eine richtige und unaufgebbare Erkenntnis. Nur endet das Reich Gottes nicht in der paradoxalen Gestalt dieser seiner Gegenwärtig­keit. Seine paradoxe Verborgenheit "unter dem Widerspiel" ist nicht seine ewige Gestalt. Denn es ist ja erst die Auferstehungshoffnung und die Sendung Christi, das Hungern nach Gerechtigkeit in allen Dingen und der Durst nach dem wahren Leben, die in das Leiden, in die Schwachheit, in die Rechtlosigkeit und in die Unkenntlichkeit hinein führen. Der Widerspruch ergibt sich nicht von selbst aus den Erfahrun­gen des Menschen mit der Geschichte, mit Schuld und Tod, sondern er er-

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gibt sich aus der Verheißung und der Hoffnung, die diesen Erfahrungen widersprechen und es nicht mehr erlauben, sich mit ihnen abzufinden. Entfaltet die Verheißung des Reiches Gottes einen universalen eschatolo­gischen Zukunftshorizont über alle Dinge- "daß Gott sei alles in allem"-, so ist dem Hoffenden die religiöse oder kultische Resignation von der Erde unmöglich. Er ist vielmehr genötigt, sich in Sanftmut der dem Tode und den Mächten des Nichtigen unterworfenen Erde anzunehmen und alle Dinge ihrem neuen Sein entgegenzuführen. Er wird heimatlos mit den Heimatlosen um der Heimat der Versöhnung willen. Er wird fried­los mit den Friedlosen um des Friedens Gottes willen. Er wird rechtlos mit den Rechtlosen um des Gottesrechtes willen, das kommt. Die Verheißung des Reiches Gottes, in dem alle Dinge zu Recht, zum Leben und zum Frieden und zur Freiheit und zur Wahrheit gelangen, ist nicht exklusiv, sondern inklusiv. Und so ist auch seine Liebe, seine Nächstenschaft und sein Mitleiden inklusiv, nichts ausschließend, sondern alles das in die Hoffnung einschließend, an dem Gott sein wird alles in allem. Die pro-missio des Reiches begründet die missio der Liebe in die Welt. Sie begründet die Entäußerung des Geistes in den leibhaften Gehorsam, weil und damit das "Innen" das "Außen" werde, die Wirklichkeit ver­nünftig und die Vernunft wirklich, wie Hegel sagte und wie man es theologisch verstehen kann, wenn man unter der Vernunft den Geist Gottes versteht, unter dessen "Angeld" die Sehnsucht nach einer geist­erfüllten und geistgewirkten Wirklichkeit entsteht. (Röm. 8, 23 und 1. Kor. 15, 42 ff.)

§14

Zusammenfassung und Rechenschaft

Wir kommen zur Zusammenfassung, indem wir uns über die hier be­folgte Methode Rechenschaft zu geben versuchen. 1. Christliche Eschatologie spricht von "Christus und seiner Zukunft". Ihre Sprache ist die Sprache der Verheißungen. Sie versteht Geschichte als die durch Verheißung geöffnete Wirklichkeit. Die noch nicht ver­wirklichte Zukunft der Verheißung tritt in der gegenwärtigen Verhei­ßung und Hoffnung in einen Widerspruch zur gegebenen Wirklichkeit. Die Geschichtlichkeit des Wirklichen wird in diesem Widerspruch an der Frontlinie der Gegenwart zur verheißenen Zukunft erfahren. Geschichte

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wird in ihren letzten Möglichkeiten und Gefahren an dem Verheißungs­geschehen von Auferstehung und Kreuz Christi offenbar. Indem wir das in diesem Geschehen Verheißene als das in diesem Geschehen Latente, Verborgene, Angelegte und Intendierte im Rückgriff auf die Ver­heißungsgeschichte des Alten Testamentes entfalteten, nahmen wir zu­gleich die Tendenzen des Geistes wahr, die aus diesen Wahrnehmungen entspringen. Die promissio der universalen Zukunft führt notwendig in die universale missio der Gemeinde an alle Völker. Die Verheißung der Gottesgerechtigkeit im Geschehen der Rechtfertigung des Gottlosen führt unmittelbar in den Hunger nach dem Gottesrecht an der gottlosen Welt und also in den Kampf des öffentlichen und leibhaftigen Gehorsams. Die Verheißung der Auferstehung der Toten führt unmittelbar in die Liebe zum wahren Leben der ganzen bedrohten und beschädigten Krea­tur. Indem wir die Verheißungen im Christusgeschehen als Latenz und als Tendenz entfalteten, stießen wir auf eine geschichtliche Subjekt­Objekt-Vermittlung, die es weder erlaubt, die Zukunft Christi in ein heils- und weltgeschichtliches System einzuordnen und damit dieses Ge­schehen auf etwas ihm Fremdes, aus anderen Erfahrungen Gewonnenes und ihm von außen Aufgenötigtes zu relativieren, noch auch die Zukunft Christi in die existentiale Zukünftigkeit des Menschen zu reflektieren. Die Geschichte der Zukunft Christi und die Geschichtlichkeit der Zeugen und Gesendeten bedingen einander und stehen in der Korrelation von promissio und missio. Das christliche Geschichtsbewußtsein ist Sendungs­bewußtsein und ist nur insofern auch ein weltgeschichtliches Bewußtsein und ein Bewußtsein von der Geschichtlichkeit der Existenz. 2. Wir haben verschiedentlich den Begriff der "progressiven Offen­barung" verwendet. Er stammt nächst Richard Rothe von Ernst Troeltsch und meint bei beiden, daß sich der Impuls christlichen Geistes in der abendländischen Geschichte immer neu mit dem Geist der Moderne verbindet und fortschreitend bessere Welt- und Lebensanschauungen pro­duziert. Die fortschreitende Entwicklung des Reiches des Erlösers ist die stetig fortschreitende Offenbarung der absoluten Wahrheit und Voll­kommenheit desselben. "Progressive Offenbarung" meint hier, daß die Offenbarung im Progreß des menschlichen Geistes progressiv wird bzw. der Progreß des menschlichen Geistes als Selbstbewegung des absoluten Geistes gedeutet werden könne. Zu ähnlichen Ergebnissen gelangt man, wenn man die Zielrichtung und Zukunft des Christusgeschehens aus einem umfassenden Zusammenhang geschichtlicher Ereignisse vor und nach diesem Geschehen folgern zu können meint. Das Christusgeschehen wird dann in einen geschichtlichen Zusammenhang eingeordnet, der sich

206 Auferstehung und Zukunft fesu Christi

aus Schicksal oder Vorsehung und aus der weltgeschichtlichen Folge von Tatsachen ergibt. Entspringt aber die Verheißung der Zukunft Christi aus der Auferstehung des Gekreuzigten, so tritt die Verheißung in einen solchen Widerspruch zur Wirklichkeit, daß dieser Widerspruch sich nicht in eine allgemeine geschichtliche Dialektik, wie sie an anderen Vorgängen ablesbar ist, einordnen läßt. Eine heils- und weltgeschichtliche Einord­nung ist nur möglich, wenn dieser Widerspruch verkleinert wird. Nur dann ist er in einer weltgeschichtlichen Dialektik versöhnbar. Wenn aber in dem Geschehen der Auferweckung des Gekreuzigten creatio ex nihilo erkannt wird, so stehen hier nicht mögliche Veränderungen des Seienden auf dem Spiel, sondern Nichts und Alles. Dann tritt heraus, daß diese Welt die Auferstehung und die aus Auferstehung geschaffene neue Welt "nicht tragen kann". Die Dialektik, die diesen Widerspruch tragen will, muß eine apokalyptische werden. Die versöhnende Synthese von Kreuz und Auferstehung kann allein in einer Totalität des neuen Seins erwartet und erhofft werden. Die heilsgeschichtliche Theologie nimmt wohl den Gang von Verheißungen und Geschehnissen wahr, nicht aber den Wider­spruch der Verheißung zur Wirklichkeit und darum nicht die Enthüllung der gottlosen Welt im Kreuz Christi. Nur wenn wir die progressiven, eschatologisch treibenden Momente in dem widerspruchsvollen Geschehen von Kreuz und Auferstehung selber erkennen, stellen sich die wahren Probleme. Die Offenbarung, d. h. die Erscheinungen des Auferstandenen, bekommt den Charakter des Progressiven nicht aus einer ihr fremden Wirklichkeit, aus der nach Ostern rätselhafterweise weiterlaufenden Ge­schichte, sondern sie bewirkt in ihrem Prozeß und Widerspruch gegen die gottlose Wirklichkeit von Schuld und Tod den Progreß selber. Sie wird nicht durch ihr "Eingehen" in die Menschengeschichte progressiv, sondern macht durch Verheißung, Hoffnung und Kritik die Wirklichkeit des Menschen geschichtlich und progressiv. Die Offenbarung der Möglichkeit und Mächtigkeit Gottes in der Auferweckung des Gekreuzigten und die darin erkennbare Tendenz und Intention Gottes machen den Horizont dessen aus, was Geschichte zu nennen und als Geschichte zu erwarten ist. Die Offenbarung Gottes in Kreuz und Auferstehung wird damit zum Spielraum der Geschichte, in welchem das Versinken aller Dinge ins Nichts und die neue Schöpfung als möglich erscheinen. Die Sendung der Hoffenden in diesen Vorraum des Möglichen aller Dinge hinein folgt der Richtung der Tendenz des Handeins Gottes, indem es seiner Treue und seiner Verheißung in seiner Allmacht folgt. Der Hoffende, der die schlechte Wirklichkeit verläßt und sich auf das Meer der Möglichkeiten Gottes begibt, setzt damit diese seine Wirklichkeit in einer radikalen

Zusammenfassung und Rechenschaft 207

Weise aufs Spiel, nämlich auf das Spiel, in welchem er erwartet, daß die Verheißung Gottes gewinnt. 3. Wenn wir von der "Zukunft Jesu Christi" sprechen, so meinen wir das, was sonst als "Parusie Christi" oder als "Wiederkunft Christi" be­zeichnet wird. Parusie meint eigentlich nicht die Wiederkunft eines Fort­gegangenen, sondern "bevorstehende Ankunft"72 • Parusie kann auch Gegenwart heißen, jedoch nicht eine Gegenwart, die morgen vergan­gen ist, sondern eine Gegenwart, der man heute und morgen gewärtig sein muß. Es ist die "Gegenwart des auf uns Zukommenden, sozusagen eine ankünftige Zukunft"73 • Die Parusie Christi ist etwas anderes als jetzt erfahrene, jetzt gegebene Wirklichkeit. Sie bringt gegenüber dem jetzt Erfahrbaren etwas Neues. Darum ist sie aber nicht von der jetzt erfahrbaren und zu lebenden Wirklichkeit totaliter getrennt, sondern wirkt als real ausstehende Zukunft durch erweckte Hoffnungen und auf­gerichteten Widerstand in die Gegenwart hinein. Das Eschaton der Paru­sie Christi macht durch eschatologische Verheißung die jeweilige, erfahr­bare Gegenwart geschichtlich im Abbruch des Vergangenen und im Aufbruch zum Kommenden. Nun wird diese Parusie Christi auch als Offenbarung Christi, als a'ltoxa­

Auljitc; 't'ou xup[ou bezeichnet. Wie aber ist dann die Zukunft Christi zu verstehen? Kann seine erwartete Zukunft dann noch in der Erwartungs­kategorie "Novum" gedacht werden? Bringt seine Zukunft dann etwas Neues oder nur eine universale Wiederholung dessen, was in der Ge­schichte Jesu Christi schon geschehen ist? Ist die Zukunft Christi dann nur eine Enthüllung dessen, was in J esus ein für alle Mal bereits ge­schehen ist? Oder liegt in ihr etwas, das noch nicht geschehen ist? Nach Karl Barth geht es in der Zukunft Christi vornehmlich nur um eine Enthüllung. "Die Wiederkunft Christi ... wird im Neuen Testa­ment als die Offenbarung bezeichnet. Er wird nicht nur der Gemeinde offenbar werden, sondern Allen, als der, der er ist ... In voller Klarheit und Öffentlichkeit wird das ,Es ist vollbracht' an den Tag kommen ... Was bringt die Zukunft? Nicht noch einmal eine Geschichtswende, son­dern die Offenbarung dessen, was ist. Sie ist Zukunft, aber die Zukunft dessen, dessen die Kirche sich erinnert: dessen, was ein für alle Mal schon geschehen ist. Das A und das 0 sind äasselbe. "74

Ahnlieh heißt es bei Walter Kreck: "Eben das Kommen des Herrn (wird erwartet), dessen Gekommensein verkündigt und geglaubt wird. Die Er-

72. So A. Oepke im Th WNT V, 863. 73. Paul Schütz, Parusie- Hoffnung und Prophetie, 1960, 78. 74. K. Barth, Dogmatik im Grundriß, 1947, 158 f.

208 Auferstehung und Zukunft Jesu Christi

füllung kann zwar im Grunde nichts anderes sein als die Enthüllung dessen, was schon in Jesus Christus Wirklichkeit ist, aber eben dieser Enthüllung wird nun doch als einem Künftigen entgegengeschaut und entgegengeharrt. "75 Damit ist etwas deutlicher als bei K. Barth Offen­barung als Verheißung verstanden und die Offenbarung Christi auch als Erfüllung der Verheißung Christi begriffen. Geht man dem aber konsequent nach, so muß der Ausdruck "Enthüllung" für Offenbarung fallen und an seiner Stelle Offenbarung als Geschehen in Verheißung und Erfüllung begriffen werden. Die Offenbarung Christi kann dann nicht nur in der Enthüllung des verborgenermaßen schon Geschehenen für die Erkenntnis bestehen, sondern muß in Ereignissen erwartet werden, die das erfüllen, was mit dem Christusgeschehen verheißen ist. Dieses Christusgeschehen selber kann dann nicht als Erfüllung aller Verheißun­gen verstanden werden, sodaß nach diesem Geschehen nur das Nachspiel der Enthüllung für das universale Erkennen übrig bleibt. "In Christus sind alle Gottesverheißungen Ja und Amen" (2. Kor. 1, 20), d. h. in ihm sind sie bestätigt und in Kraft gesetzt, aber noch nicht erfüllt. Darum erwartet die christliche Hoffnung von der Zukunft Christi nicht nur Ent­hüllung, sondern auch endliche Erfüllung. Was mit Kreuz und Aufer­stehung Christi für die Seinen und die Welt versprochen ist, soll eingelöst werden. Was also bringt die Zukunft Christi? Nicht bloße Wiederholung und nicht nur Enthüllung seiner Geschichte, sondern etwas, das bisher durc_h Christus noch nicht geschehen ist. Die christliche Erwartung richtet sich auf niemand anderen als auf den gekommenen Christus, aber sie erwartet von ihm Neues, bisher noch nicht Geschehenes: sie wartet auf die Erfüllung der verheißenen Gottesgerechtigkeit an allem, auf die Er­füllung der in seiner Auferstehung verheißenen Totenauferstehung, auf die Erfüllung der in seiner Erhöhung verheißenen Herrschaft des Ge­kreuzigten über alles. Die sichtbare und im Leiden erfahrbare Unerlöst­heit der Welt ist für sie nicht, wie für die Juden, ein Argument gegen den Glauben an das Gekommensein des Messias, sondern die bedrän­gende Frage ihrer Gebete um die Zukunft des gekommenen Erlösers. Nicht weil es zweifelhaft ist, ob Jesus der Christus ist, sondern weil mit ihm die Erlösung in Kraft gesetzt ist, darum seufzen sie mit der ganzen Kreatur unter der Unerlöstheit der Welt und wollen die universale Er­füllung seines erlösenden und zurechtbringenden Handeins schauen. Ken­nen sie den Erlöser und erwarten sie die Zukunft der Erlösung in seinem Namen, so wird für sie die Unerlöstheit dieser Welt des Todes auch nicht

75. W. Kreck, Die Zukunft des Gekommenen, 1961, 100.

Zusammenfassung und Rechenschaft 209

auf platonische Weise zur belanglosen Welt des Scheins, in welcher es nur noch um Demonstration und um Enthüllung der Erlösung geht. Das A und das 0 sind zwar dasselbe, was die Person angeht: "Ich bin das A und das 0" (Offb. Joh. 1, 8). Sie sind aber nicht dasselbe, was die Realität des Geschehens angeht, denn "es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden" (1. Joh. 3, 2), und "das Erste" ist noch nicht vergangen, und es ist auch noch nicht "alles" neu geworden. Es muß also etwas Neues von der Zukunft erwartet werden. Wird aber diese Zukunft als die "Zukunft Jesu Christi" erwartet, so wird sie nicht von einem Neuen oder Anderen erwartet. Was die Zukunft bringt, ist durch das Christusgeschehen der Auferweckung des Gekreuzigten "ein für alle Mal" zuversichtlich erhoff­bar geworden. Der Glaube an Jesus als den Christus ist nicht das Ende der Hoffnung, sondern ist die Zuversicht in der Hoffnung (Hehr. 11, 1). Der Glaube an Christus ist das prius, aber die Hoffnung hat in diesem Glauben den Primat.

KAPITEL IV

ESCHATOLOGIE UND GESCHICHTE1

§ 1

Kritik und Krise

Das neuzeitliche Geschichtsbewußtsein ist Krisenbewußtsein, und alle neuzeitliche Geschichtsphilosophie ist im Grunde Krisenphilosophie2•

Das epochale Geschichtserlebnis des modernen Menschen gründet in der Erfahrung unendlich neuer, bedrängender und mit den herkömmlichen Mitteln der Traditionen nicht zu bewältigender Möglichkeiten. Es sind neue Möglichkeiten zum Guten und zum Bösen, zum Fortschritt und zum endgültigen Absturz. Doch immer werden diese neuen Möglichkeiten einer neuen Zukunft zuerst als Krise und Abbruch der überkommenen Einrichtungen, Lehensweisen und Bewältigungsformen der bisher be­kannten und vertrauten Möglichkeiten erfahren. Die Geschichte tritt gleichsam über die Ufer der Tradition. Die Dämme der Traditionen und Ordnungen beginnen auf allen Gebieten zu zerbrechen. Sie sind den neuen Geschichtserfahrungen nicht mehr gewachsen und können sich dar­um nicht mehr als selbstverständlich darstellen. Sie werden antiquiert oder können doch nur noch mühsam konservativ gehalten werden. Sie bieten dem Menschen nicht mehr jene fraglose Selbstverständlichkeit in­stitutionalisierter Verhaltensweisen. Darum werden sie zum Gegenstand der Reflexion und der Kritik, und der Mensch wird aus ihnen ins Unbe­hauste, Ungeheuerliche und Schwankende entlassen. Er findet sich in einer Krise vor, die ihn aufs Spiel setzt und mit einem aktuellen Ent­scheidungsdruck belastet. So wird ihm Geschichte als Krise wahrnehm-

1. Vgl. zu diesem Kapitel meine Aufsätze "Exegese und Eschatologie der Geschichte" EvTh 22, 1962, 31 ff. und "Verkündigung als Problem der Exegese", MPTh 52, 1963, 24 ff. 2. G. Mann, Grundprobleme der Geschichtsphilosophie von Plato bis Hegel, in: Der Sinn der Geschichte, 1961, 13 f. H. Heimpel, Geschichte und Geschichtswissenschaft, Vier­teljahrshefte für Zeitgeschichte, 1957, H. 1, 15: "Der historische Sinn seit Herder ist Reflexion über bedrohte Ordnung." R. Koselleck, Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, 1959. E. Rosenstock-H.uessy, Die europäischen Revo­lutionen, 1931.

Kritik und Krise 211

bar, und die historische Kritik an den Überlieferungen ist ein Kind dieses Krisen bewußtseins. Alles Nachdenken über "Geschichte" durch Historiker, Soziologen und Geschichtsphilosophen auf dem europäischen Kontinent hat im 19. Jahr­hundert das Erdbeben der französischen Revolution im Rücken und ihre unabsehbaren Konsequenzen vor sich3• In dieser Revolution zerbrach das Gehäuse der alten Institutionen und zusammen mit ihm auch seine metaphysische Stabilisierung. In ihr gingen die kulturellen und geistigen Selbstverständlichkeiten und Gemeinsamkeiten, in denen man geschützt leben konnte, verloren. Mit ihr kam die totale Geschichtlichkeit als totale Krisenhaftigkeit der menschlichen Welt zum Bewußtsein. Seither wird die "Krise" zum Thema der historischen Forschung und zum Inbegriff der geschichtsphilosophischen Reflexion. Regel übertrug den neuen Be­griff der "Krise" mitsamt seinem neuen Erfahrungsgehalt auf alle Ver­gangenheit. Er wußte: "So geht die Bewegung und Unruhe fort. Diese Collision, dieser Knoten, dieses Problem ist es, an dem die Geschichte steht, und den sie in künftigen Zeiten zu lösen hat. "4 Ranke glaubte an eine mögliche konservative Bändigung dieser revolutionären Krise durch das restaurierte Gleichgewicht der großen europäischen Mächte und an die Versöhnung mit den alten Traditionen5• Jakob Burckhardt suchte

3. I. Kant (Der Streit der Fakultäten, 1798, Phil. Bibi. 252, 87): ,.Ein solches Phänomen vergißt sich nicht mehr, weil es eine Anlage und ein Vermögen in der mensdtlichen Natur zum Besseren aufgedeckt hat, dergleidten kein Politiker aus dem bisherigen Laufe der Dinge ausgeklügelt hätte." Fr. Schiller (Über die ästhetisdte Erziehung des Mensdten, 1793/4): ,.Eine Frage, welche sonst nur durch das blinde Redtt des Stärkeren beantwortet wurde, ist nun, wie es sdteint, vor dem Riebtstuhl reiner Vernunft anhängig gemacht, und wer nur immer fähig ist, sich in das Zentrum des Ganzen zu versetzen und sein Individuum zur Gattung zu steigern, darf sich als Beisitzer jenes Vernunftgerichtes betradtten, so wie er als Mensdt und Weltbürger zugleich Partei ist und näher oder ent­fernter in den Erfolg sich verwickelt sieht." G. W. F. Regel (Vorlesungen über die Philo­sophie der Weltgeschichte, Werke XI, 557): "So lange die Sonne am Firmamente steht und die Planeten um sie herum kreisen, war das nidtt gesehen worden, daß der Mensdt sidt auf den Kopf, das ist, auf den Gedanken stellt, und die Wirklidtkeit nadt diesem erbaut. Anaxagoras hatte zuerst gesagt, daß der nous die Welt regiert, nun aber erst ist der Mensdt dazu gekommen zu erkennen, daß der Gedanke die geistige Wirklichkeit regieren solle. Es war dieses somit ein herrlicher Sonnenaufgang." j. G. Fichte (Briefwechsel, I, 349 f. ed. H. Schulz, 1925): "Mein System (scil. die Wissenschaftslehre) ist das erste System der Freiheit, wie jene Nation (scil. Frankreich) von den äußeren Ketten den Mensdten los­reißt, reißt mein System ihn von den Fesseln der Dinge an sidt, des äußeren Einflusses los, und stellt ihn in seinem ersten Grundsatz als selbständiges Wesen hin." Fr. Schlegel ( Athenäumsfragmente Nr. 222): "Der revolutionäre Wunsch, das Reim Gottes zu reali­sieren, ist der elastische Punkt aller progressiven Bildung und der Anfang der modernen Geschichte" (zit. nadt K. Löwith, Abhandlungen, 1960, 157). 4. Werke XI., 563. j. Ritter, Hegel und die französisdte Revolution. AGFNRW Hefl: 63, 1957, 15 ff. H. Marcuse, Vernunft und Revolution, 1962. 15 ff. 5. C. Hinrichs, Ranke und die Geschichtstheologie der Goethezeit, 1954.

212 Eschatologie und Geschichte

in der Sorge um die abendländische Zukunft in den fortschreitenden Krisen nach dem "Maßstab der Geschwindigkeit und Kraft der Bewe­gung, in welcher wir selber leben"6• ]ohann Gustav Droysen fragte nach der "Richtung der strömenden Bewegung", in der sich für die geschichtliche Betrachtung alles befindet'. Der "Beruf" des 19. Jahr­hunderts für das Studium der Geschichte und seine absolute Lebensnot­wendigkeit ist durch die französische Revolution datiert. "Geschichte" wird seither als die Krise in Permanenz oder als permanente, unaufhalt­same und nicht zu bändigende Revolution erfahren. Historiker und Ge­schichtsphilosophen sind darum konservativ oder revolutionär auf die geistige, politische und soziale Bewältigung dieser fortlaufenden Krise konzentriert. Historie und Geschichtsphilosophie sind genötigt, "Ge­schichte" begreiflich zu machen, um das Chaos, die Katastrophe und die Krisen und damit Geschichte überhaupt beherrschbar zu machen. An die Stelle einer kosmologisch-metaphysischen Weltorientierung tritt seither eine geschichtsphilosophische Orientierung der Gegenwart. Gerade der Zusammenbruch geschichtlicher Kontinuität hat jene Apotheose der "Ge­schichte" hervnrgerufen, die zur Religion der Geschichte in den messia­nischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts führte. Nun entstehen der Sinn für Geschichte, das Interesse an Geschichte und die Notwendigkeit, Geschichte zu verstehen, immer in kritischen, unru­higen Zeiten, in denen neue Möglichkeiten, bisher unbekannt und unge­ahnt, über den Horizont heraufdämmern. Um die neue Gegenwart zu verstehen und in ihr leben zu können, muß man die Vergangenheit be­mühen, sei es, um die neuen Erfahrungen mit den Traditionen der Ver­gangenheit in Einklang zu bringen, sei es, um sich von der Last der V er­gangenheit für die neue Gegenwart zu befreien. Im Hintergrund der großen Geschichtsdenker steht seit Augustins "Gottesstaat" die Erfahrung von solchen Krisen. Seit der französischen Revolution aber wird Geschichte als Krise total verstanden. Sie läßt sich nicht mehr auf das Politische oder auf das Soziale beschränken, sondern hat in sich die Tendenz, total zu werden und alle Lebensbereiche zu verunsichern. Die Krise wird welt­geschichtlich-universal und trifft die ganze Existenz des Menschen und seiner Welt. Darum werden die Sinndeutungen für diese Krise ebenfalls total und totalitär8• Eine weltgeschichtliche Betrachtungsweise aller in

6. J. Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, ed. W. Kaegi, 1947, 59, 250 ff. 7. J. G. Droysen, Historik, 4. Aufl. 1960, 358: "Dem endlichen Auge ist Anfang und Ende verhüllt. Aber forschend kann es die Richtung der strömenden Bewegung er­kennen.'" 8. /. L. Talmon, Die Ursprünge der totalitären Demokratie, 1961; Politischer Messianis­mus. Die romantische Phase, 1963.

Kritik und Krise 213

diese Krise der Geschichte hineingezogenen Bereiche ist darum unum­gänglich geworden: auch dann, wenn sich zeigt, daß alle universalge­schichtlichen Sinnentwürfe an dieser Krise bislang scheiterten, weil sie diese Krise nicht überschaubar machten, sondern selber dieser Krise im­manent waren und sie darum nur beförderten und sie auszubreiten halfen. Jede Krise beschwört die Frage nach der geschichtlichen Zukunft. Denn in der Krise alles Bestehenden wird offenbar, daß die Zukunft sich nicht mehr ohne weiteres aus der Vergangenheit ergibt, daß sie nicht mehr deren selbstverständliche Wiederholung und Fortsetzung sein kann, son­dern daß in ihr etwas N eues gefunden werden muß. Damit wird für die Gegenwart eine Entscheidung fällig, die keine Vorlagen aus der Vergan­genheit kennt und für die die Herkunft keine Vorgabe mehr darstellt. An dieser Entscheidung hängt die Gestalt der Zukunft, und diese Ent­scheidung findet ihre Gestalt aus einer erhofften oder einer befürchteten, zu wollenden oder zu vermeidenden Zukunftsvision. Das aber bedeutet, daß die Entscheidung, die der Gegenwart aufgenötigt wird, sich aus dem Traum der Zukunft ergeben muß. Die Kritik des Bestehenden macht das Bestehende zur Vergangenheit und befreit zur Krise der gegenwärtigen Entscheidung. Sie ist geschichtlich immer verbunden mit der Utopie, die die Möglichkeiten und Tendenzen des Kommenden erforscht, antizipiert und in die gegenwärtige Entscheidung hereinholt9 • Wie die Kritik aus der Krise geboren ist, so auch die Utopie. Dieser Zusammenhang von Utopie und Kritik zeigt sich besonders deutlich in jenem Jahrhundert, das die Krise vorbereitete. überall ist im 18. Jahrhundert die Kritik am Absolutismus, die Kritik an den historisch gewordenen Kirchentümern und Orthodoxien, die Kritik an der Ständegesellschaft verbunden mit mächtigen Utopien vom Menschheitsstaat, vom Reiche Gottes und vom

9. Dieses wird besonders deutlich von R. Koselleck, aaO., aufgezeigt. Die aufklärerische Kritik am Bestehenden ist mit Hoffnungen auf die "belle revolution" (Voltaire), eine "revolution totale" (Mercier) und eine permanente Revolution (Rousseau) verbunden (S. 133 ff., 208 ff.). "Nous approchons de l'etat de crise et du siede des revolutions", sagte Voltaire. Die Illuminaten, Freimaurer und Aufklärer begründen diese Kritik und ihre Erwartung der großen Krise mit den Utopien von der Harmonie des Weltalls, der Auf­hebung der Staaten und Stände und dem Verschwinden der Kirchentümer im Mensch­heitsreiche des moralischen Gottesglaubens. Wenn, wie man mit Recht gesagt hat, der deutsche Idealismus die Theorie der französischen Revolution oder wenigstens die philo­sophische Antwort auf die Herausforderung durch diese Krise ist, so wird es verständ­lich, daß der deutsche Idealismus als "Theorie des gegenwärtigen Zeitalters" beginnt und bemüht ist, seine Zeit, die Krise der Revolution, und d. h. die Geschichte, in Gedanken zu fassen. So wird es ferner verständlich, warum bei Herder, Schiller, Kant, Fichte, Novalis, E. M. Arndt und Hege! die Kritik am Zeitgeist mit Utopien vom Reich Gottes, vom Weltbürger- und Vernunftstaat, der unsichtbaren Kirche usw. verbunden sind.

214 Eschatologie und Geschichte

neuen natürlichen Zustand der Menschen und steht im Dienste dieser Utopien. Das geschichtsphilosophische Selbstbewußtsein der Aufklärung verbindet die Kritik ausgesprochenermaßen nicht mehr, wie frühere geschichtliche Bewegungen, mit einem Traum nach rü<.kwärts, mit Rege­neration, Reform, Renaissance oder Reformation der verfallenen Gegen­wart, sondern mit der Kategorie Novum: Neu-zeit, Neue Welt, novum organon, scienza nuova, Fortschritt, Endzeit. Die Kritik der Gegenwart wird nicht mehr im Namen des Ursprungs und im Namen der wieder­herzustellenden goldenen Urzeit geführt, sondern im Namen einer noch nicht dagewesenen Zukunft. Seit 1789 liegt das Land "Utopia" nicht mehr irgendwo jenseits der Meere, sondern hat sich auf dem Vehikel des Geschichtsglaubens und der Fortschrittsidee in die mögliche, zu erwar­tende oder zu wollende Zukunft verschoben. Die Utopie ist damit ge­schichtsphilosophisch geworden und in die praktische Philosophie gerückt. Zum ersten Mal werden ein apokalyptischer Chiliasmus und ein apoka­lyptischer Enthusiasmus des Geistes geschichtlich wirksam, für die das Ende etwas anderes ist als der Ursprung und das Ziel größer als der Anfang und die Zukunft mehr als alle Vergangenheit. Mit einer so verwur­zelten Kritik aber wird eine Krise heraufgeführt, die alles Bisherige und Bestehende "in den Schatten" des Untergangs stellt. Die entbundene Krise kann nicht mehr nur den Untergang des ancien regime bedeuten, kann nicht nur fin de siede meinen, sondern sie stellt alles aufs Spiel, was für den Menschen Menschsein in Heimat, Polis, Welt und Natur bedeutet. Die Identifizierung dieser Krise, die mit der französischen Re­volution und - eng mit ihr verschwistert - mit der industriellen Revo­lution begann, hat darum überall apokalyptische Bilder herangezogen. Diese Art Weltgeschichte ist das Weltgericht. Mit dieser Art Freiheit steht die "Furie des Verschwindens" vor der Menschheit. Für revolutio­näre Denker tritt in dieser Krise das Reich Gottes oder das Reich der Freiheit und der Humanität in greifbare Nähe. Ein politischer Messia­nismus ergreift in diesem Sinne die neuen Möglichkeiten. Für konserva­tive Denker, wie de Bonald, de Maistre, späterde Tocqueville und Jakob Bur<.khardt ertönt aus dieser Krise die Posaune des jüngsten Gerichtes. Beide nehmen die Krise als Vorspiel zum letzten Gefecht. Für Saint-Siman hieß "Revolution" "Krise". "L'espece humaine", schrieb er 1813, "se trouve engagee dans une des plus fortes crises qu'elle ait essuyee depuis l'origine de son existence"10• Dieser Begriff der Krise tritt auch schon bei Rousseau auf, ist aber bei Saint-Sirnon und

10. N. Sombart, St. Sirnon und A. Comte, in: A. Weber, Einführung in die Soziologie,

Kritik und Krise 215

Auguste Comte neu. "Er meint die Revolution, aber in dem er ihren politischen Vordergrund durchdringt, öffnet er den Blick. auf die geschicht­lich-gesellschaftliche Wirklichkeit in ihrer Totalität. Mit anderen Wor­ten, wenn Saint-Sirnon von Krise spricht, so meint er, als erster, in einem ganz modernen Sinne die Geschichte. " 11 Das Ziel des historischen, politi­schen und soziologischen Begreifens der Revolution ist für Saint-Sirnon und Comte: "Terminer la revolution". "Wir haben das weitgreifende Unternehmen zu Ende zu bringen, das Bacon, Descartes und Galilei begonnen haben, dann werden die revolutionären Erschütterungen be­endet sein. "12 Wird die Revolution in ihren Umständen, Bewegungs­gesetzen und Ursachen durchschaubar, so wird sie berechenbar und auch vermeidbar. Durch "Sozialphysik" werden die revolutionären Erschüt­terungen der Gesellschaft ebenso berechenbar und in ihrer Gesetzmäßig­keit durchschaut, wie die Phänomene der Natur durch die neue Natur­wissenschaft. Comtes "philosophie positive" hat vor diesem Hintergrund einen durch und durch messianischen Tenor. Die wissenschaftliche Welt­und Geschichtserkenntnis wird die unbrauchbar gewordene metaphysi­sche Epoche und die noch ältere theologische Epoche ablösen. Die Welt­phänomene werden in ihrem gesetzmäßigen Zusammenhang berechenbar. Die wissenschaftliche und sozialtechnische Zivilisation wird das dritte und letzte Zeitalter der Welt werden. Die Krisen werden beherrschbar, die Kriege vermeidbar. Das Zeitalter des ewigen Friedens kommt, in welchem die Soziologen das eigentlic_he Herrschaftswissen in der Hand haben. In diesem Zeitalter wird es noch unendlichen Fortschritt in der Perfektion von Wissenschaft und Technik geben, aber keine radikalen Alternativen mehr und keine umstürzenden Veränderungen. Wenn nun Revolution "Krise" ist und Krise "Geschichte" meint, dann bedeutet die "Beendigung der Revolution" durch Historie und die "Beendigung der Krise" durch Soziologie nichts geringeres als eine umfassende "Beendi­gung der Geschichte" durch ihre wissenschaftliche Erkenntnis und ihre technische Beherrschbarkeit. Das "Ende der Geschichte" rück.t damit in eine greifbare, weil machbare und erreichbare Nähe. Der "Verlust der Geschichte" (Alfred Heuß), der "Abschied von der Geschichte" (Alfred Weber), die immanente "Vollendbarkeit der Geschichte" (Hans Freyer) durch wissenschaftliche Aufklärung und technische Handhabung werden unausweichlich. Die rätselhafte, chaotische Geschichte wird beendet, wo

1955, 87. Vgl. auch]. L. Talmon, Politischer Messianismus. 1963, 5.21 ff. über Saint­Simon. 11. ]. L. Talmon, aaO. 88 12. A. Comte, Die Soziologie, 1933, 15.

216 Eschatologie und Geschichte

sie aufgehoben wird in Erkenntnis der Geschichte und in ihrer Beherrsch­barkeit. Auch die Geschichts" wissenschaft", die sich im Schatten der Revolution und der permanent schwelenden Krise erhebt, bekommt einen positi­vistisch-apokalyptischen Sinn. Immer wieder heißt es im 19. Jahrhundert, daß die Geschichtswissenschaft von der Geschichte befreie. "Das histori­sche Bewußtsein zerbricht die letzten Ketten, die Philosophie und Natur­wissenschaft nicht zerreißen konnten. Der Mensch steht nun ganz frei da" (Dilthey)13• "Ein historisches Phänomen, rein und vollständig er­kannt und in ein Erkenntnisproblem aufgelöst, ist für den, der es erkannt hat, todt . . . Die Geschichte als reine Wissenschaft gedacht und sou­verain geworden, wäre eine Art Lebens-Abschluß und Abrechnung für die Menschheit" (Nietzsche)14• "Denn die geschichtliche Erforschung eines menschlichen Gedankengebildes dient immer dazu, von ihm zu befreien" (W. Herrmann)15• Historie wird damit zu einem Instrument der Bewältigung der Geschichte. Die Geschichtswissenschaft verleiht dem Menschen Freiheit von der Geschichte. Geschichte als Wissenschaft be­kommt dadurch die Tendenz, Geschichte als Erinnerung aufzulösen. Dieser Historismus als "Krisenwissenschaft" und als Wissenschaft das Heilmittel gegen Krisen hat damit die Tendenz, das Interesse und den Sinn für Geschichte zu vernichten. Das Ergebnis der Historisierung und Rationalisierung der Geschichte ist dann die Aufhebung der Geschichte und die Geschichtslosigkeit menschlichen, gesellschaftlichen Lebens. In diesem Sinne steht der wissenschaftliche Historismus im Dienste der en­thusiastisch-messianischen Idee vom "Ende der Geschichte" und ist selber ein Moment der "Beendigung der Geschichte". Dieses Motiv historischer Erforschung und Ergründung geschichtlicher Phänomene ist auf dem Hintergrund der mit der französischen Revolu­tion in Sicht gekommenen totalen Krise verständlich. Doch ist es ebenso verständlich, daß im Zeitalter historischer Perfektion, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, nach den Kosten für diese Art der Bewäl­tigung der Krise gefragt wurde. Seit Friedrich Nietzsches Buch "Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben", 1874, erhebt sich die Frage nach jenem "Unhistorischen" der "Atmosphäre" oder des "Hori­zontes", in dem allein das Leben sich erzeugt. Der historische Sinn ent-

13. W. Dilthey, Gesammelte Schriften, VIII, 225. 14. Fr. Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, Kröner 37, 1924, 12. 15. W. Herrmann, Verkehr des Christen mit Gott, 3. Aufl. 1896, 42. Ahnlieh A. Eich­horn, ZThK 18, 1908, 156: Der historisch-kritischen Forschung liegt besonders am Herzen, "daß man durch die Geschichte ein freier Mann gegenüber der Tradition wird".

Kritik und Krise 217

wurzelt die Zukunft, weil er die Illusion zerstört und den Dingen ihre Atmosphäre nimmt, in der sie allein leben können und Möglichkeiten gewinnen. "Alles Lebendige braucht um sich eine Atmosphäre, einen geheimnisvollen Dunstkreis; wenn man ihm diese Hülle nimmt, wenn man eine Religion, eine Kunst, ein Genie verurteilt, als Gestirn ohne Atmosphäre zu kreisen: so soll man sich über das schnelle Verdorren, Hart- und Unfruchtbarwerden nicht mehr wundern. So ist es nun einmal bei allen großen Dingen, ,die noch nie ohn ein'gen Wahn gelingen'."16 Es erhebt sich nun die Frage nach der Geschichtlichkeit der Geschichte, die der nach Tatsachen und Gesetzmäßigkeiten forschende Historiker unterschlägt. Wenn die revolutionären Krisen der menschlichen Gesellschaft durch positivistische Tatsachenforschung beendet werden, so fragt es sich, ob damit nicht auch die Lebendigkeit des menschlichen Lebens und die Be­wegungen im W eltprozeß beendet werden und versteinern. Es fragt sich, ob die so erreichte Beendigung der geschichtlichen Krise nicht selber ein höchst krisenhaftes Unternehmen ist. Denn eine "Beendigung der Geschichte in der Geschichte" löst zwar die Krisen im überschaubaren Bereich, liefert sich aber als Unternehmen im Ganzen selber einer viel ungeheuerlicheren Krise aus. Was innerhalb der wissenschaftlich-tech­nischen Welt an Krisen auftaucht, wird rationalisierbar. Aber das wissen­schaftlich-technische Universum selber wird zu einer nicht überschaubaren, irrationalen Macht, die darum nicht mehr zu übersehen ist, weil man nicht mehr über sie hinaus in mögliche andere Zukunft zu blicken ver­mag17. Das macht die Frage erheblich, ob jener Geschichtsbegriff aus­reicht, der "Geschichte" mit "Krise" identifiziert, und ob jene Geschichts­wissenschaft, die Geschichte in Erkenntnis aufhebt, der Geschichtlichkeit der Geschichte und der - möglichen - Geschichtlichkeit ihrer eigenen Erkenntnis gerecht wird.

16. AaO. 60. 17. Diese Umkehrung hat namentlich Max Weber gesehen. Die "Entzauberung" und Rationalisierung der Welt und ihrer Geschichte durch moderne Wissenschaft führt eine sinnlose Irrationalität eigenständiger und eigenmächtiger "Verhältnisse" herauf, die nun über menschliches Verhalten herrschen. Vgl. K. Löwith, Max Weber und Kar! Marx, in: Gesammelte Abhandlungen zur Kritik der geschichtlichen Existenz, 1960, 26.

218

DAS .AUFGELöSTE RATSEL DER GESCHICHTE"

§2

Die historische Methode18

Seit der grundsätzlichen Methodisierung der menschlichen Welterfahrung durch Petrus Ramus und Rene Descartes und ihres Erfolges in den Na­turwissenschaften richten sich alle Bemühungen darauf, auch die Erfah­rungen der Geschichte und das In-Erfahrung-Bringen von Geschichte zu methodisieren. Die Frage nach der historischen Methode richtet sich da­rum nicht nur auf die technischen Arbeitsweisen des Historikers, sondern umfassender auf die Eigenart des historischen Erkennens und auf den Wissenschaftscharakter der Historie. Ohne "Methode" läßt sich kein gesichertes Wissen erreichen. Die historische Methodik umfaßt daher Grundsätze für die historische Forschung und Grundsätze für die kon­trollierende Kritik ihrer Ergebnisse. Nachdem die Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert über die Sammlung und Summierung experimen­teller Resultate hinaus zu dem Entwurf einer exakten und nachprüfbaren Systematik von Gesetzmäßigkeiten in der Natur gekommen waren und exakte "Wissenschaft" allgemein "Natur"wissenschaft hieß, mußte die Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Historie und nach allgemeinen Gesetzmäßigkeiten geschichtlicher Abläufe gestellt werden. Wenngleich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts der besondere Charakter der geistes­wissenschaftlichen Methoden durch W. Dilthey herausgestellt wurde, gingen doch gewisse Minimalforderungen aus dem naturwissenschaft­lichen Wissenschaftsbegriff auch in die Geschichtswissenschaft ein. a) Geschichtswissenchaft ist nicht Kunst, Dichtung oder Legende, sondern der ihr zugrundeliegende Wahrheitsbegriff ist der einer verifizierbaren Sachwahrheit. Geschichtswissenschaftliehe Aussagen müssen ihre histo­rische Richtigkeit an den für jedermann und jederzeit nachprüfbaren Quellen und durch sie an den nachprüfbaren Ereignissen unter Beweis stellen können. Geschichte ist nicht "Legende und Tat" (Bertram), sondern ist, sofern sie sicheres Wissen sucht, an die nachprüfbare Übereinstim­mung von Aussage und Sache gewiesen. b) Die historische Richtigkeit der Erkenntnis von Geschichte aber setzt voraus, daß die Erkenntnisse kontrollierbar sind. Ihre Bindung an die Quellen und die Quellenkritik ist die Bindung an die Kontrollierbarkeit

18. Geschichte. Fischer-Lexikon 24, 1961, ed. W. Besson, 78 ff.

Die historische Methode 219

ihrer Aussagen an der Wirklichkeit, von der die Historie redet und die sie erkennen will. c) Diese Kontrollierbarkeit aber setzt die grundsätzliche Wiedererfaß­barkeit der historischen Gegenstände voraus. Das historische Wissen wird nur dann zuverlässig, wenn es jederzeit und von jedermann, der sich der methodischen Mühe unterzieht, nachprüfbar ist. Damit es aber nachprüfbar wird, müssen die Materialien und die quellenmäßig belegten Ereignisse immer wieder erfaßbar sein. Diese Wiedererfaßbarkeit der Sachen wird damit zum methodischen Kennzeichen der Sachen als Sachen überhaupt. Darin unterscheidet sich Geschichtswissenschaft von Legende und lebendiger Erinnerung, von Erlebnis- und Begegnungsaussagen. d) Auch die Geschichtswissenschaft arbeitet mit bestimmten Hypothesen, Entwürfen, Fragestellungen und Sinnhorizonten, in denen die Gescheh­nisse als Geschehnisse erhellt und in Erfahrung gebracht werden. Wäh­rend nun aber der naturwissenschaftliche Entwurf die Natur im Experi­ment zur Antwort nötigt und sie zur Erscheinung und zur Erfahrung bringt, sind die historischen Gegenstände immer schon mit Deutungen und Sinnhorizonten verbunden, in denen die Erfahrung von ihnen über­liefert wird. Die erste Arbeit der Historie muß es daher sein, die Zeug­nisse von Geschichte als "Quellen" zu lesen und die durch vielerlei Deu­tungen, Tendenzen und Übermalungen vermittelten Gegenstände zu datieren, zu lokalisieren und auf den "historischen Sachverhalt" zurück­zuführen. Der dann ermittelte historische Sachverhalt wird zum Ansatz der Kritik des historischen Bewußtseins an den Zeugnissen, Deutungen und Traditionen. So ist die historische Methode zunächst kritisch auf die Traditionen und historischen Quellen bezogen. Eine solche Destruktion der Überlieferungen von einem Geschehen ist aber selber immer verbun­den mit eigener Vorstellungs- und Einbildungskraft, wie es denn "in Wirklichkeit" gewesen sein mag, ist also immer verbunden mit Rekon­struktion. Solche Rekonstruktionen des eigentlichen Hergangs sind ihrer­seits wiederum Entwürfe, Hypothesen und Fragestellungen, die an den Quellen überprüft werden müssen. Darum ist historische Kritik immer bezogen auf historische Imagination, sei es auf die mit den Quellen gege­bene, sei es auf die eigene. Das heißt, historische Kritik ist immer ver­bunden mit historischer Heuristik. Die Methodisierung der Geschichtserfahrung muß die geschichtliche Wirk­lichkeit "vergegenständlichen". Die historische Betrachtungsweise muß die geschehene Geschichte in jene historische Distanz bringen, in der sie gegenständlich erforschbar wird. Sie muß geschichtliche Wirklichkeit feststellen und muß dafür voraussetzen, daß diese Wirklichkeit feststeht,

220 Eschatologie und Geschichte

sich nicht mehr wandelt. Dieses wird verständlicherweise um so schwie­riger, je mehr es sich um "Zeitgeschichte" handelt. Denn hier liegt der Gegenstand nicht fest, sondern befindet sich noch in Fluß. Hier steht der historische Betrachter der Geschichte nicht gegenüber, sondern mitten im Geschehen und beeinflußt durch seine historische Diagnose dieses Ge­schehen selber. An ihrem Grunde ist alle Geschichte Zeitgeschichte. Der Gegenstand der Historie befindet sich also in einer doppelten Bewegung: "sie folgt einmal aus der Prozeßhaftigkeit alles vergangenen Lebens, zum anderen aus der ständigen Verwandlung des Geschichte betrachtenden Menschen, der selbst dem geschichtlichen Werden unterworfen ist"19•

Darum ist der alte Satz richtig, daß "Geschichte immer wieder um­geschrieben werden muß". An dem Punkt der Geschichtlichkeit des historischen Betrachters vollzieht sich stets der entscheidende Pro­zeß der Umsetzung von "Gegenwart" in "Gegenstand", von geschicht­licher Gegenwart in den historischen Gegenstand, von einer im Fluß befindlichen und durch eigene Erkenntnis und Entscheidung beeinfluß­baren Geschichte in die rückblickende Überschau einer stillgelegten Ge­schichte. Das historische, vergegenständlichende Verhältnis zu vergangener Geschichte ist darum selber ein höchst geschichtliches und geschichtema­chendes Verhältnis.

§3

Historische Heuristik

Die historische Methode arbeitet nicht nur an einer kritischen Destruktion vergangener Geschichtsbilder, um die "nackten" Tatsachen zu erforschen, sondern sie muß das Quellenmaterial selber mit eigenen Fragestellungen und Entwürfen konfrontieren. Zwar greift die historische Kritik im Na­men des Faktischen dessen Deutungen in den Quellen an, aber es läßt sich das Faktische selber gar nicht ohne andere Deutungen erkennen und aussagen. In der Geschichtswissenschaft ist das Faktische nicht das erste Gegebene, sondern das letzte Produkt der Abstraktion von überkom­menen Deutungen auf das heute allgemeine und selbstverständliche V er­ständnis von "Objektivität"20• "Das Faktum" ist das Substrat aus den

19. Ebd. 80. 20. Vgl. E. Rothacker, Die dogmatisme Denkform in den Geisteswissensmaften und das Problem des Historismus. Abh. der geistes- und sozialwissenschaftlimen Klasse der Akademie der Wissensmaften 6, Mainz 1954, 55.

Historische Heuristik 221

deutenden Vermittlungen der Quellen und Überlieferungen. Der Natur­wissenschaftler muß im Experiment seinen Gegenstand isolieren, nicht in Frage stehende Faktoren ausschalten und von anderen Fragestellungen abblenden, um zu eindeutigen Resultaten zu kommen. Dieses ist bei historischen Gegenständen darum so schwierig, weil es sich allemal um hochkomplizierte Gebilde handelt, deren Isolierung ihre vielfältige Be­dingtheit zerstört. Die Geschichtswissenschaft muß also bemüht sein, in dem Maße, wie sie ein einzelnes Faktum aus seinen vielfältigen Zusam­menhängen isoliert und auf nur eine Fragestellung reduziert, zugleich von den isolierten und individualisierten Fakten wieder zu den Zusam­menhängen und von einer Fragehinsicht wieder zum Komplex anderer Fragestellungen überzugehen. So wird das Individuelle nur zusammen mit dem Allgemeinen und das Allgemeine nur zusammen mit dem Indi­viduellen erkennbar und beurteilbar. Die positivistische Trennung von Faktum und Bedeutung ist nicht grundsätzlich möglich und kann nur dann behauptet werden, wenn der eigene Deutungshorizont für das, was "Faktum" genannt wird, naiv, unkritisch und unbewußt bleibt. Wenn nach Max Weber die rationale Wissenschaft die Welt "entzaubert" und das volle Verständnis der Tatsachen da aufhört, wo das Werturteil kommt, so ist das richtig, wenn das Werturteil hinterher kommt, um Werte in eine Welt zu bringen, die auf anderen Tatsachen beruht, nicht aber, wenn das Werturteil im Urteilshorizont der TatsachenerheBung selber mitgegeben ist; und es ist darin immer mitgesetzt. Geht nun die Geschichtswissenschaft vom isolierten und individualisierten Faktum zu allgemeineren, Geschichtsverläufe begreifenden Aussagen über, so stellt sich das Problem der historischen Begriffsbildung21 • Man muß sich generalisierender und typisierender Begriffsbildungen bedienen. Diese Begriffe gewinnen ihre Verbindlichkeit aus der jeweiligen Frage­stellung und Perspektive und haben darum nicht den Anspruch, die· ge­schichtlichen Vorgänge als solche widerzuspiegeln, sondern es sind heuri­stische Anschauungsweisen und Mittel zur Erklärung und zum Verständ­nis geschichtlicher Vorgänge. Sie bedürfen der Bestätigung am Gegenstand und werden darum beständig in Frage gestellt. Ein solches Mittel ist das "historische Gesetz". Ein Ereignis wird erklärbar, wenn seine Ursachen einsichtig werden. Dieser Ursach-Wirkungszusammenhang setzt aber eine gleiche Ebene des Seins voraus, in der Ursache und Wirkung zusam­menhängen. Geschichte muß dann Sozialgeschichte oder politische Ge­schichte oder Geistesgeschichte sein, d. h. die Substanz der Geschichte muß

21. R. Wittram, Das Interesse an der GesdtidJ.te, 1958, 33 ff.

222 Eschatologie und Geschichte

ausgemacht sein, um eine solche Ursach-Wirkungsverkettung darstellen zu können. Das läßt sich aber nur am Gleichförmigen und an Wieder­holungen aufzeigen und an bestimmten Prozessen in der Geschichte, die eine bestimmte Sachautomatik besitzen. Ansonsten sind geschichtliche Vorgänge so komplex, daß sich einmal die ursächlichen Bedingungen nicht alle ausmachen lassen, sondern stets nur ausschnittweise. Mono­kausalitäten lassen sich in der Geschichte nur durch Weglassen und Ab­blenden anderer Zusammenhänge behaupten. Zum anderen fehlt der historischen Kausalität das Merkmal der Reversibilität22. Man kann wohl von Wirkungen auf Ursachen schließen, aber kaum von Ursachen auf Wirkungen. Darum liegt das eigentlich Geschichtliche eher im Begriff der Möglichkeit, als in dem der Notwendigkeit: niemals sind alle Mög­lichkeiten in eindeutige Notwendigkeiten überführt. So wird auch der Begriff der Kausalität nur heuristische Bedeutung haben können. Ein anderes begriffliches Mittel, um Zusammenhänge zu erfassen, ist die Erhebung von "Tendenzen". Dieser Begriff ist seit Ranke in der deut­schen Geschichtsschreibung geläufig. Er wird aber auch im historisch­dialektischen Materialismus bei Georg Lukacs und Ernst Bloch verwen­det23. Mit ihm wird auf die Stringenz naturwissenschaftlicher Kausalität verzichtet und der Obergang in geschichtlichen Bewegungen nicht als Übergang von causa zu effectus, sondern von Möglichkeit za Wirklichkeit beschrieben. Zwischen Möglichkeiten und verwirklichten Realitäten steht nicht eine kausale Notwendigkeit, sondern die Tendenz, der Zug, das Gefälle, der Trend, bestimmte Neigungen zu etwas, die in bestimmten geschichtlichen Konstellationen wirklich werden können. Ernst Topitsch meint, dieser Ausdruck verdecke "das heikle Problem des Verhältnisses von Tat, Wert und selbständiger Evolution". R. Wittram meint, diesem Ausdruck könne die Beziehung zu einer objektiven Teleologie ganz feh­len, und er könne nur einen "Zug" innerhalb eines konkreten historischen Wirkungsgeschehens meinen24. Für G. Lukacs und E. Bloch ist mit "Tendenz" etwas gemeint, das die real-objektiven Möglichkeiten mit den subjektiven Entscheidungen vermittelt und insofern die historischen "Fakten" in den Fluß des historischen Prozesses und die subjektiven Entscheidungen des historischen Betrachters in eben diesen Prozeß stellt. Dann aber ist mit dem heuristischen Mittel der Erkundung von "Ten­denzen" doch ein gesamtteleologisches Richtungsgefälle der Geschichte intendiert.

22. "Geschichte". Fischerlexikon, aaO. 83. 23. G. Lukacs, Gesdlichte und Klassenbewußtsein, 1923. E. Bloch, Das Prinzip Hoff-nung, 1959. 24. R. Wittram, aaO. 44.

Historische Heuristik 223

E. Rothacker hat für die Erfassung historischer Zusammenhänge den Begriff des »Stils" empfohlen. "Was man ,Historisches Denken', in dem emphatischen und pathetischen Gebrauch dieser Worte nennt, zielt ja nicht primär auf Feststellung von Fakten, sondern auf die tunliehst kon­geniale Erfassung von Erscheinungen des immanenten Logos, von Stilen, denen diese Fakten sich einordnen. "25 Dieser Begriff stammt zwar aus der Kunstgeschichte, und ihm eignet eine ästhetische Sicht der Dinge. In seiner Übertragung auf geschichtliche Zusammenhänge aber ist mit ihm der anthropologische und soziologische Zusammenhang von Ereignissen und Taten mit der jeweiligen "Umwelt" von Erfahrung und Lebensan­schauung gemeint. Gemeint ist der "Lebensstil", die fas:on de vivre, die fas;on d'agir. Wie das Tier eine artspezifische "Umwelt" von lebens­notwendiger Welterschlossenheit besitzt, so leben Menschen in einer kul­turellen "Umwelt" von Erfahrungsweisen, Lebensgewohnheiten, Institu­tionen und Lebenserwartungen, in welchen sie Geschichte wahrnehmen und geschichtlich handeln. Der nach Fakten fragende Historiker zerreißt diesen jeweiligen geschichtlichen Deutungs- und Erfahrungshorizont, während in Wahrheit die Fakten und die Akte nur in ihrer jeweiligen und derzeitigen "Umwelt" von Sprache, Rechtsstil, Welt- und Lebens­anschauung, religiösen Ideen und Wirtschaftsformen "geschichtlich" ge­worden sind. In ähnlicher Weise versucht der Begriff der "Struktur" die jeweiligen sozialen Einrichtungen, in denen Geschichte aufgenommen und bewältigt wurde, als die Welt von Lebensäußerungen und Lebensord­nungen zu erfassen, die geschichtlich wirksam wurden26• Dieser Vor­stellungsrahmen führt weiter zur Historie der "Formen". Die formge­schichtliche Historiographie ist ebenfalls soziologisch ausgerichtet, wenn sie nach der institutionellen Verankerung von Aussagen im Leben ge­schichtlicher Gruppen und Gesellschaften fragt und weniger die einmali­ge individuelle Aussage, als vielmehr den "Sitz im Leben", in Kult, Recht, Kultur, Politik und Kunst für die Aussagen erforscht. Endlich ist auch der Begriff des "Existenzverständnisses" ein solches heuristisches Mittel27• Mit ihm werden die Phänomene vergangeuer Geschichte aus den Möglichkeiten menschlicher Existenzverständnisse interpretiert und zum Bewußtsein gebracht. Das heuristische Modell besteht aus "Situa­tion" und "Entscheidung", aus challenge and response, und die vergan­gene Geschichte zeigt, wie Geschichte durch das menschliche Subjekt in Erfahrung und Verantwortung genommen wurde und wie darin Mög-

25. AaO. 23. 26. F. Braudei nach Wittram, aaO. 44. 27. M. Heidegger, Sein und Zeit, 8. Aufl. 1957, 382 ff.

224 Eschatologie und Geschichte

lichkeiten des Existierens entdeckt, ergriffen oder zerstört wurden. Die Historie ist dann weniger an den Ereignissen selber und ihren kausalen oder tendenziösen Verkettungen mit anderen Ereignissen interessiert, als vielmehr an der Geschichtlichkeit je dagewesener Existenz und an den Möglichkeiten menschlichen Daseins. So reicht die Skala der historischen Begrifflichkeit von den "Fakten" bis zu den Möglichkeiten der Existenz, vom- im Sinne der exakten Natur­wissenschaften - "Objektiven" bis zu unverwechselbar Einmaligem menschlicher Subjektivität und Spontaneität. Wir haben hier nur wenige typisdJ.e Modelle herausgegriffen. "Alle allgemeinen historischen Sach­begriffe haben etwas Gleitendes", bemerkt R. Wittram mit Recht28• Es sind heuristische Begriffe, die immer wieder am Detail auf ihre Anwend­barkeit zu prüfen sind. Ihre Beweglichkeit, mit der sie sich gegen eine metaphysische Verfestigung im System und gegen ihre logische Eindeu­tigkeit sträuben, gründet aber nicht nur in der begrenzten geschichtlichen Perspektivität des Betrachters, der sie verwendet, um eine rätselhafte Wirklichkeit aufzuhellen. Sie gründet auch darin, daß die eindeutige und für immer feststehende Wirklichkeit für die Begriffe noch nicht gegeben ist. Der Begriff der "Nation" oder der "Klasse" oder der "Kultur" usw. ist nicht eine stehende Kategorie, in welcher die Geschichte der Nation, die Geschichte der Klassenkämpfe oder die Kulturgeschichte in Erfah­rung gebracht werden kann, sondern was eigentlich "Nation", "Klasse", "Kirche" usw. sind, das ist selber geschichtlich im Fluß, geschichtlich um­stritten und darum geschichtlich im Wandel begriffen. Wenn dieses der Grundgedanke des Historismus ist, daß das Wesen einer Sache aus ihrem geschichtlichen Werdegang zu begreifen sei und das Ergebnis des histori­schen Prozesses erst im historischen Prozeß selber entschieden wird, so ist das "Land des realisierten, absoluten Begriffs" nicht auf dem Wege der Abstraktion vom Besonderen auf das Allgemeine und nicht auf dem Wege der Oberschau über die Vergangenheit zu erreichen, sondern dann ist dieses Land das noch unentdeckte Vor-land der Geschichte, das aus der Geschichte heraus nur in fragmentarischen Antizipationen erreicht werden kann. Es liegt nicht nur an der mangelnden Reichweite des menschlichen Geistes, daß ihm die Geschichte dunkel bleibt, sondern an der Geschichte selber, die ihr Ende noch nicht erreicht hat und darum in historisches Erkennen noch nicht oder nur fragmentarisch-proleptisch aufgehoben werden kann.

28. R. Wittram, aaO. 43.

§4

Historiologie

Die historische Heuristik führt von selber zum Problem der Geschichts­philosophie. "In der Kritik wird die Geschichte von selber zur Philoso­phie der Geschichte" (F. C. Baur)29 • Wie aber kann eine Philosophie der Geschichte möglich sein im griechischen Begriff von Wissen und Wissenschaft? Ist das "Wesen der Geschichte die Wandlung" (J. Burck­hardt)30, so ist "Wandlung" das genaue Gegenteil von "Wesen". "Ge­schichtsphilosophie" erschien darum ]. Burckhardt als ein Kentaur, eine contradictio in adjecto, "denn Geschichte, d. h. das Koordinieren ist Nichtphilosophie und Philosophie, d. h. das Subordinieren ist Nicht­geschichte"31. Dennoch sind alle historischen Allgemeinbegriffe, mit de­nen man versucht, geschichtliche Zusammenhänge zu verstehen, verbun­den mit bestimmten ErheBungshorizonten der Wirklichkeit und stehen darum im Vollzuge einer philosophischen Erkenntnis der Welt als Ge­schichte. Ist das allgemeine Bestreben der menschlichen Vernunft auf die Vernichtung des Zufalls gerichtet, wie Wilhelm von Humboldt sagte, so wird dieses Bestreben in jener Geschichtsphilosophie verschärft, für die die Erfahrung der Geschichte die Erfahrung der Krise und der per­manenten Revolution ist. Der "Schrecken der Geschichte" verliert seinen Schrecken, wo er begriffen wird. Er wird aber begriffen, wo in den chaotischen Bewegungen der Geschichte ein Sinn, ein immanenter Logos, wo im Kontingenten Notwendigkeiten und Abhängigkeiten entdeckt werden können. Dann wird Geschichte "begriffen", und wo Geschichte so "begriffen" wird, hört sie auf, "Geschichte" zu sein. Betrachten wir diesen - oft unbewußten - Überschritt von der histori­schen Heuristik zur Geschichtsphilosophie bei einigen namhaften Historikern. a) Auch Ranke stellte sich ständig die Frage nach einem "Generalband" der Geschichte. Ranke wird gemeinhin darum als Historiker gerühmt, weil er die apriorischen Konstruktionen weltgeschichtlicher Spekulation

29. F. C. Baur zit. nach Koselleck, aaO. 6. 30. Weltgeschichtliche Betrachtungen, aaO. 72. 31. Ebd. 43. Doch zeigt]. Burckhardts eigener Ausgangspunkt einen typisch griechischen Begriff des Logos: "Unser Ausgangspunkt ist der vorn einzig bleibenden und für uns möglichen Zentrum, vorn duldenden, strebenden und handelnden Menschen, wie er ist und immer war und sein wird; daher unsere Betrachtung gewissermaßen pathologisch sein wird. Die Geschichtsphilosophen betrachten das Vergangene als Gegensatz und Vor­stufe zu uns als Entwickelten; -wir betrachten das sich Widerholende, Konstante, Typi­sche als ein in uns Anklingendes und Verständliches" (45).

226 Eschatologie und Geschichte

des deutschen Idealismus verließ, um sich den historisch empirischen Ob­jekten der Geschichte selber in ihrer unübersehbaren Fülle zuzuwenden. Dennoch ist auch Ranke an bestimmte weltanschauliche Voraussetzungen in seiner Geschichtsschreibung gebunden32• So heißt es in der "Deutschen Geschichte im Zeitalter der Reformation": "Wir dürfen vielleicht sagen, eben deshalb folgen die Zeiten aufeinander, damit in allen geschehe, was in keiner einzigen möglich ist, damit die ganze Fülle des dem menschlichen Geschlechte von der Gottheit eingehauchten geistigen Lebens in der Reihe der Jahrhunderte zutage komme. "33 Danach ist geistiges Leben der Menschheit von der Gottheit "eingehaucht", und zwar ist es in seiner "ganzen Fülle" wie die Gottheit selber unendlich ist, und kann darum in der Zeit der Geschichte nur sukzessive "zutage" treten. Zwar sind uns die Gesetze, nach denen es nach und nach zum Vorschein kommt, dunkel, geheimnisvoller und größer, als man denkt3\

aber es läßt sich die göttliche Ordnung der Dinge doch ahnen, denn diese "göttliche Ordnung" ist "identisch mit der Aufeinanderfolge der Zeiten" 35 • Darum verwendet Ranke für sie die historischen Begriffe wie "Tendenzen" und "Kräfte". "Es sind Kräfte, und zwar geistige, Leben hervorbringende, schöpferische Kräfte, selber Leben, es sind moralische Energien, die wir in ihrer Entwicklung erblicken, ... sie blühen auf, nehmen die Welt ein, treten heraus in dem mannigfaltigsten Ausdruck, bestreiten, beschränken, überwältigen einander: in ihrer Wechselwirkung und Aufeinanderfolge, in ihrem Leben, ihrem Vergehen oder ihrer Wiederbelebung, die dann immer größere Fülle, höhere Bedeutung, wei­teren Umfang in sich schließt, liegt das Geheimnis der Weltgeschichte. "36

Das geschichtsphilosophische Grundbild für diese Deutung des "Geheim­nisses der Weltgeschichte" ist ersichtlich das neuplatonische, panentheisti­sche Bild der Goethezeit. Die "Idee", "Gott", die "Sonne" oder die "Quelle", birgt für Ranke kein ihr immanentes dialektisches Prinzip in sich, wie für Hegel, sondern sie emaniert, während sie selber im wandel­losen, unveränderlichen Sein immer außerweltlich bleibt. Ihre Emana­tionen zeigen sich im Fluß der geschichtlichen Erscheinungen und Bewe­gungen, im Wechselspiel und in der Aufeinanderfolge der Kräfte und Tendenzen, der moralischen Energien und Epochen. Jede von ihnen steht in einem Immediatsverhältnis zur obersten Idee. Darum ist jede

32. C. Hinrichs, Ranke und die Geschichtstheologie der Goethezeit, 1954, 161 ff. 33. Zit. ebd. 162. 34. Ebd. 164. 35. Ebd. 168. 36. Ebd. 174. Zitate aus "Die großen Mächte".

Historiologie 227

Epoche "unmittelbar zu Gott, und ihr Wert beruht garnicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst, in ihrem eigenen Selbst", wie es in den "Berchtesgadener Vorträgen" heißt37 • "Die Ideen, durch die menschliche Zustände begründet werden, enthalten das Gött­liche und Ewige, aus dem sie quellen, doch niemals vollständig in sich. "38 Dennoch darf nach Ranke keineswegs die "innere Notwendig­keit der Aufeinanderfolge" übersehen werden. Zwar läßt sich für die Weltgeschichte kein Endziel angeben. "Wollte man für diese (scil. die Weltgeschichte) ein bestimmtes Ziel angeben, so würde man die Zukunfl: verdunkeln und die schrankenlose Tragweite der welthistorischen Be­wegung verkennen. "39 Trotzdem gibt es für Ranke ein Ziel. Das Ziel der geschichtlichen Entwicklungen und Verwicklungen besteht darin, daß die "ganze Fülle" des der Menschheit eingehauchten Geistes, die unend­liche Mannigfaltigkeit, die in der einen göttlichen Idee angelegt ist, sich in der Abfolge der Epochen an den Tag bringt. Es wird nicht die Idee am Ende offenbart und verwirklicht dastehen, sondern das Ganze der hier unübersehbaren Weltgeschichte wird als Summe der Teilmanifesta­tionen der Idee die Fülle des göttlichen Seins offenbaren. "Für Ranke besteht die Entwicklung aus der Folge von lauter gleichberechtigten Er­scheinungsformen der einen Idee, die ihren Wert in sich selber tragen und deren unendliche Fülle zusammengenommen die Offenbarung des Ganzen ergeben würde." Dieses ist die weltgeschichtliche "Teleologie ohne Telos", wie G. Masur Rankes Geschiehtsauffassung und Geschichtsschrei­bung genannt hat. So ist für Ranke die Geschichte ein Prozeß, aber ihr Sinn ist nicht im Endergebnis enthalten. Gott erscheint in der Geschichte, aber er löst sich nicht in sie auf. Sache des Historikers ist es, das Leben der Vergangenheit wiederherzustellen, und zwar in jener Harmonie, die im Ganzen der geschichtlichen Tatsachen schon gegeben ist. Ranke besaß also eine "Vision des Ganzen", eine geschichtsphilosophische Grundauffassung und einen geschichtstheologischen Glauben. Er teilt ihn mit der Goethezeit. Doch war er bescheiden und verhalten genug, um nicht nach dieser Konzeption Geschichte zu konstruieren und das Uner­klärbare nicht mit der Bemerkung, es sei dann eben schlecht für die Tat-

37. Ebd. 165 38. Zit. ebd. 165. Vgl. auch "Die großen Mächte", 1955, 3 f und 43: "Ohne Zweifel hat in der Historie auch die Anschauung des einzelnen Momentes in seiner Wahrheit, der besonderen Entwicklung an und für sich einen unschätzbaren Wert; das Besondere trägt das Allgerneine in sich." ... So aber trägt es das Allgerneine in sich, daß "aus Sonderung und reiner Ausbildung die wahre Harmonie hervorgehen (wird)." 39. Fr. Meinecke, Deutung eines Rankewortes, in: Zur Theorie und Philosophie der Geschichte, 1959, 117 ff.

228 Eschatologie und Geschichte

sachen (Hegel), abzutun. Er bringt seine "Idee" nur an bestimmten Wen­dungen in der Geschichte zur Sprache und - das ist allerdings entscheidend - in seiner historischen Begriffsbildung. b) In einer ähnlichen Weise versuchte Ferdinand Christian Baur, durch den historische Kritik und historisches Denken für die protestantische Theologie unabweisbar geworden sind, die Geschichte als ein universales Ganzes zu erfassen40 • Für ihn führt die historische Kritik notwendig zur Frage nach der "wahren Wirklichkeit der Geschichte". "Weiche höhere Aufgabe kann überhaupt die Geschichte haben, als die immer tiefere Erforschung des geschichtlichen Zusammenhangs aller Erscheinun­gen, die als gegebenes Objekt vor ihr liegen? ... Darum geht aber auch ihr Streben sehr natürlich dahin, mit allen Mitteln, die ihr zu Gebot stehen, ebensosehr durch die Erforschung des Einzelnen, als durch die Unterordnung des Einzelnen unter die höhern leitenden Gesichtspunkte, durch welche es erst seine feste Stellung im Ganzen erhält, auch in das einzudringen, was noch als feste geschlossene Masse vor ihr steht, um es aufzulösen und flüssig zu machen, und in den allgemeinen Fluß des geschichtlichen Werdens hereinzuziehen, in welchem, in der unendlichen Verkettung der Ursachen und Wirkungen, das Eine immer die Voraus­setzung des Andern ist, alles zusammen sich selbst trägt und hält, und nur das auf immer unbegriffen bleiben müßte, was voraus den Anspruch machen könnte, mitten in der Geschichte außerhalb des geschichtlichen Zusammenhangs zu stehen. "41 Wird aber der "geschichtliche Zusammen­hang" so verstanden, so muß aus geschichtsphilosophischen - nicht aus historiographischen- Gründen das "Wunder" oder der "Sprung" elimi­niert werden. Denn "am Ende kann sich doch nur diejenige Ansicht be­haupten, die in unsere Weltanschauung, in unsere Auffassung der evan­gelischen Geschichte, in unser ganzes Bewußtsein Einheit, Zusammenhang und vernünftige Konsequenz bringt". "Ihren festen Bestand erhält eine historische Wahrheit doch immer erst in dem Zusammenhang des Gan­zen, in welchem ihr ihre bestimmte Stelle angewiesen werden kann. "42

So führt für F. C. Baur die historische Kritik unausweichlich hinüber zur historischen Spekulation43, denn historische Kritik kann und soll

40. Vgl. die Einführung von E. Käsemann zur Neuausgabe der Historisd:J.-kritisd:J.en Untersuchungen zum Neuen Testament, F. C. Baur, Ausgewählte Werke, ed. Kl. Sd:J.ol­der, I, 1963, und die Einführung von E. Wolf zu F. C. Baur, Ausgewählte Werke, ed. Kl. Scholder, li, 1963. 41. Epochen der kirchlichen Geschichtssd:J.reibung, 1852, Zit. nach E. Wolf, aaO. IX. 42. An Dr. K. Hase. Beantwortung des Sendsd:J.reibens der Tübinger Sd:J.ule, 1855, zit. nach E. Wolf, aaO. XI. 43. E. Käsemann, aaO. XIX

H istoriologie 229

nicht, wie in der Aufklärung, zur Atomisierung der Fakten führen, son­dern muß für Baur soviel bedeuten wie ein Verständnis des Einzelnen im Ganzen. ,Historisch-kritisch' besagt, daß kein einzelnes Moment verabsolutiert oder negiert, sondern jedes als Glied des Oberganges im Zusammenhang des immanenten geschichtlichen Fortschritts und gerade so der sich in ihrer Totalität realisierenden Offenbarung des Geistes oder der Idee verstanden wird. "44 So ist historische Kritik nur die Kehr­seite historischer Spekulation. Was aber wird aus "Geschichte" unter einer solchen Totalvision historischer Spekulation? 1. Die Geschichte wird zu einem "gegebenen Objekt, das vor uns liegt". 2. Die einzelnen geschichtlichen "Ereignisse" werden als geschichtliche "Erscheinungen" eines umgreifenden Ganzen verstanden. 3. Die geschichtlichen "Augenblicke" werden als "Momente" in den Be­wegungen des gesamtgeschichtlichen Zusammenhanges genommen. 4. Der Zusammenhang der Geschichte wird als "unendliche Verkettung von Ursachen und Wirkungen in vernünftige Konsequenz" gebracht. 5. Die "Geschichte" wird zum Inbegriff der Wirklichkeit in Totalität; eines in sich bewegten, universalen Ganzen, in dem "alles zusammen sich selbst trägt und hält". 6. Geschichte wird damit zum Erscheinungsfeld eines geistigen Ganzen. Sie wird zum "ewig klaren Spiegel, in welchem der Geist sich selbst an­schaut, sein eigenes Bild betrachtet". In der Geschichte realisiert und manifestiert sich der Geist. In der Geschichtswissenschaft wird er zurück­empfangen. So entspricht der spekulativen Geschiehtsauffassung der Ge­schichte als der Erscheinungswelt des Geistes das Prinzip der Subjek­tivität des historisch sich seiner selbst bewußt werdenden Geistes. Histo­risch-kritische Methode, historische Spekulation des Ganzen der Geschich­te und die Resubjektivierung des Geistes in der Geschichtserkenntnis ge­hören zusammen und bedingen sich untereinander. Damit aber erhebt sich die Frage, ob mit dieser historisch-kritischen Methode und dieser historischen Spekulation "Geschichte" überhaupt noch "geschichtlich" verstanden wird, oder ob nicht in diesem Prozeß des Erkennens und Begreifens von Geschichte die Geschichtlichkeit der Ge­schichte in einen ungeschichtlichen griechischen Logos aufgehoben wird. Aus Geschichte wird ein Kosmos, der sich selbst trägt. Das Rätsel der Geschichte wird mit den Mitteln platonischer Philosophie, Begelseher Dialektik und pantheistischer Ideen aufgelöst. Geschichte wird zum Uni­versum wechselnder, sich wandelnder Epiphanien der ewigen Gegenwart.

44. E. Käsemann, ebd.

230 Eschatologie und Geschichte

Es ist nicht einzusehen, wieso auf diesem Wege "im rücksichtslosen Ein­satz der historischen Kritik in einer veränderten Situation die reforma­torische Entscheidung des ,sola fide' wiederholt worden ist" 45 •

c) Für ]ohann Gustav Droysen ist das "Gebiet der historischen Methode" "der Kosmos der sittlichen Welt"46• Diese sittliche Welt nach ihrem Werden und Wachsen, nach dem Nacheinander ihrer Bewegungen auf­fassen, heißt, sie geschichtlich aufzufassen. Damit ist für Droysen die Sub­stanz, deren geschichtliche Manifestationen geschichtlich zu erforschen sind, im Ansatz bereits ausgemacht. Sein "Kosmos der sittlichen Welt" wird entfaltet in einer Weltgeschichte sittlicher Teleologie. An die Stelle des Kausalitätsprinzips tritt das Prinzip der sittlichen Entelechie. Das Geheimnis der geschichtlichen Bewegungen wird von ihren Zwecken her aufgehellt. "Indem die geschichtliche Auffassung in der Bewegung der sittlichen Welt deren Fortschreiten beobachtet, deren Richtung erkennt, Zweck auf Zweck sich erfüllen und enthüllen sieht, schließt sie auf einen Zweck der Zwecke, in dem sich die Bewegung vollendet, in dem das, was diese Menschenwelt bewegt, umtreibt, rastlos weiter eilen macht, Ruhe, Vollendung, ewige Gegenwart ist."47 "Alles Werden und Wachsen ist Bewegung zu einem Zweck, der in der Bewegung erfüllend zu sich selbst kommen will. "48 "Der höchste, der unbedingt bedingende, der alle be­wegt, alle umschließt, alle erklärt, der Zweck der Zwecke ist empirisch nicht zu erforschen. "49 "Dem endlichen Auge ist Anfang und Ende ver­hüllt. Aber forschend kann es die Richtung der strömenden Bewegung erkennen. In die engen Schranken des Hier und Jetzt gebannt, erschaut es das Woher, Wohin."50 So ergibt sich "aus der Selbstgewißheit unseres Ichseins, aus dem Drang unseres sittlichen Sollens und Wollens, aus der Sehnsucht nach dem Vollkommenen, Einen, Ewigen ... zu den anderen ,Beweisen' vom Dasein Gottes der für uns beweisendste"51 • Die so gewon­nene Gewißheit des höchsten, sinngebenden Zweckes aller Zwecke nennt Droysen eine "Theodizee der Geschichte", ohne die die Geschichte in die Sinnlosigkeit einer nur sich wiederholenden Kreislaufbewegung ge­riete. So hält Droysen für die "Geschichte" fest an dem Glauben an eine

45. Gegen G. Ebeling, Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode, in: Wort und Glaube, 1960, 45, und F. Gogarten, Verhängnis und Hoffnung der Neuzeit, 1958, 154, deren Thesen Kl. Scholder im Vorwort zur genannten Neuausgabe der Werke von F. C. Baur als Frage an das Werk F. C. Baurs erhebt. 46. f. G. Droysen, Historik, 4. Aufl. 1960, 345. 47. Ebd. 345. 48. Ebd. 356. 49. Ebd. 356. 50. Ebd. 358. 51. Ebd. 356.

Historiologie 231

weise Weltordnung Gottes, die das ganze Menschengeschlecht umfaßt, und "darin, daß sie diesem Glauben, ,das ist eine Zuversicht, nicht zu zweifeln an dem, was man nicht siehet', nachringt mit dem Erkennen, ... darin und nur darin weiß sie sich als Wissenschaft" 52 •

Bei Droysen ist das Verhältnis von Geschichte und Philosophie der Ge­schichte besonders interessant. Die geschichtlichen Bewegungen sind Be­wegungen im Rahmen des "Kosmos" der sittlichen Welt. An die Stelle des Kausalitätskosmos der Naturwissenschaften aber tritt ein teleologi­scher Kosmos, der seine metaphysische Einheitsspitze im höchsten End­zweck, im Zweck aller Zwecke hat. Das ist ersichtlich der Entelechien­kosmos der aristotelischen Metaphysik. Dieser wird verbunden mit den Postulaten der praktischen Vernunft von Kant, mit dem vorauszusetzen­den Glauben an "Gott und eine künftige Welt". Die Eschatologie der christlichen Hoffnung wird umgesetzt in die Teleologie der sittlichen Vernunft. Aus dem Eschaton wird jenes Telos aller tele: Ruhe, Voll­endung, ein Hirt und eine Herde, Menschheitsstaat, königliche Vollfrei­heit des sittlichen Menschen, neuer Himmel und neue Erde, Rückleitung der ganzen Schöpfung zu Gott53• Die neuplatonische Logosspekulation und die Hegelsche Dialektik des Zusichselbstkommens des absoluten Geistes umschreiben des Näheren dieses Eschaton-telos. Auch hier ist das Rätsel der Geschichte aufgelöst. Der sittlich Handelnde weiß sich als auf dem Wege zu seiner endlichen Lösung. Das letzte Zitat aber zeigt deutlich, daß die Frage nach dem Sinn oder der Sinnlosigkeit der Geschichte "vorwissenschaftlich", wie R. Wittram sagt, entschieden wird, jedoch nicht in einer unwissenschaftlichen Vorwissenschaftlichkeit, sondern, wie Droysen sagt, in den Fundamenten und treibenden Motiven zur Geschichtswissenschaft, nämlich in jener gläubigen Hoffnung auf das noch unsichtbar Zukünftige, die nach Erkenntnis und Geschichtswissen­schaft drängt, der die Erkenntnis "nachringt". Das würde heißen, daß das geschichtliche Bewußtsein, die geschichtliche Erinnerung und die Er­kenntnis von Geschichte immer so weit reichen, wie das geschichtliche Sendungsbewußtsein in Zukunftshoffnung und Glaubensgewißheit in ein Eschaton der letzten Zwecke und Ziele vorgreift. Das historische Ge­schichtsbewußtsein empfängt seine Möglichkeiten und seine Grenzen der Wahrnehmung von einem geschichtlichen Sendungsbewußtsein, das die Zukunft in die Verantwortung ihrer Ziele und Zwecke nimmt. Wird dieses, wie bei Droysen, sittlich formuliert, so wird das Gebiet der histori-

52. Ebd. 373. 53. Ebd. 357 Anm. 11.

232 Eschatologie und Geschichte

sehen Methode zum Kosmos der sittlichen Welt. Es ist bezeichnend, daß Droysen für diese sittliche Teleologie zwar die biblischen Verheißungen der neuen Menschheit, der Freiheit der Kinder Gottes, der Vollendung aller geschichtlichen, endlichen Bewegungen in der "ewigen Gegenwart" aufnehmen kann, nicht aber den Angelpunkt christlicher Eschatologie: die Auferstehung der Toten. d) Für Wilhelm Dilthey ist Geschichte Geisteswissenschaft, und die Geisteswissenschaften beruhen auf dem Verhältnis von Leben, Ausdruck und Verstehen. "Der Inbegriff dessen, was uns im Erleben und Ver­stehen aufgeht, ist das Leben als ein das menschliche Geschlecht umfas­sender Zusammenhang. "54 überall treffen wir in der Geschichte auf Lebensäußerungen, Lebensbezüge, Objektivationen des einen, uner­gründlichen Lebens. "Jede einzelne Lebensäußerung repräsentiert im Reich dieses objektiven Geistes (scil. im Sinne der Objektivierung des Lebens) ein Gemeinsames. "55 Alle Lebensäußerungen stehen in einer Sphäre von Gemeinsamkeit und sind nur in einer solchen verständlich. Die "Grundtatsache" der menschlichen Welt ist "das Leben", und das "Wesen der Geschichte" ist darum in der Idee der "Ojektivation des Lebens" 56 zu sehen. "Aus Leben aller Art in den verschiedensten Ver­hältnissen besteht Geschichte. Geschichte ist nur das Leben, aufgefaßt unter dem Gesichtspunkt des Ganzen der Menschheit, das einen Zusam­menhang bildet." 57 Gegen Hegels Ausgangspunkt im "absoluten Geist" setzt Dilthey die "Realität des Lebens": "Im Leben ist die Totalität des seelischen Zusammenhanges wirksam". Darum versteht er den "objekti­ven Geist" nicht aus der "Vernunft", sondern als Lebenseinheit von Lebensäußerungen und Lebensobjektivationen. Der geschichtliche "Wirkungszusammenhang" besteht entsprechend für ihn nicht im Kau­salzusammenhang der Natur, sondern in der Struktur des Seelenlebens, das Werte erzeugt und Zwecke realisiert. Das unergründlich quellende Leben wird uns verständlich in den unendlichen geschichtlichen Objekti­vationen dieses Lebens, soweit wir selber an ihm Anteil haben. Das Ver­stehen geschichtlicher Lebensäußerungen setzt die Begründung des eige-

54. Gesammelte Schriften, 1921 ff., VII, 131. Zum Werke Diltheys vgl. G. Misch, Lebensphilosophie und Phänomenologie, 2. Aufl. 1931; E. Rothacker, Einleitung in die Geisteswissenschaften, 1920; H. Plessner, Zwischen Philosophie und Gesellschaft, 1953, 262 ff.; 0. F. Bollnow, Dilthey, 2. Aufl. 1955; ders., Die Lebensphilosophie, 1958. 55. Ges. Schriften, VII, 146. 56. VII, 147. "Durch die Idee der Objektivierung des Lebens erst gewinnen wir einen Einbli<k in das Wesen des Geschichtlichen ... Was der Geist heute hineinverlegt von seinem Charakter in seine Lebensäußerung, ist morgen, wenn es dasteht, Geschichte." 57. VII, 276.

Historiologie 233

nen Lebens im unergründlichen Lebensstrom voraus und steht mit ihr in Wechselwirkung. Wir verstehen, was wir erleben, und können erleben, was wir verstehen. "Wir sind zuerst geschichtliche Wesen, ehe wir Be­trachter der Geschichte sind, und nur weil wir jene sind, werden wir zu diesen. "58 So erweitert die verstehende Geisteswissenschaft oder Lebens­wissenschaft den Horizont von Lebensgemeinsamkeiten und kommt dem unergründlich und unendlich Ganzen der Geschichte nahe. Die Einsicht in die Endlichkeit und die Relativität aller geschichtlichen Lebenserschei­nungen führt dann nicht zum Relativismus, sondern befreit zur uner­gründlich schöpferischen Aktivität des Lebens. Das Chaos geschichtlicher Relativität ist ambivalent zur schöpferischen Produktivität des Lebens selbst. "Dieses Knäuel von quälenden, von entzückenden Fragen, von intellektueller Lust und von Schmerzen der Insuffizienz, der Widersprü­che: das ist das Rätsel des Lebens: der einzige, dunkle, erschreckende Ge­genstand aller Philosophie ... das Antlitz dieses Lebens selber, ... diese Sphinx mit dem animalischen Leib und dem Menschenantlitz. "59 So sehr hier die Geschichte in einen lebensphilosophischen Horizont hin­eingenommen wird und als Fülle der endlichen Objektivationen und Erscheinungen des unendlichen Lebens genommen wird, so sehr kann sich damit für Dilthey auch ein Ziel verbinden: "Die Entwicklungsfähig­keit des Menschen, der Erwartung künftiger höherer menschlicher Lebens­formen: das ist der gewaltige Atem, der vorwärts treibt. "60

Auch hier werden die geschichtlichen "Ereignisse" aus einer unerschöpf­lich quellenden Ursubstanz der Geschichte, dem "Leben", gedeutet und werden in Bezug auf den unergründlichen Lebensprozeß zu "Objektiva­tionen" von etwas. Allen Ereignissen, Ideen und Bewegungen in der Geschichte liegt etwas Gemeinsames zugrunde, das sich in allem zeigt und es verstehbar und übernehmbar als Bereicherung des eigenen Lebens macht. Das "Rätsel der Geschichte" wird nicht rational gelöst. Die Ge­schichte wird nicht in eine mathematische Universalformel gebannt. Aber es wird das Rätsel der Geschichte identifiziert als das Rätsel des Lebens, dessen Lösungen sich fragmentarisch, endlich, überholbar in den Lebens­bezügen und Lebensobjektivationen zeigen. Das unergründliche Leben perenniert. Die Lebensbezüge und Objektivationen changieren. Geschich-

58. VII, 278. 59. VIII, 140. Dazu M. Landmann, Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur, 1961. L.wendet die im Historismus befürchtete "Anarchie des Denkens" und den "Rela­tivismus der Werte" ins Positive der unerschöpflichen Fülle der Schöpferkraft: "Viel­heitswissen als Entbindung der Schöpferkraft", 72 ff. 60. H. Nohl, Nachwort zu W. Dilthey, Die Philosophie des Lebens, Philosophische Texte, ed. H. G. Gadamer, 1946, 98.

234 Eschatologie und Geschichte

te wird verstehbar, wo sie bezogen wird auf ein Zugrundeliegendes, ein ewig treibendes und quellendes Etwas, auf das hypokeimenon des "Le­bens". Dann ist "Geschichte" Geschichte des Lebens, und sofern "Leben" Geist ist, ist Geschichtswissenschaft Geisteswissenschaft. Ihr Erkennen und Verstehen vergangeuer Geschichte ist das Erkennen und Sichver­stehen des Gleichartigen im Verschiedenen. Auch hier wird Geschichte zu einem Universum, in dessen unübersehbarem Ganzen das "Leben" epiphan wird. e) Martin Heidegger geht von der Geschiehtsauffassung der Lebensphilo­sophie Diltheys aus61 • Doch liegt für ihn der "grundsätzliche Mangel" jener lebensphilosophischen Geschiehtsauffassung darin, daß das "Leben" selbst nicht ontologisch zum Problem gemacht wurde. Für ihn ist "Leben" "wesenhaft nur zugänglich im Dasein". Unter "Dasein" wird ausschließ­lich das Sein des Menschen oder - später - das, worin der Mensch das Sein findet und hat, verstanden. Damit tritt für ihn an die Stelle des "unergründlichen Lebens" das Dasein, wie es sich einer phänomenolo­gischen Analyse zeigt. Geschichte wurzelt nicht mehr in der schöpfe­rischen Unergründlichkeit des Lebens, sondern in der Geschichtlichkeit des Daseins. "Die Bestimmung Geschichtlichkeit liegt vor dem, was man Geschichte (weltgeschichtliches Geschehen) nennt. Geschichtlichkeit meint die Seinsverfassung des ,Geschehens' des Daseins als solchen, auf dessen Grunde allererst so etwas möglich ist wie ,Weltgeschichte' und geschicht­lich zur Weltgeschichte gehören. "62 Das bedeutet, daß der Ursprung und das Wesen der Geschichte in der Endlichkeit, der Zeitlichkeit und der Geschichtlichkeit der Existenz des Menschen zu suchen sind. Das Dasein ist endlich, denn es erstreckt sich zwischen Geburt und Tod. Zur zeit­lichen Erstreckung des Daseins gehört der Tod. "Das eigentliche Sein zum Tode, das heißt die Endlichkeit der Zeitlichkeit, ist der verborgene Grund der Geschichtlichkeit des Daseins. "63 Menschliches Dasein ist "Sein zum Tode" als der unüberholbaren Möglichkeit der Existenz. "Nur das Freisein für den Tod gibt dem Dasein das Ziel schlechthin und stößt die Existenz in ihre Endlichkeit. Die ergriffene Endlichkeit der Exi­stenz reißt aus der endlosen Mannigfaltigkeit der sich anbietenden näch­sten Möglichkeiten ... zurück und bringt das Dasein in die Einfachheit seines Schicksals. "64

61. Vgl. W. Müller-Lauter, Konsequenzen des Historismus m der Philosophie der Gegenwart, ZThK 59, 1962, 226 ff. 62. M. Heidegger, Sein und Zeit, 19 f. 63. Ebd. 386. 64. Ebd. 384.

Historiologie 235

Wird das Wesen der Geschichte in der so analysierten Geschichtlichkeit des Daseins überhaupt gesehen, so wird abgesehen von dem Vielerlei der Dinge und Ereignisse, so wird nicht mehr nach der geschichtlichen Folge und nach deren Wirklichkeit überhaupt, sondern nach deren wesen­hafter Ermöglichung gefragt. "Wozu sich das Dasein je faktisch ent­schließt, vermag die existenziale Analyse grundsätzlich nicht zu erör­tern."65 Sie stellt nur einen formalen Strukturzusammenhang dar, der die Bedingungen für die jeweiligen Geschehnisse abgibt. Welche Geschiehtsauffassung resultiert aus dieser Begründung von Ge­schichte in der grundsätzlichen Geschichtlichkeit des Daseins? Wie Dil­they in seiner lebensphilosophischen Deutung der Historie als Geistes­und Lebenswissenschaft, so zielt auch Heideggers existenziale Interpre­tation der Historie als Wissenschaft auf den Nachweis ihrer ontologischen Herkunft aus der Geschichtlichkeit des Daseins selbst und meint den Entwurf der Idee der Historie aus der Geschichtlichkeit des Daseins. Damit ist jedoch nicht nur die Geschichtlichkeit des historischen Subjektes, sondern auch eine neue Umschreibung des historischen Gegenstandes ge­geben. Heidegger unterscheidet sehr genau zwischen dem "primär Ge­schichtlichen" und dem "sekundär Geschichtlichen"66. Der primäre und eigentliche Gegenstand der Historie liegt nicht in der individuellen Begebenheit oder in "Gesetzen" der Ereignisfolgen, son­dern in der "faktisch existent gewesenen Möglichkeit". " ... das zentrale Thema der Historie (ist) je die Möglichkeit der dagewesenen Existenz. "67

Die eigentliche Geschichtlichkeit versteht also in der Historie die Ge­schichte "als die ,Wiederkehr' des Möglichen, und weiß darum, daß die Möglichkeit nur wiederkehrt, wenn die Existenz schicksalhaft-augen­blicklich für sie in der entschlossenen Wiederholung offen ist" 68 • Damit wird die Historie zum Rückgang in die (dagewesene) Möglichkeit, zur Wiederholung der Möglichkeit und zur Erwiderung der Möglichkeit. Die Historie wird "die stille Kraft des Möglichen um so eindringlicher er­schließen, je einfacher und konkreter sie das ln-der-W elt-gewesensein aus seiner Möglichkeit her versteht und ,nur' darstellt"69 • "Die Wieder-

65. Ebd. 383. 66. Ebd. 381: "Primär geschichtlich - behaupten wir - ist das Dasein. Sekundär ge­schichtlich aber das innerweltlich Begegnende, nicht nur das zuhandene Zeug im weite­sten Sinne, sondern auch die Umweltnatur als ,geschichtlicher Boden'. Wir nennen das nichtdaseinsmäßige Seiende, das auf Grund seiner Weltzugehörigkeit geschichtlich ist, das Weltgeschichtliche." 67. Ebd. 395. 68. Ebd. 391 f. 69. Ebd. 394.

236 Eschatologie und Geschichte

holung ist die ausdrückliche Vberlieferung, das heißt der Rückgang in die Möglichkeiten des dagewesenen Daseins. Die eigentliche Wiederholung einer gewesenen Existenzmöglichkeit - daß das Dasein sich seinen Helden wählt - gründet existenzial in der vorlaufenden Entschlossenheit. "70 So wird Historie vergangene Geschichte auf die ihr zugrundeliegenden Existenzverständnisse befragen und aus den Existenzverständnissen die Möglichkeiten des Daseins herausholen und als Möglichkeiten heutigen Seinkönnens vergegenwärtigen: damit das Dasein sich seinen Helden wählt. Historie wird damit wieder "Überlieferung" und zwar Ober­lieferung von dagewesenen Existenzmöglichkeiten. Das sekundär Geschichtliche wurzelt hingegen in der uneigentlichen Ge­schichtlichkeit des Daseins. In der Flucht vor dem Tode ist es verloren an das Man und das Weh-Geschichtliche und ist zerstreut in das Vieler­lei dessen, was täglich passiert. Es versteht Sein indifferent als Vorhan­denheit und wird historisch blind für die Möglichkeiten71 • Es behält und erhält daher nur das übriggebliebene "Wirkliche" des gewesenen Weh­geschichtlichen, die Überbleibsel und die vorhandene Kunde darüber. Es weicht der Wahl aus. Beladen mit der ihr selbst unkenntlich gewor­denen Hinterlassenschaft der "Vergangenheit" sucht es das Moderne. In­sofern trachtet diese Historie das Dasein seiner eigentlichen Geschichtlich­keit zu entfremden. Erst mit Heideggers Unterscheidung von eigentlicher und uneigentlicher Historie ist jener Dualismus aufgekommen, der das Verhältnis des Menschen zur Geschichte in objektivierendes Zusehen und unmittelbare Begegnung, in einen Tatsachenpositivismus und eine existentiale Inter­pretation der gewesenen Existenzmöglichkeiten zerlegt, um dann die "Phänomene der vergangeneu Geschichte aus den Möglichkeiten mensch­lichen Existenzverständnisses zu interpretieren und damit diese zum Be­wußtsein zu bringen als die Möglichkeiten auch gegenwärtigen Existenz­verständnisses"72. Nun zeigt sich aber, daß mit der Begründung der wirklichen Geschichte in der formalen Struktur der Geschichtlichkeit des Daseins deren wirk-

70. Ebd. 385. 71. Ebd. 391. 72. R. Bultmann, Das Urchristentum, 19542, 8. Vgl. zu diesem Dualismus H. Ott, Ge­schichte und Heilsgeschichte in der Theologie R. Bultmanns, 1955; ]. M oltmann, Exegese und Eschatologie der Geschichte, EvTh 22, 1962, 38 ff. Diese Entgegensetzung von historisch-kritischer Betrachtung und kerygmatischer Interpretation entspricht, nament­lich dort, wo er durch die Antithese von Gesetz und Evangelium verschärft wird, nicht dem primär und sekundär Geschichtlichen Heideggers, sondern stellt eine subjektivistisme Auslegung des Existenzgeschichtlichen dar.

Historiologie 237

lieh geschehene Bewegungen, Individualitäten und Zusammenhänge ver­blassen73. Der historische Relativismus wird zwar mit der ontologischen Ermöglichung von Geschichte in der Geschichtlichkeit des Daseins über­wunden. Diese Geschichtlichkeit ist selber nicht der Geschichte unterwor­fen, sondern gewinnt sich an der ewigen Thematisierung und Problemati­sierung des Daseins durch den Tod. Damit verliert sich auch der Blick auf die Geschichte überhaupt. "Die intendierte Überwindung des Histo­rismus wird zur nicht intendierten Überwindung von Geschichte. "74 Es vollzieht sich im Namen der "Geschichtlichkeit" und in der Arbeit der existenzialen Interpretation von Geschichte wiederum Vernichtung von Geschichte. Das Rätsel der Geschichte ist die Geschichtlichkeit des Daseins, und der Mensch weiß sich in seiner Geschichtlichkeit als seine Lösung. In seiner "Entschlossenheit" durchschlägt er den gordischen Knoten. Wer aber den Historismus so überwindet, verliert die Geschichte selbst. f) Versucht man das Ergebnis dieser kurzen Überschau über jene Ge­schichtsphilosophie, die sich aus der historischen Heuristik ergibt, zusam­menzufassen, so findet man, daß sich im Benennen, Begreifen und V er­stehen von Geschichte unausweichlich eine Aufhebung, eine Negation und Vernichtung der Geschichte zugleich vollzieht. Die leitende Frage nach dem Ursprung, der Substanz und dem Wesen der Geschichte bezieht die konkreten Bewegungen, Veränderungen, Krisen und Revolutionen, die Geschichte ausmachen, auf Unveränderliches, Immerseiendes und alle Zeit gleich Gültiges. Wissenschaft und Philosophie der Geschichte sind darin bemüht, den griechischen Logos in die neuzeitlichen Wirklichkeits­erfahrungen zu bringen und die neuzeitlichen, krisenhaften Erfahrungen in den griechischen Logos zu bringen. Es ist mit Recht oft hervorgehoben worden, daß "Geschichte" dem grie­chischen Denken von Hause aus fremd war. Das griechische Denken fragte vornehmlich nach dem immer Seienden, nach dem Unveränder­lichen, dem immer Wahren, immer Guten und immer Schönen. "Geschich­te" als das Werden und Vergehen, als das Unbeständige und Verfließende aber zeigt nichts Immerseiendes und Bleibendes. Darum konnte man in den zufälligen pragmata der Geschichte keinen Logos des ewigen, wahren Seins finden. Geschichte konnte man nicht "wissen", und es war in Ge­schichte auch im Grunde nichts Wissenswertes. Dieser Begriff von Logos und Wissen, von Wahrheit und Wesen, gründet ersichtlich in der Reli­gion des altgriechischen Götter- und Kosmosglaubens. Thukydides, der

73. W. Müller-Lauter, aaO. 254 Anrn. 1. Khnlid:!. Chr. Graf von Krockow, Die Ent­sd:!.eidung, 1958, 131 f. 74. W. Müller-Lauter, aaO. 253.

238 Eschatologie und Geschichte

Geschichtsschreiber des Peloponnesischen Krieges, zeigt tiefe Einblicke in das Wesen und das Typische der Menschen und der Mächte, aber auch er sucht nach dem Bleibenden, Unveränderlichen in diesem Kriege. "Er ist ein Mensch ohne Hoffnung und darum ohne weite Perspektiven. "75 Er zeichnet ein in sich geschlossenes Bild "einer Geschichte", aber er fragt nicht nach "der Geschichte". Es fehlt der Sinn für Veränderung und für das Neue, weil im Veränderlichen und plötzlich Neuen kein göttlicher Sinn sein kann. Diesem müßte die Würde des Beständigen und Bleiben­den zukommen. Auf der anderen Seite ist herausgestellt worden, daß der Geschichts­begriff eine Schöpfung des Prophetismus Israels sei. "Historie ist in griechischem Bewußtsein gleichbedeutend mit Wissen schlechthin. So ist und bleibt den Griechen die Geschichte lediglich auf die Vergan­genheit bezogen. Der Prophet dagegen ist der Seher. Sein Seherturn hat den Begriff der Geschichte erzeugt, als des Seins der Zukunft . . . Die Zeit wird Zukunft ... , und die Zukunft ist der vornehmliehe Inhalt dieses Gedenkens der Geschichte ... An die Stelle eines goldenen Zeitalters in mythologischer Vergangenheit wird durch die eschatologische Zukunft eine wahre historische Existenz auf der Erde gesetzt. "76 Dieses hat seinen Grund darin, daß für Juden und Christen Geschichte Heilsgeschichte und göttliche Verheißungsgeschichte bedeutet. Das "Göttliche" wird nicht als das Immerseiende in den bleibenden und beständigen Ordnungen und sich wiederholenden Strukturen geschaut, sondern von dem Gott der Verheißungen aus der Zukunft erwartet. Die Veränderungen der Ge­schichte sind darum nicht "das Veränderliche", gemessen am Bleibenden, sondern sie enthalten das Mögliche, gemessen an der Verheißung Gottes. "Geschichte" ist nicht ein Chaos, in das der Betrachter göttliche Ordnung und ewigen Logos zu bringen hätte, sondern Geschichte wird hier in den Kategorien des Novum und des Verheißenen wahrgenommen und ge­sucht. An die Stelle der leidenschaftslosen Betrachtung und Schau oder Überschau tritt damit die leidenschaftliche Erwartung und die beteiligte Sendung nach vorne. An die Stelle der Frage nach dem bleibenden Wesen und dem ewigen Ursprung in den gewesenen Zeiten tritt die geschicht­liche Frage nach der Zukunft und ihren Vorbereitungen und Ankündi­gungen in der Vergangenheit. Die eigentliche Kategorie der Geschichte ist nicht mehr die Vergangenheit und das Vergängliche, sondern die Zu­kunft. Die Wahrnehmung und Deutung der vergangeneo Geschichte ist

75. G. Mann, Der Sinn der Geschichte, aaO, 15. Vgl. dazu auch K. Löwith, Weltge­schichte und Heilsgeschehen, 1953. E. Auerbach, Mimesis, 1946. 76. H. Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, 1919, 302.

Historiologie 239

dann nicht mehr eine archäologische, sondern eine futurisch-eschatolo­gische. Geschichtserzählungen rücken unter das genus der Prophetie, der nach rückwärts gewandten, aber die Zukunft intendierenden Prophetie. Wird der Sinn der Geschichte von der Zukunft erwartet und als Sendung der Gegenwart begriffen, so ist Geschichte weder ein Geflecht von Not­wendigkeiten und Gesetzmäßigkeiten noch ein Tummelfeld sinnloser Willkür. Zukunft als Sendung vermittelt den gegenwärtigen Auftrag und die heutige Entscheidung mit dem Real-Möglichen, verweist im Wirklichen auf offene Möglichkeiten und im Möglichen auf die zu ergrei­fenden Tendenzen. Ist nun, wie eingangs dargestellt, moderne Historie und moderne Ge­schichtsphilosophie "Krisenphilosophie", so ist eigentlich mit der Benen­nung der "Geschichte" als "Krise" schon der griechische Logos für eine "Philosophie" der Geschichte angesetzt. Denn das Wort "Krisis" mißt das unbegriffene, neue Geschehen an der hergebrachten Ordnung mensch­lichen Lebens, die nunmehr in eine Krise geraten ist, in ihr bedroht ist, darum gerettet, bewährt oder erneuert werden muß. Der Ausdruck "Kri­se" ist immer bezogen auf "Ordnung". Die "Krise" stellt Ordnung in Frage und kann darum nur durch neue Ordnung gemeistert werden. Daß in diesem Geschehen, das als "Krise" wahrgenommen wird, auf der an­deren Seite auch das "Neue" liegt, bleibt dann unerkannt. Geschichts­philosophie als Krisenphilosophie hat darum durchlaufend einen kon­servativen Charakter. Geschichtswissenschaft als Antikrisenwissenschaft ist darum auf den griechischen Logos mitsamt seinen kosmologischen lmplikationen zurückgefallen und auf den römischen Begriff des ordo mitsamt seinen politischen und juristischen lmplikationen. Wird aber in der Krise das Novum wahrgenommen und "Geschichte" nicht als Krise des Bestehenden genommen, sondern in der Kategorie "Zukunft" erwar­tet, so müßte ein ganz anderer Erhellungs- und Erwartungshorizont gewonnen werden. Geschichtsphilosophie als Krisenphilosophie zielt auf Vernichtung der Geschichte. Eine Geschichtseschatologie aber, die um die Begriffe Novum, Zukunft, Sendung und Frontlinie der Gegenwart kreist, würde in der Lage sein, Geschichte geschichtlich zu nehmen, zu erinnern und zu erwarten, Geschichte al<so nicht zu vernichten, sondern offenzu­halten.

§5

Eschatologie der Geschichte- Geschichtsphilosophischer Chiliasmus

Erst die theologische Wertschätzung der "Zeit" durch die Erwartung der Ankunft der verheißenen Zukunft Gottes aus dem jüdisch-christlichen Messianismus hat das griechische Denken für das Problem der Geschichte und für die geschichtsphilosophische Idee eines zielgerichteten, unum­kehrbaren und unwiederholbaren Geschichtsprozesses geöffnet. "Wie der geschlossene, gestalterfüllte Raum die griechische Wahrheitssphäre, so ist die Israels die offene, gestaltlos fließende Zeit. Dort der in sich zurück­kehrende Kreis des Kosmos, hier die ins Unendliche fortstrebende Linie der Schöpfung; dort die Welt des Sehens, des Schauens, hier die des Hörens, des Vernehmens; dort Bild und Gleichnis, hier Entscheidung und Tat ... Im Raum ist Gegenwart und Erinnerung, in der Zeit Gefahr und Hoffnung ... Gegen das raumhafte Ziel der Vollendung steht das in der Zeit zu gewinnende Ziel der Erlösung. "77 Durch die Verbindung beider Wahrheitssphären und Denkweisen in den vielfältigen Begegnungen zwi­schen dem jüdisch-christlichen Messianismus und dem griechischen Den­ken in der christlichen Geschichte bekam das griechische Denken jene entscheidende Wende vom Statischen zum Dynamischen, von der Sub­stanz zur Funktion, von der ewigen Gegenwart des Seins zu den offenen Möglichkeiten der Zukunft, von der metaphysischen Verklärung des Kosmos zur sendungsbewußten Umgestaltung der Welt. Diese Wendung, die aus solchen Begegnungen erwuchs, ist besonders deutlich in der Ge­schichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts zu erkennen. Haben wir im vorigen Kapitel die Historiographie und Geschichtsphilosophie der Neu­zeit vom griechischen Logos her verstanden und eine unterschwellige Vernichtung der Geschichte in ihnen beobachtet, so lassen sie sich doch auch unter dem Gesichtspunkt geschichtlicher Eschatologie lesen. Von Herders "Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit", Kants "Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Ab­sicht", Schillers "Was heißt und zu welchem Ende studiert man Univer­salgeschichte?" und endlich Hegels "Philosophie der Weltgeschichte" an ist allen Historikern und Geschichtsdenkern ein Sendungsbewußtsein eigen und ein Glaube an eine sinnerfüllte Geschichte und die große Auf­gabe der Menschheit. Ob dieses Ziel von der "Vision des ewigen Frie­dens" im Menschheitsstaat bestimmt ist oder, wie in der National-

77. M. Susman, Das Buch Hiob und das Sdücksal des jüdischen Volkes, 2. Aufl. 1948, 16 f.

Eschatologie der Geschichte- Geschichtsphilosophischer Chiliasmus 241

geschichtsschreibung, von der "Sendung Preußens" (Treitschke), der "Sendung Frankreichs" (Jules Michelet) oder der Sendung des Panslavis­mus, überall wird ein säkularer Messianismus zur philosophisch-politi­schen Leitidee der Geschichtsauffassung. Geschichtsschreibung und Ge­schichtsphilosophie werden notwendig auf dem Vordergrund der Sendung einer Nation, der Welterlösung oder der Lehre von der fälligen Revolution bzw. der Lehre von der heilsnotwendigen Restauration. Der Messianismus wird politisch und motiviert das Geschichtsdenken. Schon damit ist gegenüber der griechischen Geschichtsschreibung etwas grund­sätzlich Neues in die Geschiehtsauffassung der Neuzeit gekommen. Damit ist es weiter gegeben, daß neuzeitliche Geschiehtsauffassungen nicht mehr auf die Leitidee einer Universal- oder Weltgeschichte ver­zichten können. Weltgeschichtliche Spekulationen und Betrachtungen über die Geschichte als Ganzes und das Ganze als Geschichte sind erst durch das Sendungsbewußtsein des Christentums möglich geworden und haben darum auch dort nicht aufgehört, möglich zu sein, wo das Chri­stentum nicht mehr das Zentrum dieser Sendung darstellt. Endlich wird man sagen können, daß nur dort und nur solange, wie ein zukunfts- und zielbewußtes Wissen um die Sendung vorliegt, und nur dort und nur solange, wie dieses Wissen auf einen universalen Horizont zielt, der die ganze Welt einschließt, sich der Begriff vom Werden in der Zeit, von der Einmaligkeit des Geschehens und von einer sinnerfüllten, zu erwartenden und zu wollenden Zukunft, also kurz, ein geschichtlicher Begriff von Geschichte sich erhält. Darum kann der holländische Histori­ker ]an Huizinga sagen, daß die Zukunft die eigentliche Kategorie ge­schichtlichen Denkens ist78• Darum hat Ernst Bloch recht, wenn er betont: "Der Nerv des rechten historischen Begriffs ist und bleibt das Novum."79

Natürlich kann der von Zukunftserwartungen, Sendungsbewußtsein und der Kategorie Novum geprägte Begriff der Geschichte Geschichte auch verdunkeln. Das hängt jeweils davon ab, welche Zukunft erwartet wird, woran die Sendung entsteht und worauf sie ausgerichtet ist. Doch bleibt hier "Geschichte" der Inbegriff möglicher Gefahr und möglichen Heils. "Geschichte" wird nicht im Sinne des griechischen Logos zum Inbegriff der Wirklichkeit in Totalität oder des Universums. Ein Begreifen und Ergreifen von Geschichte an der Frontlinie der Gegenwart in Hoffnung und Sendung nach vorne kann sich darum sowohl gefährdend wie ret-

78. Vgl. A. A. van Ruler, Die christliche Kirche und das Alte Testament, 1955, 36, Anm. 11. 79. E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, 1959, II, 1626.

242 Eschatologie und Geschichte

tend auswirken. Denn von dieser Weise der Wahrnehmung von Ge­schichte gilt das Wort Hölderlins: "Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch", wie auch seine Umkehrung: Wo das Rettende wächst, wächst auch die Gefahr (E. Bloch)80• Die vermeintliche Rettung, um derent­willen alles verlassen wird, stürzt, wo sie zu kurz greift, alles in die un­endliche Gefahr der Verlassenheit und der Sinnleere. Eine erwartete und gewollte Rettung, die nicht alles umfaßt, was ist und was noch nicht ist, wirkt verhängnisvoll, wenn alles auf sie gesetzt wird. Sich selbst und alle bestehende Wirklichkeit den gleitenden Wogen der Geschichte aus­zusetzen, gewinnt seinen Sinn immer nur von der Aussicht auf neues Land. Zeigen sich diese Aussichten als Illusionen, so verdoppelt sich der Verlust. Zeigen sich überhaupt keine Aussichten, so wird auch die Ge­schichte sinnlos. Ist aber die Erfahrung der Wirklichkeit als Geschichte einmal aufgebrochen und fand der Aufbruch zur Geschichte einmal statt, so gibt es keine Rückkehr zum ungeschichtlichen Kosmosglauben an das Ewig-Bleibende und Immer-Bestehende. Das Begreifen der Geschichte, ihrer Möglichkeiten zum Guten und zum Schlechten, ihrer Richtungen und ihres Sinnes, liegt auf dem Felde der Hoffnungen und kann nur dort gewonnen werden. Liest man daraufhin noch einmal jene Historiographie und Geschichts­philosophie der Neuzeit, so wird man bemerken, daß das eigentliche Problem der Geschichtsbegriffe nicht das Problem des Besonderen und des Allgemeinen, nicht das Problem der Idee und ihrer Erscheinunger.. usw. ist, sondern die Frage nach dem Verhältnis der Geschichte ZUth

."Ende der Geschichte". Kant hat in seiner Geschichtsphilosophie ange· merkt, daß auch die Philosophie ihren "Chiliasmus" haben könne81 •

Sein Hinweis macht darauf aufmerksam, daß jedes Verständnis der Ge­schichte aus einem schon vorhandenen und ausgemachten Ganzen der Idee, der Ursubstanz oder des Lebens, und daß jede Aufhebung der Geschichte in Erkenntnis nach dem "Ende der Geschichte" sucht und die Aporie der Geschichtsphilosophie darin zu sehen ist, daß dieses "Ende der Geschichte" in der Geschichte gesucht werden muß. Die Geschichts­philosophie der Neuzeit hat in der Tat den Charakter eines philosophi­schen, aufklärerischen Chiliasmus: die "Beendigung der Geschichte in der Geschichte" ist, wie im alten religiösen Chiliasmus, ihr Ziel. Sie hat ferner den Charakter des eschatologischen Enthusiasmus des Geistes. Die geschichtstheologische Idee Joachim di Fiores vom dritten Reich des Gei-

80. E. Bloch, Verfremdungen I, 1962, 219. 81. I. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Zur Geschichtsphilosophie, aaO. 24.

Tod und Schuld als Triebkräfte der Historie 243

stes geistert seit Lessing durch die Geschichtserkenntnis des 19. Jahr­hunderts und begeistert sie. Die Geschichte ist der "werdende Gott", hieß es seit Herder in der Goethezeit. Die Erkenntnis der Geschichte gibt darum Anteil am Geist-werdenden Gott. Daß ein drittes Zeitalter des - wissenschaftlichen - Geistes die Krisen der Geschichte aufklären und damit die rätselhafte Geschichte in erkannte Geschichte aufheben werde, machte bei Lessing und Kant, bei Comte und Hegel und ihren Nachfolgern das verborgene Motiv für die neue, grundsätzlich nicht mehr "metaphysische", sondern "historische" Weltorientierung aus. Alle geschichtsphilosophischen Fixierungen eines "Wesens der Geschichte" tra­gen darum, obgleich im Sinne der griechischen Kosmologie formuliert, einen eschatologischen, das "Ende der Geschichte" betreffenden Charak­ter. Alle historiographisch verwendeten "Generalbänder" oder Richtun­gen der Geschichte haben darum einen eschatologischen Tenor. Wenn aber "Geschichte" zu einem neuen Begriff für das "Universum" oder für die "Wirklichkeit in Totalität" wird, so wird damit ein neuer Kosmosbegriff geprägt und die Geschichte nicht mehr "geschichtlich" verstanden. Ist die Wirklichkeit in Geschichte, so ist damit gerade aus­gesagt, daß sie sich noch nicht zu einem Ganzen gerundet hat. Die "ganze Welt" wäre die heile Welt, die vollkommene Welt, die ihre Wahrheit in sich trägt und aus sich heraus zeigen kann. Nur solange die Welt noch nicht ganz und heil ist, nur solange sie offen ist für ihre Wahrheit und sie noch nicht in sich hat, kann man von "Geschichte" sprechen. Nur solange die Wirklichkeit selber in der Differenz von Existenz und Wesen steht, nur solange das Menschsein in der Differenz von Bewußtsein und Sein erfahren wird, gibt es Geschichte, sind Zukunftserkenntnis, Sen­dungsbewußtsein und gegenwärtige Entscheidung notwendig. Was aber bedeutet dann Geschichtserkenntnis, und welchen Sinn hat dann Geschichtsschreibung?

§6

Tod und Schuld als Triebkräfte der Historie

Eine Erkenntnisbemühung um Geschichte, die diese Geschichtlichkeit der Geschichte ernst nähme, wird mit Friedrich Nietzsches Protest gegen den Historismus im Namen des Lebens beginnen. "Jedes Lebendige kann nur innerhalb eines Horizontes gesund, stark und fruchtbar werden. "82

82. Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, aaO. 5.

244 Eschatologie und Geschichte

Der Historismus, dessen Übermaß das Leben erstickt, gründet für Nietzsche in dem mittelalterlichen memento mori und in der "Hoffnungs­losigkeit, die das Christentum gegen alle kommenden Zeiten des irdismen Daseins im Herzen trägt"83• Darum "entwurzelt" der historisme Sinn, wenn er "ungebändigt waltet und alle seine Konsequenzen zieht, die Zukunft, weil er die Illusionen zerstört und den bestehenden Dingen ihre Atmosphäre nimmt, in der sie allein leben können" 84• Denn "Leben" heißt einen Horizont haben, und einen Horizont haben heißt von Hoffnungen ins Zukünftige und Mögliche hinein getragen werden. Das ist die "plastisme Kraft des Lebens", die durch Historie und ein Übermaß von Historie angegriffen wird. Wollte man aber wirklich im Namen des "memento vivere" Nietzsmes die vergangene Geschimte be­tramten und aufgreifen, so müßte dieses "Leben" jenem "Tode" ge­wamsen sein, der vergangene Geschimte zur unwiederbringlichen Zeit gemacht hat. Nietzsches Verständnis des "Lebens", mit welmem er nam dem "Nutzen und Nachteil.der Historie für das Leben" fragt, vermag sich gegen den Tod, der alles Leben geschimtlim macht, nicht oder nur durch Vergessen und den Appell an die "Jugend des Lebens" zu behaup­t!en. Darum ist sein Protest gegen den Historismus diesem und seinen Konsequenzen nicht gewachsen. Der Eindruck des Historikers besteht zu Recht: "Mir erscheinen die großen geschichtlichen Begebenheiten der Ver­gangenheit immer als gefrorene Katarakte: in der Kälte des entflohenen Lebens erstarrte Bilder, die uns in Distanz halten ... Wir frieren im Anschauen der Größe - gefallener Reiche, untergegangener Kulturen, ausgebrannter Leidenschaften, toter Gehirne ... Wenn wir das ernst­nehmen, kann es uns durchfahren, daß wir Historiker ein sonderbares Geschäft treiben: wir hausen in den Totenstädten, umfangen die Schat­ten, zensieren die Abgeschiedenen. "85 Nur bleibt hier offen, warum wir es denn tun und warum wir das Schattenreich der Vergangenheit nicht vielmehr fliehen. Aller Geschichte als wissenschaftlichem Erkenntnis­bemühen liegt etwas zugrunde, was man "Geschichte als Erinnerung" genannt hat86• Zwar ist unser geschichtliches Erinnerungsvermögen im­mer selektiv. Erinnern und Vergessen sind ineinander verwoben. Zwar ist unser geschichtliches Erinnerungsvermögen phantasiebestimmt. Das Erinnerte wechselt seine Farben im Bilde der Erinnerung. In bezug auf diese geschichtliche Erinnerung hat "Geschichte als Wissenschaft" eine

83. Ebd. 68 f. 84. Ebd. 56 f. 85. R. Wittram, Das Interesse an der Geschichte, 1958, 15 f. 86. A. Heuß, Der Verlust der Geschichte, 1959, 13 ff.

Tod und Schuld als Triebkräfte der Historie 245

doppelte Konsequenz: Geschichte als Wissenschaft kann "Erinnerung" wohl in ein erkanntes, geschichtliches Faktum verwandeln, indem sie sie zerstört, aber sie kann von ihrer Position aus unmöglich den Prozeß umkehren und mit ihren Mitteln neue Erinnerungen schaffen, es sei denn, sie höbe sich selbst auf (A. Heuß)87. An "Geschichte als Erinnerung" aber, und sofern sie als solche gegenwärtig ist, hat die Geschichtswissen­schaft eine kritische, reinigende Aufgabe. Sie hat den "Auftrag des Kampfes gegen das unschuldige Vergessen und gegen die schuldige Le­gende" (H. Heimpel)88. R. Wittram hat in diesem Sinne die Schuld den "geheime(n) Motor, der das Getriebe in Gang hält, meist verborgen, im­mer tätig, das eigentliche perpetuum mobile der Weltgeschichte" ge­nannt89. Solche Erinnerungen, die als "Schuld" erfahren werden, "drän­gen sich auf". Sie nötigen die Gegenwart zur Auseinandersetzung, denn in dem als Schuld Erinnerten steckt etwas, das noch nicht erledigt ist, das in seiner Tragweite noch unbegriffen ist, das in seiner Bedeutung noch nicht heraus ist. Mit der Erkenntnis des Gewesenen, Vorgefallenen als "Schuld", tritt die Gegenwart in einen Prozeß ein, der sein Ende und seine Lösung noch nicht gefunden hat. Vergangenheit wird bestim­mend für die Lasten und Aufgaben der Gegenwart. Von solchen Prozes­sen gilt das Wort Hegels nicht: "Als der Gedanke der Welt erscheint sie (scil. die Philosophie) erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bil­dungsprozeß vollendet und sich fertig gemacht hat ... Wenn die Philoso­phie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt gewor­den und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen. "90 Sind Prozesse in der Geschichte und sind bestimmte Ge­stalten des Lebens alt geworden, so ist eine historische Betrachtung in Distanz möglich, nur ist sie dann nicht mehr nötig. Solchen in sich ab­gerundeten Vorgängen geht jedes Stimulans der sich aufdrängenden Er­innerung ab. Ist hingegen die Geschichte noch nicht am Ende und sind einzelne Gestalten des Lebens in ihr noch nicht fertig, dann ist der Blick auf sie mit den Augen der Eule der Minerva nicht möglich, dann ist viel­mehr eine Wahrnehmung der offenen Möglichkeiten, der Tendenzen und Richtungen im Prozeß dieser Dinge selber nötig. Denn dann handelt es sich nicht um erstarrte Katarakte von toten Fakten, sondern um ein offe­nes fieri, um etwas, das im Werden und im offenen Prozeß der Entschei­dungen und Hoffnungen liegt. Dann wird Geschichtswissenschaft nicht

B7. Ebd. 53. 88. H. Heimpel, Der Mensch in seiner Gegenwart, 1954, 163 f. 89. R. Wittram, aaO. 17. 90. Grundlinien der Philosophie des Rechts, 4. Aufl. ed. Hoffmeister, 1955, Vorrede 17.

246 Eschatologie und Geschichte

nur einen historismen "Befund" darstellen können, sondern sim bewußt werden müssen, daß sie mit ihren Darstellungen aum "befindet" und mit ihren Feststellungen aum "fest-stellt". Insofern steht die Geschimts­wissensmaft im Dienste des Lebens und der - nom ungefundenen - Ge­remtigkeit des Lebens in der Vergangenheit. Dieses gilt nimt nur in bezug auf "Gesmimte als Erinnerung" von Smuld, sondern auch in bezug auf den Tod, der allemal das härteste und darum aum simerste Faktum vergangeuer Gesmimte ist. Nimt nur die Smuld, sondern endlim der Tod mamt Vergangenheit zur unwieder­bringlimen Zeit. Was war, kehrt nimt wieder. Was tot ist, ist tot. Wäre nun Gesmimte Todesgesmimte, so wäre die Historie als Todesgesmimte in mensmlimer Erfassung die Tötung aller lebendigen Erinnerung. Dann aber würde wiederum offen bleiben, was eigentlim das Interesse an der Gesmimte motiviert, wenn alle Gesmimte Todesgeschimte wäre, wenn zwar in der Gesmimte vieles im Fluß und im Werden läge, aber die Toten tot blieben. Dann gäbe es an diesem Punkte kein fieri, sondern nur ein Faktum, und zwar ein nacktes, undeutbares Faktum. Das Inter­esse an der Gesmimte und ihr Nutzen für das Leben wären zu Ende, denn hier wäre mit dem Tode ein Immer-Seiendes und Ewiges als ver­nirutendes Nimts gefunden. Nun ist es aber das Eigentümlime, daß der Historiker mit den Toten umgehen kann und muß. "Die Toten sind tot; aber wir wecken sie auf, wir gehen mit ihnen um - ,Aug' in Auge', sagte Ranke; sie fordern die Wahrheit von uns."91 Dieser Umgang mit der Gesmimte der Toten muß daher von etwas motiviert sein, was über den Tod hinausrdmt und auch den Tod vergänglim mamt, sonst wäre die Historie unmotiviert und würde am Tode in sim zerfallen. W alter Benjamin hat in seinen "Gesmimtsphilosophismen Thesen" gesagt: "Nur dem Gesmimtssmreiber wohnt die Gabe bei, dem V ergangenen den Fun­ken der Hoffnung anzufamen, der davon durmdrungen ist: auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nimt sicher sein ... Der Messias kommt ja nimt nur als der Erlöser; er kommt als der über­winder des Antimrist. "92 Das aber würde heißen, daß die Hoffnung auf die Auferstehung der Toten und die Furmt vor dem Antimristen oder dem vernimtenden Nimts allein in der Lage ist, Hoffnungen auf dem Felde vergangeuer Gesmimte zu erwecken, damit Gesmimte in Erinnerung zu halten und damit endlim Gesmimte als Wissensmaft möglim und lebendig zu mamen. In diesem Sinne sagt auch Otto Weber mit Remt: ,"Gesmimte' als intendierter Gegenstand von Forsmung oder

91. R. Wittram, aaO. 32. 92. W. Benjamin, Illuminationen, ed. Th. W. Adorno, 1961, 270.

Tod und Schuld als Triebkräfte der Historie 247

als Ausgangsgebiet gegenwärtiger Prägung ist allemal ein Vorgang, der gleichsam eine Wiedererweckung der Toten darstellt. Die ,Todes­geschichte' wird von dem, der Geschichte ,treibt', als ,Lebensgeschichte' aufgefaßt. "93 Die historische Wiedererweckung der Toten ist, auch und gerade wenn dies nur "gleichsam" geschieht, vorweggenommene Escha­tologie und auf die Geschichte projiziertes Endgeschehen. Die "Vernunft in der Geschichte" hat ein messianisches Licht, zeigt die Dinge so, wie sie einmal entblößt in ihren Schründen und für die Rettung bereit da liegen, oder sie hat kein Licht, das die Geschichte geschichtlich beleuchtet. Wie wird in diesem Lichte die Geschichte erfahrbar und erkennbar? -Man wird die Vergangenheit nicht mehr allein arche-ologisch lesen kön­nen und sie nur als Herkunft der jeweiligen Gegenwart nehmen können. Man wird die Vergangenheit auf ihre eigene Zukunft hin befragen müssen. Alles Geschichtliche ist voll von Möglichkeiten, von genutzten und ungenutzten, ergriffenen und verhinderten Möglichkeiten. Sie er­scheint in dieser Perspektive voller abgebrochener Möglichkeiten, verlo­rener Ansätze, steckengebliebener Offensiven zur Zukunft. Man wird also vergangene Zeiten von ihren Hoffnungen her verstehen müssen. Sie waren nicht der Hintergrund der jetzigen Gegenwart, sondern waren selber Gegenwart und Frontlinie zur Zukunft. Es ist die offene Zukunft, die uns mit früheren Zeiten in eine Front und eine gewisse Gleichzeitig­keit stellt, die Auseinandersetzung, Kritik und Aufnahme ermöglicht. Darum lassen sich in der Geschichte vergangene Fronten und die Spuren verwehter Hoffnungen wieder aufnehmen und zu neuem Leben er­wecken. Die Dialektik von vergangenem Geschehen und gegenwärtigem Verstehen ist immer bewegt durch Antizipationen der Zukunft und durch die Frage nach der Ermöglichung der Zukunft. Man entdeckt dann Zu­kunft im V ergangenen und Möglichkeiten im Gewesenen. Man ist des Una:bgegoltenen und Verheißungsvollen früherer Zeiten eingedenk. Je­ner Dualismus, in welchem der positivistische Historiker die gewesene Wirklichkeit und der existentiale Hermeneut die Daseinsmöglichkeit ge­wesener Existenz zu entdecken sich bemühen, erkennt nicht, wie sehr im Geschichtlichen Wirklichkeit und Möglichkeit ineinander verschränkt sind, wie sehr neue Existenzmöglichkeiten sich geschichtlichen Ereignissen verdanken und wie sehr geschichtliche Ereignisse des Möglichen voll sind. Erst im Vermittlungsprozeß ursprünglich ungeschiedener Subjekt-Ob­jekt-Konstellationen, in welchen menschliche Entscheidungen auf real Ermöglichtes antworten und neue Realmöglichkeiten neue Entscheidun-

93. 0. Weber, Grundlagen der Dogmatik, li, 1962, 108.

248 Eschatologie und Geschichte

gen provozieren, bilden sich Zukunftsaussichten und Zweckreihen. Dieses vermag der historische Positivismus nicht wahrzunehmen, da in ihm der eigene Horizont für endgültig genommen wird und darum nicht in An­erkennung anderer Horizonte fraglich zu werden vermag. Dieses vermag eine existentiale Interpretation nur im Bereich der nach sich selbst fragen­den Existenz des Menschen herauszubringen, nicht aber im universalen Bereich des ganzen, auf Zukunft offenen Seins.

§ 7

Die Eigenart historischer Universalbegriffe

Wohin geraten in diesem Zusammenhang die historischen Universal­begriffe, die die historische Methode, die immer auch generalisieren muß, verwendet? Die geschichtsphilosophische Voraussetzung für Geschichts­erkenntnis kann dann nicht in einer Metaphysik des Seins, der Idee, des unergründlichen Lebens oder Gottes liegen. Solange sich diese Wirklich­keit noch nicht "fertig gemacht" hat und noch nicht zum Ganzen ge­rundet hat, ist eine Metaphysik des historischen Universums im Sinne des griechischen Logos unmöglich. Alle historischen Universalbegriffe zei­gen sich darum als gleitende, selber geschichtliche und Geschichte bewegende Begriffe. Damit aber, daß das Absolute ihnen nicht inhärent ist, sind sie mit dem Ausdruck "relativ" noch nicht zureichend erfaßt. An die Stelle einer universalen Geschichtsmetaphysik wird eine auf das zukünftige, noch nicht gegenwärtige Universale zielende Sendung treten. Die historischen und selber geschichtlichen Universalbegriffe, in denen man zu erfassen sucht, was der Mensch sei, was das Wesen der Welt usw. sei, entstehen nur vermeintlich und nur fälschlich aus der Abstraktion. In Wahrheit liegt in ihnen das Moment der Prophetie und der Sendung in das zukünftige Land des "realisierten Gattungsbegriffs". Es liegt in ihnen allemal eine futuralogisch vorweggenommene Eschatologie. In ihrer Abstraktheit zeigen die Allgemeinbegriffe die Wahrheit, die sie zu erfassen suchen, auf die Weise der- im wörtlichen Sinne- Vor-läufig­keit angesichts einer offenen Wirklichkeit. Die Universalien der Ge­schichtsmetaphysik sind weder Realien noch lediglich Verbalien, sondern machen Tendenzen im Potentialen aus. Sie markieren Vor-läufigkeiten im Vorraum der geschichtlichen Sendung. Sie sind darum nicht relativ im Sinne des historischen Relativismus, wohl aber überholbar im Sinne

Die Eigenart historischer Universalbegriffe 249

des offenen Geschichtsprozesses selber. Was "Welt"geschichte ist, ent­scheidet sich daran, was als die zukünftige, eine Welt gewünscht, erhofft und vor-gestellt wird. Was "Menschheits"geschichte ist, entscheidet sich daran, was die eine Menschheit einmal sein soll und sein wird. Beides ist unmittelbar auf gegenwärtige Sendung bezogen. Es gibt darum nur Geschichten zur Weltgeschichte, aber noch keine Weltgeschichte. Die Leit­linien, auf denen diese Geschichten zur Weltgeschichte laufen, sind alle vom Sendungsbewußtsein zur Weltgeschichte getragen. Jakob Burckhardt erklärte zum Geschäft des Historikers: "Eigentlich müßten wir beständig in der Intuition des Weltganzen leben. Allein hierzu bedürfte es einer übermenschlichen Intelligenz, erhaben über das zeitlich Sukzessive und räumlich Begrenzte und gleichwohl in beständi­gem betrachtenden Verkehr damit und vollends in Teilnahme dafür."93"

Er hat damit nicht weltgeschichtliche Betrachtungen für unsinnig erklärt, sondern eher die dialektische Stellung des Menschen zur Geschichte ange­deutet. Weder steht der Mensch über der Geschichte, sodaß er das Weh­ganze überblicken könnte, noch steht er ganz in der Geschichte, sodaß er nicht nach dem Ganzen und dem Ziel der Geschichte fragen müßte und dieses Fragen selber sinnlos wäre. Immer steht er sowohl in der Ge­schichte wie über der Geschichte. Er erfährt die Geschichte im modus des Seins und im modus des Habens. Er ist geschichtlich und er hat Ge­schichte. Er muß sich nachforschend und zuschauend von der Geschichte distanzieren können, um sie im modus des Habens zu erfahren. Er muß sich hörend und handelnd mit ihr identifizieren, um sie im modus des Existierens zu erfahren. Weder kann er sich selbst in der Überschau der Geschichte aufheben und zu nichts anderem als einem großen Okular werden, noch kann er sich besinnungs- und reflexionslos in die Geschichte hineingeben und zu nichts anderem als einer kleinen Entscheidung wer­den. Er steht sowohl in der Geschichte wie über ihr und muß sein Leben und Denken in dieser dialektischen und exzentrischen Position führen. Er gleicht einem Schwimmer, der im Strom der Geschichte - oder auch gegen ihn - seine Bewegungen macht und doch seinen Kopf aus ihr her­ausstreckt, um Orientierung und vor allem Ziel und Zukunft zu gewin­nen. Seine Begriffe und Vorstellungen von geschichtlichen Zusammen­hängen, die er bilden kann, sind darum in einem doppelten Sinne geschichtlich: sie werden im Prozeß der Geschichte gewonnen und sie greifen nach vorne nach zukünftigem, möglichem Land, mobilisieren in­sofern die geschichtliche Bewegung. Es sind geschichtlich bedingte, aber

93 a. ]. Burckhardt, aaO. 372.

250 Eschatologie und Geschichte

auch Geschichte bedingende Begriffe. Es sind bewegte und bewegliche Bewegungsbegriffe. Sie wollen der Geschichte nicht die Schleppe nach­tragen, sondern die Fackel vorantragen. Darum haben sie notwendig den Charakter der Voraus-setzung, des Postulates, des Entwurfes und der Antizipation. Darum sind es weniger die bekannte Wirklichkeit sub­sumierenden Gattungsbegriffe als vielmehr dynamische Funktionsbegriffe, die auf künftige Veränderung der Wirklichkeit aus sind.

§8

Hermeneutik der christlichen Sendung

1. Die Gottesbeweise und die Hermeneutik

In den Voraussetzungen einer vernünftigen, christlichen Theologie haben heute hermeneutische Überlegungen über die Verstehensprinzipien der biblischen Texte jene Gottesbeweise abgelöst, die einst als theologia na­turalis die Prolegomena für die christliche Rede von Gott abgaben. Damit aber sind jene Gottesbeweise, die das Dasein und Sosein Gottes sowie die allgemeine Notwendigkeit der Frage nach Gott aus einer allen Menschen bekannten oder erlebbaren Wirklichkeit aufwiesen, keineswegs erledigt. Sie kehren vielmehr in allen ihren denkbaren Formen in den hermeneutischen Überlegungen wieder, in denen heute das Vorverständ­nis und die Befragungshinsichten für die Auslegung und Predigt der biblischen Zeugnisse von Gott und seinem Handeln formuliert werden. Mit Recht sagt G. Ebeling: "Das Verstehen dessen, was das Wort ,Gott' besagt, hat seinen Ort im Horizont radikaler Fraglichkeit. "94 Es ist darum Sache einer umfassenden Wirklichkeitsanalyse, jene radikale Fraglichkeit der Wirklichkeit wahrzunehmen, die die allgemeine Voraus­setzung für das spezielle christliche Fragen und Reden in der Theologie hergibt. In der radikalen Fraglichkeit der Wirklichkeit zeigt sich das Problem der Transzendenz oder einfach die Gottes/rage, an der sich die christliche Aussage von Gott beweisen und bewähren muß. Das berührt sich vielfältig mit dem Unternehmen der alten Gottesbeweise, auch wenn hier nicht mehr die Existenz und das Wesen Gottes, sondern die Notwen­digkeit der Frage nach Gott aufgewiesen wird. Was mit dem Namen

94. G. Ebeling, Wort und Glaube, 1960, 364 f.

Hermeneutik der christlichen Sendung 251

"Gott" ausgesagt wird, das kann sich nur verständlich zeigen, wenn es bezogen wird auf eine radikale und darum not-wendige Fraglichkeit der Wirklichkeit. "Gott" ist das in und mit dieser Fraglichkeit der Wirklich­keit Erfragte. Die herkömmlichen Gottesbeweise lassen sich in drei große Gruppen einteilen: 1. die Gottesbeweise aus der Welt, aus dem Kosmos oder der Geschichte der Wirklichkeit, 2. die Gottesbeweise aus der menschlichen Existenz, aus der Seele oder aus dem Selbstbewußtsein um notwendiges Selbstseinkönnen und Selbstseinmüssen des Menschen, 3. die Gottes­beweise aus "Gott", die Beweise der Existenz Gottes oder der Frage nach Gott aus dem Gottesbegriff oder dem Namen Gottes. "Gott" kann als das mit der Fraglichkeit der Wirklichkeit im Ganzen oder mit der Frage nach der Einheit, dem Ursprung und dem Ganzen der Wirklich­keit Erfragte gesucht und verstanden werden. "Gott" kann als das mit der von einem jeden selbst erlebbaren Fraglichkeit des menschlichen Da­seins im Unterschied zu den Dingen der Welt Erfragte verstanden wer­den. "Gott" kann als das mit dem Begriff, dem Namen oder der Selbst­offenbarung Gottes zu Suchende und zu Erfragende verstanden werden. Vernünftige, christliche Theologie kann Kosmotheologie bzw. Geschichts­theologie, kann Ethiko- oder Existenztheologie und kann Ontotheologie sein. Das sind zunächst ihre drei Möglichkeiten, in denen sie sich und ihre Sache verständlich machen kann. Diese drei Möglichkeiten finden ihren entsprechenden Niederschlag in den Prinzipien der Hermeneutik, der Exegese und des darin gesetzten wissenschaftlichen Umgangs mit Geschichte und den geschichtlichen Zeugnissen der Bibel. Diese drei Mög­lichkeiten bieten sich auch an zur Formulierung der theologischen Uni­versalbegriffe, mit denen der Gott der Bibel als der Gott aller Menschen verstanden, bewiesen und verkündigt werden kann. a) Wir beginnen mit dem Gottesbeweis aus der Existenz, da er heute hermeneutisch so allgemein verwendet wird, daß er als ein "Gottes­beweis" kaum noch bewußt ist. Wenn G. Ebeling sagt, daß jene radikale Fraglichkeit an ganz anderer Stelle aufzubrechen scheine als da, wo es die herkömmlichen sogenannten Gottesbeweise fixierten, nämlich "nicht bei der Frage nach dem primum movens oder dergleichen, sondern bei den das Personsein betreffenden Problemen" 95, so zeigt diese Alternative nur, wie sehr man heute unter "Gottesbeweisen" nur die kosmologischen Gottesbeweise der theoretischen Vernunft versteht, um sich dann auf den Gottesbeweis aus der Existenz - eine Fortsetzung und Vertiefung des

95. Ebd. 366 f.

252 Eschatologie und Geschichte

moralischen Gottesbeweises von Kant - zu beschränken. Der Gottes­beweis aus der Existenz, die jedem Menschen eigen ist, besagt, daß "Gott" das mit der Fraglichkeit des menschlichen, durch den Tod be­grenzten, darum endlichen, auf Entscheidungen stehenden, darum ge­schichtlichen Daseins Erfragte ist. Der Satz von der Existenz Gottes kann darum nicht als eine allgemeine, theoretische und objektive Wahr­heit, sondern nur als "Ausdruck unserer Existenz selber" verstanden werden96• Denn es geht offenbar nicht, "Gott als Prinzip der Welt zu denken, von dem aus die Welt und damit auch unsere Existenz verständ­lich werde" 97 • Gott kann nur erfaßt werden, wenn Menschen ihre Exi­stenz erfassen. Die Existenz des Menschen aber ist geschichtlich, d. h. die Geschichtlichkeit des menschlichen Seins ist sein Seinkönnen. So kann Gott nur erfaßt werden, wo der Mensch sich selbst als seine Möglichkeit wählt. Beides geschieht zusammen in dem einen Akt des Glaubens. Die Frage, die den Menschen nach Gott fragen läßt und ihn in der Frage sehr wohl wissen läßt, wer Gott ist, ist jene Frage, die er mit seinem ge­schichtlichen Dasein selber ist. "Wäre seine Existenz nicht (bewußt oder unbewußt) von der Gottesfrage bewegt im Sinne des Augustinischen ,Tu nos fecisti ad Te, et cor nostrum inquietum est, donec requiescat in Te', so würde er auch in keiner Offenbarung Gottes Gott als Gott er­kennen. "98 Dieses Phänomen ist der Sachbezug der Offenbarung. In ihm liegt jenes Vorverständnis, jene universale, jeden Menschen betref­fende theologia naturalis, an der allein sich die Offenbarung Gottes als Gottes Offenbarung ausweisen kann. Die Grundprinzipien der Hermeneutik ergeben sich daraus von selber. "Wir werden von dieser Einsicht aus jeweils die historische Quelle als echtes geschichtliches Phänomen interpretieren, d. h. von der Voraussetzung aus, daß in ihr jeweils eine Möglichkeit menschlicher Existenz ergriffen ist und sich ausspricht. "99 Der Sinn der Geschichtswissenschaft, bzw. der Exegese kann dann nicht mehr darin liegen, daß sie ein Stück Vergangen­heit rekonstruiert und in den großen Relationszusammenhang, Geschichte ( = Weltgeschichte) genannt, einordnet100• Der Sinn der Geschichtswissen­schaft oder der Exegese liegt dann in einer existentialen Interpretation, die die Texte auf ihr Existenzverständnis befragt und die biblischen Texte unter der leitenden Frage nach Gott, nach Gottes Offenbarung, und d. h. nach der Wahrheit der menschlichen Existenz als gegenwärtige

96. R. Bultmann, Glauben und Verstehen, I, 32. 97. Ebd. 98. R. Bultmann, Glauben und Verstehen, II, 232; Kerygma und Mythos, II, 192. 99. Glauben und Verstehen, I, 119. 100. Ebd. 123.

Hermeneutik der christlichen Sendung 253

Existenzmöglichkeit interpretiert. Die Prinzipien der verstehenden Aus­legung ergeben sich aus der vorausgesetzten hermeneutischen Struktur des menschlichen Daseins selber. Ist die bewegende Frage nach Gott identisch mit der Frage des Menschen nach der Eigentlichkeit seiner Exi­stenz, so kann sich die existentiale Interpretation als wahre gesmichtliche und wahre theologische Interpretation der biblischen Texte anbieten. Sie findet ihr Woraufhin in der Frage nach dem in der Schrift zum Ausdruck kommenden Verständnis der menschlichen Existenz, weil sie den Grund für diese Frage aus dem Gottesbeweis der Existenz genommen hat. Dagegen muß kritisch eingewandt werden, daß sich die Selbsterkenntnis des Menschen gar nicht im Gegensatz zur Welterkenntnis, daß sich die Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins gar nicht ohne Verständnis der weltgeschichtlichen Situation heute gewinnen läßt, sondern stets bei­des nur zusammen gewonnen werden kann101• An der Stelle der Anti­these von Welt und Selbst steht in Wirklichkeit immer eine Korrelation. Darum läßt sich die Geschichtlichkeit eines vergangeneo Existenzver­ständnisses nur im Zusammenhang mit dem "großen Relationszusam­menhang", der Geschichte oder Weltgeschichte genannt wird, verstehen. Die Fraglichkeit des menschlichen Daseins steht immer in einem Bedin­gungszusammenhang mit der Fraglichkeit der geschichtlichen Wirklich­keit im Ganzen. Der Gottesbeweis aus der Existenz ist immer angelegt auf den Gottesbeweis aus der Welt. Ein Gottesverständnis läßt sich dar­um nur gewinnen in der Korrelation von Selbstverständnis und Welt­verständnis, von Verständnis der Geschichte und der Geschichtlichkeit, ansonsten wäre die gesuchte Gottheit Gottes nicht universal. Die Geschichtlichkeit der glaubenden Existenz ist keineswegs schon die Eigentlichkeit der menschlichen Existenz selber, sondern ist der Weg zu, das Zeugnis von und die Sendung für jene Eigentlichkeit und Wahrheit des Menschseins, die in der Zukunft liegt, darum noch aussteht und in der christlichen Sendung des Glaubens auf dem Spiel steht. Die Deutung aller Geschichte aus der immerseienden Geschichtlichkeit der menschlichen Existenz überwindet zwar einen bestimmten positivistischen Historismus, bringt aber mit ihm auch die wirklichen Bewegungen, Differenzen und Aussichten der Geschichte zum Verschwinden. Das Augustirrische cor inquietum ist nicht eine allgemein-menschliche

101. Ich stimme hier der Kritik von W. Pannenberg, ZThK 60, 1963, 101 ff. zu, mit der Differenz, daß ich an die Stelle des Primates des Welt-Gott-Verhältnisses die Korre­lation des Welt-Gott- und des Welt-Existenz-Verhältnisses setze. Weder ist das Mensch­sein als ein Stück Welt erklärbar, noch ist die Welt gleichbedeutend mit dem "ln-der­Welt-Sein" des Menschen.

254 Eschatologie und Geschichte

Voraussetzung für das christliche Gottesverständnis, sondern ist Kenn­zeichen des wandernden Gottesvolkes und Ziel der christlichen Sendung an alle Menschen. Erst vom biblischen Gottesverständnis her erfährt sich menschliche Existenz als durch die Gottesfrage bewegt. b) Der Beweis Gottes aus der Welt hatte seit Kants Kritik keinen Ein­fluß mehr auf die Theologie gewonnen. Doch kann er, wenn in einer neuen Weise die Wirklichkeit der Welt im Ganzen nicht mehr als Kos­mos, sondern als Universalgeschichte verstanden wird, gleichrangig neben jenen Gottesbeweis aus der Existenz treten und gleichermaßen herme­neutische Prinzipien aus sich heraus setzen. "Gott" wird hier von der Welt her erfahren102• "Gott" ist hier das mit der Frage nach dem einen Ursprung, nach der Einheit und Ganzheit alles Wirklichen Erfragte. Mit der Frage nach Einheit und Ganzheit der Wirklichkeit ist die Frage nach Gott mitgesetzt. Wird umgekehrt der Gottesgedanke haltlos, so wird auch die Frage nach dem Ganzen der Wirklichkeit haltlos. Von Gott kann man also nur reden im Zusammenhang der Wahrnehmung der Einheit alles Wirklichen. Nun kann aber diese Einheit des Wirklichen nicht mehr als Kosmos im Sinne des griechischen Monotheismus verstanden werden, da im griechischen Kosmosglauben das Zufällige der geschicht­lichen Ereignisse sinnlos war und darum unbeachtlich blieb. Wird aber die Wirklichkeit in der Totalität von Kontinuität und Kontingenz als Geschichte verstanden, so werden die Strukturen des biblischen Gottes­gedankens sichtbar. Der Gottesgedanke der Zeugnisse von der Gottes­geschichte in Israel und im Christentum macht ein Verständnis der Wirk­lichkeit im Ganzen als Geschichte notwendig. Das heißt einmal, daß "Weltgeschichte" zum umfassendsten Horizont der christlichen Rede von Gott wird. Das heißt zum anderen, daß ein solches Gesamtverständnis der Wirklichkeit in Totalität, da es selber geschichtlich ist, nur jeweils im Zusammenhang der gegenwärtigen Erfahrung der Wirklichkeit im Ganzen formulierbar ist. Es ist daher selber geschichtlich offen und vor­läufig auf jenes Ende der Geschichte, in welchem die Ganzheit der Wirk­lichkeit heraustritt. Hermeneutisch ergibt sich daraus der Grundsatz, die Texte, die uns aus der Geschichte begegnen, nicht lediglich auf die Existenzmöglichkeiten je dagewesener Existenz zu befragen, sondern sie auf ihren historischen Ort und ihre historische Stunde, auf ihren eigenen historischen Zusam­menhang nach rückwärts und vorwärts hin zu lesen. Der Zusammenhang zwischen dem Damals und dem Heute ergibt sich nicht aus der immer-

102. W. Pannenberg, ebd. 101 Anm. 18; Dogma und Denkstruktur, 1963, 108 f. und Anm. 28.

Hermeneutik der christlichen Sendung 255

seienden Endlichkeit und Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins, sondern aus dem Zusammenhang der Universalgeschichte, der die Ver­gangenheit mit der Gegenwart verbindet. Die zeitliche, historische Dif­ferenz zwischen dem Damals und Heute wird nicht durch Zurückführung der damaligen und der heutigen Möglichkeiten auf das menschliche Da­sein überhaupt überbrückt, sondern wird in dem beide verbindenden Geschehenszusammenhang bewahrt und zugleich doch überbrückt. "Das heißt, der Text kann nur verstanden werden im Zusammenhang der Gesamtgeschichte, die das Damalige mit der Gegenwart verbindet, und zwar nicht nur mit dem heute Vorhandenen, sondern mit dem Zukunfts­horizont des gegenwärtig Möglichen, weil der Sinn der Gegenwart erst im Lichte der Zukunft hell wird. "103 "Nur eine Konzeption des die da­malige mit der heutigen Situation und ihrem Zukunftshorizont tatsäch­lich verbindenden Geschichtsverlaufes kann den umfassenden Horizont bilden, in welchem der beschränkte Gegenwartshorizont des Auslegers und der historische Horizont des Textes verschmelzen. "104 Das Damals und das Heute gewinnen Gemeinsamkeit unter Wahrung ihrer Besonder­heiten und ihrer Differenz, wenn sie als "Momente in die Einheit eines beide umgreifenden Geschichtszusammenhanges eingehen"105• Da dieser umgreifende Geschichtszusammenhang inmitten der Geschichte immer nur als eine endliche, vorläufige und also überholbare Perspektive for­mulierbar ist, bleibt er fragmentarisch angesichts einer offenen Zukunft. Hier wird die Notwendigkeit behauptet, "Gott" im Ganzen der Wirk­lichkeit zur Sprache zu bringen, und doch zugleich die Unmöglichkeit zu­gestanden, eine noch unabgeschlossene und darum geschichtliche Wirk­lichkeit als eine "Ganzheit" begreifen zu können. Es wäre darum besser, die Intentionen des kosmologischen Gottesbeweises fallen zu lassen. So lange diese Wirklichkeit der Welt und des Menschen in ihr noch nicht "ganz" ist, sondern ihre Ganzheit vielmehr geschichtlich auf dem Spiel steht, läßt sich kein Gott aus ihr beweisen. Der "umgreifende Geschichts­zusammenhang", der das Damals mit dem Heute, der den historischen Horizont und den gegenwärtigen Zukunftshorizont verbindet, ist kein Zusammenhang miteinander verketteter Ereignisse, sondern ist ein sen­dungs- und verheißungsgeschichtlicher Zusammenhang. Die Horizonte "verschmelzen" nicht schon in der Frage nach dem Geschehenszusammen­hang zwischen Heute und Damals, sondern nur in der Frage nach der intendierten Zukunft damals und heute. Weil aus der unzureichenden

103. W. Pannenberg, Hermeneutik und Universalgeschichte, ZThK 60, 1963, 116. 104. Ebd. 105. Ebd.

256 Eschatologie und Geschichte

Gegenwart heraus nach Zukun:A: gefragt wird, darum werden vergangene Intentionen, Hoffnungen und Zukun:A:svisionen vergegenwärtigt. In Re­formationen und Revolutionen werden vergangene Fronten zur Zukun:A: aufgenommen. Zusammen mit der Zukun:A: der Gegenwart geht es, soll diese Zukun:A: universal und eschatologisch sein, immer auch um die Zukun:A: des V ergangenen und die Zukun:A: der Toten. Es ist nicht ein "Geschichts­zusammenhang", der die Wahrheit alles Wirklichen nur "enthüllt" 106,

sondern eine Sammlung der Geschichte, die in die Wahrheit der Wirk­lichkeit "führt" und führen will. Der Zukun:A:shorizont, nach dem die Gegenwart fragt, kann nicht als Deutehorizont für die bisher vorliegende Weltwirklichkeit in der bisherigen Weltgeschichte verstanden werden, sondern nur als Horizont von Verheißung und Sendung in eine zukünf­tige, neue Wirklichkeit, in der alles zur Wahrheit, zur Ruhe und zu seiner Eigentlichkeit kommt. Der "Sinn der Gegenwart", der sich nur von der Zukun:A: her erschließt, ist nicht die Einordnung der Gegenwart in den Verlauf der bisherigen Geschichte, sondern ihr "Sinn" ist ihre Verhei­ßung und ihre Aufgabe, ihr Aufbruch aus der gewesenen und vorhande­nen Wirklichkeit in eine neue Wirklichkeit. Jene Ganzheit und Einheit der Wirklichkeit, nach der universalgeschichtlich gefragt wird, ergibt sich nicht aus dem schlichten Ablauf des Weltprozesses, der, einmal am Ende, die Wirklichkeit zum Ganzen rundet, sondern jene "Ganzheit" und "Einheit" der Wirklichkeit muß gegenüber aller vorliegenden Wirklich­keit eine neue Wirklichkeit sein, in der alle Dinge neu und ganz werden. Jene heile Welt, die Gottes Gottheit beweisen wird, erreicht man in Ge­danken und Hoffnungen noch nicht, wo die Geschichte zu Ende gedacht wird, sondern erst dort, wo Gott "alles in allem sein wird". Das ist - biblisch ausgedrückt - jene civaxccpaAa[wot<; 't"ii'w TI:cX\I't"w\1, in der auch die Toten nicht sicher sind, sondern wiederkehren und auferstehen. Es ist eine neue Wirklichkeit, die nicht die bisherige geschichtliche Wirk­lichkeit abschließt, sondern sie gleichsam aufrollt. Darum hat es Sinn, nach der Zukun:A: der V ergangenen und des V ergangenen zu fragen; nicht nur um das Licht des Verstehens auf das dunkle Feld der Geschichte zu bringen, sondern um "im Vergangeneo den Funken der Hoffnung" an­zuschlagen. c) Der Beweis Gottes aus "Gott" ist der ontologische Gottesbeweis. Er stammt von Anselm von Canterbury, wurde von Kant nicht verworfen, von Hegel aber erst wieder zur Grundlage des Gottesbegriffs gemacht. Es ist nicht zufällig, daß Karl Barth ihn in seinem, für seine eigene Theo-

106. Ebd. 119 Anm. 37.

Hermeneutik der christlichen Sendung 257

logie so wichtigen Buch über Anselm 1931 in verwandelter Gestalt auf­nahm und ihn mit seinem eigenen Begriff von der Selbstoffenbarung Gottes verband. Dieser Beweis der Existenz Gottes aus dem Gottes­begriff: "Etwas, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann", oder aus dem Namen oder der Selbstoffenbarung Gottes, behauptet nicht, daß man auf Grund der erfahrbaren Weltwirklichkeit oder der selbst erlebbaren Existenzwirklichkeit notwendig Gott denken oder nach Gott fragen müsse, um die Wahrheit der Welt und des Menschseins erhellen zu können. Er sagt nur, daß wer Gott denkt, seine Existenz mit Not­wendigkeit denken müsse. Seine Voraussetzung liegt nicht in einem be­stimmten Weltbild oder einem bestimmten Verständnis des Menschseins, sondern darin, daß der Mensch, auch der Gottlose, "hört", daß er den Begriff Gottes in seinen V erstand aufnimmt und den Namen oder die Offenbarung Gottes in seinem Namen verkündigt bekommt. Es ist nicht notwendig, Gott zu denken, aber wenn man ihn denkt, muß man ihn als notwendig denken. Gott wird nur durch "Gott" erkannt. Erst in seinem Lichte sehen wir das Licht. Die damit verbundenen hermeneutischen Prinzipien besagen, daß alle Exegese biblischer historischer Texte von jenem unaufweisbaren Ereignis herkommen muß, daß jenes Wort sich ereignet, in dem Gott durch Gott erkannt wird, in dem Gott selber redet und sich selbst offenbart. Das ist allerdings gegenüber den bisher diskutierten Möglichkeiten ein .,Ansatz im Unverfügbaren" 101, hat aber nichtsdestoweniger hermeneutische und historische Konsequenzen. Karl Barth hat diese Konsequenzen im Vor­wort zur 1. Auflage des "Römerbrief" 1919 noch platonisch formuliert: "Aber meine ganze Aufmerksamkeit war darauf gerichtet, durch das Hi­storische hindurch zu sehen in den Geist der Bibel, der der ewige Geist ist ... Geschichtsverständnis ist ein fortgesetztes, immer aufrichtigeres und eindringenderes Gespräch zwischen der Weisheit von Gestern und der Weisheit von morgen, die eine und dieselbe ist. "108 In dem Vorwort zur 2. Auflage 1921 heißt es, man solle gewissenhaft feststellen, was dasteht, dem nachdenken, d. h. sich solange mit ihm auseinandersetzen, bis die Mauer zwischen dem ersten und dem eigenen Jahrhundert transparent wird, bis Paulus dort redet und der Mensch hier hört, bis das Gespräch zwischen Urkunde und Leser ganz auf die Sache (die hier und dort keine verschiedene sein kann!) konzentriert ist. "Bis zu dem Punkt muß ich als V erstehender vorstoßen, wo ich nahezu nur noch vor dem Rätsel der

107. G. Eichholz, Der Ansatz Karl Barths in der Hermeneutik, in: Antwort, K. Barth zum 70. Geburtstag, 1956, 63. 108. Jetzt in: Anfänge der dialektismen Theologie, ed. J. Moltmann, I, 1962, 77.

258 Eschatologie und Geschichte

Sache, nahezu nicht mehr vor dem Rätsel der Urkunde als solcher stehe, wo ich es also nahezu vergesse, daß ich nicht der Autor bin, wo ich ihn nahezu so gut verstanden habe, daß ich ihn in meinem Namen reden lassen und selber in seinem Namen reden kann."109 Welche "Sache" aber könnte diese Verschmelzung von Urkunde und Leser, von Autor und Hörer herbeiführen? Was damals "Sache und Urkunde" genannt wurde, heißt später bei Barth "das Wort und die Wörter". Vor allen Methoden der Aneignung des im Text Gesagten und allen Verschmelzungen der Horizonte damals und heute steht bei Barth jenes Ereignis, "daß Gott selber redet", daß jene "Sache" der Urkunden dieses Wort ist, in dem Gott sich selbst offenbart und sich selbst verkündigt oder beweist. Nur dieses Ereignis, daß Gott sich in seinem Wort, das er zu den Menschen redet, selbst beweist und also der Beweis Gottes aus Gott in dem Wort Gottes geschieht, kann jenes letzte Ziel aller historischen und theolo­gischen Exegese sein und jene Verschmelzung der Zeiten und Personen herbeiführen. Das würde für die "Geschichte" heißen, daß Vorausset­zung und Ziel der Exegese nicht in der Geschichtlichkeit der Existenz, nicht in einem universalhistorischen Zusammenhang zu sehen ist, sondern daß das Problem der biblischen Geschichten und Wörter in dem Ge­schehensein der Geschichte Gottes in Christus für die Menschen liegt. Sie ist weder historisch oder universal-historisch noch existenzgeschichtlich zu erfassen, sondern nur als kerygmatische Geschichte Gottes für die Menschen zu wiederholen. Ziel der Exegese ist darum weder das glau­bende Selbstverständnis noch eine universalgeschichtliche Orientierung, sondern die Verkündigung. Das "Wort Gottes" in den Wörtern drängt von der Exegese der "Wörter" zur Verkündigung des Wortes. So tritt hier an die Stelle des hermeneutischen Schlüssels der Geschichtlichkeit der Existenz "Gottes Geschichte für die Menschen". An die Stelle der Wort­haftigkeit der Existenz tritt die Souveränität des Gotteswortes. Wie die anderen Gottesbeweise, so ist auch der ontologische Gottesbeweis eigentlich ein Stück vorweggenommenes Eschaton. Denn daß "Gott sich durch Gott beweist" und daß "Gott Gott ist", muß unweigerlich ein­schließen, daß "Gott alles in allem ist" und seine Gottheit an allem, was ist und was nicht ist, beweist. Von dieser allmächtigen Gottheit Gottes aber gibt es hier in der Geschichte nur den Vorschein der Auferweckung Christi von den Toten. Daß Gott Gott ist, kann darum nicht der ewige Ursprung und Hintergrund der Verkündigung Christi sein, sondern muß das verheißene, aber noch unerreichte Zukunftsziel der christlichen Ver-

109. Ebd. I, 112.

Hermeneutik der christlichen Sendung 259

kündigung sein. Gerade die ursprünglich platonischen Formulierungen des "ewigen Geistes" und der in Ewigkeit mit sich identischen "Sache" der Bibel bei Barth zeigt eine Tendenz zum uneschatologischen und dann auch unhistarischen Denken, die auch in der späteren Formulierung des Wortes Gottes und der Selbstoffenbarung noch anzutreffen ist. "Das Wort" in "den Wörtern" kann, recht verstanden, nur einen apokalyp­tischen Sinn haben, in dem es das hier in der Geschichte nur zu bezeu­gende, nur zu erhoffende und zu erwartende "Wort" meint, das Gott einmal sprechen wird, wie er es versprochen hat. Daß die Exegese zur Verkündigung führen soll, wenn sie den Intentionen der Texte recht folgt, kann nicht aus dem transzendenten Hintergrund der Selbstoffen­barung Gottes begründet werden, sondern nur so, daß jenes ein für alle Mal geschehene Christusereignis der Auferstehung zu einer eschatologi­schen, sendungsgeschichtlichen Notwendigkeit der Verkündigung an alle Völker führt. Das wird nur in einem eschatologischen Horizont möglich, nicht aber auf dem Boden einer ewigen Selbstoffenbarung Gottes. Eine ontotheologische Begründung der Verkündigung kann zu einer Nivellie­rung der differenten geschichtlichen Aufgaben und Horizonte der christ­lichen Sendung in den Zeiten der Geschichte führen.

2. Sendung und Auslegung

Alle Gottesbeweise sind im Grunde Vorgriffe auf jene eschatologische Wirklichkeit, in der Gott allen an allem offenbar ist. Sie unterstellen diese Wirklichkeit als schon gegenwärtig und als jedem Menschen un­mittelbar einsichtig. Die hermeneutischen Prinzipien, die aus ihnen ent­wickelt werden, nehmen die an der Welt, der Existenz oder dem verkün­deten Namen Gottes aufweisbare, erlebbare oder vernehmbare Gegen­wart Gottes - und sei es auch nur in der notwendigen Frage nach ihm -zum Bezugspunkt der Auslegung und Aneignung der geschichtlichen, biblischen Zeugnisse. Es ist aber eine solche "natürliche Theologie", in der Gott jedem Menschen offenbar und beweisbar ist, nicht die Voraussetzung des christlichen Glau­bens, sondern das Zukunftsziel der christlichen Hoffnung. Diese allge­meine und unmittelbare Gegenwart Gottes ist nicht das, wovon der Glaube herkommt, sondern das, worauf er zugeht. Sie ist es nicht, worauf der Glaube steht, wohl aber das, was er sucht. Erst auf Grund der Offen­barung Gottes im Verheißungsgeschehen der Auferweckung des gekreu-

260 Eschatologie und Geschichte

zigten Christus muß der Glaube die allgemeine und unmittelbare Offen­barung Gottes an allem und für alle erfragen und suchen. Jene Welt, die Gottes Gottheit beweist, und jene Existenz, die notwendig von der Got­tesfrage bewegt wird, sind hier Zukunftsentwürfe der christlichen Hoff­nung. Es sind Vorgriffe auf jenes noch nicht erreichte Land der Zukunft, in dem Gott alles in allem ist. Es sind anthropologische und kosmolo­gische Entwürfe des christlichen Glaubens, in denen der Gott Jesu Christi als der Gott aller Menschen und der ganzen Wirklichkeit allen Menschen und aller Wirklichkeit "unterstellt" oder überantwortet wird. Dieses ist möglich, solange die Wirklichkeit und die Menschen in ihr ge­schichtlich in Bewegung sind. Dieses ist notwendig, um den universalen Zukunftshorizont der christlichen Sendung zu entwerfen. Ohne solche Entwürfe, die das Ganze betreffen und allen Menschen Dasein und Be­stimmung sinnvoll erhellen, würde das Christentum zur Sekte und der Glaube zur Privatreligion. Solche Deutungen der ganzen Wirklichkeit und des eigentlichen Menschseins aber bleiben "Entwürfe", die auf das zukünftige, verheißene Universum und Menschsein zielen. Sie sind ge­schichtlich und wandelbar und sind allemal aufgetragen auf die Bewe­gung der christlichen Sendung. Theologia naturalis ist im Grunde theolo­gia viatorum, und theologia viatorum wird sich immer in fragmentari­schen Entwürfen um die zukünftige theologia gloriae bemühen.

a) Hermeneutik des Apostolates Der eigentliche, bewegende und treibende Bezugspunkt für die Ausle­gung und Aneignung der geschichtlichen, biblischen Zeugnisse liegt in der Sendung der gegenwärtigen Christenheit und der universalen Zukunft Gottes zur Welt und zu allen Menschen, in die hinein diese Sendung erfolgt. Der Schlüssel zur Hermeneutik der geschichtlichen Zeugnisse der Bibel ist die "Zukunft der Schrift". Die Frage nach der rechten Auslegung der alt- und neutestamentlichen Schriften kann sich nicht auf die "Mitte der Schrift" richten. Die biblischen Schriften sind kein in sich geschlossener Organismus mit einem Herzen oder ein geschlossener Kreis mit einem Mittelpunkt. Alle biblischen Schriften sind vielmehr auf die zukünftige Erfüllung der Gottesverheißungen offen, deren Geschichte sie erzählen. Das Zentrum der neutestamentlichen Schriften ist die Zukunft des auf­erstandenen Christus, die sie ankündigen, vorweisen und verheißen. Um also die biblischen Schriften in ihrer Verkündigung, ihrem Existenzver­ständnis und ihrem Weltverständnis zu verstehen, muß man in die gleiche Richtung blicken, in die sie selber sehen. Die Schriften sind als geschieht-

Hermeneutik der christlichen Sendung 261

liehe Zeugnisse zukunftsoffen, wie alle Verheißungen zukunftsoffen sind. In diesem Sinne hat R. Bultmann recht, wenn er sagt: "Ereignisse oder historische Gestalten sind geschichtliche Phänomene überhaupt nicht ,an sich', auch nicht als Glieder eines Kausalzusammenhangs. Sie sind es nur in ihrer Bezogenheit auf die Zukunft, für die sie Bedeutung haben und für die die Gegenwart Verantwortung hat. "110 "So gilt auch für die Schrift, daß sie das, was sie ist, nur mit ihrer Geschichte und ihrer Zukunft ist. "111 Nur liegt diese "Zukunft der Schrift" noch nicht in der je eigenen Gegenwart, sondern in dem, was die jeweilige Gegenwart auf eine uni­versale, eschatologische Zukunft ausrichtet. Die "Zukunft der Schrift" wird darum gegenwärtig wahrgenommen in der an der Geschichte und ihrer möglichen Veränderung beteiligten Sendung. Die biblischen Zeug­nisse sind Zeugnisse vergangener, geschichtlicher Sendung nach vorne und können darum am Leitfaden gegenwärtiger Sendung verstanden werden als das, was sie eigentlich sind. Der Bezugspunkt und das Woraufhin der Auslegung der biblischen Zeug­nisse ist nicht etwas Universales, das im Grunde der Geschichte oder im Grunde der Existenz alles bewegt, sondern die konkrete, gegenwärtige Sendung der Christenheit in die Zukunft Christi zur Welt. Man könnte auch sagen, daß der Bezugspunkt wahrer, geschichtlicher und eschatolo­gischer Auslegung der Bibel die Rechtfertigung des Gottlosen ist, wenn unter der Rechtfertigung des Gottlosen auch die Berufung der Heiden zur Teilnahme an der geschichtlichen Sendung der Christenheit verstanden wird. Die Vermittlung von ankommender mit vergangener Geschichte vollzieht sich am Leitfaden der vorwärtsdrängenden, geschichtlichen Sendung. Der überlieferungsgeschichtliche Zusammenhang des Damals mit dem Heute ist ein verheißungs- und sendungsgeschichtlicher Zusam­menhang, denn Tradition heißt im christlichen Verständnis Sendung nach vorne und Sendung ins Weite. Das Wortgeschehen, in welchem die ver­gangenen Ereignisse zur Sprache gebracht werden, meint das Geschehen der Berufung zur Zukunft des Heils in Christus und zur gegenwärtigen Arbeit der Hoffnung im Dienst der Versöhnung. Nur in Sendung und Verheißung, in Auftrag und Aussicht, in der Arbeit der Hoffnung wird der "Sinn der Geschichte" auf eine geschichtliche und Geschichte bewe­gende Weise ergriffen. Die Vermittlung von vergangener mit ankommen­der Geschich~e vollzieht sich dann nicht auf dem Boden einer abstrakten, ausgemachten Substanz der Geschichte und auch nicht auf dem Boden

110. R. Bultmann, Glauben und Verstehen, 111, 113. 111. Ebd. 140.

262 Eschatologie und Geschichte

der immerseienden Geschichtlichkeit menschlichen Existierens. Die Rich­tung der Sendung ist das einzig Konstante in der Geschichte. Denn an der gegenwärtigen Frontlinie der Sendung werden neue Möglichkeiten der Geschidlte ergriffen und unzureichende Wirklichkeiten der Geschichte verlassen. Esdlatologische Hoffnung und Sendung machen damit die Wirklichkeit der Menschen "geschichtlich". Die Offenbarung Gottes im Verheißungsgeschehen offenbart, bewirkt und provoziert jene offene Geschichte, die in der Sendung der Hoffnung ergriffen wird. Sie macht die Wirklimkeit, in der Menschen miteinander leben und sich einrichten, zu einem Gesdlichtsprozeß, nämlich zu einem Rechtsprozeß um die Wahr­heit und die Gerechtigkeit des Lebens. Das Menschsein des Menschen wird insofern geschichtlich, als die Bestim­mung des Menschen in der geschichtlichen Sendung herauskommt. Die Wirklichkeit der Welt wird insofern geschichtlich, als sie in der Sen­dung als das Auftragsfeld der Sendung herauskommt und auf die realen Möglichkeiten für die weltverändernde Hoffnung der Sendung befragt wird. Gott wird in der Sendung offenbar als der berufende und verheißende Gott. Er beweist sein Dasein nicht an der vorhandenen Gottesfrage des Mens<hen, nicht an der Frage nach der Einheit der vorhandenen Welt und auch noch nicht aus seinem Begriff, sondern er beweist sein Dasein und seine Gottheit in der Ermöglichung der geschichtlichen und eschato­logis<hen Möglichkeiten der Sendung. So treten die Fragen na<h dem wahren Menschsein, nach der Einheit der Welt und dem Gottsein Gottes heraus aus einer illusionären theologia naturalis. Diese Fragen werden aus der Bewegung der Sendung heraus gestellt und beantwortet. Es sind Fragen der theologia viatorum.

b) Die Menschwerdung des Menschen in der Hoffnung der Sendung Die alle Anthropologie leitende Frage: Was oder wer ist der Mensch? Wer bin ich? wird in den biblischen Geschichten nicht aus dem Vergleich des Menschen mit dem Tiere oder mit den Dingen der Welt gestellt. Sie wird auch nicht einfach coram Deo gestellt, wie Augustin und die Refor­matoren sagten. Sie wird vielmehr angesichts göttlicher Sendung, Beauf­tragung und Bestimmung gestellt, die die Grenzen des Menschenmöglichen übersteigen. So fragt Mose (Ex. 3, 11) angesichts seiner Berufung zum Exodus der Israeliten aus Kgypten: "Wer bin ich, daß ich zum Pharao gehen und die Israeliten aus Kgypten führen sollte?" So erkennt Jesaja (Jes. 6, 5) sein schuldverhaftetes Selbstsein in einem schuldverhafteten Volke angesichts seiner Berufung: "Weh mir, ich bin verloren, denn ich

Hermeneutik der christlichen Sendung 263

bin ein Mensch unreiner Lippen und wohne in einem Volk mit unreinen Lippen". So erkennt Jeremia, wer er ist und wer er war, angesichtsseiner Berufung: "Ach Herr, ich kann nicht reden und bin zu jung" (]er. 1, 6). Selbsterkenntnis geschieht hier im Angesicht der göttlichen Berufung und Sendung, die dem Menschen Unmögliches zumutet. Es ist Selbsterkennt­nis, Menschenerkenntnis und Schulderkenntnis, Erkenntnis der Unmög­lichkeit eigener Existenz angesichts der zugemuteten Möglichkeiten der göttlichen Sendung. Der Mensch kommt zur Erkenntnis seiner selbst, indem er die Diskrepanz zwischen der göttlichen Sendung und seinem eigenen Sein entdeckt; indem er erfährt, wer er ist, und wer er sein soll, aber von sich aus nicht sein kann. Darum lautet die vernommene Ant­wort auf die Frage des Menschen nach sich selbst und seinem Mensch­sein: "Ich werde mit Dir sein". Damit wird dem Menschen nicht gesagt, wer er war und wer er eigentlich ist, sondern wer er sein wird und sein kann in jener Geschichte und in jener Zukunft, in die ihn die Sendung führt. In der Berufung wird dem Menschen ein neues Seinkönnen in Aus­sicht gestellt. Wer einer ist und was einer kann, das wird er erfahren im hoffenden Vertrauen auf Gottes Mitsein. Der Mensch erfährt sein Menschsein nicht aus sich selbst, sondern aus der Zukunft, in die ihn die Sendung führt. Wer der Mensch ist, das sagt ihm allein die Geschichte, erklärte W. Dilthey. Wir können diesen Satz hier aufnehmen, wenn wir hinzufügen: in die ihn die Hoffnung der Sendung führt. Das eigentliche Geheimnis seines Menschseins entdeckt der Mensch in der Geschichte, die ihm seine Zukunft erschließt. Gerade in dieser Geschichte noch uner­kannter und noch unbegrenzter Möglichkeiten der Sendung kommt her­aus, daß der Mensch ein "nicht festgestelltes Wesen" ist, daß er nämlich zukunftsoffen für neue, verheißene Seinsmöglichkeiten ist. Gerade an der Berufung in die noch dunklen Möglichkeiten der Zukunft kommt heraus, daß der Mensch sich selbst verborgen ist, ein homo absconditus, und sich selbst offenbar werden wird in jenen Aussichten, die ihm die Horizonte der Sendung öffnen. Die Berufung und Sendung offenbart den Menschen nicht einfach sich selbst, sodaß er sich wieder verstehen kann als den, der er eigentlich ist. Sie offenbart und eröffnet ihm neue Möglichkeiten, so­daß er zu dem werden kann, der er noch nicht ist und noch nicht war. Darum bekommen Menschen nach alttestamentlichem und neutestament­lichem Sprachgebrauch mit ihrer Berufung einen neuen Namen und mit ihrem neuen Namen ein neues Wesen und eine neue Zukunft. Nun sind solche Berufungen und Sendungen im Alten Testament speziell und kontingent. Sie betreffen ein einzelnes Volk und einige Propheten und Könige. Sie enthalten bestimmte geschichtliche Aufträge. Darum

264 Eschatologie und Geschichte

läßt sich aus ihnen noch nichts über das Menschsein des Menschen über­haupt ausmachen. Im Neuen Testament aber richten sich Berufung und Sendung "ohne Unterschied" auf Juden und Heiden. Die Berufung zur Hoffnung und zur Teilnahme an der Sendung werden hier universal. Die Berufung durch das Evangelium enthält den Ruf zur eschatologi­schen Hoffnung auf das endgültige und universale Heil. Die Berufung durch das Evangelium ist hier identisch mit der Rechtfertigung der Gott­losen und mit der Aufrichtung des Glaubensgehorsams unter allen Men­schen. Wenn aber das Evangelium alle Menschen in die Hoffnung und in die Sendung der Zukunft Christi hineinruft, dann läßt sich aus diesem bestimmten Geschehen auch auf allgemeine Strukturen des Menschseins reflektieren. Der Glaubende versteht sich selbst ja nicht als Anhänger einer Religion, die unter anderen Religionen auch noch möglich ist, son­dern als auf dem Wege zum wahren Menschsein, zu dem, was allen Menschen bestimmt ist. Darum kann er anderen seine Wahrheit nicht als "seine" Wahrheit, sondern nur als "die Wahrheit" darstellen. Das konkrete, durch die christliche Sendung eröffnete Menschsein muß darum in der Auseinandersetzung mit den Universalbestimmungen des Mensch­seins in der philosophischen Anthropologie auch allgemeine Strukturen des Menschseins aus sich heraus entwerfen, in denen die Zukunft des Glaubens als Zukunft aller Menschen vorscheint. Die Berufung des Evan­geliums wendet sich an alle Menschen und verheißt ihnen eine eschato­logisch-universale Zukunft. Sie geschieht "in Öffentlichkeit" und muß darum ihre Hoffnung auf die Zukunft des Menschen auch öffentlich ver­antworten. Eine christliche Anthropologie wird immer darauf drängen, daß eine allgemeine, philosophische Anthropologie das Menschsein ge­schichtlich versteht und seine Geschichtlichkeit von seiner Zukunft her begreift. Was der Mensch in Leib und Seele, in Mitmenschlichkeit und Gesellschaft, im Beherrschen der Natur ist, das erschließt sich in seiner Wirklichkeit erst von der Richtung seines gelebten Lebens her. Mensch­sein wird erst wirklich bestimmbar von der Bestimmung her, zu der es unterwegs ist. Der Vergleich mit der Natur, mit dem Tiere, oder der Vergleich mit anderen Menschen in Geschichte und Gegenwart bringt das Menschsein noch nicht heraus, sondern erst der Vergleich mit seinen Zukunftsmöglichkeiten, die sich ihm von der Richtung seines Lebens, der intentio vitalis, her erschließen. Der Mensch hat keinen Bestand in sich selber, sondern ist immer in Richtung auf etwas hin unterwegs und ver­wirklicht sich von einem zukünftigen und erwarteten Ganzen her. Mensch­sein ist nicht subsistent, sondern ek-sistent. Es wird nicht von einer zu­grundeliegenden substantia hominis her verständlich, sondern nur aus den

Hermeneutik der christlichen Sendung 265

gelebten Perspektiven leiblicher und seelischer Richtungen her. Nur da­rin ist der Mensch "weltoffen", daß er richtungsoffen ist für Bestimmung und Zukunft. Anders gesagt: die natura hominis ergibt sich erst von der forma futurae vitae her. Sie liegt von ihr her im Werden und steht in bezug auf sie geschichtlich auf dem Spiel. Durch die Hoffnung auf ver­heißene Neuschöpfung durch Gott steht der Mensch hier in statu nascen­di, im Prozeß seiner Hervorbringung durch das rufende, lockende, trei­bende Wort Gottes. Eine sendungsgeschichtliche Auslegung der biblischen Zeugnisse von der Geschichte und der Sendung des Menschen wird also mit der existen­tialen Interpretation nach den neuen Möglichkeiten fragen, die durch Israel und das Christentum in die Welt gekommen sind. Auch sie wird diese gewesenen Existenzmöglichkeiten als Möglichkeiten gegen­wärtigen Daseinsverständnisses darstellen müssen. Sie wird aber diese Existenzmöglichkeiten als neue Möglichkeiten der Zukunft des Menschen interpretieren. Sie wird nicht die Phänomene vergangeuer Geschichte aus den Möglichkeiten menschlichen Existierens interpretieren, sondern um­gekehrt die neuen Möglichkeiten menschlichen Daseins aus dem "Phäno­men" von Verheißung und Sendung durch Gott und aus dem "Phäno­men" der Auferstehung und Zukunft Christi interpretieren. Sie wird dem heutigen Menschen neue Möglichkeiten, Aussichten und Ziele durch die Auslegung jenes Geschehens eröffnen können, das der eschatologischen Zukunft die Bahn bereitet. Dazu ist es nötig, den Menschen in seinem Selbstsein zusammen mit und nicht abgesehen von der gegenwärtigen Konstellation der menschlichen Gesellschaft zu nehmen, um das Ganze der gegenwärtigen menschlichen Wirklichkeit der Zukunft Christi und den Möglichkeiten der Sendung in seine Zukunft zu überliefern. Die ganze gegenwärtige Situation muß von der Zukunft der Wahrheit her in ihren geschichtlichen Möglichkeiten und Aufgaben verstanden werden.

c) Die VergeschiehtZiehung der Welt in der Sendung. Nicht schon für die theoria, die nach dem göttlichen Wesen der Welt als Kosmos forscht, sondern erst für die geschichtliche und veränderungs­willige Praxis der Sendung wird die Welt auf eine geschichtliche Weise frag-würdig. Ihre Fragen richten sich nicht auf die Einheit und die Ganzheit der Welt und auf die Ordnung der chaotischen Wirklichkeit, sondern auf die Veränderlichkeit der Welt. Denn die eschatologische Hoffnung zeigt das Mögliche und Veränderliche an der Welt als etwas Sinnvolles, und die praktische Sendung ergreift das jetzt an der Welt In­Möglichkeit-Stehende. Die Theorie der weltverändernden, zukunfts-

266 Eschatologie und Geschichte

willigen Praxis der Sendung sucht nicht nach ewigen Ordnungen in der bestehenden Weltwirklichkeit, sondern nach Möglichkeiten in dieser Welt in Richtung auf die verheißene Zukunft. Die Berufung zur gehorsamen Gestaltung der Welt wäre gegenstandslos, wenn diese Welt unveränder­lich wäre. Der Gott, der beruft und verheißt, wäre nicht Gott, wenn er nicht der Gott und Herr jener Wirklichkeit wäre, in die seine Sendung hineinführt, und seiner Sendung nicht real-objektive Möglichkeiten schaffen könnte. Die Praxis der umgestaltenden Sendung bedarf also einer gewissen Weltanschauung, eines Weltvertrauens und einer Welt­hoffnung. Sie sucht nach dem real-objektiv Möglichen an dieser Welt, um es zu ergreifen und zu verwirklichen in Richtung auf die verheißene Zukunft der Gerechtigkeit, des Lebens und des Reiches Gottes. Für sie ist darum die Welt ein offener Prozeß, in welchem das Heil und das Verderben, die Gerechtigkeit und die Vernichtung der Welt auf dem Spiel stehen. Für die Perspektive der Sendung i:st nicht nur der Mensch zukunftsoffen, sondern auch die Welt voller Zukunft und grenzenloser Möglichkeiten zum Guten und zum Bösen. Sie wird also stets die Wdtwirklichkeit als Geschichte von der in Aussicht •stehenden Zukunft 'her zu verstehen sich bemühen. Darum wird sie nicht, wie die Grie­chen nach der Natur der Geschichte und dem Bestehenden in der Ver­änderung, sondern vielmehr nach der Geschichte •der Natur und der Veränderungsmöglichkeit des Bestehenden fragen. Sie fragt nicht nach dem verborgenen Ganzen, das diese Welt, wie sie ist, im Innersten zu­sammenhält, sondern nach dem zukünftigen totum, in welchem alles, was hier in Bewegung sich befindet und vom Nichts bedroht ist, ganz und heil wird. Das Insgesamt der Welt erscheint hier nicht als selbständiger Kos­mos der Natur, sondern als Ziel einer nur energetisch zu verstehenden Weltgeschichte. Die Welt erscheint somit als ein Korrelat der Hoffnung. Allein die Hoffnung nimmt das "Harren der Kreatur" nach ihrer Freiheit und Wahrheit wirklich zur Kenntnis. Der Gehorsam, der aus Hoffnung und Sendung entspringt, vermittelt das Verheißene und Erhoffte mit den realen Möglichkeiten der Weltwirklichkeit. Ruf und Sendung des "Gottes der Hoffnung" lassen den Menschen nicht mehr im Umkreis der Natur und nicht mehr in der Welt als Heimat leben, sondern nötigen ihn dazu, im Horizont der Geschichte zu existieren. Dieser Horizont erfüllt ihn mit hoffnungsvoller Erwartung und mutet ihm zugleich Verantwortung und Entscheidung für die geschichtliche Welt zu. Der durch die Gottesverheißung zur Veränderung der Welt berufene Mensch fällt aus dem Umkreis des griechischen Kosmosdenkens heraus. Er hat hier "keine bleibende Stadt", denn er sucht "die zukünftige Stadt"

Hermeneutik der christlichen Sendung 267

Gottes. Sein Denken wird darum die Wirklichkeit nicht metaphysisch im Lichte des Absoluten verklären. Sein Denken ist nicht darauf gerich­tet, das vielfältig Seiende dem einen, ewigen Sein zu vermitteln. Seine Erfahrung der Wirklichkeit in ihren Veränderungsmöglichkeiten als Geschichte ist auf der anderen Seite aber nicht bedingt durch die Machbarkeit von Geschichte in der Willkür des menschlichen Subjektes. Für ihn ist die Welt veränderlich für den Gott seiner Hoffnung und in­sofern auch für den Gehorsam, zu dem ihn diese Hoffnung bewegt. Das Subjekt der Weltveränderung ist für ihn darum der Geist der göttlichen Hoffnung. So ist seine Erfahrung und seine Erwartung von Geschichte geöffnet und gebunden durch die Zukunftverheißungen des Gottes, dem er glaubt. Die Weltwirklichkeit wird für ihn darum nicht, wie in der Neuzeit, zum Material der Pflicht oder der Technik. Sein Weltdenken vermittelt die Dinge nicht dem menschlichen Subjekt in seinen einge­bildeten Bedürfnissen oder seinen willkürlichen Setzungen. Sein Denken vermittelt die Dinge der kommenden, messianischen Versöhnung. Da­rum steht sein weltverändernder Gehorsam ebenso wie sein Erkennen und Bedenken der Welt im "Dienst der Versöhnung". Er verbindet das Seiende nicht, wie es ist, in metaphysischer Verklärung mit dem Absolu­ten. Er verbindet die Dinge nicht, wie im technischen Positivismus, mit der eigenen Subjektivität. Er vermittelt das Seiende vielmehr mit der universalen, zurechtbringenden Zukunft Gottes. So dient seine Vermitt­lung der Versöhnung der Welt mit Gott. Sein Verstand besteht nicht in der Anschauung der Dinge auf ihren ewigen Grund hin. Sein V erstand besteht nicht in praktischen Überlegungen technischer Aneignung der Dinge. Sein Verstand besteht darin, daß er mitleidend mit dem Elend des Seienden in die erlösende Zukunft des Seienden vorgreift und ihm so Versöhnung, Rechtfertigung und Bestand stiftet. So sagt Luther: " ... ein seltzame sprache und newe grammatica ... Denn er wil, weil wir sollen newe menschen sein, das wir auch ander und new gedancken, verstand und sinne haben und kein ding ansehen nach der vernunfft, wie es fur der welt stehet, sondern wie es fur seinen augen ist, und uns richten nach dem zukünfftigen, unsichtbarn newen wesen, des wir zu hoffen haben und nach diesem leiden und elenden wesen folgen sol ... "112 In dieser Richtung läßt sich auch das Schlußwort von Th. W. Adorno aus "Minima Moralia, Reflexionen aus dem beschädigten Leben" aufnehmen: "Philo­sophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantwor­ten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom

112. W. A. 34, II, 480 f.

268 Eschatologie und Geschichte

Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten. Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik. Perspektiven müssen hergestellt werden, in denen die Welt ähnlich sich versetzt, ver­fremdet, ihre Risse und Schründe offenbart, wie sie einmal als bedürftig und entstellt im Messianischen Lichte daliegen wird. Ohne Willkür und Gewalt, ganz aus der Fühlung mit den Gegenständen heraus solche Per­spektiven zu gewinnen, darauf allein kommt es dem Denken an. "113

Das würde auf dem Felde der Erforschung und Darstellung vergangeuer Geschichte wohl bedeuten, daß für die Historie weder eine Theodizee der Geschichte noch eine Selbstrechtfertigung vergangeuer oder gegen­wärtiger Geschichte das Ziel sein kann. Glanz und Elend vergangeuer Zeiten bedürfen nicht der Rechtfertigung Gottes oder der Vernunft in ihnen. Sie vertragen auch nicht die positivistische Diktatur gegenwärti­ger Subjektivität. Das "Harren der Kreatur" in ihnen will vielmehr zur Sprache und zur Aussicht auf die Freiheit von den Mächten des Nich­tigen kommen. Im messianischen Lichte der hoffenden Vernunft muß die Historie etwas von den "Rissen und Schründen" offenbar machen, in welchen vergangene Zeiten ihrer Rechtfertigung und Erlösung entgegen­harren. Dann gibt es Solidarität der Gegenwart mit vergangeneu Zeiten und eine gewisse Gleichzeitigkeit sowohl in der geschichtlichen Entfrem­dung wie in der eschatologischen Hoffnung. Diese Solidarität ist der wahre Kern der Gleichartigkeit, auf Grund dessen ein analogisches V er­stehen über die Zeiten hinweg möglich wird. Allein diese Solidarität des Barrens im Seufzen unter der Gewalt des Nichtigen und im Hoffen auf freimachende Wahrheit nimmt die Geschichte geschichtlich zur Kenntnis und vollzieht auf den Totenfeldern der Geschichte den Dienst der Ver­söhnung.

d) Die Tradition der eschatologischen Hoffnung Traditionen sind lebendig und verbindlich, vertraut und geläufig, wo sie und solange sie als das Selbstverständliche Väter und Söhne in der Folge der Geschlechter verbinden und Kontinuität in der Zeit stiften. Schon dort, wo diese fraglose Vertrautheit und Vertrauenswürdigkeit zum Problem wird, geht ein wesentliches Moment der Traditionen ver­loren. Wo die Reflexion kommt und die Traditionen kritisch in Frage stellt, damit den Akt ihrer Annahme oder Ablehnung bewußt macht, verlieren die Traditionen ihre freundliche Macht. Nicht erst der Abbruch

113. Th. W. Adorno, Minima Moralia, 1962, 333 f.

Hermeneutik der christlichen Sendung 269

von Traditionen, sondern schon ihre bewußte Problematisierung hebt die Traditionalität menschlichen Lebens auf. Denn die Traditionen sind dann nicht mehr der Vor-mund und das Subjekt gegenwärtigen Denkens und Handelns, sondern werden zum Objekt eines an sich selber und seiner Wurzel traditionslosen Denkens. Sie können dann revolutionär verwor­fen oder konservativ restauriert werden. Doch seit man "konservativ" von Tradition spricht, hat man sie nicht mehr114•

Anfang und Prinzip des neuzeitlichen Traditionsbruches ist die Begrün­dung sicheren Wissens durch die Methode des Zweifels seit Descartes. Hatte sich bis in die Neuzeit hinein der abendländische Geist an den Texten der Oberlieferungen gebildet, so bildet er sich- beginnend schon im späten Mittelalter - jetzt an der eigenen Erfahrung und der metho­dischen Verarbeitung der eigenen Erfahrung aus. Für Pascal trennen sich damit die Wege von Theologie und neuzeitlichen Wissenschaften. "Wenn wir diesen Unterschied klar sehen, werden wir die Verblendung derer beklagen, die in der Physik allein die Oberlieferung gelten lassen wollen, statt der Vernunft und des Experimentes; wir werden erschrecken ob des Unrechtes jener, die in der Theologie die Argumentation der Ver­nunft an die Stelle der Oberlieferung der Schrift und der Väter setzen. "115

Die Theologie vermag allein auf Grund des überlieferten Wortes zu beleh­ren. In jenen Bereichen aber, in denen man jetzt Wahrheit sucht, um das menschliche, gesellschaftliche Leben darauf zu gründen, werden Traditio­nen zum Inbegriff der vererbten Vorurteile, der idola, wie Francis Bacon sagte. An die Stelle der geschichtlichen, an und in Oberlieferungen leben­digen Gestalten des Geistes tritt die abstrakte Selbstvergewisserung des menschlichen Geistes: sum cogitans. Für ihn sind die res gestae der Ge­schichte grundsätzlich nichts anderes als die res extensae der Natur. Er wird darum auch auf dem Felde der Geschichte nach methodisch ge­sicherter, historisch-kritischer Erfahrung suchen. Dieser geschichtslose Vernunftbegriff macht aus den Traditionen zufällige Geschichtswahr­heiten und findet ewige Vernunftwahrheiten in sich selber. Vergangene Geschichte vergegenwärtigt sich für ihn nicht mehr in Traditionen, son­dern wird durch wissenschaftliche Reflexion historisiert. "Das historische Verhältnis zur Vergangenheit setzt nicht nur voraus, daß diese Vergan­genheit vergangen ist, es wirkt offensichtlich auch selbst dahin, diese Inaktualität des Gewesenen zu befestigen und zu besiegeln. Die Historie ist an die Stelle der Tradition getreten, und das heißt, sie besetzt diese

114. G. Krüger, Freiheit und Weltverwaltung, 1958, 223. 115. Pascal, Oeuvres 11, 133, zit. bei J. Pieper, über den Begriff der Tradition, 1957, 10 f.

270 Eschatologie und Geschichte

Stelle und macht es ... unmöglich, den Alten wirklich nachzufolgen, also in ihrer Tradition zu stehen. "116 Die historische Vernunft vermag dann wohl, Traditionen aufzulösen, nicht aber neue Traditionen zu schaffen. "Der Druck, den die Tradition auf unser Verhalten vorbewußt ausübt, nimmt in der Geschichte durch fortschreitende Geschichtswissenschaft zu­nehmend ab. "117

Mit diesem historischen Verhältnis zur Geschichte ist zunächst unzweifel­haft ein in seinen Auswirkungen noch unübersehbarer Traditionsbruch gesetzt. Es ist zunächst ein Bruch mit ganz bestimmten abendländischen Traditionen. Ob es sich darin auch um einen Bruch mit der Traditionali­tät der menschlichen Daseinsverfassung überhaupt handelt, ist jedoch die Frage. Mit Beginn der Neuzeit aber macht die emanzipierte Vernunft neue Geschichtserfahrungen, die das überkommene Gehäuse der Tradi­tion sprengen. Die Entdeckungsreisen nach Amerika und China bringen Völkerschaften zur Kenntnis, die sich nicht in die antik-christliche Genea­logie der Menschheit einordnen lassen. Die sich in der Reflexion selbst­gewisse Vernunft macht in der Natur Entdeckungen, die das alte Welt­bild antiquieren. Sie bringt endlich gesellschaftlich neue Wirtschaftsfor­men und bürgerliche Verhaltensweisen hervor, die das überlieferte christliche Ethos zerstören. Die französische Revolution vollstreckte nur das Testament der Aufklärung und wurde ihrerseits fortgesetzt in der industriellen Revolution und der wissenschaftlich-technischen Zivilisa­tion. Der Rückgriff auf Traditionen und Autoritäten, der für das tradi­tionelle Bewußtsein wesentliche Zusammenhang mit der Wahrheitsüber­lieferung von Alters her, hat hier keine konstitutive Bedeutung mehr. An die Stelle des Zitates tritt das erfolgreiche Experiment und die er­folgreiche Technik. Als Produzent, Konsument und Verkehrsteilnehmer ist der Mensch überall derselbe, abgesehen von seiner je verschiedenen Herkunft. Wissenschaften und Techniken werden damit unabhängig und gleichgültig gegenüber den Unterschieden der geschichtlichen Herkunft. Diese Aussichten haben nun bei den Traditionalisten von der Romantik bis zur Gegenwart immer zu nihilistischen Schreckvisionen geführt. "Wäre die Tradition wirklich ganz verzehrt, wäre der Nihilismus voll­endet, gäbe es gar nichts, was immer noch festbesteht, dann könnte man überhaupt nicht mehr an selbstverständliche und gemeinsame Grund­lagen unseres Menschseins appellieren."118 "Die an sich bestehende Welt

116. G. Krüger, aaO. 216. 117. M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, 1927, 31. Vgl. dazu die Kritik von H. G. Gadamer, Wahrheit und Methode, 1960, 267. 118. G. Krüger, aaO. 123 vgl. auch 94: »Wir leben nur noch von unserer Inkonsequenz,

Hermeneutik der christlichen Sendung 271

löst sich auf in lauter subjektive Anschauungen von der Welt, so daß am Ende nichts mehr für sich bestünde und der Nihilismus das Ende vom Liede wäre."119 Wir gerieten dann in eine Zeit, "die der Verlust von Tradition überhaupt als ein unheilvolles Schicksal überfällt, als ein Verlorengehen von Halt und Geborgenheit, als ein Entgleiten des Beständigen, als eine atembeklemmende Entleerung und Vernichtung des geistigen Lebensrau­mes"120. Diese romantisch-nihilistische Begründung der notwendigen Wie­deraufnahme von Traditionen ist jedoch nicht in der Lage, die "Neuzeit" in die Traditionen der Geschichte zu integrieren, weil sie die neuartigePro­gressivität des neuzeitlichen Denkens und Arbeitens nicht begreift Man sieht nur auf den Verlust der Herkunft, nicht aber auf den Gewinn mög­licher Zukunft im Aufbruch der Neuzeit. Man muß darum den durch die Neuzeit visionär geöffneten Vorraum der Geschichte durch Dämme gegen die Überflutung mit den Reizen der Geschichtlichkeit wieder begrenzen. Damit aber werden Traditionen formalisiert. Man weiß zwar nicht, welche Traditionen dem Traditionsbruch der Neuzeit gewachsen sind, empfiehlt aber Traditionalität im Denken und Handeln überhaupt. Das eigentliche, treibende Motiv der Emanzipation der Vernunft und der Gesellschaft von dem Vormund und der Vormacht der Traditionen steckt aber in dem eschatologisch-messianischen Pathos der "Neuzeit". Das "Alte" wurde überholt, weil das "Neue" in eine erreichbare Nähe und Aussicht zu kommen schien. Die in den alten, antiken Traditionen gebundenen Hoffnungen wurden virulent und wirksam für die Zukunft der Geschichte. Die "Säkularisierung" war kein Abfall von den christ­lichen Traditionen und Ordnungen, sondern eine zunächst weltgeschicht­liche Verwirklichung der christlichen Erwartungen und sodann eine chiliastische Überholung der christlichen Hoffnungen. Nicht die "Schrek­ken der Geschichte" überfluteten die Dämme der alten Traditionen und ihre Bindungen, sondern die in ihnen domestizierte Hoffnung brach aus ihnen aus. An die Stelle der herkömmlichen Traditionen trat ein ge­schichtlich wirksamer Messianismus mit wechselnden Inhalten. Man wird darum nicht davon ausgehen können, daß die "Neuzeit" nur eben eine andere Zeit sei und das neuzeitliche historische Bewußtsein nicht etwas radikal Neues sei, sondern nur ein neues Moment innerhalb dessen aus-

davon, daß wir nicht wirklich alle Tradition zum Schweigen gebracht haben. Aber unser Leben wird zusehends geschichtlicher, hinfälliger, katastrophaler. Wir gehen der radika­len Unmöglichkeit der sinnvollen und gemeinsamen Existenz entgegen .•. Unter diesen Umständen ist es lebensnotwendig, daß wir mit der paradoxen, ruhelosen Epodte bre­chen und die Tradition wieder grundsätzlich bejahen." 119. R. Geiselmann, Die hl. Schrift und die Tradition, 1962, 81. 120. G. Ebeling, Die Geschichtlichkeit der Kirche, 1954, 36.

272 Eschatologie und Geschichte

mache, was das menschliche Verhalten zur Vergangenheit von jeher aus­machte121. Man wird im historischen Denken das Moment der Tradition nur dann entdecken, wenn man die revolutionären und gar chiliastischen Elemente in ihm ernst nimmt. Darum muß man fragen: welche Traditio­nen werden im Umbruch der Neuzeit abgebrochen, gegen welchen Tradi­tionsbegriff vermag sich die revolutionäre Ratio durchzusetzen? Was ist und was mutet die Tradition christlicher Verkündigung dem Menschen zu? Dazu wird man die archaisch-antiken Traditionsbegriffe und den christlichen Traditionsbegriff hinsichtlich ihrer verschiedenen Inhalte und hinsichtlich ihrer differenten Prozeduren sehr genau unterscheiden müssen. Der antirevolutionäre, antirationalistische Traditionsbegriff der Roman­tik zeigt sich überall als eine Restauration des antiken und archaischen Traditionsdenkens. Hier sind Religion und Teilhabe am Göttlichen an die ungebrochen von alters her bestehende Überlieferung gebunden. Im archaischen Traditionsdenken122 regeneriert sich die vergehende Zeit in den heiligen Festzeiten. Jedes Fest und jede liturgische Zeit bringt die Zeit zu Anbeginn, die Zeit im Ursprung, in principio wieder. Die profane Zeit des Vergehens und Verfließens des Lebens wird in den Festzeiten gleichsam angehalten. Die Weltzeit erneuert sich jedes Jahr. Sie gewinnt mit jedem neuen Jahr ihre ursprüngliche Heiligkeit wieder. In den Festzeiten werden Menschen periodisch wieder zu Zeitgenossen der Götter und leben mit ihnen wieder wie uranfänglich. Geschichte be­deutet hier Abfall vom Ursprung und Degeneration des heiligen An­fangs. Tradition bedeutet die Rückholung des verfallenen Lebens in Urzeit und Ursprung. Mythisches Ursprungsgeschehen wird in ihnen vergegenwärtigt. Für dieses Traditionsdenken verbindet sich mit "Wahr­heit" immer "das Alte". Die Prärogative der Tradition drückt sich in der Wendung "von alters her" aus. Khnlich heißt es im antiken Traditionsdenken, daß die antiqui, die Vor­fahren, die majores, ot 'ltaAaw[, ot tipza'tot, "die dem Ursprun~ Nahen, die Frühen, die Anfänglichen" sind. Es haben Autorität, "die besser als wir und näher den Göttern siedeln"123• "Die Alten wissen das Wahre, wenn wir dieses fänden, dann brauchten wir uns um Menschen­meinungen nicht zu kümmern. "124 "Eine Gabe der Götter ist durch einen gewissen Prometheus in leuchtendem Feuerschein herabgebracht worden;

121. H. G. Gadamer, aaO. 267. 122. Vgl. zu diesem Abschnitt die Arbeiten von M. Eliade. 123. Plato, Philebos 16 c 5-9. 124. Plato, Phaidros 274 c 1, zit. bei f. Pieper, aaO. 22.

Hermeneutik der christlichen Sendung 273

und die Alten, besser als wir und näher den Göttern siedelnd, haben uns diese Kunde überliefert. "124" Im 'l'CcfArn A.eye't'(H liegt der Ausweis der Wahrheit. "Es ist durch die Frühen und Ur-Alten überliefert worden, das Göttliche umfange rings die ganze Natur. "125 So steht in diesem Tra­ditionsdenken Offenbarung am Anfang. Die Alten, die vor uns waren und nahe dem Anfang lebten, bekommen von daher ihre Autorität. Darum wird das Alte zum Bewährten und zu Bewahrenden. Die ana­mnesis bringt das wahre, anfängliche Wesen der Dinge wieder zur Kennt­nis. Tradition ist dann Mnemosyne, erinnerndes Behalten. Zu ihm gehört das mythische Vorstellungsbild vom thesaurus, dem zu hütenden Schatz ursprünglicher Wahrheit, und vom depositum, dem anvertrauten Gut. Joseph Pieper bemerkt zu dem Zitat aus Platos Philebos: "Das Wichtig­ste an seiner Auskunft aber ... ist, daß diese platonische Auskunft weit­hin identisch ist mit der Antwort, welche die christliche Theologie ihrer­seits auf die gleiche Frage bereithält. Wenn man die Elemente der platonischen Kennzeichnung der Alten bedenkt ... , so ist doch zu fragen, ob es einen wesentlichen Unterschied gibt zwischen dieser platonischen Beschreibung der Alten einerseits und der Definition andererseits, durch welche die christliche Theologie den im genauen Sinn ,inspirierten' Autor bezeichnet, den Verfasser eines heiligen Buches. Die entscheidende Gemeinsamkeit ist offenbar diese: beide sind gedacht als die ersten Emp­fänger eines 8-sl'or; Aoyor;, eines göttlichen Spruches. "126 Doch ist das wirklich so? Gleicht der Inhalt der griechischen Überlieferung "von alters her" dem Inhalt der christlichen Verkündigung? Sind die Apostel den platonischen Ur-Alten gleichzusetzen? Läßt sich der auferstandene Christus im antiken Traditionsbegriff verkündigen? Was Tradition ist und wie sie geschieht, das ergibt sich allemal von der zu tradierenden Sache her. Die Sache bestimmt die Tradition bis hinein in den Traditionsvorgang. In Israel wurde nicht ein mythisches Urge­schehen tradiert und in principio vergegenwärtigt, sondern ein geschicht­liches Ereignis, das Wesen, Leben, Weg und Geschichte Israels bestimmte. Wenn man der "Tage der Vorzeit" in Israel eingedenk war und der "Jahre vergangeuer Generationen", so dachte man nicht an mythische, sondern an geschichtliche Vorzeit, nämlich an das Jahwegeschehen von Exodus und Landnahme. Die Alten sind nicht die Ur-Alten, sondern es ist jene Generation, die Jahwes Verheißungen empfing und seine Taten der Treue geschichtlich erfuhr. "Gott" ist hier nicht der "Ur-Alte", sondern

124a. Ebd. 125. Aristoteles, Metaphysik 1074 b 1. 126. f. Pieper, aaO. 23 f.

274 Eschatologie und Geschichte

der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Inhalt der für Israel konstitu­tiven Tradition waren die großen Taten und Verheißungen Jahwes, die einmalig und unwiederholbar sind, die darum zugleich Israels Zukunft bestimmen. Weil mit den Verheißungstaten Jahwes in der Vergangen­heit Zukunft, und zwar geschichtliche Zukunft, für Israel erschlossen ist, darum ist das israelitische Traditionsdenken nicht nur als Rückfrage zu interpretieren, sondern es sieht zugleich nach vorn. Man erzählt und erinnert Jahwes Treue in der Vergangenheit den "Söhnen der Zukunft" (Ps. 78, 6), damit das "neugeschaffene Volk" Jahwe preise und seine Herrschaft für die eigene Gegenwart und Zukunft erkenne (Ps. 71, 18). Um also Vertrauen auf Jahwes Treue in der Zukunft zu erwecken, wer­den die geschichtlichen Erfahrungen der Vorzeit erzählt. Jahwes Treue ist nicht ein Lehrsatz, den man von den Alten aus mythischer Vorzeit überkommen hat, sondern eine Geschichte, die man erzählen muß und erwarten kann. Diese Tradition kommt also aus Geschichte und zielt auf zukünftige Geschichte. Nun kann sich dieses Ziel in der Geschichte Israels selber wandeln. Es richtet sich zunächst auf die erkennende Zuversicht: so ist Jahwe. Wie er war, so wird er sein. Darin steckt das Moment der Wiederholung, jedoch nicht der Rückkehr zum mythischen Anfang, son­dern der Wiederholung in geschichtlicher Treue und Beständigkeit. Wenn bei den großen Propheten jener Umschlag einsetzt, den man die "Escha­tologisierung des Geschichtsdenkens" (G. von Rad) genannt hat, so läßt sich in ihm auch eine Eschatologisierung des Traditionsdenkens finden. Es kommt auch in der Prophetie zur Traditionsbildung. Doch ist es eine Traditionsbildung in neuer Gestalt. Als Vorbote von Geschichte weckt das prophetische Wort ein Warten auf Geschichte. "V erwahren will ich die Offenbarung und versiegeln die Weisung in meinen Jüngern und harren will ich auf den Herrn, der sein Angesicht vor dem Hause Jakob verbirgt, und will auf ihn hoffen" (]es. 8, 16 f.). Das prophetische Wort wird bewahrt und aufgeschrieben, "daß es für einen künftigen Tag zum Zeugen werde auf ewig" (Jes. 30, 8)127•

Fassen wir diese Entwiddung des Traditionsdenkens in Israel zusammen, so fällt gegenüber dem antiken Traditionsbegriff der feste, unmytholo­gische Bezug auf geschehene und zukünftige Geschichte auf. überliefert werden Verheißungen, erzählt werden Treuegeschehnisse Gottes, die auf die noch ungeschehene Zukunft weisen. In diesem Traditionsdenken herrscht wachsend die angesagte, verheißene Zukunft über die Gegen­wart. Diese Verheißungstradition richtet den Blick nicht auf ein uran-

127. Vgl. H. W. Wolf!, EvTh 20, 1960, 220 Anm. 3.

Hermeneutik der christlichen Sendung 275

fängliches Ursprungsgeschehen, sondern auf die Zukunft und endlich auf ein Eschaton der Erfüllungen. Man treibt nicht mit dem Rücken zur Zukunft durch die Geschichte, den Blick immer wieder auf den Ursprung gerichtet, sondern geht der verheißenen Zukunft zuversichtlich entgegen. Nicht die Ur-Alten sind nahe der Wahrheit und näher den Göttern siedelnd, sondern die künftigen Geschlechter sind es, denen die Ver­heißungen vermittelt werden, damit sie die Erfüllung schauen werden. Die christliche Tradition christlicher Verkündigung hat gegenüber dem antiken Traditionsdenken mit dem alttestamentlichen Traditionsver­ständnis zunächst dieses gemeinsam: 1. Tradition ist auch hier gebunden und bindet an ein einmaliges, unwiederholbares, geschichtliches Ereignis: an die Auferweckung des gekreuzigten Christus; 2. Der Traditionspro­zeß wird nötig und motiviert durch den Zukunftshorizont, den dieses Geschehen "ein-für-alle-Mal" vorauswirft. Weder ist das ephapax-Ereig­nis der Auferstehung Christi, noch ist der eschatologische Zukunftshori­zont der christlichen Sendung mit dem archaischen oder dem antiken Traditionsbegriff zu fassen. Darum wird jede Formulierung der christ­lichen Tradition nach Maßgabe der antiken Tradition- wie seit der anti­revolutionären Romantik im Katholizismus oft und im Protestantismus manchmal - falsch. Sowohl das christliche tradendum wie der Traditions­prozeß der christlichen Verkündigung sprengen diesen Rahmen. a) Die christliche Verkündigung setzt ein mit der Auferweckung des gekreuzigten Christus und seiner Erhöhung zum Herrn der kommenden Welt Gottes. "Christliche Tradition gibt es seit Ostern, seit es mit dem Bekenntnis zum Auferstandenen Kirche gibt. "128 Man wird darum sagen können, daß christliche Tradition Verkündigung war und ver­kündigend tradiert wurde. Darin liegt ein sehr wesentlicher Unter­schied zum Verständnis der Tradition sowohl im antiken wie im rabbi­nischen Leben. Was unterscheidet die Verkündigung des Evangeliums von Tradition in jenem Verständnis? Verkündigung des Evangeliums ist nicht Überlieferung von Weisheit und Wahrheit in Lehrsätzen. Sie ist auch nicht Überlieferung von Lebenswegen und Lebenswandel nach dem Gesetz. Sie ist Kundgabe, Offenbarung und Proklamation von eschatologischem Geschehen129• Sie offenbart die Herrschaft des Aufer­standenen über die Welt und befreit Menschen im Glauben und in der Hoffnung zum kommenden Heil. Als Proklamation ist das Evangelium auf die Ankunft der kommenden Herrschaft Christi bezogen und ist

128. E. Dinkler, RGG, 3. Aufl., VI Sp. 971. 129. Kl. Weg.enast, Das Verständnis der Tradition bei Paulus und den Deuteropaulinen, 1961, 44.

276 Eschatologie und Geschichte

selber ein Moment dieser Ankunft. Es offenbart die Gegenwart des kommenden Herrn. Darum werden bei Paulus Verkündigung des Evan­geliums und Sendung an die Heiden in aller Welt nicht von denen herge­leitet, die anfänglich waren und zeitlich näher dem Göttlichen siedelten, also nicht von den Uraposteln, sondern direkt vom erhöhten Herrn her (Gal. 1, 2 ff.; 1. Kor. 9, 1; 1. Kor. 15, 8), in dessen Dienst er sich darum weiß. Sein Evangelium will darum nicht Lehrsätze von oder über Jesus tradieren, sondern die Gegenwart des erhöhten und kommenden Herrn aufdecken. Der Prozeß der Verkündigung des Evangeliums oder des Offenbarens dieses Mysterions wird darum nicht mit der rabbinischen Traditionsterminologie wiedergegeben, sondern mit neuen Vokabeln wie X1jpuooetv und eÖa.j(eHCeo&a.L. "Paulus ist kein christlicher Rabbi, der sich lediglich hinsichdid:J. des Inhaltes seiner Überlieferung von den Lehrern des Spätjudentums unterscheidet. Sein Traditionsverständnis re­sultiert auch nicht aus einer bloßen pneumatischen Brechung des jüdi­schen Traditionsprinzips, sondern ist etwas spezifisch Neues im Bereich des Traditionsdenkens des 1. Jahrhunderts nach Christi Geburt. "130 In­dem er sein Evangelium als die eschatologische Offenbarung des erhöhten Herrn versteht, gewinnt er jene viel beobachtete Freiheit gegenüber den urchristlichen Traditionen in Lehr-, Bekenntnis- und paränetischen Aussagen. Diese Freiheit bedeutet jedoch nicht Gleichgültigkeit auf Grund persön1icher Inspiration. Das Evangelium, das die Gegenwart des kommenden Herrn offenbart, bedarf vielmehr einer stets neu zu fin­denden Kontinuität zum irdischen Jesus, da sonst ein Mythos von einem neuen Himmelswesen an die Stelle J esu von N azareth zu treten droht und das Evangelium zur gnostischen Offenbarungsrede wird. Die Histo­rie Jesu muß darum konstitutiv sein für den Glauben, der die Gegen­wart und Zukunft Gottes im Namen Jesu erwartet. Diese Identität des Erhöhten mit dem Irdischen verbindet im Evangelium und im Prozeß seiner Verkündigung das Eschatologische mit dem Historischen, die Apokalypse der Zukunft mit der Erinnerung. Darum bedarf Paulus für sein Evangelium, das er, wie er sagt, nicht von Menschen, sondern vom Herrn empfangen hat, der Bestätigung, ja der Identifizierung durch die Jerusalemer Jesus- und Ostertradition (vgl. 1. Kor. 15, 3 ff.). Auch diese Aufnahme von geschichtlicher Tradition bei Paulus rechtfertigt nicht die Annahme, er habe sein Evangelium so oder so in einem traditionellen Sinne als Tradition verstanden, sondern sie hat ersichtlich christologische Gründe, bedeutet also etwas Neues gegenüber dem herkömmlichen oder

130. Ebd. 164.

Hermeneutik der christlichen Sendung 277

anderweitigen Traditionsdenken. Die Kontinuität des Auferstandenen zum irdischen, gekreuzigten Jesus nötigt zur Aufnahme der geschicht­lichen Zeugnisse von ihm und dem Geschehen an ihm. Die Ostererfah­rungen des auferweckten, zum kommenden Herrn erhöhten J esus aber sprengen eine einlinige Kontinuität der Überlieferung von V ergangenem. Der für das Evangelium grundlegende Vorgang ist nicht eine zu stiftende Kontinuität in der Geschichte des Vergehens, aus der zeitüberbrückende Dauer resultiert, sondern die Auferweckung des gekreuzigten und toten Christus in das eschatologische Leben. Der grundlegende Vorgang ist nicht die Überbrückung der Vergänglichkeit durch Bleibendes, sondern die das Ziel der Geschichte antizipierende Auferweckung von den Toten, die Ankunft von kommendem Heil, Leben, Freiheit und Gerechtigkeit in der Auferstehung Christi. Es ist verständlich, daß dieser Vorgang, den das Evangelium offenbart, bis in den Prozeß der Verkündigung hinein gestaltend und bestimmend wirken muß. Der Vorgang der christlichen Verkündigung impliziert darum eine Christologie. Er läßt sich nicht aus dem allgemeinen Problem von Geschichte und Dauer erheben. Das Evan­gelium würde fremden Göttern und Ideologien dienen, wenn von ihm im modernen romantischen Sinne antirevolutionäre, abendländische Kon­tinuität und Rettung sich auflösender Kulturen erwartet würde. b) Wenn das Christusgeschehen den Prozeß der Verkündigung bis in den Vorgang hinein bestimmt, wie sieht dann dieser Prozeß aus? Die christliche Verkündigung hat mit den alttestamentlichen Überlieferungen die Ausrichtung auf die Zukunft gemeinsam. Tradition ist Sendung nach vorne, ins Novum der verheißenen Zukunft hinein. Das Neue aber der christlichen Verkündigung liegt in ihrer universalen Mission an alle Völ­ker. Christliche "Tradition" ist Sendung nach vorne und Sendung ins Weite. Sie sitzt nicht dem Generationszusammenhang von Vätern und Söhnen auf, sondern geht ins Weite zu allen Menschen. Nicht durch Ge­burt, sondern durch Wiedergeburt breitet sich der Glaube aus. Wiederum kommt dieses am Apostolat des Paulus besonders deutlich heraus. Er weiß sich seit seiner "Bekehrung" zur Mission an die Heiden gesandt (Gal. 1, 15 f.; Röm. 1, 5). Das Evangelium verkündigen und die Hin­wendung zu den Heiden fallen für ihn zusammen181• Beides gründet in seinem Christusverständnis. Der Gott, der Jesus von den Toten aufer­weckt hat, ist der Gott, der die Gottlosen rechtfertigt. Wie alle Menschen unter der Sünde stehen, so ist Christus die Versöhnung der ganzen Welt mit Gott. Mit der Auferweckung hat Gott Jesus zum Herrscher und

131. F. Hahn, Das Verständnis der Mission im Neuen Testament, 1964, 80 ff.

278 Eschatologie und Geschichte

Versöhner der ganzen Welt eingesetzt. Von seinem Verständnis der vor­aussetzungslos kommenden und universalen Herrschaft Christi her wird sowohl der universal-inklusive Charakter seiner Verkündigung als auch ihre eigene eschatologisch-antizipierende Ausrichtung verständlich. Darin liegt ein gewisser alttestamentlicher Rahmen: in der Aufrichtung des Glaubensgehorsams unter den Heiden fängt schon an zu geschehen, was sich nach alttestamentlicher Verheißung erst ereignen soll, nachdem Israel das Heil empfangen hat. Es beginnt darin die eschatologische Verherr­lichung Gottes an der Welt. Daß die israelitische Hoffnungsordnung aber so verändert wird, hat seinen Grund im Wirken und in der Botschaft Jesu selber: die nahegekommene Gottesherrschaft wird in seiner gnädigen Ge­meinschaft mit Sündern und Zöllnern aktuell, sie bricht in der Auferwek­kung des Gekreuzigten an und wird in der Rechtfertigung der Gottlosen wirksam. Was ergibt sich daraus für den Vorgang der christlichen Verkün­digung, für ihre "Tradition"? Christliche Tradition ist dann nicht als Wei­terreichen von zu Bewahrendem zu verstehen, sondern als ein Geschehen, das Tote, Gottlose zum Leben ruft. Der Vorgang und das Procedere der christlichen Verkündigung ist die Berufung der Heiden, die Rechtfertigung der Gottlosen, die Wiedergeburt zur lebendigen Hoffnung. Das ist ein schöpferisches Geschehen am Nichtigen, Verlassenen, Verlorenen, Gottlosen und Toten. Es kann darum als nova creatio ex nihilo bezeichnet werden, deren continuatio allein in der verbürgten Treue Gottes liegt. Diese con­tinuatio ist weniger in der ungebrochenen Sukzession des Bischofsamtes zu sehen, als vielmehr in dem "homuncio quispiam e pulvere emersus", wie Calvin den Presbyter nennt132• Das Ziel, auf das hin die christliche Verkündigung im Vorgang der Rechtfertigung und Berufung der Gott­losen vor-geht, zeigt dieses noch einmal deutlich: es ist nicht der endlich vollendete Sieg des von Alters her ungebrochen Bewährten und Bewahr­ten, sondern die "Auferweckung der Toten" und der Sieg des Auferste­hungslebens über den Tod zur Verherrlichung der Allherrschaft Gottes. Christliche Tradition ist Verkündigung des Evangeliums in Rechtferti­gung der Gottlosen. Sie wird durch die Auferweckung des gekreuzigten Christus ermöglicht und notwendig, sofern darin die Hoffnung auf die universale Zukunft des Heils der Welt verbürgt ist. Sie ist darum iden­tisch mit eschatologischer Mission. Was bedeutet der eingangs erwähnte "Traditionsbruch" der Neuzeit für diese Tradition christlicher Verkündigung? Abgebrochen werden durch

132. 0. Noordmans, Das Evangelium des Geistes, 1960,162 mit einem Zitat ausCalvin, Institutio IV, 3, 1.

Hermeneutik der christlichen Sendung 279

die Emanzipation der Vernunft und der Gesellschaft die archaische und die antike Tradition, in die bis in die Neuzeit hinein auch die Tradition christlicher Verkündigung eingebettet war. Darum geht die Tradition christlicher Verkündigung entweder zusammen mit diesen Traditionen ihres religiösen Zeitalters zugrunde und wird zusammen mit diesen nur noch als romantische Verklärung des Vergaugenen verstanden, oder es befreit sich die Tradition christlicher Verkündigung radikal von diesem Traditionsverständnis. Es besteht für die christliche Sendung keine Ver­anlassung, sich gegen die revolutionäre Progressivität der Neuzeit mit dem romantischen Nihilismus zu verbünden und die eigene Tradition als Hort der Traditionalität den an ihren Hoffnungen müde und unsicher gewordenen Zeitgenossen darzustellen. Die Emanzipation der Vernunft und der Gesellschaft von der geschichtlichen Herkunft ist in der Neuzeit von einem chiliastischen Enthusiasmus getragen. Dieser Gegenwart muß die christliche Verkündigung die Hoffnung auf die Zukunft des Gekreu­zigten verantworten (1. Petr. 3, 15), indem sie den Gottlosen Rechtferti­gung und Hoffnung auf Auferstehung vermittelt. Man kann aus den geöffneten Horizonten der neuzeitlichen Geschichte nicht zu immerseien­den Ordnungen und immerwährenden Traditionen zurückkehren, son­dern muß diese Horizonte in den eschatologischen Horizont der Auf­erstehung hineinnehmen und damit der neuzeitlichen Geschichte ihre wahre Geschichtlichkeit entdecken.

KAPITEL V

EXODUSGEMEINDE

Bemerkungen zum eschatologischen Verständnis der Christenheit in der modernen Gesellschaft

§ 1

Der Kult des Absoluten und die moderne Gesellschaft

Wenn wir in einem letzten Kapitel nach der konkreten Gestalt gelebter eschatologischer Hoffnung in der modernen Gesellschaft fragen, so soll mit dem Leitgedanken der "Exodusgemeinde" die Wirklichkeit der Christenheit als die des "wandernden Gottesvolkes" ins Auge gefaßt werden, wie sie der Hebräerbrief beschreibt: "So laßt uns nun zu ihm hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach tragen, denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir" (Hehr. 13, 13 f.). Was bedeutet das für die gesellschaftliche Gestalt und die sozial­ethische Aufgabe der Christenheit an der "modernen Gesellschaft"? Wir können in diesem Zusammenhang nicht nur von der "Kirche" spre­chen und damit die verfaßte Institution mit allen ihren öffentlichen Funktioiilen meinen. Wir können auch nicht nur von der "Gemeinde" sprechen und damit die Versammlung meinen, die sich im Gottesdienst um Wort und Sakrament schart. Wir müssen der Reformation, nament­lich Luther, zufolge von der "Christenheit" sprechen, wie sie sich in "Kirche" und "Gemeinde" und ihren weltlichen Berufen darstellt. Nach den Schmalkaldischen Artikeln von 1537 "sind unsere Kirchen nur durch Gottes Gnaden mit dem reinen Wort und rechten Brauch der Sakrament, mit Erkenntnis allerlei Ständen und rechten Werken ( cognitione voca­tionum et verorum operum) also erleucht und beschickt" 1• Das aber heißt, daß die Christenheit sich immer auch im alltäglichen Gehorsam, in ihren weltlichen Berufen und ihren sozialen Rollen darstellen muß und de facto auch darstellt. Diese dritte Erkenntnis der Reformation ist in den

1. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, 2. Aufl. 1952, 411.

Der Kult des Absoluten und die moderne Gesellschaft 281

Reformbewegungen der modernen evangelischen Kirche über Gebühr zurückgetreten. Das ist aus soziologischen Gründen verständlich, denn die moderne, emanzipierte Gesellschaft scheint dem besonderen christ­lichen Gehorsam keine Chancen zu bieten. Das ist aber aus theologischen Gründen unverständlich, denn genau an dieser Stelle, wo es um die Be­rufung der Christenheit in den Berufen an der Gesellschaft geht, ent­scheidet es sich, ob die Christenheit eine anpassungsfähige Gruppe werden kann oder ob sie durch ihre Existenz im Horizont eschatolo­gischer Hoffnung der Anpassung widersteht und durch ihr Dasein der Welt etwas Eigenes zu sagen hat. Wenn wir in diesem Zusammenhang von moderner Gesellschaft sprechen, so meinen wir diejenige Gesellschaft, wie sie sich mit dem Aufkommen des modernen Industriesystems etabliert. Wir meinen, negativ gespro­chen, nicht den Staat und nicht die Familie, sondern jenen Bereich der Öffentlichkeit, der durch Sachvermittlung, durch Produktion, Konsum und Verkehr bestimmt ist, in welchem die mitmenschlichen Beziehungen durch Sachen und Sachlichkeit vermittelt werden. Natürlich greift dieser gesellschaftliche, sachvermittelte und funktionelle Verkehr weit hinein in das Politische und in das Familiäre, aber die Verdinglichung und Ver­sachlichung aller Beziehungen stammt nicht aus diesen Bereichen, sondern aus den fortschreitenden Möglichkeiten der wissenschaftlich-technischen Zivilisation. Die von der Modernität und Progressivität dieser Zivilisa­tion beherrschte Gesellschaft hat die Eigenart, sich als wert- und religions­neutral von Bestimmungen aus Tradition und Geschichte zu emanzi­pieren, damit auch sich dem Einfluß von Religionen und Religions­gemeinschaften zu entziehen. In welche sozialen Rollen aber hat diese moderne Gesellschaft den Glauben, die Gemeinde, die Kirche und endlich die Christenheit versetzt? -Von der Antike her haben die abendländischen Gesellschaften immer einen bestimmten, fest umrissenen Religionsbegriff gekannt. Seit dem Aufkommen aber der "bürgerlichen Gesellschaft" und des "Systems der Bedürfnisse" in der industriellen Gesellschaft hat sich die moderne Ge­sellschaft von dem antiken Religionsbegriff emanzipiert. Die christliche Kirche kann sich daher dieser Gesellschaft nicht mehr als die Religion der Gesellschaft darstellen. Seit den Tagen des Kaisers Konstantin bis weit ins 19. Jahrhundert hinein hat die christliche Kirche trotz vieler Reformationen und trotz mancher Wandlungen in der Gesellschaft einen fest umrissenen öffentlich­sozialen Charakter besessen. Ort und Funktion der Kirche lagen fest. Man wußte, was man von ihr zu erwarten hatte. Erst mit dem Aufkom-

282 Exodusgemeinde

men der Industriegesellschaft ist die alte Symphonie zwischen ecclesia und societas zerbrochen. Religionsgeschichtlich betrachtet stammte der vormoderne Öffentlichkeitsanspruch der christlichen Kirche aus dem Öffentlichkeitsanspruch der römischen Staatsreligion2• Mit Konstantin beginnend und dann konsolidiert in den Gesetzgebungen der Kaiser Theodosius und Justinian rückte die christliche Religion an den gesell­schaftlichen Platz der alten römischen Staatsreligion. Die christliche Reli­gion wurde zum cultus publicus. Sie wurde zur W ahrerin und Hüterin des sacra publica. Nach antiker Gesellschaftsauffassung ist es die höchste Pflicht (finis principalis) der menschlichen societas, den Göttern die ihnen zukommende Verehrung zuteil werden zu lassen. Frieden und Wohl­fahrt hängen an der Gunst der Staatsgötter. Das öffentliche Wohl und der dauerhafte Bestand der Polis hängt am Segen der Polisgötter. "Religion" hat hier den Sinn von frommer Verehrung derjenigen Mächte, in denen sich die göttliche Ewigkeit Roms darstellt, ohne die es "Rom" im Vollsinn gar nicht geben kann3• Als das Christentum an die Stelle der römischen Staatsreligion trat, hörten zwar die öffentlichen Staatsopfer auf, dafür trat an ihre Stelle jedoch die christliche Fürbitte für Staat und Kaiser. So wurde das Christentum zur "Religion der Ge­sellschaft". Es erfüllte den obersten Staats- und Gesellschaftszweck. Darum gingen Titel des römischen Priesterkaisers auf den Papst über. ')taat und Gesellschaft verstanden das Christentum als ihre Religion. Auch im protestantischen Humanismus von Melanchthon, ohne den die Reformation vermutlich nicht zum Zuge gekommen wäre, wurden Landesfürsten und Magistrate auf die, im antiken Sinne verstandene, Religionspflicht der Gesellschaft angesprochen4 • Höchstes Ziel der Ge­sellschaft ist die wahre Gottesverehrung, so heißt es auch hier, nun aller­dings mit der Auslegung des 1. Gebotes im usus politicus. Was ist "wahre Gottesverehrung"? Die Antwort lautete: die Durchführung der Refor­mation als Wiederherstellung der wahren Religion des einen Gottes. Eine Obrigkeit, die religionsneutral sich nur auf die Pflege des Friedens und der weltlichen Wohlfahrt beschränken will, wurde auch hier mit Grün­den aus der antiken Gesellschaftsauffassung als Sinnverwirrung dar­gestellt. So ist im antiken und vormodernen Verständnis der Gesellschaft ein religiöses Gesellschaftsziel immer schon mitgesetzt. Aus ihm stammen die Bilder, mit denen noch heute die Rolle der Kirche an der Gesell-

2. Vgl. dazu K. G. Steck, Kirche und Offentlichkeit, ThEx 76, 1960. 3. W. Kamlah, Christentum und Geschichtlichkeit, 2. Aufl. 1951, 134. 4. R. Nürnberger, Kirche und weltliche Obrigkeit bei Ph. Melanchthon, 1937.

Der Kult des Absoluten und die moderne Gesellschaft 283

schaft umschrieben wird: "Krone der Gesellschaft", "heilende Mitte der Gesellschaft", "inneres Lebensprinzip der Gesellschaft" 5• In ihrem Kultus und ihren moralischen Weisungen wird das Menschliche und Sachliche zum Göttlichen erhoben und senkt sich das Ewige und Absolute auf die irdische Gesellschaft herab. Wo heute um den "Verlust der Mitte" in einer sich desintegrierenden Gesellschaft geklagt wird, wird die Sehn­sucht nach einer solchen vormodernen religiösen Integration der zu einer Gesellschaft verbundenen Menschen laut. Die moderne Gesellschaft aber hat ihr Wesen und ihre Kraft gerade durch ihre Emanzipation von dieser religiösen Mitte gewonnen. Als einer der ersten hat Regel die Entstehung der neuzeitlichen, emanzipierten und alle Herkunftsmächte zerstörenden Gesellschaft erkannt und der engli­schen Nationalökonomie zufolge als ein "System der Bedürfnisse" 6 ana­lysiert. Es ist diejenige Gesellschaft, die in grundsätzlicher Emanzipation aus allen Voraussetzungen der geschichtlich überlieferten Lebensordnun­gen der Menschen allein die konstante und konforme Bedürfnisnatur des Menschen als .des einzelnen und ihre Befriedigung durch gemein­schaftliche und geteilte Arbeit zum Inhalt hat. Ihrem eigenen Prinzip nach enthält sie nichts, was nicht durch die "Vermittlung des Bedürfnisses und die Befriedigung des einzelnen durch seine Arbeit und durch die Arbeit und Befriedigung des Bedürfnisses aller Obrigen" gesetzt ist1. Das bedeutet, daß diese Gesellschaft im Gegensatz zu allen vorangehen­den sich auf diejenigen sozialen Beziehungen beschränkt, die die einzel­nen in der Bedürfnisbefriedigung durch geteilte Arbeit miteinander verbinden. Menschen assoziieren sich hier notwendig lediglich als Träger von Bedürfnissen, als Produzenten und Konsumenten. Alles, was eines Menschen Leben sonst noch ausmacht: Kultur, Religion, Tradition, Na­tion, Moral usw. wird aus den notwendigen Gesellschaftsbeziehungen entlassen und in die individuelle Fl"eiheit des ein~elnen gestellt. Damit wird der Gesellschaftsverkehr abstrakt. Er emanzipiert sich von den be­sonderen geschichtlichen Bestimmungen der Herkunft und breitet sich unwiderstehlich universal aus. "Die geschichtslose Natur der Gesellschaft ist ihr geschichtliches Wesen. "8 Die Zukunft und die Progressivität die­ser Gesellschaft ist ohne Beziehung zur Herkunft. Damit wird dieser

5. So Pius XII.: "Als Lebensprinzip der menschlichen Gesellschaft soll die Kirche, aus den tiefen Quellen ihrer inneren Reichtümer schöpfend, ihren Einfluß auf alle Gebiete des menschlichen Daseins ausdehnen." Die Sozialenzyklika Papst Johannes XXIII.: Materet Magistra, ed. E. Welty, Herder-Bücherei 110, 1961, 42. 6. Rechtsphilosophie §§ 188 ff. Vgl. dazu]. Ritter, Hegel und die französische Revolu­tion, 1957, 36 ff. 7. Rechtsphilosophie § 188. 8. ]. Ritter, aaO. 41.

284 Exodusgemeinde

Gesellschaftsverkehr totalitär. "Das Bedürfnis und die Arbeit in diese Allgemeinheit erhoben, bildet so für sich ein ungeheures System von Gemeinschaftlichkeit und gegenseitiger Abhängigkeit, ein in sich bewe­gendes System von Toten. "9 "Die bürgerliche Gesellschaft ist ... die un­geheure Macht, die den Menschen an sich reißt, von ihm fordert, daß er für sie arbeite und daß er alles durch sie sey und vermittelst ihrer tue. "10

Hegel sieht damit das Zeitalter des universalen Konformismus, der Ni­vellierung und Vermassung kommen. Aber er sieht auch, im Unterschied von modernen Kulturkritikern, die dialektische Gegenseite. Die allgemeine Objektivierung, Verdinglichung, Versachlichung und Funktionalisierung des Gesellschaftsverkehrs in der modernen Welt bringt zugleich eine un­geheure Entlastung der Individualität hervor. Mit der bürgerlichen Ge­sellschaft wird über dem System der Bedürfnisse und der Arbeitsteilung notwendigerweise die "Privatperson, welche ihr eigenes Interesse zu ihrem Zwecke hat"11, zum Bürger (citoyen) und zum Subjekt dieser Gesellschaft. Das Individuum wird zum "Sohn der bürgerlichen Gesell­schaft"12. So kommt die revolutionäre Idee der Freiheit aller Menschen aus der französischen Revolution mit der Geburt der modernen Arbeits­gesellschaft aus der industriellen Revolution zum Zuge. Diese ist ihre notwendige Voraussetzung und die Bedingung ihrer Möglichkeit. "Ge­rade durch ihre abstrakte Geschichtslosigkeit gibt die Gesellschaft der Subjektivität das Recht der Besonderheit frei. " 13 In der Emanzipation von der Geschichte gründet sich die Gesellschaft auf die Bedürfnisbefrie­digung durch Arbeit und gibt dem Menschen damit alle seine sonstigen Lebensbezüge frei. Alle anderen Lebensbezüge werden aus der gesell­schaftlichen Notwendigkeit entlassen. Erst von 'dem Standpunkt der Be­dürfnisse her kann von dem "Konkretum der Vorstellung, das man Mensch nennt", die Rede sein14. In der bürgerlichen Gesellschaft gilt der Mensch, weil er Mensch ist, und nicht, weil er Jude, Katholik, Pro­testant, Deutscher oder Italiener ist15. Die moderne Subjektivität, in welcher heute individuelles und persönliches Menschsein erfahren wird, ist ein Resultat der Entlastung durch die Versachlichung des Gesell­schaftsverkehrs. Damit wird von Hegels Analysen her deutlich, daß das Zeitalter der Vermassung zugleich dialektisch das Zeitalter der Individualität ist und

9. Jenenser Realphilosophie, ed. J. Hoffmeister, 1931, 239. 10. Rechtsphilosophie § 238 Zus. 11. Rechtsphilosophie § 187. 12. Rechtsphilosophie § 238. 13. ]. Ritter, aaO. 43. 14. Rechtsphilosophie § 190. 15. Rechtsphilosophie § 209.

Der Kult des Absoluten und die moderne Gesellschaft 285

das Zeitalter der Vergesellschaftung zugleich das Zeitalter der freien Assoziationen wurde. Alle Kulturkritik am Zeitalter der Vermassung, der Objektivierung, der Verdinglichung usw., die das Heil der Kultur im Wiedergewinn personaler Menschlichkeit sieht, erkennt darum nicht das Wesen der modernen Gesellschaft, sondern bewegt sich innerhalb der Entzweiung von Subjektivität und Verdinglichung, welche das Prin­zip dieser Gesellschaft selber ist. "Die Konformitäts- und Nivellierungsgesellschaft stellt dem Einzelnen eine ungeheure Mannigfaltigkeit von individuellen Geschmacks-, Wer­tungs- und Meinungsvarianten zur Verfügung, sodaß die bunteste Viel­zahl informeller Gruppierungen quer durch die immer bürokratisch gleichförmig werdenden Großorganisationen hindurchziehen und das Zeitalter einer neuen Verhaltensuniformierung doch zugleich das einer einzigartigen Ausfaltung des Seelischen und der Intellektualität ist. "16

"Konformität und Individualisierung haben beide ihre Wurzeln darin, daß die sozialen Beziehungen und Bindungen lockerer und unverbindlicher werden, daß ... die Mobilität der industriellen Gesellschaft ebenso die Anpassung an die konformen sozialen Verhaltensmuster erleichtert wie sie die Chance der Zurückhaltung der privaten und persönlichen Sphäre vor den sozialen Konventionen und Zwängen begünstigt. "17 Das Dilemma besteht also gar nicht darin, daß der Mensch, der von dem modernen Gesellschaftsverkehr nur noch in ihn partiell betreffenden Funktionen bestimmt und in Anspruch genommen wird, dem anderen Menschen nur noch als "Vertreter" sozial vorgeformter Rollen begegnet. Es besteht vielmehr darin, wie der Mensch die Zerrissenheit in die rationale Ver­dinglichung seines sozialen Lebens einerseits und die freigesetzte, unend­lich variabel gewordene Subjektivität andererseits auszuhalten und selbst darin zu leben vermag. Es fragt sich ferner, ob alles so aus dem abstrakten Assoziationsverband der modernen Gesellschaft Entlassene und der Freiheit des Subjektes Überlassene nicht funktionslos wird und notwendig verfallen muß, wenn es keine soziale Relevanz mehr gewinnen kann. Dieses gilt insonderheit für Religion und Kultur. Einmal aus der sozialen Notwendigkeit ent­lassen, drohen sie zum Spiel der Beliebigkeit und zum Tummelfeld un­wirksamer und unwirklicher Glaubens- und Meinungsvariationen zu werden. Hegel aber hat die Bewegung des Geistes gerade in dieser Entzweiung

16. A. Gehlen, Mensch trotz Masse. Der Einzelne in der Umwälzung der Gesellschaft, in: Wort und Wahrheit 7/1952, 579 ff. 17. H. Schelsky, Die skeptische Generation, (1957) 1963, 297.

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und Zerrissenheit in Verdinglichung und Subjektivität als tätig erkennen können. Nicht die romantische Selbstbewahrung und Selbstverschließung vor der Zerrissenheit, sondern nur die entäußernde Hingabe in sie hinein erweist die Kraft des Geistes. Wohin ist durch diese Entwicklung der Gesellschaft die christliche Kirche in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung geraten? Sie hat durch diese Ent­wicklung ihren über ein Jahrtausend gewohnten Charakter als cultus publicus eingebüßt. Sie wurde zu dem, was sie in ihrer religiösen Gestalt niemals gewesen war und auch theologisch nach dem Neuen Testament niemals sein wollen kann, nämlich zum cultus privatus. Der Kult des Absoluten ist für die Integration dieser Gesellschaft nicht mehr not­wendig. Das Absolute wird nur noch in der freigesetzten, gesellschaftlich entlasteten Subjektivität gesucht und erlebt. "Religion« wird aus einer öffentlichen, gesellschaftlichen Verpflichtung zu einer privaten, freien Be­tätigung. Aus "Religion" wird im Laufe des 19. Jahrhunderts die Reli­giosität des Individuums, Privatheit, Innerlichkeit, Erbaulichkeit. Indem die Gesellschaft die Religion freistellt und in freier Religionswahl der freien Entfaltung der Persönlichkeit anheimstellt, emanzipiert sie sich als moderne "Bedürfnisgesellschaft" von den religiösen Bedürfnissen. Diese Entwicklung wurde durch viele Erweckungs- und Verinner­lichungsbewegungen innerhalb des Christentums gefördert. Es setzte sich in ihr eine fromme Individualität durch, die sich ihrerseits romantisch aus den sachlichen Verflechtungen der Gesellschaft zurückzog. Die Kirche glitt damit in den neuzeitlichen cultus privatus hinüber und produzierte theologisch und seelsorgerlieh ein entsprechendes Selbstbewußtsein als Hort der Intimität und Hüter der Personalität einer gesellschaftlich ver­sachlichten und darin sich entfremdet vorkommenden Menschheit. Damit ist die christliche Religion zwar aus der Integrationsmitte der modernen Gesellschaft entlassen und von ihrer Verpflichtung, das höchste Gesell­schaftsziel darstellen zu müssen, aber sie ist damit keineswegs erledigt. Die Gesellschaft kann ihr vielmehr andere Rollen zuweisen, in denen ihre Wirksamkeit erwartet wird. In diesen Rollen hat sie zwar nichts mehr mit dem finis principalis der modernen Gesellschaft zu tun, sie kann aber dialektische Entlastungsfunktionen an den Menschen ausüben, die in dieser Gesellschaft zu leben haben. Sie gewinnt damit unendliche Va­riationsmöglichkeiten, aber es sind Möglichkeiten der Selbstbewegung und Selbstentfaltung im modus der allgemeinen gesellschaftlichen Still­legung des Christlichen als des Religiösen.

§2

Religion als Kult der neuen Subjektivität

Die erste und wichtigste soziale Rolle, in der die industrielle Gesellschaft die Wirksamkeit der Religion als des Kultes des Absoluten erwartet, be­steht zweifellos in der transzendentalen Bestimmung der neuen, frei­gesetzten Subjektivität. Der erste Religionsbegriff der modernen Gesell­schaft weist der Religion die Rettung und Wahrung personaler, indivi­dueller und privater Humanität zu. Man erwartet, daß dem versach­lichenden Industriesystem von "irgendwoher" ein menschlicher Grund zuwachsen müsse, der dieser ins Unübersehbare angeschwollenen Ding­welt gewachsen ist18• Man erwartet, daß "der Mensch unserer Zeit wie­der zum Gefäß werden möge für den Einstrom transzendenter Kräfte"19•

Man sucht nach "Inseln des Sinnes" in einer zwar nicht sinnlosen, aber doch nichtmenschlichen Welt. "Wäre es möglich, ... eine Menschlichkeit einzusetzen, die dem sekundären System gewachsen wäre, so würde diesem System der Grund zurückgegeben, den es selbst abgegraben hat. "20 Nun ist durch die technische und organisatorische Machbarkeit aller Dinge und Verhältnisse das Göttliche als das Transzendente aus der Welt der Natur, der Geschichte und der Gesellschaft verschwunden. Die Welt wurde zum Material der technischen Umgestaltung durch den Menschen. Die Götter einer kosmologischen Metaphysik sind gestorben. Die Welt bietet dem Menschen keine Heimat und keine bergende Bleibe mehr. An ihre Stelle aber ist eine "Metaphysik der Subjektität"21 getreten, in der die gegenständliche Welt der Planung durch das menschliche Subjekt unterworfen ist. Die Götter der kosmologischen Metaphysik sind zwar tot. Die Rationalisierung hat die Welt "entzaubert" (Max Weber), und die Säkularisierung hat die Welt entgöttert. Dieses aber war nur möglich auf dem Boden der neuzeitlichen Metaphysik der Subjektität. Sie hat dem Menschen seine Freiheit im Gegenüber zur Welt als dem möglichen Werk seiner Hände entdeckt. Sie mutet dem Menschen damit zugleich auch die Verantwortung für die Welt zu. Die Welt ist der Vernunft des Menschen überantwortet. Die Rettung der Humanität des Menschen in der Industriekultur wird darum in der Pflege und Ausbildung dieser Metaphysik der Subjektität gesehen. H. Schelsky hat dazu geraten, man müsse sich wieder auf eine

18. H. Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, 1958,243. 19. G. Mackenrodt, Sinn und Ausdru<k der sozialen Formenwelt, 1952, 200. 20. H. Freyer, aaO. 244. 21. M. Heidegger, Holzwege, 1957, 237.

288 Exodusgemeinde

"Innerlichkeit", auf eine "Spiritualität" jenseits der versachlichten Ver­hältnisse besinnen. Er sieht diese Möglichkeit von Metaphysik in der wissenschaftlich-technischen Zivilisation in der Denkhaltung der "meta­physischen Dauerreflexion". "Sie ist die Form, in der das denkende Sub­jekt seiner eigenen Vergegenständlichung immer vorauszueilen trachtet und sich so seiner Überlegenheit über seinen eigenen W eltprozeß ver­sichert. "22 "Wieviel das Subjekt von seiner Reflexion auch an den Me­chanismus abgibt, es wird dadurch nur reicher, weil ihm aus einer unerschöpflichen und bodenlosen Innerlichkeit immer neue Kräfte der Reflexion zufließen. "23 Durch diese Denkhaltung metaphysischer Dauer­reflexion reflektiert sich das Subjekt offensichtlich aus allen seinen Ob­jektivationen heraus, nimmt sie wieder in sich und seine Freiheit zurück und gewinnt aus sich selber einen unendlichen Zustrom neuer Möglich­keiten. Alle gesellschaftlichen Wirklichkeiten werden durch die Distanz von Reflexion und Ironie wieder auf ihre im Subjekt entspringenden Möglichkeiten zurückgeführt. Hinter diesem Rat zur Rettung der Huma­nität steht offensid1tlich der frühidealistische Gedanke der transzenden­talen Subjektivität, wie ihn Fichte entwickelt hat. Es fragt sich aber, ob diese "Reflexionsphilosophie der transzendentalen Subjektivität", wie schon Hegel sie nannte, das menschliche Subjekt nicht auf eine roman­tische Weise von den versteinerten Verhältnissen ablöst, diese in ihrer sinnentleerten, inhumanen Versteinerung sich selbst überläßt und das Individuum in sich selbst zu retten versucht. In diese romantische Metaphysik der Subjektivität und in diese Denk­haltung der metaphysischen Dauerreflexion eingepaßt erscheint dann auch jene Theologie, die den in den gesellschaftlichen Verhältnissen be­langlos gewordenen Kult des Absoluten als transzendenten Hintergrund der neuzeitlichen Existenz pflegt. Es ist jene Theologie, die sich als "Glaubenslehre" darstellt und den Ort des Glaubens in der transzenden­talen Subjektivität des Menschen findet. Es ist eine Theologie der Exi-

12. H. Schelsky, Der Mensm in der wissensmafHimen Zivilisation, 1961, 45. Xhnlim smon in: Ist Dauerreflexion institutionalisierbar? ZEE 1, 1957, 153 ff. und: Ortsbestim­mung der deutsmen Soziologie, 1959, 105: "Zu fragen wäre: Welffies ist der all­gemeine Standpunkt des Mensmen in unserer Gesellsmaft, der ihn jenseits des sozialen Zwanges und damit der Gesellsmaft gegenüber stellt? Zu antworten wäre darauf: die reflektierende Subjektivität, die sim in keine soziale Erfüllung endgültig entäußert oder von keiner sozialen Kraft endgültig determinieren läßt; das moralisme Gewissen, das in der sozialen Wirklimkeit kein endgültiges Kriterium seiner Bestätigung oder Wider­legung findet; der religiöse Glaube, der sim an keine soziale Wirklimkeit, aum nimt seine eigene, letzthin gebunden fühlt." 23. G. Günther, Seele und Masmine, Augenblick, H. 3/1, 16, zit. nadl H. Sdlelsky, Der Mensdl in der wissensdlaftlidlen Zivilisation, 45.

Religion als Kult der neuen Subjektivität 289

stenz, für die "Existenz" das Verhältnis des Menschen zu sich selbst ist, wie es sich in der "totalen Reflexion des Menschen auf sich selbst" ergibt. Diese Theologie siedelt den Glauben in jener nichtobjektivierbaren, un­verrechenbaren, durch die sozialen Rollen unerfaßbaren Subjektivität und Spontaneität des Menschen an. Sie lokalisiert den Glauben in jener ethischen Wirklichkeit, die durch Entscheidungen und Begegnungen des Menschen bestimmt ist, nicht aber durch die sozialen Verhaltensmuster und die rationale Eigengesetzlichkeit der wirtschaftlichen Verhältnisse, in denen er lebt. Indem der Mensch in der "totalen Reflexion" auf sich selbst sich seines unverwechselbar eigenen Selbstseins bewußt wird, unterscheidet er sich von der modernen Welt, wird sie für ihn zur säku­larisierten Welt, die nichts als Welt ist. Das darin heraustretende Selbst aber wird zur "reinen Empfängnis" des Transzendenten und Gött­lichen24. Die moderne Metaphysik der Subj,ektivität mit ihren Konsequen­zen der Verweltlichung der Welt muß dann als Konsequenz des christlichen Glaubens und der christliche Glaube muß als die Wahrheit dieser Metaphysik 'der Subjektivität dargestellt we1.1den. Der Glaube als "totale Reflexion des Menschen auf sich selbst" (F. Gogarten) stellt sich dann als die Wahrheit und die Radikalisierung jener metaphysischen Denkhaltung der "Dauerreflexion" (H. Schelsky) dar. In dieser Theolo­gie wird der christliche Glaube transzendent gegenüber jedem sozial mitteilbaren Sinnzusammenhang. Er ist nicht beweisbar - aber in seiner Unbeweisbarkeit liegt gerade seine Stärke, wie man sagt - und darum ist er auch nicht widerlegbar. Einzig der Unglaube als die Gegenentschei­dung ist sein Feind. Als Dauerreflexion ist er nicht institutionalisierbar25, sondern ist selber die Transzendenz gegenüber sozialen Institutionen. Er hat es vornehmlich mit dem "Selbstverständnis" des menschlichen Subjektes der technischen Welt zu tun. "Gott" ist für ihn nicht ein Gott der Welt oder der Geschichte oder der Gesellschaft, sondern eher das Unbedingte im Bedingten, das Jenseitige im Diesseitigen, das Transzen­dente im Gegenwärtigen26. Die Eigenschaftsworte, mit denen die Eigen­art dieses religiösen Erlebnisses beschrieben werden, sind alle kontra-

24. F. Gegarten, Der Mensch zwischen Gott und Welt, 1952, 181 ff. "Die Personalität. Christlicher Glaube als Reflexion", bes. 187 ff. Dabei darf der Unterschied zwischen der idealistischen Subjektivität und der Personalität des Glaubens, den Gegarten macht, nicht übersehen werden. 25. H. Schelsky, Ist Dauerreflexion institutionalisierbar? aaO. 26. R. Bultmann, Der Gottesgedanke und der moderne Mensch, ZThK 60, 1963, 335 ff. 346 f.: "Nur der Gottesgedanke, der im Bedingten das Unbedingte, im Diesseitigen das Jenseitige, im Gegenwärtigen das Transzendente finden, suchen und finden kann, als Möglichkeit der Begegnung, ist für den modernen Menschen möglich."

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punktisch auf die objektivierten, versachlichten, nichtmenschlichen Ver­hältnisse der Industriegesellschaft bezogen. Es ist ein "je und je sich vollziehendes Begebnis und Ereignis", ein "unerwartbares Geschehen", "Offenheit für die Begegnungen Gottes" und Bereitschaft zur Selbst­verwandlung in den Begegnungen Gottes. Glaube ist das Empfängnis des Selbst aus Gott. Das setzt ihn in radikale Einsamkeit, macht ihn zum ,.Einzelnen", entweltlicht ihn mitten in einer organisierten Gesellschaft. Das schenkt dem Menschen die Freiheit, "getrost durch Dunkelheit und Rätsel hindurchzuschreiten und die Verantwortung für die Tat in der Einsamkeit eigener Entscheidung zu wagen und zu tragen"27•

In der für den Existentialismus typischen "Ratlosigkeit angesichts der Gegenstandswelt"28 reduziert sich dann die christliche Ethik auf die "ethische Forderung" 29 zur Übernahme des Selbst und zur Verantwor­tung der Welt überhaupt. Sie vermag aber keine sachbezogenen ethischen Weisungen mehr für das politische und soziale Leben zu erteilen. Die christliche Liebe wandert damit aus dem Recht und der Gesellschafts­ordnung aus. Sie wird in spontaner Mitmenschlichkeit, im unmittelbaren und nicht sachlich vermittelten Ich-Du-Verhältnis je und je Ereignis. Recht, Sozialordnung und politische Gerechtigkeit müssen, einmal so ent­leert, dann positivistisch als reine Organisation, als Macht und Gesetz verstanden werden. Der "Nächste", dem die christliche Liebe gilt, ist dann der je und je Begegnende, der Mitmensch in seinem Selbstsein, aber er kann nicht mehr in seiner juristischen Person und seiner sozialen Rolle erkannt und beachtet und geliebt werden. Der "Nächste" kommt nur in personaler Begegnung, nicht aber in seiner gesellschafHichen Realität zur Erscheinung. Was vor der Tür und auf der Hand liegt, ist dann das Nächste, nicht aber der Mensch wie er in Sozial- und Rechtsordnung, in Entwicklungshilfe und Rassenfragen, in gesellschaftlichen Berufen, Rol­len und Ansprüchen erscheint. Beachten wir nun aber die Dialektik der modernen, entzweiten Gesell­schaft, so zeigt sich, daß die Metaphysik der Subjektität und der Kult des Absoluten in der transzendentalen Subjektivität sich einer bestimm­ten, neuzeitlichen, sozialen Bedingungssituation verdanken. Die "Kate­gorie der Individualität" ist selber ein Produkt der Gesellschaft30• "Eine

27. R.Bultmann, Glauben und Verstehen, III, 1960, 196. 28. E. Topitsch, Zur Soziologie des Existentialismus, in: Sozialphilosophie zwischen Ideologie und Wissenschaft, 1962, 86. 29. K. L0gstrup, Die ethische Forderung, 1959, 232: "Es gibt keine absoluten, geoffen­barten Forderungen, sondern nur die eine radikale Forderung." Vgl. W.-D. Marsch, Glauben und Handeln in der "technisch-organisatorischen Daseinsverfassung", MPTh 52, 1963, 269 ff. 30. Tb. W. Adorno, Sociologica II, 1962, 100.

Religion als Kult der neuen Subjektivität 291

Persönlichkeit: das ist eine Institution in einem Falle. "31 Es ist nicht so, daß die moderne, wissenschaftlich-technische Zivilisation nur die Objek­tivation der unendlich schöpferischen Subjektivität des Menschen wäre. Die moderne Subjektivität des Menschen verdankt ihrerseits ihre Frei­heit, Spontaneität und innere Unendlichkeit auch den Entlastungen, die ihr die moderne, versachlichte Gesellschaft bietet. Eine kulturelle Rettung der Humanität durch Pflege und Vertiefung der Subjektivität in meta­physischer Dauerreflexion, in Kunst und Religion, ist solange roman­tischer Eskapismus, wie die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht verändert werden. Diese kulturelle Rettung der Humanität gewinnt bei Verhält­nissen, die gelassen werden, wie sie sind, automatisch die Funktion der Stabilisierung dieser gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrer Nichtmensch­lichkeit, indem sie der menschlichen Innerlichkeit das drinnen verschafft, was diese draußen vermissen muß. Eine Theologie, die den Glauben in der "Existenz" des einzelnen, in seinen persönlichen, unmittelbaren Begegnungen und Entscheidungen an­siedelt, befindet sich wissenssoziologisch betrachtet genau dort, wohin die Gesellschaft den cultus privatus gestellt hat, um sich von ihm zu eman­zipieren. Dieser Glaube ist im wörtlichen Sinne sozial irrelevant, weil er im sozialen Niemandsland der individuellen Entlastungen steht; also in einem Raum, den die versachlichte Gesellschaft der Individualität des Menschen ohnehin freigestellt hat. Die existentielle Glaubensentschei­dung provoziert darum auch kaum noch die Gegenentscheidung des Un­glaubens, liegt mit dem Unglauben darum auch gar nicht wirklich im Streit, sondern provoziert eigentlich ständig ihre eigene Unverbindlich­keit, nämlich die notorisch gewordene Nichtentscheidung gegenüber dem sozial längst irrelevant gewordenen Glaubensstreit: jene "Religion ohne Entscheidung"32• Der Streit des Glauben!> ist gesellschaftlich nicht mehr notwendig, da er für das soziale Leben keine Verbindlichkeit mehr be­sitzt. Der transzendente Bezugspunkt der freigesetzten Subjektivität, auf den diese Verkündigung den Menschen anredet, ist gesellschaftlich

31. A. Gehlen, Die Seele im tedmischen Zeitalter, 1957, 118. 32. Vgl. die soziographische Auswertungsstudie von H. 0. Wölber, Religion ohne Ent­scheidung, 1959; fernerE. Stammler, Protestanten ohne Kirche, 1960. H. j. /wand hat schon 1929 auf diese Selbstaufhebung der Entscheidung im Entscheidungspathos hinge­wiesen (Deutsche Literaturzeitung, 1929, Sp. 1228): "Damit, daß der Mensch vor die Entscheidung gestellt wird, wird er ihr gerade entnommen, da dank dieser theoretischen Manipulation die Entscheidung für oder wider Gott wie zwei Möglichkeiten vor dem Menschen liegen, und man muß doch schließlich wieder zu dem Antriebe der Imperative und den Lockungen der Werturteile greifen, um den Menschen aus der Neutralität her­auszubekommen, in die man ihn künstlich versetzte."

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bereits neutralisiert worden, bevor er in der Glaubensentscheidung in Anschlag gebracht werden kann. Damit droht diese Theologie zur reli­giösen Ideologie der romantischen Subjektivität zu werden, zur Religion im Raume der sozial entlasteten Individualität. Auch das Pathos der existentiellen Radikalität hindert nicht die soziale Stillegung des so ver­standenen christlichen Glaubens.

§3

Religion als Kult der Mitmenschlichkeit

Die zweite Rolle, in der die moderne Gesellschaft die Wirksamkeit der Religion erwartet, besteht in der transzendenten Bestimmung der Mit­menschlichkeit als Gemeinschaft. Seit Beginn der industriellen Revolution hat sich die romantische Reak­tion auf jene Verhältnisse, die den Menschen seiner Menschlichkeit zu entfremden scheinen, immer wieder und in immer neuen Formen an den Gedanken der "Gemeinschaft" geklammert. "Echte menschliche Gemein­schaft ist ... die zwischen Mensch und Mensch; d. h. diejenige Gemein­schaft, in der der Mensch durch Hingabe seiner selbst an den anderen zu sich selbst kommt. "33 Diese Weise der vollen Erschließung personaler Mitmenschlichkeit in "Gemeinschaft" ist dann immer polemisch aus­gerichtet am Gegenbegriff der "Gesellschaft": Gesellschaft ist eine ge­machte, willkürliche, organisierte, zweck- und sachvermittelte Überein­kunft von Menschen. In ihr herrscht nicht der Wille zum Selbst, sondern rationale Zwecksetzung, Konvention und Sachbezug. Sie ist Pseudo­gemeinschaft und bringt den Menschen zu einer bloßen Scheinexistenz. Diese Art von Gesellschaft sieht man vornehmlich in den "großen Industriestädten "34, während man mit Gemeinschaft offenbar idyllisierte Dorfverhältnisse aus vormoderner Zeit im Auge hat. Dieser Gemeinschafl:sgedanke, von dem man sich kulturelle Rettung vor der technischen Zivilisation verspricht, stammt aus dem Zeitalter der Romantik. Er findet sich im "Kommunistischen Manifest" als Revolu­tionsziel einer "freien Assoziation freier Individuen", jener Gemeinschaft

33. So die sehr treffende Definition von R. Bultmann, Formen menschlicher Gemein­schaft, in: Glauben und Verstehen, II, 263, der in diesem Aufsatz offensichtlich den Gemeinschaftsgedanken von F. Tönnies aufnimmt. 34. Vgl. das von Buhmann, aaO. 266 angeführte Gedicht von Rilke: "Die großen Städte sind nicht wahr ... Nichts von dem weiten wirklichen Geschehen, das sich um Dich, Du Werdender bewegt, geschieht in ihnen." Zur Kritik an der romantischen Großstadt­kritik vgl. H. P. Bahrdt, Die moderne Großstadt, rde 127, 1961.

Religion als Kult der Mitmenschlichkeit 293

der Zukunft, in der die Arbeitsteilung aufgehoben ist, in der der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist, in der jeder "Liebe nur gegen Liebe, Vertrauen nur gegen Vertrauen" austauschen kann, die darum den "all- und tiefsinnigen Menschen" als ihre stete Wirklichkeit produ­ziert, in der nach dem völligen Verlust des Menschen in der kapitali­stischen Gesellschaft die völlige Wiedergewinnung des Menschen ge­schieht. Dieser Gemeinschaftsgedanke findet sich ausführlich bei Ferdi­nand Tönnies35 und hat durch ihn die Jugendbewegung und eine Unzahl von Gemeinschaftsbewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts bewegt. Er findet sich im sozialkritischen und nationalrevolutionären Gedanken der Volksgemeinschaft wieder. Hans Freyer hat ihn 1931 in der "Revo­lution von rechts" propagiert: die industrielle Gesellschaft, die auf nichts anderem beruht als auf der Berechnung von Materie und Kräften, ist nicht auf gewachsenem Boden gegründet, sondern schwebt frei. Kein Saft strömt in ihr als ihre eigene Rationalität. Sie ist ein perpetuum mo­bile aus Güterwerten, Arbeitsquanten, Verkehrsmitteln und Massen­bedürfnissen. Die Revolution von links hat sich gewerkschaftlich tot­gelaufen und ist schon in diese industrielle Welt eingebaut worden. Wo aber kann sich der Mensch als Mensch gegen dieses System erheben? "Das Volk ist der Gegenspieler der industriellen Gesellschaft. Das Prinzip Volk gegen das Prinzip industrielle Gesellschaft". Diese unausgetragene Geschichte staut sich im Dorf gegen die Industriestadt. Urkräfte der Geschichte, Dekrete des Absoluten fließen dem Menschen aus dem Volk wieder zu. Die "Erde" erhebt sich gleichsam im Volkstum, im völkischen Menschen und im Volksstaat gegen das abstrakte, bindungslose, inhu­mane System der Industriegesellschaft. Mensch und Erde finden sich wie­der. Das Prinzip der industriellen Gesellschaft ist ungültig geworden, weil es Menschen gibt, die durch ihr gesellschaftliches Interesse nicht mehr definiert sind. Die "menschliche Emanzipation des Menschen", die Marx von der Revolution des Proletariats erwartete, wird hier vom Völkischen erwartet. "Frei ist der Mensch, wenn er in seinem Volke frei ist, und dieses in seinem Lebensraum. Frei ist der Mensch, wenn er in einem konkreten Gemeinwillen steht, der in eigener Verantwortung seine Geschichte führt." Der Gemeinschaftsgedanke aber findet sich in sozialkritischer und sozial­therapeutischer Abzweckung auch in der katholischen Soziallehre. Nach "Mater et Magistra" ist es notwendig, "daß diese Sozialgebilde die Ge­stalt und den Charakter echter Gemeinschaftlichkeit haben, d. h. daß

35. F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, 8. Aufl. (1935) 1963.

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sie ihre Glieder wirklich als menschliche Personen betrachten und zur aktiven Mitarbeit anhalten". Es ist darum das Ziel, private und öffent­liche Unternehmen "zu einer echten menschlichen Gemeinschaft zu machen". "Ist das einmal erreicht, dann wird es nicht wenig dazu bei­tragen, alle Staaten zu einer Gemeinschaft zu verbinden, deren einzelne Glieder im Bewußtsein ihrer Rechte und Pflichten übereinstimmend zur Wohlfahrt aller beitragen. "36

Doch hat auch dieses Ideal der Gemeinschaft im Fortschritt der indu­striellen Gesellschaft seine revolutionäre Kraft eingebüßt und ist in das industrielle System integriert worden. Es ist von Soziologen und Kultur­kritikern oft dargestellt worden, daß die moderne Gesellschaft keines­wegs auf einen totalitären Ameisenbau zusteuert, in welchem alles und jedes reglementiert wird, sondern daß dieses Zeitalter der Konformität und Gleichschaltung, der großen Organisationen und Wirtschaftsverflech­tungen, zugleich das Zeitalter der kleinen Sondergruppierungen, der Ver­trauensbeziehungen im kleinen Kreise ist. Den Super- und Makrostruk­turen der Wirtschaft entsprechen die Mikrostrukturen der informal groups, der Gruppen, Gemeinschaften, Vereine usw. "Hier wird die Ver­einzelung der Menschen abgefangen und diese formlosen, nichtöffent­lichen Einrichtungen gewinnen offenbar zunehmend an Bedeutung. "37

Das hatte schon Alexis de T ocqueville an der amerikanischen Demokratie des vorigen Jahrhunderts beobachtet: "Ich sehe eine unübersehbare Menge ähnlicher und gleicher Menschen, die sich rastlos um sich selber drehen, um sich kleine und gewöhnliche Freuden zu verschaffen, die ihr Herz ausfüllen. Jeder von ihnen ist, ganz auf sich zurückgezogen, dem Schicksal der anderen gegenüber wie unbeteiligt. Seine Kinder aber und seine besonderen Freunde sind für ihn die Menschheit. Was seine übrigen Mitbürger angeht, so ist er zwar bei ihnen, aber er sieht sie nicht, er berührt sie, aber er spürt sie nicht, er lebt nur bei sich und für sich. "38

Sachlichkeit und Unmenschlichkeit des Menschen sind im Kreise der Freunde, der intimen Kollegen, Nachbarn und Kinder, im Hause, im Gesangverein und in der Gemeinde wie weggeblasen. Hier ist er "Mensch", hier darf er's sein. Vielleicht, so vermutet A. Gehlen89,

machen alle diese kleinen Bindungen der Intimgruppen zusammen so etwas wie den Zement des Gesamtgebäudes der Gesellschaft aus: "die großen Zweckorganisationen und die hineingeschütteten Einzelnen, das ist keineswegs die ganze Wahrheit".

36. Mater et Magistra, ed. E. Welty, aaO. § 65, § 91, § 174. 37. A. Gehlen, aaO. 74. 38. Die Demokratie in Amerika, 1956, 206. 39. A. Gehlen, aaO. 74.

Religion als Kult der Mitmenschlichkeit 295

In diesen und zwischen diesen kleinen Gruppen kann auch die Kirche als Gemeinde ihren Ort haben und ihre Funktion ausüben. Hier kann sie zum Fluchtort der Innerlichkeit aus den für "entseelt" gehaltenen Be­trieben werden. Die Verhältnisse werden in den großen industriellen Verflechtungen unübersichtlich für den Intellekt und sind moralisch nicht mehr zu bewältigen. Verantwortung für "die moderne Welt" überhaupt ist keinem mehr zumutbar. Die Objektivationen der wissenschaftlich­technischen Zivilisation sind so groß und eigenständig geworden, daß sie nicht mehr resubjektivierbar sind. Dafür geben •sie eine Welt im klei­nen frei, in der Verantwortungen in umgrenzten Gemeinschaften über­nehmbar werden. Hier können die christlichen Gemeinden menschliche Wärme und Nähe, Nachbarschaft und Heimat, zweckfreie und doch sinn­volle, darum auch mit Vorliebe "echt" genannte "Gemeinschaft" bieten. Das "eigentlich" Lebendige in dem Verhältnis von Mensch zu Mensch ist hier nicht eingefangen und vorgezeichnet in zweckrationalen Verhaltens­mustern. Hier kann das Lebendige noch aus der Freiheit geleistet werden, es entzieht sich der Formgebung und kann nicht erzwungen und kon­trolliert werden. Hier können entgegen der Anpassung an technisch notwendige Regeln des Verhaltens in der Gesellschaft aus menschlicher Spontaneität heraus immer neue Lösungen in immer neuen Situations­konstellationen produziert werden. In diesem nicht präformierten, nicht organisierten und nicht öffentlichen Hohlraum der Industriegesellschaft breiten sich Vereine, Sekten, Gemeinschaften jeder Spielart aus. Hier können auch christliche Gemeinschaften und Kreise zu einer Art Arche Noah für die sozial entfremdeten Menschen werden. Sie werden zu In­seln der echten Mitmenschlichkeit und des eigentlichen Lebens im rauhen Meer der Verhältnisse, an denen der kleine Mann ja doch nichts ändern kann. Hier kann die Christenheit zu Sammelpunkten der Integration werden und hätte damit zweifellos ein soziales Ziel erfüllt. Denn die unterschwellige Existenz solcher freien Gemeinschaften ist für die mo­derne Gesellschaft überaus hilfreich, weil sie den wirtschaftlich und tech­nischen Destruktionskräften im seelischen Haushalt der Menschen einen gewissen Ausgleich zu geben vermag. An der harten Realität der Ver­äußerung des Menschlichen in der "Gesellschaft" wird damit jedoch nichts geändert. Es wird nur der dialektische Ausgleich und die seelische Ent­lastung geboten, sodaß der Mensch im Wechsel von Privatheit und Öffentlichkeit, von Gemeinschaft und Gesellschaft, seine heutige öffent­liche Existenz durchstehen kann. Dieser sozialen Bedeutung der "Gemeinschaft" entspricht es durchaus, wenn in der christlichen Theologie von manchen Richtungen der öffent-

296 Exodusgemeinde

lieh-rechtlich verfaßten Kirche die "wahre Gemeinde" als "echte Ge­meinschaft", als eine "Geistkirche" (R. Sohm), als "pneumatische Person­gemeinschaft" (E. Brunner), als "Gemeinschaft des Glaubens" und "Gemeinschaft im Transzendenten" (R. Bultmann) und ihre Existenz als "reines Ereignis" und "unerwartbares Geschehen" in spontanen Begeg­nungen und Entscheidungen gegenübergestellt wird. Die Kirche ist dann eine schlechthin unweithafte Größe, die kontrapunktisch zur geplanten, zweckrationalen Gesellschaft in den Kategorien der "Gemeinschaft" be­schrieben wird. Es kann dann noch von der Verantwortung der christ­lichen Kirche für "die Welt", aber kaum noch von den Berufen der Christenheit in der Welt gesprochen werden. Man muß sich aber wohl darüber klar sein, daß eine solche Gemeinde als "Gemeinschaft" und als "reines Ereignis" das öffentliche Treiben dieser Gesellschaft weder beunruhigen noch gar verändern kann, ja daß sie kaum noch einen wirk­lichen Partner für die gesellschaftlichen Institutionen darstellt. Man kommt zwar der Sehnsucht des sich entfremdet fühlenden Menschen nach dem eigentlichen Leben und der echten Gemeinschaft, nach der Spontaneität des Erlebens, Sichentscheidens und Sichwandeins entgegen und erfüllt diese Sehnsucht. Aber man erfüllt sie doch nur in personaler Esoterik im Bereich der gesellschaftlichen Entlastungen. Auch die Be­tonung der Echtheit und Eigentlichkeit des Lebens in dieser personalen Gemeinschaft hindert nicht die soziale Stillegung der christlichen Nächstenschaft.

§4

Religion als Kult der Institution

Eine dritte Rolle, in der die moderne Gesellschaft die Wirksamkeit der christlichen Religion erwartet, liegt erstaunlicherweise heute wieder in der Institution mit allem, was an Öffentlichkeit und öffentlichen An­sprüchen damit verbunden ist. Die moderne nachaufklärerische Kultur arbeitet der Religion wieder mehr in die Hände als die vorindustrielle Epoche des 18. Jahrhunderts40• Nach den hektischen Jahrzehnten der industriellen Gründerjahre, in denen Menschen durch große soziale Ver­schiebungen verhaltensunsicher wurden und darum auch anfällig für Ideologien, konsolidiert sich heute die Industriegesellschaft in den hoch-

40. A. Gehlen, aaO. 43.

Religion als Kult der Institution 297

industrialisierten Ländern wieder in neuen Institutionen. Diese neuen Institutionen aber entlasten wiederum den Menschen vom permanenten Entscheidungsdrud~, der in unsicheren Zeiten auf ihn zukommt. Geprägte Verhaltensmuster teilen ihnen Dauer, Sicherheit und Gemeinsamkeit mit. So entsteht ein neuer Schatz von invarianten Gewohnheiten und Selbst­verständlichkeiten in Arbeit, Konsum und Verkehr. Eine "wohltätige Fraglosigkeit" (A. Gehlen) breitet sich über dem Leben aus. Eine solche Institutionalisierung des öffentlichen, gesellschafUichen Lebens entspringt sicher aus dem permanenten Sicherheitsbedürfnis des Menschen, der sich selbst in der Geschichte als ein "riskiertes Wesen" erfährt und darum auch bemüht ist, die Geschichtlichkeit seiner Geschichte in einen Kosmos von Institutionen aufzuheben. Diese Institutionalisierung aber bewirkt mit innerer Logik zugleich die Suspendierung der Sinnfrage. "Das habi­tualisierte Handeln in ihnen hat die rein tatsächliche Wirkung, die Sinn­frage zu suspendieren. Wer die Sinnfrage aufwirft, hat sich entweder verlaufen, oder er drückt bewußt oder unbewußt ein Bedürfnis nach anderen als den vorhandenen Institutionen aus. "41 Denn dieses sind eben Verhältnisse und Verhaltensweisen, die selbstverständlich und frag­los geschehen müssen. Die Institutionalisierung des öffentlichen Lebens bewirkt heute in hochindustrialisierten Ländern den überall spürbaren Ideologieschwund. Ideologische Zielsetzungen und Sinngebungen des Lebens werden zunehmend überflüssig. Sie werden damit beliebig und privat. Zwar kann man aud1 mitten im institutionalisierten Leben sagen: "In der Welt der Maschinen und ,Kulturwerte', der großen Entlastungen, zerläuft das Leben wie Wasser zwischen den Fingern, die es halten wollen, weil es der Güter höchstes ist. Aus nicht lotbaren Tiefen heraus wird es. in Frage gestellt. "42 Doch wird diese Infragestellung nur an der freige­setzten Subjektivität erfahren, nicht mehr an der Unsicherheit und Ge­schichtlichkeit der Außenwelt. Diese Tendenz zur Institutionalisierung des öffentlichen Lebens sowie die Tatsache, daß die Wissenschaften und Künste so abstrakt geworden sind, daß nur noch ihre Karikaturen ideologisch verwendbar sind, haben es bewirkt, daß die christliche Religion auf dem Felde der Ideologien und Weltanschauungen in hochindustrialisierten Ländern einsam und ohne Gegner zurüd~bleibt. Gegen den Darwinismus haben die christlichen Konfessionen noch erbittert gekämpft. Von der modernen Genetik aber, deren technische Konsequenzen unabsehbar sind, sind sie nicht beun­ruhigt, weil diese von uferloser Kompliziertheit ist und kein weltan-

41. A. Gehlen, Urmensch und Spätkultur, 1956, 69. 42. Ebd. 289.

298 Exodusgemeinde

schaulicher Gegner werden kann. Die christliche Theologie ist darum in die Lage versetzt, daß sie in einem Neodogmatismus Dinge behaupten kann, die aus der erfahrbaren Wirklichkeit weder belegt noch widerlegt werden können, die darum für den modernen Menschen auch kaum noch umstrittene Verbindlichkeit gewinnen können. Er ist vielmehr bereit, die Problematik seiner eigenen Glaubensentscheidung an die Institution Kirche zu delegieren und Detailfragen theologischen Spezialisten zu überlassen. Werden aber die aktuellen Entscheidungen an die Institution Kirche delegiert und wird diese als Entlastungsinstitut genommen, so entsteht die religiöse Verhaltensweise der institutionalisierten Unver­bindlichkeit. Das "Christliche" wird zu einer gesellschaftlichen Selbst­verständlichkeit und wird an das Milieu delegiert. Theologische Streit­fragen werden als "Konfessionshetze" aus dem öffentlichen Leben aus­geschieden. Dafür gewinnt die kirchliche Institution der religiösen Ver­haltensweisen eine neue gesellschaftliche Bedeutung. Denn es bleibt ja doch am Rande auch des modernen, institutionalisierten Bewußtseins eine Ahnung von den Schrecken der Geschichte bestehen. Das artikuliert sich in normalisierten Zeiten nicht. Doch bewirkt dieses unterschwellige Kri­senbewußtsein eine allgemeine, wenn auch unverbindliche Anerkennung der religiösen Institutionen als den Garanten der Lebenssicherheiten überhaupt. Die Institution der Kirchen wirkt dann wie eine letzte, die institutionelle Sicherheit des Lebens überhöhende Institution, von der man sich Sicherheit gegen die letzten Schrecken des Daseins verspricht. Auch darin hat die Christenheit eine gewisse soziale Bedeutung für die moderne Gesellschaft. Doch ist es die Bedeutung einer institutionalisierten Unverbindlichkeit. Auch das ist religiöses Bewegtsein im modus gesell­schaftlicher Stillegung. Es ist Christlichkeit im Banne des sozialen Milieus43 •

An dieser kurzen Darstellung der neuen sozialen Rollen der Religion, der Kirche und des christlichen Glaubens ist deutlich geworden, daß diese Rollen: "Religion als Kult der Subjektivität", "Religion als Kult der Mitmenschlichkeit" und "Religion als Kult der Institution" - nicht der Willigkeit oder Unwilligkeit einzelner Menschen entsprungen sind und auch nicht ideengeschichtlich bestimmten Theologien angelastet werden können, sondern aus dem entstehen, was, schwer greifbar, das gesell­schaftlich "Selbstverständliche" genannt werden muß. Immer steht das theologische "Selbstverständnis" des christlichen Glaubens in Relation zum sozial "Selbstverständlichen". Nur wo dieser Zusammenhang kri-

43. C. Amery, Die Kapitulation oder der deutsche Katholizismus heute, 1963, fordert (117) den "Ausmarsch aus dem Milieu": "Sentire cum Ecclesia kann von uns den Bruch mit dem existierenden Katholizismus verlangen."

Die Christenheit im Erwartzmgshorizont des Reiches Gottes 299

tisch ins Bewußtsein gehoben wird, kann diese Symbiose gelöst werden und das Eigene des christlichen Glaubens im Konflikt mit den gesell­schaftlichen Selbstverständlichkeiten zum Ausdruck kommen. Sollte die Christenheit nach dem Willen dessen, dem sie glaubt und auf den sie hofft, etwas anderes sein und etwas anderes sollen, so muß sie nichts Geringeres unternehmen, als aus diesen ihren sozial fix~erten Rollen aus­brechen. Sie muß dann ein nicht-rollengemäßes Verhalten zeigen. Das ist der Konflikt, der jedem Christen und jedem Pfarrer auferlegt ist. Sollte der Gott, der sie ins Leben gerufen hat, etwas anderes von ihnen erwarten, als was die moderne Industriegesellschaft von ihnen erwartet und ihnen zumutet, so muß die Christenheit den Exodus wagen und ihre gesellschaftlichen Rollen als neue babylonische Gefangenschaft ansehen. Nur wo sie gesellschaftlich als nicht voll anpassungsfähige Gruppe er­scheint und die moderne Integration aller mit allen an ihr nicht gelingt, tritt sie in eine konfliktgeladene, aber fruchtbare Partnerschaft zu dieser Gesellschaft. Nur wo ihr Widerstand sie als eine nicht-assimilierbare und nicht-arrivierbare Gruppe zeigt, kann sie dieser Gesellschaft ihre eigene Hoffnung vermitteln. Sie wird dann zu einer beständigen Unruhe in die­ser Gesellschaft, die durch nichts beschwichtigt und zur Ruhe des Auge­paßtseins gebracht werden kann. Es ist dabei heute weniger ihre Aufga­be, der ideologischen Glorifizierung der Verhältnisse, als vielmehr der in­stitutionellen Stabilisierung der Verhältnisse zu widerstehen und durch das "Aufwerfen der Sinnfrage" diese zu verunsichern, sie beweglich und elastisch im Prozeß der Geschichte zu machen. Dieses - zunächst sehr allgemein formulierte- Ziel kann nicht schon darin erfüllt werden, Ge­schichtlichkeit, Lebendigkeit und Beweglichkeit in den Räumen gesell­schaftlicher Entlastungen zu erwecken bei allgemeiner gesellschaftlicher Stillegung, sondern eben diese gesellschaftliche Stillegung zu durchbrechen. Allein die Hoffnung hält das Leben - auch das öffentliche, soziale Leben - in strömender Gelöstheit.

§5

Die Christenheit im Erwartungshorizont des Reiches Gottes

Die "Christenheit" hat ihr Wesen und ihren Zweck nicht in sich selber und nicht in ihrer eigenen Existenz, sondern lebt von etwas und ist für etwas da, das weit über sie hinaus reicht. Will man das Geheimnis ihrer Existenz und ihrer Handlungsweisen begreifen, so muß man nach ihrer

300 Exodusgemeinde

Sendung fragen. Will man ihr Wesen ergründen, so muß man nach jener Zukunft fragen, auf die sie ihre Hoffnungen und Erwartungen setzt. Ist die Christenheit selber in den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen un­sicher und orientierungslos geworden, so muß sie sich wieder darauf be­sinnen, wozu sie da ist und worauf sie aus ist. Es ist heute allgemein anerkannt, daß das Neue Testament die Kirche als "eschatologische Heilsgemeinde" auffaßt und also von der Sammlung und Sendung der Gemeinde in einem eschatologischen Erwartungshori­zont spricht44• Damit, daß der auferstandene Christus beruft, sendet, rechtfertigt und heiligt, sammelt, beruft und sendet er Menschen in seine eschatologische Zukunft zur Welt. Der auferweckte Herr ist immer der von der Gemeinde Erwartete; und zwar der von der Gemeinde für die Welt und nicht nur für sich selbst erwartete Herr. Darum lebt die Chri­stenheit nicht von sich selbst und für sich selbst, sondern von der Herr­schaft des Auferstandenen und für die kommende Herrschaft dessen, der den Tod überwand und Leben, Gerechtigkeit und Reich Gottes bringt. Diese eschatologische Ausrichtung zeigt sich in allem, wovon und wofür die Gemeinde lebt. Die Gemeinde lebt aus dem Wort Gottes, dem ver­kündigten, ankündigenden und sendenden Wort. Dieses Wort hat nicht eine magische Qualität in sich selbst. "Das verkündigte Wort ist auf das aus, was ihm in jeder Hinsicht vorausliegt. Es ist offen für die in ihm geschehende, aber zugleich durch ihr Geschehen erst als ausstehend er­kannte ,Zukunft'. "45 Das lebenschaffende und zum Glauben rufende Wort ist Verkündigung und Ankündigung. Es schenkt keine abschließende Offenbarung, sondern ruft auf einen Weg, dessen Ziel es verheißend zeigt und dessen Ziel nur in gehorsamer Nachfolge zur Verheißung er­reicht werden kann. Als Verheißung eschatologischer und universaler Zukunft weist das Wort über sich selbst hinaus nach vorne ins Kommende und nach draußen ins Weite der Welt, auf die das verheißene Kommende zukommt. Darum steht jede Verkündigung in jener eschatologischen Spannung. Sie gilt, insofern sie gültig gemacht wird. Sie ist wahr, inso­fern sie die Zukunft der Wahrheit ankündigt. Sie teilt diese Wahrheit so mit, daß man sie nur haben kann, indem man zuversichtlich auf sie wartet und sie mit ganzer Leidenschaft sucht. So hat das Wort eine innere Transzendenz auf seine eigene Zukunft. Das Wort Gottes ist selber eine eschatologische Gabe. In ihm ist die verborgene Zukunft Gottes zur Welt schon gegenwärtig. Aber sie ist gegenwärtig im modus der Verheißung und der erweckten Hoffnung. Das Wort ist nicht selber das eschatolo-

44. Vgl. zum Folgenden 0. Weber, Grundlagen der Dogmatik, li, 1962, 564 ff. 45. 0. Weber, aaO. 570.

Die Christenheit im Erwartungshorizont des Reiches Gottes 301

gisme Heil, sondern gewinnt seine esmatologisme Relevanz von dem kommenden Heil her. Vom Wort Gottes gilt, was auch vom Geist Gottes gilt: es ist Angeld des Kommenden und bindet an sim, um auf Größeres hinzuweisen und auszurimten. Das gleime gilt von Taufe und Abendmahl. Aum die Taufe ist "sim selbst voraus". Indem sie Mensmen auf den gesmehenen Tod Christi tauft, versiegelt sie Mensmen auf die Zukunft des Reimes, das der auf­erstandene Christus heraufführt. Die taufende Gemeinde ist nur als esmatologisme Gemeinde zum Vollzug der Taufe beremtigt, d. h. sie empfängt ihre Legitimation zu diesem Remts- und Smöpfungsakt aus ihrer Offenheit gegenüber dem, was erst auf sie zukommt. Ebenso ist das Abendmahl nimt mysterienhaftund kultism aufzufassen, sondern esma­tologism. Die Abendmahlsgemeinde ist nimt Inhaberin sakraler Gegen­wart des Absoluten, sondern wartende, erwartende und die Gemeinsmaft mit dem kommenden Herrn sumende Gemeinde. So ist die Christenheit als die Gemeinsmaft derer zu verstehen, die auf Grund der Auferstehung Christi auf das Reim Gottes warten und in ihrem Leben von dieser Er­wartung bestimmt sind. Wenn aber die mristlime Gemeinde so auf die Zukunft des Herrn aus­gerimtet ist und sim selbst und ihr eigenes Wesen immer nur von dem Zukommen des Herrn, der ihr voraus ist, erwartend und hoffend emp­fängt, dann muß aum ihr Leben und Leiden, ihr Wirken und Handeln in der Welt und an der Welt von dem geöffneten Vorraum ihrer Hoff­nung für die Welt bestimmt sein46• Sinnvolles Handeln ist immer nur in einem Erwartungshorizont möglim, sonst würden alle Entscheidungen und Aktionen verzweifelt ins Nimts stoßen und unverständlim und sinnlos in der Luft hängen. Nur wenn ein sinnvoller Erwartungshorizont artikulierbar wird, entsteht für den Mensmen die Möglimkeit und Frei­heit, sim selbst zu entäußern, sim zu objektivieren und sim in den Smmerz des Negativen hineinzugeben, ohne seine damit eingesetzte und hingege­bene freie Subjektivität zu beklagen. Nur wenn die Verwirklimung des Lebens von einem Erwartungshorizont getragen und gleimsam aufge­fangen wird, ist Verwirklimung nicht mehr - wie für die romantisme Subjektivität- Verwirkung von Möglimkeiten und Preisgabe der Frei­heit, sondern Gewinn von Leben. Die Christenheit, die der Sendung Christi folgt, steht aum in der Nam­folge des Dienstes Christi an der Welt. Sie hat ihr Wesen als Leib des

46. Xhnlich auch H. D. Wend land, Ontologie und Eschatologie in der christlichen Sozial­lehre: in: Botschaft an die soziale Welt, 1959, 141 ff.

302 Exodusgemeinde

gekreuzigten und auferstandenen Christus nur, wo sie in konkreten Diensten der Sendung in die Welt gehorsam ist. Ihre Existenz ist ganz an die Erfüllung ihres Dienstes gebunden. Darum ist sie nichts für sich selbst, sondern ist alles, was sie ist, im Dasein für andere. Sie ist die Ge­meinde Gottes, wo sie Gemeinde für die Welt ist. Nun ist diese moderne Formel "Kirche für die Welt" sehr diffus. Sie könnte ja so verstanden werden, daß der persönliche Glaube oder die Gemeinschaft der Gemeinde oder die Institution Kirche treulich jene sozialen Rollen erfüllt, in denen die moderne Gesellschaft ihre Nützlichkeit erwartet. "Kirche für die Welt" heißt aber nicht ideenlose Solidarität und hoffnungslose Mitmensch­lichkeit, sondern Dienst an der Welt und Wirken in der Welt dort und so, wo und wie Gott es will und erwartet. Wille und Erwartung Gottes werden in der Sendung Christi und im Apostolat laut. Der übergriff der Gemeinde auf die ganze Menschheit vollzieht sich in der Mission. Diese Sendung erfolgt nicht im Erwartungshorizont der sozialen Rollen, die die Gesellschaft der Gemeinde zubilligt, sondern geschieht in dem ihr eigenen eschatologischen Erwartungshorizont des kommenden Reiches Gottes, der kommenden Gerechtigkeit und des kommenden Friedens, der kommenden Freiheit und Würde des Menschen. Die Christenheit hat der Menschheit nicht zu dienen, damit diese Welt bleibe, was sie ist, oder bewahrt werde in dem, was sie ist, sondern damit sie sich wandle und werde, was ihr verheißen ist. Darum kann "Kirche für die Welt" nichts anders heißen, als "Kirche für das Reich Gottes" und die Erneuerung der Welt47 • Das geschieht so, daß die Christenheit die Menschheit, und konkret die Gemeinde die Gesellschaft, mit der sie lebt, in ihren Erwar­tungshorizont eschatologischer Erfüllung von Recht, Leben, Humanität und Sozialität hineinnimmt und in ihren eigenen geschichtlichen Ent­scheidungen ihr Offenheit, Bereitschaft und Elastizität für diese Zukunft vermittelt. In einem ersten Sinne geschieht dieses in der missionarischen Verkündi­gung des Evangeliums, damit kein Winkel dieser Welt ohne die Ver­heißungen Gottes auf Neuschöpfung aus der Kraft der Auferstehung bleibe. Damit ist keineswegs eine Ausbreitung des Herrschaftsanspruchs der Kirche und ihrer Amtsträger oder eine Rückgewinnung jener Privi­legien aus dem Kult des Absoluten verbunden. "Mission heute tut nur dann ihren Dienst, wenn sie die Menschen mit Hoffnung infiziert. "48

47. Das wird besonders deutlich in den "Fundamenten en Perspektiven van Belijden" der holländischen Hervormde Kerk von 1949 in Art. 8 und Art. 13, sowie in der enti.. sprechenden Kerkorde Art. VIII: "van het apostolaat der Kerk" hervorgehoben. 48. J. C. Hoekendijk, Mission- heute, 1954, 12.

Der Beruf der Christenheit an der Gesellschaft 303

Dieser Erweckung lebendiger, tatkräftiger und leidensbereiter Hoffnung auf das Reich Gottes, das, um zu verwandeln, zur Erde kommt, dient die Mission. Es ist die Aufgabe der ganrzen Christenheit, nicht nur die Auf­gabe besonderer Amtsträger. Die ganze Christenheit steht im Apostolat der Hoffnung an der Welt und findet darin ihr Wesen; nämlich das, was sie zur Gemeinde Gottes macht. Sie ist nicht in sich selber das Heil der Welt, so daß die Verkirchlichung der Welt für diese das Heil bedeuten würde, sondern sie dient dem kommenden Heil der Welt und ist wie ein in die Welt hinausgesandter Pfeil ins Zukünftige. Was missionarische Verkündigung der Verheißungen Gottes selber be­deutet, wird aus dem alttestamentlichen Hintergrund der christlichen Sendung deutlich. In der christlichen Mission der Hoffnung fängt schon an zu geschehen, was sich nach alttestamentlicher Weissagung, besonders bei Jesaja und Deuterojesaja, erst ereignen soll, nachdem Israel das Heil empfangen hat und der Zion aufgerichtet ist. Die naheherbeigekommene Gottesherrschaft tritt mit der Auferstehung Christi in den Prozeß ihrer Realisierung ein, indem Juden und Heiden, Hellenen und Barbaren, Knechte und Freie zum Glaubensgehorsam kommen und darin zur escha­tologischen Freiheit und Menschenwürde gelangen. Nimmt man diesen prophetischen eschatologischen Hintergrund ernst, auf dem sich die Ver­kündigung des Evangeliums durch die Christenheit erhebt, so muß auch das Ziel der christlichen Sendung deutlich werden. Sie zielt auf Versöh­nung mit Gott (2. Kor. 5,18 ff.), auf Vergebung der Sünden und Auf­hebung der Gottlosigkeit. Aber das Heil, aw'tw[a, muß auch als schalom im alttestamentlichen Sinne verstanden werden. Das bedeutet nicht Seelenheil, individuelle Rettung aus der bösen Welt, Trost im ange­fochtenen Gewissen allein, sondern auch Verwirklichung eschatologischer Rechtshoffmmg, Humanisierung des Menschen, Sozialisierung der Mensch­heit, Frieden der ganzen Schöpfung. Diese "andere Seite"49 der Ver­söhnung mit Gott ist in der Geschichte der Christenheit immer zu kurz gekommen, weil man sich selbst nicht mehr eschatologisch verstand und irdisch-eschatologische Antizipationen den Schwärmern und Enthusiasten überließ. Allein von dieser "anderen Seite" der Versöhnung her aber kann die Christenheit die ihr zugemuteten religiösen Entlastungsfunk­tionen an einer sich selbst überlassenen Gesellschaft überwinden und neue Impulse für die Gestaltung des öffentlichen, gesellschaftlichen und politischen Lebens der Menschen gewinnen. Wenn die christliche Mission

49. W. Dirks, Frankfurter Hefte, 1963, 92. Vgl. dazu W.-D. Marsch, Glauben und Han­deln, MPTh 52, 1963, 281 f.

304 Exodusgemeinde

der Glaubensgerechtigkeit an alle Menschen sich auf dem Hintergrund der jahwistischen Abrahamverheißung (Gen. 12,3) und der prophetischen Eschatologie des ]esajabud1es (Jes. 2,1-4; 25,6-8; 45,18-25; 60,1-22) erhebt, indem sie diese Erwartungen in gegenwärtige Aktivität verwan­delt, so muß in ihrem Horizont nicht nur die Aufrichtung des Glaubens­gehorsams unter den Heiden (Röm. 15,18) erscheinen, sondern auch das, was alttestamentlich als Segen, Frieden, Gerechtigkeit und Fülle des Le­bens erhofft wird (vgl. Röm. 15,8-13). Das wird in der Macht der Liebe antizipiert, die Starke und Schwache, Knechte und Freie, Juden und Heiden, Hellenen und Barbaren zu einer neuen Gemeinschaft verbindet.

§6

Der Beruf der Christenheit an der Gesellschaft

Die kommende Herrschaft des auferstandenen Christus kann man nicht nur erhoffen und abwarten. Diese Hoffnung und Erwartung prägt auch das Leben, Handeln und Leiden in der Gesellschaftsgeschiö1:~. n"'":''Im bedeutet Sendung nicht nur Ausbreitung des Glaubens und der Hoii.1nmg, sondern auch geschichtliche Veränderung des Lebens. Das leibliche Leben, und damit auch das soziale und öffentliche Leben, wird im alltäglichen Gehorsam als Opfer erwartet (Röm. 12,1 ff.). Sich nicht dieser Welt gleichzustellen, bedeutet nicht nur, sich in sich selbst zu verändern, son­dern in Widerstand und schöpferischer Erwartung die Gestalt der Welt zu verändern, in der man glaubt, hofft und liebt. Die Hoffnung des Evangeliums hat nicht nur eine polemische und befreiende Beziehung zu den Religionen und Ideologien der Menschen, sondern viel mehr noch zum faktischen und praktischen Leben der Menschen und zu den V er­hältnissen, in denen dieses Leben geführt wird. Es ist zu wenig, wenn man sagt, das Reich Gottes habe es nur mit Personen zu tun50, denn einmal sind Gerechtigkeit und Frieden des verheißenen Reiches Verhält­nisbegriffe und betreffen also auch die Verhältnisse der Menschen unter­einander und zu den Dingen, zum anderen ist der Gedanke einer a-sozialen Personalität des Menschen eine Abstraktion. Die christ­liche Hoffnung wirft darum in einem institutionalisierten Leben die "Sinnfrage" auf, weil sie sich mit diesen Verhältnissen in der Tat

50. P. Althaus, EKL III, Sp. 1931.

Der Beruf der Christenheit an der Gesellschaft 305

nicht abfinden kann und die "wohltätige Fraglosigkeit des Lebens" in ihnen nur als eine neue Gestalt des Nichtigen und des Todes erkennt. Sie ist in der Tat auf "andere Institutionen" aus, weil sie das wahre, ewige Leben, die wahre und ewige Würde des Menschen, die wahren und gerechten Verhältnisse von dem zukommenden Reich Gottes erwar­ten muß. Sie wird darum die modernen Institutionen aus ihren ihnen immanenten Stabilisierungstendenzen herauszuführen trachten, sie ver­unsichern, sie vergeschichtlichen und zu jener Elastizität öffnen, die der Offenheit auf jene Zukunft entspricht, die sie erhofft. Im praktischen Widerstand und in schöpferischer Neugestaltung stellt die christliche Hoffnung das Bestehende in Frage und dient so dem Kommenden. Sie überholt das Vorfindliehe in Richtung auf das erwartete Neue und sucht nach Gelegenheiten, der verheißenen Zukunft in der Geschichte immer besser zu entsprechen. Mit der reformatorischen Wiederentdeckung des "allgemeinen Priester­tums aller Gläubigen" wurde deutlich, daß an jeden die Berufung durch das Evangelium ergeht. Jeder Glaubende und Hoffende ist vocatus und hat sein Leben in den Dienst Gottes, in die Mitarbeit am Reiche Gottes und in die Freiheit des Glaubens zu stellen. Für die Reformatoren wurde diese Berufung im irdischen Leben konkret in den "Berufen". Sendung und Berufung der Christenheit fächern sich in den irdischen Berufen gleichsam in die Welt hinein aus in Diensten, Aufträgen und Charismen an der Erde und der menschlichen Gesellschaft. In den weltlichen Berufen dringt die Herrschaft Christi und die Freiheit des Glaubens in die Welt hinein als "Politia Christi regnum suum ostendentis coram hoc mundo. In his enim sanctificat corda et reprimit diabolum, et ut retineat evan­gelium inter homines, foris opponit regno diaboli confessionem sancto­rum et in nostra imbecillitate declarat potentiam suam"51• Die irdischen Betätigungen erhalten dadurch, daß sie seit der Reformation "Beruf", d. h. vocatio, klesis, genannt werden, eine neue theologische Bedeutung. Die vita christiana besteht nicht mehr in Flucht vor der Welt und in geistlicher Resignation von ihr, sondern sie steht im Angriff auf die Welt und im Beruf an der Welt52 • Nur wurde es im Fortgang der Reforma­tion dunkel, wer diese irdischen Berufe eigentlich anweist. Die sozialre­volutionären Bewegungen der Schwärmer ließen bei den Reformatoren zunehmend den Ruf zur Nachfolge aus der Freiheit des Glaubens hinter

51. Melanchthon, Apologie, IV, 189. Die Bedeutung und Konsequenz dieses Satzes hat in vielen Schriften E. Wolf hervorgehoben. Vgl. dazu H. Weber, Der sozialethische An­satz bei Ernst Wolf, EvTh 22, 1962, 580 ff. 52. D. Bonhoeffer, Ethik, 1949, 198.

306 Exodusgemeinde

der Sorge um die Ordnung und ihre Bewahrung zurücktreten. Der neue Berufsgedanke wurde in eine Lehre von den beiden Reichen transponiert, in der es mehr und mehr um Kompetenzerwägungen zwischen den gött­lichen Stiftungen von Kirche, Staat, Ökonomie und Haus ging53• So heißt es in der Confessio Augustana 16, das Evangelium bringe keine neuen Gesetze und Ordnungen in die Welt, es löse die politischen und ökonomischen Ordnungen nicht auf, "sed maxime postulat conservare tam­quam ordinationes Dei et in talibus ordinationibus exercere caritatem". Es bleiben die Berufe zwar der jeweilige Ort geordneten Dienstes der Liebe für Gott an der Welt, nur bleibt es offen, woher sich diese "Jewei­ligkeit" ergibt. Die protestantische Berufsethik hat sich an dieser Stelle durchweg mit dem Postulat einer zweiten Offenbarungsquelle beholfen. Karl H ollleitete den "Ruf", der zu bestimmten Berufen führt, aus dem Zusammenklangzweier Stimmen her: aus dem "inneren Ruf", den man im Evangelium vernimmt, und aus der Stimme, die aus den Dingen selbst und ihrer Notwendigkeit an uns dringt. Er wollte wie Bismarck "die Tritte des durch die Geschichte schreitenden Gottes" aus der jeweiligen geschichtlichen Lage selber vernehmen54• So kommt der Ruf zum Beruf aus beiden Stimmen zustande: aus dem Ruf Gottes im Evangelium Chri­sti und aus dem Ruf des Gottes der Geschichte. Emil Brunner setzte an diese Stelle die "Vorsehung": "Der ,Ort' des Handelns, das Hier-So­Jetzt ... ist der gottgegebene Ort. "55 Andere suchten in der Vielfalt gesellschaftlicher und geschichtlicher Möglichkeiten gewisse, immerseiende und sich durchhaltende Grundordnungen, wie Ehe und Familie, Kirche und Staat, von denen her die vielen Möglichkeiten als Variationen aufge­schlüsselt werden sollen. Sie nannten diese Grundordnungen "Schöpfungs­ordnungen", "Erhaltungsordnungen", "Mandate", "Fundamentalstif­tungen" Gottes oder mit dem Menschsein mitgesetzte Institutionen. Immer wird damit aber der Ort der Berufung als etwas Gegebenes oder Vorbestimmtes angesehen, so daß die Berufung und der Glaubensge­horsam dann nur noch innere Modifikationen im exercitium caritatis an diesem Ort und in der vorgezeichneten Berufsrolle vornehmen kann. rypisch ist dafür der Vers von Johann Heermann: "Gib, daß ich tu mit Fleiß, was mir zu tun gebühret, wozu mich dein Befehl in meinem Stande führet." Damit aber mußte der "Stand" oder die gesellschaftliche Be­rufsrolle schöpfungs- oder geschichtstheologisch als Schicksal übernom-

53. E. Wolf, Schöpferische Nachfolge, in: Spannungsfelder der evangelischen Soziall ehre, 1960, 36. 54. K. Hall, Die Geschichte des Wortes Beruf, Gesammelte Aufsätze III, 1928, 219. 55. E. Brunner, Das Gebot und die Ordnungen, 1932, 184.

Der Beruf der Christenheit an der Gesellschaft 307

men und als gottgegeben angesehen werden. Das "conservare" aus Con­fessio Augustana 16 hat die protestantische Berufsethik immer sehr konservativ geprägt. Da nun, einmal sich selbst überlassen, ganz andere Mächte die Orts- und Rollenbestimmung der "Berufe" übernommen haben, konnte die Berufung und Sendung des Glaubenden sich nur noch in der inneren Erfüllung der Berufe auswirken. Die geschichtliche Kon­kretion jener "Ordnungen" wurde den zufällig herrschenden Mächten überlassen. In Wahrheit aber zielt die Berufung zur Nachfolge Christi nicht auf treue und liebevolle Berufserfüllung im - von welchem Gott oder wel­chen Mächten immer - Vorgegebenen. Diese Berufung hat vielmehr ihr eigenes Ziel. Es ist die Berufung zur Mitarbeit am Reiche Gottes, das kommt. Die reformatorische Identifizierung von Berufung und "Beruf" meinte niemals eine Auflösung der Berufung in den Beruf, sondern um­gekehrt eine Integration und Verwandlung der "Berufe" in die Berufung. Die Berufung ist nach dem Neuen Testament einmalig, unwiderruflich und unbeweglich und zielt eschatologisch auf die Hoffnung, zu der Gott beruft56•

Die Berufe aber sind geschichtlich, wechselhaft, veränderlich, zeitlich befristet und sind darum im Vorgang der Annahme im Sinne der Beru­fung, der Hoffnung und der Liebe zu gestalten. Die Berufung tritt immer nur in der Einzahl auf. Die Berufe, Rollen, Funktionen und Beziehungen, die den Menschen gesellschaftlich in Anspruch nehmen, tretefl immer in einer offenen Vielzahl auf. Immer steht der Mensch in einem vielschich­tigen Geflecht sozialer Abhängigkeiten und Ansprüche. Gerade die mo­derne Gesellschaft ist keine Standesgesellschaft mehr, sondern eher als eine Gesellschaft mobiler jobs zu bezeichnen. Sie öffnet dem Menschen eine Vielzahl von Chancen und verlangt von ihm Elastizität, Anpas­sungsfähigkeit und Phantasie. Es ist in dieser reichen Fülle von Bedingungen und Möglichkeiten für die christliche Existenz nicht die entscheidende Frage, ob und wie der Mensch in der fluktuierenden Vielzahl seiner sozialen Inanspruchnahmen oder im Schnittpunkt dieser ihn immer nur partiell betreffenden Rollen "er selber" sein kann und sich in sich selber Identität und Kontinuität zu bewahren vermag57 • Der Bezugspunkt seiner Kußerungen und Ent-

56. Röm. 8, 29; 11, 29; 1. Kor. 1, 9. 26; Phil. 3, 14; Eph. 4, 11 f.; Hehr. 6, 4 ff. u. ö. 57. Diese humanistische Frage kann theologisch nicht dadurch aufgenommen werden, daß des Menschen Personsein mit seinem Sein als Gottes Geschöpf identifiziert witd, sodaß dann mit seinem Personsein auch sein Geschöpfsein aus dem Rahmen der moder­nen funktionalisierten Gesellschaft herausfällt und man schöpfungstheologisch des Men­schen Personalität gegen seine Versachlichung zu retten versucht.

308 Exodusgemeinde

äußerungen, seiner Tätigkeiten und Leiden, ist nicht ein transzenden­tales Ich, auf das er sich aus der Zerstreuung heraus immer wieder be­sinnen könnte und müßte, sondern seine Berufung. Ihr und nicht sich selbst versucht er zu leben. Sie verleiht ihm Identität und Kontinuität, auch dort und gerade dort, wo er sich in die Nichtidentität hinein ent­äußert. Er braucht sich nicht in steter Einigkeit mit sich selbst in sich selbst zu bewahren, sondern er wird in der Hingabe an die Arbeit der Sendung durch deren Hoffnung bewahrt. Die Berufe, Rollen, Bedingun­gen und Ansprüche, die ihm die Gesellschaft zumutet, sind darum nicht daraufhin zu befragen, ob sie und wie sie das eigene Selbst ausfüllen oder den Menschen von sich selbst entfremden, sondern ob sie und wie weit sie Möglichkeiten zur Inkarnation des Glaubens, zur Gestaltwerdung der Hoffnung und zur irdischen, geschichtlichen Entsprechung zum er­hofften und verheißenen Reiche Gottes und der Freiheit bieten. Das Kriterium für Berufswahl, Berufswechsel, nebenberufliche Tätigkeiten sowie für die Annahme und Gestaltung des Sozialisierungsvorganges ist allein die Sendung der christlichen Hoffnung. Der Erwartungshorizont, in welchem eine christliche Lehre vom Handeln entfaltet werden muß, ist der eschatologische Erwartungshorizont des Reiches Gottes, seiner Gerechtigkeit und seines Friedens mit einer neuen Schöpfung, seiner Freiheit und seiner Humanität für alle Menschen. Allein dieser Erwartungshorizont, der prägend die Gegenwart ergreift, führt den Hoffenden und Gesendeten in Widerstand und Leiden an der unzureichenden Gegenwart hinein, stellt ihn in den Konflikt mit der gegenwärtigen Gestalt der Gesellschaft und läßt ihn das "Kreuz der Ge­genwart" (Hegel) finden. Der Ort und die Situation, in der der Ruf zur Hoffnung des Evangeliums Menschen trifft, ist zwar der konkrete termi­nus a quo, nicht aber der terminus ad quem der Berufung. Nur eine Chri­stenheit, die ihre eschatologische Sendung nicht mehr als eine Sendung für die Zukunft der Erde und des Menschen versteht, kann ihre Berufung mit den bestehenden Verhältnissen der sozialen Berufsrollen identifi­zieren und sich zur Anpassung bequemen. Wo aber die Berufung in dem ihr eigenen Erwartungshorizont sichtbar wird, müssen Glaubensgehor­sam, Nachfolge und Liebe als "schöpferische Nachfolge" 58 und "schöp­ferische Liebe"59 verstanden werden. "Schöpferische Nachfolge" kann nicht in Anpassung und Konservierung der bestehenden Sozial- und Rechtsordnungen bestehen oder gar religiöse

58. Eine Formulierung von Ernst Wolf, aaO. 59. Vgl. dazu den Aufsatz von W. Pannenberg, Zur Theologie des Rechtes, ZEE 7, 1963, 1 ff. bes. 20 ff.

Der Beruf der Christenheit an der Gesellschaft 309

Hintergrundsbildungen für Gegebenes und Gemachtes produzieren. Sie muß in der theoretischen und praktischen Wahrnehmung der geschicht­lichen Vorgangs- und Prozeßstruktur des zu Ordnenden und damit des Möglichen und Zukünfl:igen an ihm bestehen. Diese schaffende Freiheit konnte auch Luther für den christlichen Glauben in Anspruch nehmen: "Habito enim Christo facile condemus leges, et omnia recte judicabimus, imo novos Decalogos faciemus, sicut Paulus facit per omnes Epistolas, et Petrus, maxime Christus in Euangelio. "60 Solche "schöpferische Nach­folge" in gemeinschafl:stifl:ender, rechtsetzender und ordnender Liebe wird eschatologisch ermöglicht durch die Aussicht der christlichen Hoff­nung auf die Zukunfl: des Reiches Gottes und des Menschen. Sie allein ist die Entsprechung zum Verheißenen und Kommenden in der offenen Geschichte hier. "Präsentische Eschatologie" heißt nichts anderes als eben "schöpferische Erwartung" 61, Hoffnung, die zur Kritik und Verände­rung der Gegenwart ansetzt, weil sie sich der universalen Zukunfl: des Reiches öffnet. Von hier aus muß das heute immer schwierigere Problem "Mensch und Gesellschafl:" oder "Freiheit und Entfremdung" bzw. Mensch und Werk anders beantwortet werden, als es auf dem Boden eines Humanismus von der transzendentalen Subjektivität möglich ist. Der deutsche Idea­lismus und ihm folgend die europäische Romantik waren erste Reaktio­nen auf die neuen Verhältnisse, die durch die industrielle Revolution geschaffen wurden. Aus dieser Zeit und diesem Denken stammt die Idee, daß der Mensch mit sich selbst identisch werden müsse, weil er es an­fänglich und ursprünglich gewesen sei und ist. Um aber mit sich iden­tisch zu werden und in "steter Einigkeit mit sich selbst" (Fichte) zu le­ben, muß er sich immer wieder aus seinen Entäußerungen einfangen, sich aus der Verlorenheit der Hingabe zurückholen, sich aus der Zer­streuung auf sich und sein wahres, ewiges Selbst besinnen. Alle Taten, die der Mensch aus sich entläßt, gewinnen einen Eigensinn und eine Ei­gengesetzlichkeit, die ihm seine Freiheit rauben. Seine Produkte wachsen ihm über den Kopf, so daß sich der Schöpfer vor seinen Geschöpfen beugen muß. Seine persönlichen Verhältnisse verwandeln sich in sach­liche Verhältnisse, die ihre eigene Logik entwickeln und sich verselb­ständigen. Damit entfremden sie den Menschen von seinem wahren W e­sen, und er kann sich in ihnen nicht mehr wiederfinden. Folglich müssen die Individuen diese versachlichten, verselbständigten und zu Zwangs­komplexen gewordenen Mächte wieder unter sich subsumieren, sie sich

60. W. A. 39, I, 47. zit. nach E. Wolf, aaO. 35. 61. E.Bloch, Tübinger Einleitung in die Philosophie, II, 1964, 176.

310 Exodusgemeinde

wieder aneignen und in sich zurücknehmen können, s1e durchschauen und sich bewußt machen62• Diese Rückkehr aus der Entfremdung ist offenbar auf zwei Wegen möglich: auf dem Wege der Utopie und auf dem Wege der Ironie. Für den jungen Karl Marx erscheint es auf Grund seiner Sozialpathologie der frühindustriellen Verhältnisse möglich, jenes Bildungsideal der deutschen Klassik vom "allseitigen und tiefsinnigen Menschen" durch die revolutionäre Beseitigung der kapitalistischen Aus­beutung, der Klassengesellschaft und der Arbeitsteilung in einer zukünf­tigen "Assoziation freier Individuen" zu verwirklichen. In der heutigen westlichen Sozialphilosophie tauchen dagegen immer wieder Versuche auf, unter Beibehaltung der Idee der Entfremdung das Menschsein des Menschen durch transzendentale Reflexion zurückzugewinnen. "Ich falle nicht mehr zusammen mit meinem sozialen Ich, wenn ich auch in jedem Moment zugleich mit ihm bin. Jetzt kann ich in meinem so­zialen Dasein das Bewußtsein gleichsam der Rolle haben, die ich ergreife oder ertrage. Ich und meine Rolle fallen für mich aus­einander. " 63 So reflektierend zieht sich das Selbstbewußtsein des Men­schen aus der kompromittierenden, einengenden, sozialen Wirklich­keit zurück. Es gewinnt in der Dauerreflexion, in der Ironie und in der Kritik an der Verfallenheit der Verhältnisse jene Distanz zurück, in der es seine unendlichen Möglichkeiten, seine Freiheit und Überlegenheit zu finden glaubt. Die so auf sich selbst reflektierende Subjektivität, die sich in keiner sozialen Aufgabe entäußert, sondern über der zum "Rollen­spiel" degradierten Wirklichkeit schwebt, ein Glaube, der sich an keine, auch nicht an seine eigene Wirklichkeit gebunden fühlt, aber machen aus dem Menschen einen "Mann ohne Eigenschaften" in einer "Welt von Eigenschaften ohne Mann" (R. Musil). Sie retten das Menschsein des Menschen in einer inneren Emigration, in der der Mensch sein äußeres Leben nur noch "mitmacht", und liefern damit die Verhältnisse ihrer endgültigen Verfallenheit aus.

62. Zur Bedeutung des Fichteschen Identitätsdenkeng für Marx' Theorie der Entfrem­dung und Freuds Komplextheorie vgl. A. Gehlen, Über die Geburt der Freiheit aus der Entfremdung, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 1952, 350. Zu diesem Abschnitt sei auch verwiesen auf H. Plessner, Das Problem der tlffentlichkeit und die Idee der Entfremdung, 1960, und Th. Litt, Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt, 1955. 63. K. faspers, Philosophie, II, 1932, 30. Zu ähnlichen Konsequenzen kommt auch R. Dahrendorf, Homo Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle, 1960, und: Soziologie: 1. Der Mensch als Rollenspieler, in: Wege zur pädagogischen Anthropologie, 1963, wo Dahrendorf sich mit den m. E. berechtigten Einwänden von Tenbruck, Plessner, H. P. Bahrdt, A. Gehlen und Janoska­Bendl auseinanderzusetzen versucht.

Der Beruf der Christenheit an der Gesellschaft 311

Indem die Subjektivität durch Reflexion aus ihren sozialen Wirklich­keiten zurückgeholt wird, verliert sie den Kontakt zur gesellschaftlichen Realität und entzieht diesen Verhältnissen eben die Kräfte, die sie braucht, um sie menschlich zu gestalten und der Zukunft zu verantworten64• "Wer in dem Bemühen, mit der Antinomie fertig zu werden, die organisierte Arbeitswelt als Frucht eines Fehltritts in Acht und Bann tut und als ein­zige Möglichkeit, sich von den Folgen dieses Fehltritts zu salvieren, den Rückzug in die Innerlichkeit empfiehlt, der liefert jene Welt einer Ver­wahrlosung aus, die früher oder später auch sein künstlich ausgegrenztes Geisterreich ergreifen wird. "65

Lebendig ist etwas nur, wenn es den Widerspruch in sich enthält und zwar diese Kraft ist, den Widerspruch in sich zu fassen und auszuhal­ten66. Nicht die Reflexion, die die eigene Subjektivität aus ihrer sozialen Verwirklichung zurückholt, bringt dem Menschen seine Möglichkeiten und damit seine Freiheit wieder, sondern allein die Hoffnung, die ihn in die Entäußerung hineinführt und ihn zugleich von der erwarteten Zukunft her immer neue Möglichkeiten ergreifen läßt. Menschliches Le­ben muß eingesetzt werden, wenn es gewonnen sein will. Es muß sich entäußern, wenn es Bestand und Zukunft gewinnen will. Für solchen Einsatz der Entäußerung aber bedarf es darum eines Erwartungshori­zontes, der die Entäußerung sinnvoll macht; und zwar eines Erwartungs­horizontes, der jene Felder und Bereiche umfaßt, an denen und für die die Arbeit in der Entäußerung geschehen soll. Die Erwartung der ver­heißenen Zukunft des Reiches Gottes, das zurechtbringend und leben­schaffend zur Erde und zu den Menschen kommt, macht bereit, sich rück­haltlos und vorbehaltlos in die Liebe und in die Arbeit der Versöhnung der Welt mit Gott und seiner Zukunft zu entäußern. Die gesellschaft­lichen Institutionen, Rollen und Funktionen sind Medien auf dem Wege dieser Entäußerung. Sie sind darum von der Liebe schöpferisch zu gestal­ten, damit das menschliche Zusammenleben in ihnen gerechter, humaner, friedlicher und in gegenseitiger Zuerkennung von Menschenwürde und Freiheit erfolge. Sie sind darum nicht als "Entlastungen" (A. Gehlen) zu nehmen und nicht als Abfall in die Entfremdung oder als Erstarrung des Lebens anzusehen, sondern als Wege und geschichtliche Formen der Entäußerung, darum auch als Vorgänge und Prozesse, die auf die Zu­kunft Gottes offen sind. Die schöpferische Hoffnung vergeschiehtlicht diese Verhältnisse und widersteht darum ihren immanenten Stabilisie-

64. H. Plessner, aaO. 20. 65. Tb. Litt, aaO. 123. 66. G. W. F. Regel, Werke IV, 67.

312 Exodusgemeinde

rungstendenzen und erst recht jener "wohltätigen Fraglosigkeit" des Lebens in ihnen. Der Glaube kann sich in den Schmerz der Liebe ent­äußern, er kann sich "zum Ding" machen und Knechtsgestalt annehmen, weil er von der Hoffnungsgewißheit der Auferstehung vom Tode getra­gen wird. Zur Liebe braucht es immer Hoffnung und Zukunfl:sgewißheit, denn die Liebe sieht auf die noch nicht ergriffenen Möglichkeiten des anderen Menschen, billigt ihm darum Freiheit zu und gewährt ihm in der Anerkennung seiner Möglichkeiten Zukunß:. In der Anerkennung und Zuerkennung jener Menschenwürde, der der Mensch in der Aufer­stehung der Toten gewürdigt wird, findet die schöpferische Liebe die umfassende Zukunfl:, auf die hin sie liebt. Durch diese Hoffnung auf Gottes Zukunfl: wird diese Welt hier für den Glauben frei von allen Versuchen der Selbsterlösung oder der Selbst­produktion durch Arbeit, und sie wird offen für die liebende, dienende Entäußerung zugunsten einer Humanisierung der Verhältnisse, zugunsten der Rechtsverwirklichung im Lichte des kommenden Gottesrechtes. Das aber bedeutet, daß .die Auferstehungshoffnung ein neues Weltverständnis hervorbringen muß. Diese Welt ist nicht der Himmel der Selbstverwirk­lichung, wie es im Idealismus hieß. Diese Welt ist nicht die Hölle der Selbstentfremdung, wie es in der romantischen und in der existentia­listischen Belletristik heißt. Die Welt ist noch nicht fertig, sondern wird als in Geschichte befindlich begriffen. Sie ist darum die Welt des Mög­lichen, in der man der zukünfl:igen verheißenen Wahrheit, Gerechtigkeit und dem Frieden dienen kann. Es ist die Zeit der Diaspora, der Saat auf Hoffnung, der Hingabe und des Opfers, denn diese Zeit steht im Hori­zont einer neuen Zukunfl:. So wird die Entäußerung in diese Welt, die alltägliche hoffende Liebe möglich und wird menschlich in jenem Er­wartungshorizont, der diese Welt transzendiert. Der Ruhm der Selbst­verwirklichung und der Jammer der Selbstentfremdung entspringen gleichermaßen aus der Hoffnungslosigkeit in einer horizontlos gewor­denen Welt. Ihr den Horizont der Zukunfl: des gekreuzigten Christus zu eröffnen, ist die Aufgabe der christlichen Gemeinde.

ANHANG

,.DAS PRINZIP HOFFNUNG" UND DIE "THEOLOGIE DER

HOFFNUNG"

Ein Gespräch mit Ernst Bloch1

1. Ernst Blochs "Meta-Religion"

Ernst Blochs Hoffnungsphilosophie will in ihrer Spitze "Meta-Religion" sein, d. h. "Religion im Erbe" 2• Wie er nachweisen zu können meint, ist das eigentliche Erbsubstrat aller Religionen "Hoffnung in Totalität"3•

"Wo Hoffnung ist, ist Religion", und die Eschatologie des Christentums wirkt so, als wäre hier das eigentliche Wesen der Religion überhaupt end­lich herausgekommen. "Nämlich nicht statischer, darin apologetischer My­thos, sondern human-eschatologischer, darin sprengend gesetzter Messia­nismus. "4 Zwar steht jede religiöse Hoffnung in dem Zwielicht, Vertröstung auf bessere Zukunft und damit ein Alibi für die angstvoll im Stich gelas­sene Gegenwart zu sein, aber sie kann auch der Hort geschichtlich wirk­samer, aktivierender Hoffnungskraft sein. "Die großen Menschheits-Reli­gionen waren dem Willen zur besseren Welt oft seine mißbrauchende Vertröstung, lange aber auch sein geschmücktester Raum, ja sein ganzes Gebäude. "5 Wer also die Religion, speziell das Christentum, beerben will, muß sie um ihre eschatologische Hoffnung beerben. Er muß dazu die Re­ligion auf ihren ontischen Grund zurüddühren, aus dem sie entsprungen ist. Für Bloch liegt der religionsbildende Seufzer der bedrängten, nach Freude, Glück und Heimat begehrenden Kreatur in dem "religionser-

1. Veröffentlicht in EvTh 23, 1963, 537-557. Die Hauptpunkte dieser Kritik wurden in einem öffentlichen Kolloquium mit Ernst Bloch vorgetragen, das auf Einladung der theologischen Fachschaft am 21. Mai 1963 in Tübingen gehalten wurde. Zur Einführung in die Philosophie Ernst Blochs vgl. W.-D. Marsch, Hoffen - worauf? Stundenbuch 23, 1963; J. Moltmann, Messianismus und Marxismus, Kirche in der Zeit 15, 1960, 291-295; Die Menschenrechte und der Marxismus, ebd. 17, 1962, 122-126. 2. Das Prinzip Hoffnung, 1959, 1521 (Zitiert als PH). 3. PH 1404. 4. PH 1404. 5. PH 1390.

314 "Das Prinzip Hoffnung" und die "Theologie der Hoffnung«

füllten Zwiespalt des Menschen zwischen seiner vorhandenen Erscheinung und seinem unvorhandenen Wesen" 6•

Diese Deutung der Religion führt über die herkömmliche Religionsauf­klärung und Religionskritik im Marxismus hinaus. Ist Religion der zwie­lichtige Hort der Hoffnung aus dem Zwiespalt des Menschen, dann wird ihre bloß psychologische und soziologische Aufklärung zu einem ober­flächlichen "Aufkläricht". Religion stammt, sofern sie Hoffnung ist und hütet, nicht aus Angst, Dummheit und Priesterbetrug. Dann aber trifft auch Ludwig Feuerbach mit seiner Wunschtheorie der Religion, seiner Reduktion der himmlischen Verdoppelung des Menschen in den sinnlich zu sich selbst kommenden Menschen, nicht das Hoffnungswesen der Reli­gion. Feuerbach führte die Götterbilder des Menschen zurück auf seine bisher erschienene, sinnliche Vorhandenheit, nämlich auf das abstrakte, ungeschichtliche Gattungswesen "Mensch". Auf diesen Menschen aber, der in seiner sinnlichen Gegebenheit zu sich selbst kommt, indem er seine Götter in sich zurücknimmt, lassen sich die "den status sprengenden Reli­gionsbilder des kommenden Reiches" ("Siehe, ich mache alles neu") nicht reduzieren. Feuerbach beerbte also nur die Mystik im Christentum, nicht aber die christliche Eschatologie7• Diese Mystik der Unmittelbarkeit von Gott und Mensch ohne geschichtliche Vermittlung in Jesus von Nazareth war selber schon eine Auflösung des christlichen Glaubens. Karl Marx übernahm das religionskritische Reduktionsverfahren Feuer­bachs, wandelte jedoch Feuerbachs sinnlichen Materialismus in der An­thropologie in einen historisch-dialektischen Materialismus des tätigen, die Verhältnisse umbildenden Menschen. Der Mensch ist, wie die sinnliche Welt um ihn her, "nicht ein unmittelbar von Ewigkeit her gegebenes, sich stets gleiches Ding"8• "Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät. "9 Sein Wesen wird erst erarbeitet. Darum wird für ihn die "Kri­tik des Himmels" nicht zur Segnung der Erde10, sondern zur "Kritik der

6. PH 1520. Vgl. damit die sehr ähnliche Formulierung von Karl Marx: "Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks" (Frühschriften, ed. Landshut, 1953, 208). 7. Vgl. den sehr schönen Nachweis von Rudolf Lorenz, Zum Ursprung der Religions­theorie Ludwig Feuerbachs, EvTh 17, 1957, 171 ff. "Aus dieser Mystik ist seine Religions­philosophie herausgewachsen. Sie erweist sich als das Resultat einer Frömmigkeit, die keine legitime Möglichkeit christlicher Theologie ist" (ebd. 188). Neben dem Ursprung in der mystischen Frömmigkeit ist allerdings auch auf die vielen Zitate Feuerbachs aus Luthers Christologie, der Lehre von der communicatio idiomatum realis und der Abend-mahlslehre zu verweisen. 8. Frühschriften aaO. 351. 9. Frühschriften aaO. 208. 10. Wie in der Nachfolge Feuerbachs bei Rainer Maria Rilke, der 1923 in einem Brief an I. Jahr die Botschaft der "Duineser Elegien" so zusammenfaßte: "Die Eigenschaften wer-

1. Ernst Blochs "Meta-Religion" 315

Erde", die Kritik der Religion zur Kritik des Rechtes, die Kritik der Theologie zur Kritik der Politik11• Für ihn wurzelt Religion darum in den gesellschaftlichen Konflikten des Menschen mit dem Menschen und der Menschen mit der Natur. Wird sie auf die Weise Feuerbachs beerbt, so führt das zur Etablierung des kämpfenden, seine Geschichte in die Hand nehmenden, alle Verhältnisse, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ver­ädltliches Wesen ist, umstürzenden Menschen. Die Religionsfrage wird also nicht durch ein naturalistisches Zu-sich-selbst-Kommen des Menschen, sondern erst durch eine Revolution der Gesellschaft gelöst, aus der die Auflösung des Widerstreites zwischen den Menschen und der Natur und des Menschen mit sich selbst hervorgeht. Ernst Bloch geht noch einen Schritt weiter: Religion ist Hoffnung, und Hoffnung gründet in der ontischen Differenz zwischen dem, was ist, und dem, was noch nicht ist, zwischen Existenz und Essenz, zwischen Vorhan­denheit und Zukünftigkeit; und zwar sowohl im Menschen wie im Kos­mos. Der Mensch als nichtfestgestelltes Wesen ist eines, "das zusammen mit seiner Umwelt eine Aufgabe ist und riesiger Behälter voll Zukunft"12•

Zur Hoffnung gehört das Wissen, daß draußen das Leben so wenig fertig ist wie im Ich, das an diesem Draußen arbeitet. So gründet Religion, sofern sie Hoffnung bietet, in der Prozeßhaftigkeit des Menschen und der Welt. "Homo homini Deus«, hatte Feuerbach gesagt und damit Ich und Du in sinnlicher Liebe gemeint. Bloch nimmt diesen Satz in der für ihn typischen Wendung auf, daß der homo absconditus der noch ungefundenen und noch ungelungenen Zukunft des gegenwärtigen Menschen "Gott" ist. Alle Gottes- und Zukunftsbilder umkreisen mit wachsender Eindringlichkeit das menschliche und das kosmische Inkognito, den im Menschen dunkel treibenden Existenzkern und den in der Welt dunkel treibenden Welt­grund, durch immer nähere und menschlichere Jenseitsgestalten. Erst wo und wenn die ontische Differenz des Menschen, seine exzentrische Position zu sich selbst, und die ontische Differenz der Welt in einer Heimat gelungener Identität aufgehoben werden, hört Religion als Hoffnung auf, weil sie sich erfüllt. Damit wird für Bloch "Gott" als Bild und Ab­gott des Menschen reduziert, nicht auf die sinnliche Gege11!wart des Men­schen und auch nicht nur auf die entfremdete, antagonistische Sozial-

den Gott, dem nicht mehr Sagbaren, abgenommen, fallen zurück an die Schöpfung, an Liebe und Tod ... Alles tief und innig Hiesige, das die Kirche ans Jenseits veruntreut hat, kommt zurück; alle Engel entschließen sich lobsingend zur Erde" (zit. bei R. Guar­dini, ZuR. M. Rilkes Deutung des Daseins, 1946, 21). 11. Frühschriften aaO. 209. 12. PH 135. PH 285: "Das Eigentliche ist im Menschen wie in der Welt ausstehend, wartend, steht in der Furcht, vereitelt zu werden, steht in der Hoffnung, zu gelingen."

316 ,.Das Prinzip Hoffnung« und die »Theologie der Hoffnung«

situation des Menschen, sondern auf das "ungefundene, zukünftige hu­manum". "Gott" wird verstanden als "utopisch hypostasiertes Ideal des unbekannten Menschen"13• Die Mystik des Himmels wird zur Mystik des Menschensohnes. Die Herrlichkeit Gottes wird zur Herrlichkeit der er­lösten Gemeinde14•

Damit hat Bloch auf Feuerbachsehe Weise die von Feuerbach und Marx -aus zeitgeschichtlich verständlichen Gründen - übersehene christliche Eschatologie umgekehrt. Für die christliche Eschatologie ist die Zukunft des Menschen, die Freiheit der Kinder Gottes und die Zukunft der ganzen harrenden Kreatur eröffnet und bestimmt durch die Zukunft und die Verheißung des auferstandenen Christus. Das "aufgedeckte Angesicht des Menschen", das Bloch sucht, ist hier erhellt von der Offenbarung der Herrlichkeit des verborgenen Gottes (2. Kor 3, 18). Für Bloch aber ist die Zukunft des auferstandenen Christus und die Zukunft Gottes - metho­disch der Reduktionsformel Feuerbachs folgend- "nichts anderes als" die Zukunft des verborgenen Menschen und der verborgenen Welt. Was ihn von Feuerbach trennt, ist der Umschlag von der Mystik zum Chiliasmus, von der mystischen Ekstase aus der Welt in den revolutionären Umsturz der Welt, von Meister Eckhart zu Thomas Münzer15•

Mit dieser Umkehrung aber sind die Probleme in Blochs Hoffnungsphilo­sophie nicht gelöst, sondern allererst gesetzt. Das theologische Gespräch mit Bloch kann nicht darin bestehen, sich gegen seine Hoffnungsphiloso­phie auf die Erfahrungen der Absurdität des Daseins zu berufen, denn es könnte sein, daß dann auch die Elemente der christlichen Eschatologie, von denen das "Prinzip Hoffnung" lebt, absurd erscheinen würden. Es kann auch nicht darin bestehen, das "Prinzip Hoffnung" unkritisch theo­logisch zu verwenden, denn es könnte sein, daß dann das spezifisch Christ­liche an der christlichen Eschatologie absurd würde. Wir haben uns und Bloch vielmehr zu fragen: welche Momente in der christlichen Hoffnung erweisen sich als resistent gegenüber der Beerbung durch die Meta-Reli­gion im "Prinzip Hoffnung"? Die Feuerbachsehen Reduktionsformeln, die er auf die christliche Eschato­logie anwendet, sind auch für die Theologie ein mögliches Scheidewasser zwischen Gott und Abgott, zwischen Glauben und Aberglauben, zwischen

13. PH 1515 ff. 14. PH 1533 ff. 15. Vgl. den sehr aufschlußreichen Vergleich, den Karl Mannheim zwischen dem mysti­schen und dem chiliastischen Zeiterlebnis anstellt: Ideologie und Utopie, 3. Aufl. 1952, 186 ff.: "Für das absolute Erleben des Chiliasten wird das Gegenwärtige zur Einbruchs­stelle, wo das, was früher innerlich war, nach außen schlägt und die Außenwelt plötzlich mit einem Schlage verändernd ergreift."

2. Homo absconditus und Deus absconditus 317

der Zuversicht, die auf Verheißung gründet, und der Utopie, die im Opta­tiv gründet. Was sich erweisen läßt als Abgötterei des menschlichen Her­zens in Projektionen nach oben oder nach vorne, muß als solches aufge­klärt werden, damit "das Andere" widerfahren kann. Nur läßt sich auf den Menschen der Gegenwart oder der Zukunft nichts reduzieren, was das Menschsein des Menschen aufheben und ihn zum Gott seiner selbst machen würde. Der religionskritische Atheismus Feuerbachs kann - im Sinne Feuerbachs - dazu verwendet werden, den Menschen zum Abgott seiner selbst zu machen. Er kann auch- kritisch gegen Feuerbach selbst·­zu einem "Atheismus um Gottes willen" führen. Zur Beantwortung der Frage nach der Resistenz der christlichen Eschato­logie gegen ihre Beerbung im "Prinzip Hoffnung" kommt Bloch selbst der Theologie entgegen, wenn er bei seinen philosophisch-theologischen Überlegungen zu Sätzen gelangt, die recht verstanden die prinzipielle Geschlossenheit des "Prinzip Hoffnung" aufsprengen. Indem an diesen Sätzen die Resistenz der christlichen Eschatologie aufgewiesen werden soll, soll zugleich der Ansatzpunkt zur Kritik an Blochs Hoffnungsphilo­sophie gesucht werden.

2. Homo absconditus und Deus absconditus

Bloch sagt im Sinne Feuerbachs: "Menschen sprachen in den Götter-Hy­postasen allemal nichts anderes als ersehnte Zukunft (aus). "18 Das "Ganz­andere"' Gottes erscheint darum in seiner Philosophie als das "Ganz-an­dere" der noch nicht herausprozessierten Menschen- und W elttiefe. Dennoch kann er bei der Behandlung der dialektischen Theologie des frühen Karl Barth sagen: "Nur am Deus absconditus ist das Problem gehalten, was es mit dem legitimen Mysterium Homo absconditus auf sich habe. "17

Dieser letzte Satz könnte so verstanden werden: das Problem, das der Mensch sich selbst ist, seine Fraglichkeit, seine Offenheit, seine Unfertig­keit und Verborgenheit, ist "gehalten", d. h. offen gehalten und getragen, provoziert und begründet durch die Verborgenheit Gottes und findet seine Aufdeckung dort und dann, wo und wann dieser in Frage stellende Gott sich offenbart. Christlich verstanden: das Problem, das der Mensch sich in der Verborgenheit seiner selbst und seines wahren Wesens ist, ist "gehalten", provoziert und begründet, in der Verborgenheit der Zukunft

16. PH 1402. 17. PH 1406.

318 »Das Prinzip Hoffnung" und die »Theologie der Hoffnung"

des Auferstandenen, die ihm in der Verheißung Christi begegnet und es macht, daß er sich, sein Leben und seine Wahrheit in Hoffnung und Auf­bruch zu suchen hat. Dann aber ist die Verborgenheit Gottes nicht etwa "nichts anderes als" die Verborgenheit des Menschen, sondern dann grün­det die Verborgenheit des Menschen in der Verborgenheit Gottes in seiner Offenbarung, durch die diese Offenbarung eine auf eschatologische Er­füllung drängende und weisende Offenbarung wird. Das Problem, das damit angezeigt ist, liegt in der Frage: was hält den Menschen in Atem, in Gang, in Hoffnung und Bewegung nach vorne? Was macht ihn sich selbst zur offenen Frage (Augustin: quaestio mihi factus sum, terra difficultatis)? Was fordert ihn aus seinem gegenwärtigen Weltgehäuse heraus zum Aufbruch in eine unbekannte Zukunft? Was macht es, daß es zu keiner mürrischen oder heiteren Harmonie und Zu­friedenheit des Menschen mit sich selbst und seiner Umwelt kommen kann? Blochs Antworten sind auf diese Frage nicht eindeutig, sondern so viel­deutig wie die Kulturformen menschlicher Hoffnung. Er kann - ähnlich wie G. Benn und A. Gehlen- sagen: das Nichts, der horror vacui. "Als solches hält es das Nicht bei sich nicht aus, ist vielmehr aufs Da eines Et­was treibend bezogen. "18

Er kann - im Sinne des pantheistischen Linksaristotelismus - sagen: der Trieb und Drang des Welt- und Existenzgrundes nach Selbstverwirkli­chung: eductio formarum e materia19•

Er kann sagen: im "Dunkel des gelebten Augenblicks" blitzt etwas auf, das zukünftig in ein Offenes vorwärts stürzt. Im "bodenlosen Staunen" und in Gestalt der "unkonstruierbaren, absoluten Frage" blitzt im "Nu" und plötzlich das Eschaton auf. "Jeder Augenblick enthält ... potentiell, das Datum der Weltvollendung." 20 Was aber reizt diese Angst, diesen Trieb, diesen Hunger nach Sein und Identität, diesen Drang nach Selbst­verwirklichung? Bloch möchte die aristotelische Sehnsucht der Materie nach der Formentelechie, den platonischen und neuplatonischen Eros nach dem Eidos, die christliche Hoffnung auf Erfüllung der Gottesverheißung durch Gott aufnehmen- jedoch ohne vorausgesetzte Formentelechie, ohne vorausgesetztes Eidos, ohne vorausgesetzten und vorauseilenden Ver­heißungsgott. Der Grund für die Sehnsucht der Materie muß dann in der formenschaffenden Materie selber, der Grund für das Eidos muß dann

18. PH 356 ff. 19. PH 235 ff. Vgl. auch Blod1s linksaristotelischen Materiebegriff in: Avicenna und die aristotelische Linke, Berlin 1952, mit dem er in der Namfolge von K. Marx den ab­strakten, naturwissenschaftlimen Materialismus zu überwinden sucht. 20. PH 359.

2. Homo absconditus und Deus absconditus 319

im Eros selber, der Grund für die Hoffnung muß dann in der Hoffnung selber liegen. Die Hoffnungsgegenstände müssen zusammen mit der trei­benden Hoffnung selber entstehen, so daß beide einander geschichtlich­dialektisch ständig überholen und vermitteln. Damit aber droht das "Prin­zip Hoffnung" in sich selber zu verfallen. Denn entweder überragt die unendliche Hoffnung alle ihre endlichen Hoffnungsgegenstände, die sie sich voraus entwirft. Dann wird die Hoffnung zum ewigen, ungeschicht­lichen Existential des Menschen, und der Lebensprozeß der Welt wird zu einem endlosen Prozeß. Das aber wäre eine Abstraktion von der realen Geschichte. Das Sein-in-Hoffnung würde zur abstrakten Gattungsbe­stimmung des Menschen. Oder aber die transzendierende Hoffnung paßt sich irgendwann einem utopisch herausdefinierten Hoffnungsgut an und erklärt sich für befriedigt21 ; beispielsweise mit "sozialistischen Errungen­schaften". Dann aber verrät sie sich selber. Nun sieht Bloch, daß mit der atheistischen Anthropologisierung der Hoff­nungsbilderdurch Feuerbachs Projektionstheorie diese Hoffnungen weder zureichend erklärt noch für den Menschen zu einer fruchtbaren Aktivität gebracht werden können. Er stellt selber die Frage: "Was ist mit dem Hohlraum, den die Erledigung der Gott-Hypostase hinterläßt?" und sucht nach dem "Raum, in den der Gott hinein imagisiert und utopisiert wurde" 22• Es muß methodisch etwas vorausgesetzt und objektiv vorge­ordnet sein, wenn anders die Wunsch- und Hoffnungsbilder dermaßen projizierbar sein sollen, wie sie in der Geschichte in der Tat projiziert worden sind. Er nennt es "ein Feld, ein Hohlraum", "der offene Topos des Vor-uns, das Novum, in das die menschlichen Zweckreihen vermittelt weiterlaufen" 23 • Dieser "Hohlraum" ist für ihn nicht ein platonischer Ideenhimmel und nicht die aristotelische Formenhierarchie, auch nicht ein in ausgemachter Vorhandenheit vorausgesetzter Gott. Er ist für Bloch als "Hohlraum" zunächst eine negative Bestimmung, d. h. der "Hohlraum" ist das Offene, das alle Bilder, die ihn ausfüllen wollen, transzendiert. Damit ist er aber nicht die völlige Leere des Begriffs, sondern meint jene offene Wirkungssphäre, die noch alles Möglichen, des Himmels und der Hölle, des Reiches und des Abgrundes, des totum und des nihil, voll ist. Es ist die noch offene und ungelungene Welt- und Menschentiefe, in die

21. Der Leitsatz: .Jeder nach seinen Bedürfnissen" kann heißen: Erfüllung der ontischen Bedürftigkeit des Menschen in einer Totalität des Seins, er kann aber auch heißen: An­passung der Bedürfnisse an das Erreichte, "Sparsamkeit" der Bedürfnisse, erpreßte Zu­friedenheit und Versöhnung mit der Reduktion der Bedürfnisse auf die Überholung Amerikas im Pro-Kopf-Verbrauch. Vgl. zu dieser neuen Auslegung der Bedürfnisbe­friedigung W. Leonhard, Sowjetideologie heute, Band 2, 1962, 278 ff. 22. PH 1524 ff. 23. PH 1530, 1531.

320 ,.Das Prinzip Hoffnung" und die »Theologie der Hoffnung•

hinein alle Hoffnungsbilder greifen. Der "religiöse Projektionsraum" ist darum keine Chimäre, wenngleich er auch keine Realität im Sinne fak­tischer Vorhandenheit besitzt. Er ist das Vorauseilende, immer wieder Unerfaßte und Entgleitende, ist das Offene, das lockt und reizt. "Homo absconditus behält mithin eine vorgeordnet bleibende Sphäre, worin er, wenn er nicht untergeht, sein gründlichstes Erscheinen in seiner aufge­schlagenen Welt zu intendieren vermag. "24 Es ist das "Vor-uns, in dem der Kern der Menschen wie der Erde, in dem das anthropologische Sub­jekt wie das der Naturchiffre utopisch zu Ende blüht oder aber nicht zu Ende blüht" 25• Wo die Gotthypostasen via Feuerbach einstürzen, stürzt doch dieser Hohlraum selber nicht ein. Dennoch fragt es sich, was dieser "Hohlraum" enthalten kann. Wenn alle Hoffnungsbilder, die Bloch anführt, jene Heimat der Identität zwischen dem homo absconditus und der verborgenen Welttiefe meinen, so enthält er die offene Möglichkeit gelungener Identität und die offene Möglichkeit vereitelter Identität zwischen Mensch und Natur. Woher aber kommt die Alternative, die Bloch stellt, zwischen "Nichts" und "Alles", die dieser Hohlraum enthalten soll? Er rekurriert an allen Stellen, an denen er so redet, auf die gerichtsapokalyptische Scheidung von "Himmel" und "Höl­le"26, entmythologisiert diese Apokalyptik und ethisiert ihre Alternative auf den militanten Optimismus und die menschliche Arbeit in der Ge­schichte, durch die die Alternative von Nichts und Allesam Ende zum Guten gewendet werden kann27 • Damit müßte aber nun in jenem "Hohlraum" der offenen Zukunft eigentlich auch noch ein Kriterium vorausgesetzt werden, an welchem sich diese Krisis ereignet, da es sonst unverständlich bleibt, warum überhaupt der Vermittlungsprozeß zwischen Mensch und Natur ein Ziel und Ende haben soll und warum sich im offenen Vorraum des Möglichen eine Alternative ankündigt und sich dem Menschen in der Geschichte aufnötigt. Diese Alternative fällt dahin, wenn aus der Apoka­lyptik wohl die endzeitliche Scheidung von Himmel und Hölle in Gestalt von Alles und Nichts geerbt wird, nicht aber jenes Dritte, an welchem sich die Alternative überhaupt erst stellt, welches in der Apokalyptik die Ankunft des richtenden Gottes genannt wird. Bei Bloch schauen sich im möglichen gelungenen totum, im "Reich", wie er es nennt und als ein "Reich ohne Gott" versteht, der Mensch und das Natursubjekt ins endlich aufgeschlagene Angesicht. Sie werden einander dialektisch vermittelt wie

24. PH 1534. 25. PH 1533. 26. PH 1532, 362 ff. u. ö. 27. Besonders betont in: Philosophische Grundfragen I. Zur Ontologie des Noch-nicht­Seins, 1961, 55 ff.

Die Heimat der Identität und das Reich Gottes 321

bei Marx in der "Naturalisierung des Menschen und der Humanisierung der Natur". Sie sind einander nicht in und vor einem Dritten vermittelt, wie in der christlichen Eschatologie an der Gottheit und Herrschaft Gottes. Darum fragt es sich, warum sie sich einander überhaupt in einer solchen dialektischen Identität zu vermitteln und zu finden genötigt sind. Für die christliche Hoffnung gründen Hunger, Trieb, Aufbruch und Zukunftsbereitschaft in der Verborgenheit der Zukunft des Auferstan­denen. Darum hat diese Hoffnung sich ein Gegenüber voraus, das weder dingliche Vorhandenheit ist, auf der sie ruhen kann, noch die völlige Leer­heit des Begriffs, wie im Hohlraum, der horror vacui und mögliches Ge­lingen enthält, noch auch eine bloße Chiffre für das Hoffen selber ist. Die­ses Gegenüber wird als Verheißung Gottes vernommen und in der Zuver­sicht ergriffen, die auf die Treue des Gottes setzt, "der die Toten aufweckt und ruft dem, was nicht ist, daß es sei" (Röm. 4, 17). Es ist der "Gott der Hoffnung" (Röm. 15, 6), nicht aber der "Gott Hoffnung", "Deus spes", wie Bloch sagt. Dieser Gott der Hoffnung, auf dessen Verheißung und Treue die Hoffnung setzt, der aber nicht die Hoffnung selber ist, ist dem hoffenden, zukunftswilligen Menschen um eine Ewigkeit voraus; nämlich um genau die Ewigkeit seines eigenen Todes und des Gerichtes, in dem nichts bleiben kann, was ist.

3. Die Heimat der Identität und das Reich Gottes

Geht die christliche Reich-Gottes-Hoffnung in Blochs "Heimat der Iden­tität" ein? Blochs Eschaton, das er die "Heimat der Identität" nennt, meint den mit sich selbst, mit seinesgleichen und mit der Natur "wesenseins" gewordenen Menschen28• In ihm sind darum die Widersprüche aufgelöst a) zwischen dem Ich und dem Selbst des Menschen, b) zwischen Individuum und Ge­sellschaft, c) zwischen der Menschheit und der Natur. Nun erklärt Bloch selber über den "religiösen Reichsgedanken": "So we-

28. Das steht zunächst ganz im Vorzeichen der Teleologie von Karl Marx: "Dieser Kommunismus ist als vollendeter Naturalismus = Humanismus als vollendeter Huma­nismus = Naturalismus; er ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreits zwischen dem Menschen mit der Natur, und mit dem Menschen, die wahre Auflösung des Streits zwi­schen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbestätigung, zwi­schen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung. Er ist das auf­gelöste Rätsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung" (Frühschriften, aaO. 235). "Also die Gesellschaft ist die vollendete Wesenseinheit des Menschen mit der Natur, die wahre Resurrektion der Natur, der durchgeführte Naturalismus des Menschen und der durchgeführte Humanismus der Natur" (ebd. 237).

322 ,.Das Prinzip Hoffnung« und die »Theologie der Hoffnung«

nig wie das religiöse Selbst sich mit dem kreatürlich vorhandenen Menschen deckt und so wenig wie religiöse Geborgenheit mit dem selbstgefälligen Einspinnen des Positivismus in den empirischen Lebensinhalt zusammen­fällt: so wenig fällt der religiöse Reichsgedanke, seinem intendierten Um­fang und Inhalt nach, selbst mit irgendeinem der Sozialutopie ganz zu­sammen. . .. Er enthält ... ein Absolutum, worin noch andere Wider­sprüche als die sozialen aufhören sollen, worin auch der V erstand <l;ller bisherigen Zusammenhänge sich ändert. "29 Das christliche "Reich" ist von den Reichen der Utopien geschieden durch den Sprung, den die Spreng­intention von Wiedergeburt und Verklärung selber setzt30• Daraus folgt notwendig, daß die christliche Eschatologie, die auf den "Sprung", das Wunder der Auferstehung vom Tode und die Neuschöpfung dessen setzt, der vom Ende her in die Gegenwart hineinspricht: "Siehe, ich mache alles neu", nicht in die Utopien und auch nicht in das "Prinzip Hoffnung" einer immanenten Weltvollendung durch "transzendenzloses Transzendieren" überführt werden kann, sondern recht verstanden auch das "Prinzip Hoff­nung" "sprengt". Diese Differenz wird sichtbar, wenn sich d;" christliche Eschatologie gegen die Menschheitsutopien, in denen sie J.~'-dert lebte, auf ihren Kern in der Auferstehung der Toten und der \ ti­

nichtung des Todes durch das Leben besinnt. Daß Bloch dieses wohl spürt im Gegensatz zu seinen Feuerbachsehen Re­duktionsformeln, wird aus einem Vergleich zwischen dem Schluß des "Prinzip Hoffnung" mit dem Schluß von "Naturrecht und menschliche Würde" deutlich. Das "Prinzip Hoffnung" endet mit den Sätzen: "Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, d. h. sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat. "31 Mit "realer Demokratie" und "Heimat" meint Bloch hier offensichtlich jenes "Reich der Freiheit", von dem Marx sagte, daß es erst da beginne, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört, und also erst jenseits der Sphäre der materiellen Produktion liege. Am Schluß von "Naturrecht und menschliche Würde" heißt es: "Wohl wird eine nicht mehr antagonistische Gesellschaft alle weltlichen Geschicke fest in der Hand halten, sie setzt ökonomisch-politische Situationslosig-29. PH 1410 f. 30. PH 1411 f. 31. PH 1628.

3. Die Heimat der Identität und das Reich Gottes 323

keit, Schicksalslosigkeit, doch eben deshalb treten die Unwürden der Exi­stenz desto fühlbarer hervor, vom Kiefer des Todes herab bis zu den Lebensebben der Langeweile, des Überdrusses. Die Boten aus Nichts haben ihre bloßen Valeurs aus der Klassengesellschaft verloren, tragen ein neues, jetzt noch weitgehend unvorstellbares Gesicht. "32 Wo also die Gesellschaft dem Menschen die ökonomischen, sozialen und politischen Sorgen ab­nimmt und die allgemeine Produktion sich "von selbst" zu regeln beginnt, entsteht für Marx das "Reich der Freiheit", treten jedoch für Bloch "stär­ker als je die echten Sorgen, die Frage dessen, was wirklich im Leben nicht stimmt" hervor33• Das aber heißt, daß die "Heimat der Identität" mit­nichten mit dem identifiziert werden kann, was für Marx "reale Demo­kratie" hieß, sondern daß die Teleologie von Marx allenfalls transparent sein kann für die auch in seinen Zukunftsformeln noch ungefundene "Hei­mat der Identität". Die marxistische Geschichtsvorstellung, für die "die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft" die Geschichte von Klassenkämp­fen und darum der Kommunismus das "aufgelöste Rätsel der Geschichte und seine Lösung" ist, ist am Ende, wo die ökonomischen, sozialen und politischen Widersprüche und Entfremdungen des Menschen aufhören, aber dann ist das Ende noch nicht da, denn das Nichts ist noch nicht ver­schlungen ins Sein. Die sozialistische Revolution hat dann Negatives am Dasein, ökonomisches, soziales und politisches Negatives, ins Positive gewendet. Sie hat aber nicht das nihil selbst, in dem alles Dasein zu ver­sinken droht, in ein gelungenes totum aufgehoben. Darum zeigt sich dann das Nichtige in unvorstellbarer Gewalt aufs neue; nämlich im "unend­lichen Schmerz des Negativen" (Hegel). Es begegnet nicht mehr identifi­zierbar als Hunger, Elend und Entrechtung, sondern ungreifbar in Lange­weile, Lebensebbe und Absurditätsgefühlen. Dann aber kommt der Mensch auch hier noch nicht zu sich selber, sondern wird sich erst recht zur offenen Frage. Er wird sich gerade dann zum homo absconditus, wenn ihm götter­gleich- und playboylike- alles "möglich wird, fischen, jagen, viehzucht­treiben, kritisieren", wie Marx es verhieß. Es wird der "totale Mensch", den nach Marx die kommunistische Gesellschaft als ihre "stete Wirklich­keit" produziert, zur Figur des "Mannes ohne Eigenschaften" (R. Musil), der in seinen unendlichen Möglichkeiten ertrinkt, weil er nirgends Not­wendigkeit findet34• Er wird zum homo absconditus in einer noch unge­ahnten Radikalität, weil es in der "ökonomisch-politischen Schicksals­losigkeit" nichts ökonomisches, Soziales und Politisches mehr gibt, an dem

32. Naturrecht und menschliche Würde, 1961, 310 ff. 33. Naturrecht und menschliche Würde, 1961, 310. 34. Vgl. /. Moltmann, Der verborgene Mensch. Das Gespräch, Hefl: 35, 1961.

324 ,.Das Prinzip Hoffnung« und die »Theologie der Hoffnung«

er sich herausarbeiten könnte. Dieses Leben mag, mit Hegel zu sprechen, dann wohl als ein Spielen der Liebe mit sich selbst ausgesprochen werden, allein es sinkt diese Idee zur Erbaulichkeit und Fadheit herab, wenn der Ernst, der Schmerz, die Geduld und die Arbeit desNegativen darin fehlen. Diese Erkenntnis, daß auch die sozialistische Revolution darin utopisch ist, daß sie, wie alle Visionen von "Utopia", eine Gesellschaft sucht, die ohne Konflikte, ohne Geschichte und darum ohne Zukunft in sich ge­schlossen und störungsfrei ist, und daß ihre Harmonieformeln von der Wesenseinheit von Mensch, Gesellschaft und Natur darum umschlagen müssen zu Formeln der Heimarmene der Verschlossenheit35, mag Bloch dazu bewogen haben, dieser Gesellschaft so etwas "wie Kirche" zu emp­fehlen. "Etwas, das die Gemüter ordnet und das die Geister lehrt, um immer wieder wie Kirche, in Bereitung und Richtung zu leben"36, eine Verwalterin der messianischen Hoffnung und ein Anwalt der Brüder­lichkeit. "Ein Kirchenschiff ohne Aberglauben und auf Fahrt". Aus dieser für möglich und dann auch für notwendig gehaltenen Existenz - nicht der Kirche in ihrer bisherigen Gestalt, wohl aber - der bewahrten und gelebten christlichen Eschatologie folgt nun aber, daß entgegen Bloch nicht alle Hoffnungen zu Marx gehen, wo sie vernünftig werden37, son­dern daß vielmehr die christliche Eschatologie auch einer solchen geschichts­losen und in ihrer Situationslosigkeit der Langeweile preisgegebenen Ge­sellschaft die Frage und die Zukunft offen zu halten hat, damit man auch dort nicht "in den Tag hinein", sondern "über den Tag hinaus" lebe. Wenn sich aber diese Aussicht ergibt, dann folgt daraus weiter, daß die gesuchte "Heimat der Identität" nicht schon dort sein kann, wo die Wider­sprüche im Menschen, zwischen den Menschen und mit der Natur aufhören, sondern eigentlich erst dort, wo der Tod und das nihil nicht mehr sein werden. Erst wo der Tod "verschlungen ist in den Sieg"38, ist die letzte und eigentliche Nichtidentität des Menschen überwunden. Gerade die Tatsache, daß für Bloch in der nichtantagonistischen Gesellschaft von Marx und Engels, wie er es am Schluß von "Naturrecht und menschliche Würde" darstellt, der Tod gleichsam wie der steinerne Gast in "Don Juan" auftritt und die utopischen Harmonien stört, zeigt die Differenz von Reichsutopie und Auferstehungseschatologie an. Alle Utopien vom

35. Vgl. zu diesem Umschlag H. ]onas, Gnosis und spätantiker Geist, I. 19542, 156 ff. 36. Naturrecht und menschliche Würde, 1961, 312. 37. PH Vorwort 16. 38. Diese Formel taucht in allen Hoffnungsintentionen bei Bloch immer wieder wie ein höchstes fascinosum auf. PH Vorwort, 15, 363, 1290 u. ö.; Zur Ontologie des Nom­nicht-Seins, 62: "Dialektik bezeichnet so den Ostpunkt im Untergangspunkt oder alle­mal: die Verschlingung des Todes mit dem Sieg."

3. Die Heimat d~r Identität und das Reich Gottes 325

Reiche Gottes oder des Menschen, alle Hoffnungsbilder vom glücklichen Leben, alle Revolutionen der Zukunft hängen solange in der Luft und tragen den Keim der Verwesung und Langeweile in sich, gehen darum auch militant und erpresserisch mit dem Leben um, wie es keine Gewißheit im Tode und keine Hoffnung gibt, die die Liebe über den Tod hinaus trägt. Blochs "Heimat der Identität" nimmt, wie auch schon die Formeln von der "Wesenseinheit" von Mensch und Natur bei Marx, die Denkform der "dialektischen Identität" auf, wie sie bei Schelling und Goethe vor­liegt. Während bei Feuerbach die undialektische Ansicht einer unmittel­baren Identität aller Gegensätze im Menschen naheliegt, findet sich bei Goethe, bei SeheHing und Marx die Denkform einer in sich bewegten, dialektischen Identität. Es ist die dialektische Identität von zentrifugalen und zentripetalen Kräften, von Trieb und Bedürfnis, von Kußerung und Aneignung, von Aktivität und Rezeptivität, von Einatmen und Aus­atmen30. Wenn Bloch von "Heimat der Identität", von Humanisierung der Natur undNaturalisierungdes Menschen, spricht, so meint er offenbar eine solche SeheHingsehe Identität der gegenseitigen Durchdringung in der le­bendigen Einheit von Nehmen und Geben40•

Diese Identität ist aber so lange eine erträumte Identität eines Lebens, "das sich vor dem Tode scheut und vor der Verwüstung rein bewahrt" (Hegel), wie sie nicht den absoluten Widerspruch des Todes und der Nicht­identität in sich aufzuheben vermag. Hegels Dialektik ist gerade in seinen theologischen Jugendschriften viel weiter, sofern und solange sie an der Dialektik der Liebe und der Auferweckung des Gekreuzigten orientiert war. Die Eschatologie der Auferstehung der Toten spricht nicht von einer

39. Den Nachweis der Denkform der dialektischen Identität hat die ausgezeichnete Arbeit von K. Bockmühl, Leiblichkeit und Gesellschaft. Studien zur Religionskritik und Anthropologie im Frühwerk von L. Feuerbach und K. Marx, 1961, bes. 234 ff. geführt. Es ist der »aufriduige Jugendgedanke Schellings", den Marx festhält und in der Kritik an Hegels Dialektik verwendet. Auch für Engels liegt das Ziel der Geschichte, "dem das Jahrhundert entgegengeht", in der "Versöhnung mit der Natur und mit sich selbst". Vgl. für Goethe G. Benn, Goethe und die Naturwissenschaften, (1932) Zürich 1949, 25: "Eine Idee über Spinoza hinaus, über dessen kristallisiertes Sein . . . seine immobile Ontologie -: hinaus in eine Identität, die sich bewegte, eine Realität, die dialektisch wurde, eine Diesseitigkeit, in der die Transzendenz sich aktivierte." Vgl. auch E. Bloch, der mit Goetheschen Wendungen seine Vorstellung vom verborgen-treibenden "Natur­Subjekt" beschreibt, PH 782, 802. Es taucht auch beim Todesproblem auf: kommunisti­sche Todesbereitschaft ohne Hoffnung, doch mit Wissen künftiger Resurrektion der Natur. "Kommunistische Kosmologie ist hier (scil. im Todesproblem) wie überall das Problem­gebiet einer dialektischen Vermittlung des Menschen und seiner Arbeit mit dem mög­lichen Subjekt der Natur" (PH 1383). 40. So war auch der "totale Mensch" von Marx der auf der wohlgegründeten Erde stehende, die Naturkräfte aus- und einatmende Mensch (Mega I, 5, 160).

326 "Das Prinzip Hoffnung« und die »Theologie der Hoffnung«

"Heimat der Identität" in einer dialektischen Vermittlung, sondern von einer "Heimat der Versöhnung" in neuer Schöpfung aus dem Nichts.

4. Exterritorialität zum Tode und Auferstehung der Toten

Das eigentliche Problem jedes Hoffnungsdenkens wirft der Tod auf, wenn von ihm gilt, was Bloch sagt: "Die Kiefer des Todes zermalmen alles, und der Schlund der Verwesung frißt jede Teleologie. "41 Hält aber das "Prin­zip Hoffnung" mit seiner Aussicht auf die dialektische Heimat der Iden­tität selber dieser größten "Gegen-Utopie", dem Tode, stand, oder ge­winnt es sich selbst durch Leugnung der Tödlichkeit des Todes? Es erhebt sich hier noch einmal, und nun radikal, die Frage, ob die gesuchte Heimat der Identität die absolute Nichtidentität in sich aufhebt, oder ob sie sich gewinnt, indem sie vom Nichts wegsieht. Bloch hat in seinem Kapitel über die "Hoffnungsbilder gegen den Tod" seine Ausfahrt auf das dunkle, ungewisse Meer des Todes beschl<''c', mit der Aussicht auf einen "exterritorialen" Punkt des Existenzkernes gegen­über Tod und Vergänglichkeit, mit einer Utopie des "non omnis con­fundar". Im Dunkel des gelebten Augenblicks tritt der Mensch an seinen Kern heran. "Dies uns Nächste unseres Seins ist zugleich der setzende Grund, das nackte Daß unseres Seins. "42 Dieses Daß im Jetzt des gelebten Augen­blicks ist dunkel, unsichtig, nirgends gestellt und objektivierbar. Es ist unmittelbar. Dieses Daß-sein, das zum Da-sein drängt, ist der Treiber im W erdeprozeß, der Werdegrund und darum Grund sowohl der V er­gänglichkeit wie der Zukunft. Wenn es der ungelichtete Existenzkern ist, der selber nach vorne drängt und alle Weisen seines Daseins überholt, so muß auch das, was wir Vergänglichkeit und Tod nennen, in ihm seinen Grund haben. Dieser treibende, werdende Existenzkern unterliegt darum nicht der Vergänglichkeit, da er selber den Prozeß des "Stirb und Werde" macht. Damit bekommt bei Bloch die Erfahrung der Vergänglichkeit aller Dinge und des Menschen selbst eine neue Deutung. Kronos verschlingt alle seine Geburten. Warum? Weil die echte, die endgültig gelungene noch nicht erschienen ist. Es ist also nicht eine Vergänglichkeit, die sich dem trauern­den Blick nach rückwärts auf das, was sich nicht halten läßt, ergibt, son­dern eine Vergänglichkeit, deren Eindruck entsteht, weil die Hoffnung alle

41. PH 1301. 42. PH 1385.

4. Exterritorialität zum Tode und Auferstehung der Toten 327

ihre Gestalten überholt. Kronos und Vergänglichkeit treffen darum nicht das, woran sie erst entstehen. Sie treffen den noch nicht herausprozessier­ten Existenzkern nicht an. Der Kern des Existierens hat sich noch nicht in den Prozeß begeben und wird darum vom Tode nicht betroffen. Er hat dem Tode gegenüber den "Schutzkreis des Noch-nicht-Lebendigen" um sich43• Nicht weil er jenseits von Werden und Vergehen in einem ewigen, zeitlosen Sein ruht, sondern weil er noch ungeworden treibt, darum ist er unvergänglich. Er ist exterri­torial zur Vergänglichkeit, nicht weil er wie Platos Seele aus einem anderen Reiche als dem der Flucht der Erscheinungen stammt, sondern weil er auf ein Eschaton von Gelungenheit bezogen ist, in welchem das Innen das Außen, der Kern die Schale und darum Le~. 0hne Tod sein wird. Der Tod steht nur im Moment der Entzweiung, in dem das Sein noch nicht zu sich selbst gekommen ist. Darum kann Bloch sagen: die Utopie des non omnis confundar gibt der Negation Tod jede Schale zu knacken, aber sie gibt ihm nur diese Macht, die Schalen um den Subjektinhalt aufzuknacken. Der Kern des Existierens wird vom Tode nicht erfaßt, und wenn dieser Kern zur Gelungenheit herausgebracht ist, ist er erst recht Exterritorialität zum Tode44• Dann ist gleichsam "weder Kern noch Schale", sondern "alles mit einem Male". Konsequent heißt es darum für das Leben hier: "Wo immer unser Existieren seinem Kern nahe kommt, beginnt Dauer, keine erstarrte, sondern eine, die Novum ohne Vergänglichkeit ... enthält. "45

Diese Argumentation mit dem Tode bedient sich offensichtlich der Vor­stellung von der Unsterblichkeit der Seele und der Seelenwanderung. Es ist allerdings nicht die alte platonische Gestalt, sondern eine Aufnahme und Verwandlung jener Gestalt, die diese Vorstellung bei Lessing, Kant und Fichte gewonnen hat. Die Unterscheidung von Leben und Tod wie

43. PH 1390. 44. PH 1391. 45. PH 1391. Die eigentlich angemessene Sprache der Hoffnung findet Bloch nicht so sehr in Visionen, Vorstellungen, Utopien und Träumen, sondern in den "verwehenden Klangbildungen" der Musik, im "Noch-nirgendwo-Medium des Tons". PH 1289 f.: .Ist der Tod, als Beil des Nichts gedacht, die härteste Nicht-Utopie, so mißt sich an ihr die Musik als die utopischste aller Künste." "Aber ungefühlig, mit Position, geht Musik wirklich dem Tod entgegen, intendiert - dem Inhalt eines Bibelworts gemäß -, ihn in Sieg verschlungen zu haben" (ebd. 1290). "Die langsamen Wunder der Musik sind hin­sichtlich ihres Gegenstandes auch die tiefsten; sie ziehen und zielen über die Zeit, folglich auch übers Vergehen hinaus" (ebd. 1289). "Das bedeutet der härtesten Nicht-Utopie gegenüber keinerlei Gewisses, doch ein Vermögen, sie auf ihrem eigenen Boden zu ver­neinen ... Eine Freiheit von Druck, Tod und Schicksal äußert sich im Noch-nirgendwo­Medium des Tons, die sich in bestimmter Sichtbarkeit nicht geäußert hat und noch nicht äußern kann. Ebendeshalb weist alle Musik der Vernichtung auf ein Kernhaftes, das, weil es noch nicht geblüht hat, auch nicht vergehen mag; sie weist auf ein Non omnis confundar" (ebd. 1294).

328 .Das Prinzip Hoffnung" und die "Theologie der Hoffnung~

Kern und Schale nimmt die Unterscheidung von dem Ich, das an der unendlichen Aufgabe zu sich selber findet und unsterblich wird, und den Erscheinungen, zu denen der Tod gehört, auf46 • Verwandelt wird jedoch das transzendentale Subjekt. Es ist nicht mehr ein solches, das sich in der unendlichen Reflexion selbst hintergeht, sondern eines, das sich selbst in der Hoffnung unendlich überholt47•

Dennoch bleibt es eine Lehre von der Exterritorialität oder der Unsterb­lichkeit der Seele oder des Existenzkernes, auch wenn dieser nicht kon­templativ und nicht in der Reflexion, sondern in der Hoffnung sein Da­sein beweist. Dieser Existenzkern gewinnt sich nicht, indem er die Ge­schichte, deren Abgrund der Tod ist, damit leugnet, daß er sich auf eine transzendentale Unangreifbarkeit zurückzieht und alles andere dem Nich­tigen, Unwesentlichen und Vergänglichen preisgibt; dennoch leugnet er die Geschichte und den Tod, indem er sich ins Noch-nicht entwirft und dem Tode die Wirklichkeit des Lebens als bloße "Schale" ausliefert48•

46. ]. G. Fichte, über den Unterschied des Geistes und des Buchstabens in der Philosophie, 1794: "Der Tod ist eine Erscheinung wie alle anderen Erscheinungen: keine Erscheinung aber trifft das Ich." 47. Bloch nennt es "das Untötbare des revolutionär-solidarischen Bewußtseins". PH 1381: "Dieses Bewußtsein bedeutet - auf seinen Träger bezogen - das Unsterbliche in der Person als das Unsterbliche ihrer besten Intentionen und Inhalte". Es ist für ihn die "Seele der vorauferscheinenden künftigen Menschheit" im revolutionären Bewußtsein. 48. Vgl. dazu Blochs Lehre von jenem Nichts, das in keine Dialektik eingeht und von keinem umlenkenden Gegenzug der Tapferkeit und militanten Hoffnung zum Sein und zum Guten gewendet werden kann: Zur Ontologie des Noch-Nicht-Seins, aaO. 41-63. Es ist das "harte Nichts", das "vernichtend Disparate", das "Saatkorn, das stirbt und keine Frucht bringt", nach Hegel die Absurdität des Peloponnesischen und des Dreißig­jährigen Krieges, heute der Todeslager des Faschismus und der atomisierten Städte. Das ist für Hege! ein Anderes als schaffende Differenz, für Bloch ein Anderes als Karfreitag, der Ostern bringt (60). Dieses "nur Negative" oder "Negative an sich" bleibt absurd, sofern es ontologisch kein dynamisches Noch-Nicht enthält und anthropologisch von der "Mannschaft des Anti-Nichts und des utopischen Totums" (56) nicht im Gegenzug zum Sein aufgehoben werden kann. Auch Juden und Christen sind keine panlogischen, der freundlichen Vorsehung verbündeten Dialektiker, die wüßten, wozu alles Böse gut ist. Sie sind nicht jene "Alles-zum-Besten-Nenner", denen G. Benn die "SchattenkennerK entgegenhält. Aber sie glauben und erkennen, daß creatio und novum ex nihilo plötzlich und unverhofft da steht. Die Schöpfungsgeschichte stellt das Dasein der Welt nicht aus dem Noch-Nicht-Sein, der Sehnsucht der Materie und dem möglichen Sein hin, sondern offensichtlich aus der "Finsternis auf der Tiefe". Am öden, Wüsten und "nur Nega­tiven" steht creatio ex nihilo plötzlich da. Die prophetische Geschichte stellt entspre­chend das Heil und die neue Schöpfung am Gericht und am Versinken im Nichts als novum ex nihilo in Aussicht. Isaaks Opferung und Hiobs Verlassenheit, das Verenden Jesu am Kreuz und sein Versinken in den ewigen Tod und die Hölle enthalten kein dialektisches Positives in sich. Erst jenes neue Sein, das an solchem "harten Nichts" unverhofft und unvertraut plötzlich dasteht, verdient Hoffnung und Vertrauen. Sie formulieren sich im Bilde der "Totenauferweckung" und nennen das Heil "Leben aus den Toten" (Röm. 11, 15). Maidanek und Hiroshima finden keine dialektisch beruhi-

4. Exterritorialität zum Tode und Auferstehung der Toten 329

Ist damit aber die Tödlichkeit des Todes ernst genommen? Welche Be­reitschaft und Liebe zum Leben entsteht aus dieser Utopie des non omnis confundar?- Jedes Hoffnungsbild gegen den Tod hat ja eine bestimmte Lebensbereitschaft oder Lebensverweigerung zur Folge: sei es die Apatheia, sei es die Ataraxia, sei es die absolute Pflichterfüllung am Material der Welt oder der militante Optimismus der Weltrevolution - oder sei es die Passion der Liebe, die den Tod annimmt. Die christliche Hoffnung auf den Gott, der die Toten aufweckt und aus dem Nichts das Sein schafft, nimmt den Tod in seiner Tödlichkeit radika­ler wahr, nämlich an seiner Wurzel, die im nihil steckt. Er ist nicht eine Erscheinung unter anderen, von denen keine das Ich trifft. Das Leben findet auch keinen Identitätspunkt, der es gegenüber dem Tode exterri­torial und immun machen könnte. Vielmehr kann das Leben hier als ein Leben zum Tode angenommen werden durch den Glauben an die Aufer­stehung und in der Hoffnung auf den, der aus dem Tode Leben schaff\:. Es gibt eine Identität, die sich durch den unendlichen qualitativen Gegensatz von Tod und Leben durchhält. Es ist jene Identität, in der Auferstehung verheißen ist. Aber sie liegt nicht im Menschen, so daß ihm wenigstens im Kern der Tod nicht über den Kopf kommen kann, sondern jenseits von Tod und Leben im Geschehen der Verheißung Gottes, in welchem der Mensch sich auf die Treue Gottes hin verlassen kann. Diese Identität wird verheißen und wird erhoffbar in jenem dialektischen Umschlagspunkt der Auferstehung des gekreuzigten Christus. Wird sie dort wahrgenommen, so kann das ihm vertrauende Leben sich hineingeben in den Tod, in den Schmerz der Entäußerung und der Liebe, kann sich verlieren und gerade so gewonnen sein. Die Erwartung der Auferstehung gibt damit dem Le­ben der Liebe jene Zukunft, die sie braucht, um lieben zu können, um Liebe zu sein, die "nimmer aufhört". Die Liebe braucht immer "ein wenig Zukunft"'g· Sie lebt aus der Leidenschaft der Hoffnung, die Kierkegaard die "Leidenschaft für das Mögliche" genannt hat. Diese Leidenschaft für das Mögliche entzündet sich am "Unmöglichen "50• Wird dieses "U nmög­liche" dem Gott, der die Toten aufweckt, zugetraut, so hat die Liebe Hoff-

gende Antwort, aber das "Seufzen der Kreatur" (Röm. 8, 18 ff.) wird zur Gottesklage auf Hoffnung hin, daß der creator ex nihilo, der den verlassenen Christus auferweckt hat, an solchem Ende seinen Anfang setzen werde. 49. So läßt Albert Camus Pater Rieux sprechen: "Man muß es wohl aussprechen: die Pest hatte allen der Fähigkeit zur Liebe und sogar zur Freundschaft beraubt. Denn die Liebe verlangt ein wenig Zukunft, und für uns gab es nichts mehr als Augenblicke" (Die Pest). 50. Vgl. dazu die wichtigen Überlegungen von L. Kolakowski über die eigenartigen Bedeutungen des "Möglichen" und des "Unmöglichen" für das utopische Bewußtsein (Der Mensch ohne Alternative, 1961, 145 ff.). Schon Th. Münzer sprach von dem "Mut

330 ,;Das Prinzip Hoffnung« und die "Theologie der Hoffnung•

nung über den Tod hinaus und gegen ihn. Sie findet kein Ende, bis nicht die Toten aufstehen. Sie gewinnt daraus die Kraft, das "Tote festzuhal­ten" (Hege!). Umgekehrt aber wird auch die Zukunft, die mit der Auf­erstehung Christi gewonnen wird, nur wirklich wahrgenommen und ange­nommen in der Liebe, die sich bis in den Tod entäußert. Dolf Sternherger hat in seiner Besprechung des "Prinzip Hoffnung" Bloch nach dieser Liebe gefragt, die aus der Hoffnung entspringen und den Tod um des Lebens willen annehmen müßte51. Faust wußte auf seiner Jagd nach dem erfüllten Augenblick von dieser Liebe nichts. Als aber Sonja den Mörder Raskolnikoff wirklich zu lieben begann, las sie ihm die Ge­schichte von der Auferweckung des toten und stinkenden Lazarus vor. Ein Hoffnungsbild gegen den Tod, das nicht die Liebe zum Leben und die liebende Bereitschaft zum Sterben begründet, trägt in sich wohl im­mer den Keim der Resignation, denn es resigniert das Leben auf einen vermeintlich exterritorialen Existenzkern. Es wirft dem Tode und dem Schmerz nur die Schalen des Lebens vor, die er knacken kann - um im Bilde Blochs zu bleiben -, weil sie schon verlassen und überholt, weil sie eben darum hohl sind. Wird aber nicht das Leben schal, wenn der Tod nur die Schalen bekommt, in denen nichts mehr oder noch nichts ist?-Tod und Leben am exterritorialen Existenzkern differenziert, das ergibt einen Dualismus von Kern und Schale. Tod und Leben am dialektischen Umschlagspunkt der Auferstehung differenziert, ergibt eine Dialektik der Fülle des Lebens in Hoffnung und Liebe, in Entäußerung und Auferste­hung. Jene christlichen Häretiker und Enthusiasten, die Bloch gerne in der Ahnentafel seines Denkens aufführt, wie Marcion, Montanus, Joachim di Fiore und Thomas Münzer, waren durchweg Enkratiten, Verächter des Leibes und der Erde. Sie kannten die Hoffnung, die im Geist über das Diesseits und den Tod hinaushebt, die Erde enthusiastisch verläßt oder revolutionär zerstört. Sie kannten aber nicht die Liebe, die den Schmerz der Erde und das Leiden des Gehorsams im Leibe annimmt, weil sie Hoff­nung für die Erde und den Leib findet. Es ist gegen solchen Enthusiasmus im Apostolikum der Satz von der "Auferstehung des Fleisches" formu­liert52.

und der Kraft zum Unmöglichen« und hielt offenbar das Unmöglicherscheinende für den Quellort aller Möglichkeiten (vgl. K. Mannheim, aaO. 186). 51. Dolf Sternberger, Vergiß das Beste nicht. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. 4. 1960. 52. Vgl. den Unterschied von Thomas Münzer und Martin Luther in der Inkarnations­lehre: Thomas Münzer:"" .. das wir fleischlichen irdischenmenschensollen göter werden durch die menschwerdang cristi und also mit ihme gottes schuler sein, von lme selber

5. Hoffnung und Zuversicht 331

5. Hoffnung und Zuversicht

Bloch hat mehrfach und mit Nachdruck gerade im Gespräch mit der christ­lichen Theologie betont: "Hoffnung ist nicht Zuversicht. "53 "Keine anthro­pologische Kritik der Religion raubt die Hoffnung, auf die das Christen­tum aufgetragen ist; sie entzieht dieser Hoffnung einzig das, was sie als Hoffnung aufhöbe und zur abergläubischen Zuversicht machte: die aus­gemalte, ausgemachte, die unsinnig irreale, aber als real hypostasierte Mythologie ihrer Erfüllung. "54 "Hoffnung hat eo ipso das Prekäre der Vereitlung in sich: sie ist keine Zuversicht. "55

Was meint Bloch hier mit "Zuversicht" und was mit "Hoffnung"? Die ,.Zuversicht" nennt er abergläubisch, quietistisch, nicht aktivierend, Ga­rantiertheit des Heils, Heilssicherheit ohne Kenntnis der Kategorie "Ge­fahr" und darum ohne den Willen zum Experiment des Lebens im großen laboratorium possibilis salutis der Welt. Die christliche Hoffnung nennt er in diesem Sinne "Zuversicht", weil sie Gott und das Heil für ausgemacht hält und weil sie die Zukunft für ausgemacht, für datiert und fixiert in ihren Inhalten hält, so daß weder N eues noch im Grunde Böses passieren kann. Er meint, der Mensch werde im christlichen Glauben durch Gottes Vorsehung und durch Christi Sühnetod von der aktiven Hoffnung und Sorge um die Zukunft entlastet. Darum könne nur durch konsequenten Atheismus der Mensch mit dem Glück und der Gefahr seiner eigenen Geschichte belastet werden. Er hat dabei die christliche Kirche vor Augen, die im Konstantinischen Bunde das Erbe der römischen Staatsreligion antrat und sich den Mächten des Bestehenden verband und damit zur religiösen Garantie der - doch immer unzureichenden - Wirklichkeit und zur Unterschlagung des Möglichen wurde. In solcher "Zuversicht" wird die Hoffnung mit dem, was ist, abgefunden. Er hat weiter vor Augen den Kampf der reformatorischen Schwärmer gegen das "sanftlebende Fleisch zu Wittenberg" und gegen die-mißverstandene- Rechtfertigungs-

und seinen geist gelert und vergöttet werden und ganz und gar in Irren verwandelt, das sich das irdisdle Leben schwengke in den himel" (Zit. nach K. Holl, Ges. Aufsätze zur Kirchengeschichte, I, 1927, 431, Anm. 1. Vgl. auch E. Bloch, Thomas Münzer als Theo­loge der Revolution (1921), 1962, 238). Martin Luther: "Humanitas seu (ut Apostolus loquitur) carnis regno, quod in fide agitur, nos sibi conformes facit et crucifigit, faciens ex infoelicibus et superbis diis homines veros, idest miseros et peccatores. Quia enim ascendimus in Adam ad similitudinem dei, ideo descendit ille in similitudinem nostram, ut reduceret nos ad nostri cognitionem. Atque hoc agitur sacramento incarnationis" (W. A. 5, 128). 53. Vgl. vor allem die Tübinger Eröffnungsvorlesung: "Kann Hoffnung enttäuscht wer­den?" in: Verfremdungen I, 1962, 211 ff. 54. PH 1523. 55. Verfremdungen I, aaO. 214.

332 ,.Das Prinzip Hoffnungrr und die ,.Theologie der Hoffnung•

lehre Luthers, nach welcher der Mensch "auf Christi Kreide" zechen könne, nicht aber in die Leidensgemeinschaft des Gekreuzigten mit dem Leiden der ganzen elenden Kreatur hineingezogen werde. Zuversicht ist nicht Sicherheit. Es ist ganz unklar, warum Bloch die christ­liche Gewißheit "Zuversicht" nennt, wenn er doch eigentlich Sicherheit, securitas, meint. Für den von ihm karikierten, abergläubischen Heilsposi­tivismus ist der Ausdruck "Zuversicht" ganz unangemessen, denn Zuver­sicht meint niemals das garantierte Wissen um ausgemachte Fakten, son­dern immer Aussicht nach vorne und ein Sich-der-Zukunft-Versehen. Auf der anderen Seite hat jener Heilspositivismus mit christlicher Hoffnungs­gewißheit überhaupt nichts zu tun, sondern ist vielmehr - wie figura des in ökonomischen Materialismus verfallenen Marxismus zeigt - eine Form enttäuschter Hoffnung. Die christliche Zuversicht hat in dieser Welt nur den Ruf und die Verheißung des Gottes der Auferstehung für sich, hat darum die Welt und den Tod mit ihren Möglichkeiten und Unmög­lichkeiten gegen sich. Sie ist darum "hoffnungswidrige Hoffnung" (Kier­kegaard)56 und ein Hoffen wider das, was vor Augen liegt (Röm. 8, 24), eine Hoffnung, wo laut Erfahrung und Denkbar-Möglichem "nichts zu hoffen ist" (Röm. 4, 18), eine Hoffnung der Dinge, die man nicht sieht (Hehr. 11,1), weil sie gegen den Tod auf das Unmögliche, nämlich Aufer­stehung und Leben aus Gott, hofft. Das ist weder pseudonaturwissen­schaftliche Sicherheit noch auch bloßer und blasser Optativ. Es hat weder Tatsachen noch freundliche Tendenzen der Natur noch die Unsterblich­keit des menschlichen Hoffens und Wünschens für sich, sondern nichts anderes als die Treue Gottes, der zu seinem Wort der Verheißung steht, der nicht lügen wird, weil er sich selbst nicht verleugnen wird. Wenn diese christliche Hoffnungsgewißheit in der Verheißung und der Sendung des gekreuzigten Christus gründet, so ist ihr die Auferstehung Christi nicht ein plattes Faktum, sondern ein prozeßeröffnendes und hoffnungbegrün­dendes Ereignis, das auf die Zukunft der Welt und des Menschen in der Zukunft Christi weist. Es ist darum auch kein bloßer Optativ, der nur den Optimismus des wünschenden Menschen zusammen mit möglicher­weise freundlichen Welttendenzen für sich hätte. Es gründet, sei es mit den oder gegen die optimalen Selbst- und W elterfahrungen, im extra nos der promissio Dei. Darum geht sie in menschlichen Hoffnungen, die daran entstehen, nicht auf und geht in Verzweiflungen, die die Nichterfüllung vorwegnehmen, nicht unter. Darum allerdings findet sie sich, so wenig wie Blochs Hoff-

56. Vgl. Kierkegaardzitat PH 1298.

5, Hoffnung und Zuversicht 333

nung, mit ausgemachten Wirklichkeiten niemals ab, sondern bleibt unab­gefunden bis zur Erfüllung der Verheißung. Wenn die christliche Zuver­sicht den Tod "den letzten Feind" nennt (1. Kor. 15, 26), so gibt sie damit zu verstehen, daß sie sich mit dem Tode nicht abfinden läßt, so wahr Chri­stus, an dem sie sich entzündet, nicht im Tode blieb. In diesem Sinne ist das Wort von Blumhardt zu verstehen, daß Christus der Protest sei gegen Elend, Unrecht, Sünde, Böses und gegen den Tod. Auch die reformatori­sche Rechtfertigungslehre sagt nicht, daß dem Menschen durch die Stell­vertretung Christi etwas erspart bliebe, sondern sagt, wie Paul Gerhardt es im Liede formulierte: "Er reißet durch den Tod, durch Sünd, durch Welt, durch Not, er reißet durch die Höll: ich bin stets sein Gesell." Die "Kategorie: Gefahr", die sich für Bloch der tapferen Hoffnung öffnet, ist der christlichen Gewißheit in noch radikalerem Maße eigen. Was weiß der selbstgefällige Positivist von den Gefahren der Hoffnung, die sein Festland verläßt und sich auf das Meer der Möglichkeiten im unausge­machten W eltprozeß begibt, der Alles und Nichts enthält? fragt Bloch. Man wird fortfahren dürfen: Was weiß der im Sinne Blochs Hoffende, den freundlichen Welttendenzen Verbündete, von den Anfechtungen des Glaubenden? Dem Glaubenden steht die Gefahr nicht nur im offenen Weltprozeß bevor, sondern er steht mitten in ihr, weil er selber der Ge­fahr eine Gefahr ist. Wo Taufe ist, da ist Versuchung; wo Glaube ist, da ist Unglaube; wo Christus ist, da ist der Antichrist; wo Liebe ist, da ist der Tod; wo Rettung ist, wächst das Gefährdende auch; wo die letzte Zukunft Gottes im Wort gegenwärtig ist, da ist die Krisis da, und zwar sowohl für menschliche Sicherheiten wie für menschliche Optative. Blochs Hoffnung ist "enttäuschbar", aber sie kann ihre eigenen Enttäuschungen auch überholen, weil Heil und Unheil im W eltprozeß noch nicht ausge­macht sind. Sie ist der Noch-Unentschiedenheit in der Welt verbündet. Die christliche Zukunftsgewißheit aber steht in der Entscheidung des Endes selber, darum ist ihr das Kreuz benachbart. Sie kann darum die Möglich­keit ihrer Enttäuschbarkeit nicht vorwegnehmen und einkalkulieren und selber im Geiste über dem Wasser des Möglichen schweben. Sie muß in der "Kraft der Auferstehung" das "Kreuz der Wirklichkeit" annehmen. Hoffnung ist nicht Zuversicht, aber Zuversicht ist auch Hoffnung und ruft ständig Hoffnungen ins Leben. Die christliche Hoffnung ist nicht eine Utopie des Glaubens, so daß sie im Rahmen einer Phänomenologie der Hoffnungen auf einen vorausgesetzten Weltprozeß als "auch eine Möglichkeit" relativiert werden könnte. Sie eröffnet dieser Welt mit ihren Prozessen und den Menschen mit ihren Optativen viel mehr ihren eigenen Prozeß um die Wahrheit. Sie ist aber darum nicht der Verzweiflung an

334 ,.Das Prinzip Hoffnung" und die "Theologie der Hoffnung"

zeitlichen Hoffnungen verbündet, sondern provoziert und produziert sel­ber ständig ein antizipatorisches Denken, eine Phantasie der Liebe, wie es besser gehen könnte in der Welt und gerechter unter den Menschen, weil sie Zuversicht hat, daß das Beste und die Gerechtigkeit Gottes kommt. Sie provoziert und produziert darum auch ständig ein kritisches Denken über Vergangenheit und Gegenwart, weil sie von der Krisis weiß, in der nichts bestehen kann, was ist. So entsteht an der christlichen Verheißungsgewiß­heit Widerstand und Aufbruch gegenüber einer Welt, die sich in sich selbst verschließt. So entsteht Hoffnungsdenken über den Menschen und die Dinge, entsteht die Phantasie der Liebe ins Offene und Mögliche hinein. Das utopisch statuierte Ende der Geschichte in jenen Formeln der Har­monie der Menschheit und der Natur wird von der christlichen Eschato­logie überholt und in ihrer Vorläufigkeit und Relativität aufgedeckt. Wenn diese Utopien aber überholbar werden, so werden sie variabel und prakti­kabel für die Phantasie der Liebe, die schöpferisch darauf aus ist, wie es besser gehen könnte. Die christliche Zuversicht muß die Kraft finden zu einem Bildersturm der utopischen Hoffnungsbilder, und zwar nicht aus Resignation, sondern um des wahren Elends der Welt und der Zukunft Gottes willen. Sie wird damit gerade das entwerfende Bedenken der Zu­kunft frei setzen. Sie wird sich zusammen mit dem "Prinzip Hoffnung" nicht abfinden mit der gegebenen Wirklichkeit, mit ihren vermeintlichen Zwangsläufigkeiten und den Gesetzen des Bösen und des Todes. Sie wird sich aber auch nic..ht abfinden mit utopischen Vorentwürfen der Zukunft, sondern wird auch diese überschreiten. Sie wird sie überschreiten nicht in die Leerheit des Offenen, sondern in die Richtung, in die die Verheißung Gottes den Menschen ans Elend der Kreatur weist. Sie wird so die uto­pisch geschlossenen Horizonte sprengen. Sie wird in den utopisch allem Möglichen geöffneten Horizonten das Notwendige erkennen und weisen. Damit wird die eschatologische Hoffnung zur geschichtlichen Triebkraft für schöpferische Utopien der Liebe zum leidenden Menschen und seiner ungelungenen Welt der unbekannten, doch verheißenen Zukunft Gottes entgegen. In diesem Sinne wird sich die christliche Eschatologie für das "Prinzip Hoffnung" öffnen können und wird umgekehrt vom "Prinzip Hoffnung" die Nötigung zu ihrer eigenen, besseren Profilierung emp­fangen.

PERSONENREGISTER

Adorno, Th. W. 246 A., 267 f., 290 A. Alt, A. 114 A. Althaus, P. 33, 304 A. Amery, C. 298 A. Anselm von Canterbury 28, 38, 46, 256 f. Anz, W. 53 A. Aristoteles 13, 37, 54, 80, 127, 231, 273 A.,

318 f. Arndt, E. M. 213 A. Auberlen, C. 64 Auerbach, E. 238 A. Augustin 19, 30, 54 f., 56, 78, 212, 252 f.,

262, 318 Avicenna 318 A.

Bach, R. 113 A. Bachmann, I. 20 Bacon, F. 215, 269 Baeck, L. 112 A. Bahrdt, H. P. 292 A., 310 A. von Balthasar, H. U. 39, 41 Barth, Chr. 191 A. Barth, H. 43 Barth, K. 33, 38, 43-50, 51-53, 66, 70 A.,

73 f., 77, 109 A., 130 A., 161 A., 207 f., 256,259,317

Baumgärtel, F. 100 A. Baur, F. C. 225, 228-230 Bengel, J. A. 62 f. Benjamin, W. 246 Benn, G. 318, 325 A., 328 A. Bergson, H. 45 A. Bernhard von Clairvaux 54 Bertram, G. 218 Besson, W. 218 A. Biedermann, A. E. 65 von Bismarck, 0. 306 Bloch, E. 12, 70 A., 81 A., 189' A., 222,

241 f., 309 A., 313-334 Blumhardt, J. Chr. 62 A., 66 Blumhardt, Chr. 66, 333 Bockmühl, K. 325 A. Böhme, J. 64 A.

Bollnow, 0. F. 160 A., 232 A. de Bonald, L. G. 214 Bonhoeffer, D. 73 f., 155, 305 A. Bornkamm, G. 129 A., 152 A. Braudel, F. 223 A. Brocard, J. 61 A. Brunner, E. 80, 296, 306 Buher, M. 86, 92, 105, 112 A., 113 A., 115,

197 A. Buchenau, A. 39 A., 55 A. Bultmann, R. 33, 38, 44 f., 51-60, 70,

145, 150, 156 A., 161 A., 168 A., 169 A., 172 A., 193 A.-195 A., 199 A., 236 A., 252, 261, 289 A., 290 A., 292 A., 296

Burckhardt, J. 211, 212 A., 214, 225, 249

Calvin, J. 14, 15, 16, 54, 278 von Campenhausen, H. 157 A. Camus, A. 19, 329 A. Coccejus, J. 61 Cohen, H. 112 A., 238 A. Comte, A. 83, 214 A., 215, 243 Conzelmann, H. 156 A., 167 A., 198 A. Crusius, Chr. A. 62 A. Cullmann, 0. 61 A.

Dahrendorf, R. 310 A. Darwin, C. 297 Dante Alighieri 27 Dehn, G. 199 A. Descartes, R. 42, 55, 71, 215, 218, 269 Diels, H. 23 Dietzfelbinger, Chr. 130 A., 135 A. Dilthey, W. 159 f., 216, 218, 232-235, 263 Dinkler, E. 275 A. Dirks, W. 303 A. Dostojewski, F. M. 152 Driesch, H. 45 A. Droysen, J. G. 212, 230-232

Ebeling, G. 55, 59 A., 71, 75, 194 A., 230 A., 250, 251,271 A.

Ebner, F. 24 f. Eckart (MeisterE.) 316

336 Personenregister

Eichholz, G. 257 A. Eichhorn, A. 216 A. Eliade, M. 88, 90, 272 A. Ellul, J. 109 Engels, F. 324, 325 A.

Fascher, E. 166 A. Feuerbach, L. 16, 63, 64 A., 154 f., 314-

317,319, 320, 322, 325 Fichte, J. G. 61 A., 211 A., 213 A., 288,

309, 310 A., 327 Ficker, J. 188 A., 328 A. di Fiore, J. 242, 330 Fohrer, G. 113 A. Fontane, Th. 19 Freyer, H. 215, 287 A., 293 Freud, S. 310 A. Friedrich, G. 125 A. Fuchs, E. 51 A. Fülling, E. 61 A.

Gadamer, H. G. 95, 156 A., 173 A., 233 A., 270 A., 272 A.

Galilei, G. 215 Gehlen, A. 285 A., 291 A., 294, 296 A.,

297, 310 A., 311, 318 Geiselmann, R. 271 A. Gerhardt, P. 333 Gerlich, Fr. 62 A. Geyer, H. G. 70 A., 162 A. Gloege, G. 37 A., 49 Goethe, J. W. 19, 22, 64, 325 Gogarten, F. 56, 230 A., 289 Graß, H. 157 A., 168 A. Guardini, R. 315 A. Günther, G. 288 A.

Hahn, F. 277 A. Hamann, J. G. 14 Hase, K. 228 A. Hauck, W. A. 63 A. Heermann, J. 306 Hegel, G. F. W. 23, 41, 42, 44, 47, 49,

62 A., 63, 69, 74, 81, 152-155, 192, 204, 210 A., 211, 213 A., 226, 228, 229, 231, 232, 240, 243, 245, 256, 283, 284, 285, 288, 308, 311 A., 323, 324, 325, 328 A., 330

Heidegger,M. 51A., 154, 223A., 234-237, 287 A.

Heimpel, H. 210 A., 245 Heine, H. 152 Heraklit 20 Herder, J. 41, 62 A., 210 A., 213 A., 240,

243 Herrmann, W. 44-48, 51-54, 56, 216 Hesiod 23 Heuß, A. 215, 244 A., 245 Hinrichs, C. 159 A., 211 A., 226 A. Hölderlin, F. 242 Hölscher, G. 113 A. Hoekendijk, J. C. 302 A. von Hofmann, J. Chr. K. 61 A., 62 A. Hoffmeister, J. 69 A., 81 A., 245 A.,

284A. Holl, K. 306, 331 A. Holmström, F. 32 A. Homer 23 Huizinga, J. 241 von Humboldt, W. 83, 225 Husserl, E. 173 A.

Iwand, H. J. 80, 188 A., 291 A.

Jaeger, W. 88 A. Janoska-Bendl, J. 310 A. Jaspers, K. 42, 54, 310 A. Jepsen, A. 113 A. Johannes XXIII. 283 A. Johannes Chrysostomos 18 Jonas, H. 324 A. Jüngel, E. 130 A., 138 A., 139 A. Justinian 282

Kaegi, W. 212 A. Kähler, M. 31 Käsemann, E. 128 A., 130 A., 134 A.,

140 A., 141 A., 143 A., 145 A., 146 A., 176 A., 187 A., 188 A., 195 A., 228 A., 229A.

Kamlah, W. 282 A. Kant, I. 34, 39, 40, 41, 42, 43, 51, 53, 54,

56, 60, 62, 67, 70, 71, 114, 153, 211 A., 213 A., 231, 240, 242, 243, 252, 254, 256, 327

Kantzenbach, F. W. 61 A. Keller, G. 152 Kierkegaard, S. 15, 24, 44, 56, 148, 153 f.,

329, 332 Klein, G. 130 A., 133 A., 134 A., 136 A.

Personenregister 337

Koch, Kl. 67 A., 112 A., 120 A., 121 A., 122, 123, 191 A.

Kolakowski, L. 329 A. Konstantin d. Gr. 281, 282 Korsch, K. 64 A. Kosseleck, R. 210 A., 213 A., 225 A. Kraus, H.-J. 112 A. Kreck, W. 49, 175 A., 207, 208 A. von Krockow, C. 237 A. Krüger, G. 153 A., 269 A., 270 A.

de Lamettrie, J. 0. 63 Landgrebe, L. 163 A., 173 A. Landmann, M. 233 A. Landshut, S. 64 A., 314 A. Lenin, W. I. U. 64 A. Leonhard, W. 319 A. Lessing, G. E. 62 A., 243, 327 Litt, Th. 310 A., 311 A. Logstrup, K. 290 A. Löwith, K. 98 A., 153 A., 157 A., 211 A.,

217 A., 238 A. Lorenz, R. 314 A. Lukacs, G. 64 A., 222 Luther, M. 30, 54, 81, 107 A., 109 A., 188,

267, 280, 309, 314 A., 330 A. f., 332

Maag, V. 86, 87, 90, 114 A. Mackenroth, G. 287 A. Mahlmann, Th. 44 A., 45 A., 46 A. Mann, G. 210 A., 238 A. Mannheim, K. 316 A. de Maistre, J. M. 214 Mareion 330 Marcuse, H. 211 A. Marsch, W.-D. 290 A., 303 A., 313 A. Martin-Achard, R. 191 A. Marx, K. 20, 63, 64 A., 154, 217 A., 293,

310, 314, 316, 318 A., 321-325 Masur, G. 227 Meinecke, F. 227 A. Meiner, F. 42 A., 74 A. Melanchthon, Ph. 282, 305 A. Menken, G. 62 A. Mercier, L.-S. 213 A. Michelet, J. 241 Mildenberger, F. 164 A. Misch, G. 232 A. Möller, G. 61 A.

Moltmann, J. 61A., 70A., 160A., 210A., 236 A., 257 A., 313 A., 323 A.

Montanus 330 Mowinckel, S. 113 A., 115 Müller-Lauter, W. 234 A., 237 A. Münzer, Th. 316, 329 A., 330, 331 A. Musil, R. 19, 310, 323

Newton, I. 64 Niebuhr, R. R. 163 A. Nietzsche, F. 23, 74, 152, 154, 155, 216,

243, 244 Nohl, H. 233 A. Noordmans, 0. 278 A. Novalis 213 A. Nürnberger, R. 282 A.

Oepke, A. 207 A. Otinger, F. Chr. 62 A., 63 Ott, H. 236 A. Otto, W. F. 88 A. Overbeck, F. 31

Pannenberg, W. 49, 67, 68 A., 69, 70, 71 A., 75, 99 A., 120 A., 122, 157 A., 161 A., 253 A., 254 A., 255 A., 308 A.

Parmenides 23, 24, 50, 127 Pascal, B. 22, 26, 42, 55, 153, 269 Paul, J. 152, 153 Pax, E. 130 A., 140 A. Picht, G. 24, 34, 40 A. Pieper, J. 18, 72 A., 109 A., 269 A.,

272 A., 273 Pius XII. 283 A. Plato 24, 43, 80, 127, 210 A., 229, 257,

259, 272 A., 273, 318, 319, 327 Plessner, H. 194 A., 232 A., 310 A.,

311 A. Plöger, 0. 112 A., 121 A. Plutarch 24 Pöggeler, 0. 42 A. Procksch, 0. 113 A.

von Rad G. 90 A., 95 A., 96 A., 97 A., 99 A., 110 A., 112 A., 113 A., 115, 117 A., 120 A., 122, 123, 185 A., 189 A., 190 A., 191 A., 274

Ramus, P. 218 von Ranke, L. 20, 44, 159, 211, 222, 225-

228, 246

338 Personenregister

Rehm, W. 152 A. Rendtorif, R. 67, 68 A., 69, 71 A., 87 A.,

89 A., 103 f., 113 A., 161 A. Rendtorff, T. 67 Rilke, R. M. 292 A., 314 A. f. Ritschl, A. 32 Ritter, J. 42, 72 A., 211 A., 283 A., 284 A. Robinson, J. 69 A. Rößler, D. 112 A. Rohrmoser, G. 42 A., 153 A. Rosenstodt-Huessy, E. 66, 210 A. Rothacker, E. 220 A., 223, 232 A. Rothe, R. 62 A., 65, 66,205 Rousseau, J.-J. 213 A., 214 van Ruler, A. A. 241

Salmony, H. A. 39 A. de Saint-Simon, C. H. 214, 215 Scheler, M. 194 A., 270 A. Schelling, F. W. J. 325 Schelsky, H. 285 A., 287, 288 A., 289 Sdliller, F. 19, 211 A., 213 A., 240 Schlatter, A. 61 A. Schlegel, F. 152, 211 A. Schlink, E. 130 A. Schmidt, H. 59 A. Schniewind, J. 59 A., 125, 141 A. Schnübbe, 0. 51 A. Scholder, Kl. 228 A., 230 A. Schrenk, G. 61 A. Schütz, P. 207 A. Schulte, H. 125 A., 130 A. Schulz, H. 211 A. Schweitzer, A. 31, 32, 33, 115, 150, 199 Schweizer, E. 199 A. Simmel, G. 45 A. von Soden, H. 142 A. Sohm, R. 296 Sombart, N. 214 A. Spinoza, B. de 325 A. Stalin, J. W. 64 A. Stammler, E. 291 A. Steck, K. G. 61 A., 282 A. Sternberger, D. 330 Stifter, A. 152

Strauß, D. F. 160 A. Susmann, M. 240 A. von Sybel, H. 159

Talmon, J. C. 212 A., 215 A. Taubes, J. 39 Tenbruck, F. H. 310 A. Theodosius 282 Thales 88 Thukydides 237 f. Thurneysen, E. 174 A. de Tocqueville, A. 214, 294 Tödt, H. E. 199 A. Tönnies, F. 292 A., 293 Topitsch, E. 222, 290 A. von Treitschke, H. 241 Troeltsch, E. 31, 65, 66, 158, 159 A., 205 Trotzki, L. D. 64 A.

Vielhauer, Ph. 199 A. Voltaire 213 A. Vriezen, Th. C. 112 A., 117

Weber, A. 214 A., 215 Weber, H. 305 A. Weber, M. 42, 82, 217 A., 221, 287 Weber, 0. 38, 54 A., 160 A. 246, 247 A.,

300A. Wegenast, Kl. 275 A. Weiß, J. 31, 32 Welty, E. 283 A., 294 A. Wendland, H. D. 301 A. Weth, G. 61 A., 64 A. Wilckens, U. 67, 130 A., 134 A., 135 A.,

141 A., 147 A., 157 A., 175 A. Wittram, R. 221 A., 222, 223 A., 224, 231,

244 A., 245, 246 A. Wölber, H. 0. 291 A. Wolf, E. 228 A., 305 A., 306 A., 308 A.,

309 A. Wolif, H. W. 97 A., 98 A., 100 A., 112 A.,

117 A., 120 A., 274 A.

Zimmerli, W. 89 A., 90 A., 92 A., 93, 98 A., 100 A., 101-104, 191 A.

BIBELSTELLENREGISTER

Genesis Daniel 11,29 307A 1, 28 61 10, 14 176 12, 1 ff. 146,304 3, 15 61 13,12 44,49 12,3 304 Markus 15, 4 138

13 177 15,6 321 Exodus 13, 10 176 15, 8 132 3 103 15, 8-13 304 3,2 87 Apostelgeschichte

15, 13 12 3,11 262 2,24 150

15, 18 304 3, 15 150

Deuteronomium 5, 31 150 1. Korinther 6,5 109 23,6 17 1,9 307A 18,21f. 107A

1, 26 307A Römer

Richter 1, 2 139 1, 28 201

8,22 197 1, 5 277 9,1 276 9, 16 176A

Psalmen 1, 17 186 12,3 49

71, 18 274 4,14 131 f. 15 44,148

78,6 274 4, 15 131 15, 3-5 147

146,6 104 4, 16 132 15, 3 ff. 276 4, 17 25, 131, 321

]esaja 4, 18 332 15, 3 150

2, 1-4 304 4,20 131 15, 8 276

6,5 262 4,25 187 15, 13 ff. 152

8, 16 f. 274 5, 18 186 15, 20 ff. 147A

10, 12 119 5,21 188 15,25 147

25,6-8 304 6, 10 f. 187 15,26 17,333

28,29 119 6,13 188 15,28 147, 176, 182

30,8 274 6,23 187 15, 35 ff. 196

45, 18-25 304 8, 11 147, 192 15, 42 ff. 204

55,4 104 8, 18 ff. 146,329 A 15, 55 ff. 187

60,1-22 304 8, 19 30 2. Korinther ]eremia 8, 20 ff. 60, 196 1, 20 133,208 1, 6 263 8,22 203 3, 9 188 15, 18 110 8,23 204 3, 18 316 23, 22.29 107A 8,24 332 5, 18 ff. 303 28,9 107A 8,24.25 14 5,21 187

8, 29 307 A 13,4 193 Hesekiel 9-11 133 37 191 A 10,3 188 Galater 37,5 190 10,4 131, 132 1, 2 ff. 276 37,11 190 10,9 150 1, 15 f. 277 37, 14 104 11, 15 328 A 3, 15 ff. 112

340 Bibelstellenregister

3, 18 132 Kolosser 1. Petrus 3, 28 128 1, 27 13 1, 9 59 3,29 132

1. Thessalonicher 3, 15 17,279

5, 5 186 4, 14 147A 2. Petrus

Hebräer 3, 13 196

Epheser 6, 4 ff. 307A 1. ]ohannes 3, 6 132 8, 6 29 3, 2 59,209 4,11 f. 307A 9, 15 133

10,23 129 Apokalypse 11, 1 14,209,332 1, 8 209

Phitipper 11,11 129 21,3 f. 196 3,14 307A 13, 13 f. 280 21,8 18

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JÜRGEN MOLTMANN

Herrschaft Christi und soziale Wirklichkeit

nach Dietrich Bonhoeffer (Theologische Existenz heute, Nr. 71) 64 Seiten

Hier werden Bonhoeffers Gedanken aus "Widerstand und Ergebung"

und anderen populären Schriften erstmalig in einen systematischen

Zusammenhang mit den frühen theologischen Schriften gebracht. Molt­

mann arbeitet plastism die eigentümliche Zwischenstellung Bonhoeffers

zwismen der Sozialphilosophie und Theologie der Dialektiker heraus

und zeichnet die schrittweise Ausweitung des theologischen Ansatzes

nam. Nachrichten der evang.-luth. Kirche in Bayern

Anfänge der dialektischen Theologie

Herausgegeben von Jürgen Moltmann

Teil I: Karl Barth - Heinrich Barth - Emil Brunn er

Teil: II: Rudolf Bultmann- Friedrich Gogarten- Eduard Thurneysen

(Theologische Bücherei, Band 17)

Teil 1: 2., erweiterte Auflage. XVIII, 350 Seiten. Teil II: 344 Seiten

Diesen beiden Sammelbänden ist der lebendige Charakter einer Dis­

kussion eigen. Ausführlich kommen hier die zeitgenössischen Stellung­

nahmen pro und contra zu Wort. "Nicht nur für die junge Generation,

auch viele Altere werden nach dieser Quellensammlung greifen, die

einen, um aus den Anfängen das Gegenwärtige zu verstehen, die

anderen um das Gegenwärtige an den Anfängen zu messen."

Pastoralblatt, Kassel

In Fortsetzung dieser beiden Bände bringt die von Walther Fürst her­

ausgegebene Dokumentation "Dialektische Theologie" in Scheidung

und Bewährung 1933-1936 (Theologische Bücherei, Band 34. 304 Sei­

ten) Aufsätze, Gutachten und Erklärungen von R. Karwehl, K. Barth,

R. Buhmann, E. Brunner, E. Thurneysen und E. Wolf.

CHR. KAISER VERLAG MÜNCHEN