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ELLY HEUSS-KNAPP GRüNDERIN DES MüTTER- GENESUNGSWERKES EINE BIOGRAPHIE ALEXANDER GOLLER

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I SBN 3- 412- 20880- 9

ISBN 978-3-412-20880-6 | www.Boehlau-Verlag.com

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Elly Heuss-Knapp (1881–1952) war nicht nur die vermutlich bedeutendste Gattin eines Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland, sondern auch die Gründerin des Deutschen Müttergenesungswerkes. Ihr Leben erreichte seinen Höhepunkt im Aufbau dieser nunmehr über ein halbes Jahrhundert bestehen den Institution, deren Schirmherrin nach wie vor die Frau des amtierenden Bundes-präsidenten ist. Eine sozialliberale Prägung und ein standfester religiöser Glauben führten Elly Heuss-Knapp dazu, über Jahrzehnte aktiv soziale Projekte zu gestal-ten und entscheidend mitzubestimmen.Mit dieser Monographie liegt nun die erste wissenschaftlich fundierte Biographie über Elly Heuss-Knapp vor. In einer gelungenen Verknüpfung von »Privatem« und »Öffentlichem « zeichnet Alexander Goller darin ihr Leben und Wirken detailliert nach und bringt zugleich die Epoche insgesamt in den Blick.

elly Heuss-KnApp GrünDErIn

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Alex A nder Goller

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Alexander Goller

Elly Heuss-Knapp – Gründerin des Müttergenesungswerkes

Eine Biographie

2012

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Links: Elly Knapp im Lesezimmer im Hause Knapp um 1905 (siehe auch Seite 31). Rechts: Elly Heuss-Knapp in ihrem Arbeitszimmer 1950.Die Abbildungsrechte liegen bei Familie Heuss in Basel.

© 2012 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln WeimarUrsulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com

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Druck und Bindung: xPrint s.r.o., PribramGedruckt auf chlor- und säurefreiem PapierPrinted in the Czech Republic

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Vorwort

Die vorliegende Arbeit ist im Juli 2009 von der Fakultät für Philosophie und Geschichte der Eberhard Karls Universität Tübingen als Dissertation ange-nommen und für die Veröffentlichung überarbeitet worden. An erster Stelle darf Herrn Prof. Dr. Anselm Doering-Manteuffel gedankt werden. Sein Rat, seine offene sachliche Kritik und insbesondere der Freiraum, den er bei der Abfassung der Arbeit ließ, ermöglichten überhaupt erst neben anderen Ver-pflichtungen die erfolgreiche Vollendung. Herr Prof. Dr. Joachim Scholtyseck übernahm dankenswerterweise im Rahmen des Promotionsverfahrens das Zweitgutachten. Die Familie Heuss in Basel unterstützte das Vorhaben mit allen erdenklichen Mitteln. Hierfür danke ich in besonderem Maße Herrn Ludwig Theodor Heuss und seiner Familie. Die Begegnungen mit Frau Ursula Heuss-Wolff werden mir immer unvergesslich bleiben! Dank gebührt schließ-lich auch einer Reihe von Unterstützern, die nicht einzeln genannt werden sollen, doch im Rahmen von Diskussionen, Anregungen und Hilfen über Jahre hinweg die Fertigstellung unterstützten.

Das familiäre Umfeld ist die Grundlage allen Arbeitens. Daher widme ich diese Arbeit Barbara.

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Inhalt

Einleitung .............................................................................................. 9 1. Methodisches Vorgehen .............................................................. 10 2. Aufbau der Arbeit ....................................................................... 17 3. Literatur ...................................................................................... 19 4. Quellen ........................................................................................ 21

I. Die Jugend von Elly Knapp in Straßburg ....................................... 23 1 Soziale Verhältnisse im Deutschen Kaiserreich vor der Jahrhundertwende ....................................................................... 25 a) Lebensverhältnisse im deutschen Bildungsbürgertum ........... 25 b) Sozialpolitik und soziale Errungenschaften ........................... 43 2. Berufliches und ehrenamtliches Engagement von Georg Friedrich Knapp. ........................................................................... 50 a) Der Verein für Socialpolitik ................................................... 51 b) Die Professur für Nationalökonomie an der Kaiser-Wilhelm- Universität in Straßburg ........................................................ 57 3. Erziehung und Aufwachsen im Elternhaus Knapp. .................... 61 a) Die Kindheit und Jugend in einer bildungsbürgerlichen Familie ................................................................................... 61 b) Das Hineinwachsen in sozialpolitische Problemstellungen ... 68 4. Soziale Ausprägungen des Charakters durch herausragende Persönlichkeiten .......................................................................... 74 a) Friedrich Naumanns sozialer Linksliberalismus .................... 75 b) Albert Schweitzers theologische Nächstenliebe ..................... 85

II. Ausprägung der sozialen Persönlichkeitsstruktur ......................... 94 1. Sozialpolitische Themen vor dem Ersten Weltkrieg .................... 96 a) Publikationen als Sprachrohr sozialpolitischer Grundausrichtung im Bereich der Armenunterstützung ....... 96 b) Hauswirtschaft und Heimarbeit. Sensibilisierung für Probleme der Frauen zuhause ................................................ 103 2. Der Rückhalt in der Familie ........................................................ 107 3. Rezensionen und Mitarbeit an der Ausstellung „Die Frau in Haus und Beruf“ .......................................................................... 110

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4. Soziale Unterstützungstätigkeit vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zum Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft ................................................................................... 112 a) Organisatorin von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Ersten Weltkrieg .................................................................... 114 b) Politisches Intermezzo . .......................................................... 118 c) Die Rückbesinnung auf Religion ........................................... 125 d) Soziale Aktivitäten in schwierigen Zeiten ............................. 131 5. Veränderte Lebensverhältnisse in der Diktatur ........................... 141 a) Rückzug ins Private ............................................................... 142 b) Arbeiten für die Werbung als Lebensmittelpunkt ................. 149

III. Sozialpolitische Initiativen nach dem Zweiten Weltkrieg ........... 153 1. Vielfältige Betätigungen nach Jahren der Zurückgezogenheit .... 157 2. Wieder in der aktiven Politik ...................................................... 160 a) Landtagsabgeordnete in Württemberg-Baden ....................... 163 b) Die „erste Frau im Staat“ ....................................................... 171

IV. Das Deutsche Müttergenesungswerk ........................................... 175 1. Die Gründung der „Elly Heuss-Knapp-Stiftung ,Deutsches Müttergenesungswerk’“ ............................................................... 177 2. Professionalisierung und Öffentlichkeitswirkung ........................ 187 3. Etablierung der Müttergenesung in der bundesdeutschen Fürsorge ....................................................................................... 195

Schlussbetrachtung ............................................................................... 200

Quellen- und Literaturverzeichnis ....................................................... 202 1. Ungedruckte Quellen .................................................................. 202 2. Gedruckte Quellen ...................................................................... 203 3. Veröffentlichungen von Elly Heuss-Knapp ................................. 204 4. Zeitgenössische Schriften und Erinnerungen ............................. 206 5. Literatur ...................................................................................... 209

Register ........................................................................................................ 230 1. Personenregister .......................................................................... 230 2. Institutionen, Vereins- und Ortsregister ...................................... 231 3. Sachregister ................................................................................. 232

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Einleitung

In der neueren deutschen Geschichte ist die Erforschung von Lebenswegen politisch und gesellschaftlich bedeutender Persönlichkeiten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weit gediehen. Dieser Personenkreis hat zumeist seine Sozialisation im Deutschen Kaiserreich erhalten und erfuhr eine starke Zäsur durch den Ersten Weltkrieg. In der Weimarer Republik polarisierten sich die Lebensentwürfe, was dann im nationalsozialistischen Staat zur Teil-nahme oder zum Rückzug ins Private, wenn nicht gar zur Emigration oder zur Ermordung durch die Nationalsozialisten führte. Natürlich gab es nahezu unendlich viele Schattierungen an Einzelbiographien, dennoch dürften die eben skizzierten einige Hauptstränge verdeutlichen. In der Bundesrepublik Deutschland gelangten dann Personen, die ehemals in gesellschaftlich und politisch hochrangigen Stellungen waren, nicht selten trotz faschistischer Ver-gangenheit1 wieder in exponierte Positionen. Biographien von Persönlichkei-ten, die sich nicht auf den Nationalsozialismus eingelassen haben und in der Bundesrepublik Deutschland eine herausragende Funktion in den verschie-densten gesellschaftlichen Bereichen innehatten, scheinen weniger interes-sant.2 Insbesondere für die wichtige soziale Ausformung des neuen Staates lie-gen kaum biographische Untersuchungen zu dessen Protagonisten vor.3 Einige der bedeutenden Persönlichkeiten bei der Ausgestaltung des westdeutschen Sozialstaates werden in der vorliegenden Untersuchung Erwähnung finden.

Eine Frau mit ungewöhnlich starkem sozialem Engagement im Kaiser-reich und in der Weimarer Republik, die ihre Aktivitäten unter dem Natio-nalsozialismus auf den Gelderwerb für die eigene Familie konzentrierte, war Elly Heuss-Knapp. Als Gattin des ersten deutschen Bundespräsidenten stand sie schließlich in exponierter Stellung, so dass sie eine große Wirkung entfal-ten konnte, die in der Gründung des Deutschen Müttergenesungswerkes ihren Höhepunkt fand. Die soziale Prägung als zentrales Element ihrer Persönlich-

1 Das ausschlaggebende Werk zur Kontinuität vom Dritten Reich zur Bundesrepu-blik ist Frei, Norbert, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, dtv, München 1999.

2 Bedeutende Ausnahmen sind Biographien politischer Entscheidungsträger. Als herausragend kann Schwarz, Hans-Peter, Adenauer. Der Aufstieg 1876–1952/Der Staatsmann 1952–1967, 2 Bde., dtv, München 1994, genannt werden.

3 Vgl. Maier, Hugo, Vorwort und die kurzen biographischen Skizzen in Who is who der sozialen Arbeit, hg. von Hugo Maier, Lambertus, Freiburg i. Br. 1998.

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keit erhellt die starke Komponente, die bei ihr in der Gründungsphase der Bundesrepublik die herausragende charakterliche Eigenschaft darstellte. Die biographische Analyse einer wirkungsmächtigen historischen Person in ihrer Zeit, wie es Elly Heuss-Knapp ohne Zweifel war, leistet somit immer zugleich einen Beitrag zu Themen, die vom Individuum ausgehend die Epoche insge-samt in den Blick bringen.4 Das Deutsche Müttergenesungswerk als eine Ein-richtung, die einer breiten Bevölkerungsschicht zugute kommen sollte, ist ein exemplarisches Beispiel der Institutionalisierung des deutschen Sozialwesens.

In der Hoffnung als Historiker nicht nur „den Intellekt“ anzusprechen, sondern auch an den Geist, der den Menschen reifen lässt, zu appellieren,5 soll vermittelt werden, dass die Thematik ein bedeutendes Anliegen ist, ohne dabei den nötigen Abstand zum historischen Gegenstand zu verlieren. Es wird versucht, der nötigen wissenschaftlichen Aufarbeitung des bundesdeutschen Sozialstaates mit dieser Abhandlung ein menschliches Antlitz hinzuzufügen, das zudem die individuelle Persönlichkeitsentwicklung als historische Grund-voraussetzung elementarer Sozialstrukturen erkennt.

1. Methodisches Vorgehen

Wissenschaftliche Arbeiten erfordern weit mehr als lediglich die Erörterung eines Themas unter ausschließlich literarischen Gesichtspunkten.6 Dies gilt ebenso für die Geschichtswissenschaft. Eine unabdingbare Grundvorausset-zung des Historikers muss ein Bewusstsein dafür sein, dass er in seiner Gegen-wart, die zur Vergangenheit wird, schreibt. Somit wird von der unmittelbaren Gegenwart des Historikers dessen Arbeit geprägt. Die geistige Tätigkeit des historischen Erzählens besteht in der bewusst vollzogenen Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit, der Konstitution des Geschichtsbewusstseins.7 Der Historiker muss seine empirischen Bezüge im Quellenmaterial finden. Seine ästhetischen Gestaltungsmittel bleiben begrenzt, wenn er untersucht,

4 Möller, Horst, Was ist Zeitgeschichte? In: Einführung in die Zeitgeschichte, hg. von Horst Möller und Udo Wengst, C.H. Beck Verlag, München 2003, S. 36.

5 Morkel, Arnd, Die Universität muss sich wehren. Ein Plädoyer für ihre Erneue-rung, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2000, S. 153/154.

6 Mommsen, Wolfgang J., Geschichte als Historische Sozialwissenschaft, in: Theo-rie der modernen Geschichtsschreibung, hg. von Pietro Rossi, Suhrkamp, Frank-furt am Main 1987, S. 107.

7 Rüsen, Jörn, Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik I: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1983, S. 55.

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erörtert und argumentiert.8 Die notwendige Synthese zwischen allgemeinen Strukturen und Prozessen und individuellen Handlungen und Ereignissen erfordert sowohl erklärende als auch verstehende Momente.9

Mit einem biographischen Zugang zu Elly Heuss-Knapp, welcher in der Gründung des Deutschen Müttergenesungswerkes gipfelt, soll eine soziale Prägung verdeutlicht werden, die sich in konkreten Aktivitäten niederschlägt und zunehmend professioneller agiert. Allerdings darf dieser Ansatz nicht mit der Biographieforschung in den Sozialwissenschaften verwechselt werden, da diese das soziale Konstrukt „Biographie“ mit der Datengrundlage autobio-graphischer Lebensgeschichten erforschen.10 In der historischen Biographie-forschung steht zwar das Individuum als Handlungsträger im Zentrum des Interesses, allerdings in Form einer konsequenten Analyse seiner Bezüge zur Umwelt. Die Wechselwirkung zwischen dem Individuum und seinem gesell-schaftlichen Umfeld ist prägend für dessen Persönlichkeitsstruktur, zugleich aber das zentrale theoretische und methodische Problem.11 Zur wissenschaftli-chen Interpretation gehört neben einer Beschreibung des beobachtbaren Han-delns der analysierten Person auch die Darstellung der Selbstbeschreibung der Beteiligten, wobei es nicht notwendig ist, die wissenschaftliche Interpretation von der Beschreibung zu trennen, wie Clifford Geertz meint.12 Die Selbstin-terpretation der Akteure wird in eine andere Sprache übersetzt und in einen anderen Fragehorizont integriert. Die historische Biographie muss die Pro-duktion von Identität im Rahmen von jeweils durch die Struktur von Fami-lie und Gesellschaft geprägten Handlungs- und Kommunikationszusammen-

8 Hockerts, Hans Günter, Zugänge zur Zeitgeschichte: Primärerfahrung, Erinne-rungskultur, Geschichtswissenschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 51 B28 (2001), S. 28.

9 Haussmann, Thomas, Erklären und Verstehen: Zur Theorie und Pragmatik der Geschichtswissenschaft. Mit einer Fallstudie über die Geschichtsschreibung zum deutschen Kaiserreich 1871–1918, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1991, besonders S. 131, 186–188, 233–235 und 237.

10 Fischer, Wolfgang/Kohli, Martin, Biographieforschung, in: Methoden der Biogra-phie- und Lebenslaufforschung (Biographie und Gesellschaft 1), hg. von Wolf-gang Voges, Leske + Budrich, Opladen 1987, S. 26 und Fuchs-Heinritz, Werner, Biographische Forschung. Eine Einführung in Praxis und Methoden (Hagener Studientexte zur Soziologie), Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 22000, S. 9/10.

11 Gestrich, Andreas, Einleitung: Sozialhistorische Biographieforschung, in: Biogra-phie – sozialgeschichtlich. Sieben Beiträge, hg. von Andreas Gestrich, Peter Knoch und Helga Merkel, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1988, S. 7, 21.

12 Vgl. Geertz, Clifford, Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur, in: Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Ver-stehen kultureller Systeme, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1983, S. 7–43.

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hängen rekonstruieren.13 Was bedeutet dies für die methodische Umsetzung? Zunächst muss der einzelne Mensch als Subjekt seiner eigenen Lebensge-schichte und als „Konstrukt“ seiner eigenen Biographie im Prozess der Inter-aktion deutlich herausgestellt werden.14 Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger als eine Verschränkung der eigenen Sicht Elly Heuss-Knapps auf sich mit der Sichtweise anderer und mit den einwirkenden gesellschaftlichen und privaten Zwängen.

Für die jungen Lebensjahre von Elly Heuss-Knapp im Kaiserreich um die Jahrhundertwende wird die Sozialgeschichte der Kindheit, die Erziehungs- und Bildungsgeschichte und die Familiengeschichte bürgerlich-akademi-scher Familien ein zentrales Element der Darstellung sein. In der Weima-rer Republik müssen verstärkt individuelle erfahrungsgeschichtliche Aspekte Eingang finden, da das Meistern der schwierigen Lebensverhältnisse heraus-ragende Bedeutung innerhalb der Familie hatte. Auch die Politikgeschichte darf nicht vernachlässigt werden. Eine größere Bedeutung erlangt diese für den Lebensweg von Elly Heuss-Knapp aber erst nach 1945, als die Familie zunehmend im Mittelpunkt des überregionalen politischen Interesses stand und andere Aspekte mehr und mehr von der exponierten politischen Stellung der Familie bestimmt wurden. Psychologische Aspekte werden in Verbindung mit der Lebenserfahrungsgeschichte, der Mentalitätengeschichte, der histo-rischen Verhaltensforschung, der Geschichte der Geschlechterrollen, sowie der Geschichte des Körpers und der Sinneswahrnehmungen Eingang in die Untersuchung finden. Lebenserfahrungsgeschichte verweist auf das Individu-elle, das Interesse an Menschen mit Namen und unterscheidbarer Geschichte, das in das historische Blickfeld zurückkehrt. In Anlehnung daran kann von einer Aufwertung des Ereignisses gegenüber der Struktur und einem neuen Verständnis von Macht und Politik gesprochen werden. Dieser Zugang unter-scheidet sich vom Konzept der Alltagsgeschichte als Erfahrungsgeschichte der „kleinen Leute“, wie es in den 1980er Jahren eine enorme Aufwertung erfuhr.15 Mentalitätengeschichte soll nach drei Hauptgesichtspunkten, wie diese von

13 Gestrich, Einleitung, S. 17.14 Ebd., S. 21.15 Vgl. Hardtwig, Wolfgang, Alltagsgeschichte heute. Eine kritische Bilanz, in: Sozi-

algeschichte, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie. Eine Diskussion, hg. von Win-fried Schulze, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1994, S. 19–32, Lüdtke, Alf, Alltagsgeschichte, in: Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, hg. von Stefan Jordan, Reclam jun., Stuttgart 2002, S. 21–24 und Lüdtke, Alf, Einleitung: was ist und wer treibt Alltagsgeschichte? In: Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, hg. von Alf Lüdtke, Campus, Frankfurt/New York 1989, S. 9–47.

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Edmund Burke formuliert wurden, verstanden werden: 1. Es werden kollektive anstelle individueller Einstellungen betont. 2. Es wird Nachdruck auf unaus-gesprochene und unbewusste Annahmen, auf die Untersuchung der Wahrneh-mung, auf die Arbeitsweise des Alltagsdenkens gelegt. 3. Neben dem Inter-esse für Inhalte besteht auch ein Interesse für Strukturen von Meinungen, für Kategorien, für Metaphern und Symbole.16 Diese Verknüpfung unterschiedli-cher historischer Ansätze wird nötig sein, damit die sich herausbildende Per-sönlichkeit von Elly Heuss-Knapp in ihrer Zeit verortet werden kann. Hierfür müssen ihre Herkunft, die individuelle Sozialisation, die literarische Produk-tion, sowie Ansätze ihrer theoretischen Positionen zu theologischen und poli-tischen Fragen der Zeit deutlich herausgestellt werden.17 Die mikrohistori-sche Analyse, die auf ein begrenztes Beobachtungsfeld, in diesem Fall eine einzelne Persönlichkeit abzielt, ermöglicht einen Erkenntnisgewinn durch die Untersuchung von Handlungsbedingungen, Handlungen und Deutungen, ausgehend von einer einzelnen Person und ihrer wechselseitigen Verflechtung und Abhängigkeit. Die Institution des Deutschen Müttergenesungswerkes erscheint somit von der Persönlichkeit Elly Heuss-Knapp gestaltet.18 Der mik-rohistorische Zugang bietet auch Ansätze zur Erforschung von sozialer Mobi-lität, partieller Sicherheit und kirchlicher Einflüsse, um nur einige Aspekte zu nennen, die für die vorliegende Studie relevant sind. Er kann als erkenntnis-

16 Burke, Peter, Stärken und Schwächen der Mentalitätengeschichte, in: Mentalitä-ten-Geschichte, hg. von Ulrich Raulff, Wagenbach, Berlin 1989, S. 127–145. Auf-grund vieler Anleihen bei Kulturanthropologen geht die Mentalitätengeschichte heute in der historischen Anthropologie (der Ideen) auf. Burke, Stärken und Schwächen, S. 127 und Schöttler, Peter, Mentalitäten, in: Lexikon Geschichtswis-senschaft. Hundert Grundbegriffe, hg. von Stefan Jordan, Reclam jun., Stuttgart 2002, S. 205–208. Mentalitätengeschichte und Alltagsgeschichte münden in die historische Anthropologie. Medick, Hans, Historische Anthropologie, in: Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, hg. von Stefan Jordan, Reclam jun., Stuttgart 2002, S. 157–161 und van Dülmen, Richard, Historische Anthro-pologie. Entwicklung • Probleme • Aufgaben, Böhlau/UTB, Köln u.a. 22001, S. 5, 26, 40–43.

17 Röckelein, Hedwig, Der Beitrag der psychohistorischen Methode zur „neuen his-torischen Biographie“, in: Biographie als Geschichte, hg. von Hedwig Röckelein (Forum Psychohistorie 1), Tübingen 1993, S. 22–28.

18 Medick, Hans, Mikrohistorie, in: Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, hg. von Stefan Jordan, Reclam jun., Stuttgart 2002, S. 215–218, Medick, Hans, Mikro-Historie, in: Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie. Eine Diskussion, hg. von Winfried Schulze, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1994, S. 40–53 und van Dülmen, Richard, Historische Anthropologie, S. 52–54.

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förderndes Element der Makrogeschichte gesehen werden und Beiträge von allgemeiner Bedeutung liefern.19 Die präzise Beschreibung von Alltagssituati-onen, von literarischen und künstlerischen Zeugnissen wird mit der genauen Rekonstruktion der jeweiligen Kontexte und mit der historischen Analyse, die unter anderem Theoriemodelle aus der Soziologie aufnimmt, verbunden.20

Es wird nötig sein, sich knapp mit den Elly Heuss-Knapps soziale Prägung entscheidend beeinflussenden Bedeutungen der Begriffe „Jugend“, „Familie“ und „akademisches Bildungsbürgertum“ auseinanderzusetzen. Diese werden bestimmt, indem eine Fülle an politisch-sozialen Bedeutungs- und Erfah-rungszusammenhängen in den Begriff eingehen. Somit wird keine Eindeutig-keit erreicht werden können, doch die Verwendung wird nachvollziehbar und abgrenzbar.21 Die Bedeutungsveränderung von Begriffen wie „Familie“ wird sich durch die Darstellung von familiären Bezügen herauskristallisieren.22 Die Sozialisation von Elly Heuss-Knapp, verbunden mit dem deutschen Libera-lismus um die Jahrhundertwende, geprägt durch bedeutende Persönlichkei-ten wie Friedrich Naumann und Albert Schweitzer, verdrängt anschließend die familiären Analyseaspekte aus dem Kaiserreich. Hierbei ist darauf zu ach-ten, dass bei Naumann speziell eine Beschäftigung mit seinen sozialpolitischen Vorstellungen nötig ist, wohingegen bei Schweitzer religiöse Aspekte auf Elly

19 Schlumbohm, Jürgen, Mikrogeschichte – Makrogeschichte: Zur Eröffnung einer Debatte, in: Mikrogeschichte – Makrogeschichte. Komplementär oder inkom-mensurabel? Hg. von Jürgen Schlumbohm (Göttinger Gespräche zur Geschichts-wissenschaft 7), Wallstein, Göttingen 1998, S. 27/28 und Schulze, Winfried, Mikrohistorie versus Makrohistorie? Anmerkungen zu einem aktuellen Thema, in: Historische Methode, hg. von Christian Meier und Jörn Rüsen (Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik 5), dtv, München 1988, S. 341. Auf den Punkt bringt es Jürgen Kocka, der ausführt, dass Partikulares nicht viel Sinn hat, wenn es nicht zum Universalen in Beziehung gesetzt wird. Kocka, Jürgen, Historisch-anth-ropologische Fragestellungen – ein Defizit der Historischen Sozialwissenschaft? Thesen zur Diskussion, in: Historische Anthropologie, hg. von Hans Süssmuth, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1984, S. 80.

20 Raphael, Lutz, Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Metho-den, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart, C.H. Beck Verlag, München 2003, S. 243.

21 Koselleck, Reinhart, Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte, in: Reinhart Kosel-leck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Suhrkamp, Frankfurt am Main 42000, S. 107–129.

22 Vgl. Evans, Richard J., Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis, Campus, Frankfurt/New York 1999, S. 92 und Schwab, Dieter, Fami-lie, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2: E-G, hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck, Klett, Stuttgart 1975, S. 253–301.

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Heuss-Knapp einwirkten. Mit der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“23 standen zunehmend wirtschaftliche Fragen im Blickpunkt des Interesses. Die Weimarer Zeit zeichnete sich für die Familie Heuss durch Unsicherheit, aber auch durch neue Chancen aus. Die Aktivitäten von Elly Heuss-Knapp waren vielfältig, aber doch noch ohne ein großes Ziel. Spätestens während des Nati-onalsozialismus musste sie dann den überwiegenden Teil des Einkommens der Familie mit Auftragsarbeiten in der Werbung verdienen. Natürlich sind auch die politischen Systemveränderungen zu berücksichtigen. Hier wird die Frage der Kontinuität beziehungsweise des Bruches im Lebensweg von Elly Heuss-Knapp eine große Bedeutung erlangen. Es wird deutlich werden, dass eine verstärkte Politisierung bei ihr eingesetzt hatte, die zu sehr zielgerichte-tem, individuellem Engagement führte. Auch persönliche Kontinuitäten oder Brüche zwischen der Jahrhundertwende und der Gründung der Bundesrepu-blik Deutschland werden thematisiert. Dabei gibt es immer jeweils eine Ver-schränkung von allgemeiner bzw. individueller Kontinuität und Diskontinuität mit unterschiedlicher Akzentuierung.24 Sind bei den persönlichen Umbrü-chen von Elly Heuss-Knapp zeitliche und strukturelle Übereinstimmungen mit den politischen Umwälzungen festzustellen? Gibt es eine staatliche und individuelle zeitliche Übereinstimmung hinsichtlich des Aufbaus eines Wohl-fahrtssystems und hatte sie frühzeitig und umfangreich einen Ausbau gefor-dert? Welchen Einfluss übte ihre Religiosität bei dem Engagement für das Müttergenesungswerk aus? Das spannungsreiche Wirken von Konfessionali-tät ist in der historischen Forschung noch nicht genügend berücksichtigt wor-den25 und soll deshalb hier deutlich hervortreten. Gründete Elly Heuss-Knapp das Deutsche Müttergenesungswerk nach dem Zweiten Weltkrieg auf Grund ihrer Erfahrungen nach dem Ersten Weltkrieg? Inwieweit wird die Freiheit des individuellen Lebensentwurfes durch vorgegebene politische und gesell-schaftliche Strukturen eingeschränkt, beziehungsweise konkreter: Ist ihr sozi-ales Engagement vom Lebensweg ihres Mannes bestimmt? Diese Fragen werden die Untersuchung durchziehen und sie werden sich durch die Argu-mentation weitestgehend beantworten.

23 Kennan, George F., Bismarcks europäisches System in der Auflösung. Die franzö-sisch-russische Annäherung 1875 bis 1890, Propyläen Verlag, Frankfurt am Main u.a. 1981, S. 12.

24 Möller, Was ist Zeitgeschichte?, S. 43.25 Doering-Manteuffel, Anselm, Deutsche Zeitgeschichte nach 1945. Entwicklung

und Problemlagen der historischen Forschung zur Nachkriegszeit, in: Vierteljahrs-hefte für Zeitgeschichte 41 (1993), S. 22.

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Die Ausrichtung der Analyse bezieht sich auf die Bildung, Festigung und Ausdifferenzierung des sozialen Engagements von Elly Heuss-Knapp. Nach 1949 widmete sie sich ausschließlich dem Deutschen Müttergenesungswerk. Hier fand ihre Persönlichkeit eine Ausdrucksform im Aufbau und in der Gestaltung einer sozialen Institution, die es in aller Kürze angemessen dar-zustellen gilt. Eine Trennung von Öffentlichem und Privatem ist dabei nicht sinnvoll, da beide Bereiche schon seit ihrer Jugend untrennbar miteinander verknüpft waren und dies für ihre sozialpolitische Arbeit umso mehr gelten sollte. Eine Trennung zwischen öffentlichen und privaten Bereichen aus dem Bedürfnis nach normativer Fixierung des Geschlechterverhältnisses, wie dies in der Forschung konstatiert wurde,26 trifft gerade im Hause Knapp nicht zu.

Der Schwerpunkt der Analyse liegt auf dem sozialen Engagement von Elly Heuss-Knapp, welche die Gründung einer bundesweiten Institution in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts als Zielpunkt ihres individuellen Lebens begreift. Wir befinden uns damit in der neueren Zeitgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg.27 Die Problematik der Nähe zum historischen Gegen-stand, obwohl schon in gebührendem zeitlichen Abstand, da mehr als 30 Jahre vergangen sind und Archivbestände bereits nahezu ungehindert genutzt wer-den können, darf nicht vernachlässigt werden. Zeitgeschichte als Epoche der Mitlebenden birgt neben emotionalen Bezügen noch lebender Zeitzeu-gen auch Schwierigkeiten in der Verbindung von Merkmalen, die in der Epo-che der Mitlebenden neu auftreten, mit Eigenschaften, die dauerhaft vorge-prägt sind.28 Allerdings soll deswegen nicht auf einen Brückenschlag von der Analyse der Nachgeschichte vergangener zur Vorgeschichte gegenwärtiger

26 Hausen, Karin, Öffentlichkeit und Privatheit. Gesellschaftspolitische Konstruk-tionen und die Geschichte der Geschlechterbeziehungen, in: Frauengeschichte – Geschlechtergeschichte, hg. von Karin Hausen und Heide Wunder, Campus, Frankfurt/New York 1992, S. 85.

27 Vgl. Hans Günter Hockerts mit Bezug auf Karl Dietrich Brachers doppelte Zeitgeschichte. Hockerts, Hans Günter, Zeitgeschichte in Deutschland. Begriff, Methoden, Themenfelder, in: Paradigmen deutscher Geschichtswissenschaft, Edi-tion Berliner Debatte der Gesellschaft für sozialwissenschaftliche Forschung und Publizistik, Berlin 1994, S. 142. Dass die „Zäsur von 1945“ ein gewisses Maß an Ideologie aus dem Kalten Krieg mit sich trägt und eher von einer Zeitspanne für einen historischen Bruch von mehreren Jahren gesprochen werden muss, die in der Zeitgeschichtsforschung jedoch bereits nicht mehr um das Jahr 1945, sondern viel stärker gegen Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre gelegt wird, sei nur nebenbei bemerkt. Lediglich eine politische Zäsur kann für 1945/48 festgestellt werden. Doering-Manteuffel, Deutsche Zeitgeschichte, S. 25–27.

28 Hockerts, Hans Günter, Zeitgeschichte in Deutschland. Begriff, Methoden, The-menfelder, in: Historisches Jahrbuch 113 (1993), S. 127.

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Aufbau der Arbeit | 17

Problemkonstellationen in der Müttergenesung verzichtet werden.29 Es wird zuletzt noch die Frage anzusprechen sein, welche Rolle das Müttergenesungs-werk als Institution in der Umbruchsphase von der industriellen zur postin-dustriellen Gesellschaft spielte.30

2. Aufbau der Arbeit

Gewiss war Elly Heuss-Knapp nicht die einzige Frau, die sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit sozialen Belangen beschäftigte. Allerdings steht ihre Biographie für die Verknüpfung familiärer, religiöser und libera-ler Aspekte mit aktivem, sozialem Engagement. Sie repräsentierte auch einen anderen Menschentyp als die biographisch gut erforschten Eliten, die das „Dritte Reich“ prägten und teilweise noch in der Bundesrepublik Deutschland wichtige Funktionen begleiteten,31 und das nicht nur, weil sie eine Frau war – im Gegensatz zur nationalsozialistischen Männerelite.32 Ihre Sozialisation aus dem Kaiserreich spielt hierbei eine herausragende Rolle. Die bildungsbür-gerlichen Elemente aus ihrem Elternhaus verbanden sich mit den liberalen Prägungen durch Friedrich Naumann und religiösen Aspekten eines Albert Schweitzer. Jedoch führte ihre Beschäftigung mit theoretischen Aspekten bedeutender Persönlichkeiten nicht zur Entwicklung einer eigenen sozialpo-litischen „Theorie“. Es wird deutlich, dass Elly Heuss-Knapp immer nur ein-zelne Gesichtspunkte der Wissenschaftler und Theoretiker herausfilterte, die ihr bei der praktischen Sozialtätigkeit und für ihre Persönlichkeitsentwicklung von Nutzen waren. In der Weimarer Republik, bereits mit einem sozialen und staatlichen Grundverständnis ausgestattet, festigte sich ihr Charakter, so dass

29 Ebd., S. 17.30 Vgl. Doering-Manteuffel, Deutsche Zeitgeschichte, S. 26/27.31 Aus der großen Zahl biographischer Studien ragen insbesondere, trotz unter-

schiedlicher Ansätze und Zugänge, Fest, Joachim, Speer. Eine Biographie, Alex-ander Fest Verlag, Berlin 1999, Heiber, Helmut, Joseph Goebbels, dtv, München 31988, Herbert, Ulrich, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Welt-anschauung und Vernunft 1903–1989, Dietz Verlag, Bonn 31996 und Leggewie, Claus, Von Schneider zu Schwerte. Das ungewöhnliche Leben eines Mannes, der aus der Geschichte lernen wollte, Hanser Verlag, München/Wien 1998 heraus. Vgl. auch die teilweise vorzüglichen Studien in Fest, Joachim, Das Gesicht des Dritten Reiches. Profile einer totalitären Herrschaft, Piper Verlag, München/Zürich 111994.

32 Frevert, Ute, Frauen, in: Enzyklopädie des Nationalsozialismus, hg. von Wolfgang Benz, Hermann Graml und Hermann Weiß, dtv, München 1997, S. 233.

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| Einleitung18

die Gefahr der Vereinnahmung durch den Nationalsozialismus nicht mehr gegeben war, als dieser schließlich 1933 die politische Macht im Deutschen Reich errang. Nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reichs“ erkannte sie, dass ein Eckpfeiler vom demokratischen Deutschland eine soziale Gesellschaft sein müsse. In den höchsten Kreisen der demokratischen Funktionsträger ver-kehrend, war sie in exponierter Stellung und konnte für die Umsetzung des Aufbaus eines Deutschen Müttergenesungswerkes viele Fürsprecher gewin-nen. In ihrer Funktion als Gründerin wurde sie 1952 nach langer schwerer Krankheit aus dem Leben gerissen.

Der chronologische Aufbau wird von struktur- und prozessgeschichtlichen Analysen durchzogen, so dass es immer wieder zu zeitlichen Überschneidun-gen, Rückblenden und Vorausblicken kommen wird. So wird im Rahmen der Jugendjahre von Elly Heuss-Knapp auf die historische Entwicklung bürgerli-cher „Mütterlichkeit“ einzugehen sein, wie auch bei der Gründung des Deut-schen Müttergenesungswerkes darauf Bezug genommen werden muss.

Veränderungen im „persönlichen“ werden sich mit denen im „öffentlichen“ Bereich überschneiden. Die Überschreitung der Trennlinie zwischen „öffent-lich“ und „privat“ im Theoriefeld der neuen Kulturgeschichte33 lässt sich dem-nach sehr deutlich in dieser Untersuchung herausstreichen.

Die sozialen Rahmenbedingungen im Kaiserreich sind der unverzicht-bare Hintergrund der Jugendjahre von Elly Heuss-Knapp in Straßburg. Ihre bildungsbürgerliche Erziehung im Hause Knapp, die vom beruflichen und ehrenamtlichen Engagement Georg Friedrich Knapps nicht zu trennen ist, lassen bereits erste soziale Ursprünge erkennen. Die Kontakte zum Liberalis-mus und zum religiösen Leben in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg wer-den die sozialen Ausprägungen in ihrem Leben weiter erhellen. Der erste Teil der Untersuchung endet somit vor dem Krieg, als sich ein verstärkter sozialpo-litischer Einsatz und Veränderungen im Privatleben abzeichnen.

Der Erste Weltkrieg und die Jahre der Weimarer Republik führten Elly Heuss-Knapp dann verstärkt zu sozialpolitischen Betätigungen und Veröffent-lichungen, mit denen sie bereits vor dem Krieg begonnen hatte. Im linkslibe-ralen Spektrum wurde sie politisch aktiv und trug bereits 1918/19 zur Sensibi-lisierung für soziale Belange der Frauen bei. Ihre sozialen Tätigkeiten musste sie jedoch mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten aufgeben und die Familie war zunehmend auf die Einnahmen ihrer Werbeaufträge angewiesen. Dennoch verlor sie nicht ihre soziale Tatbereitschaft, sondern stellte diese nur notgedrungen zurück, da eigene Aktivitäten außerhalb des Rahmens national-

33 Raphael, Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme, S. 237.

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19Literatur |

sozialistischer Institutionen nicht erwünscht waren. 1946 wurde sie, nach viel-fältigen kleineren sozialen Aktivitäten, Landtagsabgeordnete in Württemberg-Baden. Nun trat die Politik endgültig stärker ins Rampenlicht ihres Lebens.

Die Wahl ihres Mannes Theodor Heuss zum ersten Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland veränderte das Leben von Elly Heuss-Knapp wieder einmal entscheidend. Ebenso wie Theodor Heuss legte sie ihr Land-tagsmandat nieder. Nach wenigen Jahren als Frau des Bundespräsidenten hatte sie eine bundesdeutsche Institution geschaffen, die Belange der Frauen und Mütter landesweit unterstützt, fördert und koordiniert. Die vielen Jahre an Erfahrung mit sozialen Einrichtungen und in der Politik flossen in den Auf-bau des Deutschen Müttergenesungswerkes ein.

3. Literatur

Die Geschichte der deutschen Sozialpolitik und des deutschen Sozialstaates ist relativ gut erforscht und erfreut sich regen Interesses der Historiker. Neben einführenden Überblicksdarstellungen34 und ausführlichen Quelleneditionen35

34 Um nur einige wenige herausragende Veröffentlichungen anzuführen: Bruch, Rüdiger vom (Hrsg.), Weder Kommunismus noch Kapitalismus. Bürgerliche Sozialreform in Deutschland vom Vormärz bis zur Ära Adenauer, C.H. Beck Verlag, München 1985; Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Bun-desarchiv (Hrsg.), Grundlagen der Sozialpolitik (Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd.1), Nomos Verlagsgesellschaft, Baden Baden 2001; Hockerts, Hans Günter (Hrsg.), Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. NS-Diktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich, Oldenbourg Verlag, München 1998; Naujeck, Kurt, Die Anfänge des sozialen Netzes 1945–1952, Kleine Verlag, Bielefeld 1984; Ritter, Gerhard A., Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, Oldenbourg Verlag, München 21991.

35 Rassow, Peter/Tennstedt, Florian/Ayaß, Wolfgang/Born, Karl Erich/Henning, Hansjoachim (Hrsg.), Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozial-politik 1867–1914, Franz Steiner Verlag/Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Wiesbaden/Darmstadt 1966ff.; Streitz, Walter (Hrsg.), Quellen zur deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte von der Reichsgründung bis zum Ersten Welt-krieg (Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe B 37), Wissenschaftliche Buch-gesellschaft, Darmstadt 1985; Streitz, Walter (Hrsg.), Quellen zur deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte vom Ersten Weltkrieg bis zum Ende der Wei-marer Republik (Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe B 38), Wissenschaftli-che Buchgesellschaft, Darmstadt 1993 und Streitz, Walter (Hrsg.), Quellen zur deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte in der Zeit des Nationalsozialis-mus (Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe B 39), 2 Bde., Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2000; Wengst, Udo, Die Zeit der Besatzungszonen

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| Einleitung20

gibt es auch eine Vielzahl an Einzeluntersuchungen zu den unterschiedlichs-ten Teilaspekten.36 Allerdings nähern sich sozialpolitische Untersuchungen bisher nicht über eine Biographie ihrem Gegenstand. Das ist sicherlich oft gar nicht möglich, da Institutionen von verschiedenen Persönlichkeiten gestaltet und geprägt werden. Dennoch ist die fehlende Verknüpfung von Biographie und Sozialpolitik überraschend.

Biographien versuchen meistens das gesamte Leben des Menschen zu umfassen. Einzelne Gesichtspunkte, die elementar, jedoch keineswegs exklu-siv den Lebensweg bestimmen, werden zwar behandelt, doch mit anderen Gesichtspunkten zusammengefasst.37 Hier eröffnet sich eine Forschungsper-spektive, mit der es möglich werden könnte, durch das strikte Festhalten an einer thematischen Komponente, wie der sozialpolitischen Charakterbildung, detailliertere Erkenntnisse zu erhalten.

Über Elly Heuss-Knapp liegen verschiedene Abhandlungen vor. Gerda Haug hat mit ihrer Studie den Eindruck der Zeitgenossen von der Lebens-leistung ihrer Protagonistin wach halten wollen. Mit vielen kleinen Ereignis-sen bringt sie die Person Elly Heuss-Knapp dem Leser näher. Kirsten Jüng-ling und Brigitte Roßbeck zeichnen ein umfangreiches, im Stil eines Romans verfasstes Portrait, das ebenfalls den Schwerpunkt auf die persönliche Seite legt. So gut es beiden Studien gelingt, einen Eindruck von der portraitier-ten Persönlichkeit zu zeichnen, fehlen doch grundlegende Quellen- und For-schungszugänge um wissenschaftlichen Standards zu genügen. Allerdings ist dies unverkennbar auch nicht Sinn und Zweck dieser Arbeiten. Auch Ursula Krey berücksichtigt in ihren Aufsätzen zu Elly Heuss-Knapp nur die veröf-

1945–1949. Sozialpolitik zwischen Kriegsende und der Gründung zweier deut-scher Staaten. Dokumente (Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 2,2), Nomos Verlagsgesellschaft, Baden Baden 2001.

36 Didicher, Walter, Sozialpolitische Perspektiven und freie Träger. Organisatori-sche und strukturelle Fragen einer funktionalen Verbandspolitik unter besonderer Berücksichtigung der Arbeiterwohlfahrt, Hartung-Gorre Verlag, Konstanz 1987; Hockerts, Hans Günter, Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutsch-land. Alliierte und deutsche Sozialversicherungspolitik 1945 bis 1957, Klett-Cotta, Stuttgart 1980; Treidel, Rulf Jürgen, Evangelische Akademien im Nachkriegs-deutschland. Gesellschaftspolitisches Engagement in kirchlicher Öffentlichkeits-verantwortung (Konfession und Gesellschaft 22), Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2001; Zacher, Hans F., Sozialpolitik und Verfassung im ersten Jahrzehnt der Bun-desrepublik Deutschland, Schweitzer Verlag, Berlin 1980.

37 Beispiele, die repräsentativ für einen Großteil der historischen Biographien sind: Gall, Lothar, Bürgertum in Deutschland, btb, Berlin 1996; Heuss, Theodor, Fried-rich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit, Siebenstern Verlag, München/Hamburg 31968.

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21Quellen |

fentlichten Quellen. Dennoch ist ihre knappe Lebensbeschreibung aus dem Jahre 2005 das bisher beste Portrait der Gattin des ersten Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland.38 Allerdings wurde die ihr Leben bestim-mende Grundlinie, das soziale Engagement, bisher nicht wissenschaftlich analysiert. Eine auf breiter Quellenbasis fundierte und neuere Forschungs-ergebnisse berücksichtigende biographische Arbeit ist bisher noch nicht geschrieben worden.

4. Quellen

Über die Quellenlage kann nur in Relation zu den gestellten Forschungsfragen geurteilt werden.39 Soll die soziale Komponente im Leben von Elly Heuss-Knapp erforscht werden, wird deutlich, dass die Quellenlage durchaus ein fundiertes Bild von ihrer Sozialisation im Deutschen Kaiserreich bis hin zur Gründung des Deutschen Müttergenesungswerkes erlaubt.

Gewiss sind die persönlichen Aufzeichnungen und Briefe von Elly Heuss-Knapp bei weitem nicht derart umfangreich, dass sich daraus eine bis ins kleinste Detail gehende, jeden Tag ihres Lebens erfassende Biographie ent-wickeln ließe. Zudem kann mit persönlichen Quellen lediglich eine subjektive Persönlichkeitswahrnehmung analysiert werden.40 Allerdings wird durch die Augenblicksbindung und Adressatenorientierung etwas vom „Flair“ der Epo-che eingefangen, so sehr auch das Persönliche im Vordergrund steht.41 Dies gilt natürlich besonders für die Jugendjahre.

Werden Aufzeichnungen von Zeitzeugen hinzugenommen, bekommen wir ein facettenreicheres Bild. Für die jungen Jahre können die persönlichen Eindrücke von Elly Heuss-Knapp durch Briefe ihr nahestehender Menschen ergänzt werden. Die Briefe ihres Vaters, des Nationalökonomen Georg Fried-rich Knapp, sind hier neben anderen aus dem Umkreis der Familie als ers-

38 Haug, Gerda, Elly Heuss-Knapp. Ein Lebensbild, Calwer Verlag, Stuttgart 1958; Jüngling, Kirsten/Roßbeck, Brigitte, Elly Heuss-Knapp (1881–1952). Die erste First Lady. Ein Portrait, Eugen Salzer-Verlag, Heilbronn 1994; Krey, Ursula, Elly Heuss-Knapp (1881–1952), in: Frauenprofile des Luthertums. Lebensgeschichten im 20.Jahrhundert, hg. von Inge Mager, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2005, S. 175–201.

39 Hockerts, Hans Günter, Zeitgeschichte in Deutschland. Begriff, Methoden, The-menfelder, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 43, B29–30 (1993), S. 9.

40 Maurer, Michael, Briefe, in: Aufriß der Historischen Wissenschaften, Bd. 4: Quel-len, Philipp Reclam jun., Stuttgart 2002, S. 351.

41 Maurer, Briefe, S. 371.

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tes zu erwähnen. Auf den weiteren Stationen ihres Lebensweges kommen neue Quellenbestände – die Aufzeichnungen und Briefe von Theodor Heuss nehmen neben den Manuskripten und eigenen Veröffentlichungen von Elly Heuss-Knapp dabei eine zentrale Stellung ein – hinzu, die zusammen ein aus-sagekräftiges Bild ihrer sozialen Entwicklung entstehen lassen.

Die Krönung ihres sozialpolitischen Engagements findet eine institutio-nelle Verwirklichung im Deutschen Müttergenesungswerk. Ihre offizielle Kor-respondenz, zumeist über den Amtssitz ihres Mannes als Deutscher Bundes-präsident abgewickelt, und ihre Redebeiträge für Rundfunk und Presse sind die wichtigsten Quellenbestände für ihre bedeutende Rolle bei der Entstehung der unter einem Dach zusammengeschlossenen deutschen Müttererholung.

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I. Die Jugend von Elly Knapp in Straßburg

Am 25. Januar 1881 wurde bei gerade angebrochenem Tag Eleonore – später wurde dann daraus Elly – Elisabeth Knapp, die Tochter von Georg Friedrich Knapp, Professor für Nationalökonomie an der Kaiser-Wilhelm-Universität Straßburg, und von Lydia Knapp, Tochter aus einem kaukasischen Adelsge-schlecht, in der elsässischen Universitätsstadt Straßburg „unter dem Schatten des Münsterzipfels“1 geboren.

Für die ersten Prägungen des sozialpolitischen Empfindens war die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufkeimende intensivere Beschäftigung mit der Mutterschaft, der Kindheit und der Familie überaus bedeutend. Die Menschen begannen in ihrer Beziehung nicht mehr nebeneinander her zu leben. Die bestmögliche Erziehung der Kinder wurde zu einem Thema und die Rolle der Frau definierte sich langsam neu. Ganz praktische Anstrengun-gen wurden unternommen, um das bestmögliche Aufwachsen der Kleinen zu gewährleisten. Jedoch darf nicht übersehen werden, dass dies nur in bürgerli-chen Familien in ersten Ansätzen geschah. Von einem breiten, alle Schichten der Bevölkerung durchziehenden neuen Familienverständnis kann keine Rede sein. Hand in Hand damit entwickelte sich ein Versicherungswesen, das von Otto von Bismarck initiiert und unter Kaiser Wilhelm II. teilweise ausgebaut worden war. Der Staat versuchte die Unwägbarkeiten des industriellen Zeit-alters für die davon Betroffenen etwas abzusichern. Ohne diesen grundsätzli-chen Rahmen wird eine Kindheit im Deutschen Kaiserreich um die Jahrhun-dertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert nicht verständlich.

Ebenfalls nicht ohne Belang für das weitere Leben Elly Knapps war die Stadt Straßburg. Es galten hier andere Gesetze – das ist nicht nur im übertra-genen Sinne, sondern sehr wohl auch ganz wörtlich zu verstehen. Das Zusam-menwirken der einheimischen Bevölkerung mit der deutschen Beamtenschaft und dem deutschen Militär gestaltete sich gegen Ende des Jahrhunderts noch schwierig. Auch wenn an der Universität Straßburg, in der Ellys Vater lehrte, weit weniger von den täglichen Spannungen bemerkt worden war, so konnte dies an einem doch nicht gänzlich unbemerkt vorüber gehen. Straßburg war

1 Elly sprach von ihrem Geburtsort immer gerne in der Verneigung vor dem Müns-ter-Dom in Straßburg, der seinen Schatten bei tieferliegender Sonne auf die Woh-nung der Eltern, Am Sandplätzchen 5, warf.

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| Die Jugend von Elly Knapp24

seit 1871 dem Deutschen Reich angeschlossen2, die Bevölkerung jedoch emp-fand sich als elsässisch und dem französischen weit mehr als dem deutschen Staat zugehörig, was an sich bereits Spannungen erzeugte.

Im Gegensatz zu den meisten Kindern aus bürgerlichen Kreisen wurde Elly Knapp durch die wissenschaftliche Arbeit ihres Vaters sehr früh mit den sozialen Belangen des Lebens aller Schichten der Bevölkerung konfrontiert. Georg Friedrich Knapps Einfluss auf die sozialpolitischen Vorstellungen Ellys kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, zumal seine Aktivitäten über die universitäre Betätigung hinausreichten. Die daraus entstandenen Kontakte mit einigen der bedeutendsten Nationalökonomen und Sozialpolitikern des aus-gehenden 19. Jahrhunderts verschafften der jungen Elly fundierte Einblicke in die sozialen Verhältnisse unterschiedlichster Gesellschaftsschichten. Neben den prägenden Persönlichkeiten im Umkreis ihres Vaters bewegte sich Elly auch in einem Freundeskreis, der durch eine aktive Mitarbeit das städtische Wohlfahrtssystem in Straßburg maßgeblich beeinflusste.3 Sie wurde somit nicht nur mit der theoretischen Materie „Sozialpolitik“, sondern auch mit den praktischen Umsetzungsproblemen derselben bereits in ihren jungen Jahren konfrontiert.

Das Elternhaus war geprägt von der Arbeit des Vaters, doch darf die Rolle der Frauen im Haus nicht völlig außer Acht gelassen werden. Der Rückzug der Mutter aus der Familie in Ellys frühester Kindheit belastete zweifellos das Familienleben. Dennoch gewöhnten sich die beiden Geschwister Elly und Marianne, die um zwei Jahre ältere Schwester, und ihr Vater Georg Friedrich daran, dass die Mutter krankheitsbedingt nicht bei ihnen war. Tante Elisa-beth Karoline Knapp (Tante „Lella“), die Zwillingsschwester Georg Friedrich Knapps, und die angestellte Haushälterin Lotte Jürgens kümmerten sich für-sorglich um die beiden Mädchen und zogen sie auf. Die liebevolle Erziehung, die Elly genoss, sollte ihr ganzes Leben prägen und als weiterer Baustein zur Charakterbildung einer jungen Frau beitragen, die in ihrem Leben Menschen bewegen, mitreißen und zu sozialem Engagement animieren konnte.

2 Vgl. Huber, Ernst Rudolf, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd.  4: Struktur und Krisen des Kaiserreichs, Kohlhammer Verlag, Stuttgart u.a. 1969, S. 437/438.

3 Heuß-Knapp, Elly, Ausblick vom Münsterturm. Erlebtes aus dem Elsaß und dem Reich, Berlin-Tempelhof 1934, S. 49–51.

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Soziale Verhältnisse im Deutschen Kaiserreich | 25

1. Soziale Verhältnisse im Deutschen Kaiserreich vor der Jahrhundertwende

a) Lebensverhältnisse im deutschen Bildungsbürgertum

In den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts deuteten sich erkennbar die großen sozialen Umwälzungen, die in den folgenden Jahren das Deutsche Kaiserreich erreichen sollten, für die Zeitgenossen bereits an. Die Bevölkerung nahm seit Jahren stetig zu, obwohl die Auswanderung insbesondere in die Vereinigten Staaten von Amerika bis in die 90er Jahre auf hohem Niveau verharrte. Die Menschen wurden dank einer ausreichenden und ausgewogeneren Ernährung – nicht zuletzt wegen des Anstiegs der Realeinkommen –, besserer Wohnver-hältnisse, der Durchsetzung hygienischer Lebensverhältnisse und der fort-schreitenden Medizin immer älter. Insbesondere die Todesfälle bei Kleinkin-dern konnten um die Jahrhundertwende erheblich vermindert werden; diese Entwicklung deutete sich bereits in den 80er Jahren an.4 Die Geburtenzahlen innerhalb der Ehe waren rückläufig. Die Anzahl der Kinder pro Ehe verrin-gerte sich deutlich, ohne dass sich dies im Absinken der Gesamtbevölkerung bemerkbar machte. Elly Knapp wuchs im „akademischen Bildungsbürger-tum“ auf, wobei „Bürgertum“ als eine Schicht von Menschen in verschiede-nen Positionen verstanden werden soll, deren Mitglieder ihre wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung im Wesentlichen ihrer individuellen Leistung und Initiative verdanken. Beim Bildungsbürgertum geht es um den Teil des Bürgertums, „dessen soziale Lebenslage und individuellen Lebenschancen bestimmt sind durch den Besitz von Bildungspatenten“. Da diese Definition unterschiedliche Berufsgruppen einschließt, soll darauf hingewiesen werden, dass der Zusatz „akademisch“ den besonderen Bezug auf die Professorenschaft an deutschen Hochschulen verdeutlichen soll.5 In diesem akademischen Bil-

4 Hohorst, Gerd/Kocka, Jürgen/Ritter, Gerhard A. (Hrsg.), Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch II. Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1870–1914, C.H. Beck Verlag, München 21978, S. 22, 29, 38; Marschalck, Peter, Bevölkerungsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1984, S. 41–45, 145/146, 151, 156–158, 164–168, 172–174; Nipperdey, Thomas, Deut-sche Geschichte 1866–1918. Erster Band: Arbeitswelt und Bürgergeist, C.H. Beck Verlag, München 21994, S. 9–20.

5 Vgl. Gall, Bürgertum in Deutschland, S. 21/22; Kocka, Jürgen/Ritter, Gerhard A., Bürgerliche Gesellschaft und die Grenzen der Bürgerlichkeit. Einleitung, in: Deutsche Sozialgeschichte 1870–1914. Dokumente und Skizzen, hg. von Jürgen Kocka und Gerhard A. Ritter, C.H. Beck Verlag, München 31982, S. 62/63; vgl.

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| Die Jugend von Elly Knapp26

dungsbürgertum, zentriert in Dienstleistungs- und Verwaltungsstädten, zeig-ten sich die erwähnten Trends verstärkt und sehr früh.6 Als ein wesentlicher Grund gilt die unsichere berufliche Situation der Akademiker mit dem rela-tiv späten Heiratsalter und der chancen- bzw. aufstiegsbestimmt geforderten Mobilität. Die individuelle Steuerung der Kinderzahl in der Ehe trat immer mehr an die Stelle einer sozialen Regelung der Fruchtbarkeit durch Ehehin-dernisse und Heiratsalter.7 In der Familie Knapp spielten zweifellos das fort-geschrittene Alter der Mutter – Lydia war bei Geburt ihrer ersten Tochter Marianne bereits dreißig Jahre alt – und der rasche Auszug derselben aus der gemeinsamen Wohnung nach Ellys Geburt eine wichtige Rolle, so dass eine weitere Vergrößerung der Familie nicht in Frage kam. Ein hinzukommender Faktor für einen Anstieg der Bevölkerung war die seit den 90er Jahren begin-nende Massenzuwanderung ausländischer Arbeitkräfte in die prosperieren-den Industrieregionen. Ohne Zweifel hatten auch die Wanderungsbewegun-gen innerhalb der deutschen Gesellschaft vorrangig mit der Industrialisierung zu tun.8 Die Migration akademischer Kräfte innerhalb Deutschlands verän-derte sich jedoch statistisch kaum. Von den Dozenten wurde bereits im frü-hen 19. Jahrhundert größtmögliche Mobilität erwartet. Der Wechsel von einer Universität zur anderen war meist mit einer Aufbesserung der Geldbezüge ver-bunden. Friedrich Georg Knapp konnte mit seiner Berufung auf eine Profes-sur in Straßburg 1874 sein Gehalt ebenfalls deutlich aufbessern, andernfalls hätte er seine Stelle im Statistischen Büro in Leipzig nicht aufgegeben, wobei natürlich ein weiterer gewichtiger Grund sein bereits in Straßburg lehrender

Conze, Werner/Kocka, Jürgen, Einleitung, in: Bildungsbürgertum im 19. Jahrhun-dert, Teil I: Bildungssystem und Professionalisierung im internationalen Vergleich (Industrielle Welt 38), hg. von Werner Conze und Jürgen Kocka, Klett-Cotta, Stuttgart 1985, S. 11; Engelhardt, Ulrich, „Bildungsbürgertum“. Begriffs- und Dogmengeschichte eines Etiketts (Industrielle Welt 43), Klett-Cotta, Stuttgart 1986.

6 Vgl. Knodel, John E., The Decline of Fertility in Germany, 1871–1939, Princeton University Press, Princeton 1974, S. 55, 59–68, 70, 88–147, 223–254, 259–262.

7 Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch II, S. 56; Nell, Adelheid von, Die Entwicklung der generativen Strukturen bürgerlicher und bäuerlicher Familien von 1750 bis zur Gegenwart, Bochum 1973, S. 19–51, 69–71, 78–81, 114–132, 140–142; Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, I, S. 23–27.

8 Kulczycki, John J., The Foreign Worker and the German Labor Movement. Xeno-phobia and Solidarity in the Coal Fields of the Ruhr, 1871–1914, Berg Publish-ers, Oxford/Providence 1994, S. 14–40; Stürmer, Michael, Das ruhelose Reich. Deutschland 1866–1918, Siedler Verlag, Berlin 1998, S. 55–58.

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Soziale Verhältnisse im Deutschen Kaiserreich | 27

Mentor und Freund Gustav Schmoller war.9 Die Arbeit verlagerte sich allge-mein vom Land in die Stadt. Deutsche Großstädte wuchsen überproportio-nal, wohingegen die ländlichen Gebiete bereits Rückgänge bei der Bevölke-rung zu verzeichnen hatten.10 Viele junge Menschen im arbeitsfähigen Alter suchten ihre Beschäftigung zunehmend weniger in der Landwirtschaft und boten ihre Arbeitskraft der wachsenden Industrie oder im Dienstleistungsbe-reich an. Völlig zu Recht kann von einem Übergang vom „Agrarstaat mit star-ker Industrie zu einem Industriestaat mit starker agrarischer Basis“ gesprochen werden.11 Die Gewichtung verschob sich. Die absoluten Zahlen zeigen noch einen Anstieg der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft. Doch gemessen an der Gesamtbevölkerung nahm der Anteil ab und um die Jahrhundertwende übertraf der Wirtschaftssektor Industrie den der Landwirtschaft hinsichtlich der Anzahl der Beschäftigten.12 Mit der bereits erwähnten Migration in die größeren Städte entstand ein agrarisch-industrieller Dualismus, der nicht nur die Bevölkerungszahl betraf, sondern ein sozio-kulturelles Gefälle zwischen Stadt und Land entstehen ließ.13 Die veränderten Lebensbedingungen muss-ten sich auch auf das soziale Gefüge der Gesellschaft auswirken. Dies tangierte zwar nicht die persönlichen Lebensverhältnisse der Gelehrtenfamilie Knapp, doch der Professor der Nationalökonomie wurde im Rahmen seiner Forschun-gen zunehmend damit konfrontiert.

Der Rückgang der Geburtenziffern und die zunehmende individuelle Lebensplanung mit eigenen Kindern veränderten den Stellenwert der Fami-

9 NL Schmoller 130a, Bl. 2, 7/8. Friedrich Georg Knapp besaß in Leipzig ein jähr-liches Einkommen von „1300 Thalern“, in Straßburg belief sich der Lohn bei sei-nem Antritt auf „1700 Thaler“. NL Schmoller 130a, Bl. 6, 224/225, Bl. 68/69, 208/209.

10 Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch II, S. 42/43, 45/46, 50–52; Dülffer, Jost, Deutsch-land als Kaiserreich (1871–1918), in: Deutsche Geschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, hg. von Martin Vogt, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2002, S. 548–550; Marschalck, Bevölkerungsgeschichte, S. 45–52, 177–182.

11 Bade, Klaus Jürgen, Transnationale Migration und Arbeitsmarkt im Kaiserreich. Vom Agrarstaat mit starker Industrie zum Industriestaat mit starker agrarischer Basis, in: Historische Arbeitsmarktforschung, hg. von Toni Pierenkemper und Richard Tilly, Göttingen 1982, S. 182–214; Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, I, S. 226; Reulecke, Jürgen, Vom Wiener Kongreß bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs (1814–1914), in: Kleine deutsche Geschichte, hg. von Ulf Dirlmeier u.a., Reclam jun., Stuttgart 32003, S. 302.

12 Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch II, S. 66–73; Stürmer, Das ruhelose Reich, S. 63.

13 Hertz-Eichenrode, Dieter, Deutsche Geschichte 1890–1918. Das Kaiserreich in der Wilhelminischen Zeit, Kohlhammer Verlag, Stuttgart u.a. 1996, S. 90–102.

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| Die Jugend von Elly Knapp28

lie. Dennoch darf nicht vergessen werden, dass die Gesellschaft auch im ausge-henden 19. Jahrhundert eine Familiengesellschaft war.14 Wegen der begrenz-ten Aussagefähigkeit statistischen Materials kann jedoch die Komplexität des Familienlebens damit allein nicht annähernd erfasst werden. Neben den Ehe-schließungen und den Geburtenzahlen können Statistiken zur Haushalts-größe und zu den Wohnverhältnissen lediglich Hinweise auf Familienstruk-turen geben.15 Dennoch lassen sich mittels zeitgenössischer Darstellungen wie Autobiographien, Briefe, Tagebücher, Zeitungen oder Ratgeber und Materi-alien wie Gebäude, Möbel oder Gebrauchsgegenstände16 aus einer Vielzahl wirtschaftlicher, sozialer, rechtlicher und religiöser Faktoren einige wichtige Gesichtspunkte festhalten, die auf eine veränderte Lebensweise innerhalb des privaten, familiären Bereichs deuten,17 wobei der ländlich-bäuerliche Fami-lientyp und die Arbeiterfamilie der gängigen Dreiteilung18 unberücksichtigt bleiben müssen. Dabei darf der Wandel von Leitbildern und Normen nicht mit der Veränderung von Strukturen und Funktionen gleich gesetzt werden.19

Der Lebensmittelpunkt des Bürgertums war das Zuhause. Hier war es dem erwerbstätigen Mann möglich, berufliche Probleme zu vergessen, sich von der kalten Außenwelt in die Privatsphäre zurückzuziehen und die Arbeits-welt wenigstens ein Stück weit hinter sich zu lassen,20 wohingegen sich für die Frau der Arbeitsalltag zumeist innerhalb der Familienwohnung abspielte.21

14 Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, I, S. 44.15 Hubbard, William H., Familiengeschichte. Materialien zur deutschen Familie seit

dem Ende des 18. Jahrhunderts, C.H. Beck Verlag, München 1983, S. 63, 125–149.16 Berg, Christa, Familie, Kindheit, Jugend, in: Handbuch der deutschen Bildungs-

geschichte, Bd. IV: 1870–1918. Von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, hg. von Christa Berg, C.H. Beck Verlag, München 1991, S. 91.

17 Gestrich, Andreas, Neuzeit, in: Geschichte der Familie, hg. von Andreas Gestrich, Jens-Uwe Krause und Michael Mitterauer (Europäische Kulturgeschichte 1), Alf-red Kröner Verlag, Stuttgart 2004, S. 388.

18 Hubbard, Familiengeschichte, S. 180–184; Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, I, S. 47–73. Vgl. auch die weitaus stärkere Differenzierung bei Rosenbaum, Heidi, Formen der Familie. Untersuchungen zum Zusammenhang von Familien-verhältnissen, Sozialstruktur und sozialem Wandel in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1982.

19 Gestrich, Neuzeit, S. 387.20 Hobsbawm, Eric J., Die Blütezeit des Kapitals. Eine Kulturgeschichte der Jahre

1848–1875, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1980, S. 287; Nip-perdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, I, S. 138.

21 Saldern, Adelheid von, Im Hause, zu Hause. Wohnen im Spannungsfeld von Gege-benheiten und Aneignungen, in: Geschichte des Wohnens, Bd. 3: 1800–1918. Das bürgerliche Zeitalter, hg. von Jürgen Reulecke, DVA, Stuttgart 1997, S. 147/148.

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Gudrun Wedel

AutobioGrAphien von FrAuenein lexikon

Das Lexikon bietet erstmals und auf breiter Basis Informationen zu mehr als

2.000 im 19. Jahrhundert geborenen Frauen aus dem deutschsprachigen Raum,

die sich mit ihren publizierten autobiographischen Schriften der Öffentlichkeit

präsentierten. Es gibt Auskunft über das Sozialprofil der Verfasserinnen, die

Entstehungskontexte und Themen ihrer Autobiographien, die rezeptions­

wirksame Ausstattung dieser Texte für die Publikation, deren Publikations­

geschichte sowie ihre mediale Vielfalt und Reichweite.

„Wer dieses umfangreiche Kompendium heranzieht, hat einen Meilenstein

der Autobiographie­ und Selbstzeugnisforschung in der Hand.“

Sehepunkte

„Wedels Lexikon ist eine Pionierarbeit, die [...] Wissenschaftler/innen, die

zu biographischen oder geschlechtergeschichtlichen Themen arbeiten, zur

Anschaffung empfohlen sei.“

H-Soz-u-Kult

2010. XIV, 1286 S. Gb. 170 X 240 mm.

ISbN 978-3-412-20585-0

böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

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AngelikA SchASer

helene lAnge und gertrud Bäumereine politiSche

leBenSgemeinSchAft

(l‘homme Schriften, BAnd 6)

Helene Lange (1848–1930) und Gertrud Bäumer (1873–1954) waren das wohl

bekannteste Paar der deutschen Frauenbewegung. Ihr »fraulicher Lebensbund«

währte von 1899 bis zu Langes Tod 1930. Beide begannen ihre berufliche

Laufbahn als Lehrerinnen und zählten zu den ersten Berufspolitikerinnen der

Weimarer Republik. Die Autorin geht einer Lebens- und Arbeitsgemeinschaft

nach, an der exemplarisch die Bildungschancen, die Handlungsspielräume und

das politische Wirken von Frauen des Bürgertums untersucht werden. Das

Buch wird hier in einer aktualisierten Neuauflage vorgelegt.

2., durchgesehene und aktualisierte

auflage 2010. 424 s. 10 s/w-abb. auf 8 taf. br. 170 x 240 mm.

isbn 978-3-412-09100-2

böhlau verlag, ursulaplatz 1, 50668 köln. t : + 49(0)221 913 [email protected], www.boehlau.de | köln weimar wien

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LiseLotte Douschan

anton BenyaÖsterreichischer

Gewerkschafts- unD

nationaLratspräsiDent

Mit eineM Vorwort Von

BunDespräsiDent Dr. heinz fischer

Anton Benya (1912–2001) gilt als eine der wichtigsten und bedeutendsten

Persönlichkeiten der Zweiten Republik in Österreich. Seine Biografie umfasst

markante Stationen in seinem politischen Leben und deren historische Be-

deutung. Er stieg an die Spitze des ÖGB auf, dessen Präsident er von 1963 bis

1987 war. Durch sein Verhandlungsgeschick hatte er entscheidenden Anteil

am Zustandekommen der Sozialpartnerschaft. Wesentlichen Einfluss übte er

auf die Regierungspolitik Bruno Kreiskys aus. Als der am längsten dienende

Erste Nationalratspräsident Österreichs von 1971 bis 1986 war er eine der

Symbolfiguren der österreichischen Sozialdemokratie. In diesem zeithisto-

rischen Portrait wird die Person Anton Benyas vor dem Hintergrund der Ent-

wicklungslinien der Zweiten Republik reflektiert.

Die Biografie basiert auf bisher unveröffentlichten Quellen aus Benyas Privat-

besitz.

2011. 328 S. 26 S/w-Abb. Gb. mit SU. 155 x 235 mm.

iSbN 978-3-205-78748-8

böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, 1010 wien. t : + 43 (0) 1 330 24 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

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ERNST HANISCH

DER GROSSE ILLUSIONISTOTTO BAUER (1881–1938)

Otto Bauers Traum vom Sozialismus ist zerplatzt, aber die Frage nach einer

gerechteren Gesellschaft ist aktueller denn je. Was können wir heute aus seiner

Biografie lernen? Er verband höchste Intelligenz, eine scharfe Analysefähigkeit

auf vielen Gebieten mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft der Menschheit.

Er war kein Zyniker der Macht, sondern ein bescheidener, eher schüchterner

Mensch. In kritischen Situationen hatte er Scheu vor der Macht. Als brillanter

Rhetoriker und Theoretiker aber prägte der führende Sozialdemokrat die

Geschichte der österreichischen Ersten Republik maßgeblich. Licht- und

Schattenseiten dieses Politikers und Menschen werden siebzig Jahre nach seinem

Tod erstmals umfassend analysiert und kritisch bewertet.

2011. 478 S. GB. M. SU. 26 S/W-ABB. 155 X 235 MM.

ISBN 978-3-205-78601-6

der autor : Ernst Hanisch, Professor für Neuere Österreichische Geschichte

an der Universität Salzburg. Forschungsschwerpunkt: Gesellschaftsgeschichte

des 19. und 20. Jahrhunderts.

böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, 1010 wien. t : + 43(0)1 330 24 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

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Karl Radek (1885–1939), linksradikaler Journalist und brillanter Demagoge

des Sowjetkommunismus, verstand sich als „Soldat der Weltrevolution“. Er

wollte helfen, sie als „ehernes Muß“ der Geschichte zu vollstrecken. In der

polnischen und deutschen Sozialdemokratie politisch sozialisiert, schloss er

sich Lenin an, stellte sich in den Dienst der Oktoberrevolution und widmete

sich der Revolutionierung Deutschlands und Chinas. Das Buch zeichnet sei-

nen abenteuerlichen Lebensweg nach und geht detailliert auf Radeks politi-

sches Wirken und publizistisches Œuvre ein. Als Spiritus rector und Propa-

gandist des roten Terrors wirkte er höchst aktiv an der Errichtung der

Sowjetdiktatur mit. Die Terrormaschine, die er zu schaffen half und der er

zuletzt noch seine politischen Freunde auslieferte, hat ihn schließlich selbst

vernichtet. In der Stalin-Ära aus dem kollektiven Gedächtnis getilgt, wurde er

zur „Unperson“. Sein Schicksal demonstriert exemplarisch die tragische Ver-

strickung eines Menschen in den politischen Totalitarismus als Phänomen

der Moderne.

2012. 948 S. GB. 170 X 240 MM | ISBN 978-3-412-20725-0

WOLF-DIETRICH GUTJAHR

„REVOLUTION MUSS SEIN“

KARL RADEK – DIE BIOGRAPHIE

böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

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Aufriss Bezug für Buchblock 155 x 230 mm: 15 + 159,5 + 22+ 159,5 + 15 x 15 + 236 + 15 mm

I SBN 3- 412- 20880- 9

ISBN 978-3-412-20880-6 | www.Boehlau-Verlag.com

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Elly Heuss-Knapp (1881–1952) war nicht nur die vermutlich bedeutendste Gattin eines Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland, sondern auch die Gründerin des Deutschen Müttergenesungswerkes. Ihr Leben erreichte seinen Höhepunkt im Aufbau dieser nunmehr über ein halbes Jahrhundert bestehen den Institution, deren Schirmherrin nach wie vor die Frau des amtierenden Bundes-präsidenten ist. Eine sozialliberale Prägung und ein standfester religiöser Glauben führten Elly Heuss-Knapp dazu, über Jahrzehnte aktiv soziale Projekte zu gestal-ten und entscheidend mitzubestimmen.Mit dieser Monographie liegt nun die erste wissenschaftlich fundierte Biographie über Elly Heuss-Knapp vor. In einer gelungenen Verknüpfung von »Privatem« und »Öffentlichem « zeichnet Alexander Goller darin ihr Leben und Wirken detailliert nach und bringt zugleich die Epoche insgesamt in den Blick.

elly Heuss-KnApp GrünDErIn

DES Müt tEr-GEnESunGSWErKES

EInE BIoGr APHIE

Alex A nder Goller