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Institut für Modernes Japan Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Projektkolloquium Prof. Dr. Michiko Mae Projektarbeit WS 2012/2013
Murakami Harukis 1Q84
– Trilogie ohne Tiefgang?–
Jennifer Schwartz
Version: 2
Datum der Fertigstellung: 08.05.2013
2
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung .................................................................................................................. 3
2 Inhaltliche Zusammenfassung der Roman-Trilogie ............................................. 5
3 Thematische Aspekte ............................................................................................... 8
3.1 Die Rolle der Medien, der Religion und des Gesetzes ............................................ 9
3.2 Die wahre Liebe als Motiv .................................................................................... 12
3.3 Dystopie oder Utopie ............................................................................................. 14
4 Zitate aus Literatur und Musik ............................................................................ 16
4.1 Parallelwelten ........................................................................................................ 16
4.2 Die Little People ................................................................................................... 19
4.3 Zwischen Realität und Fiktion .............................................................................. 21
5 Weitere Aspekte der Deutung ............................................................................... 22
5.1 Autor und Werk ..................................................................................................... 22
5.2 Historischer Hintergrund ...................................................................................... 25
6 Annahmen zum Textkonzept und Fazit ............................................................... 27
7 Quellenangaben ...................................................................................................... 29
3
1 Einleitung
Der aktuelle Roman des japanischen Autors Murakami Haruki mit dem auffälligen Titel
1Q84 hat nach seinem Erscheinen geteilte Meinungen in der Literaturszene weltweit
hervorgerufen. Während die eine Seite den Roman als rätselhaftes Meisterwerk betitelt,
welches den Leser von den ersten Seiten an in den Bann zieht, spricht die andere Seite
von einer unnötigen Anzahl an Wiederholungen, offenen Fragen, die der Roman nicht
beantwortet und manch ein Rezensent spricht dem Roman sogar jedweden tieferen Sinn
ab und nennt das Lesen die reine Zeitverschwendung.
Jedoch fällt auf, dass bei den Rezensionen – seien sie nun positiv oder negativ,
in Japan selbst oder im Ausland entstanden – oft eher persönliche Eindrücke
wiedergegeben werden. Zu überlegen ist hier, warum Rezensenten Murakamis Roman
häufig einen tieferen Sinn absprechen. Zwar bieten einige Rezensionen durchaus eine
Nennung von Themen des Romans, die man bereits auch aus anderen Romanen des
Autors kennt und einige zeigen auch einen möglichen historischen Bezug zum
Entstehungsgrund des Romans. Allerdings werden die vermeintlichen Ergebnisse häufig
nicht mehr mit dem tatsächlichen Inhalt des Romans abgeglichen. Ein vorschnelles
Abwerten des Inhalts scheint vorprogrammiert.
Die vorliegende Arbeit hat sich zum Ziel gesetzt, Auffälligkeiten des Romans zu
analysieren und eine vorläufige Interpretationshypothese aufzustellen. Mit diesem
Schritt soll das Vorhandensein eines Tiefgangs hinterfragt und festgestellt werden,
inwiefern der Roman-Trilogie ein tieferer Sinn inne wohnen könnte.
Für die Analyse bediene ich mich der literaturwissenschaftlichen Methode der
kognitiven Hermeneutik. Bei der Basis-Interpretation der kognitiven Hermeneutik wird
das, was im Allgemeinen als die Intention des Autors bezeichnet wird, durch den
Leitbegriff der drei textprägenden Instanzen des Autors ersetzt. Diese wirken zu einem
erheblichen Teil auf nicht-bewusste Weise. Zu den drei textprägenden Instanzen zählen
das Textkonzept, das Literaturprogramm und das Überzeugungssystem. Jeder
literarische Text ist die Umsetzung eines bestimmten Textkonzeptes. Beim Erstellen des
Textes folgt der Autor seinen Prinzipien. Das geschieht häufig spontan, (un-)bewusst
oder absichtlich. Die Umsetzung des Textkonzeptes muss nicht zwangsläufig die
bewusste Umsetzung einer Absicht für den jeweiligen Text sein. Der Begriff
Literaturprogramm bezieht sich auf allgemein künstlerische Ziele, die sich
möglicherweise in der Gesamtheit der Werke eines Autors spiegeln können. Es kann
geprägt sein vom sozialkritischen oder weltanschaulichen Rahmen des Autors. Die
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weltanschauliche Überzeugung des Autors wirkt sich auf den Text aus. Der Text
wiederum lässt sich als Artikulation dieses Überzeugungssystems sehen. Ziel einer
kognitiven Basis-Interpretation ist es, Hypothesen über die drei Instanzen zu bilden und
in einem Optionenvergleich zu bestärken oder zu entkräften. Eine anschließende
Aufbau-Arbeit bezieht Zeitgeschichte oder Biographie des Autors hinzu. (vgl. Tepe
2007 62-71; Schwartz 2011: 5-6). In der vorliegenden Arbeit wurden die textprägenden
Instanzen innerhalb der einzelnen Kapitel nicht voneinander getrennt behandelt, da die
Basis-Interpretation mit einer Aufbauarbeit durch das Heranziehen von
Sekundärliteratur ergänzt, die Ergebnisse kombiniert und für die Beantwortung der
Fragestellung entsprechend den Kapiteln zugeordnet wurden. Durch die Anwendung der
Methode der kognitiven Hermeneutik soll verhindert werden, dass ein literarischer Text
auf aneignende Weise interpretiert wird, der Interpret also seine gebildeten Thesen nicht
wissenschaftlich stützt und Nutzen für sich selber aus dem Text zieht. Dies ist zwar für
die eigene Lebensbewältigung legitim, wird aber bedenklich, wenn es dem Interpreten
zum Beispiel darum geht, eine Ideologie zu verbreiten (vgl. Tepe 2007: 97ff.). In der
vorangehenden Basisarbeit habe ich mich zunächst auf Grundlage des Textes Themen
und Motiven des Romans angenähert und mögliche Hypothesen zum Textkonzept und
zum Überzeugungssystem gebildet. Da die Basisarbeit auch das Ziel, die gebildeten
Hypothesen zu unterstützen oder zu entkräften, habe ich neben Interpretationen anderer
Autoren Sekundärliteratur zu Autor und Werk sowie historischen Hintergründen
hinzugezogen. Die Ergebnisse aus den beiden Arbeitsschritten wurden ihren
Themenbereichen zugeordnet, zusammengefasst und in Bezug zur Fragestellung
diskutiert. Die Leitfragen, die am deutlichsten die Frage nach dem Tiefgang des
Romans beantworten werden und somit auch für das Verständnis des vorliegenden
Textkonzeptes entscheidend sind, sehe ich dabei wie folgt:
1. Was treibt die Figuren des Romans an, so zu handeln, wie sie handeln?
2. Welche Bedeutung haben die Parallelwelten und die Vermischung von Realität und
Fiktion?
3. Wen oder was stellen die Little People dar?
4. Welche Verbindung besteht zu George Orwells Roman 1984?
Je nachdem, in welchem Umfang diese Fragen beantwortet werden können, wird
darüber entscheiden, inwiefern der Roman-Trilogie 1Q84 ein tieferer Sinn
zugesprochen werden kann. Im Verlauf dieser Arbeit werden wir uns mit den oben
genannten Fragen in Kapitel 3 und Kapitel 4 beschäftigen. In Kapitel 5 werden weitere
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Ergebnisse der Aufbauarbeit in Bezug zur Fragestellung genannt, bevor Kapitel 6 mit
einer Synthese der Ergebnisse noch einmal auf die entwickelten Annahmen zum
Textkonzept eingeht und diese in Bezug zur Fragestellung setzt. Um einen genaueren
Überblick über den Roman und seine komplexen Handlungsgänge bieten zu können,
werden wir uns im Folgenden zunächst einer Inhaltsangabe widmen. Dabei bietet es
sich an, auch den Aufbau der Trilogie ggf. mit einzubeziehen.
2 Inhaltliche Zusammenfassung der Roman-Trilogie
Das gesamte Geschehen ist in das Jahr 1984 verlagert und spielt sich in der japanischen
Hauptstadt Tokyo ab. Das äußere Grundgerüst ist die Liebesgeschichte zwischen den
beiden Hauptfiguren Aomame und Tengo. Diese haben sich als Kinder in der Schule
kennen gelernt und im Alter von zehn Jahren aus den Augen verloren. Inzwischen sind
beide um die dreißig Jahre alt und obwohl sie nichts von einander wissen, denken sie
mit dem Gefühl der Liebe an den jeweils anderen. Der Leser ahnt, dass die beiden
Seelenverwandten sich im Laufe der Geschichte treffen werden. Diese Vorahnung wird
durch den Aufbau unterstützt. Denn Buch 1 und Buch 2 der Trilogie, die den Zeitraum
von April bis September einschließen, haben alternierende Kapitel1, die jeweils aus der
Sicht einer der beiden Hauptfiguren geschildert werden. Je weiter die Geschichte
voranschreitet, desto näher rücken die beiden Erzählstränge zusammen.
Aus den Kapiteln, die aus Aomames Sicht geschildert werden, können wir
folgende Situation festhalten: Die Fitnesstrainerin Aomame, Tochter zweier Zeugen
Jehovas, lernt bei einem Selbstverteidigungskurs für Frauen eine alte Dame kennen.
Letztere führt ein Frauenhaus, in dem sie misshandelte Frauen beherbergt. Aomame
wird von der alten Dame dazu bewegt, für sie Auftragsmorde an gewalttätigen Männern
zu verüben.
Im ersten Kapitel des ersten Buches ist Aomame gerade auf dem Weg zu einem
der Aufträge im Taxi auf der Stadtautobahn. Allerdings gibt es einen Verkehrsstau,
weswegen sie zu ihrem Auftrag zu spät zu kommen droht. Aus diesem Grund schlägt
der Taxifahrer vor, dass Aomame den Weg von der Stadtautobahn hinunter über eine
Nottreppe nehmen könne. Sie folgt dem Rat des Taxifahrers, klettert die Nottreppe
1 Die Struktur alternierender Kapitel, die zwei unabhängige Welten darstellen, welche sich am Ende zusammenfügen, hat Murakami auch schon in anderen seiner Werke angewandt. Er hat sie als seine Lieblingsmethode bezeichnet, die auch häufig in Kriminal- und Science-Fiction-Romanen Verwendung findet (vgl. Rubin 2004: 133-136).
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hinunter und schafft es so noch pünktlich zu ihrem Mordauftrag. Jedoch merkt Aomame
rasch, dass die Welt sich verändert hat, seitdem sie die Treppe von der Stadtautobahn
hinuntergeklettert ist. Geschichtliche Ereignisse sind durcheinander geraten und auf
einmal stehen zwei Monde – der große alte Mond und ein kleiner grünlicher – am
Himmel. Aomame erkennt, dass sie in eine Parallelwelt geraten sein muss, als sie über
die Treppe kletterte und nennt die neue Welt 1Q84 – wobei das Q für das englische
question mark stehen soll.
In den Kapiteln aus Tengos Sicht wird uns im Verlauf des Romans eröffnet, dass
zwischen Tengo und seinem alleinerziehenden Vater, einem Gebühreneintreiber des
Senders NHK, ein angespanntes Verhältnis herrscht. Tengo ist inzwischen Schriftsteller
ohne Durchbruch und Mathematiklehrer geworden.
Im ersten Kapitel wird Tengo von seinem Mentor Komatsu (Mitherausgeber
einer Literaturzeitschrift) dazu aufgefordert, einen Roman umzuschreiben. Dieser
Roman mit dem Titel Die Puppe aus Luft ist ursprünglich von der siebzehnjährigen
Fukada Eriko, die sich Fukaeri nennt, verfasst worden. Komatsu erhofft sich, dass die
junge Frau durch die entsprechende Bearbeitung des Werkes den Preis der
Literaturzeitschrift gewinnt. Tengo willigt trotz moralischer Bedenken ein und der
überarbeitete Roman wird ein Bestseller.
In Die Puppe aus Luft geht es um ein zehnjähriges Mädchen, welches in einer
landwirtschaftlichen Gemeinschaft in den Bergen lebt. Als eine Ziege tot aufgefunden
wird, für die das Mädchen die Verantwortung trug, wird sie als Strafe mitsamt dem
toten Tier für mehrere Tage in einen Raum gesperrt. Eines Nachts klettern aus dem
Maul der Ziege mehrere kleine, menschenähnliche Gestalten ohne besondere äußere
Merkmale. Das Mädchen gibt ihnen den Namen Little People. Die Little People fordern
das Mädchen auf, mit ihnen an einer Puppe aus Luft zu weben. Mehrere Nächte lang
weben sie. Als der Kokon fertig ist und schlüpft, sieht das Mädchen sich selbst darin.
Die Little People bezeichnen ihren Doppelgänger als ihre Daughter. Vor Schreck läuft
das Mädchen aus der Gemeinschaft davon und seitdem stehen am Himmel der Welt
zwei Monde. Irgendwann beginnt das Mädchen zu zweifeln, ob sie wirklich sie selbst
ist oder vielleicht mit der Daughter vertauscht wurde. Das Ende bleibt offen.
Aomame bekommt schließlich von der alten Dame den Auftrag den Führer einer
Sekte, die sich Die Vorreiter nennt, umzubringen. Der Leader, wie der Sektenführer
Fukada genannt wird, vergewaltigt junge Mädchen und erhebt dies zur religiösen
Kulthandlung. Es stellt sich heraus, dass er Fukaeris Vater ist. Als die Little People
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eines Nachts im Frauenhaus erscheinen und auch dort eine Puppe aus Luft weben,
spricht dies dafür, dass Fukaeri ihre tatsächlich erlebte Geschichte aufgeschrieben hat.
Da der Leader unter einer seltenen Krankheit leidet, kann sich Aomame als einfache
Physiotherapeutin ausgeben und ihren Auftrag durchführen, ohne dass die Bodyguards
Verdacht schöpfen. Danach taucht sie unter. Zur gleichen Zeit tobt ein gewaltiges
Gewitter, was Fukaeri gegenüber Tengo mit den Worten kommentiert, dass die Little
People toben. Auf Fukaeris Anraten hin beginnt Tengo Aomame zu suchen. Auf einem
Spielplatz in der Nähe von Aomames Versteck macht Tengo dann die erschütternde
Entdeckung, dass genau wie in Fukaeris Roman zwei Monde am Himmel stehen. Eine
andere Episode führt Tengo in ein Sanatorium in Chikura, wo sein Vater inzwischen im
Koma liegt. Im Zimmer des kranken Vaters erscheint Tengo eine Puppe aus Luft, in der
schlafend die zehnjährige Aomame liegt. Er ruft ihren Namen und ahnt nicht, dass er
damit Aomames Leben rettet, die sich zur gleichen Zeit auf der Stadtautobahn stehend
eine Pistole in den Mund hält, um sich umzubringen. Aomame glaubt durch ein
Gespräch mit dem Leader, dass sie Tengo nur durch ihren eigenen Tod retten kann.
Tengos Ruf, den Aomame auf geheimnisvolle Weise hören kann, bewegt sie dazu, in
ihr Versteck zurückzukehren.
Buch 3, welches im Zeitraum von Oktober bis Dezember spielt, setzt das
Schema der alternierenden Kapitel fort. Allerdings wird es um die Perspektive einer
dritten Person ergänzt, dem Privatdetektiv Ushikawa. Während der Geist von Tengos
komatösen Vaters seiner Lebensaufgabe – dem Einsammeln von Rundfunkgebühren –
folgt, hat Tengo die Hoffnung, in der Stadt der Katzen, wie er den Ort des Sanatoriums,
in dem sein Vater liegt, benannt hat, die Puppe aus Luft mit der kindlichen Aomame
wiederzusehen. Fukaeri hält sich derweil in Tengos Wohnung auf. Dort bemerkt sie,
dass die Wohnung vom Privatdetektiv Ushikawa beobachtet wird. Fukaeri verschwindet
deshalb aus Tengos Wohnung und hinterlässt Tengo eine entsprechende Nachricht.
Ushikawa seinerseits hat Verbindungen zu den Vorreitern. Wir erfahren, dass Ushikawa
Aomame für die Vorreiter inspizieren sollte, um ihre Vertrauenswürdigkeit festzustellen.
Da Ushikawa so Mitschuld an dem Tod des Sektenführers trägt, hat er im Interesse
seines eigenen Lebens allen Grund, Aomames Versteck aufzuspüren. Dabei kommt er
einer Verbindung zwischen Aomame und Tengo immer näher und erkennt auch eine
Verbindung zwischen Aomame und der alten Dame. Indem er Tengos Wohnung
überwacht, kann er Tengo folgen, als dieser einen seiner Nacht-Spaziergänge
unternimmt. Unwissender Weise bringt ihn das in die Nähe von Aomames Versteck.
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Neugierig, was Tengo auf einer Rutschbahn so lange beobachtet hat, klettert auch
Ushikawa hinauf und entdeckt ebenfalls die zwei Monde am Himmel.
Aomame, die durch einen magischen Ritus von Tengo auf geheimnisvolle Weise
schwanger wurde, ohne diesem je begegnet zu sein, wartet derweil auf dem Balkon
ihres Versteckes auf ein Lebenszeichen von Tengo, den sie zufälligerweise einmal auf
dem Spielplatz in der Nähe erblickt hatte. Eines Abends entdeckt sie aber Ushikawa auf
dem Spielplatz und erkennt in Ushikawa denjenigen, der das Frauenhaus ausspioniert
und vermutlich eine Verbindung zu den Vorreitern hat. Sie leitet Schritte ein, damit
Ushikawa beseitigt wird. Die Vorreiter finden Ushikawas Leichnam und bringen ihn in
das Hauptquartier der Sekte. Dort findet eine Unterhaltung statt zwischen dem
Bodyguard des toten Fukada und einer weiteren Person – dem „Vorgesetzten“. Als die
Bodyguards das Zimmer verlassen haben, um Tengos Vorgehen zu beobachten und die
Suche nach Aomame fortzusetzen, klettern irgendwann die Little People aus dem Mund
des toten Ushikawa und weben eine weitere Puppe aus Luft.
In den Aomame- und Tengo-Kapiteln am Ende der Trilogie wird geschildert,
wie die beiden Hauptfiguren sich schließlich auf der Rutschbahn des Spielplatzes nach
20 Jahren wiedersehen. Die alternierenden Kapitel der beiden fließen endgültig
ineinander. Um die Parallelwelt zu verlassen und den Little People und den Vorreitern
zu entkommen, wollen sie zurück in die Welt des Jahres 1984. Die Zwei nehmen alles
Nötige mit, darunter auch Aomames Pistole und Tengos angefangenen Roman, und
klettern über die Nottreppe zurück auf die Stadtautobahn. Dort herrscht wie zu Beginn
von Buch 1 ein Stau. Sie steigen in ein leer gewordenes Taxi und lassen sich von der
Autobahn fahren. Am Nachthimmel der Welt stehen nun keine zwei Monde mehr. Aber
Aomame entdeckt einen Hinweis dazu, dass es sich auch nicht um das alte Jahr 1984
handelt, sondern vermutlich um eine neue Welt. Sie behält den leisen Zweifel für sich
und hofft auf ihre Zukunft mit Tengo und dem ungeborenen Kleinen (vgl. Murakami
2010; Murakami 2011).
3 Thematische Aspekte
Die Leser, die Murakami öfter zur Hand nehmen, werden auch beim Lesen von 1Q84
für Murakami typische Themen und Motive entdecken, wie zum Beispiel die Themen
Verlust, Einsamkeit, Reifungsprozesse oder Gewalt (vgl. Gebhardt 2011: 355). Es sind
Themen, für die Murakami bekannt ist und die auch wieder Einzug in sein neuestes
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Werk gefunden haben. Allerdings möchte ich mich in diesem Kapitel vor allem auf die
speziellen Themen der Trilogie 1Q84 konzentrieren. Die oben genannten Themen und
Motive werden dabei nicht ausgeklammert, sondern im Hinterkopf behalten. So kann
unter Umständen auf sie zurückgegriffen werden.
3.1 Die Rolle der Medien, der Religion und des Gesetzes
Beim Lesen der Trilogie fällt auf, dass wir genau in drei Bereiche der Gesellschaft
Einblick erhalten. Diese drei Bereiche – die Medien, die Religion und das Gesetz – sind
durch die auftretenden Figuren definiert. Wir können fast alle Romanfiguren mindestens
einem dieser drei Bereiche zuordnen. Dabei sehen wir, wie sie sich in ein System dieses
Bereiches eingliedern, wie sie sich ihm unterordnen oder wie sie zuweilen eins der
anderen Systeme unterlaufen. Meistens stellt sich dieses dann als das System des
Rechtsstaates heraus. Im Folgenden sollen einige Beispiele genannt werden.
Medien
Der Gruppe der Medien kann man u.a. den Hauptcharakter Tengo und seinen Mentor
Komatsu zuordnen. Wir sehen Tengo in deutlicher Abhängigkeit von Komatsu. Dies
ergibt sich aus der Tatsache, dass Tengo sich trotz seiner Bedenken letztendlich
überreden lässt, für Komatsu Fukaeris Roman als Ghost Writer umzuschreiben. Eine
Metapher, die diese Abhängigkeit sehr schön demonstriert, ist das Bild des Bootes, in
dem beide als „Schicksalsgefährten“ sitzen. So stellt Tengos literarischer Mentor fest:
„Du solltest ja nur den Text überarbeiten […]. Aber auf der Welt laufen die Dinge nie
so, wie sie sollen. Und wie gesagt, wir sitzen in einem Boot und treiben im Wildwasser
dahin [und] sind eher an einem Punkt angelangt, an dem wir nachdenken müssen, wie
wir sicher an Land kommen“ (Murakami 2010: 498). Diese Metapher wird an anderer
Stelle wieder aufgegriffen, an der Tengo seine Bedenken äußert, ob Komatsu und er
noch im selben Boot rudern oder ob sein Schicksalsgefährte das Boot schon verlassen
hat. Deutlich ist hier zu sehen, dass Komatsu die Möglichkeit hätte, Tengo mit
gemeinsam verursachten Problemen zurückzulassen. Das zeigt uns, dass Tengo in
gewisser Art und Weise mehr abhängig und untergeordnet ist, als umgekehrt. Nebenbei
erhalten wir Einsicht in den Literaturbetrieb, in dem nach Murakamis Ansicht
anscheinend auch nicht immer alles mit rechten Dingen zugeht. Weiterhin wird uns
gezeigt, wie die Massenmedien Einfluss auf die Meinungsbildung üben. Es sind nicht
immer die wahren Informationen, die weitergegeben werden. Das erkennen wir bereits
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in der ersten Szene, wo der Taxifahrer Aomame darauf hinweist, dass im Radio nicht
die wirklichen Informationen durchgesagt werden und man sich nicht vom äußeren
Schein täuschen lassen darf: „Auf den Verkehrsfunk und dergleichen ist kein Verlass.
[…] Die Hälfte der Informationen ist falsch. Die vom Straßenamt vertreten nur ihre
eigenen Interessen. Ich ziehe meine Schlüsse aus dem, was ich mit eigenen Augen
sehe“ (Murakami 2010: 13). Diese Ansicht zieht sich durch den Roman bis hin zu der
Stelle, als die Medien nichts von dem Tod des Sektenführers berichten und das
Mädchen Fukaeri als vermisst gemeldet wird. In Wirklichkeit wird sie natürlich nicht
vermisst und diese Meldung soll nur zu einem anderen Zweck gebraucht werden.
Manipulation von Informationen durch die Medien kommt uns also an vielen Stellen
entgegen. Dies basiert auf der Tatsache, dass die Medien es selber nicht besser wissen
und die Information von anderer Seite geheim gehalten oder manipuliert wird. Diese
Überzeugung gehört wohl zu Murakamis Weltbild.
Die Literatur gehört mit zu den Medien, welche von vielen Menschen genutzt
werden. Auch in 1Q84 werden wir Zeuge, wie der von Tengo umgeschriebene Roman
Die Puppe aus Luft einen Medienaufruhr auslöst und sich das Exemplar zigtausend Mal
verkauft. So könnte man meinen, dass das literarische Werk eine Wirkung auf die
Leserschaft ausübt. Allerdings müssen wir erleben, wie die wohlweislich wahre
Geschichte als Hirngespinst einer 17-Jährigen abgetan wird. Keiner der Leser im
Roman 1Q84 glaubt natürlich an so etwas Irreales wie die Little People. Dennoch hat
der Roman im Roman seine Wirkung nicht verfehlt und diejenigen getroffen, die er
treffen sollte: die Little People. Wie ein Impfstoff hat sich das Buch ausgebreitet und
den bildlichen Virus in Gestalt der Little People getroffen (vgl. Imai 2009: 209-210).
Diese haben daraufhin mit den für sie negativen Folgen zu kämpfen. Daraus können wir
schließen, dass der Autor dem Medium der Literatur eine gewisse kleine Wirkung
zuspricht, Literatur also schon als Möglichkeit versteht, Dinge in Bewegung zu setzen,
was auch für die sogenannte Unterhaltungsliteratur der Fall wäre. Denn als Roman der
Unterhaltungsliteratur, dem keine tiefere Bedeutung zugemessen werden kann, wird
eben auch Fukaeris Roman in der Gesellschaft aufgenommen – trotz seiner
tatsächlichen Wirkung auf die Little People.
Religion
Auch im religiösen Bereich begegnen wir Abhängigkeiten. Zunächst wäre da das
hierarchische System der Sekte selber. Dieses System hat auch der Mord am Leader
nicht zum Wanken gebracht. Letzterer hatte einmal gute Absichten und erscheint als
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ehemals gescheiter Mann, bevor er trotz seiner Idealvorstellungen auf den falschen Weg
gerät (vgl. Neidhart 2010: Internet). Auf der Suche nach religiöser Spiritualität und
höherer Erkenntnis, durch den Wunsch „die Stimmen“ zu hören, ist er nicht mehr in der
Lage, sein ursprüngliches Ziel einer friedfertigen Agrargemeinschaft beizubehalten.
Deswegen kann Fukada bei seinem Verbesserungsversuch als gescheitert gelten. Man
kann die Darstellung der Entwicklung der Sekte als eine Art Religionskritik aufnehmen.
Allerdings spielt der Glaube eine anscheinend große Rolle. Zum Beispiel erinnert
Aomame sich immer wieder an das aufgezwungene Gebet, dass sie in ihrer Kindheit bei
den Zeugen Jehovas aufsagen musste. Sie kennt die Bedeutung nicht, aber es wird für
sie wie zu einem Mantra. Selbst, als sie am Ende in die neue Welt eintritt, erinnert sie
sich an dieses Gebet: „Unser Vater im Himmel, Dein Name werde geheiligt. Dein
Königreich komme […]“ (Murakami 2011: 564). Aomame findet letztendlich ihren
eigenen Glauben und ihr „Königreich“ in der Liebe zu Tengo. Demnach steht für
Murakami nicht der Glaube an etwas im Vordergrund, das einem durch eine bestimmte
religiöse Glaubensrichtung oder Ideologie vorgeschrieben wird, sondern der
individuelle Glaube an etwas, das einem selbst Hoffnung gibt.
Gesetz
Wie bereits erwähnt wurde, kommt der Leader mit dem Gesetz in Konflikt. Auch
Aomame und die alte Dame umgehen den Rechtsstaat, indem sie Selbstjustiz üben.
Offensichtlich wird hier Kritik am Rechtsstaat verübt, der nicht das leisten kann, was er
sollte. Nicht nur, dass das Gericht keine Urteile fällt, die von den Figuren des Romans
als wirkliche Bestrafung empfunden werden, auch dass die Polizei in keinem guten
Licht dargestellt wird, ist deutlich: „Die Typen ganz oben [bei der Polizei] haben nichts
als ihre Karriere im Kopf. Ein paar sind vielleicht anders, aber dem Großteil geht es nur
um eine sichere Laufbahn […]. Also lassen sie von vornherein lieber die Finger von
heiklen Fällen“ (Murakami 2010: 482).
Spätestens in der Szene, wo die Leiche einer Polizistin mit ihren eigenen
Handschallen an ein Bett gefesselt auftaucht, greift die Ironie. Das Gesetz wird mit
seinen eigenen Requisiten geschlagen und ist machtlos. Wo der Rechtsstaat nicht
eingreift, wird folglich selber gehandelt. Was man teils als ehrbares Ziel sehen kann,
artet jedoch im vorliegenden Fall in eine extreme Form von Selbstjustiz aus. Dabei
sehen wir, wie sich Aomame der alten Dame und ihren Ansichten trotz leisen
Bedenkens unterordnet. So denkt Aomame, als die alte Dame ihr mit heiterem Tonfall
sagt, dass die beiden das Richtige tun: „Vielleicht muss man sich das ständig selber
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vorsagen […]. Wie ein Mantra oder ein Gebet. ‚Du musst dir keine Sorgen machen. Wir
tun das Richtige‘“ (Murakami 2010: 153). Sie arbeitet, ihre individuellen Gedanken
verdrängend, sozusagen wie die Biene für ihre Königin (vgl. Imai 2009: 209).
Dieses Kapitel zusammenfassend lässt sich sagen, dass das gesellschaftliche
System als krankhaft dargestellt wird. Vieles funktioniert nicht so, wie es sollte. Dem
gegenüber stehen extreme Versuche, die Gesellschaft zu ändern und besser zu machen:
durch Selbstjustiz trotz Rechtsstaat, durch religiösen Fanatismus oder auch durch
Literatur als Waffe. Alle Seiten greifen zu fragwürdigen oder extremen Mitteln, um
Ziele zu erreichen, wenn man auch ihrer Motivation die ursprünglich gute Absicht nicht
abstreiten kann.
3.2 Die wahre Liebe als Motiv
Die wahre oder reine Liebe ist allein schon aufgrund des Aufbaus zentrales Thema des
Romans (vgl. Hirai 2010: 162-165). So ist sie zum einen Motor des Geschehens und
zum anderen Motiv der Hauptfiguren für ihr Handeln. Dies zieht sich durch den ganzen
Roman und äußert sich an vielen Stellen sehr deutlich. Rein chronologisch steht am
Anfang die Begegnung der beiden zehnjährigen Kinder, ihre abrupte Trennung über 20
Jahre und das langsame Zusammendriften ihrer getrennten Welten in der Parallelwelt
1Q84. Dies geschieht so lange, bis sie sich schließlich wieder treffen und zu einer neuen
Welt aufbrechen, die vermutlich aber ebenso fiktiv ist.
Von einigen Interpretationen wird mitunter die Verwirklichung wahrer Liebe in
unserer modernen kapitalistischen Gesellschaft in Frage gestellt: „In conclusion, in the
modern capitalist world, a story of such pure love is becoming an endangered species
and can only be accepted as a living literary creation if it is set in an hypothetical,
alternative world like 1Q84” (Shioda: 241). Hierbei müssen wir noch berücksichtigen,
dass Aomame und Tengo sich bereits als Kinder in der realen Welt 1984 kennen gelernt
haben. Und bereits hier entwickeln sie die entsprechende Zuneigung zueinander, die wir
als wahre, reine Liebe oder als Seelenverwandtschaft bezeichnen können. Die Existenz
der wahren Liebe in der modernen kapitalistischen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts
bestreitet Murakami hier sicher nicht. Ansonsten hätten die beiden ihre Gefühle
füreinander erst in der surrealen Welt 1Q84 entwickeln dürfen. Der glückliche Ausgang
der Geschichte selber mag jedoch den irrealen Charakter beibehalten. Der ist soweit
unumstößlich. Denn es stellt sich uns die Frage, ob Aomame und Tengo sich in der
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realen Welt überhaupt jemals wiedergesehen hätten. Es kann gut sein, dass die beiden
erst den Umweg gehen mussten, um am Ende überhaupt vereint zu sein. Isoliert
betrachtet erscheint der Ausgang der Trilogie zwar als eine Art Happy End, aber ein
vollkommenes Happy End ist es nicht. Dazu herrschen zu viele Zweifel. Der Leser wird
nicht so aus dem Buch entlassen, dass er sicher sein könnte, dass Aomame und Tengo
nicht auch in der neuen fiktiven Welt einige Hindernisse zu überwinden haben. So
denkt Aomame, während sie auf den einzigen Mond der neuen Welt blickt:
„Wahrscheinlich hat [diese neue Welt] ganz eigene Gefahren, Rätsel und Widersprüche.
Vielleicht müssen wir noch vielen dunklen Pfaden folgen, ohne zu wissen, wohin sie
führen“ (Murakami 2011: 570). Folglich wird Murakami hervorheben wollen, dass die
wahre Liebe seiner Meinung nach zwar real existiert, ihr aber viele Hindernisse
entgegenstehen, die es immer wieder und fortlaufend zu überwinden gilt, wobei ein
guter Ausgang fragwürdig ist. Dennoch bleibt festzuhalten, dass in dieser Trilogie die
Liebe alle ihr gestellten Hindernisse überwunden hat (vgl. Hirai 2011: 103). Was
wiederum die Wichtigkeit des hoffenden Glaubens an die Macht der wahren Liebe
unterstreicht, die Murakami hier sieht.
An anderer Stelle wird die Liebesgeschichte in 1Q84 so gedeutet, dass
Murakami damit zur Rettung der Welt durch die wahre Liebe aufrufe:
1Q84 zeigt eine Gesellschaft, die sich zum Negativen entwickelt hat. […] Der Mensch leidet an seiner Einsamkeit, ganz Japan steuert auf die Apokalypse zu. […] Der Augenblick [an dem sich Aomame und Tengo als Kinder das erste Mal begegnen und der einen Moment unvergesslicher Zuneigung verkörpert] gab ihnen Hoffnung in ihrer trostlosen Kindheit und leitet wohl auch die Rettung der Welt ein (Gebhardt 2011: 352-354).
Die Liebe hat die beiden tatsächlich vor der Einsamkeit gerettet und aus ihrem auf
Abwege geratenen Leben befreit. Denn Aomame sagt: „Hätte ich dich nur früher
wiedergesehen. Dann hätte ich nicht solche Umwege machen müssen.“ (Murakami
2011: 568). Und Tengo sagt ein wenig später: „Wir haben diese ganze Zeit gebraucht,
um zu begreifen, wie einsam wir waren.“ (Murakami 2011: 569).
Jedoch sieht es nicht so aus, als wäre nun die Welt vor einem Untergang gerettet.
Denn die ins Chaos gestürzte Welt 1Q84 existiert in einer anderen Dimension immer
noch für die Menschen, die dort leben. Und das sind alle anderen Charaktere außer
Tengo und Aomame. Demnach hat die Liebe weniger zur Rettung der Welt vor dem
Untergang beigetragen, sondern vielmehr die beiden Hauptcharaktere aus dem Unglück
ihres Lebens befreit: „Und das Glück […] war viel größer, als er [Tengo] es sich je
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vorgestellt hatte“ (Murakami 2011: 568).
Als Rettung vor dem Untergang der Welt sieht Murakami die Liebe folglich
wohl nicht zwangsläufig. Für einzelne Personen hingegen kann sie nach seiner
Überzeugung eine Lösung sein, um einen Weg in eine bessere Welt zu finden. Viel
mehr Aufmerksamkeit als dem Retten der großen weiten Welt gilt dem kleinen Glück:
„Wir bleiben hier. […] Wir drei, Tengo ich und das Kleine“ (Murakami 2011: 570).
Eine Gedankenexperiment an dieser Stelle könnte sich wie folgt darstellen: Ein
Autor, der an die Liebe als Rettung vor der Apokalypse glaubt und dieses auch
darstellen möchte, hätte ein anderes Konzept gewählt, in welchem Aomame und Tengo
zurück in das Jahr 1Q84 gehen und mit ihrer Liebe alle anderen Personen anstecken,
woraufhin die Little People verschwinden und alle glücklich und zufrieden in einer
großen Gemeinschaft weiterleben. Deswegen betrachte ich die These von der Liebe als
Rettung vor der Apokalypse der Welt als ein wenig zu weit ausgeholt. Übrigens ist die
Apokalypse auch im Roman 1Q84 nicht wirklich zu erkennen, denn diese Welt ist zwar
im Chaos, sie ist ein „Ort, an dem die Vernunft keine Macht“ hat, aber droht nicht, in
nächster Zeit unterzugehen (Murakami 2011: 563). Dazu wird das unumstößliche
Gleichgewicht von Gut und Böse zu sehr betont und auch die Little People werden nicht
als von Natur aus böse bezeichnet. Darauf werden wir im nächsten Abschnitt noch
genauer eingehen.
Vielmehr scheint den Autor hier die Thematik zweier Liebender zu interessieren,
die durch äußere Umstände getrennt sind und durch Umwege und Hindernisse wieder
zueinander finden.2.
3.3 Dystopie oder Utopie
Wenn wir im vorangegangenen Abschnitt 3.2 darauf eingegangen sind, ob die wahre
Liebe als Lösung für den Weg in eine bessere Welt gesehen werden könnte, dann haben
wir die Themen Dystopie und Utopie bereits angeschnitten. In der Literatur zeichnen
Autoren bekannterweise Utopien mit Idealfiguren, um wünschenswertes Handeln in
ausweglosen Situationen zu demonstrieren. Diese Figuren zeichnen sich durch einen
freien Willen und aktives Handeln aus. Das Ziel während der literaturgeschichtlichen
2 Dazu passt, dass er den Orpheus-Mythos bzw. die japanische Version dieses Mythos, die Geschichte von Izanagi und Izanami als seinen Lieblingsmythos angibt (vgl. Rubin 2004: 250).
15
Epoche der Klassik war, die wahre Menschlichkeit – den Humanismus –
hervorzubringen. Eine Verbesserung der Gesellschaft, so die Klassiker, kann nur
erreicht werden durch die Veränderung des Einzelnen und nicht etwa durch eine
revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft (vgl. Pohl: Internet). Ein bewusstes positives
Gegenbild zur Realität wurde gezeichnet, im Glauben an die Kraft der Idee und mit dem
Optimismus, dass man Menschen durch Literatur besser machen kann. Dem gegenüber
stehen die dystopischen Zukunftsvisionen, deren Autoren vor dem schlechtmöglichsten
Ausgang warnen, der nur vorstellbar ist. Selbst wenn sich die Figuren eines
dystopischen Romans gegen das Unglück wehren, werden sie an der Situation scheitern.
An späterer Stelle werden wir noch einmal genauer auf den dystopischen Roman 1984
von George Orwell eingehen. An diesem Punkt soll nur geklärt werden, inwiefern sich
Murakamis 1Q84 der Gattung der Dystopie oder Utopie zurechnen lässt.
Wir haben bereits erwähnt, dass die Welt 1Q84 nicht direkt vor einer
Apokalypse steht, wenngleich sehr viele Probleme bestehen. Dennoch wird das
Gleichgewicht von Gut und Böse betont: „[…] für die Welt, in der wir leben, ist es von
größter Bedeutung, dass das Verhältnis von Gut und Böse sich die Waage hält. […]
Dieses Prinzip [je mehr Macht eingesetzt wird, desto stärker reagieren die Gegenkräfte]
herrscht unterschiedslos in jeder Welt. […] Unser Schatten ist so böse, wie wir gut
sind“ (Murakami 2010: 804-805). Ausschließlich die Figuren des Romans äußern
scharfe Kritik; der Erzähler äußert sich nicht. Es ist fraglich, ob man sich moralisch über
andere erheben darf, da man selber nie reinen Gewissens sein kann. Dieses Bild spiegelt
auch die Erzählweise wider. Trotz der guten Absichten hat jeder Charakter auch
moralisch bedenkliche Seiten. Auch wenn wir die Vertreter der drei bereits
besprochenen Gruppen ordnen, erkennen wir ein Gut-und-Böse-Gleichgewicht – gute
Absicht und moralische Verstöße liegen demnach nah beieinander. Murakami zeigt uns
also vorwiegend Idealisten, die auf dem Weg zu besseren Welten aufgrund eines
Kräftegleichgewichtes den falschen Weg einschlagen, ‚unidealistisch‘ zu handeln
beginnen und so zum Scheitern verurteilt sind. Denn wie wir gesehen haben, kommen
alle Figuren auf dem Weg zur Utopie der Katastrophe gefährlich nahe. Durch ihr
Streben nach dem realitätsfernen Ideal wird das Gleichgewicht der Welt beschädigt und
ein Gegenmechanismus tritt in Kraft. Trotzdem sehen wir, wie Aomame und Tengo es
schließlich schaffen, aktiv und mit freiem Willen zu handeln und ihre Situation zu
verbessern. Aus diesen Gründen ist die fiktive Welt 1Q84 wohl weder als vollständige
Dystopie noch als Utopie zu bezeichnen.
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Zentral hierbei ist wohl, dass die größten und besten Ziele mit den schlimmsten
Folgen verbunden sind und umgekehrt. Denn das Verfolgen nicht ehrbarer Ziele hat
sogar gute Auswirkungen auf etwas anderes. Diese Vorstellungen von Gut und Böse
scheinen im Überzeugungssystem des Autors verankert zu sein.
4 Zitate aus Literatur und Musik
Allein schon die Tatsache, dass Murakami kulturelles Wissen und historische
Begebenheiten recherchiert, auf gezielte Weise mit in den Roman einfließen lässt und
so auf geschickte Weise verpackt, macht ihn sozusagen zu einem Verbreiter von Kultur
(in Bezug auf Wissen über Kunst, Literatur und Geschichte). Das passt auch dazu, dass
Murakami selber sagt, dass er etwas an die nächsten Generationen weitergeben möchte
(vgl. Neidhart 2010: Internet). Besonders junge Leute könnten sich von dieser
Schreibweise, der Verbindung der magischen Komponente mit vereinzelten
wissenswerten Bezügen zur Realität vergangener Zeiten und ihnen unbekannten großen
literarischen Werken, angesprochen fühlen. Wir können durchaus behaupten, dass
Murakami es sich zu einer Art Literaturprogramm gemacht hat, sein Wissen zu
literarischen und musikalischen Werken weiterzugeben. Natürlich könnte man auch
argumentieren, dass die Zitate aus Literatur und Kunst den alleinigen Sinn haben, die
Parallelwelten in eine magische, schicksalshafte Verbindung zu setzen und so bewusst
alleine dem Aufbau dienen. Jedoch bleibt die unbeabsichtigte oder beabsichtigte
Wirkung der Vermittlung von Wissen unumstößlich vorhanden. Auch in 1Q84 beruft
sich Murakami an sehr vielen Stellen auf Werke von Proust, C.G. Jung oder auch auf
Janáčeks Sinfonietta.
In den folgenden drei Abschnitten dieses Kapitels wollen wir aber auf drei Zitate
besonders eingehen, die zur Beantwortung der Fragestellung bedeutsam erscheinen.
Dies ist zum einen die Erzählung Die Stadt der Katzen, zum anderen der offensichtliche
Zusammenhang zu George Orwells 1984 und das zitierte Musikstück It’s only a
Papermoon.
4.1 Parallelwelten
Dieser Abschnitt der Arbeit beschäftigt sich mit der Frage, welche Bedeutung die
Parallelwelten inne haben könnten. Bei der Lektüre des Romans 1Q84 konnte ich
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zunächst nur an ein Szenario denken, bei dem das Abgleiten in die Parallelwelt bedeutet,
dass die Figuren des Romans vom rechten Weg abgekommen sind. Zunächst möchte ich
auf diese Annahme näher eingehen. Während Aomame die Parallelwelt 1Q84 nennt,
setzt Tengo die Parallelwelt mit der Geschichte von Der Stadt der Katzen gleich. Diese
Erzählung handelt von einem weit herumgekommenen Reisenden, der aus Neugier an
einem Bahnhof aussteigt, an dem sonst niemand aussteigt. Dies wird ihm aber zum
Verhängnis. Denn bald muss er bemerken, dass die Stadt – tagsüber gespenstisch leer –
des Nachts nur von Katzen bevölkert ist, welche Jagd auf den Menschen machen. Als er
am nächsten Morgen wieder aufbrechen will, merkt er, dass an dem Bahnsteig kein
einziger Zug mehr hält. Und so wird er auf ewig verloren sein in der Stadt einer
fremden Welt und sich vor den Katzen verstecken müssen (vgl. Murakami 2010: 700-
704).
Auf Grundlage dieser Geschichte könnte man sagen, dass die Parallelwelt eine
Sackgassensituation darstellen soll, in die man durch eine unbewusst verkehrte
Handlung oder Entscheidung, deren Tragweite man nicht bedacht hat, hineingeraten ist.
Dazu passt auch das Bild der Zuggleise, die sowohl in Die Stadt der Katzen als auch im
Roman 1Q84 des Öfteren erwähnt werden. Im Roman ist sehr häufig die Rede von einer
Weiche, die umgestellt wurde (vgl. Murakami 2010: 192) und man könnte so auch von
einer Entgleisung der Situation reden oder von einer aus den Fugen geratenen,
chaotischen Welt, symbolisiert durch die verzweigten, unverständlichen Parallelwelten.
Ein Hinweis, wieso die Welt aus den Fugen geraten ist, findet sich innerhalb der Puppe
aus Luft. Hiermit ist zwar der Titel des Romans im Roman gemeint, es bezieht sich aber
unter Umständen auch auf das gewobene Luftgespinst. Es ist die Rede von zwei
Systemen. Es gebe
[…] den Kapitalismus und den Kommunismus, die einander hassten und bekämpften. Beide hätten schwerwiegende Probleme, und so sei die Welt insgesamt auf den falschen Weg geraten. Der Kommunismus sei eine bedeutende Ideologie, die hohe Ideale vertrat, aber im Laufe der Zeit durch eigensüchtige Politiker verfälscht worden war (Murakami 2010: 925).
Soviel zu der ersten Hypothese. Bei Recherchen zu Annahmen anderer Interpreten
stellte sich heraus, dass es noch weitere Lesarten der Parallelwelten gibt.
Dabei stach besonders die These hervor, dass Tengo einen Roman schreibt, den
wir dann als Aomame-Kapitel zu lesen bekommen (vgl. Hirai 2010: 79-81). Dafür
spricht natürlich, dass wir aus den Tengo-Kapiteln wissen, dass Tengo nach Beenden
seiner Arbeit als Ghost Writer für Fukaeri einen eigenen Roman angefangen hat, indem
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ebenfalls zwei Monde am Himmel und die Little People vorkommen sollen. Diesen
Roman, den Tengo zu schreiben im Begriff ist, bekommen wir aber niemals zu lesen –
vorausgesetzt, er schreibt nicht, was Aomame erlebt. Wenn man die Geschichte auf
diese Weise lesen, dann wird man gezwungen, das Ende so zu deuten, dass das, was
Tengo aufschreibt, auf geheimnisvolle Weise wahr wird, oder dass sich beide am Ende
nur in einer Art Traumwelt treffen können (vgl. Hirai 2010: 84). Das ist sicher ein
interessantes Szenario, allerdings gibt es auch Gegenargumente dazu. Hirai sieht ein
Gegenargument in der Tatsache, dass Ushikawa im dritten Band der Trilogie
hinzukommt. Denn der Figur Ushikawa als dritter Erzählperspektive sind sowohl
Aomame als auch Tengo als reale Figuren bekannt (vgl. Hirai 2010: 81). Weiterhin
kann man hinzufügen, dass Tengo erst sehr spät mit dem Schreiben seines eigenen
Romans anfängt. Zu dieser Zeit ist der Sektenführer Fukada schon längst von Aomame
umgebracht worden. Außerdem besteht eine zeitgleiche Verbindung, als Tengo in der
Puppe aus Luft die zehnjährige Aomame sieht, nach ihr ruft und Aomame diesen Ruf
hört und ihren Suizidplan aufgibt. Aus diesen Gründen erscheint in Konfrontation mit
dem Romaninhalt die erste Hypothese als stimmiger.
Die Szene, wie die beiden Hauptcharaktere am Ende zusammen die Leiter zu der
Stadtautobahn hinaufklettern und so aus dem Jahr 1Q84 bzw. aus der Stadt der Katzen
entkommen können, verdient ebenfalls Aufmerksamkeit. Sie nehmen den gleichen Weg
zurück – verlassen also unsere metaphorische Sackgasse – aber nur auf dem Weg, den
Aomame gekommen ist. Tengo ist die Leiter nicht hinuntergegangen und trotzdem in
der neuen Welt gelandet. Er nimmt nur seinen unfertigen Roman mit, da er ihn für noch
brauchbar hält. Wie ist Tengo in die Parallelwelt geraten? Eine These, die wir hier
untersuchen könnten, ist, dass Aomame in die Parallelwelt hineingeraten ist, als sie sich
der alten Dame verschrieben hat, während Tengo in die Stadt der Katzen geriet, als er
sich Komatsus Willen unterordnete und nicht seine eigene Geschichte, sondern die
Geschichte einer anderen schrieb3. In dem Fall könnte man folgern, dass jemand, der
nicht seine eigene Geschichte schreibt, seine Individualität und Selbstständigkeit aufgibt
(vgl. Koyama 2010: 37). Die Fehlleitung führt dazu, dass man in einer Geschichte
landet, die nicht die eigene ist (siehe Kapitel 4.2). Das würde untermauern, dass
Aomame und Tengo sich bereits als Kinder gegen die Zwänge ihrer Umgebung
erfolgreich gewehrt haben. Letztendlich schaffen sie es, einer gemeinsamen Zukunft zu
folgen, was für sie als Kinder nicht möglich war.
3 Auf eine dementsprechende Unterhaltung zwischen Fukaeri und Tengo wird in Kapitel 4.2 eingegangen.
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An dieser Stelle soll aber auch noch einmal auf eine bereits in Kapitel 3.2
genannte Überlegung hingewiesen werden: Die dritte Parallelwelt wäre demnach
stilistisch notwendig, um die Irrealität des glücklichen Ausgangs zu unterstreichen, der
ohne Umweg über eine surreale Welt nicht zustande gekommen wäre. Generell kann
man wohl auch behaupten, dass ohne die surrealistische Komponente viele Metaphern,
Personifikationen und Symbole nicht verwendet werden können. Somit kann der
Gebrauch der Parallelwelten auch als notwendiges Stilmittel erscheinen, um zum
Beispiel die Little People zum Leben zu erwecken.
4.2 Die Little People
In diesem Abschnitt beschäftigen wir uns mit einen Vergleich von George Orwells
Figur Big Brother mit den Little People. Wenn wir das Bild der Little People
entschlüsseln wollen, dürfen wir den Vergleich zu George Orwells Roman 1984 nicht
auslassen. Zum einen impliziert der Titel des Romans 1Q84 eine Verbindung zu George
Orwells dystopischem Roman 1984. Das ergibt sich aus der phonetischen
Gemeinsamkeit, denn der Buchstabe „Q“ ist dabei phonetisch identisch mit der
japanischen Lesung der Zahl „9“. Zum anderen wird Orwells Roman in der Trilogie
auch mehrmals explizit angeführt. Zunächst einmal von Fukaeris Vormund Professor
Ebisuno. Dieser erwähnt im Gespräch mit Tengo Orwells Werk und den darin
auftretenden „Big Brother“ als Sinnbild für den totalitären Überwachungsstaat einer
dystopischen Zukunft. Die beiden unterhalten sich über die Little People, als Ebisuno
sagt:
George Orwell lässt in 1984 […] den Großen Bruder auftreten. Bei ihm ist das eine Allegorie für den Stalinismus, und der Begriff ‚Big Brother‘ ist seither das Sinnbild für eine totalitäre Gesellschaft schlechthin. Heute, im realen Jahr 1984, ist der Große Bruder so berühmt, dass er zugleich transparent geworden ist. […] in unserer Welt gibt es keine Bühne mehr für den Big Brother. Stattdessen treten nun Wesen wie die Little People auf den Plan […]. Wir wissen nicht einmal, ob sie gut sind oder böse, ob es sie wirklich gibt oder nicht. Doch anscheinend untergraben sie unmerklich den Boden unter unseren Füßen (Murakami 2010: 416 f.).
Auch Fukaeri und Tengo unterhalten sich an anderer Stelle über George Orwells Werk
und heben vor allem das Umschreiben der Geschichte kritisch hervor, wie sie im
Kontrollstaat Orwells stattgefunden hat. Tengo kommentiert anschließend: „Menschen
ihrer wahren Geschichte zu berauben ist das Gleiche, wie ihnen einen Teil ihrer
20
Individualität zu rauben. Das ist ein Verbrechen“ (Murakami 2010: 452).
Aus diesen beiden Szenen können wir ableiten, was die Little People
möglicherweise personifizieren sollen. Einerseits sind sie keine Diktatur mit einem
Oberhaupt. Sie sind viele und untergraben die Gesellschaft. Sie sind in der Regel
unsichtbar und könnten somit auch als Symbol für Vorgänge in der Gesellschaft gelten,
die wir in der Regel nicht mitbekommen, da sie sich unserer Wahrnehmung entziehen.
Wenn wir uns ferner dem Wortspiel hingeben, dass das Gegenteil von groß eben klein
ist und das Gegenteil von totalitärer Kontrolle wohl einen Weg in die Anarchie bedeutet,
dann könnten wir der Sache wahrscheinlich näher kommen. Anarchie muss nicht
zwangsweise bedeuten, dass jeder nur das tut, was ihm gefällt. Und wenn wir uns
erinnern, wie der Rechtsstaat von den auftretenden Charakteren umgangen wird, sie in
einer parallelen Welt, die der Normalbürger nicht bemerkt, Urteile am Rechtsstaat
vorbei fällen, dann erscheint es mir so, dass die Little People und die mit ihnen
aufkommende Parallelwelt genau diese Situation darstellen soll. Eine These wäre, dass
Murakami vermitteln will, dass der Big Brother keine Gefahr mehr darstellt. Mehr
Aufmerksamkeit verdienen die kleinen, unscheinbaren Vorgänge, die die Gesellschaft
zerfressen und einen Weg in die Anarchie eröffnen, indem sich Parallelwelten bilden,
die sich abschotten und deren Zugehörige Selbstjustiz üben. Dies stellt allerdings eine
vorläufige Interpretationshypothese meiner Basisarbeit dar und müsste noch mit dem
Roman-Inhalt abgeglichen werden.
Andere Deutungen besagen, dass die Little People die Japaner selber bzw. die
japanische Gesellschaft darstellen sollen. Begründet wird dies anhand des Namens
selbst oder auch aufgrund der abhängigen, unreflektierten Gruppenmentalität, die unter
den Little People herrscht. Dieser Mentalität entsprechend, tauchen sie nie alleine auf,
und wenn einer der kleinen Leute etwas sagt, stimmen die anderen mit ein. Weiterhin
weisen die Little People keine individuellen äußeren Eigenschaften auf (vgl. Koyama
2010: 205-208). Diese Deutungen schließen die oben genannte Interpretationshypothese
aber nicht aus. Vielmehr könnte man noch dazu sagen, dass die japanische Gesellschaft
sich in den Augen Murakamis wahrscheinlich selber untergräbt, indem sie sich Gruppen
anschließt und dabei ihre Individualität aufgibt (vgl. Murakami 2010: 417; Koyama
2010: 207).
Das Thema Individualität und die Wichtigkeit, seine eigene Geschichte zu
schreiben, kristallisiert sich auch in dem Bild von Original und Doppelgänger heraus, so
wie es in der von Fukaeri erlebten und von Tengo überarbeiteten Geschichte Die Puppe
21
aus Luft der Fall ist. So wäre es zum Beispiel möglich, die Trennung von Original und
Klon als Metapher für den Verlust des eigenen Selbst zu interpretieren (vgl. Imai 2009:
208). Dies ließe sich auch mit dem oben zitierten Kommentar Tengos zur
Geschichtsumschreibung in Verbindung setzen. Weiterhin könnte für eine Aufteilung
des eigenen Selbst könnte die Tatsache sprechen, dass nach Ushikawas Tod die Little
People aus seinem Mund treten, mit dem Weben beginnen und „sich ein Teil
[Ushikawas] Seele in eine Puppe aus Luft“ verwandelt (Murakami 2011: 539).
4.3 Zwischen Realität und Fiktion
Der Schlager It’s only a Papermoon und sein Text tauchen zunächst unscheinbar auf,
werden aber immer wieder zitiert (vgl. Murakami 2010: 803). Dies ist auch im letzten
Kapitel der Trilogie der Fall. Deswegen muss ihm eine Bedeutung zugemessen
werden(vgl. Hirai 2010: 94). Während Aomame und Tengo zusammen die Treppe zur
Stadtautobahn hinaufsteigen, ruft sie sich dieses Lied wieder ins Gedächtnis, dessen
Text auch der Leader vor seinem Tod zitiert hat:
It’s a Barnum and Bailey world
Just as phony as it can be
But it wouldn’t be make-believe
If you believed in me4.
(Murakami 2011: 558)
Aomame macht sich damit selber Mut, dass Tengo und sie aus der Parallelwelt
entkommen können: „Sie mussten […] aus dieser Welt entkommen. Dazu musste sie
aus tiefsten Herzen glauben […]. Was auch geschieht, Tengo und ich müssen mit
vereinten Kräften dafür sorgen, dass es wahr wird“ (Murakami 2011: 557-558).
Tatsächlich schaffen es Tengo und Aomame dann zusammen, aus der
Parallelwelt zu entkommen. Auch in der neuen Welt spielt der Glaube eine Rolle: „Sie
wollte an dieses Lächeln glauben. Es war wichtig“ (Murakami 2011: 571).
Die Fantasie wird somit zur Realität, wenn man nur stark genug daran glaubt.
Das scheint Murakami hier sagen zu wollen. Gleichzeitig untermauert er erneut die
Wichtigkeit des Glaubens an sich selbst. Beziehen wir den Aspekt „Fantasie wird durch
4 In der japanischen Version wurde der Text übersetzt mit: „Doch wenn du an mich glaubst, wird alles wahr“ (vgl. Hirai 2010: 93; Murakami 2011: 558).
22
Glauben zur Realität“ auf die zuvor gestellte Frage, ob die Geschichte einer wahren
Liebe als irreal dargestellt wird, so sehen wir, dass dies wiederum die Hypothese
unterstützt, dass Murakamis Meinung nach der Glaube an die Verwirklichung der
wahren Liebe nicht aufgegeben werden darf.
Der letzte Satz des letzten Buches ruft das Musikstück wieder in Erinnerung
rufen. Tengo und Aomame stehen Hand in Hand und betrachten „den Mond über der
Stadt, bis er in der aufgehenden Sonne seinen nächtlichen Glanz verlor und sich in einen
grauen Papierschnipsel verwandelte“ (Murakami 2011: 571). An dieser Stelle eröffnet
sich ein interessanter Kontrast: Die alte Dame und Fukada haben sich ihren
Glaubenssätzen über die Wirklichkeit verschrieben und von der Realität entfernt.
Symbol hierfür ist die surreale Verdopplung des Mondes am Himmel. Aomame und
Tengo haben an die Fantasie geglaubt und diese verwirklicht. Symbol ist der Mond, der
wieder zu dem wird, was er sein muss: ein banaler, realer, einfacher Gegenstand. Oder
spricht doch mehr dafür, dass der Text des Schlagers die Irrealität des Ausgangs
beschreibt und alles ist doch nur ein Traum? Ein Rätsel, dessen Lösung zwischen
Realität und Fiktion vorerst untergeht und das noch anhand eines Optionenvergleiches
diskutiert werden müsste.
5 Weitere Aspekte der Deutung
Viele Rezensionen gehen den Schritt, eine biographische oder historische Verbindung
zu nennen, am Anfang. Wir sind diesen Schritt zuletzt gegangen, um eine aneignende
Interpretation möglichst zu vermeiden. Für ein tieferes Verständnis der Textaussage und
zum Bekräftigen bzw. Entkräften von Annahmen zum Textkonzept ist eine
Aufarbeitung durchaus nützlich. Im Folgenden werden wir also beispielhaft sehen, wie
Biographie, Werk und historischer Hintergrund in 1Q84 wiederzuerkennen sind.
5.1 Autor und Werk
In diesem Abschnitt möchte ich kurz darauf eingehen, warum 1Q84 wohl häufig als
tiefgangslos bezeichnet wird und diese Gründe noch einmal mit Gegenargumenten
konfrontieren. Anschließend soll noch einmal auf Überzeugungen Murakamis
eingegangen werden, die sich im Roman 1Q84 widerspiegeln.
Ein Grund dafür, warum von japanischer Seite das Werk als nutzlos bezeichnet
23
wird, liegt möglicherweise an den festgelegten Ansichten, welche Werke Anspruch auf
eine tiefere Bedeutung haben – und welche nicht: Bei einer übernatürlichen Geschichte
mit Parallelwelten ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass der Leser den Eindruck
bekommt, es wäre nicht nötig, den Roman als ernsthafte Geschichte zu lesen (vgl. Hirai
2010: 89). Desweiteren wird davon gesprochen, dass die japanische Literatur seit ihren
Anfängen bis zur Gegenwart eine Art Verweltlichung (jap. genseka) durchlaufen ist; die
reine Literatur (jap. jumsui-na bungaku) des Realismus‘ dem Surrealismus immer mehr
vorgezogen wurde. Literatur anderer Form wird wohl aufgrund dieser Entwicklung
weniger geschätzt (vgl. Hirai 2010: 89ff).
Ein weiterer Grund wird sein, dass der Leser hofft, im dritten Band alle
Antworten auf seine Fragen zu bekommen. Aber er wird enttäuscht und praktisch mit
dem gleichen Wissen wie zu Beginn der Lektüre aus dem Buch wieder entlassen. Das
ist bei Murakami jedoch kein seltenes Phänomen und gehört zu seinem
Literaturprogramm. Natürlich kann es sein, dass Murakami die Antworten selber gar
nicht kennt. Dieser Punkt wird gerne für scharfe Kritik verwendet. Doch selbst wenn er
die Antworten nicht kennt, kann das auch als Hinweis darauf gesehen werden, dass
Murakami davon überzeugt ist, dass Menschen nicht immer erwarten dürfen, Antworten
auf alle Fragen des Lebens zu bekommen. Eine Sache, die auch Tengo lernen muss, als
der Vater das Geheimnis um Tengos Herkunft mit ins Grab nimmt. Des Weiteren wäre
da der Aspekt, dass Murakami den Leser dazu bewegen möchte, selber nachzudenken
und nicht alle Antworten als gegeben zu betrachten. Denn „Murakami appelliert an
seine Leser, eigenständig zu denken, statt einfach unkritisch das Konzept zu
übernehmen, das eine Religion, eine Gesellschaft oder ein Staat ihnen anbietet, wie
anerkannt und normal es auch erscheinen mag“ (Rubin 2004: 268). In vorherigen
Kapiteln haben wir schon die Thematik des Nicht-selber-Denkens berührt, wenn wir
von den Abhängigkeiten der Romanfiguren gesprochen haben. Auch Aomame und
Tengo müssen sich unabhängig vom Denken anderer machen, bevor sie ihren eigenen
Weg gehen können. Letztendlich kann man die vielen Fragen und verzwickten Rätsel
auch als Widerspiegelung der ins Chaos geratenen Welt sehen: Murakami sagt dazu im
Interview, dass die Welt heute fast aussieht wie eine Fantasiewelt und die Gegenwart
irreal erscheint. Wir sind verloren und finden keinen neuen Sinn in einer Zeit, in dem
Ereignisse die Welt ins Chaos stürzen, ganz genau wie in einem seiner Bücher (vgl.
Neidhart 2010: Internet).
Teils mag Murakami auch selber dazu beigetragen haben, dass seine Werke oft
24
als reine Unterhaltungsliteratur abgetan werden. So hat er in frühen Interviews zum
Beispiel selber behauptet, dass es in seinen Texten Symbole gebe und abgelehnt, diese
Bilder genauer zu erläutern (vgl. Rubin 2004: 46).
Dass seine Werke sich aber über die Jahre hinweg thematisch auch auf
historische und politische Themen hin bewegt haben, ist jedoch nicht zu leugnen.
Mittlerweile äußert er sich in Interviews auch entsprechend anders. Abgesehen davon,
dass er die Wichtigkeit, etwas weiterzugeben, betont, sagt er im Interview, dass er mit
1Q84 der jungen Generation zeigen wollte, was Idealismus bedeutet. Bei den
Sektenmitgliedern und der alten Dame handele es sich um fehlgeleitete Idealisten (vgl.
Neidhart 2010: Internet). Jedoch bedeutet dies nicht, dass er einen Standpunkt gegen
den Idealismus einnimmt, denn in einem anderen Interview sagt er: „The problem with
the nuclear plant in Japan is the absence of idealism. I think the next ten years should be
the years of idealism again. […] Capitalism is on the turning point right now; we have
to seek for the revival of humanism“(CNA 2011: Internet). Der Roman 1Q84 spiegelt
diese Haltung in einer gewissen Form wider5.
In der vorangegangenen Analyse des Romans wurde festgestellt, dass die alte
Dame und der Sektenführer Fukada – nun von Murakami als fehlgeleitete Idealisten
bezeichnet – eigentlich hohe Ziele auf moralisch bedenkliche Weise verfolgen, bzw.
dabei vom Weg abgekommen sind. Jedoch sehen wir auch, dass die Gesellschaft alles
andere als ideal zu nennen ist. Somit sind die fehlgeleiteten Idealisten wohl auch als
Produkt der defizitären Gesellschaft zu sehen. Murakami geht sogar soweit, dass wir
Verständnis für die alte Dame und Fukada entwickeln können. So sieht kein Feldzug
gegen den Idealismus aus. Vielmehr scheint es passend zu sein, dass Murakami das
Streben nach Idealen befürwortet, aber davor warnen möchte, dass Menschen dabei
Gefahr laufen, sich in einer verzerrten Wahrnehmung zu verlieren6.
Folgende Überzeugungen Murakamis spiegeln sich außerdem in 1Q84 wider.
Der am 12. Januar 1949 in Kyoto geborene Murakami entwickelte sich irgendwann zu
einem unbeugsamen Individualisten und hat seither die Zugehörigkeit zu einer Gruppe
konsequent gemieden (vgl. Rubin 2004: 27). Das ist sicher mit ein Grund, warum die
Little People als Symbol für die individualitätsaufgebende Gruppenmentalität gesehen
werden. Murakami fühlt sich außerdem zu keiner Religion hingezogen und glaubt nicht
5 Siehe dazu auch Kapitel 4.1 und Kapitel 3.3, in denen bereits auf Idealismus und Humanismus eingegangen wurde. 6 Ideologien verzerren die Wahrnehmung, indem der jeweiligen Weltanschauung widersprechende empirische Befunde geleugnet werden (vgl. Willke 2006: 57).
25
an die Existenz eines Gottes (ebd.: 146). Darum sehen wir, dass das Gebet, dass
Aomame immer aufsagt, wörtlich keine Bedeutung hat, aber sich für sie eine Art des
persönlichen Glaubens eröffnet. In einem Interview im tatsächlichen Jahres 1984 sagt
Murakami, ihm fehle die Zuversicht, die die Nachkriegsgeneration seiner Eltern hatte,
dass die Welt nur besser werden kann (ebd.: 203). Diese Aussage können wir
gleichsetzen mit den leisen Zweifeln, die trotz des vorerst positiven Ausgangs der
Trilogie nicht ganz verschwinden.
Das nächste Kapitel wird sich mit dem historischen Hintergrund
auseinandersetzen, der Murakami deutlich beeinflusst hat.
5.2 Historischer Hintergrund
Ein Phänomen des 19. und 20. Jhs. sind die modernen synkretistischen Religionen, die in den letzten Jahrzehnten zuerst in den USA (Mormonen, Zeugen Jehovas) und später in Japan (Soka Gakkai [sic!]) und Korea (Vereinigungskirche oder Moon-Sekte) entstanden sind. […] In allen Industrieländern sind in den letzten Jahren ferner neue Kulte aufgetreten, die ihre Anhänger systematisch in psychische Abhängigkeit bringen und von der Außenwelt abschirmen, verbunden mit der Verehrung des jeweiligen Oberhaupts. Von diesen mit modernen Psycho-Techniken arbeitenden Organisationen fühlen sich vielfach gerade gut ausgebildete und wohlhabende Menschen angezogen. […] Bei einigen Gruppen haben sich solche Kollektivempfindungen bis zu kollektiven Mord- und Selbstmord-Aktionen zugespitzt, in die die Führer ihre Anhänger unter Wahnvorstellungen hineinmanipulieren. Derartige Aktionen haben in den USA, in Japan, Europa und Afrika stattgefunden und zeigen religiöse Erlebnis-Bedürfnisse an, die von den traditionellen Religionen oder anderen Vergemeinschaftungsformen anscheinend nicht erfüllt werden. (Woyke 2008: 559)
Im Frühjahr 1995 ereignete ein terroristischer Giftgasanschlag mit Sarin-Kampfstoffen
in der Tokioter U-Bahn, der von Mitgliedern der extremistischen Sekte AUM-Shinrikyô
eingeleitet wurde (vgl. Woyke 2008: 436). Murakami, der sich zu dieser Zeit bereits
mehrere Jahre im Ausland aufgehalten hatte, kehrte u.a. aufgrund dieses Ereignisses
nach Japan zurück7, Murakami zeigte, durch die Geschehnisse beeinflusst, mit den
darauf folgenden Werken eine neue Ernsthaftigkeit. In Folge interviewt er Opfer des
Anschlags und ehemalige Mitglieder der Sekte und veröffentlichte diese Interviews in
dem Werk Untergrundkrieg. So ist es auch nicht verwunderlich, dass eine Parallele zu
der fiktiven Sekte im Roman 1Q84 und dem Giftgasanschlag 1995 gezogen wird: 7 Ein weiteres Ereignis, dass Murakami zu der Zeit getroffen hat, war das Erdbeben von Kobe, das sich nur kurze Zeit vor dem Giftgasanschlag ereignete. Beide Ereignisse gehören mit zu den schwersten Katastrophen der japanischen Nachkriegsgeschichte (vgl. Rubin 2004: 259).
26
„1Q84 zeigt eine japanische Gesellschaft, die sich zum Negativen entwickelt hat.
Murakami beschreibt die nahe Vergangenheit der 1980er Jahre als Ausgangszone
bedrohlicher Verwerfungen, die sich im Bewusstsein des Lesers bis in die AUM- und
Post-AUM-Ära, d.h. bis in die Jetztzeit fortsetzen.“(Gebhardt 2012: 352). Dass der
Roman in Japan als Post-AUM-Roman gesehen wird (ebd.), mag in Anbetracht von
Murakamis Biographie schlüssig erscheinen, hat er sich doch ausgiebig mit dem
Giftgasanschlag von 1995 auseinandergesetzt. Allerdings muss, weil Murakami sich mit
einer Sekte 1995 biographisch konfrontiert gesehen hat, er beim Schreiben eines
Romans, der 1984 spielt und den er über 15 Jahre nach dem Anschlag schreibt, nicht
unbedingt an eben diese Sekte gedacht haben. Dafür sprechen jedoch folgende zwei
Begebenheiten: Der Aufruhr, den die Little People mit ihrem Gewitter im
Straßenverkehr und in der U-Bahn veranstalten, erinnert an den Giftgas-Anschlag in der
Tokyoter U-Bahn (vgl. Murakami 2010: 850). Außerdem tragen in der japanischen
Version die Vorreiter den Namen Sakigake8. Auffällig ist hier die lautliche Ähnlichkeit
der tatsächlich existenten Sekte Sôkagakkai (jap. Gesellschaft zum Schaffen von
Werten), den Erzrivalen der AUM-Shinrikyô. Diese beiden Punkte sprechen womöglich
für eine gedankliche Verbindung zwischen realen Ereignissen und Romangeschehen. In
dem Werk Untergrundkrieg macht Murakami deutlich, dass der
individualitätsfeindliche Druck der japanischen Gesellschaft […] hochgebildete, ehrgeizige, idealistische junge Menschen dazu verleiten [kann], die ihnen versprochenen Aussichten in den Wind zu schlagen und sich unter der Führung irregeleiteter religiöser Führer auf die Suche nach Herausforderungen mit einem unbekannten Potential zu begeben. Auf ähnliche Weise hatten vor dem Zweiten Weltkrieg junge Angehörige der japanischen Bildungselite die Positionen ausgeschlagen, die ihnen die Gesellschaft anbot, und sich stattdessen im Namen utopischer Axiome, die die blutige Realität verschleierten, dem irregeleiteten Abenteuer ihrer Regierung in der Mandschurei angeschlossen. Der größte Unterschied zwischen Opfern und Tätern besteht darin, dass Letztere verzweifelt genug sind, etwas gegen die Leere zu unternehmen, die alle empfinden (Rubin 2004: 263).
In einem Interview mit der New York Times im Oktober 2001 nach dem Anschlag auf
die Twin Tours vergleicht Murakami die abgeschlossene Welt der AUM-Sekte mit der
fundamentalistischer Gruppen. In beiden Fällen „gibt es, wenn man Fragen hat, immer
jemanden, der darauf eine Antwort parat hat. Auf gewisse Weise sind die Dinge sehr
einfach und klar, und man ist glücklich, solange man glaubt. […] Im alltäglichen Leben
8 Sakigake lässt sich auch mit „Vorbote“, „Wegbereiter“ oder als Verb (sakigakeru) mit „seiner Zeit voraus sein“ übersetzen.
27
jedoch, mit seinem stets offenen Ende, sind die Dinge sehr unvollständig […]“ (Rubin
2004: 267). Genau aus diesem Grund, so kann man annehmen, enden Murakamis
Geschichten in offenen Enden und die Fragen, die aufgeworfen werden, werden nicht
vom Autor selbst beantwortet. Der Leser soll sich vom Autor nicht das Denken
abnehmen lassen. Weitere Verbindungen zum Romangeschehen in 1Q84 kann man also
auch im Hierarchie-System der Sekte, im unselbstständigen Handeln der Mitglieder
sehen. Die Abschottung der Sekte von der Außenwelt könnte man auch mit der Bildung
von Parallelwelten vergleichen.
6 Annahmen zum Textkonzept und Fazit
Als Ergebnis der vorangegangenen Analysen lassen sich folgende Punkte nennen: Eine
mögliche Aufgabe konnte festgestellt werden, die Murakami mit Literatur in
Verbindung bringt. Dies stellte sich als die Weitergabe von Wissen an nachfolgende
Generationen heraus. Murakami schreibt also durchaus mit der Absicht, auf die
Vorstellungen seiner Leser positiv einzuwirken. Murakamis Werke haben sich
dementsprechend mit der Zeit auch geschichtlich, politisch und gesellschaftlich
brisanteren Themen zugewendet. Als eine Aufforderung an den Leser können wir die
offen bleibenden Fragen verstehen. Der Leser soll sich das eigene Denken nicht vom
Autor abnehmen lassen und wie die Figuren in Murakamis Romanen akzeptieren lernen,
dass es nicht immer Antworten auf alle Fragen geben kann.
In Bezug auf das Textkonzept können wir vorläufig folgende Synthese bilden:
Der Text ist angelegt als Hinweis darauf, dass die Gefahr eines totalitären
Kontrollstaates, in dem die Liebe keine Macht hat, in weite Ferne gerückt ist.
Rückblickend geht die Gefahr aus von einem gesellschaftlichen System, welches
dadurch aus den Fugen geraten ist, dass das Streben vereinzelter Personen nach hohen
Idealen den Blick für die Realität verlieren lässt. Dies hat moralisch verwerfliche
Handlungen zur Folge. Der Autor zeigt uns die Andeutung einer Lösung. Nicht durch
Egoismus, Machtanhäufung, Unterordnung oder Selbstjustiz, durch extreme Umsetzung
idealistischer Vorstellungen kann die Welt besser werden. Ein erster Schritt in eine neue
Welt mag hingegen die Selbstlosigkeit der wahren Liebe, die wahre Menschlichkeit sein.
Den Glauben daran dürfen wir nicht verlieren, egal wie irreal diese Vorstellung sein
mag. Denn nur so kann sie auch Wirklichkeit werden. Murakami grenzt somit einen
fehlgeleiteten Idealismus vom bevorzugten Humanismus ab.
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Diese Annahme zum Textkonzept ist wie gesagt nur als vorläufig zu betrachten.
Weitere Nachforschungen und eine detailreiche Konfrontation mit dem Text selbst sind
an dieser Stelle nötig, um die Interpretationshypothese weiter einzugrenzen oder
entsprechend auszubauen.
Ganz gleich aber, für welche Lesung wir uns letztendlich entscheiden: Es lässt
sich sagen, dass wir Murakamis Trilogie 1Q84 einen gewissen Tiefgang nicht
absprechen dürfen. Was die Deutung des Romans betrifft, so konnte sich einer
aussichtsreichen Hypothese zum Textkonzept angenähert werden. Nichtsdestotrotz
müssen die aufgestellten Thesen zur Interpretation noch einmal im Detail mit dem
Roman-Inhalt abgeglichen werden, um mögliche Denkfehler zu erkennen oder bislang
übersehene Aspekte hinzuzuziehen. Dies wird Aufgabe weiterer literarischer Forschung
sein.
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7 Quellenangaben
Literaturquellen
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Zweikampf von Heinrich von Kleist“
http://www.mythos-magazin.de/methodenforschung/js_kleist.pdf [Stand: 20.11.2012.]
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