Naturwaldreservate aus philosophischer Sicht · 2013. 4. 16. · Im Gehirn wird alles zum gleichen...

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59 Naturwaldreservate aus philosophischer Sicht Naturwaldreservate aus philosophischer Sicht GÜNTER DOBLER Philosophische Fragen Wenn man sich einem Thema wie der Philoso- phie nähert, tut man gut daran, einen der großen Philosophen zu fragen, worum es denn da eigent- lich geht. Kant behauptete, es sei die Aufgabe der Philosophie, sich der Beantwortung folgender vier Fragen zu widmen: Was können wir wissen? Was sollen wir tun? Was dürfen wir hoffen? Was ist der Mensch? Dieser Text greift die ersten bei- den Fragen heraus und stellt sie in den Kontext des Themas Naturwaldreservate. „Was können wir wissen?“ fragt nach den Möglichkeiten und Grenzen unseres Erkenntnis- vermögens und der Verstandestätigkeit. „Was sol- len wir tun?“ ist die Frage nach dem ethisch rich- tigen Handeln. Im Kern der Auseinandersetzung stehen Wissenschaft und Ökonomie. System und Umwelt: Wie viele sind wir, in wie vielen Welten? - Die Pluralität der Erscheinungswelten Die Welt, wie sie uns erscheint, wird bestimmt von unserer Sinnes- und Verstandestätigkeit. Im Gehirn wird alles zum gleichen elektro- chemischen Signal, egal ob es vom Gehör, den Riechzellen oder dem Auge stammt. Der Geruch, der Ton, das Bild, alles löst die gleichen Impulse aus. Was das Riechen so typisch macht und so ganz anders als das Hören, das Hören so vollkom- men anders als das Sehen, ist eine Leistung des Gehirns. Das führt uns zu einer häufig und fast schon augenzwinkernd gestellten philosophi- schen Frage: „Wenn ein Baum im Wald umfällt und es ist niemand da, der das hören könnte - macht er dann ein Geräusch?“ Wohl kaum. Sicherlich entstehen Druckwellen in der Luft, aber wenn diese Druckwellen nicht von einem Gehör aufgenommen und in einem Gehirn verar- beitet werden, bleiben sie nur Druckwellen. Das Gehirn erschafft erst das Geräusch. Dieser Sachverhalt gilt nicht nur für lebende Organismen mit Sinnen und Gehirn, sie gilt für alle Systeme schlechthin. Das System bestimmt die Umwelt und nicht umgekehrt, außer in dem Moment, da die Umwelt es zerstört. Das System bestimmt, was hinein darf. Wofür es keine Öff- nungen hat, kann für das System auch nicht exi- stieren. Außerdem bestimmt es, als was die Umwelt im System repräsentiert wird. Seine Ver- arbeitung ist immer Teil des Verarbeiteten. So werden im Menschen Druckwellen zum Geräusch und elektromagnetische Wellen zu Farben: das Grüne am Grün stammt aus dem System. Für unsere Erkenntnis von der Welt bedeutet das, ganz im Kant'schen Sinne, dass wir über die Welt an sich, also die Welt ohne unser Erkennen, ohne unsere Verarbeitung nichts wissen können. Denn alles, was für uns existiert, ist schon durch unser Erkenntnissystem geformt, ist Erscheinungswelt. Das gilt auch für Wissenssysteme. An ein System naturwissenschaftlicher Erkenntnisse können nur weitere naturwissenschaftliche Erkenntnisse angefügt werden. Ein ökonomi- sches System verrechnet nur Geldwerte. Alltäg- lich leben wir in vielen Erscheinungswelten: Arbeitswelt, Welt romantischer Beziehung, Stra- ßenverkehrswelt etc. In jeder Erscheinungswelt sind andere Dinge sichtbar, weil die Systemöff- nungen und -verarbeitung jeweils anders gestaltet sind. Fehlende Öffnungen schaffen blinde Flek- ken für das System. Etwas wird nicht erkannt, Abb. 1: Die Sinne und die Verarbeitung im Gehirn bestimmen, wie die Welt einem Orga- nismus erscheint (Bildmontage: DOBLER).

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Naturwaldreservate aus philosophischer Sicht

Naturwaldreservate aus philosophischer Sicht GÜNTER DOBLER

Philosophische FragenWenn man sich einem Thema wie der Philoso-

phie nähert, tut man gut daran, einen der großenPhilosophen zu fragen, worum es denn da eigent-lich geht. Kant behauptete, es sei die Aufgabe derPhilosophie, sich der Beantwortung folgendervier Fragen zu widmen: Was können wir wissen?Was sollen wir tun? Was dürfen wir hoffen? Wasist der Mensch? Dieser Text greift die ersten bei-den Fragen heraus und stellt sie in den Kontextdes Themas Naturwaldreservate.

„Was können wir wissen?“ fragt nach denMöglichkeiten und Grenzen unseres Erkenntnis-vermögens und der Verstandestätigkeit. „Was sol-len wir tun?“ ist die Frage nach dem ethisch rich-tigen Handeln. Im Kern der Auseinandersetzungstehen Wissenschaft und Ökonomie.

System und Umwelt: Wie viele sindwir, in wie vielen Welten? - Die Pluralität der Erscheinungswelten

Die Welt, wie sie uns erscheint, wird bestimmtvon unserer Sinnes- und Verstandestätigkeit.

Im Gehirn wird alles zum gleichen elektro-chemischen Signal, egal ob es vom Gehör, denRiechzellen oder dem Auge stammt. Der Geruch,der Ton, das Bild, alles löst die gleichen Impulseaus. Was das Riechen so typisch macht und soganz anders als das Hören, das Hören so vollkom-men anders als das Sehen, ist eine Leistung desGehirns. Das führt uns zu einer häufig und fastschon augenzwinkernd gestellten philosophi-schen Frage: „Wenn ein Baum im Wald umfälltund es ist niemand da, der das hören könnte -macht er dann ein Geräusch?“ Wohl kaum.Sicherlich entstehen Druckwellen in der Luft,aber wenn diese Druckwellen nicht von einemGehör aufgenommen und in einem Gehirn verar-beitet werden, bleiben sie nur Druckwellen. DasGehirn erschafft erst das Geräusch.

Dieser Sachverhalt gilt nicht nur für lebendeOrganismen mit Sinnen und Gehirn, sie gilt füralle Systeme schlechthin. Das System bestimmtdie Umwelt und nicht umgekehrt, außer in demMoment, da die Umwelt es zerstört. Das Systembestimmt, was hinein darf. Wofür es keine Öff-nungen hat, kann für das System auch nicht exi-stieren. Außerdem bestimmt es, als was dieUmwelt im System repräsentiert wird. Seine Ver-arbeitung ist immer Teil des Verarbeiteten. Sowerden im Menschen Druckwellen zum Geräuschund elektromagnetische Wellen zu Farben: dasGrüne am Grün stammt aus dem System. Fürunsere Erkenntnis von der Welt bedeutet das, ganzim Kant'schen Sinne, dass wir über die Welt ansich, also die Welt ohne unser Erkennen, ohneunsere Verarbeitung nichts wissen können. Dennalles, was für uns existiert, ist schon durch unserErkenntnissystem geformt, ist Erscheinungswelt.

Das gilt auch für Wissenssysteme. An einSystem naturwissenschaftlicher Erkenntnissekönnen nur weitere naturwissenschaftlicheErkenntnisse angefügt werden. Ein ökonomi-sches System verrechnet nur Geldwerte. Alltäg-lich leben wir in vielen Erscheinungswelten:Arbeitswelt, Welt romantischer Beziehung, Stra-ßenverkehrswelt etc. In jeder Erscheinungsweltsind andere Dinge sichtbar, weil die Systemöff-nungen und -verarbeitung jeweils anders gestaltetsind. Fehlende Öffnungen schaffen blinde Flek-ken für das System. Etwas wird nicht erkannt,

Abb. 1: Die Sinne und die Verarbeitung imGehirn bestimmen, wie die Welt einem Orga-nismus erscheint (Bildmontage: DOBLER).

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aber zusätzlich kann auch nicht erkannt werden,dass etwas fehlt. Erst von einem anderen Systemaus wird sichtbar, dass etwas in der Umwelt einesSystems vorhanden ist, das das beobachteteSystem nicht „sehen“ kann.

Sei vernünftig ... und geh zugrunde! -Die Fallen der einen Vernunft

Im folgenden wird von Erscheinungsweltengesprochen, die unsere Gesellschaft dominieren.Sie dominieren so stark, dass ihre Akzeptanz alseinzig vernünftige Wahl gilt bzw. sich die Frageder Wahl erst gar nicht stellt. Vernunft ist wissen-schaftliche Vernunft. Vernunft heißt, die Sach-zwänge der Wirtschaft erkennen und danach han-deln. Wir haben aber festgestellt, dass jedesSystem seine blinden Flecken hat, die es selbstnicht sehen kann. Versuchen wir diese blindenFlecken zu erkennen!

Der Sinn des Lebens? 42!* - Wie Wissenschaft Komplexität vernichtet

Ein kluger Mensch sagte einmal: „Die Naturist nicht nur komplexer als wir denken, sie istkomplexer als wir denken können.“ Da ist etwasWahres dran. Die Komplexität der Welt ist schierunendlich. Um handlungsfähig zu bleiben, istKomplexitätsreduktion notwendig. Also mussgefiltert und vereinfacht werden. Sinnesorganeerfassen nur einen kleinen Ausschnitt des poten-tiell Erfassbaren. Einzelnes wird als Allgemeines

erkannt. So wird z. B. der in aller Einzigartigkeitvorhandene Einzelbaum zu einer typischenBuche. Das gilt im alltäglichen Leben genausowie für die Wissenschaft. Auch hier wird ständigKomplexität reduziert und vernichtet.

Zunächst ist eine ganze Reihe an Filtern wirk-sam:- Der Filter der Wissenschaftlichkeit, der nicht-

wissenschaftliche Methoden ausklammert; - der Filter des Herausgreifens einiger Varia-

blen, vielleicht sogar von nur zweien; - der Filter der zeitlich und räumlich stark ein-

gegrenzten Datenaufnahme auf Grund knap-per Ressourcen.Hinzu kommen Komplexitätsvernichtungen in

der Verarbeitung:- Konkretes wird zu Allgemeinem. Folge: Das

konkret Einzelne gerät im Allgemeinen ausdem Blick.

- Eigenschaften werden quantifiziert. Folge:Nicht-Verrechenbares erscheint irreführender-weise verrechenbar.Daten müssen in den Naturwissenschaften in

einer Form gewonnen werden, die es erlaubt,damit zu rechnen. Es wird also gemessen. Selbstqualitative Eigenschaften werden zumindest überdie Häufigkeit ihres Auftretens quantifiziert. Zah-len sind zum Rechnen da. Die konkreten qualita-tiven Eigenschaften verschwinden hinter denZahlen. Da ist die Gefahr groß, Zahlen zu ver-rechnen, die eigentlich nicht verrechnet werdensollten.

Ein zugegebenermaßen etwas polemischesBeispiel soll den Sachverhalt veranschaulichen:

„Naturnähe“ ist ein multikriterieller Begriff,d. h. vieles spielt eine Rolle: Totholzanteil, Arten-ausstattung, Strukturierung, Biotoptradition etc.Entsprechend viele Skalen werden benötigt, die,man will ja nicht unterkomplex denken, zugewichten und zu kombinieren sind. Abgesehenvon den vielen subjektiven Bewertungen, die insolche Skalen, Kombinationen und Gewichtun-gen einfließen und die zumindest nicht gänzlichwissenschaftlich objektiv sein können, ist dasErgebnis eine fast vollständige Komplexitätsver-nichtung. Was würde man erhalten? Einen Punk-tewert? Führen Sie sich folgenden Beispiels-

Abb. 2: Das System bestimmt seine Umwelt. An die Domino-kette lassen sich nur weitere Dominosteine anfügen, an dieBuchstabenketten (Wörter) nur andere Buchstaben. DasDomino-System kann die Buchstabenwürfel nicht wahrneh-men - ein blinder Fleck (Foto: DOBLER).

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* Eine Anspielung darauf, wie die Wissenschaft die Welt mathematisiert und auf einen Wert zusammenrechnet. In Douglas Adams' Buch "Per Anhalter durch die Galaxis" errechnet der Supercomputer Deep Thought während 7,5 Millionen Jahren die Antwort auf das Leben, auf das Universum, auf alles. Ergebnis: 42.

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bestand vor Augen, der sich nach einer Holzerntevon hypothetischen 32 Punkten auf 45 Punkteverbessert. Warum? Die vorher nicht vorhandeneGelbbauchunke hat sich in den vielen tiefen, mitWasser gefüllten Fahrspuren der Rückefahrzeugeangesiedelt (+ 12 Punkte). Viele gesunde, dickeBuchen wurden entfernt, tote und absterbendeaber belassen, was den Totholzanteil hebt (+ 7Punkte). Das kompensiert den Verlust einiger ausVersehen gefällter Höhlenbaume (- 6 Punkte)ohne weiteres. Ein positives Ergebnis, obwohlman intuitiv den gegenteiligen Eindruck hat. Dermassive Eingriff lässt den Bestand künstlicherund gestörter erscheinen.

Abb. 3: So könnte der im Text genannte Beispielsbestandnach dem Eingriff aussehen (Bildmontage: DOBLER).

Dasselbe Vorgehen macht Unvergleichbaresauf irreführende Weise scheinbar vergleichbar.Reservate wie z. B. das Reservat Grenzweg mitKiefern auf Sanddünen bei Nürnberg und dasBuchenreservat Waldhaus im Steigerwald könnenüber Naturnähepunkte gegeneinander abgewogenwerden. Sicherlich, man vergleicht sie nur hin-sichtlich ihrer Naturnähe, aber ist die Naturnähewirklich vergleichbar geworden? Ist die Natur deseinen Reservats nicht ganz anders als die desanderen?

Die Komplexitätsvernichtung potenziert sich,gehen in die Punktewertung noch andere Faktorenaußer der Naturnähe ein, wie z. B. Waldfunktions-bewertungen (Erholungswert, Wasserschutzwertetc.).

Natürlich ist Komplexitätsreduktion notwen-dig, um die Welt überhaupt fassbar zu machen.Nur muss thematisiert werden, dass es dadurch zublinden Flecken kommt, die die wissenschaftlicheMethode selbst verursacht und die innerhalb derWissenschaft nicht wahrzunehmen sind. Wirbrauchen nicht-wissenschaftliche Perspektiven,um blinde Flecken der Wissenschaften erkennenzu können.

Wie viele Äpfel ergeben eine Birne? - Die sonderbare Welt des Homo oeconomicus

Wenden wir uns nun einem Bereich zu, der alsdas Paradebeispiel für das Verrechenbarmachenvon Nicht-Verrechenbarem gelten kann, der Öko-nomie. Geld scheint eine der universalstenMaßeinheiten überhaupt zu sein.

Im folgenden sollen drei Werttypen unter-schieden werden: 1. Der Marktwert: Dieser entspricht dem Markt-

preis, ermittelt über Angebot und Nachfrageder Marktteilnehmer.

2. Der subjektive Wert: Dieser entspricht demwahrgenommenen Nutzen, den das Gut fürden Menschen besitzt.

3. Der Eigenwert: Dies ist der Wert, der einemGut von sich aus zukommt, ohne Betrachtungseines Nutzens für Marktteilnehmer oderMenschen überhaupt. Die meisten Ökonomenwürden behaupten, dass dieser Wert nicht exi-stiert oder aber nicht ermittelt werden unddaher nicht relevant sein kann. Innerhalb deskognitiven Systems der Wirtschaft mag das sosein, wir werden aber diesen Begriff brauchen,um auf einen blinden Fleck eben diesesSystems hinweisen zu können.Der Mensch bestimmt den subjektiven Wert,

denn Nutzen bedeutet Nutzen für ihn. Die Markt-teilnehmer bestimmen den Marktwert. Marktteil-nehmer und Menschen sind nicht dasselbe, dennauf dem Markt sind nicht alle Menschen vertretenund nicht alle sind gleich. Um Marktteilnehmerzu sein, braucht man Kapital. Hat jemand keinKapital, existiert er für den Markt nicht: Ein ersterblinder Fleck.

Für ökonomische Kalküle müssen GüternGeldwerte zugewiesen werden. Wird ein Gut aufdem Markt gehandelt, so wird üblicherweise derMarktwert dafür verwendet. Ist das nicht der Fall,muss man auf andere Methoden zurückgreifen.So kann z. B. in Befragungen die Zahlungsbereit-schaft für die Erholungsnutzung des Waldesermittelt werden oder ein Grundstückspreis inWaldnähe mit Preisen von entfernteren, sonst aberähnlichen Grundstücken verglichen werden. Derermittelte Betrag soll dann den Erholungswert desWaldes widerspiegeln (vgl. MOOG und OESTEN2002).

Über ihre Geldwerte lassen sich scheinbar alleGüter miteinander vergleichen, nach dem Motto

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„wie viele Äpfel sind mir eine Birne wert?“ Dabeisollte aber nicht vergessen werden, dass dieseBeträge nur Ergebnis der Wertschätzung derMarktteilnehmer und nicht aller Menschen sind.Zudem kann der ökonomische Wert nicht vonanderen Eigenschaften der Güter abgekoppeltwerden. Das ökonomische Kalkül blendet dahervorhandene Komplexität aus, ähnlich wie ich esoben bei der Komplexitätsvernichtung durch dieWissenschaft darstellte.

Abgesehen davon produziert die Sichtweiseder Ökonomie einige Ergebnisse, die dem gesun-den Menschenverstand widersprechen. Die Naturin armen Regionen ist weniger wert als in reichen,da es dort weniger zahlungskräftige Marktteilneh-mer gibt und die Zahlungsbereitschaft entspre-chend geringer ist. Gewinnbringende Maßnah-men in der Gegenwart, auch wenn sie zu Katastro-phen in der Zukunft führen, sind bei entsprechen-den Zeiträumen und Verzinsungen wirtschaftlichvernünftig. Es ist wirtschaftlicher, die letzten Ere-miten auf Käferbörsen zu verkaufen als sie unpro-duktiv in Mulmhöhlen zu erhalten.

Die Annahme von Eigenwerten der Güterkönnte einige dieser eigenartigen Ergebnisse ver-meiden. Menschen sprechen sich Eigenwerte zu,die als nicht verhandelbar gelten. Wir nennen sieMenschenrechte. Eigenwerte in der Natur könn-ten dem ökonomischen Kalkül ähnliche Grenzensetzen. Wie oben erwähnt sind Eigenwerte nichtökonomisch zu fassen, weil sie sich dem Nutzen-denken entziehen. Das heißt, die ökonomischeSichtweise muss verlassen werden, um sie zu kor-rigieren.

Wenn ich mir eine Grube grabe, ... dann fall ich auch rein!? Gibt es ein Entrinnen aus unseren Fallen?

Es gibt Lebendfallen, aus denen bestimmteTiere nur deswegen nicht entkommen, weil sieden Mechanismus nicht begreifen bzw. den vor-handen Ausgang einfach nicht wahrnehmen. Wiemüssten wohl Lebendfallen solchen Typs fürMenschen aussehen?

Zunächst hätten wir uns diese Fallen wohlselbst gestellt. Wir hätten uns also selbst in einescheinbar ausweglose Situation manövriert bzw.würden prinzipiell Erkennbares einfach nichterkennen oder trotz der Erkenntnis meinen, nichtanders handeln zu können.

Wir handeln im Leben ab und zu durchaus irra-tional und sind gewohnt, dass uns das in unange-nehme Situationen bringen kann. „Hätten wir

doch nur vernünftig gehandelt“, denken wir,„dann wäre uns dies erspart geblieben.“ Dabei istes gerade die Vernunft, die uns noch ausweglose-re Fallen beschert.

Wirtschaftliche Sachzwänge sind solche Fal-len. Nehmen wir an, billiges Holz aus dem Aus-land fließt auf den heimischen Markt. Die Lohn-kosten sind dort niedriger und das Holz wird zwargeerntet, aber keine Investition für die nächsteWaldgeneration geleistet. Die heimische Forst-wirtschaft muss reagieren: „WirtschaftlichesDenken ist notwendig!“ Das kann heißen: Billige-re Unternehmer statt teures eigenes Personal,Konzentration auf Holzproduktion und Ausblen-den anderer Belange, keine Zeit und Ressourcen,um auf Naturnähe zu achten. „Ein verhängnisvol-ler Fehler“, sagt da der Naturwaldforscher zumForstökonom: „Wenn du alle alten Eichen fällst,haben der Eremit und der Eichenwidderbock kei-ne Chance.“ Ist der Ökonom ein purer Ökonom,wird er diesen Einwurf gar nicht verstehen. Soetwas wie ein Eremit kommt im Kalkül nicht vor,da ist kein Verlust sichtbar. Ja, er sieht nicht maleine Falle, denn die könnte man nur von außer-

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Abb. 4: Lebendfalle Fliegenglas: In die Einstülpung, diequasi eine Rinne bildet, gibt man Zuckerwasser. Das Glaswird mit einem Stopfen oben verschlossen. Die angelocktenFliegen gelangen durch die untere Öffnung ins Glas, findenjedoch nicht mehr den Weg zurück, ermatten und ertrinkenin der Flüssigkeit. „Was ist dein Ziel in der Philosophie? -Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen“(WITTGENSTEIN).

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halb des ökonomischen Kalküls erkennen. Ist erkein reiner Ökonom, wird er entgegnen: „Ich wür-de gerne anders handeln. Aber ich kann nicht,denn sonst bin ich nicht konkurrenzfähig und ver-schwinde vom Markt.“

Die Ausweglosigkeit der Falle hat zwei Ursa-chen: Das System selbst schafft die Falle, da nurÖkonomisches im Wirtschaftssystem sichtbarwird und man kann dieser Falle nicht entkommen,weil das System als das einzig vernünftige undgeltende angesehen wird.

Seid vielvernünftig! - Das Andere desAnderen bejahen

Jede Sichtweise, jede Erscheinungswelt machtetwas sichtbar, produziert andererseits aber auchblinde Flecken. Diese blinden Flecken könnennur von außen gesehen werden. Um möglichstviel zu sehen, müssen möglichst viele Erschei-nungswelten aufgesucht werden und Vernunftdurch viele Vernünfte, vielleicht sogar durchUnvernunft ergänzt werden.

Abb. 5: Das Aufsuchen und Bejahen verschiedener Erschei-nungswelten kann blinde Flecken vermindern (Bild ausSpielbergs Film ET).

Ich sehe was, was Du nicht siehst! - Die Freiheit von Konstruktion und Perspektive

Die Wissenschaft fordert Objektivität undklammert damit das persönliche Erleben mit dendarin eingeschlossenen Möglichkeiten, Ganzhei-ten direkt zu erfahren und intuitiv zu erfassen,aus. Genau das aber will und ermöglicht die Phä-nomenologie. Überprüfen Sie selbst, ob die fol-gende phänomenologische Betrachtung nichtNaturaspekte aufscheinen lässt, die die Wissen-

schaft nicht wahrnehmen kann und ob sie damitdem Thema Natur und Naturnähe nicht vielleichtsogar gerechter wird.

„Je nachdem, ob man mit dem Boot unterwegsist oder am gegenüberliegenden Ufer entlangwandert, wirkt das Wasser als Zugang, der einHerangleiten ermöglicht oder als eine Barriere,die umgangen oder überwunden werden muss.Das Waldstück aber hat in jedem Falle nach vor-ne eine Grenze, während es nach hinten grenzen-los ausläuft.

Der Wald ist durchflutet von Farben und Lichtund vielfach räumlich gegliedert, das Wasserdagegen eine dunkle ebene Fläche, teilweiseerobert durch die Spiegelung des Waldes und dieBlätter, die darauf schwimmen. Die Bäume sindmeist dünn und schmal. Der Wald wirkt zerbrech-lich, keinesfalls wuchtig oder mächtig. Der Land-raum ist offen und verschlossen zugleich. SeineLichtdurchlässigkeit und das innere Leuchtenmachen ihn äußerst sichtbar, er birgt keine Schat-ten und dunklen Geheimnisse wie viele andereWälder. Das dichte hohe Gras und die Grenzezum Wasser verschließt ihn aber auch und lässtihn relativ undurchdringlich wirken. Ihn zu betre-ten bedeutet Aufwand. Das Land liegt niedrig amWasser, das dichte Gras erhöht es etwas. Das Grasund auch teilweise die Bäume neigen sich insWasser, steigen oder rollen hinein. Das schafftfließende Übergänge, die wie ein Schleier auf dergeraden Linie des Ufers liegen. Würde sich diesegerade Linie auf längerer Strecke fortsetzen, träteihre Künstlichkeit hervor und sie würde wie einSchnitt von außerhalb die Natur zergliedern undstören.“

Abb. 6: So sieht das im Text phänomenologisch beschriebe-ne Waldstück aus.

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Wie erkläre ich einem Blinden die Farben? - Brücken über die Abgründe zwischen den Erscheinungswelten

Werden viele Erscheinungswelten nebenein-ander genutzt, stellt sich ein neues Problem. Wiesollen wir uns da noch gegenseitig verstehen,geschweige denn uns auf etwas Bestimmtes eini-gen? Welche Erscheinungswelt ist besser undrichtiger? Eine Erscheinungswelt lässt sich voninnen nicht kritisieren, sie ist einfach. Kritik istnur von einer anderen Erscheinungswelt aus mög-lich, diese kann aber selbst auf gleiche Weisehinterfragt werden. Wir haben also ein Überset-zungs- und ein Relativismusproblem.

Zunächst einmal ist die Pluralität der Erschei-nungswelten für uns nichts Neues, sondern unserAlltag. Beim Einkaufen betreten wir die Wirt-schaftswelt. Beim Abendessen mit der neuenFreundin treten wir in die Welt der Romantik ein.In diesem Fall besteht z. B. überhaupt keinBedarf, die wirtschaftliche Erscheinungswelt indie romantische zu übersetzen. Wir wählen dieErscheinungswelt je nach Eignung für unsereZwecke.

Die Kommunikation zwischen den Erschei-nungswelten ist auch nicht so schwierig wie eszunächst scheint: Übersetzungen von einer Spra-che in die andere erfolgen normalerweise nichtWort für Wort, sondern der Sinn wird in einer

Sprache verstanden und dann in der anderenerneut ausgedrückt. Dieses Verstehen ist aucheine mögliche Brücke zwischen den Erschei-nungswelten. Ein Beispiel: Aus der Wissenschaftist uns der Zusammenhang zwischen Mulmhöh-len und seltenen Totholzkäfern bekannt. DieMulmhöhle wird dadurch zum besonderen phäno-menologischen Naturerlebnis, zu einem Bild desHeilseins der Natur anstelle des Krankseins einerFaulstelle. Die in einer Erscheinungswelt erwor-bene Erkenntnis kann deutend in eine andereübernommen werden.

Das Relativismusproblem aber ist nicht zulösen, denn wir haben kein Kriterium, einerbestimmten Erscheinungswelt den Vorzug zugeben. Doch vielleicht ist dieser Relativismusweniger ein Problem, sondern vielmehr eineLösung? Er schafft zumindest Offenheit, denn esgibt keinen einzig richtigen Standpunkt mehr. Wirkönnen uns frei überlegen, welche Welt wir wol-len und dann die Systeme wählen, die in derjeweiligen Situation am erfolgversprechendstenscheinen, um diese Welt zu verwirklichen. Diesonst ausschließlich geltende Vernunft von Wis-senschaft und Wirtschaft verliert ihre Ausschließ-lichkeit und wird zu einer Vernunft unter vielen.

Mit dem Hammer Mäuse melken! - Fürjeden Zweck das richtige Werkzeug oder:Die Konstruktion angepasster Systeme

Wir wollen mehr Naturnähe in der Forstwirt-schaft. Wie erreichen wir das? Die Antwort lautet,wir müssen ein handelndes und erkennendesSystem entwerfen, das Naturnähe wahrschein-licher und Naturferne unwahrscheinlicher macht.Wir brauchen also eine handlungsmächtige Orga-nisation, die an entsprechenden Punkten sensibel,an widersprechenden aber unsensibel ist.

Naturwaldforschung kann der Organisationdabei die Augen öffnen. Sie ist ein wichtiges Sin-nesorgan. Sie ist aber auch nötig, um weitere Sin-ne zu konstruieren, die es ermöglichen, Naturnä-he im forstlichen Wirtschaften zu erkennen.

Die Konstruktion eines angepassten Systemsist allerdings etwas schwieriger als das Heraus-greifen einer einzelnen Zielsetzung vermutenlässt. Sensibilisierung in einem Bereich bedeutetzugleich Desensibilisierung in einem anderen.Jedes „Ja“ ist auch ein „Nein“. Naturnähe verbie-tet naturferne Maßnahmen, die eventuell aberökonomisch vorteilhaft wären.

Abb. 7: Auf dem Bild sind entweder schwarze oder weißeSchwäne und Fische zu erkennen. Je nachdem auf was mansich konzentriert und was man zum Hintergrund macht,ergeben sich verschiedene Erscheinungswelten. Wie kannman nun von der Erscheinungswelt der weißen Schwäneaus die Welt der schwarzen Schwäne verstehen? (Bild: ESCHER)

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Auflösungsmöglichkeiten liegen in zeitlicherund räumlicher Trennung der Zielverfolgung undin der Priorisierung in einem System des „sowohlals auch“. Ohne Entzerrung droht jedoch Hand-lungsunfähigkeit oder Verbannung auf ein cha-rakterloses Handlungsmittelfeld. Man ist wederdie sprudelnde Geldquelle noch der Behüter derNatur. Gesichtslosigkeit verzeiht die Öffentlich-keit aber nicht. Eine traurige Erkenntnis für Orga-nisationen, die von der öffentlichen Meinungabhängen. Eben das ist vielleicht die Tragödie dervielbeschworenen multifunktionalen Forstwirt-schaft.

Wir sind die Guten! Oder etwa nicht?- Ist Naturwaldreservatsforschungethisch richtig?

Das unausgesprochene Sollen - keine Wissenschaft lässt sich wissenschaftlichrechtfertigen, auch die Naturwald-forschung nicht

Die Wissenschaft soll objektiv und ohne Wer-tung über die Wirklichkeit Aufschluss geben. Sieist der Realität verpflichtet, der Welt, wie sie ist.Eine problematische Aussage, wie wir gesehenhaben. Die Wissenschaft erkundet keine ohne sieexistierende Welt, sondern erschafft eine wissen-schaftliche Erscheinungswelt. Aber erfüllt wenig-stens diese Erscheinungswelt ihre eigenenAnsprüche? Ist Wissenschaft ohne Wertung mög-lich?

Im Winter finden Vögel an der Douglasiekaum Nahrung, da dort Spinnentiere fehlen. DieFichte bietet in dieser Hinsicht mehr für denVogelmagen (GOSSNER und UTSCHICK 2001). Obdas jetzt besser oder schlechter ist, da enthaltenwir Wissenschaftler uns.

Warum betreiben wir dann aber solche Stu-dien? Warum verwenden wir dafür Ressourcen?Oder anders gefragt: Wie entscheiden wir, wo wirunsere begrenzten Mittel einsetzen? Wäre es nichtvernünftiger, in die Friedensforschung zu inve-stieren, in die Züchtung neuer Maissorten, in dieKrebsbekämpfung, in die Eroberung des Welt-raums? Ja, ist es wirklich vernünftiger, Wissen-schaft zu betreiben, um unser endliches irdischesLeben (vielleicht) zu verbessern, als über einereligiöse Lebensführung ewiges Seelenheil zuerlangen?

Wissenschaft ist ein Werkzeug. Ihre Erkennt-nisse erscheinen im zweiten Teilsatz eines hypo-thetischen Urteils: Wenn das und das euer Ziel ist,

dann rät die Wissenschaft dieses und jenes zu tun.Die Zielsetzung aber ist Bestandteil eines ganzanderen Argumentationszusammenhangs. DieFrage „Was sollen wir tun?“ kann mit naturwis-senschaftlichen Mitteln allein nicht beantwortetwerden. Ja selbst die Entscheidung, den wissen-schaftlichen Rat für den zweiten Teilsatz zu wäh-len und keinen anderen, ist schon keine wissen-schaftliche Entscheidung mehr. Die Wissenschaftkann sich nicht selbst rechtfertigen.

Wer meint, die wissenschaftliche Erkenntnis„Totholz erhöht die natürliche Artenvielfalt imWald“ sei ein Argument dafür, mehr Totholz imWald zu belassen, hat nicht verstanden, dass sichaus dieser Erkenntnis allein keine Handlungs-empfehlung ableiten lässt. „Soso, mehr Totholz,mehr Arten, na und?“ könnte man antworten. Eswird nur zu einem Argument, wenn sich die an derDiskussion Beteiligten einig sind, dass die Erhö-hung natürlicher Artenvielfalt ein erstrebenswer-tes Ziel ist. Geht es aber um Ziele, sind wir bei derzweiten Kant'schen Frage angelangt, befindenuns in einer ethischen Diskussion und nicht ineiner naturwissenschaftlichen.

Naturwaldforschung wird für den Menschen betrieben - wie sich die Naturnäheforderung anthropozentrischbegründen lässt

Der ethische Anthropozentrismus stellt denMenschen in das Zentrum des moralischen Uni-versums. Er erkennt als Maßstab nur den Nutzenfür den Menschen an. Richtig ist, was dem Men-schen nützt, falsch ist, was ihm schadet. Keinanderes Lebewesen, geschweige denn Nicht-Leben, hat moralische Rechte. Argumente, diesich anthropozentrisch begründen lassen, erfreu-en sich in unserer Gesellschaft allgemein großerDurchsetzungskraft. Es gab und gibt allerdingsGesellschaftsformen, die nach anderen Prinzipienfunktionieren. In denen z. B. die Annahme einesEigenwerts der Natur selbstverständlich ist unddie Reduktion eines Geschöpfs auf seinen Nutzenfür den Menschen absurd klingen würde.

Die Ökologie hat den Blick für die vielfältigenZusammenhänge in der Natur geschärft undgezeigt, dass der Mensch in eben diese vielfältigeZusammenhänge eingebunden ist und sein Wohl-ergehen von vielen Faktoren abhängt. Faktoren,die nicht nur direkt wirken und daher unmittelbarzu sehen sind, sondern die indirekt wirken, ver-flochten sind und deren Bedeutung zunächst nichtklar ist. Die Ökologie hat die Augen wieder für dieKomplexität geöffnet, allerdings nicht im mysti-

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schen Sinne einer Unergründbarkeit der Natur,sondern im Sinne potentieller wissenschaftlicherDurchschaubarkeit. Die Ökologie garantiertgleichsam, dass die Wirklichkeit aus Elementenund Wechselbeziehungen besteht. Diese müssennur genau genug erkannt werden.

Die Naturwaldforschung begründet sich nunaus diesem ökologischen Weltbild heraus. Siedient dem Erkennen von solchen Elementensowie deren Wechselbeziehungen und erhöhtdamit die Nutzbarkeit der Natur für den Men-schen. Sie ist ein Instrument der Naturbeherr-schung. Naturmechanismen werden für die Kul-tur verwendet. Die Forstwirtschaft zieht sich einNaturkleid an. Das alte Prinzip der Naturbeherr-schung bleibt erhalten, nur sind die Technikennicht mehr so plump und fehleranfällig.

Deshalb ist Naturwaldforschung letztendlichauch ökonomisch sinnvoll. Erst die Möglichkeit,auf ökonomische Vorteile verweisen zu können,macht obige Argumente in unserer Gesellschaftzu „knallharten“ Argumenten. Keine Gefühlsdu-selei romantischer Naturverklärung, sondern dieeinleuchtende Vernunft von Euro und Cent sinddie größten Trümpfe in der Rechtfertigung derNaturwaldforschung.

Naturwaldforschung wird nicht für den Men-schen betrieben - warum eine anthropozen-trische Naturnäheforderung zu kurz greift

Täuschen wir uns? Sprechen wir vielleicht nurdie Sprache unserer Gegner, damit sie uns verste-hen und wir sie überzeugen können? Sind aberunsere Überzeugungen und Motivationen ganzandere? Wird wirklich jemand Naturwaldfor-scher, weil er die Natur besser nutzbar machenwill? Oder ist der Anstoß, der ihn zum Themageführt hat, nicht ein anderer? Es ist gut vorstell-bar, dass die ursprüngliche Motivation weder einewissenschaftliche noch eine wirtschaftliche war.Die Faszination, die die Natur auf den Menschenausübt, ist anderer Art.

Würden wir mit der anthropozentrischenArgumentation ernst machen, müssten unsereFragestellungen anders lauten. Wir müssten fra-gen, wo das Naturminimum liegt, das nützlicher-weise nicht unterschritten werden darf. Wie vielNaturferne ist möglich? Wie viel Spielraum habenwir, um den wirtschaftlichen Nutzen zu maximie-ren?

Konsequenzen? Seltene Arten hätten z. B. aufGrund ihrer Seltenheit bewiesen, dass sie entbehr-lich sind. Sie wären nicht schützenswert, sondernüberflüssig. Das Ökosystem funktioniert schließ-lich, obwohl sie kaum mehr in diesem Systemmitwirken.

Mit Hinweisen auf potentiellen, noch unbe-kannten Nutzen in der Zukunft ist auch nicht vielgewonnen. Auf diese Weise könnte es höchstensnotwendig werden, minimale Rückzugsgebietezu erhalten. Und vielleicht sind die auch nichtnötig, solange ähnliche verwandte Arten ihr Feh-len kompensieren können. Auf großer Flächemuss deswegen keine Rücksicht genommen wer-den. Es ist fraglich, ob die heutige Praxis relativwaldschonender Forstwirtschaft anthropozen-trisch zu begründen ist.

Ich möchte nicht missverstanden werden. Ichbin überzeugt, dass eine radikal anthropozentri-sche Praxis eine unmenschliche Welt zur Folgehat. Zugegebenermaßen ist dies eine paradoxeFolgerung: Menschen-Zentrierung führt zuUnmenschlichkeit. Die Paradoxie löst sich aber,sieht man, dass sie Ergebnis einer unglücklichenReduktion des Menschseins ist. Einer Reduktiondie aus der Anwendung ausschließlich wissen-schaftlicher und wirtschaftlicher Rationalitätresultiert.

Menschsein kann und sollte anders konstruiertwerden. Eine Erscheinungswelt, in der NaturEigenwert besitzt, ist für Menschen lebenswerter.Natur muss um der Natur willen gewollt werden,damit sie einem komplexeren und vollständigerenMenschsein nützt.

Abb. 7: In der Naturschutz-diskussion zählen nicht nurwissenschaftliche und ökono-mische Argumente. DieGesellschaft wird von Gefüh-len geleitet. Erhabenheit undSchönheit der Natur sprechenfür sich (Gemälde: CASPARDAVID FRIEDRICH).

Naturschutz, der sich nur anthropozentrischrechtfertigen will, muss sich eventuell vorrechnenlassen, dass es ökonomisch sinnvoller ist, das achso geliebte Naturschutzgebiet einer Fabrik zuopfern. Jeder Wert, der mühevoll errechnet wird,kann vom Wert einer anderen Nutzung über-

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trumpft werden (vgl. EHRENFELD 1997). DerNaturschützer versucht in der Sprache einesSystems zu argumentieren, das blinde Fleckenhinsichtlich entscheidender Zusammenhänge hat,die sich nur außerhalb des Systems erkennen las-sen. Er stellt sich einem Kampf, den er vielleichtgar nicht gewinnen kann.

Das Ziel „mehr Naturnähe“ muss auch mitemotionalen Argumenten verteidigt werden,damit es nicht im Strudel fortschreitender Ökono-misierung untergeht. Nur wenn die Gesellschaftan diesem Ziel festhält, bleibt die Naturwaldfor-schung eine sinnvolle Tätigkeit.

LiteraturEHRENFELD, D. (1997): Das Naturschutzdilemma. In

Birnbacher, D. (Hrsg.): Ökophilosophie. S. 135-177

GOSSNER, M.; UTSCHICK, H. (2001): Douglasienbe-stände entziehen überwinternden Vogelarten die Nah-rungsgrundlage. Berichte aus der Bayerischen Lan-desanstalt für Wald und Forstwirtschaft Nummer 33,Freising

MOOG, M.; OESTEN, G. (2002): Forstwirtschaft inWirtschaft und Gesellschaft. In: Handbuch des Umwelt-schutzes - Naturschutz und Landschaftspflege II -7.5.1, 22 S.