Nach intelligenten Lösungen suchen

1
© 2006 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim www.phiuz.de 3/2006 (37) | Phys. Unserer Zeit | 107 | EDITORIAL P hysik und Politik haben wenig miteinander zu tun. Auf den ersten Blick jedenfalls. Doch wir wissen: Spätestens seit Los Alamos haben auch die Naturwissenschaften ihre akade- mische Unschuld verloren. Und spätestens Friedrich Dürren- matt mit seinen „Physikern“ und Robert Jungk in „Heller als tau- send Sonnen“ haben gezeigt, dass nicht alles, was wissen- schaftlich und technisch machbar ist,auch gesellschaftlich ak- zeptabel und zukunftsfähig ist.Kurz:Technik ist kein neutraler Prozess; in ihn fließen immer kulturelle Werturteile und wirt- schaftliche Interessen ein. H eute stehen wir vor neuen Herausforderungen,besonders im Bereich der Energie- und Rohstoffversorgung. Die sichere, kostengünstige und umweltverträgliche Nutzung von Energie ist eine Schlüsselfrage des 21. Jahrhunderts, die sich in zunehmender Schärfe stellt. Das be- deutet: Das Land, das diese Aufgabe bewältigt, wird wirtschaftlich stark, technologisch innovativ und inter- national führend sein. Die Alterna- tive ist klar: Wenn es nicht zu Ein- sparen, Effizienzsteigerung und zum weiteren Ausbau Erneuerbarer Ener- gien kommt,werden der zunehmen- de Energiehunger der Industriena- tionen und der rasant wachsende Energiebedarf der großen, bevölkerungsreichen Schwellenlän- der, die jetzt mit Nachdruck ihre nachholende Industrialisie- rung forcieren, schon bald zerstörerische Folgen annehmen. K limawandel,Ressourcenknappheit und zunehmende Ver- teilungskonflikte gefährden nicht nur Ökonomie und Be- schäftigung, sondern langfristig auch die Grundlagen eines welt- weit friedlichen Miteinanders. Auch für die Energieversorgung gilt, was Albert Einstein auf die Atomwaffen bezogen hat: Die Welt verändert sich schneller als das Denken und Handeln des Menschen. Deshalb müssen wir den lähmenden Widerspruch zwischen dem Wissen über die Zukunftsgefahren und den all- täglichen Handlungen überwinden. D ennoch ist ermutigend, dass es auch positive Entwick- lungen gibt. Das zeigt besonders der Ausbau der Erneu- erbaren Energien in Deutschland, der in diesem Heft beschrie- ben wird.Wind- und Wasserkraft,Solarenergie,die energetische Nutzung von Biomasse und der Geothermie stellen heute einen nicht mehr zu vernachlässigenden Anteil an der deutschen Energieversorgung dar. 10,4 Prozent des Stroms und 4,6 Pro- zent der Primärenergie stammen derzeit aus regenerativen Quellen. Die Branche beschäftigt bereits 157 000 Menschen, setzte im Jahr 2005 rund 16 Milliarden Euro um und vermied die Emission von 83 Millionen Tonnen klimaschädlichen Koh- lendioxids in die Atmosphäre. E rneuerbare Energien haben jedoch – darüber besteht in der Wissenschaft Einvernehmen – nur dann eine Chance, wenn wir gleichzeitig nach intelligenten Lösungen suchen,die Ansprüche an Lebensqualität und Komfort mit bedeutend we- niger Energie zu befriedigen.Wir müssen den Energieverbrauch insgesamt deutlich reduzieren, weit über die einfache Ent- kopplung von Energiewachstum und Wirtschaftswachstum hin- aus. Das ist möglich, wenn wir – wie in der Koalitionsverein- barung der Bundesregierung festgelegt – die Energieprodukti- vität bis zum Jahr 2020 mindestens verdoppeln. D as magische Dreieck unserer Energiepolitik besteht aus Ver- sorgungssicherheit, Wettbewerbs- fähigkeit und Umweltverträglich- keit. Diese Ziele zu erreichen und dauerhaft zu sichern, erfordern hohe Innovationskraft und mehr europä- ische Zusammenarbeit. Aber sie sind notwendig, denn nur so können wir mehr Freiheit verwirk- lichen und Frieden,Wohlstand und Demokratie bewahren. D ie Entwicklungen machen Mut. Sie werden sich durch- setzen,wenn sich die Energiepolitik zunehmend von den überkommenen Denkmustern löst. Sie braucht Klarheit, Ver- nunft und Rationalität. Erneuerbare Energien sind Teil des Prinzips einer neuen Energie- und Rohstoffintelligenz. B undesumweltminister Sigmar Gabriel wird alles dafür tun, dass diese neuen Wege zügig beschritten werden. In der Energiepolitik befinden wir uns heute an einem Scheideweg. Die ökologische Modernisierung der Energieversorgung wird eine gewaltige Kraftanstrengung sein. Lassen Sie uns gemein- sam diese Herausforderung meistern – Politiker ebenso wie Physiker. Nach intelligenten Lösungen suchen Michael Müller ist Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. WIR MÜSSEN DEN ENERGIEVERBRAUCH WEIT ÜBER DIE EINFACHE ENTKOPPLUNG VON ENERGIEWACHSTUM UND WIRTSCHAFTSWACHSTUM HINAUS REDUZIEREN.

Transcript of Nach intelligenten Lösungen suchen

Page 1: Nach intelligenten Lösungen suchen

© 2006 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim www.phiuz.de 3/2006 (37) | Phys. Unserer Zeit | 107

| E D I TO R I A L

Physik und Politik haben wenig miteinander zu tun. Auf den

ersten Blick jedenfalls. Doch wir wissen: Spätestens seit

Los Alamos haben auch die Naturwissenschaften ihre akade-

mische Unschuld verloren. Und spätestens Friedrich Dürren-

matt mit seinen „Physikern“ und Robert Jungk in „Heller als tau-

send Sonnen“ haben gezeigt, dass nicht alles, was wissen-

schaftlich und technisch machbar ist, auch gesellschaftlich ak-

zeptabel und zukunftsfähig ist. Kurz:Technik ist kein neutraler

Prozess; in ihn fließen immer kulturelle Werturteile und wirt-

schaftliche Interessen ein.

Heute stehen wir vor neuen Herausforderungen,besonders

im Bereich der Energie- und Rohstoffversorgung. Die

sichere, kostengünstige und umweltverträgliche Nutzung von

Energie ist eine Schlüsselfrage des 21. Jahrhunderts, die sich in

zunehmender Schärfe stellt. Das be-

deutet: Das Land, das diese Aufgabe

bewältigt, wird wirtschaftlich stark,

technologisch innovativ und inter-

national führend sein. Die Alterna-

tive ist klar: Wenn es nicht zu Ein-

sparen,Effizienzsteigerung und zum

weiteren Ausbau Erneuerbarer Ener-

gien kommt,werden der zunehmen-

de Energiehunger der Industriena-

tionen und der rasant wachsende

Energiebedarf der großen, bevölkerungsreichen Schwellenlän-

der, die jetzt mit Nachdruck ihre nachholende Industrialisie-

rung forcieren, schon bald zerstörerische Folgen annehmen.

Klimawandel, Ressourcenknappheit und zunehmende Ver-

teilungskonflikte gefährden nicht nur Ökonomie und Be-

schäftigung,sondern langfristig auch die Grundlagen eines welt-

weit friedlichen Miteinanders.Auch für die Energieversorgung

gilt, was Albert Einstein auf die Atomwaffen bezogen hat: Die

Welt verändert sich schneller als das Denken und Handeln des

Menschen. Deshalb müssen wir den lähmenden Widerspruch

zwischen dem Wissen über die Zukunftsgefahren und den all-

täglichen Handlungen überwinden.

Dennoch ist ermutigend, dass es auch positive Entwick-

lungen gibt. Das zeigt besonders der Ausbau der Erneu-

erbaren Energien in Deutschland, der in diesem Heft beschrie-

ben wird.Wind- und Wasserkraft,Solarenergie,die energetische

Nutzung von Biomasse und der Geothermie stellen heute einen

nicht mehr zu vernachlässigenden Anteil an der deutschen

Energieversorgung dar. 10,4 Prozent des Stroms und 4,6 Pro-

zent der Primärenergie stammen derzeit aus regenerativen

Quellen. Die Branche beschäftigt bereits 157 000 Menschen,

setzte im Jahr 2005 rund 16 Milliarden Euro um und vermied

die Emission von 83 Millionen Tonnen klimaschädlichen Koh-

lendioxids in die Atmosphäre.

Erneuerbare Energien haben jedoch – darüber besteht in

der Wissenschaft Einvernehmen – nur dann eine Chance,

wenn wir gleichzeitig nach intelligenten Lösungen suchen,die

Ansprüche an Lebensqualität und Komfort mit bedeutend we-

niger Energie zu befriedigen.Wir müssen den Energieverbrauch

insgesamt deutlich reduzieren, weit über die einfache Ent-

kopplung von Energiewachstum und Wirtschaftswachstum hin-

aus. Das ist möglich, wenn wir – wie in der Koalitionsverein-

barung der Bundesregierung festgelegt – die Energieprodukti-

vität bis zum Jahr 2020 mindestens

verdoppeln.

Das magische Dreieck unserer

Energiepolitik besteht aus Ver-

sorgungssicherheit, Wettbewerbs-

fähigkeit und Umweltverträglich-

keit. Diese Ziele zu erreichen und

dauerhaft zu sichern,erfordern hohe

Innovationskraft und mehr europä-

ische Zusammenarbeit.Aber sie sind

notwendig, denn nur so können wir mehr Freiheit verwirk-

lichen und Frieden,Wohlstand und Demokratie bewahren.

Die Entwicklungen machen Mut. Sie werden sich durch-

setzen,wenn sich die Energiepolitik zunehmend von den

überkommenen Denkmustern löst. Sie braucht Klarheit, Ver-

nunft und Rationalität. Erneuerbare Energien sind Teil des

Prinzips einer neuen Energie- und Rohstoffintelligenz.

Bundesumweltminister Sigmar Gabriel wird alles dafür tun,

dass diese neuen Wege zügig beschritten werden. In der

Energiepolitik befinden wir uns heute an einem Scheideweg.

Die ökologische Modernisierung der Energieversorgung wird

eine gewaltige Kraftanstrengung sein. Lassen Sie uns gemein-

sam diese Herausforderung meistern – Politiker ebenso wie

Physiker.

Nach intelligentenLösungen suchen

Michael Müller istParlamentarischerStaatssekretär imBundesministeriumfür Umwelt,Naturschutz undReaktorsicherheit.

WIR MÜSSEN DEN

ENERGIEVERBRAUCH WEIT ÜBER

DIE EINFACHE ENTKOPPLUNG

VON ENERGIEWACHSTUM

UND WIRTSCHAF TSWACHSTUM

HINAUS REDUZIEREN.