Naturphänomen Es gibt viele Märchen und Ge - Eisregen¤nomen_Eisregen.pdf · 58 GRALS W ELT Von...

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Es gibt viele Märchen und Ge- schichten, die von vereisten König- reichen, Regent Winter und seinen Eisfeen erzählen, auch existiert im hohen Norden Schwedens ein Eis- hotel für Gäste der besonderen Art – aber eine Welt aus Eis in deut- schen Landen gehört sicherlich zu den sehr seltenen Naturschauspie- len. Erleben Sie auf den folgenden Seiten ein visuelles Wintermärchen und erfahren Sie, wie das außerge- wöhnliche Phänomen „Eisregen“ zustandekommt. E S IST empfindlich kalt. Ein in- tensives Winterhoch schau- felt seit Tagen sehr niedrige Temperaturen aus dem russi- schen Raum zu uns heran. Jürgen steht neben mir, will die foto- grafische Gunst der Stunde nutzen, doch kaum gezückt, gefriert auf Ka- mera und Objektiv der kalte Regen als dünner, eisiger Film. Wir befinden uns gerade mitten darin, hören und sehen das unglaubliche Verwand- lungsspiel der Natur: Ein giganti- scher Eisregen überrascht Mensch und Tier im Osten Deutschlands An- fang Januar. Die Stimmung ist unheimlich, schier verwunschen. Überall rieselt und nieselt es, überall tropft und wächst es heran, gleichzeitig hören wir im leisen Hauch eines Windes ein Klingen und Singen aus Glas. Wasser regnet feinst hernieder, seit Stunden schon. Kaum berührt es den Boden, einen Zweig, ein Auto, unsere Regenjacken, verläuft es sich, und im Nu gefrieren die durchsichti- gen Tröpfchen, wachsen als weißes Eis lautlos heran. Wäre es nur ein Eiseshauch, man würde ihn kaum bemerken, abgese- hen davon, daß man auf Schritt und Tritt dahinrutscht. Was wir heute je- doch sehen, liegt jenseits aller Nor- malität – Eismassen, dicke Wülste aus Gefrorenem, auf allem emporwach- send, das sich der Nässe aussetzt. Ein Wintermärchen aus der Sicht eines Menschen, der nicht mobil unterwegs sein muß. Die Stunde des Fotografen. 56 GRALS WELT Naturphänomen Eisregen – Text und Bilder: Reinhardt Wurzel – Naturphänomen Eisregen – Text und Bilder: Reinhardt Wurzel – Bereift in dickstem Eis spielt die Natur ihre eigene Kristallsymphonie.

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Es gibt viele Märchen und Ge-schichten, die von vereisten König -reichen, Regent Winter und seinenEisfeen erzählen, auch existiert imhohen Norden Schwedens ein Eis-hotel für Gäste der besonderen Art– aber eine Welt aus Eis in deut-schen Landen gehört sicherlich zuden sehr seltenen Naturschauspie-len. Erleben Sie auf den folgendenSeiten ein visuelles Wintermärchenund erfahren Sie, wie das außerge-wöhnliche Phänomen „Eisregen“zustandekommt.

ES IST empfindlich kalt. Ein in-tensives Winterhoch schau-felt seit Tagen sehr niedrigeTemperaturen aus dem russi-schen Raum zu uns heran.

Jürgen steht neben mir, will die foto-grafische Gunst der Stunde nutzen,doch kaum gezückt, gefriert auf Ka-mera und Objektiv der kalte Regenals dünner, eisiger Film. Wir befindenuns gerade mitten darin, hören undsehen das unglaubliche Verwand-lungsspiel der Natur: Ein giganti-scher Eisregen überrascht Menschund Tier im Osten Deutschlands An-fang Januar.

Die Stimmung ist unheimlich,schier verwunschen. Überall rieseltund nieselt es, überall tropft undwächst es heran, gleichzeitig hörenwir im leisen Hauch eines Windes einKlingen und Singen aus Glas.

Wasser regnet feinst hernieder,seit Stunden schon. Kaum berührt esden Boden, einen Zweig, ein Auto,unsere Regenjacken, verläuft es sich,und im Nu gefrieren die durchsichti-gen Tröpfchen, wachsen als weißesEis lautlos heran.

Wäre es nur ein Eiseshauch, manwürde ihn kaum bemerken, abgese-hen davon, daß man auf Schritt undTritt dahinrutscht. Was wir heute je-doch sehen, liegt jenseits aller Nor-malität – Eismassen, dicke Wülste ausGefrorenem, auf allem emporwach-send, das sich der Nässe aussetzt. EinWintermärchen aus der Sicht einesMenschen, der nicht mobil unterwegssein muß. Die Stunde des Fotografen.

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Naturphänomen

Eisregen– Text und Bilder: Reinhardt Wurzel –

Naturphänomen

Eisregen– Text und Bilder: Reinhardt Wurzel –

Bereift in dickstem Eis spieltdie Natur ihre eigeneKristallsymphonie.

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Wie kann es zu diesem außerge-wöhnlichen Wetterphänomen kom-men?

Eisregen ist eine Bezeichnung fürRegen, der im Winter bei Annähe-rung einer Warmfront auftreten kann.Dabei liegt bodennah noch eine kalteLuftmasse, während in der Höhedurch die Warmfront bereits wärme-re Luft herangeführt wird. Bei derNiederschlagsbildung in großen Hö-hen entstehen immer Eiskristalle.Diese Eiskristalle wachsen zu Schnee -flocken heran, werden größer und da-mit schwerer. Irgendwann sinken sieerdwärts und fallen in warme Luft-schichten, die sich gewöhnlich in 1000bis 2000 Meter Höhe befinden. Dortliegen die Temperaturen meist deut-lich über null Grad, wodurch sichSchneeflocken in Regentropfen ver-wandeln müssen. Der Niederschlagwird aber auf seinem Weg nach untenin der bodennahen Kaltluftschichtnoch einmal kräftig abgekühlt undbesteht dann entweder aus Eiskör-nern oder aus unterkühlten Wasser-tropfen. In Bodennähe herrschen da-gegen Temperaturen unter null Grad,oftmals sogar im zweistelligen Be-

reich. Sobald die Tropfen auf eineunterkühlte Oberfläche treffen, ge-frieren sie augenblicklich. Vorausset-zungen für Eisregen sind demnachfrostige Temperaturen in unterer, bo-dennaher Luftschicht und Plusgradeoberhalb dieser Kaltluftschicht. Trittin dieser Situation Regen auf, gefriertdieser am Boden. Hält das Phänomenlänger an, können kiloschwere Eis -panzer heranwachsen.

Im Januar 2004 erlebte Englandeinen Eisregen, der drei Tage anhielt,die Straßen in Eislaufstadien verwan-delte und im ganzen Land Telefonlei-tungen, Masten und Bäume unterdem Gewicht des Eises zu Bodenstürzen ließ. Viele Tiere kamen um,es gibt sogar Berichte, nach denenVögel im Flug durch den gefrieren-den Regen ums Leben kamen.

Eine extrem lange Eiszeit erlebteConnecticut. 1968 gefror der Regenund blieb über sechs Wochen als Eis -panzer auf den Bäumen hängen. Mit2,5 Milliarden US-Dollar ist 1998 derEissturm von Kanada das bislanggrößte Schadensereignis der Ge-schichte. Vom 4. bis 10. Januar hielteine bis zu 10 Zentimeter dicke gefro-

rene Schicht Landund Menschen ineisigem Griff.

Fischer sind mitschäumenden Mee-ren und steifen Bri-sen vertraut. Wennjedoch Gischt undMinustemperatu-ren zusammentref-fen, entsteht mitder Vereisung vonSchiffsaufbau und Takelage großeGefahr. Im Februar 1968 wurde eineFischereiflotte vor der isländischenKüste von Winden in Hurrikanstärkeund Temperaturen um -11°C über-rascht. Die Mannschaft arbeitete un-aufhörlich, hackte die dicke Eis-schicht immer wieder ab, die dasSchiff zu bedecken drohte, um eineOberlastigkeit zu verhindern. In kur-zer Zeit sanken mehrere Schiffe, fast60 Menschen verloren ihr Leben. Ver -eisung stellt immer noch die größteGefahr für die Schiffahrt in nörd-lichen Gewässern dar.

Manchmal kann gefrierender Re-gen allerdings auch zum Segen wer-den: Mehrere Kaltlufteinbrüche mit

FOTOGRAFIE Die SchöpfungERLEBEN

EINE SERIE DER

GRALS WELT

Nur ein Windhauch, und esrauscht das Klingelwerk durchdie Bäume.

Die Natur als kreativerKünstler. Schwer wiegt dieLast des Eismantels.

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Von Eisregen eingedeckt, verwandeln sich Grashalme in winterliche Champignons.

Ein „zuckerumgossener“ Zweig. Das Gewicht drückt den Ast weiter und weiter herunter, viele Eisbögen entstehen.

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Bizarr und unwirklich: Ein „Fahrrad aus purem Eis“. Natur und Technik gefrieren aneinander.

Tief gefroren glänzt Buschwerk im Licht. Der gläserne Eismantel umhüllt den Baum. Es glänzt und schimmert allerorten.

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FOTOGRAFIE

sehr tiefen Temperaturen brachten inden 60er Jahren im amerikanischenBundesstaat Florida die Besitzer vonhöchst ertragreichen Orangenhainenan den Ruin, als große Teile der Ern-te vollständig verdorben und vieleOrangenbäume erfroren waren. Als

in den weiteren Jahren Eisregen dazukam, machte man eine merkwürdigeBeobachtung: Während das Regen-wasser bei Minusgraden abkühlte undgefror, blieben die Früchte von Frost-schäden verschont. Dieser Effektwird seitdem genutzt, um bei Gefah-renlage die Plantagen einer künst-lichen Beregnung auszusetzten. Auchdie deutschen Obstbauern bedienensich dieser Frostschutzmethode, in-dem sie im Frühjahr, nach entspre-chender Wettervorwarnung, die emp-findlichen Blüten und Knospen mitWasser besprühen, so daß die Pflan-zen allmählich mit einer dünnen Eis-schicht bedeckt sind. Auf den erstenBlick mag das widersprüchlich er-scheinen, doch das Vorgehen machtSinn. Bei dem Gefriervorgang wirdlatente Wärme frei, sogenannte Ge-frierwärme, die eine zu starke Aus-kühlung der empfindlichen Pflanzen-teile verhindert. Zwar liegt die Tem-peratur des Eises und damit der verei-sten Pflanzenteile auch um oderknapp unter null Grad, aber ebendeutlich höher als die Lufttemperatur.

Dadurch bleiben die empfindlichenPflanzenzellen vor zu großen Minus-graden geschützt und überleben.

JÜRGEN UND ich können nicht um-hin, uns vom einzigartigen Momentwinterlicher Ausdrucksart fesseln zulassen. Die Stunden vergehen in stil-ler Beobachtung, als warteten wirdarauf, was noch passieren könne.

Und dann geschieht es: Gleißen-des Sonnenlicht durchbricht das Grauder Wolken und bestrahlt die Eisweltin einem schier unbeschreiblichenZauber. Getaucht in gläserne Hüllen,blitzt es in allen Bäumen und Sträu-chern vieltausendmal auf. Durch win-zige Prismen spaltet sich Licht insämtlichen Regenbogenfarben, vonKlareis oder undurchsichtigem Zuk-kerguß umhüllt, schimmert es blen-dend vor unseren Augen. Als wolltenwir das fotografische Geschenk derNatur vor dem Dahinschmelzen be-wahren, so klicken unsere Kamera-verschlüsse in einem fort, fangen ein,was als überraschendes Kunstwerkvor uns erstand … y

Kleidung alsLockmittelKleidung alsLockmittel

Der Hut des Thomas war fest, sein Mantel krachte, da ervom Pferdeschlitten abstieg, und jede Stange, jedes Holz,jede Schnalle, jedes Teilchen des ganzen Schlittens, wiewir ihn jetzt so ansahen, war in Eis, wie in durchsichti-gen flüssigen Zucker, gehüllt, selbst in den Mähnen, wietausend bleiche Perlen, hingen die gefrorenen Tropfendes Wassers, und zuletzt war es um die Hufhaare desPferdes wie silberne Borden geheftet. An den Zäunen, anden Strunken von Obstbäumen und an den Rändern derDächer hing unsägliches Eis. An mehreren Planken wa-ren die Zwischenräume verquollen, als wäre das Ganzein eine Menge eines zähen Stoffes eingehüllt worden, derdann erstarrte. Mancher Busch sah aus wie viele ineinan-der gewundene Kerzen oder wie lichte, wässerig glän-zende Korallen. Ich hatte dieses Ding nie so gesehen wieheute. Zu dem Brunnen, der in der Mitte des Platzessteht, mußten sich die Leute mit der Axt Stufen hinein-bauen. Sonst gingen die Leute gar nicht aus den Häusern,und wo man doch einen sah, duckte er sich oben mitdem Haupte vor dem Regen in sein Gewand, und unten

griff er mit den Füßen vorsichtig vorwärts, um in der un-säglichen Glätte nicht zu fallen. Auf dem Raine sahenwir einen Weidenbaum gleißend stehen, und seine zähensilbernen Äste hingen herab, wie mit einem Kammeniedergekämmt. Wir sahen vor uns eine sehr schlankeFichte zu einem Reifen gekrümmt stehen und einen Bo-gen über unsere Straße bildend, wie man sie einziehen-den Kaisern zu machen pflegt. Es war unsäglich, welchePracht und Last des Eises von den Bäumen hing. WieLeuchter, von denen unzählige umgekehrte Kerzen inunerhörten Größen ragten, standen die Nadelbäume.Die Kerzen schimmerten alle von Silber, die Leuchterwaren selber silbern und standen nicht überall gerade,sondern manche waren nach verschiedenen Richtungengeneigt. Als wir endlich gegen den Wald kamen, hörtenwir ein Geräusch, das sehr seltsam war, und das keinervon uns je vernommen hatte – es war als ob viele Tau-sende oder gar Millionen von Glasflaschen durcheinan-der rasselten …

Adalbert Stifter, 1828

„Es war unsäglich, welche Pracht und Last des Eises von den Bäumen hing!“

Wie von Zauberhand angehängt,blinken zahllose Zapfen aus Eis.