Müll-Exporte: die somalia-connection

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Somalia war schon immer eines der ärmsten Länder der Welt, dessen Bevölkerung ausschließlich von einer kargen Landwirtschaft lebte, das heißt von einer einigermaßen intak- ten Umwelt. Seit den frühen 90er Jahren jedoch bestätigen Berichte der Vereinten Nationen (United Nati- ons Environmental Pro gram, UNEP) und von Greenpeace, dass Somalia seit Jahren in großem Maßstab von europäischen Unternehmen als Müllabladeplatz genutzt wird, auf dem sie beträchtliche Mengen ihrer giftigen Abfälle los- werden können. Seit 1990 berichten die westlichen Medien über den anscheinend endlosen Machtkampf zwischen somalischen Stämmen und Milizen. Mehr als dies jedoch interessiert den Westen seit einiger Zeit ein neues Phänomen: die Piraterie vor Somalia. Piraten sind eine Gefahr für den internationalen Seeverkehr zwischen dem Per- sischen Golf und dem Indischen Ozean. Die Reaktion erfolgte blitzschnell: Die EU („Ope- ration Atlanta“), die Nato und viele andere Län- der (z.B. Russland, China, Korea, Japan, der Iran) schickten Kriegsschiffe. Nachdem die Piraterie dort auch nach einem Jahr kaum nach- gelassen hat, könnte man zu dem Ergebnis kommen, dass diese multinationale Mission relativ erfolglos war. Und seltsam: Angeblich gehörte zu den Aufgaben der Kriegsschiffflotte auch die Abschreckung illegaler Fischfangakti- vitäten in den somalischen Gewässern; aber bis- her wurde in diesem Zusammenhang kein ein- ziges Vorkommnis gemeldet. Zudem stellen Beobachter fest, dass die allei- nige Bekämpfung der Piraterie, ohne Berück- sichtigung aller anderen wesentlichen Dimen - sionen des Konflikts, keine nachhaltige Lösung bringen kann. Vielmehr wird der Konflikt von strategischen Interessen geradezu am Leben erhalten. Der Giftmüll, der in den OECD-Ländern anfällt (Schwermetalle, Verbrennungsrück- stände, Krankenhaus- und vor allem radioakti- ver Abfall), ist offenbar ein unvermeidbares Produkt der industriellen Entwicklung. Im glo- balen Maßstab produzieren allein die 31 OECD-Länder mehr als 90 Prozent des welt- weiten Sondermülls. Aber umweltbewusst, wie sie sind, möchten diese Länder die giftigen Abfälle nicht in ihrer Umgebung entsorgt sehen (siehe den Slogan NIMBY, „Not in my back- yard“). Diese Entsorgung ist heute auch nicht mehr so leicht dort, und außerdem ist sie teuer und schmälert den Gewinn. Der Ausweg ist gegeben: Man schafft den Müll in ein möglichst weit entferntes, möglichst instabiles Land. Es gibt seit 1972 mehrere internationale Ab - kommen gegen dieses Verfahren, zuletzt den „Basel Ban“ von 1995, aber kein Vertrag konnte das Abkippen von Giftmüll in Entwicklungs- ländern bisher eindämmen. Man kann sagen, dass in allen Fällen der politische Wille der mächtigen Verursacher-Länder, diese Verbote auch durchzusetzen, gefehlt hat. Außerdem tra- gen auch die Liberalisierung des Welthandels, niedrige Transportkosten, ungleichgewichtige Globalisierung, fiktive Reeder in Steueroasen und ein unglaublicher Hunger nach dem schnellen Gewinn dazu bei, dass diese Prakti- ken weitergehen. N ach dem Zusammenbruch der somali- schen Zentralregierung im Januar 1991 ver- stärkte sich der Giftmülltransport nach Soma- lia. Bald wurde er aber weltöffentlich an den Pranger gestellt: Der damalige UNEP-Chef Dr. Mostafa Tolba bestätigte im September 1992, dass europäische Firmen das politische Chaos und den Bürgerkrieg in Somalia dazu ausnütz- ten, ihre Giftmüllfässer vor der Küste ins Meer Müll-Exporte Die Somalia-Connection Ende 2004 lagen plötzlich große rostende Fässer mit radioaktivem Abfall am Strand der somalischen Küste: Der Tsunami hatte sie vom küstennahen Meeresboden ans Tageslicht befördert. Seit Jahren lassen hier die Industrieländer ihren Atom-Müll ins Meer werfen, nicht selten mit Wissen ihrer Regierungen und oft mithilfe der italienischen Mafia. Von Bashir Mohamed Hussein Themen 54

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Somalia war schon immer eines derärmsten Länder der Welt, dessen Bevölkerungausschließlich von einer kargen Landwirtschaftlebte, das heißt von einer einigermaßen intak-ten Umwelt.Seit den frühen 90er Jahren jedoch bestätigen

Berichte der Vereinten Nationen (United Nati-ons Environmental Pro gram, UNEP) und vonGreenpeace, dass Somalia seit Jahren in großemMaßstab von europäischen Unternehmen alsMüllabladeplatz genutzt wird, auf dem siebeträchtliche Mengen ihrer giftigen Abfälle los-werden können.Seit 1990 berichten die westlichen Medien

über den anscheinend endlosen Machtkampfzwischen somalischen Stämmen und Milizen.Mehr als dies jedoch interessiert den Westen seiteiniger Zeit ein neues Phänomen: die Piraterievor Somalia. Piraten sind eine Gefahr für deninternationalen Seeverkehr zwischen dem Per-sischen Golf und dem Indischen Ozean. DieReaktion erfolgte blitzschnell: Die EU („Ope-ration Atlanta“), die Nato und viele andere Län-der (z.B. Russland, China, Korea, Japan, derIran) schickten Kriegsschiffe. Nachdem diePiraterie dort auch nach einem Jahr kaum nach-gelassen hat, könnte man zu dem Ergebniskommen, dass diese multinationale Missionrelativ erfolglos war. Und seltsam: Angeblichgehörte zu den Aufgaben der Kriegsschiffflotteauch die Abschreckung illegaler Fischfangakti-vitäten in den somalischen Gewässern; aber bis-her wurde in diesem Zusammenhang kein ein-ziges Vorkommnis gemeldet.Zudem stellen Beobachter fest, dass die allei-

nige Bekämpfung der Piraterie, ohne Berück-sichtigung aller anderen wesentlichen Dimen -sionen des Konflikts, keine nachhaltige Lösungbringen kann. Vielmehr wird der Konflikt vonstrategischen Interessen geradezu am Lebenerhalten.

Der Giftmüll, der in den OECD-Ländernanfällt (Schwermetalle, Verbrennungsrück-stände, Krankenhaus- und vor allem radioakti-ver Abfall), ist offenbar ein unvermeidbaresProdukt der industriellen Entwicklung. Im glo-balen Maßstab produzieren allein die 31OECD-Länder mehr als 90 Prozent des welt-weiten Sondermülls. Aber umweltbewusst, wiesie sind, möchten diese Länder die giftigenAbfälle nicht in ihrer Umgebung entsorgt sehen(siehe den Slogan NIMBY, „Not in my back -yard“). Diese Entsorgung ist heute auch nichtmehr so leicht dort, und außerdem ist sie teuerund schmälert den Gewinn. Der Ausweg istgegeben: Man schafft den Müll in ein möglichstweit entferntes, möglichst instabiles Land. Es gibt seit 1972 mehrere internationale Ab -

kommen gegen dieses Verfahren, zuletzt den„Basel Ban“ von 1995, aber kein Vertrag konntedas Abkippen von Giftmüll in Entwicklungs-ländern bisher eindämmen. Man kann sagen,dass in allen Fällen der politische Wille dermächtigen Verursacher-Länder, diese Verboteauch durchzusetzen, gefehlt hat. Außerdem tra-gen auch die Liberalisierung des Welthandels,niedrige Transportkosten, ungleichgewichtigeGlobalisierung, fiktive Reeder in Steueroasenund ein unglaublicher Hunger nach demschnellen Gewinn dazu bei, dass diese Prakti-ken weitergehen.

Nach dem Zusammenbruch der somali-schen Zentralregierung im Januar 1991 ver-stärkte sich der Giftmülltransport nach Soma-lia. Bald wurde er aber weltöffentlich an denPranger gestellt: Der damalige UNEP-Chef Dr.Mostafa Tolba bestätigte im September 1992,dass europäische Firmen das politische Chaosund den Bürgerkrieg in Somalia dazu ausnütz-ten, ihre Giftmüllfässer vor der Küste ins Meer

Müll-Exporte

Die Somalia-Connection Ende 2004 lagen plötzlich große rostende Fässer mit radioaktivem Abfall am Strand der somalischenKüste: Der Tsunami hatte sie vom küstennahen Meeresboden ans Tageslicht befördert. Seit Jahren lassenhier die Industrieländer ihren Atom-Müll ins Meer werfen, nicht selten mit Wissen ihrer Regierungen

und oft mithilfe der italienischen Mafia.

Von Bashir Mohamed Hussein

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zu werfen. Unmittelbar nach dieser Bekannt-gabe machte Greenpeace in Italien die Nameneiniger dieser Firmen öffentlich. Am 9. Septem-ber 1992 enthüllte Roberto Ferigno (Green-peace Italien) in einer zusammen mit derSchweizer Greenpeace-Organisation herausge-gebenen Erklärung, dass die Firmen AchairPartners (Schweiz) und der Müllhändler Pro-gresso (Italien) mit einem selbsternanntensomalischen Gesundheitsminister eine (ungül-tige) Absprache über die Lieferung von jährlich500000 Tonnen Giftmüll nach Somalia biszum Jahr 2011 getroffen hatten. Erst in jüngsterZeit, im Juli 2009, sagte der UN-Sonderbeauf-tragte für Somalia laut AFP: „Ich bin überzeugt,dass es dort Restmüll in festem Zustand gibtund vermutlich auch radioaktiven Abfall. Dasist eine Katastrophe für die somalische Küsteund das somalische Volk und seine Umwelt.“Es wurde außerdem sowohl durch die italieni-

schen Medien, als auch durch parlamentarischeUntersuchungsausschüsse bestätigt, dass dieitalienischen Truppen bei den UN-Operatio-nen „Restore Hope“ und UNISOM zwischen1992 und 1995 an vielen Orten spezielleSchutzanzüge trugen. Trotzdem, schrieb derCorriere della Sera, wurden einige Soldatenkontaminiert. Auch das Wochenmagazin Fa -miglia Cristiana zitierte aus einer gründlichenUNEP-Untersuchung an der Küste So malias(dem Untersuchungsbericht, der dem Magazinvorlag) mehrere Fälle illegaler Giftmüll-Anlie-ferungen.1997 setzte das italienische Parlament zur

Untersuchung unerlaubter Giftmülldeponieneinen Sonderausschuss ein, die Commissione

parlamentare d’inchiesta sul ciclo di rifiuti. DieKommission befasste sich auch mit der Ermor-dung zweier italienischer Journalisten in Soma-lia, Ilaria Alpi und Miran Hrovatín, die beidebei ihren Recherchen über illegale Müll- undWaffenexporte im März 1994 in Mogadischuermordet worden waren. Dank ihrer internatio-nalen Verbindungen entdeckte die Kommis-sion natürlich auch die systematische Verschif-fung von Sondermüll in Bürgerkriegsländer wieSomalia. Die darin verwickelten Unternehmenund Personen arbeiteten dabei Hand in Handmit der Mafia und einigen „irregeleiteten“öffentlichen Einrichtungen. Im Oktober 2000stellte die Kommission ausdrücklich fest, dassSomalia einer der bevorzugten Abladeplätze fürGiftmüll aus Italien war, ohne dass ein Endedieser Aktivität abzusehen wäre. In Wahrheitstammte der Giftmüll gar nicht vollständig ausItalien, sondern auch aus anderen Ländern inEuropa, darunter Frankreich und Deutschland,und aus den USA. Tatsächlich und ganz legalkönnen italienische Unternehmen Sondermüllzur Weiterverarbeitung oder Deponierung im -portieren. Aus mehreren Untersuchungen wis-sen wir jedoch, dass dieser Müll durch krimi-nelle italienische Organisationen und ihre Part-ner nach Somalia und in andere Länder Afrikasweiterexportiert wird. Man schätzt, dass mehrals ein Drittel dieser Sondermüll-Wirtschaft inder Hand der Öko-Mafia liegt.Schon im November 1998 hatte FamigliaCristiana berichtet, dass im Herbst jenes Jahresein Team von Journalisten (vom Magazinselbst, von La Repubblica, TV Svizzera, RadioPopolare, Agenzia Italia sowie freiberuflicheReporter) auf einer Reise nach Kenia undSomalia der Frage nachging, ob es einen Zu -sammenhang gab zwischen der Ermordung derbeiden Journalisten 1994 und den illegalenMüll-Exporten nach Somalia. Auch der Ab -schlussbericht bestätigte, dass schon seit lan-gem illegal Gift- und Sondermüll an SomaliasKüsten verklappt wurde, und publizierte eineKarte der verschiedenen Deponien.

Unmittelbar nach dem Tsunami anWeihnachten 2004 spülten die Wellen vor dersomalischen Küste mehrere rostende Behälterund leckgeschlagene Fässer voller giftiger Stoffean den Strand, die höchstwahrscheinlich vorherin Küstennähe ins Wasser geworfen wordenwaren. Der giftige Inhalt kontaminierte dieQuellen und sogar die Luft, wobei die Effekte

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Giftmülltonne, vom Tsunami ans Licht gebracht

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hiervon noch zehn Kilometer landeinwärts zuspüren waren. Wieder einmal gaben die alar-mierten Vereinten Nationen eine Warnung aus. Die Verdacht auf Beteiligung von Regierungs-

stellen wurde auch von drei weiteren italieni-schen Zeugen geäußert.Marcello Giannoni, ein Geschäftsmann, der

selbst mit Giftmüll-Lieferungen nach Somaliazu tun hatte, sagte im November 1998 voreinem Richter aus: „Ende der 80er Jahre bis indie frühen 90er Jahre hinein, gab es einen sehrmächtigen italienischen Politiker, der mit sol-chen Müll-Exporten nach Somalia zu tun hatte(...) Ich darf seinen Namen nicht verraten, aberes war ein sehr mächtiger Politiker.“ Freimütigund detailliert klärte er die Richter auch darü-ber auf, wie „hochgiftiger Müll und radioakti-ver Müll aus den USA mit italienischen Abfäl-len vermischt und das Ganze dann nach Soma-lia geschickt wurde“.Staatsanwalt Dr. Luciano Tarditi äußerte sich

folgendermaßen: „In den 80er und den 90erJahren haben große europäische Industrieun-ternehmen, mit starker Beteiligung US-ameri-kanischer Unternehmen, einen umfangreichenExport von Gift- und Sondermüll nach Somaliaorganisiert.“ Er war außerdem überzeugtdavon, dass dies nicht möglich gewesen wäre„ohne die politische Rückendeckung (coperturapolitica) und ohne Protektion durch dieGeheimdienste, da der in Frage stehende Ex -port von strategischer Bedeutung war“.

Und 2006 teilte Carlo Giovanardi, der italie-nische Minister für Parlamentsangelegenhei-ten, dem parlamentarischen Sonderausschussmit: „Mehrere Indizien weisen darauf hin, dasseuropäische und nichteuropäische Regierun-gen und auch die Mafia in die genannten [Gift-müll-] Handelsgeschäfte und andere Personenverwickelt waren; dies trifft auch auf denbekannten Broker Giorgio Comerio zu, der ineine ganze Reihe von Affären verwickelt ist, diemit Somalia zu tun haben.“Erklärungen dieser Art belegen deutlich, dass

die Ablagerung von Giftmüll nicht einfach eineprivate oder nur öko-mafiose Verfehlung ist,sondern zu einem beträchtlichen Teil offenbarvon staatlicher Seite gefördert wird.

Nach 20 Jahren Bürgerkrieg funk-tionieren die öffentlichen Einrichtungen in So -malia nicht mehr. Staatliche Krankenhäuser gibtes praktisch keine mehr. In Süd-Somalia, Schau-platz der anhaltenden Gewalt, aber an scheinendauch Anlaufstelle der meisten Giftmüll-Schiffeaus Europa, gibt es nur noch weni ge privateoder von internationalen Hilfsorganisationenbetriebene Kliniken. Es ist also unmöglich, dieGesundheitsprobleme der Be völkerung syste-matisch zu erfassen, aber über einige extrembeunruhigende Erkrankungen, sowohl bei Tie-ren, als auch bei Menschen, wurde von in- undausländischen Medien berichtet.

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Nach Zeugenaussagen waren europäische Regierungen und die Mafia an den Giftmüll-Geschäften beteiligt.

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In dem erwähnten UNEP-Bericht nach demTsunami wird festgestellt, es gebe „in SomaliaBeweise dafür, dass Giftmüll auf Deponien dasGrundwasser kontaminiert hat“. Dort warauch die Rede von bis dahin ungewöhnlichenGesundheitsproblemen: „akute Atemwegs -er krankungen, schwerer trockener Husten,Mund- und Magenblutungen, neuartige che-mische Hautreizungen“. Lokale Ärzte, Somalisebenso wie Ausländer, berichten von einererhöhten Zahl von Krebserkrankungen, Fehl-geburten sowie – speziell in der KüstenstadtMarka, der Hauptstadt der Region ShabeellahaHoose (südlich von Mogadischu) – Miss- undFehlbildungen bei Neugeborenen. Eine unge-wöhnlich hohe Zahl von Missbildungen mel-dete auch die Radiostation HornAfrica inMogadischu aufgrund von Berichten mehrererÄrzte aus der dortigen SOS-Nothilfeklinik. Dr.Bashir Sheikh Omar, der Leiter der Entbin-dungsstation der Klinik, führt diese Entwick-lung auf die lokalen Giftmüll-Deponien zu -rück. Die erwähnte Zeitschrift Famiglia Cris-tiana zi tiert die Ärztin Dr. Pirko Honenen(UNICEF Somalia): „Eine neuartige Krankheittötet Menschen in Bardale (Süd-Somalia) inhoher Zahl“; und sie fügt hinzu, es habe dort „inzwei Monaten schon 120 Opfer gegeben (...)Die Symptome sind hohes Fieber und Blutun-gen aus dem Mund.“ Besonders alarmierend war der Bericht einer

Gruppe, die nicht nur Reporter umfasste, son-dern auch ein Mitglied der Grünen im italieni-schen Parlament, den Abgeordneten MauroBulgarelli, nach einem Besuch bei einigen ver-

dächtigen Deponien. Sie legte eine Dokumen-tation der vom Tsunami leckgeschlagenen Gift-fässer und der davon ausgehenden Gesund-heitsgefahren vor, insbesondere in der Gegendvon Warsheik, nahe Mogadischu. Dort hattendie Reporter Dr. Gabriele Lombardo inter-viewt. Er erklärte, „seine Kollegen und er, die[nach dem Tsunami] die Dörfer in der Regionbesuchten, hätten eine ganze Reihe rätselhafterKrankheiten festgestellt, die mit relativ unge-wöhnlicher Häufigkeit auftraten: Mikro- undMakrozephalien (abnorm kleine oder großeSchädel) in einer Häufigkeit, die kein medizini-sches Lehrbuch verzeichnet“.Diese unsystematische Auswahl von Berich-

ten kann natürlich nur schweigen von den vie-len Haushalten in Somalia, in denen die meis-ten Menschen jahrelang keinen Arzt sehen.

Aber sie belegen den Umfang und dasGefahrenpotenzial der illegalen Praktiken.

Mäch tige Nationen, die vom Chaos des Bür-gerkriegs profitieren, missbrauchen bedenken-los einen zusammengebrochenen, also schutz-losen Staat als Giftmüllkippe. Reiche Länderdes Westens werfen ihre gesundheitsgefährden-den Abfälle den Bewohnern vor die Haustür:eine fortwährende, oft staatlich geförderte Ver-letzung von Menschenrechten.Es liegt auf der Hand, dass Entsorgungen sol-

cher Art den kriegerischen Konflikt in dem„vergessenen Land“ nur verlängern können.

Übersetzung aus dem Englischen: Philipp Reuter

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17. November 2008: Piraten halten die Mannschaft des chinesischen Fischtrawlers Tianyu-8 gefangen.

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Claus Offe im Gespräch mit Gunter Hofmann (Die Zeit) und Wilhelm Heitmeyer

Rette sich, wer kann! Der Politikwissenschaftler Claus Offe, Professor an der Hertie School of Governance, kann in derFinanz welt keine Chancen für eine durchgreifende Regulierung erkennen. Er befürchtet vielmehr eine„schleichend e undramatische Verrottung“ des politischen Systems, das er auf dem Weg in „post-demo-kratische Verhältnisse“ sieht: „Die Institutionen funktionieren irgendwie, aber das Interesse des

Publikums nimmt weiter ab“ (Wilhelm Heitmeyer).

siert, sie betrafen einzelne Länder, und sie be-trafen bestimmte Sektoren der Länder, bei-spielsweise Stahl- oder Automobilindustrie. Aufdie Industriestaaten im Westen schlugen zweidramatische Ölpreissteigerungen durch, die,wohlgemerkt, durch politische Entscheidungender OPEC-Regierungen in Reaktion auf mili-tärische Konflikte (Jom Kippur, Irak) ausgelöstworden waren. Das ist das eine. Wir haben da-mals gedacht (und ich denke das auch heute),der Nationalstaat sei strukturell parteilich undverteidige die Interessen der Kapitalverwertung,von der ja alles abhängt: Akkumulation undWachstum als soziale Friedensformel. Im Ei-geninteresse des Staates liege es, die Steuerbasissicherzustellen. Politisch war aus unserer Sichtder Staat unbedeutend, die Wirtschaft domi-nierte. Das machte es zunehmend schwieriger,reformpolitische Versprechungen einzulösen,wie es zumindest bis Anfang der siebziger Jahregelang. Für mich ist das der wichtigste Ein-schnitt der Nachkriegsgeschichte, diese Zäsur

Herr Offe, wie würden Sie die Qualität der welt-weiten finanzökonomischen Krise von heute be-schreiben? Lässt sich die Situation überhaupt mitden siebziger Jahren vergleichen? Damals zähltenSie zu den intellektuellen Kritikern des kapitalis-tischen Wirtschaftssystems, die Rede war von einerLegitimationskrise des Spätkapitalismus.Aus damaliger Sicht überraschend an der ge-

genwärtigen Finanzmarktkrise ist sicher, auchwenn es heute eine Platitüde ist, dass Natio-nalstaaten nicht mehr haftbar sind für Krisen-bewältigung. Grenzen sind in diesem weltwei-ten Spekulationsgeschäft weggeschwemmtworden, was bedeutet, dass einzelne Staatennicht einfach Stopschilder aufbauen und sich„national« schützen können. Richtig bei derKrisenbewältigung ist daher sicher der Versuch,auf europäischer oder atlantischer Ebene diePolitik, vor allem neue Kontrollinstrumente,zu koordinieren – wie mühsam das auch seinmag. Diese Krise ist ihrer Natur nach ein Glo-balisierungsphänomen, sie ist nachstaatlich.Wenn man von unmittelbaren Ursachen fürden Kollaps der Finanzmärkte spricht, istgleichwohl ein Ursprungsort zu benennen:nämlich der US-amerikanische Häusermarkt,die Subprime-Kredite, die da billig vergebenworden sind und die dann plötzlich für vieleunbezahlbar wurden. Diese von der Bush-Ad-ministration und ihrer Zentralbank ausdrück-lich ermutigte Blasenbildung hat Do mi -noeffekte in alle Richtungen ausgelöst, wie wires seit der Weltwirtschaftskrise in den zwanzigerJahren nicht gesehen haben.

War die Kritik am Spätkapitalismus in densiebziger Jahren denn politisch motivierte all-gemeine Systemkritik, oder handelte es sich umeine reine Wirtschafts-, manche sagen auch Öl-preiskrise?Die Krisen der siebziger Jahre kann man auf

zweierlei Weise beschreiben. Sie waren lokali-

Interview

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Professor Dr. Wilhelm Heitmeyer

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Interview

noch, einen gewissen nationalen Keynesianismushat der sozialdemokratische Kanzler doch auchdurchzusetzen versucht, oder?Das ist richtig. Währungspolitisch konnte

man noch handeln, Schmidt und Giscard er-fanden die G6, den Weltwirtschaftsgipfel zurbesseren Koordinierung, und die internationaleKonkurrenz auf den Märkten war bei weitemnoch nicht so intensiv wie jetzt. Reste vom„Rheinischen Kapitalismus«, der „DeutschlandAG« mit funktionierenden Verbänden, der Zu-sammenarbeit in bestimmten Sektoren, exis-tierten noch, und wichtige wirtschafts-, sozial-und geldpolitische Fragen wurden akkordiert.Davon ist heute kaum noch etwas zu sehen.

Die Beherrschbarkeit hat abgenommen, sagenSie. Lässt sich das damit erklären, dass es seitlängerem Kontrollgewinne des Kapitals gegebenhat und Kontrollverluste der Politik und desStaates?Ja, die Staaten im gesamten OECD-Bereich

werden richtig als competition states beschrie-ben; oberstes Gütekriterium staatlicher Politikist die wachstumsorientierte Wettbewerbsfä-higkeit. Es sind Staaten, die keine Grenzen ha-ben, mit denen sie sich abschirmen können ge-genüber ökonomischen Wettbewerbern, erstrecht nicht auf Kapitalmärkten, aber auch aufGütermärkten. Erinnern Sie sich: Ein weiteresMerkmal der Krisen der siebziger Jahre warendie relativ gut artikulierten Konflikte, die siebegleiteten. Die Wahlkämpfe handelten vonernsthaften Fragen, Weltwirtschaftskrise, RAF,Kernenergie, Nato-Doppelbeschluss, zu wenig

von 1973/74. Vor dem Rücktritt von WillyBrandt dominierten durchaus optimistische,aktive reformpolitische Ambitionen. Danachwar es damit glatt zu Ende.

Und ab dann geriet die Politik in eine Krise,der Staat konnte nicht mehr intervenieren undgestalten?Und als Reflex darauf wurde die Zuversicht

in die Leistungsfähigkeit staatlicher Politikschwer beschädigt. Der öffentliche Korridorwurde enger, der Staat zog sich zunehmendzurück hinter Sparzwänge. In der zweitenHälfte der siebziger Jahre setzte dann das große„Umdenken«, die marktliberale Hegemonieein. Es wurde nur noch für „weniger Staat«und einen Rückzug der Politik plädiert. Den-ken Sie beispielsweise an das Lambsdorff-Pa-pier, mit dem Helmut Schmidts Sturz vorbe-reitet worden ist. Das dauerte bei uns an biszur Inauguration von Helmut Kohl Ende1982. In Großbritannien ging Margaret at-cher mit ihrer neoliberalen Politik noch weiter,dort hieß es noch radikaler, wir alle hätten zuhohe Ansprüche, lebten über unsere Verhält-nisse, erwarteten zu viel vom Staat. Jetzt seinichts mehr zu verschenken, nur noch abzu-bauen. Dieser neoliberale Einbruch in Groß-britannien, auch in den USA mit Ronald Rea-gan und zum Teil auch in Deutschland, gingschon sehr weit.

In den Schmidt-Jahren hieß es aber doch im-merhin, das deutsche korporative Modell – Ge-werkschaften, Industrie, Politik – funktioniere

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Gunter HofmannClaus Offe

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Interview

oder zu viel Staat; die Verbände positioniertensich, die politischen Parteien ließen sich un-terscheiden, und krisenhafte Entwicklungenwurden aufgegriffen von politischen Akteuren,die vergleichsweise klar sprachen, Gewinnerund Verlierer benannten und programmatischagierten. „Lieber fünf Prozent Inflation als fünfProzent Arbeitslosigkeit!“– eine Botschaft auseiner anderen Zeit. Wenn man sich heute Auf-tritte von Helmut Schmidt aus der damaligenZeit ansieht – es ist nicht zu glauben, was füreine artikulierte, entschlossene, kämpferischeFührungsfigur er noch war. So hat die Politikwenigstens rhetorisch noch eine Weile an ihremGestaltungsanspruch festgehalten! Eine solcheGleichzeitigkeit von Krise und Konflikt fehltheute vollkommen.

Liegt das auch daran, dass man nicht von Krisespricht, sondern jetzt von Krisen, also im Plural,sprechen muss und die Politik mit diesem Szenariovon Finanzkrise, Wirtschaftskrise, Fiskalkrise,Klimakrise und möglicherweise Gesellschaftskrisegar nicht mehr umgehen kann? Dass sich dasauch niemand mehr zutraut? Nur eine aktuelleMeldung vom heutigen Tage: Die Arbeitsagen-turen rüsten sich für Massenentlassungen.Ja, die Politik hat den Überblick verloren.

Seit „9/15“, dem Crash der Lehman Brothers,habe ich überlegt, dass vielleicht eine Schreck-sekunde von sechs Monaten eintritt nach demPlatzen der Finanzmarkt-Blase, dass die Reak-tion der Öffentlichkeit und der politischenAkteure sich nur verzögert. Inzwischen denkeich, das war falsch, sondern was Platz greift,ist eine fatalistische Dumpfheit und Desori-entierung. Das Motto heißt eher: Rette sich,wer kann; man kann sowieso nichts machengegen die Naturgewalten der Weltmärkte; dasnächste Jahrzehnt wird eines der weiteren De-montage des unter gewaltige Sparzwänge ge-ratenden Sozialstaats.

Ist das eine individuelle Immunisierung?Die kann sich ein Teil der Bevölkerung leisten.

Heute reden die wirtschaftlichen und politischenEliten von Krise. Damals war es so, dass wir da-von geredet haben, aber die Eliten fragten nur:Von was sprecht ihr eigentlich? Das geht dochvorüber! Die Situationsdeutung selbst war inden siebziger Jahren ein Streitpunkt. Heute sindwir uns alle einig. Allen in den Wirtschaftswis-senschaften, in den politischen Parteien, in derRegierung, in internationalen Organisationendient das Wort Krise als Schlüsselwort, um die

Lage zu beschreiben. Wie gebannt warten alleSeiten darauf, dass sie einmal von selbst aufhört;und dass der Brand nicht nochmals aufflackert,weil es dann kein Löschwasser mehr gibt.

Hängt das auch damit zusammen, dass sich seitden siebziger Jahren der Staat so sehr zurückge-zogen hat und sich im großen und ganzen all-mählich eine Denkschule, die eine reduzierteRolle der Politik forderte, durchgesetzt hat?Um noch einmal zu vergleichen: Was die Dif-

ferenzen in den siebziger Jahren über die Si-tuationsdeutung angeht – ich erinnere mich,1982 erfolgte der Wechsel von Schmidt zuKohl, und der versprach die „geistig-moralischeWende“. Damit stellte er einer falschen Rich-tung der Politik, wie er glaubte, seine richtigeRichtung gegenüber. Wenn das heute jemandsagen würde, man wüsste gar nicht, wovon erredet. Eine weitere Differenz zu damals möchteich kurz erwähnen: Heute gelingt es den Re-gierungen, besonders ausgeprägt in Deutsch-land, die Krise über die Zeit zu verteilen, sozu-sagen dünn zu streichen. Sie soll nicht überallzur gleichen Zeit auftreten, sondern zeitversetztankommen, insbesondere auch wegen des Bun-destagswahlkampfes.

Gehören dazu denn auch politische Manipula-tionen wie die ständige Veränderung der Ar-beitslosenstatistik? Rechnet man die dramatischeLage klein?Beschönigen kann man mit vielen Tricks, in-

dem man zum Beispiel Arbeitslose in befristeteArbeitsverhältnisse übernimmt. Auch statisti-sche Definitionen sind manipulierbar: Wie vieleStunden muss man mindestens arbeiten, umnicht mehr arbeitslos zu sein? Die Antwort ist:drei pro Woche. Und diese ganzen Minijobs,Midijobs, Geringfügigkeitsregelungen, das istja ein dichtes Gestrüpp von Vertuschungsma-növern. Das ist auch ganz erfolgreich, da esnicht alle betrifft, sondern bestimmte Sektorenzu verschiedenen Zeitpunkten. Das ist eineDiffusionsstrategie, ebenso wie das befristeteKurzarbeitergeld und die Abwrackprämie. Aberauch unabhängig davon sehe ich nicht, dass eseinen großen Dissens über Ursachen, Folgen,verfügbare Abhilfen und Präventionen gibt.

Was bedeutet das aber dann für die Rolle desStaates? Wenn alle sich einig sind, kehrt dannmöglicherweise der starke Staat zurück?Das wäre sicher angesagt, aber in Deutschlandund in der EU sehe ich es nicht.

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Paul Krugman, der amerikanische Ökonom undNobelpreisträger, sagt das für die USA voraus:Big government komme wieder. Das wäre dannder bisher einzige Erfolg, denn die Kontroll -instrumente der Politik haben auf dem Finanz-sektor bisher nicht wirklich gegriffen.Wegen seiner Reform des Gesundheitssystems

steht Obama derzeit mit dem Rücken zurWand. Warten wir also ab. Den Clintons ginges 1995 genauso. Der Medical Industrial Com-plex ist überall mächtig und hält politische Veto-Positionen besetzt. Natürlich kann man von ei-nem „starken Staat“ dann schon sprechen, wenner sich finanzpolitisch derart gewaltig engagiert,wie in den USA und zum Teil in Europa ge-schehen. Aber das heißt auch, dass er sich dabeiüber alle Ohren verschuldet und sich damit na-türlich auf lange Zeit um so mehr schwächt.

Was geschieht denn, wenn die nächste Finanz-krise da ist?So ist es. Wenn ich mich für einen Moment

in deren Schuhe stelle, vermute ich eine gewisseÜberraschung, dass es so leicht war, zu ihrerRettung alle Schleusen zu öffnen. Aber sie kön-nen wohl nicht darauf rechnen, dass das einnächstes Mal überhaupt noch möglich sein wird.

Ist das nicht umgekehrt gerade der Erpressungs-fundus, den die in der Hand haben?So ist es. Wenn ich mich für einen Moment

in deren Schuhe stelle, vermute ich eine gewisseÜberraschung, dass es so leicht war, zu ihrerRettung alle Schleusen zu öffnen. Aber sie kön-nen wohl nicht darauf rechnen, dass das einnächstes Mal überhaupt noch möglich seinwird.

Könnte man denn sagen, dass dieser Sieg derverselbständigten Finanzmärkte in den letztenJahrzehnten weiter ging, als es die Kapitalismus -kritiker der siebziger Jahre erwartet hatten?Ja, sicher. Zwei eorien interessieren mich

da zu. Einmal ist von Risikodiffusion die Rede,ein Prozess, in dem sehr viele sehr schnell po-tentiell Leidtragende werden, über Grenzen undSektoren hinweg. Das bedeutet Risikominderung,das Risiko wird auf viele Schultern verlegt. Dasandere ist ein Explosionsmodell: Danach ist dieGefahr größer, je mehr Akteure betroffen sindund je schneller die Dominokette kippt. Nochwissen wir nicht, was davon zutrifft.

Läuft die Entwicklung von der Finanz- überdie Wirtschaftskrise in eine Fiskalkrise?

Nach dem Explosionsmodell muss man davonausgehen, dass die Krise sich immer weiterfrisstund dadurch die Handlungsmöglichkeiten, sieaussichtsreich zu bekämpfen, zunehmend ver-lorengehen.

Die Frage ist, ob das Auswirkungen für die so-ziale Integration dieser Gesellschaft hat. DerSozialstaat à la Keines wird beerdigt, weil dieMittel nicht da sind. Was passiert dann, etwamit den Hartz-IV-Empfängern – einschließlichihrer Angehörigen sind wir bei rund sieben Mil-lionen – kommen die je wieder raus aus diesemSystem? Wenn nicht, was bedeutet das eigentlichfür diese Gesellschaft?Bisher führt es jedenfalls nicht zu kollektiven

Konflikten, deren Akteure sich an die Politikadressieren. Die Konflikte werden anderswoabgearbeitet; sie treten im Gesundheitsbereichauf, in den Familien, unter Nachbarn, amArbeitsplatz kommt es zu Konflikten, die Kri-minalität nimmt zu, die soziale Frage kann vonrechts her aufgerollt werden. Das sind allessoziale Pathologien, die an der offiziellen Poli-tik vorbeigehen. Größere Allianzen werdennicht geschmiedet werden, es gibt keine orga-nisierte Reaktion auf die Krise. Sorgfältig undengagiert denkt Christoph Deutschmanndarüber nach. Er benutzt die Kategorie derHoffnung. Gemeint ist die Zuversicht, mit derman Lebenspläne anlegt und dann verfolgt.Manche haben (zu Recht) das Gefühl, dass siemehr Chancen als Risiken haben. Sie sehensich als Leute, die davonkommen und sich dieLage sogar zu Nutze machen können. Deshalbwerden sie jetzt individuell der „Augen-zu-und-durch“-Methode folgen. In diesem Sinnemacht die Krise vielleicht auch viele fromm,die Anlass haben zu denken, sie werden schondavonkommen. Das ist ein Phänomen einergeradezu irrationalen und zwanghaftenZuversicht: Es wird bald alles wieder gut, unddie Steuern werden sinken. Und andere sehensich sehr viel mehr Risiken als Chancen ausge-setzt. Sie finden es schwer, positive Lebensper-spektiven aufzubauen, deshalb ziehen sie sichzurück in eine ebenfalls individualistische,apathische, fatalistische, angstvolle und zyni-sche Einstellung gegenüber sich selbst, derstaatlichen Politik und allen anderen. So wirktdie Krise auf beiden Seiten konfliktbetäubend.

In unseren Daten findet sich das auch wieder.Die Leute sagen: Der Gesellschaft geht esschlecht, aber mir geht es noch ganz gut.

Interview

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Interview

Ja, das sind die, die davonzukommen mei-nen.

Zu diesem nichtpolitischen Verhalten könntedoch auch die Erfahrung beigetragen haben,dass die Politik ebendiese Steuerungsfähigkeitschlicht nicht mehr hat, wenn nicht sogar frei-willig abgetreten hat, sie kann also nicht mehrhelfend und korrigierend zugunsten der Betrof-fenen intervenieren.Das ist Teil des Arguments. Man sieht ja, dass

die Politik nichts zuwege bringt. Dass die Na-turgewalten des Weltmarktes die staatliche Po-litik als Spielball vor sich her treiben. Weil dasso ist, so ein vorherrschendes Gefühl, solltenwir gar keine illusorischen Erwartungen in diePolitik investieren.

Auch nicht die Erwartung, Kontrolle zurück-erobern zu können?Nein, wer sollte das tun? Wer sollte diese Er-

wartung haben? Es wirkt so evident hilflos, rat-los, perspektivlos und manipulativ ablenkend,was uns die Politik anbietet. Hören Sie sich Po-litiker-Runden im Fernsehen an: Es ist so trost-los, dass man erst im übertragenen und dannbald auch im wörtlichen Sinne abschaltet.

Leben wir denn insofern schon in postdemokra-tischen Verhältnissen?Diese Analyse von Colon Crouch und ande-

ren finde ich zumindest sehr anregend. Depo-litisierungseffekte zeigen sich darin, dass es keinGegenüber mehr gibt, an das man sich wendenkönnte. Auch nicht an den Herrn Gysi vonden Linken. Die Politik ist nicht mehr dieAdresse; sie ist sozusagen unbekannt verzogen.Bei vielen Bürgern scheint das Gefühl abhan-dengekommen zu sein, überhaupt repräsentiertzu werden und sich irgendwo in einem politi-schen Lager positionieren zu können. Auch dasist übrigens anders als in den siebziger Jahren.Deshalb spürt man kaum einen Hauch poli-tisch relevanter Konflikte.

Liegt es daran, dass es systemische Krisen sind undnicht Krisen einer Partei oder einer Regierung?Systemisch, ja. Keine der politischen Parteien

oder der Kerninstitutionen der repräsentativenDemokratie genießt die Qualität, dass manernsthafte Hoffnungen in sie investieren wollte.Adenauer, denkt man gelegentlich während derzahllosen Gedenkanlässe über die Geschichteder Republik, stand immerhin für bestimmtePositionen, und er stand gegen andere, er war

lokalisierbar, und man konnte sich in Relationzu ihm setzen.

Meinen Sie das, wenn Sie davon sprechen, dasses eine schleichende undramatische Verrottungdes demokratischen Systems gibt?So ist es. Dabei gibt es so gut wie keine Anti-

demokraten. Aber sehr viele Leute haben dieNase voll von dieser Art von Als-ob-Politik.Während im Wahlkampf wichtigste emen(Afghanistan, Integration von Migranten, Ar-beitsmarkt- und Sozialpolitik, europäische In-tegration) geradezu absichtsvoll beschwiegenwerden, geht es endlos um Nebensachen wiedie Dienstwagenbenutzung der Gesundheits-ministerin und die Dinner-Party im Bundes-kanzleramt für Herrn Ackermann. Jeder Passantweiß: Das ist Politik-Ersatz.

Wir haben in unseren Bevölkerungsbefragungennach Kernnormen gefragt wie Solidarität, Ge-rechtigkeit und Fairness. Fast drei Viertel derMenschen glauben nicht mehr daran, dass es indieser Gesellschaft überhaupt noch eine Chancegibt, solche Werte zu verwirklichen. Das bedeu-tet natürlich auch etwas für die Demokratieund für den Zusammenhalt in der Gesellschaft.Die Politik schafft es nicht, sie hat ihr Ansehen

verloren und ihre Kraft. Schon ästhetisch wirktsie irgendwie vernebelt und konturlos. Was sieeigentlich leisten sollte, nämlich die laufendeüberzeugende Annäherung an die Einlösungder genannten normativen Anforderungen, dasschafft sie ersichtlich nicht. Ich kenne inzwi-schen ein Dutzend Leute, die zerstörerische Er-fahrungen mit dem aktuellen Arbeitsmarkt ge-macht haben und so gut wie sicher sein können,dass sie ihre Chancen aufgebraucht haben undnie wieder im „ersten“ Arbeitsmarkt unterkom-men werden. Aber die Arbeitsverwaltung schi-kaniert sie, wenn sie eine Viertelstunde zu spätkommen, weil sie einmal ihr Kind abgebenmussten; dann kriegen sie eine Woche langkeine Zahlung. Ich würde das nicht erwähnen,wenn es ein Einzelfall wäre.

Wir sind hier nicht zur Ehrenrettung der Po-litik angetreten – und trotzdem ist es ja aucheine Gefahr, dass Ressentiments losgetretenwerden. Es versagen doch auch andere. Poli-tische Ökonomie beispielsweise ist verschwun-den, in der Wissenschaft herrschte eine Mo-nokultur im ökonomischen Denken, vielehaben versagt.Gewiss. Die politische und intellektuelle Re-

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Interview

Aber „Verrottung“, wenn man bei diesem Bildbleibt, heißt ja auch, dass nichts mehr wächst.Wenn das zutrifft, was kommt danach? Stehenwir vor einer Ära der rechtspopulistischen Be-wegungen?Ein Vakuum sehe ich, aber Rechtspopulismus?

Italien ist natürlich schrecklich, da schlägt je-mand Profit aus dieser Verrottung. Aber Ber-lusconi ist nicht in der Lage, einen „-ismus“ zubegründen. Er ist ein Clown, ein male chauvi-nist, und löst damit einen gewissen Appeal beiTeilen seiner Wählerschaft aus. Und im übrigenhat die Linke versagt. Ich sehe die populistischeGefahr, aber die Anhaltspunkte dafür inDeutschland sind doch recht schwach. Undwie es sich glücklich fügt: In Frankreich, inDeutschland, in den Niederlanden, in Däne-mark, in Österreich streiten sich die populisti-schen Rechtsparteien untereinander und ad-dieren sich vielfach zu null oder zu wenig mehr.In den alten EU-Ländern, Italien und Grie-chenland vielleicht ausgenommen, gibt es wohlgewisse Immunisierungseffekte. In Osteuropahingegen ist die Entwicklung gefährlich: Un-garn besonders, Bulgarien, Rumänien, auch inPolen, überall tauchen nationalistische Bewe-gungen auf, anti-EU, antiliberal, antiwestlich.

Wenn ich Sie richtig verstehe, ist Mitte-Linksoder die Linke in Europa im Grunde implo-diert, obwohl man sagen würde, eine ökonomi-sche Krise dieser Art, das ist eigentlich ihreStunde.Sie hat Positionen zu früh geräumt, die jetzt

vielleicht reaktivierbar wären. Das gilt für diedeutsche Sozialdemokratie, das gilt für Labourin Großbritannien, für die französischen So-zialisten sowieso. Walter Veltroni in Rom hataufgegeben. Er zieht sich zurück aus dem poli-tischen Leben. Ein Lichtblick ist der Zapateroin Spanien, aber sein Land befindet sich ineiner wirklich miserablen ökonomischen Si-tuation. Aber sonst?

Was ist denn zu erwarten? Was wäre, wenn diePolitik nach der Bundestagswahl ihre Botschaf-ten ändert?Ich glaube aus heutiger Sicht, mitten im Wahl-

kampf, die Bundestagswahl wird ein tiefer Ein-schnitt. Dann könnte es, je nach Ausgang, ernstwerden; dann hört man vielleicht mit der Tak-tik auf, die Krise über die Zeit zu verteilen undso die Flächenbrände zu limitieren.

Kann man dann sagen, dass es doch sehr sinnvoll

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putation der Wirtschaftswissenschaft ist nunwirklich ein Opfer der Krise. Wenn wir nichtden Paul Krugman und wenige seinesgleichenhätten, dann würden wir vollends verzweifeln.

Das liegt aber wahrscheinlich auch daran, dassin den Modellen der Wirtschaftswissenschaftlerdas Wort „Krise“ gar nicht vorkommt.Einige jüngere Wirtschaftswissenschaftler sa-

gen, wir müssten total neu anfangen und sehrviel stärker institutionell und soziologisch den-ken. Diese Modellästhetik der letzten Jahre,die Wirtschaft als Mathematik, das ist heutealles zutiefst desavouiert – hoffentlich mit krea-tiven Folgen.

Auf der anderen Seite fehlt es unserer Gesellschaftmöglicherweise an Mobilisierungsexperten?Soziale Bewegung gibt es eigentlich nicht

mehr. Paul Virilio hat von „rasendem Still-stand“ gesprochen. Eine Menge bewegt sichmit ungeheurer Dramatik (die Technologie,der Klimawandel, die Massenkultur, die Ge-schlechter- und Generationenbeziehungen),aber gleichzeitig herrscht Stillstand, verbundenmit der Unfähigkeit zur Selbstverständigungdarüber, wo wir sind, was auf uns zukommtund was die Prioritäten sind. Ausnahmen vondieser Regel sind symptomatischerweise alteLeute, von Kurt Biedenkopf bis Erhard Eppler,Heiner Geissler oder Richard von Weizsäcker,die lebensgeschichtlich längst heraus sind auspolitischen Ämtern und Ambitionen. Kurt Bie-denkopf zum Beispiel spricht vieles aus, woraufseine Parteifreunde wohl nur mit ahnungsloserIrritation reagieren können. Leute wie er kön-nen es sich sozusagen leisten, die Wahrheit zusagen und neue Gedanken vorzutragen. Sieleisten sich den Luxus einer gewissen Ehrlich-keit und einer unbefangenen und informiertenSituationsbetrachtung. Alle anderen sind ein-gesponnen in Abhängigkeiten und Selbsttäu-schungen. Es gibt also so etwas wie eine ana-lytische Militanz der Achtzigjährigen; aber ihreEinsichten gehen leider oft unter im allgemei-nen Rauschen.

Um noch einmal zurückzukommen auf IhreFormel der „schleichenden undramatischen Ver-rottung“. Ist das Undramatische nicht geradedas Dramatische?Ich hätte gedacht, dass die politischen Parteien

in ihrem eigenen Interesse ehrlich die Situationbeschreiben und zur strategischen Orientierungbeitragen. Das ist leider nicht erkennbar.

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Interview

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ist, dass es so etwas gibt wie stabilisierende Apa-thie?Ja, aber das ist kein Dauerzustand. Zumal es

einfach auf der Ebene der Sozialintegration nachunten gehen kann. Wenn nicht allmählich etwasfür die Massenkaufkraft unternommen wird(oder wie Deutschmann das mit seiner wirklichgewagten Formel von der „Sozialisierung derLohnfonds“ gesagt hat, eine andere Bezeichnungfür Grundeinkommen), wenn das Einkommennicht nach anderen, bürgerrechtlichen Kriterienverteilt wird, dann sehe ich schwarz. Konjunk-turpolitisch wäre das übrigens eine ziemlichgute Idee. Aber da müsste die Politik, da müss-ten wir alle schmerzhaft umdenken.

Welche Chancen sehen Sie denn für eine Repo-litisierung? Würde dabei so etwas wie eineGrundsicherung helfen, so dass die Menschennicht länger fürchten müssen, bei jeder Gele-genheit in die Gefahr zu geraten, gekündigt zuwerden?Die Angst spielt zwar eine große Rolle. Aber

ich sehe kaum Aussichten für eine Repolitisie-rung, sei es bei den politischen Parteien, denGewerkschaften oder den sozialen Bewegun-gen.

In unseren Analysen sieht man sehr deutlich,dass diejenigen, die sich bedroht fühlen, zu-nächst mal durchaus sagen, dass sie beispielsweisean Demonstrationen teilnehmen würden. DasProblem ist, dass die Bedrohten aber seit jeherdiejenigen aus den unteren sozialen Schichtensind, die kaum mobilisierungsfähig sind. Unter anderem deshalb, weil sie sich nicht als

Dauerarbeitnehmer in „ihrem“ konkreten Be-trieb treffen. Wenn man zu Hause sitzt undsich drei bis fünf Stunden die Woche mit Mi-nijobs beschäftigt, dann trifft man seinesglei-chen nicht so leicht und hat für irgendwelcheMitgliedsbeiträge oder auch nur Zeitungen inder Regel kein Geld.

Kann man von Demokratieentleerung sprechen?Ja. Das von jedem demokratischen Verfas-

sungsstaat vorauszusetzende Interesse der Bür-ger an Parteien und ihren Politikvorhaben istweithin erlahmt, so stark, wie es noch nie derFall war in meiner politisch bewussten Lebens-zeit, das heißt seit mehr als 50 Jahren. Das istwohl nicht nur in Deutschland so. Der Wahl-kampf 2009 war, wie allseits beklagt wurde,buchstäblich gegenstandslos – auch, weil vieleder Hauptprobleme außerhalb der Reichweite

nationalstaatlicher Politik liegen. Nehmen SieAfghanistan oder die geplante Rettung vonOpel.

Müsste dann nicht der Umkehrschluss heißen,damit man nicht gar zu pessimistisch die Poli-tikwelt betrachtet, dass man erheblich offensiverepolitische Alternativen im Post-Nationalstaat-lichen, in Europa, suchen muss?Das wäre natürlich der Ausweg: Das, was bis-

her auf der nationalstaatlichen Bühne stattfand,auf die große europäische Bühne zu bringen.Das hat Jürgen Habermas seit vielen Jahren ge-radezu verzweifelt versucht und mutig und ent-schlossen empfohlen.

Und das Karlsruher Gericht ist ihm gerade inden Arm gefallen.Ja, das hätte ich nicht erwartet, dass das na-

tionale Parlament vom Gericht in eine so starkeVeto-Position gerückt wird. Ich neige auchdazu, zu sagen, man muss auf der europäischenEbene versuchen, die Politik wieder flottzuma-chen. Aber ein regulatives Regime für das Ban-kenwesen, das nun wirklich Zähne hätte,kommt auch dort nicht zustande. Und dann:Es gibt kein europäisches Parteiensystem, nichtmal ein europäisches Parteiengesetz oder einGesetz zur Parteienfinanzierung. Ja, Europa,das wäre ein Weg aus der Krise. Sehr zuver-sichtlich bin ich aber, was Europa angeht, leidernicht.

Interview mit freundlicher Erlaubnis des SuhrkampVerlags entnommen aus Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.),Deutsche Zustände, Folge 8, Berlin 2010, edition suhr-kamp 2602.