Nero (Der römische Kaiser und seine Zeit) || 66 nach Christus

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66 nach Christus | 307 | 66 nach Christus Ereignisse in Rom und Italien 246. Erster Künstlertriumph Neros Wohl noch im Frühjahr des Jahres trat Nero erneut bei einem Kitharödenwettstreit auf. Der Anlaß ist nicht bekannt. Er fand nun an seinen künstlerischen Auſtritten so sehr ge- fallen, daß er jede Möglichkeit wahrnahm und neue Anlässe schuf. Nachdem Nero selbst- verständlich gesiegt hatte, veranstaltete sein alter Lehrer Mencrates im Circus für ihn einen Triumph, bei dem der Kaiser als Wagenlenker, vermutlich mit dem Triumphalgewand an- getan, vor aller Öffentlichkeit erschien. Es war das erste mal, daß für einen Künstlersieg eine römische Triumphalfeier abgehalten wurde – ein weiterer Schritt auf dem Wege der Verfremdung altrömischer Staatsfeste. 1 247. Allgemeiner Eindruck der Kriminalfälle – Die Beseitigung des Publius Anteius Rufus und des Ostorius Scapula Sodann gab es neue Erschütterungen unter den römischen Hocharistokraten, weil etliche von ihnen oder ehrgeizige Prozeßankläger sich nunmehr in der aufgereizten Lage als An- geber betätigten. Einige der 66 und 67 Verstorbenen wurden ums Leben gebracht oder zum Selbstmord gezwungen, ohne daß ein Prozeß ihre Schuld erörtert hat. Dazu gehörten Vestinius, Lucius Silanus, Petronius, Publius Anteius Rufus, Ostorius Scapula, ferner die Statthalter Scribonii und der Feldherr Corbulo. In manchen Fällen lassen sich politische Zusammenhänge vermuten, aber wirkliche Schuld ist aus den Quellenberichten nicht er- sichtlich. Kaiserliche Willkür ist nicht in jedem Fall anzunehmen, aber daß hinreichende Verdächtigungen bereits zum Tod führten, darf getrost angenommen werden. Die aufge- deckte Verschwörung des vergangenen Jahres hatte Nero noch furchtsamer und schreck- haſter gemacht. Auffällig sind die Konsequenz und die Geschwindigkeit mit der nun bei Verdacht sofort gehandelt wurde. Den Anfang machte man mit Publius Anteius Rufus. Antistius Sosianus, der wegen eines Schmähgedichts auf Nero seit 62 in der Verbannung lebte, hatte in Erfahrung gebracht, wieviel Ehre bei Nero den Angebern widerfahre und wie rasch der Kaiser jetzt zu Hin- richtungen bereit sei. Da er ein unruhiger Geist und im Auffinden von günstigen Gele- genheiten geschickt war, befreundet er sich mit seinem Leidensgefährten Pammenes, der am gleichen Ort in der Verbannung lebte. Damals waren auch die Astrologen ausgewie- sen worden. Pammenes war ein berühmter Sterndeuter und unterhielt mit vielen Leuten 1 Cass.Dio 63.1.1 Brought to you by | New York University Elmer Holmes Bobst Library Authenticated Download Date | 10/7/14 4:14 PM

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Ereignisse in Rom und Italien

246. Erster Künstlertriumph Neros

Wohl noch im Frühjahr des Jahres trat Nero erneut bei einem Kitharödenwettstreit auf. Der Anlaß ist nicht bekannt. Er fand nun an seinen künstlerischen Auftritten so sehr ge-fallen, daß er jede Möglichkeit wahrnahm und neue Anlässe schuf. Nachdem Nero selbst-verständlich gesiegt hatte, veranstaltete sein alter Lehrer Mencrates im Circus für ihn einen Triumph, bei dem der Kaiser als Wagenlenker, vermutlich mit dem Triumphalgewand an-getan, vor aller Öffentlichkeit erschien. Es war das erste mal, daß für einen Künstlersieg eine römische Triumphalfeier abgehalten wurde – ein weiterer Schritt auf dem Wege der Verfremdung altrömischer Staatsfeste.1

247. Allgemeiner Eindruck der Kriminalfälle – Die Beseitigung des Publius Anteius Rufus und des Ostorius Scapula

Sodann gab es neue Erschütterungen unter den römischen Hocharistokraten, weil etliche von ihnen oder ehrgeizige Prozeßankläger sich nunmehr in der aufgereizten Lage als An-geber betätigten. Einige der 66 und 67 Verstorbenen wurden ums Leben gebracht oder zum Selbstmord gezwungen, ohne daß ein Prozeß ihre Schuld erörtert hat. Dazu gehörten Vestinius, Lucius Silanus, Petronius, Publius Anteius Rufus, Ostorius Scapula, ferner die Statthalter Scribonii und der Feldherr Corbulo. In manchen Fällen lassen sich politische Zusammenhänge vermuten, aber wirkliche Schuld ist aus den Quellenberichten nicht er-sichtlich. Kaiserliche Willkür ist nicht in jedem Fall anzunehmen, aber daß hinreichende Verdächtigungen bereits zum Tod führten, darf getrost angenommen werden. Die aufge-deckte Verschwörung des vergangenen Jahres hatte Nero noch furchtsamer und schreck-hafter gemacht. Auffällig sind die Konsequenz und die Geschwindigkeit mit der nun bei Verdacht sofort gehandelt wurde.

Den Anfang machte man mit Publius Anteius Rufus. Antistius Sosianus, der wegen eines Schmähgedichts auf Nero seit 62 in der Verbannung lebte, hatte in Erfahrung gebracht, wieviel Ehre bei Nero den Angebern widerfahre und wie rasch der Kaiser jetzt zu Hin-richtungen bereit sei. Da er ein unruhiger Geist und im Auffinden von günstigen Gele-genheiten geschickt war, befreundet er sich mit seinem Leidensgefährten Pammenes, der am gleichen Ort in der Verbannung lebte. Damals waren auch die Astrologen ausgewie-sen worden. Pammenes war ein berühmter Sterndeuter und unterhielt mit vielen Leuten

1 Cass.Dio 63.1.1

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der vornehmen Gesellschaft freundschaftliche Beziehungen. Sosianus bemerkte, daß den Astrologen laufend Boten mit Anfragen im Hinblick auf zukünftige Ereignisse aufsuchten. Er erfährt, daß Pammenes von Anteius eine jährliche Geldzuwendung beziehe. Auch war ihm bekannt, daß Anteius durch seine Liebe zu Agrippina dem Kaiser verhaßt war, daß seine Reichtümer Neros Habsucht besonders reizten und daß auch diese Tatsache für man-che Grund zu ihrem Verderben war. Es gelang ihm, einen Brief des Anteius an Pammenes abzufangen und Pammenes selbst auch einige Schriftstücke zu entwenden, in denen dieser sich in geheimnisvollen Andeutungen über das Horoskop und das künftige Schicksal des Anteius äußerte. Daneben findet er auch das Geburtshoroskop und weitere Aufzeichnun-gen über das zukünftige Leben des Marcus Ostorius Scapula, Sohn des früheren Statthalters von Britannien. Deshalb setzte er ein Schreiben an den Kaiser auf, in dem er äußerte, er könne ihm wichtige und seiner Sicherheit dienende Mitteilungen machen, wenn er ihm eine kurze Unterbrechung seiner Verbannung und Zutritt gewähre. Anteius und Ostorius bedrohten den Staat und forschten nach ihren und des Kaisers zukünftigen Schicksalen. Dies zählte zu den Maiestätsverbrechen.

Sofort wurden Schiffe ausgesandt, die Sosianus eiligst herbeiholten. Sobald seine An-zeige bekannt geworden war, hielt man Anteius und Ostorius schon für verurteilt, bevor sie noch angeklagt waren. Tigellinus hatte dem Anteius geraten, er solle die Abfassung seines Testaments nicht aufschieben. Sobald er dies getan hatte, nahm er Gift zu sich. Da ihn des-sen langsame Wirkung ungeduldig machte, schnitt er sich noch die Adern auf, um seinen Tod zu beschleunigen. Sosianus indes wurde für seine Dienste nicht belohnt, sondern an seien Verbannungsort zurückgeschickt.2

Ostorius hielt sich zu der Zeit nicht in Rom auf, sondern befand sich auf einem entfern-ten Landgut an der ligurischen Grenze. Dorthin schickte man einen Centurio, der für seine rasche Beseitigung sorgen sollte. Die Eile lag darin begründet, daß Ostorius besonders zu fürchten war, weil er ein bei der Truppe angesehener Befehlshaber war, der sich in Britannien die Bürgerkrone erworben hatte und einen beeindruckenden, wehrhaften Körper besaß. Der Centurio ließ also das Landhaus umstellen und überbrachte sodann dem Ostorius des Kaisers Aufforderung zum Selbstmord. Ostorius sah ein, daß keine Rettung bestand und bewies auch gegen sich selbst die so oft vor dem Feinde gezeigte Tapferkeit. Weil seinen Adern, die er sich aufgeschnitten hatte, zu wenig Blut entfloß, bediente er sich insoweit der Hand eines Sklaven, als dieser einen Dolch unbeweglich vor seinen Kopf halten mußte; sodann ergriff er plötzlich dessen Hand und stieß sich mit einem Ruck die Klinge in die Kehle.3

248. Tod des Rufrius Crispinus, des Annaeus Mela und des Anicius Cerealis

Mit den Säuberungen fuhr man sodann fort, denn innerhalb weniger Tage fielen Rufrius Crispinus, Annaeus Mela, Anicius Cerealis, und Publius Petronius. Mela und Crispinus waren Ritter im Senatorenrang, Crispinus von 47 bis 51 Praetorianerpraefect und durch Agrippinas Einschreiten zugunsten des Burrus abgesetzt worden. 65 war Crispinus wegen Beteiligung an der Verschwörung nach Sardinien verwiesen worden und tötete sich jetzt

2 Tac.hist.4.44.23 Tac.ann.16.14f.

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selbst, sobald er vom Hof den Mordbefehl erhalten hatte. Sein gleichnamiger Sohn, der Stiefsohn Neros, wurde – obwohl noch minderjährig – nach Mitte 66 (?) ertränkt, viel-leicht weil man die Möglichkeit ausschließen wollte, durch seine Stellung und die seiner verstorbenen Mutter Poppaea als Thronanwärter für Gegner Neros zu dienen. Angeblich hatte er sich, gemessen an seinem Alter, schon allzu früh in Führerrollen gezeigt.4

Annaeus Mela, ein Bruder Gallios und Senecas, hatte sich von den hohen Staatsämtern ferngehalten. Er strebte dagegen einen höheren Rang an, indem er sich ein Vermögen erwarb und als Procurator die Geschäfte des Kaisers besorgte. Er besaß auch als Vater des Dichters Annaeus Lucanus eine gewisse Berühmtheit. Nach Lucans Hinrichtung war dessen Vermö-gen vom Kaiser eingezogen worden, wobei sich Mela als kaiserlicher Procurator durch große Härte Geltung verschaffte und dadurch Fabius Romanus, einen von Lucans vertrautesten Freunden, zu einer Anklage reizte. Man hat die Unschuld Melas aufgrund einer Mitteilung bei Polyainos5 angezweifelt, wonach die oben genannte Epicharis seine Geliebte war. Vielleicht hat Romanus von Melas Kenntnissen hinsichtlich der geplanten Verschwörung erfahren und dies bei der Anklage verwendet.6 Somit hätte der Prozeß politische Bestandteile gehabt. Nach einer anderen Fassung, der Tacitus den Vorzug gibt, handelte es sich um einen Prozeß, der es auf das riesige Vermögen Melas abgesehen hatte. Danach brachte wohl jener Romanus die Lüge auf, Vater und Sohn hätten gemeinsam von der Verschwörung gewußt und fälschte ein Schreiben Lucans. Nero las diesen Brief und befahl, ihn Mela zu überbringen, da er nach des-sen Vermögen begierig war.7 Mela wagte nicht, Widerstand zu leisten, sondern schnitt sich die Adern auf, nachdem er ein Testament aufgesetzt hatte, in dem er Tigellinus und dessen Schwiegersohn Cossutianus Capito einen große Betrag vermachte, um so den Rest des Ver-mögens für Verwandte zu sichern. Dem Testament fügte er in einem Zusatz die Bemerkung bei, wohl um sich über die Ungerechtigkeit zu beklagen, daß er sterben müsse, ohne den Tod verdient zu haben, während Rufrius Crispinus und Anicius Cerealis, die dem Kaiser feind-lich gesonnen seien, am Leben bleiben dürften. Die Anschuldigung gegen Crispinus erhob er, wie man glaubte, weil dieser bereits gestorben war, gegen Cerealis, damit er ebenfalls getötet würde. Bald darauf legte auch Cerealis Hand an sich. Man bedauerte ihn aber weniger als die anderen, denn man hatte in Erinnerung behalten, daß er einst im Jahre 40 eine Verschwörung gegen Caligula verraten hatte.8

249. Der Tod des Publius Petronius

Was nun Petronius, den Verfasser des satirischen Romans „Satyricon“ angeht,9 so hatte es mit seinem Tod folgende Bewandtnis. Nachdem er aus seiner Statthalterschaft in Bithynien

4 Suet.Nero 35.5; Griffin, Nero, S. 102; 289 Anm. 405 Polyain.8.626 Questa bei Koestermann, Annalen, Bd. 4, S. 157, 367, 369 unter Hinweis auf Tac.ann.14.65.27 Nach Hier.Chron. zum Jahre 66 hat Nero den Todesbefehl an Mela gesandt, weil Mela selbst das

Vermögen des Dichters an sich reißen wollte.8 Tac.ann.16.17; anders, aber unwahrscheinlich Cass.Dio 59.25.5b (Zon.); zu den Folterungen Sen.ira

3.18.3f.9 Über ihn und den Roman s. § 109

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nach Rom zurückgekehrt war, wurde er 62 nachrückender Consul und zeigte, wie schon zuvor, die Fähigkeit, seinen Obliegenheiten gerecht zu werden. Danach wandte er sich tatsächlich oder nur zum Schein wieder seinem Genußleben zu und wurde in den engen Kreis der vertrauten Freunde Neros aufgenommen, wo er als „Schiedsrichter des erlesenen Geschmacks“ (arbiter elegantiarum/ elegantiae) galt. Nero nämlich erkannte nur das als ge-schmackvoll und genußreich an, was Petronius zuvor ihm anempfohlen hatte. Durch diese Stellung erregte er indes den Neid des Gardepraefecten Tigellinus, der in ihm einen überle-genen Rivalen in der Kunst des raffinierten Lebensgenusses sah. Daher faßte er den Kaiser bei seiner infolge der überstandenen Gefahr gesteigerten Angst. Tigellinus beschuldigte den Petronius, hinter Neros Rücken dem Kaiser Knauserigkeit und Geiz vorzuwerfen,10 mit Scaevinus befreundet gewesen zu sein und bestach einen seiner Sklaven, seinen Herrn anzuzeigen. Ihm selbst schnitt er die Gelegenheit zur Verteidigung ab und ließ den größten Teil seiner Dienerschaft verhaften.

Gerade zu dieser Zeit hatte sich der Kaiser nach Campanien begeben. Petronius rei-ste ihm bis Cumae nach, wurde aber dort von den Häschern des Tigellinus festgehalten. Hier ertrug er nicht länger das Schwanken zwischen Hoffnung und Furcht und begann seine letzten Anordnungen zu treffen. In seinem Testament sagte er Nero und Tigelli-nus oder sonst einem der einflußreichen Männer keineswegs nur Schmeicheleien, was die meisten vor ihrem Tod zu tun pflegten. Vielmehr schrieb er die Ausschweifungen des Kaisers unter namentlicher Nennung seiner Buhlknaben und Dirnen sowie die von Nero erfundenen Einzelheiten bei den verschiedenen Geschlechtsakten genau auf und ließ dieses Spottschreiben versiegelt dem Kaiser zugehen. Darauf zerbrach Petronius sei-nen Siegelring, damit er nicht später dazu gebraucht werden könnte, andere in Gefahr zu bringen. Kurz vor seinem Tode zerschmetterte er noch eine Schöpfkelle aus Flußspat im Werte von 300.000 Sesterzen, auf daß sie nicht Nero in die Hände falle und dessen Tafel ziere.11 Doch auch jetzt beeilte er sich nicht, sein Leben achtlos wegzuwerfen, sondern ließ sich die Pulsadern aufschneiden, dann je nach Laune wieder verbinden und bald wieder öffnen. Dabei unterhielt er sich mit seinen Freunden, aber nicht über edle und ernsthafte Gegenstände der Besinnung und auch nicht in der Absicht, sich den Ruf einer standhaften Haltung zu erwerben. Er hörte auch seinen Freunden zu, die aber nicht über die Unsterblichkeit der Seele oder die Ansichten der Philosophen über diese Frage spra-chen, sondern leichtfertige Lieder und oberflächliche Verse vortrugen. Von seinen Skla-ven beschenkte er die einen reich, andere ließ er auspeitschen. Er ging wie gewöhnlich zu Tisch und legte sich dann schlafen, um seinen erzwungenen Tod einem natürlichen Ende möglichst ähnlich zu machen. Diese ganze Art zu Sterben konnte zu einem Mann wie dem Verfasser des „Satyricon“ passen, wenn sie denn dem wirklichen Geschehen ent-spricht.12 Petronius hinterließ eine Tochter namens Pontia.13

10 Plut.adul.1911 Plin.nat.hist.37.2012 Tac.ann.16.18f.13 Iuv.schol.6.638

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250. Verbannung und Tod weiterer Menschen (Silia, Minucius Thermus und sein Freigelassener)

Nero überlegt nun, wie denn die genialen Einfälle bei seinen sexuellen Abenteuern14 be-kannt werden konnten und richtet sein Augenmerk auf Silia,15 die als Gemahlin eines Sena-tors recht bekannt war und Nero selbst schon zur Befriedigung seiner Lüste gedient hatte. Sie war eng mit Petronius vertraut gewesen. Unversehens wird sie in die Verbannung ge-schickt, weil sie nicht verschwiegen, was sie mit angesehen oder erduldet hatte. In Wahrheit aber fiel sie dem persönlichen Haß des Kaisers zum Opfer.

Ein weiteres Opfer von Neros Willkür war der ehemalige Praetor Minucius Thermus.16 Ein Freigelassener des Thermus hatte Tigellinus einiger Ungesetzlichkeiten wegen ange-zeigt (criminose detulerat). Nero lieferte Thermus der Rache des Tigellinus aus. Dieser ließ den Freigelassenen zunächst die Anzeige durch die Qualen der Folter büßen. Thermus selbst erlitt, vermutlich weil er einen solchen Freigelassenen besaß, den Tod, obwohl er selbst keiner Schuld überführt worden war.17

Strafprozeß und Todesurteile gegen Thrasea Paetus,18 Barea Soranus und Angehörige

251. Beschuldigungen des Cossutianus Capito vor Nero

Nachdem nun so viele bedeutende Persönlichkeiten beseitigt waren, ging Nero zuletzt ge-gen die geistige Opposition vor, die bei all den geheimen oder offenen Bewegungen des Widerstands gegen seine Herrschaft im Hintergrund stand. Es begannen Strafprozesse ge-gen Publius Clodius Thrasea Paetus19 und dessen Schwiegersohn Quintus Marcius Barea Soranus (Consul 52). Sie waren dem Kaiser seit langem verhaßt oder wurden ihm durch seine Schmeichler verhaßt gemacht. Beide Männer waren angesehen durch ihre Stellung, den Reichtum und ihre sittliche Haltung. Thrasea stand seit langem in einer geistigen Op-position, die sich in Rückzug aus dem öffentlichen Leben äußerte, die als Mißachtung der Maiestas des Kaisers erscheinen mußte. Daß er an der Pisonischen Verschwörung des ver-gangenen Jahres nicht teilgenommen hatte, bewies die Tatsache, daß man erst jetzt gegen ihn vorging und dabei mit keinem Anklagepunkt auf die Verschwörung Bezug nahm.20

Diese Haltung Thraseas und die verschiedenen Begebenheiten, die bei Nero Mißtrauen oder Haß hervorzurufen geeignet waren, ließ Cossutianus Capito nicht in Vergessenheit

14 Cass.Dio 61.10.3.f. (oder seine Quelle) behauptet in verleumderischer Absicht, Seneca habe Nero zu seinen sexuellen Abenteuern angestiftet, allerdings hat er sie wohl dulden müssen.

15 Eine sonst unbekannte Frau der römischen Oberschicht.16 Es ist ungewiß, ob er ein Sohn des Ritters gleichen Namens war, der im Zuge des Sturzes der seiani-

schen Herrschaft (31) beseitigt worden war (Tac.ann.6.7.2).17 Tac.ann.16.2018 Cass.Dio 62.26 legt das Ereignis ins Jahr 6519 Tacitus nennt Thrasea hist.2.91.3 ein herausragendes Beispiel echten Ruhms.20 Tac.Agr.1.4ff.; Cass.Dio 62.26.1

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geraten. Er war zu allen Schändlichkeiten fähig und außerdem noch Thraseas Intimfeind. Thrasea hatte 57 erfolgreich die Sache der Kilikier unterstützt, als sie Cossutianus we-gen Erpressungen belangten.21 Um ihn zu vernichten, trat Cossutianus vor Nero hin und brachte nun in langer Aneinanderreihung Beobachtungen über Thrasea in Erinnerung, die ihre Wirkung auf den Kaiser nicht verfehlen konnten und ihm schadeten:

Thrasea hatte im Jahre 59 den Senat verlassen, als man einst über Agrippina verhandelte. Er hatte bei den Iuvenalien zu wenig Teilnahme gezeigt – sei es, daß er selten anwesend ge-wesen war, sei es, daß er zu wenig Beifall gespendet hatte. Diese Beleidigung Neros saß um so tiefer, weil Thrasea in seiner Heimatstadt Patavium (Padua) bei den von dem Troianer Antenor in sagenhafter Vorzeit gestifteten „Fischerspielen“ im tragischen Kostüm gesungen hatte.22 Des weiteren hatte Thrasea in der Senatssitzung, in welcher der Praetor Antistius Sosianus wegen seiner Schmähschriften zum Tode verurteilt werden sollte, eine mildere Bestrafung beantragt. Daß er sich damit durchgesetzt hatte, machte ihn um so verdächti-ger als Führer einer vermeintlichen Gegnerschaft.23 Und als für Poppaea göttliche Ehren beschlossen wurden, war er der Senatssitzung absichtlich ferngeblieben und hatte auch an ihrem Leichenbegräbnis nicht teilgenommen.

Hinzu kamen äußerliche Dinge, wie etwa die angeblich so grämliche Lehrmeister-Miene Thraseas, die Nero verärgerte und aufbrachte.24 Milde und Sanftmut kennzeich-neten seine Wesensart.25 Er war zudem als ein ernstzunehmender, sittlich gebundener Freigeist stadtweit bekannt. Nicht allein durch sein Verhalten, sondern auch in seinen Äußerungen im Kreise seiner Freunde, legte er von seiner überlegen vorgetragenen Ver-achtung für die Machtallüren Neros und die Unterwürfigkeitsgesten seiner Schmeichler Zeugnis ab. Er wußte nämlich, daß selbst etliche seiner Lobredner durch ihn zu Tode ge-kommen waren und noch kommen würden. Wenn man schon elend infolge der unbere-chenbaren Gemütswandlungen eines Despoten enden müsse, so doch wenigstens nicht als Sklave seiner Launen und Eitelkeiten, sondern als ein freier Mensch.26 Dabei war Nero einstmals nicht ohne Respekt für Thrasea. In einer früheren Äußerung bedauerte er das Zerwürfnis und lobte vor allem seine Unbestechlichkeit als Richter.27 Doch die Schmeich-ler am Hof, die Pisonsche Verschwörung und die Hetzreden des Cossutianus hatten Nero gegen ihn scharf gemacht. Cossutianus fügte nun weitere Vorwürfe in verleumderischer Absicht hinzu, die ihre Wirkung nicht verfehlten: Thrasea vermeide es, am Anfang des Jahres den feierlichen Treueid auf die rechtsverbindlichen Verordnungen (acta) des Kai-sers zu leisten. Er sei nicht anwesend, wenn am 1. Januar die Gelübde für die Unversehrt-heit des Staates (vota pro incolumitate rei publicae) dargebracht würden, obgleich er dem Priesterkollegium der Fünfzehnmänner angehöre.28 Noch nie habe er am 3. Januar des Jah-

21 Tac.ann.16.21; 13.3322 Cass.Dio 62.26.423 Koestermann, Annalen, Bd. 4, S. 37924 Suet.Nero, 37.125 Plin.ep.8.22.3: vir mitissimus26 Cass.Dio 61(62).15.3f.27 Plut.praec.rei publ. 14.1028 Plut.Cic.2; Tac.ann.4.17

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res für das Wohlergehen des Kaisers (vota pro incolumitate principis) oder dessen göttlicher Stimme geopfert.29 Früher sei er ein eifriges Mitglied des Senats gewesen und habe sich bei ganz gewöhnlichen Anträgen mit Beistimmung oder Widerspruch hervorgetan. Jetzt aber habe er drei Jahre lang das Tagungsgebäude nicht mehr betreten. Noch vor kurzem, als alle Senatoren sich eifrig zur Verurteilung des Silanus und des Antistius Vetus drängten, habe er sich lieber für die Angelegenheiten seiner Clienten Zeit genommen. Das sei doch schon Absonderung und Parteibildung, und wenn viele diesem Beispiel folgten, so sei ein Bürgerkrieg zu befürchten. So wie man einst Gaius Iulius Caesar und Marcus Cato, über den, wie bekannt, Thrasea kürzlich eine Lebensbeschreibung abgefaßt,30 nebeneinander gestellt habe, so spreche man auch jetzt von Nero und von Thrasea. Zudem habe er Gesin-nungsgenossen, die sich zwar noch nicht die eigensinnige und abweichlerische Art seiner Senatsanträge, wohl aber seine Haltung und Miene zum Vorbild nähmen. Man sehe sie unzugänglich, mürrisch, finster einher gehen, wodurch sie dem lebensfrohen Kaiser mit-telbar Leichtfertigkeit vorwürfen. Für Thrasea allein bleibe des Kaisers Wohlergehen ohne Gelübde; seinen künstlerischen Leistungen erweise er keine Ehre; von des Kaisers Glück wolle er nichts wissen und auch seine Trauer und sein Schmerz ließen ihn gleichgültig. Und derselben Gesinnung entspringe es, daß er nicht an Poppaeas Göttlichkeit glaube. Außerdem schwöre er nicht auf die Verordnungen (acta) des göttlichen Augustus oder Iulius Caesar.31 Religiöse Bräuche meide und verachte er und trachte danach, die Gesetze abzuschaffen. Die Staatszeitung des römischen Volkes werde in den Provinzen und bei den Heeren deswegen eifrig gelesen, weil man zu erfahren suche, was Thrasea alles abgelehnt oder unterlassen habe. Was bleibe da anderes übrig, als sich Thraseas Ansichten und Ver-halten anzuschließen, wenn dies denn besser ist, oder allen, die nach Umsturz strebten, den geistigen Führer und Ratgeber zu entziehen. Durch sein Verhalten hatte so Thrasea nach römischen Begriffen neben seiner auctoritas nun auch gloria (Ruhm) erworben und galt als vir gravis („seriöser Mann“, „politisches Schwergewicht“).32 Zudem gehöre er, so Cossutianus, der Sekte der Stoiker an, die bereits in den Zeiten der alten Republik als Bei-spiele von altrömischer, aufrechter Gesinnung und als leibhaftige Vorwürfe gegen die, wie sie meinten, entartete Gegenwart gelten wollten. Thrasea und seine Anhänger trügen ihre freiheitliche Gesinnung deswegen zur Schau, um die Kaiserherrschaft zu stürzen. Hätten sie dies erst vollbracht, dann würden sie die Freiheit selbst angreifen. Und Cossutianus rückte Thrasea und seinen Kreis in die Nähe von Hochverrätern und Kaisermördern, in-dem er äußerte, vergebens habe Nero den Gaius Cassius beseitigt, wenn er es jetzt zulasse, daß die Nacheiferer der Caesarmörder Brutus und Cassius unbehelligt bleiben dürften. Es

29 Cass.Dio 62.26.4. Die Abwesenheit Thraseas anläßlich der Gelübde kommt nach Ronning, Nero und Thrasea, Chiron 36 (2006), S. 347f. nur für die späteste Zeit in Frage; eine wiederholte Brüskierung hätte Nero nicht geduldet.

30 Plut.Cat.min.25; 3731 Auf die Verordnungen Tibers und Caligulas wurden nach ihrem Tod keine Eide geleistet und Clau-

dius wurde von Nero verachtet (Koestermann, Annalen, Bd. 4, S. 382).32 Ronning, Nero und Thrasea, Chiron 36 (2006), S. 354

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sei gar nicht nötig, daß der Kaiser eingreife. Überließe er nur alles ihm, so werde der Senat schon gegen Thrasea vorzugehen wissen.

So verwob Cossutianus die unterschiedlichsten Tatsachen aus Gegenwart und republi-kanischer Zeit um Thrasea in eine äußerst ungünstige Beleuchtung zu rücken und zu ver-leumden. Das Wesentliche der Vorwürfe bezog sich auf Thraseas Rückzug aus dem politi-schen und öffentliche Leben. Nicht durch Handlungen, sondern durch Unterlassen war er kriminellen Verdächtigungen ausgesetzt und galt mit seinem Verhalten als Vorbild für Re-gierungsgegner und Abweichler aller Art. Die Verweigerung der jährlichen Gelübde war allerdings ein justiziables Versäumnis, welches die Grundlage einer Maiestas-Klage bilden konnte, was dann auch geschah. Nero lobte also den Eifer des zornesmütigen Cossutianus und gibt ihm in Eprius Marcellus33 noch einen schlagfertigen Redner, als zweiten Anklä-ger bei.34

252. Beschuldigungen gegen Barea Soranus

Die Anklage gegen Barea Soranus hatte inzwischen der römische Ritter Ostorius Sabinus übernommen. Auch Soranus hatte an der Verschwörung nicht teilgenommen.35 Vorder-gründig ging es um dessen Statthalterschaft von Asien, die schon einige Jahre zurücklag (vor 63). Weil Soranus sich auf seine in der Tat unbestechliche und tatkräftige Amtsführung ei-niges zugute hielt, hatte er den Unwillen des Kaisers erregt. Er hatte sich bemüht, den durch Versandung gesperrten Hafen von Ephesos36 wieder befahrbar zu machen. Zudem war es in Pergamon zum gewalttätigen Widerstand gegen den Kunstraub (oder Zwangsverkauf von Gegenständen) des Kaisers gekommen. Der kaiserliche Freigelassene Acratus hatte, wie be-richtet, den Auftrag, zahlreiche Gemälde und Standbilder aus Pergamon nach Rom hinweg zu schleppen.37 Die Bestrafung der Aufrührer hatte Soranus pflichtwidrig unterlassen und damit den Zorn des Kaisers erregt. Als eigentliches Verbrechen wurde ihm die Freundschaft mit Rubellius Plautus zugerechnet sowie sein angebliches, aber unbewiesenes Streben, seine Provinz für einen Aufstand gegen Nero zu gewinnen.

253. Brief des Thrasea an Nero

Es war gerade zu der Zeit, da Tridates in Italien ankam, um die armenische Königskrone in Empfang zu nehmen. Das hohe Interesse an den auswärtigen Angelegenheiten und die ver-breitete Erwartung und Vorbereitung des glanzvollen Ereignisses zog die Aufmerksamkeit auf sich. Es kündigte sich, während die Strafprozesse ihren Lauf nahmen, eine der letzten prächtigen Schaudarstellungen Neros an: Der Ianustempel war geschlossen worden,38 und der Kaiser hatte die Stadt bereits verlassen, um Tiridates entgegenzureisen. Als man nun

33 Zu ihm s. Darstellung zum Jahre 5734 Tac.ann.16.22; viel kürzer Cass.Dio 62.26.335 Cass.Dio 62.26.136 Strabo 14.1.24(641)37 S. auch § 18938 Suet.13.2

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von dem Herannahen der glänzenden Gesellschaft nach Rom erfuhr, strömte die ganze Stadt mitsamt dem Senat hinaus, um den Kaiser einzuholen und den König zu sehen. Nur Thrasea wurde ausdrücklich untersagt, sich am Empfang zu beteiligen. Er ließ aber den Mut nicht sinken, sondern faßte ein Schreiben an Nero ab, worin er sich erkundigte, was man ihm vorwerfe, und versicherte, daß er sich dazu äußern werde, wenn man ihm den Inhalt der Anklage mitteile und ihm die Gelegenheit gegeben werde, sich zu verteidigen. Dieses Schreiben nahm Nero hastig an sich in der Hoffnung Thrasea sei eingeschüchtert und habe etwas geschrieben, was seinen eigenen Ruhm erhöhe und Thraseas Ruf schädige, denn die amicitia mit diesem gewichtigen Mann war ihm in ihrer Außenwirkung für die Aristokratie lange Zeit nicht unwichtig.39 Da dies aber nicht der Fall war und er den Blick, die hohe Gesinnung und den Freimut des Mannes fürchtete, ließ er sogleich den Senat unter Leitung der Consuln zum Gericht zusammenrufen.40

254. Thraseas Beratung über das weitere Vorgehen im Kreise seiner Freunde

Nun hielt Thrasea mit seinen vertrautesten Freunden, unter ihnen der junge Quintus Iunius Arulenus Rusticus, wahrscheinlich auch Soranus’ Schwiegersohn Helvidius Priscus,41 und Titus Avidius Quietus42 eine Beratung, ob er die Verteidigung versuchen, oder ob er dies besser unterlassen solle. Die Ratschläge, die man ihm gab, waren verschieden. Diejenigen, die sich dafür aussprachen, daß er in die Curie gehen solle, erklärten, daß sie wegen seiner ehrenhaften Standhaftigkeit ohne Sorge seien. Alles was er sagen werde, könne nur seinen Ruhm mehren. Nur träge und ängstliche Leute erwarteten ihr Ende in der Einsamkeit. Das Volk müsse doch einmal sehen, wie ein Mann voll Festigkeit dem Tode gegenüberstehe. Die Senatoren sollten einmal Worte hören, die gleichsam wie von einer Gottheit kämen und über allem rein Menschlichen stünden. Durch ein solches Wunder, so meinten sie, könne sich sogar ein Nero umstimmen lassen. Sollte dieser aber auf seinem Despotismus und sei-ner Grausamkeit beharren, so werde sich doch wenigstens die Nachwelt seines ehrenvollen Todes erinnern und ihn wohl unterscheiden von der Feigheit derjenigen, die lieber schwei-gend untergingen.43

Die anderen, die rieten, zu Hause zu bleiben und abzuwarten, hatten zwar dieselbe An-sicht über Thraseas Standhaftigkeit, meinten aber, es stünden ihm Hohn, Beschimpfungen und Schmach bevor, denen er sich doch besser nicht aussetzen sollte. Nicht Cossutianus und Eprius Marcellus allein seien zu Freveltaten bereit. Es gebe genug andere rohe Leute, die zu Tätlichkeiten greifen würden. Selbst die Bessergesinnten würden aus Furcht solchen Folge leisten. Er solle lieber dem Senat, dessen Schmuck er stets gewesen sei, die Schmach einer solchen Schandtat ersparen und die Frage unentschieden lassen, was der Senat be-

39 Ronning, Nero und Thrasea, Chiron 36 (2006), S. 34240 Tac.ann.16.23f.41 Koestermann, Annalen, Bd. 4, S. 387; über ihn s. das rühmende und von Zuneigung getragene Por-

trait Tac.hist.4.5f.42 Ein Freund Plutarchs und Vertrauter des Thrasea, dessen Äußerungen in Briefen des Plinius erschei-

nen (ep.6.29; 9.13; 15; 17)43 Tac.ann.16.25

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schließen würde, wenn er einen Thrasea als Angeklagten vor Augen habe. Daß Nero seine Gesinnung gegen ihn ändern werde, sei eine völlig vergebliche Hoffnung. Weit mehr sei zu befürchten, daß er auch gegen Thraseas Gattin, Tochter und alle übrigen, die ihm teuer seien, vorgehen werde. Deshalb solle er unbeschadet in der ruhmvollen Weise derjenigen sein Ende suchen, deren Beispiel und Lehren er sein Leben lang gefolgt sei.

Nachdem Arulenus Rusticus dies vernommen hatte, damals noch ein feuriger junger Mann, erbot sich dieser in seinem Ehrgeiz, gegen den Senatsbeschluß Einspruch zu erhe-ben. Er war nämlich Volkstribun. Thrasea indes dämpfte seinen Eifer indem er bemerkte, er möge nichts Törichtes unternehmen, was dem Angeklagten keinen Nutzen, ihm selbst aber Verderben bringen werde. Er sei am Ende seines Lebens und dürfe die so viele Jahre hindurch festgehaltenen Grundsätze jetzt nicht preisgeben. Für ihn aber beginne erst die politische Laufbahn. Er solle zuvor reiflich überlegen, welchen Weg er in diesen Zeiten ein-schlagen wolle. 69 war Arulenus Rusticus Praetor und Gesandter des Senats.44 Er hat später dem Thrasea ein Denkmal durch eine Lebensbeschreibung gesetzt, die Tacitus als Quelle benutzt hat. Rusticus war ein überzeugter Stoiker, eine charakterstarke Persönlichkeit, die viele Gegner hatte.45 Er stammte übrigens wie der Jüngere Plinius aus Comum. Plinius bewahrte der Familie des Rusticus zeitlebens große Treue und Anhänglichkeit und unter-stützte sie. Auch mit Rusticus’ Bruder Iunius Mauricus war er befreundet. Unter Domitian im Jahre 92 Ersatzconsul,46 wurde Rusticus bald danach wegen seiner Schriften angeklagt und hingerichtet.47 Damals aber behielt sich Thrasea selbst die Entscheidung vor, ob es sich für ihn schicke, vor dem Senat zu erscheinen.48

Senatsgericht gegen Thrasea Paetus

255. Drohkulisse am Tage des Prozesses – Neros Rede

Am folgenden Morgen besetzten zwei praetorische Cohorten in voller Rüstung den Tem-pel der Venus Genetrix auf dem Caesarforum.49 Er lag hinter dem Sitzungsgebäude des Senats. Vor dem Eingang zum Sitzungsgebäude hatte sich eine Menge von Togaträgern gelagert; es waren Soldaten, die aber ihre Schwerter schlecht verbargen und damit unver-hohlen Gewalt androhten. Dies war eine an sich gesetzwidrige Vorgehensweise, weil der Senat das Recht beanspruchte, ohne Einschüchterung in freiem Ermessen zu beraten und

44 Tac.hist.3.80.245 Plin.ep.1.546 CIL XIV 245; AE 1949, Nr. 23,2747 Tac.Agr.2.1; Suet.Dom.10.3; ferner Cass.Dio 67.13.2f.48 Tac.ann.16.2649 Der Tempel war nach der Schlacht von Pharsalos (48 v.Chr.) im Jahre 46 v.Chr. geweiht worden (App.

bell.civ.2.281). Ob er bei dem Brand des Jahres 64 zerstört und wieder aufgebaut oder lediglich aus-gebessert wurde, ist nicht zu entscheiden. Die Vielzahl der öffentlichen Einrichtungen (in der Nähe lagen bewaffnete Abteilungen wahrscheinlich am Augustusforum und die Basilica Aemilia) belegt, daß die Brandschäden in diesem Stadtteil nicht groß gewesen sind oder die Ausbesserung rasch vor-genommen worden ist.

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66 nach Christus | 317

zu beschließen. Dies zeigt, für wie gefährlich jetzt der Hof die Lage hielt, und daß man annahm, Thrasea habe im Senat nach wie vor keine geringe Anzahl von Sympathisanten. Auf den Marktplätzen und in den Basiliken waren ebenfalls bewaffnete Abteilungen aufge-stellt. Unter ihren drohenden Blicken begaben sich die Senatoren in die Curie. Dort hörten sie eine drohende Rede des Kaisers, die von seinem Quaestor verlesen wurde. Hierdurch wollte Nero eine Atmosphäre der Einschüchterung schaffen, vor deren Hintergrund die Strafprozesse einen wunschgemäßen Verlauf nehmen sollten. Ohne bestimmte Namen zu nennen, machte Nero den Senatoren Vorwürfe, daß sie ihre Amtspflichten vernachlässig-ten und durch ihr schlechtes Beispiel auch die römischen Ritter zur Lässigkeit in ihrem Richterdienste verleiteten. Könne man sich denn wundern, daß diese Steuerpächter und Handelskaufleute aus ihren entlegenen Provinzen überhaupt nicht nach Rom kämen. Als Vorbild dienten ihnen doch viele Senatoren, die, hätten sie erst einmal Consulat und Prie-sterwürden erlangt, sich lieber den Annehmlichkeiten ihrer Gärten hingäben?50 Nach den strengen Anwesenheitskontrollen unter Tiberius51 und Claudius,52 scheint unter Nero eine laxere Handhabung lange Zeit üblich gewesen zu sein. Die Vorwürfe betrafen auch das übertriebene otium (Mußeleben) der Senatoren und sollten zielgerichtet den Prozeß gegen Thrasea vorbereiten.53

256. Anklage gegen Thrasea Paetus, Helvidius Priscus, Paconius Agrippinus und Curtius Montanus

Diese scharfen Einlassungen Neros griffen die Ankläger auf. Erst sprach Cossutianus, da-nach Eprius Marcellus, der finster und drohend auftrat und seine Ausführungen durch Stimme, Miene und Blick verschärfte. Zuerst stellte er fest, daß es sich hier um die höch-sten Staatsangelegenheiten handle. Durch den Trotz der Untertanen werde des Herrschers Milde beeinträchtigt. Die Senatoren seien bis zum heutigen Tage zu nachsichtig gewesen, indem sie nicht gegen den abtrünnigen und widerspenstigen Thrasea vorgegangen seien. Dasselbe gelte für seinen Schwiegersohn Helvidius Priscus. Hinzu komme noch Quintus Paconius Agrippinus, Proconsular der Provinz Kreta/Kyrenaika, der von seinem Vater den Haß auf Nero geerbt habe. Auch Curtius Montanus, der so abscheuliche Gedichte verfaßt habe, sei noch unbestraft.

Was nun Thrasea anging, so führte er aus: Es könne doch nicht hingenommen werden, daß Thrasea bei öffentlichen Anlässen – im Senat der ehemalige Consul, bei Gebeten der Priester und bei Eidesleistungen der Bürger – nicht erscheine. Dieser habe sich ja den staat-lichen Einrichtungen und religiösen Gebräuchen der Vorfahren zum Trotz öffentlich zum Verräter und Feind aufgeworfen. Er habe seit drei Jahren seine Amtspflichten als Senator nicht wahrgenommen und pflege die Widersacher des Kaisers zu behüten. Nun solle er sich endlich einmal selbst zeigen und seine Meinung sagen, was er gebessert oder geändert ha-ben wolle. Man würde es leichter ertragen, wenn er einzelne Vorgänge tadle, statt zu allem

50 Tac.ann.16.2751 Tac.ann.6.12; Suet.Tib.31; 3552 Cass.Dio 60.11.853 Ronning, Nero und Thrasea, Chiron 36 (2006), S. 355

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zu schweigen und es damit zu verurteilen. Mißfielen ihm denn, angesichts des geschlos-senen Ianustempels der Friede, der dank der Erhabenheit Neros auf dem ganzen Erdkreis herrsche, oder die verlustlosen Siege römischer Heere, wobei Marcellus geflissentlich die schmachvollen Niederlagen in Britannien und bei Rhandeia überging. Man solle doch ei-nen Mann, der über das Wohl des Staates betrübt sei, der die von Scharen seiner Bürger bevölkerten Märkte, Theater und Tempel für Einöden halte und mit innerer Verbannung drohe, nicht in seinem verkehrten Ehrgeiz gewähren lassen. Durch seinen Rückzug deute er doch in seiner Anmaßung an, der Staat komme ohne ihn nicht aus. Augenscheinlich gebe es für ihn keine Staatshandlungen und keine Heimatstadt mehr.54 Und schließlich habe er sich auch den Beinamen Paetus zum Gedenken an seinen Schwiegervater Caecina Paetus beigelegt, der einst in der Verschwörung gegen Claudius im Jahre 42 untergegangen sei. Welcher Gesinnung könne dies anders entspringen als der nach Opposition und Drohung gegen die bestehende Ordnung.55

Im Falle von Thrasea lief es auf eine Maiestas-Klage hinaus, die sich auf Unterlassen bezog. Absonderung, Parteiung, mangelnde Anteilnahme am öffentlichen Leben, Abwe-senheit von Senatssitzungen, Mißachtung der Erhabenheit und Hoheit Neros werden etwa die Anklagepunkte gewesen sein.

Diese mit finsterer Miene und in drohendem Ton vorgetragenen Ausführungen des Marcellus führten nicht nur zu der üblichen Niedergeschlagenheit bei den anwesenden Senatoren. Die bewaffneten Soldatenhaufen, die in ihrer Nähe waren, riefen bei ihnen ein neues und tiefes Entsetzen hervor und erniedrigte die hohe Körperschaft nachhaltig. Eine freie Meinungsbildung war nicht möglich.

Über die Vorwürfe gegen die übrigen Angeklagten ist im einzelnen nichts bekannt. Ir-gendeine Begründung, und sei sie auch noch so weit her geholt, wird Marcellus vorgetragen haben. Diese Worte weckten bei vielen in dem hohen Hause die Erinnerung an die ehrwür-dige Gestalt Thraseas, und man hatte auch mit Helvidius Priscus Mitleid, da er als Ver-wandter schuldlos büßen sollte. Beide sollen einen jährlichen Festtag zu Ehren der Caesar-mörder abgehalten haben.56 Was Helvidius Priscus außerdem vorgeworfen wurde, ist nicht bekannt. Gewiß mißfiel seine Neigung zum Stoizismus und überhaupt seine philosophi-sche Haltung, die man an ihm bemerkte.57 Paconius Agrippinus fürchtete man vorgeblich als einen Todfeind des Kaiserhauses, weil sein Vater58 einem Maiestätsprozeß unter Tiberius zum Opfer gefallen war.59 Bereits unter Claudius war er Quaestor und Proconsul von Kreta

54 Tac.ann.16.28. Bei Cass.Dio 62.26.3 werden lediglich Thraseas Abwesenheit von den Senatssitzun-gen und seine mangelnde Anteilnahme an den künstlerischen Auftritten Neros als Anklagepunkte genannt. Letzteres fehlt bei Tacitus, der die Mitschriften der Prozesse eingesehen haben wird.

55 Koestermann, Annalen, Bd. 4, S. 394. Ein substantieller Vorwurf gegen Thrasea Paetus war allerdings seine offensichtliche Verweigerung des am Jahresanfang zu leistenden Teueides auf den Kaiser und seine acta (s. im Einzelnen A. von Premerstein, Vom Werden und Wesen des Prinzipats, Abhandl. d. Bay. Akad. d. Wissenschaften, N.F. 15, München 1937, 36ff.)

56 Iuv.5.3657 Cass.Dio 66.1258 Er war unter Tiberius in einem Repetundenprozeß gegen den Statthalter von Asia als Ankläger auf-

getreten (Tac.ann.3.67.1).59 Suet.Tib.61.6.

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und Kyrenaika.60 Er selbst wird als ein Mann von bescheidener Wesensart geschildert.61 Als dem Agrippinus am Vormittag gemeldet wurde, es werde jetzt im Senat gegen ihn verhan-delt, da unterbrach er nicht seine gewöhnlichen Turnübungen. Später wurde ihm berichtet, daß er nur zu Verbannung (relegatio) verurteilt und sein Vermögen nicht beschlagnahmt worden sei. Da ging er erleichtert mit seinen Freunden nach Aricia an der Appischen Straße zum Essen.62 Und gar erst Montanus, der rechtschaffene Jüngling, der nie ein Schmähge-dicht verfaßt hatte! Was habe man ihm denn vorzuwerfen? Solle er etwa, nur weil er sein dichterisches Talent mit Versen voller Witz und Anspielungen (famosi) gezeigt und sich darauf vielleicht etwas zu viel zugute gehalten habe, in die Verbannung geschickt werden?63

257. Prozeß gegen Barea Soranus und dessen Tochter Servilia

Während man so mit den verschiedensten Gedanken beschäftigt war, tritt Ostorius Sabi-nus, der Ankläger des Barea Soranus, im Senat auf und beginnt, von dessen Freundschaft mit Rubellius Plautus zu sprechen, um ihn anzuschwärzen. Das Proconsulat von Asien habe Soranus mehr zur eigenen Verherrlichung als zum Nutzen der Allgemeinheit verwaltet und dabei aufrührerische Stadtgemeinden begünstigt. Doch das waren Angelegenheiten der Vergangenheit. Neu aber war der Vorwurf, der die Tochter namens Servilia aus seiner zwei-ten Ehe mit Fannia64 in die gefährliche Lage des Vaters hineinzog: Sie habe Zukunftsdeu-tern Geld gegeben. Dies hatte sie in der Tat getan, jedoch nur aus naiver Zuneigung zum Vater und in jugendlicher Arglosigkeit und Unerfahrenheit. Dabei hatte sie nach nichts anderem gefragt als nach der Sicherheit ihrer Familie – ob Nero versöhnlich sein, ob die Untersuchung des Senats nichts Schreckliches zur Folge haben werde. Sie wurde also in den Senat gerufen und der alte Soranus und seine zwanzigjährige Tochter standen vor dem Tri-bunal der Consuln. Servilia war der Sache nach bereits Witwe durch die kürzlich erfolgte Verbannung ihres Gatten Annius Pollio. Ganz untröstlich über das Geschehene, wagte sie nicht einmal, ihren Blick zum Vater zu erheben, weil sie dessen Gefährdung noch vergrö-ßert zu haben schien.

Als Ostorius Sabinus sie nun fragte, ob sie nicht ihren Brautschmuck und Geschmeide verkauft habe, um Geld für magische Zeremonien zusammenzubringen, da warf sie sich zuerst auf den Boden und weinte. Dann umfaßte sie den Brandaltar der Curie und rief, sie habe keine bösen Geister angerufen und auch keine Verwünschungen ausgesprochen. Nur darum habe sie in ihrem Gebet gefleht, daß der Kaiser und die anwesenden Senatoren ihr den Vater unversehrt erhalten mögen. Vom Kaiser habe sie nie anders als in Worten höch-

60 IGRom I 980, 1013; CIG 257061 Epikt.frg.5662 Epikt.Diatr.1.1.27–30. Er wurde vermutlich nach Rhodos verbannt, da Paconia Agrippina, seine

Tochter(?), dort Ehrungen empfing (Revue Archeol. XIII 1866 S. 154, non vidi). Nach der Rückkehr aus der Verbannung 71/72 kaiserlicher Legat in Kyrenaika (AE 1919, Nr. 91; 1934, Nr. 261)

63 Tac.ann.16.2964 Plin.ep.9.13.3

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ster Ergebenheit gesprochen. Ihr unglücklicher Vater wisse nichts von ihrem Tun.65 Sollte dies ein Verbrechen gewesen sein, so treffe sie allein die Schuld.

Soranus fiel ihr ins Wort und bezeugte, sie sei nicht mit ihm in die Provinz gereist und könne auch Rubellius Plautus wegen ihrer Jugend gar nicht gekannt haben, weil sie damals (ca. 62) erst 16 Jahre gewesen sei. In die letztjährige Anklage gegen ihren Gatten sei sie nicht verwickelt gewesen. Man möge sie, die sich nur unvorsichtiger Besorgnis zum Vater schuldig gemacht habe, von seiner Strafsache abtrennen; er selbst wolle sich dann jedem Schicksal unterwerfen. Damit wollte er sich der Tochter, die ihm entgegeneilte, in die Arme werfen, wären nicht die Lictoren dazwischengetreten und hätten beide zurück-gehalten.66

Nun wurden die Zeugen vernommen. Die Anklage hatte Mitleid erregt, aber viel Er-bitterung rief der Zeuge Publius Egnatius Celer hervor. Er stammte aus Berytos (Beirut) in Syrien, hatte vielleicht die Philosophenschule in Tarsos besucht, sich aber von aufrechter Gesittung, Bildung und ehrenwertem Verhalten nichts angeeignet. Er war ein Client des Soranus und jetzt bestochen worden, um durch seine Aussage seinen Herrn und Freund zu verderben.67 Genauer genommen soll Egnatius Servilia zu den Zukunftsbefragungen ange-regt, und dies nun in dem Prozeß gegen sie und ihren Vater verwendet haben. Bei allem trug Celer die gemessene Würde der stoischen Schule zur Schau und war geübt, in Haltung und Miene den Ehrenmann zu spielen. Im Herzen aber war er ein treuloser und heimtückischer Mensch, der seine Habsucht zu verstecken suchte. Diese Eigenschaften traten später durch die Annahme der Bestechungssumme hervor.68

Aber am selben Tag sah man auch ein Beispiel aufrechter Haltung und Gesinnung. Cassius Asclepiodotus aus Nikaia, der wegen seines großen Reichtums bei den Bithyniern bekannt war, zeigte seine Charakterfestigkeit und ließ den Soranus, den er in glücklichen Tagen durch seine Anhänglichkeit geehrt hatte, auch jetzt in der Gefahr nicht im Stich. Er verteidigte die Integrität seines Freundes und seinen einwandfreien Lebenswandel. Dafür wurde er denn auch aller seiner Güter für verlustig erklärt und in die Verbannung getrie-ben.69

Thrasea, Soranus und Servilia wird jetzt die freie Wahl ihrer Todesart gestattet. Hel-vidius Priscus und Paconius Agrippinus werden aus Italien verwiesen.70 Helvidius Priscus lebte fortan in Apollonia an der griechischen Westküste und durfte unter Galba zurück-kehren.71 Ihn begleitete seine Gattin Fannia, die Tochter des Thrasea Paetus.72 Montanus wurde, seinem Vater zuliebe, begnadigt unter der Bedingung, daß er sich nicht für ein

65 Anders Cass.Dio 62.26.3 wonach beide ein Opfer und Gelübde für die Genesung des erkrankten Vaters dargebracht haben.

66 Tac.ann.16.32.1; Plin.ep.7.19.467 Cass.Dio 62.26.168 Ebd. 62.26.2; Tac.ann.16.32; hist.4.10 (dort nur falsche Zeugenaussage gegen Soranus); 40; Iuv.

schol.6.552 ; ferner Iuv.3.116f.69 Cass.Dio 62.26.2; Galba hat ihn rehabilitiert.70 Tac.hist.4.6.1; Epikt.Diatr.1.1.3071 Iuv.schol.5.36; Tac.hist.4.6.172 Tac.ann.16.35.1; Plin.ep.7.19.3f.

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Staatsamt bewerbe. Er verschwindet aus der Geschichte.73 Die Ankläger Cossutianus und Eprius Marcellus erhielten zum Lohn je fünf Millionen Sesterzen, Ostorius 1,2 Million und die Abzeichen der Quaestur.74

258. Selbstmord Thraseas

Hierauf schickte man, als der Tag sich schon neigte, einen Quaestor, der dem Consul un-terstellt war, zu Thrasea, der sich gerade in seinem Park aufhielt. Er hatte einen Kreis vor-nehmer Frauen und Männer um sich versammelt und unterhielt sich besonders angeregt mit Demetrios, einem Gelehrten der kynischen Philosophie. Demetrios war ein dazumal bekannter Freigeist, der in der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts überwiegend in Rom wirkte; er wird bei Seneca oft erwähnt75 und nach dem Tode Thraseas durch Tigellinus aus Rom ausgewiesen.76

Unterdessen kam Domitius Caecilianus,77 einer seiner vertrautesten Freunde, und meldete Thrasea den Beschluß des Senats. Als die Gäste daraufhin weinten und klagten, mahnte sie Thrasea, eiligst aufzubrechen, um sich nicht durch ihre Anteilnahme an dem Los der Verurteilten selbst in Gefahr zu bringen. Seine Ehefrau Arria aber, die mit ihm sterben und dem Beispiel ihrer gleichnamigen Mutter folgen wollte, ermahnte er, am Leben zu bleiben um ihrer gemeinsamen Tochter Fannia eine Stütze zu sein.78 Ihre Mutter, Arria die Ältere, hatte sich einst nach Aufdeckung der Verschwörung gegen Claudius im Jahre 42 gemeinsam mit ihrem Ehemann Caecina Paetus das Leben genommen. Noch Jahrzehnte später wurde sie wegen ihrer Treue hoch geachtet und bewundert.79 Arria die Jüngere nun, ihre Tochter und eine Verwandte des Dichters Persius, wollte dem Beispiel ihrer Mutter nacheifern. Sie hatte Thrasea noch vor 42 geheiratet. In dieser – um es so auszudrücken – Tradition einer Insurgentengesinnung mußte das Kaiserhaus nach der Pisonischen Ver-schwörung eine gesteigerte Gefahr sehen. Unter Vespasian wurde ihr Schwiegersohn Hel-vidius Priscus hingerichtet.80 Unter Domitian (81–96) ging sie mit Fannia abermals in die

73 Über die Identität des bei Iuv.4.107ff. genannten Montanus, der als ein Schlemmer bei Neros nächt-lichen Orgien bezeichnet wird, herrscht Unklarheit.

74 Normal war ein Viertel des Vermögens des Verurteilten; zum Prozeßgeschehen Tac.ann.16.30ff.75 Sen.prov.3.3; 5.5f.; benef.7.1.3; 8.2; ep.20.9; 62.3; 67.14; 91.1976 Philostr.vit.Apoll.4.42. Während Neros Künstlerreise durch Griechenland war Demetrios in Athen

(Philostr.vit.Apoll.5.19) und lebte dann einige Zeit in Korinth (Lukian.adv.indoctum 19; Philostr.vit.Apoll.4.25), von wo er unter Vespasian nach Rom zurückkehrte; verteidigte in seinem Eigenwillen den in der Öffentlichkeit verhaßten Ankläger Publius Egnatius Celer (Tac.hist.4.40.3). Da er mit freimütigen Äußerungen auch gegen den Kaiser fortfuhr, wurde er 71 abermals verbannt (Cass.Dio 65.13.1–3; Suet.Vesp.13); lebte noch unter Domitian in Puteoli (Philostr.vit.Apoll.7.10ff.; 8.10ff.). Einer der Aussprüche, die er Nero ins Gesicht gesagt haben soll, lautet: „Du drohst mir (zwar) mit dem Tod! Dich aber bedroht deine (eigene) Natur (Epikt.Diatr.1.25.22).

77 Über diesen ist nichts Weiteres bekannt.78 Tac.ann.16.3479 Cass.Dio 60.16.6; Martial.1.13; Plin.ep.3.1680 Plin.ep.3.11.3

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Verbannung, kehrte, schon sehr altersschwach, unter Nerva (96–98) nach Rom zurück und ist erst unter Traian (98–117) gestorben.81

Nach dem Abschied von seiner Ehefrau tritt Thrasea in die Vorhalle seines Anwesens und findet dort den Quaestor vor. Dabei war er eher erleichtert als in trauriger Stimmung, weil er gehört hatte, daß sein Schwiegersohn Helvidius nur aus Italien verwiesen worden war. Als er dann den Senatsbeschluß in Empfang genommen hatte, betrat er in Begleitung von Helvidius und Demetrios und vielleicht noch anderen82 sein Schlafzimmer, setzte sich und schnitt sich die Pulsadern auf. Während sein Blut auslief, rief er auch den Quaestor heran, bespritzte die Erde mit seinem Blut und soll gesagt haben: „Wir bringen Iuppiter, dem Befreier, ein Trankopfer. Sieh nur zu, junger Mann! Mögen es die Götter verhüten, daß mein Ende eine böse Vorbedeutung für dich habe! Aber du bist in eine Zeit hinein geboren, wo man gut daran tut, seinen Geist durch den Anblick unbeugsamer Festigkeit zu stählen.“83 Als dann der Tod zu langsam eintrat und ihm schwere Qualen verursachte, wandte er sich noch einmal, bevor er starb, mit Worten unbekannten Inhalts an Demetrios.84

259. Krönung des Tiridates in Rom (Mai? 66)85

Während der Vorgänge um Thrasea Paetus und Barea Soranus kam eines der letzten großen politischen Schauspiele der neronischen Zeit in Rom zur Aufführung – gleichermaßen ein Höhepunkt in der Selbstdarstellung Neros und des Kaisertums. An den fernen Grenzen des Ostens hatten Neros Befehlshaber, allen voran Corbulo, durch vielfältige Maßnahmen und diplomatisches Geschick einen Frieden zwischen Parthien und Rom um die Herrschaft Ar-meniens herbeigeführt, der dem Kaiser die Möglichkeit gab, als Mehrer des Reiches zu er-scheinen, ohne es zu sein. Über die Jahre der militärischen Auseinandersetzung hinweg war deutlich geworden, daß beide Großmächte eine Zerrüttung der politischen Beziehungen, scheuten. Die parthische Seite besaß dabei durch die römische Niederlage bei Rhandeia einen Vorteil, den man in Rom nicht durch einseitige Nachgiebigkeit hinnehmen konnte. Schließlich siegte auf beiden Seiten die Vernunft, nachdem Rom noch einmal die Waffen-macht demonstriert hatte. Vor allem der Partherkönig Vologaeses überwand aufgrund sei-ner Wesensart und Einsicht seine zwischenzeitliche Verärgerung, beschwichtigte die Gro-ßen seines Reiches und zeigte schließlich wohlwollende Mäßigung. Durch die Mißerfolge Roms, war er in eine überlegene diplomatische Stellung gekommen, die schließlich dazu führte, daß er der eigentliche Sieger in der Auseinandersetzung war. Nero mußte deswegen versuchen, dies zu verschleiern, weil hiervon auch sein innenpolitisches Ansehen und seine Legitimation abhingen. So konnte schließlich ein Frieden oder besser Friedenszustand ge-

81 Plin.ep.7.19; 9.13.582 Iuv.schol.5.3683 Verkürzt bei Cass.Dio 62.26.484 Tac.ann.16.35. Kurz vor seinem Ende soll er die eine Hand empor gestreckt und ausgerufen haben:

„Dir, Zeus, Schirmherr der Freiheit, opfere ich dieses mein Blut.“ So verschied er nach Cass.Dio 62.26.4; etwas anders Iuv.schol.5.36, wonach (1) Thrasea diese Worte an Demetrius gerichtet habe und (2) sich mit Küssen von jedem seiner Freunde aus dem Leben verabschiedet haben soll. Zur Szene ferner mit besonnenem Urteil Koestermann, Annalen, Bd. 4, S. 409.

85 Cass.Dio 63.1.2ff. Suet.Nero 13 zählt das Ereignis zu den von Nero gegebenen Schauspielen.

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schlossen werden, der dann etwa ein halbes Jahrhundert Bestand hatte. Nicht nur damals, sondern auch im Zuge der römisch-parthischen Auseinandersetzungen des 2. Jahrhunderts ist von vertraglichen Abmachungen nirgendwo die Rede. Die Regelungen bezogen sich offensichtlich nur auf die aktuelle Inthronisierung des Tiridates, was früher oder später zu neuen Interpretationsschwierigkeiten führen mußte.86 Durch das Ereignis und die Feier-lichkeiten des Jahres 66 knüpfte Nero bewußt an einen ähnlichen diplomatischen Erfolg des Augustus mit dem Partherreich im Jahre 20 v.Chr. an.87 Dabei war es vor allem auf großartige Öffentlichkeitswirkung abgesehen, durch die die Mißerfolge der vergangenen Jahre vertuscht werden sollten.

Den Abmachungen gemäß, die im Jahre 64 in Rhandeia geschlossen worden waren, kam Tiridates mit großem Gefolge in gemächlichem Zuge zu Nero nach Rom. Zu Schiff zu reisen verbot dem Tiridates seine Eigenschaft als Priester (Magier) des Mithras.88 So be-gann die lange Fahrt am Euphrat, von wo Tiridates mit seinen Kindern und denen des Vo-logaeses, Pakoros und Monobazos Kleinasien durchquerte und über die Nordküste Grie-chenlands durch Makedonien und Illyrien Italien entgegen strebte.89 Tiridates begleitete ein riesiger Hofstaat, 3000 parthische Reiter, dazu eine zahlreiche Delegation vornehmer Römer – unter ihnen auch Corbulos Schwiegersohn Annius Vinicianus – gleichsam eine Geisel für Corbulos Wohlverhalten gegenüber Nero.90 Die Pracht und der Glanz dieses orientalisch anmutenden Königszuges hat die damalige Welt in Erstaunen versetzt. Stets sah man Tiridates zu Pferde reiten, an der Seite seine Gemahlin, die statt eines Schleiers einen goldenen Helm trug, um das Gesicht den zudringlichen Blicken Unbefugter zu ver-bergen. Überall wurde Tiridates und sein zahlreiches Gefolge gemäß den Anordnungen aus Rom mit höchster Ehrerbietung empfangen und so der Bitte des Vologaeses entsprochen. Erlesen und verschwenderisch waren auch der vom römischen Staate, das heißt durch die Provinzen, aufgebrachte Schmuck und die Versorgung aller Beteiligten beim Zug durch die Gebiete und Städte des östlichen Reichsteils. Die Kosten für die Staatskasse (Aerarium) beliefen sich täglich auf 800.000 Sesterzen.91 Man hat berechnet,92 daß so die Hin- und Rückreise den römischen Staat etwa 200 Millionen Sesterzen zu stehen kam.

Nach neun Monaten hatte der Zug auf dem Landwege Italien erreicht und kam etwa im Mai 66 an der Ostküste entlang reisend durch die Landschaft Picenum schließlich nach Neapel. Nero hatte, um Tiridates zu ehren, dem König einen zweispännigen Prunkwagen entgegen geschickt, auf dem er nun die letzte Strecke ehrenvoll hinter sich brachte. Zwar gab man Tiridates wahrscheinlich zum Schein den Befehl, seine Waffen vor dem Zusam-mentreffen mit Nero zu übergeben. Dies wurde jedoch verabredungsgemäß nicht vollzo-gen, sondern der Dolch, den er bei sich führte, mit Nieten in der Scheide befestigt. Die

86 So überzeugend Heil, Orientpolitik, S. 136ff. 87 Aug.RG 29; Vell.2.91.1; Suet.Aug.21.3; Tib.9.188 Plin.nat.hist.30.16. Auf der Rückreise hat er dennoch mit unbekanntem Grund das Adriatische Meer

überquert.89 Cass.Dio 63.1.2; 7.190 Ebd. 62.23.5f.91 Zu den Kosten Cass.Dio 63.2.3; 5.4–6; Suet.30.2; von der hohen Belastung für die Provinzen spricht

Plin.nat.hist.30.16 ausdrücklich.92 Schiller, Nero, S. 202

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324 | Die späten Jahre (65–68)

erste Begegnung fand in Neapel statt. Tiridates kniete vor Nero nieder, kreuzte die Arme, sprach ihn als seinen Herrn an und huldigte ihm. Nero empfing Tiridates mit ausgesuch-ter Höflichkeit. Umständliche protokollarische Unterhandlungen sind dem Treffen voraus gegangen. Beiderseits wurde auf Empfindlichkeiten Rücksicht genommen, um den Erfolg dieses wichtigen politischen Ereignisses nicht zu gefährden, bei dem nach außen jede der Seiten, wenn sie das Gesicht wahrte, gewann.

Die Gesellschaft begab sich darauf nach Puteoli. Dort wurde dem König zu Ehren mit großem Aufwand ein mehrtägiges Gladiatorenspiel veranstaltet. Ausrichter und Leiter war Neros Freigelassener Patrobius, dem die Ausrichtung der kaiserlichen Spiele übertragen war. An einem Tage wurden zum Beispiel nur Äthiopier beiderlei Geschlechts und sogar Kinder (wohl zu einem Kampfspiel) in die Arena geführt. Zwischen den Kampfaufführun-gen ließ Patrobius auch wilde Tiere zeigen. Tiridates soll damals von seinem Ehrensitz aus mit einem Pfeilschuß zwei Stiere getötet haben.

Sodann näherte sich der Tag des Einzugs in Rom. Das gesamte Schauspiel war bezie-hungsreich durch römische und parthische Zeremonialmeister vorberaten und gestaltet worden. Hier vereinigten sich offensichtlich Bestandteile des römischen Triumphs,93 die wegen der Inthronisierung des armenischen Herrschers abgewandelt wurden, mit Symbo-len der Mithras- und Zarathustrareligion. Dabei bot sich die Sonne, ihr Gott und dessen Attribut, das Goldene, als passend an – Symbole, denen Nero selbst schon nahe stand.94 Nero hatte dies zuvor in einem Edict bekannt gegeben. Der vorgesehene Tag war wol-kenverhangen oder neblig, so daß der Einzug in Rom auf den folgenden Tag verschoben werden mußte, weil, wie Champlin gezeigt hat, das Sonnenlicht eine Rolle bei der Insze-nierung spielte.95 Die Vorbereitungen dauerten bis in die Nacht. Rom war mit Lichtern und Kränzen geschmückt, in hoher Erregung die Menge der Menschen. Alles drängte dem Forum Romanum zu, wo die Krönungszeremonie vollzogen werden sollte. Am frühen Morgen schon sah man Nero im Triumphalgewand. Um ihn waren die Praetorianer und die Senatoren versammelt. Die Zuschauer auf dem Forum waren nach Ständen gegliedert. Sie trugen weiße Gewänder und Lorbeerzweige in den Händen. Die Cohorten waren mit schimmernden Waffen und Wehr bei den Tempeln des Forums aufgestellt. Von den Dä-chern der anliegenden Häuser sah eine riesige Menge von Menschen zu. Nero wurde das X. oder XI.mal96 zum Imperator ausgerufen. Ein Lorbeerkranz wurde feierlich auf das Capitol getragen und der Ianustempel zum Zeichen des Friedens (nochmals?) geschlossen.97 Nero bestieg die Rostra und nahm auf einem curulischen Sessel Platz, umringt von den Feldzei-chen und Fahnen. Als es soweit war, schritt Tiridates mit seinem unmittelbaren Gefolge durch die Reihen der Praetorianer, betrat das Podium, kniete vor Nero nieder und huldigte

93 Daß es sich um einen Triumph handelte, legen die Opferberichte der Arvalpriesterschaft nahe (CIL VI 2044,10ff.; Champlin, Nero, S. 224).

94 Im einzelnen Champlin, Nero, S. 221ff.95 Champlin, Nero, S. 227–29. Es ist nicht sicher, ob Einzug und Krönung am selben Tage stattfanden.

Die Zeit war nach Griffin, Nero, S. 178 vor Mitte Mai 66.96 Heil, Orientpolitik, S. 133; Kienast, Kaisertabelle, S. 9797 Suet.Nero 13.2; die Schließung des Tempels feierten auch Münzen im unmittelbaren Anschluß an

Augustus’ pax Augusta (Bradley, Nero, S. 91; Heil, Orientpolitik, S. 133; Huss, Propaganda, S. 137).

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66 nach Christus | 325

ihm. Der Kaiser hob ihn mit der rechten Hand auf und küßte ihn. Darauf jubelte die Volks-masse mit großem Lärmen wodurch Tiridates kurz erschreckt gewesen sein soll. Nachdem man Ruhe geboten hatte, unterdrückte Tiridates seinen Stolz und sprach etwa folgende Worte: „Herr, ich bin der Nachkomme des Arsakes und der Bruder der Könige Vologaeses und Pakoros, und nun doch dein Sklave. Und ich bin zu dir als meinem Gott gekommen, um dich wie Mithras anzubeten.98 Ich werde das sein, wozu du mich bestimmst; bist du doch mein Glück und mein Schicksal.“ Ein Praetor übersetzte die Worte. Nero soll etwa folgendermaßen geantwortet haben:99 „Du hast wohl daran getan, persönlich hierher zu kommen, damit du von Angesicht zu Angesicht meine Gnade erfahren kannst. Denn was dir weder dein Vater hinterließ, noch was deine Brüder dir übergaben und für dich bewahr-ten, das gewähre ich jetzt dir. Und ich mache dich zum König von Armenien, damit sowohl du als auch jene erkennen, daß ich die Macht besitze, Königreiche wegzunehmen wie auch zu verleihen.“100 Nach diesen beiderseitigen Ansprachen bat Nero Tiridates die Treppe vor der Rostra emporzusteigen. Tiridates kniete vor Nero nieder und bat, ihm die Tiara abzu-nehmen und ihn mit dem perlenbesetzten Diadem zu krönen. So geschah es.101 Daraufhin kam es zu lang anhaltenden Beifallsrufen der Volksmenge.

Auf einen besonderen Beschluß hin fand danach im Theater des Pompeius eine Feier statt. Das gesamte Innere war golden ausgelegt einschließlich der schmückenden Gegenstände. Deshalb wurde der Tag im Volk „der goldene“ genannt. Man hatte gegen die Sonneneinstrah-lung purpurne Gaze aufgespannt. In der Mitte war eine goldene Stickerei, die Nero als Wagen-lenker umgeben von goldenen Sternen zeigte, um Tiridates zu beeindrucken – wahrschein-lich eine Anspielung auch auf den Sonnengott.102 Der König warf sich hier Nero abermals zu Füßen und der Kaiser hieß ihn aufzustehen und ließ ihn an seiner rechten Seite Platz nehmen. Danach fand entweder im Theater oder anderswo ein prächtiges Gelage statt. Nero ließ sich auch öffentlich zur Kithara hören und fuhr ein Gespann im Gewand eines Wagenlenkers der Grünen, den Helm auf seinem Haupte.103 Bei einem Ringkampf, dem Tiridates zusah, beschwerte sich der König darüber, daß ein am Boden Liegender von seinem Sieger noch geschlagen wurde.104 Tiridates schmeichelte Nero so geschickt und gelangte so in seine Gunst, daß er ihm schließlich Geschenke im Wert von 200 Millionen Sesterzen übergab und ihm erlaubte, die Hauptstadt Artaxata wieder aufzubauen. Vor dem Abschied gab Nero Tiridates etliche Handwerker mit. Weitere gewann der König gegen hohe Lohnzusagen.105

Auf der Rückreise verließen Tiridates und sein Gefolge Rom Richtung Südosten, ge-langten nach Brundisium, von wo aus die Armenier zu Schiff nach Dyrrhachion an der

98 Nero wurde in den Mithraskult eingeweiht, doch besaß er dafür wenig Interesse (Plin.nat.hst.30.17). 99 Bei Suet.Nero 13.2 fehlt eine solche Erwiderung Neros.100 Cass.Dio 63.5.2f.101 Tac.ann.15.29.1; 16.23.2; Suet.Nero 13.2; Cass.Dio 63.4.1102 Plin.nat.hist.33.54; Cass.Dio 63.6.1. Die sternenumstrahlte Darstellung Neros auf dem Wagen läßt

sich jedoch nicht zweifelsfrei deuten. Ferner auch Bergmann, Strahlen d. Herrscher, S. 181–85103 Nach Dio 63.6.4 fand Tiridates dies abstoßend und bedauerte Corbulo, daß er einen solchen Herrn

habe.104 Cass.Dio 63.7.1a105 Als der königliche Zug an die römisch-armenische Grenze kam, ließ Corbulo jedoch nur die von

Nero Mitgesandten nach Armenien ausreisen; die übrigen durften das Reich nicht verlassen.

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illyrischen Küste kamen. In der Provinz Asia bewunderte er die Pracht der Städte. Daheim angekommen, gab Tiridates den Auftrag, die Hauptstadt Artaxata wieder zu errichten. Nero zu Ehren nannte er sie Neronia. Tiridates ließ dem Vologaeses ein Schreiben Neros zuleiten, in dem dieser ihn bat, nach Rom zu kommen. Diese Bitte wiederholte der Kaiser mehrfach, jedoch blieb sie erfolglos.

Verschiedene auswärtige Angelegenheiten

260. Äthiopien, Moesien, das Schwarzmeergebiet und der Kaukasus – Zu Neros „letzten Plänen“

Welchen Zweck diese Einladung an Vologaeses auch immer gehabt haben mochte: sie steht in Zusammenhang mit Neros „letzten Plänen“, über die sich indes keine Gewißheit gewin-nen läßt. Nach den Erkundigungen der Bernsteinküste in den früheren Regierungsjahren soll Nero jetzt die Absicht gehabt haben – offenbar nach der Griechenlandreise -, einen großen Feldzug im Osten zu unternehmen und dabei sowohl bis zum Kaukasus vorzusto-ßen, als auch das südlich von Ägypten gelegene Äthiopien aufzusuchen. Sogar von einem Feldzug gegen die Parther und Vologaeses (bei Dio) wird ganz unbestimmt berichtet. In beide Weltgegenden hat Nero Kundschafter ausgesandt (im Jahre 61?106). Angeblich be-richteten sie von den großen Schwierigkeiten, die einer militärischen Maßnahme entgegen stünden, und so wurden die Vorhaben aufgegeben.107 Bekannt geworden ist das Erkundungskommando, das Nero nach Äthiopien gesandt hat und das mit großer Wahrscheinlichkeit Forschungszwecken diente. Praetorianer sollten dort in seinem Auftrag die Möglichkeiten für einen Feldzug zwischen Syene und Meroë geprüft haben.108 Andere Nachrichten sprechen dagegen von der Entsendung von zwei Of-fizieren, welche die Nilquellen erkunden sollten.109 Anlässe und Einzelheiten für diese Vor-gänge in Ägypten bleiben jedoch unklar,110 und es fragt sich, was sie zum Ziel hatten und wohin sie führen sollten. Alle dahingehenden Erklärungsversuche haben sich als unhaltbar erwiesen.111 Rätselhaft bleiben indes die nachgewiesenen Truppenverlegungen nach Alex-andria – neben 2000 Soldaten und der ala Siliana insbesondere die XV. Legion Apollinaris, die zuvor unter Corbulo gedient hatte.112

106 CAH 1st Ed., S. 778 (Anderson)107 Cass.Dio 63.8.1f., trotz der nachfolgenden Bemerkungen, die Nero lächerlich machen sollen wohl

mit einem geschichtlichen Kern.108 Plin.nat.hist.6.181; 184; ferner 12.19109 Sen.nat.quaest.6.8.3110 So bleibt auch der Zusammenhang mit den Plänen in Äthiopien und der Absetzung des Praefecten

von Ägypten, Gaius Caecina Tuscus (nach Juli 64?), reine Spekulation (s. dazu u.).111 Knapp referiert von Heil, Orientpolitik, S. 161f. (v.a. Schur, Die Orientpolitik des Kaisers Nero,

Leipzig 1923; kritisch dazu schon Schumann, Hellenistische und griechische Elemente in der Re-gierung Neros, S. 17ff.)

112 Ios.bell.Iud.2.494; 3.8 Tac.hist.1.31.3; 70.1; im einzelnen Heil, Orientpolitik, S. 166ff.

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Geplante Militäraktionen im Kaukasusgebiet können demgegenüber einen höheren Grad von Wahrscheinlichkeit beanspruchen, doch bleibt es unklar, welche Siedlungsgebiete sie be-treffen sollten. Nachdem das Pontische Königreich 64 der römischen Provinz Galatien zuge-schlagen worden war, begann die Sicherung der Grenze zu Armenien. Von dort aus hätten die Militärvorhaben durch Kleinarmenien und das Königreich des Tiridates zu Lande führen müssen, dessen Loyalität man hätte auf diese Weise erproben können.113 Bei Tacitus114 sind als Ziel die am südlichen Kaukasusabfall nahe dem Kaspischen Meere siedelnden Albaner ge-nannt, was möglich wäre. Heil hat nachgewiesen, daß demgegenüber eine Verwechslung mit den nördlich des Kaukasus befindlichen Alanen (im Altertum Sarmaten benannt) vorliegt und ein Feldzug in jene Gegenden höchst unwahrscheinlich ist.115 Zudem bleibt es auch unge-wiß, ob die Vorhaben den Kaspischen Toren (bei Raga) im Elbruz-Gebirge galten, oder – mit höherer Wahrscheinlichkeit – den westlich gelegenen Kaukasuspässen (Darial-Paß) im Ge-biet der kaukasischen Hiberer, wofür sich schon Plinius maior ausgesprochen hat.116 Weder über Einzelheiten, noch den Anlaß des Vorhabens läßt sich Gesichertes sagen.117 Hinsichtlich der Ursachen lassen sich jedoch Vermutungen anstellen.

Daß der Raum der unteren Donau und des Schwarzen Meeres in den 60er Jahren von Unruhe unter den dortigen Völkern geprägt war, lehrt uns eine ungewöhnlich ausführliche Inschrift,118 die auf die Statthalterschaft des Tiberius Plautius Silvanus Aelianus in Moe-sien (ca. 60–67) Bezug nimmt. Bereits unter seinem fähigen Vorgänger119 Flavius Sabinus (ca. 53–ca. 60), dem Bruder Vespasians, finden sich aus dem Jahre 57 in der Stadt Tyras (Belgorod-Dnjestrowskij) an der Dnjestrmündung römische Münzen.120 Die ereignisrei-chen Unternehmungen unter Silvanus wird Tacitus vielleicht in den verloren gegangenen Teilen der Historien berichtet haben.121 Damals wurde eine große Menge von Menschen (angeblich 100.000!) innerhalb der Reichsgrenzen mitsamt ihren Stammesfürsten angesie-delt. Ein Aufstand der Sarmaten wurde niedergeschlagen. Von Beziehungen beziehungs-weise von Kämpfen der Bastarner, Roxolanen und Dacer untereinander ist die Rede.122

113 Heil, Orientpolitik, S. 149, 176114 Tac.hist.1.6.2115 Heil, Orientpolitik, S. 171ff.116 Plin.nat.hist.6.30; 40. Zur Verwechslung (die auch noch bei den nach Plinius schreibenden Tacitus

und Sueton vorzuliegen scheint) und ihrer Herkunft in der Antike Heil, Orientpolitik, S. 175f., 179, Anm. 101 und Excurs 224–31; ferner auch Chilver, Tacitus‘ Histories I and II, S. 55 mit wei-teren Verweisen.

117 Referat der weitgespannten Erklärungsversuche Schurs bei Heil, Orientpolitik, S. 162–64. Die in der fiktiven Rede des Herodes Agrippa II. bei Iosephus bell.Iud.2.345ff. genannten Stämme des Ostens (Heniocher, Kolcher, Taurer und Bosporaner) können nicht gemeint sein, weil der Text der flavischen Zeit angehört und über die Absichten der neronischen Zeit keine Aussagen enthält.

118 CIL XIV 3608 = ILS 986. Dazu und zur neronischen Politik Conole – Milne, Neronian Frontier Policy in the Balkans, Historia 32 (1983), S. 183–200.

119 Tac.hist.3.75120 Conole – Milne, Neronian Frontier Policy in the Balkans, S. 186; ferner Heil, Orientpolitik, S. 152,

Anm. 35121 Ebd., S. 191f.122 Diese Bewegungen sollen durch den Druck der Aorser und Jazygen hervorgerufen worden sein

(Conole – Milne, Neronian Frontier Policy in the Balkans, S. 187).

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Die Belagerung der Chersonnes (Krim) durch die Skythen ist durch römisches Eingreifen beendet worden. Seit 62/63 finden sich dort römische Münzen mit Neros Portrait.123 Der Statthalter rühmt sich, wie berichtet (s. zum Jahr 55) der erste zu sein, der Getreidelieferun-gen aus der Krimgegend nach Rom gesandt habe.

Im Zusammenhang mit diesen umfangreichen militärischen Vorgängen sind vielleicht weitergehende Maßnahmen im Kaukasusgebiet geplant gewesen,124 vielleicht auch in dem Bestreben, das Schwarze Meer (Pontos Euxeinos) unter römische Kontrolle zu bringen. Wahrscheinlich in der zweiten Jahreshälfte (?) 66 waren Legionen aus Britannien, Germa-nien und Illyrien ins Kaukasusgebiet unterwegs, wurden aber wegen der Entwicklungen im Frühjahr 68 zurückgerufen.125 Dazu gehörte auch die in Italien ausgehobene Legion großgewachsener Kämpfer, die I Italica, die Nero vielleicht am 20. September 66 bilden ließ und „Phalanx Alexanders des Großen“ benannte.126 Die Bezeichnung darf als Beleg dafür gelten, in welchen Größenordnungen sich die Unternehmungen bewegen sollten, vielleicht um die Öffentlichkeit zu beeindrucken. Wirklichkeitsfern dürften die römischen Entschei-dungsträger in der Außenpolitik nicht gewesen sein. Immerhin waren seit dem Jahre 49 die Weiten der südrussischen Steppe soweit bekannt,127 um die Aussichtslosigkeit einer Be-herrschung jener fernen Weltgegenden erkennen zu können. Der Einsatz dieser Streitkräfte sollte vielleicht im Jahre 67 nach Neros Griechenlandreise erfolgen. Doch blieben sie vor-erst in Europa, weil sich sein Aufenthalt in Griechenland länger hinzog und sich durch die Entwicklungen in Iudaea bald darauf gänzlich andere Aufgaben stellten.

Im Winter 67/68 gab es weitere ernsthafte und gefährliche Bewegungen der sarmati-schen Völker in der Dobrudscha (Dobrogea) wobei zwei römische Cohorten unter gin-gen.128 Weitere verlustreiche und erfolglose Auseinandersetzungen folgten im Frühjahr 69 und 69/70 in deren Verlauf auch der moesische Statthalter Fonteius Agrippa fiel.129 Seit 68/69 finden sich auf der Krim wieder Münzen eines romtreuen Königs namens Rhesky-poris I. (68/69–91/92).130

Vielleicht kommen Neros Vorhaben für die Beschäftigung der Phantasie vor allem der stadtrömischen Zeitgenossen in Frage, mit denen er und seine Berater seit 64 innenpo-litisch beeindrucken wollten.131 Positiv gesehen könnten die Quellennachrichten auch Hinweise darauf geben, daß die römische Führung durch die Bewegungen verschiedener

123 Conole – Milne, Neronian Frontier Policy in the Balkans, S. 189; CAH 1st Ed., S. 775f. (Ander-son); Heil, Orientpolitik, S. 152f.

124 Griffin, Nero, 299, Anm. 36 spricht lediglich von geplanten Machtdemonstrationen125 Tac.hist.1.6.2; 2.11.1; 66.1; Suet.Nero 40.1126 Suet.Nero 19.2; Chilver, Tacitus‘ Histories I and II, S. 9f., 83; sie bestand in Moesien noch im

3. Jahrhundert (CIL III 6224 = CIL III 7591 = ILS 2295). Heil, Orientpolitik, S. 178 erklärt ihre Aufstellung allein aus der Alexander-Imitatio Neros.

127 Tac.ann.12.17128 Tac.hist.1.79.1129 Tac.hist.4.4; Ios.bell.Iud.7.89ff.130 Conole – Milne, Neronian Frontier Policy in the Balkans, S. 190f.; ferner auch SEG XIX 504 mit

berichtigter Datierung in das Jahr 68. Zur Person des Königs auch PIR2 R 61.131 Dies versucht Heil, Orientpolitik, S. 180f. nachzuweisen. Auch nach Flaig, Usurpationen, S. 242

hat Nero niemals ernsthaft an eine persönliche Feldherrnrolle gedacht.

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Schwarzmeervölker beunruhigt war, diese wachsam verfolgte und ihnen eine Zeitlang aktiv entgegenzuwirken suchte.132 So sind die „letzten Pläne“ Neros geschichtlich gesehen von geringer Bedeutung, weil sie abgesehen von ein paar wenigen Angaben vor anderen Ent-wicklungen in den Hintergrund treten mußten. Der lange Aufmarsch der Legionen nahm das gesamte Jahr 67 in Anspruch und wurde erst im Frühjahr 68 mit dem Befehl zur Rück-kehr nach Westen aufgegeben (s.u.).

261. Indienfahrten

Nachdem ein gewisser Hippalos zuvor schon die Südwestmonsunwinde genutzt hatte, um nach Indien zu gelangen, wurde vermutlich unter Nero die Fahrt weiter verkürzt und der Handelsverkehr hierdurch bald intensiviert und beschleunigt. Von Berenike am Roten Meer ging es zunächst nach Okelis in Arabien und von da in 40tägiger Fahrt nach Muziris an der westlichen Küste Südindiens. Die Fahrt war wegen der Seeräuber, die überall auf Beute lauerten, gefährlich.133

Ereignisse in Iudaea während der neronischen Zeit (54–66)

An dieser Stelle erscheint es günstig, bevor die weitere Entwicklung der neronischen Re-gierung zur Darstellung kommt, die geschichtlichen Ereignisse in dem fernen und abseits gelegenen Iudaea vorzustellen. Sie laufen während der neronischen Zeit lange neben den übrigen Vorgängen in Rom und den Provinzen einher, ohne daß eine wichtige Verflechtung mit ihnen deutlich wird und zum Tragen kommt. Dies wird nun ab Mai 66 anders und die hierzu gehörenden Bewegungen und Ereignisse sind im Folgenden ausführlich geschildert, wobei die Entwicklung seit den frühen 50er Jahren in den Blick genommen werden muß.

Iudaea unter der Statthalterschaft des Antonius Felix (ca. 52134–ca. 60)

262. Allgemeiner Charakter der Statthalterschaft – Steigerung der unruhigen Zustände

Die unruhigen Zustände der Provinz Iudaea unter Claudius nahmen unter Nero ihren Fort-gang und steigerten sich weiter, wenn auch erst sehr allmählich. Zu wenig beachtet von der Regierung in Rom, verschafften sich religiöse Schwärmer und Freiheitskämpfer dort lang-

132 So etwa auch Dessau, Röm. Kaiserzeit, Bd. 2,1, S. 274, Anm. 2133 Plin.nat.hist.6.101, 104. H. Kortenbeutel, Der ägyptische Süd- und Osthandel in der Politik der

Ptolemäer und römischen Kaiser, Berlin 1931, S. 62; A. Dihle, Die entdeckungsgeschichtlichen Voraussetzungen des Indienhandels der römischen Kaiserzeit, ANRW II,9,2 (1978), S. 546ff.; R. Drexhage, Untersuchungen zum römischen Osthandel, Bonn 1988, besonders S. 8–17; Peripl.mar.Erythr.57; W. Otto RE VIII 1660f. zu Hippalos; Sen.nat.quaest.1. praef.13; Seneca verfaßte ferner eine Schrift über Indien: De situ Indiae (Plin.nat.hist.6.60; Serv.Aen.9.30).

134 Dazu Schürer, Geschichte des Jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi, Bd. 1, Leipzig 1901, S. 571, Anm. 16

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sam aber stetig öffentlich Gehör. Die schwache römische Besatzung von etwa 3000 Mann,135 unfähige oder überforderte Statthalter und eine von Jahr zu Jahr steigende Gärung machten Iudaea immer schwerer regierbar. Dabei ist es oft nicht leicht, Räuber, Freiheitskämpfer und die verschiedenen Priestergruppen (Pharisäer, Sadduzäer u.a.) voneinander zu unterscheiden, weil die Begrifflichkeit in den Berichten des Iosephus parteiisch oder ungenau ist (s.u.).

Obwohl König Herodes Agrippa II. nur über einen kleinen Teil Iudaeas herrschte, hatte er großen Einfluß durch seine Persönlichkeit, und weil er befugt war, das religiöse Ober-haupt, den obersten Hohepriester, zu ernennen. Er herrschte über die früheren Tetrarchien Trachonitis, Batanaea, Gaulanitis und Abilene.136

Seit etwa 52 war Antonius Felix, der Bruder des allmächtigen Freigelassenen Pallas, zu-nächst Procurator von Samaria, dann Statthalter von ganz Iudaea. Gänzlich neu und unerhört war diese Übertragung der Procuratur mit militärischem Kommando an einen Freigelasse-nen.137 Die Überlieferung zur Verwaltung des Felix ist ungünstig. Korruption und Launen-haftigkeit sollen sein Geschäftsgebaren gekennzeichnet haben. Der Vorwurf der Geldgier ist nicht unglaubwürdig.138 Um sich als ehemaliger Sklave eine gesellschaftlich geachtetere Stel-lung zu verschaffen, ging er nacheinander mehrere Ehen mit adeligen Frauen ein.139 Es läßt sich bei Iosephus, insbesondere in den Antiquitates, eine felixfeindlche Tendenz erkennen.

Die Statthalterschaft des Felix ist gekennzeichnet durch eine Steigerung der Unruhe und Unsicherheit in Iudaea. Allgemein war die Ansicht verbreitet, Gott habe seinen Schutz von Iudaea abgezogen und als Strafe und eine Art Prüfung dem jüdischen Volke die römi-sche Fremdherrschaft auferlegt, die an den Übeln der Zeit Schuld trage.140 Vor diesem Hin-tergrund fiel es Räubern und ihren Banden sowie religiösen Schwärmern und Fanatikern zunehmend leichter, die Zustände, welche unter anderem auch ihr Treiben herbeiführten, als Gottesstrafe umzudeuten.141 Waren die kriminellen und fanatischen Täter gelegentlich auch lautstark, so blieb der größte Teil des Volkes doch gemäßigt und wurde ein Opfer der von Jahr zu Jahr zunehmend chaotischen Zustände, die in Iudaea herrschten.

Die berichteten Ereignisse zeigen Felix als eine energische Gestalt. So bekam er den schon lange tätigen Räuberhauptmann Eleazar, Sohn des Dinai, mit mehreren seiner Ge-sellen in seine Gewalt und sandte ihn in Fesseln nach Rom. Wahrscheinlich handelte es sich bei ihm um einen mächtigen Zelotenführer.142 Auch sonst sind in dieser Zeit zahlreiche Räuber und deren Helfer zum Kreuzestod verurteilt worden.

135 M. Hengel, Die Zeloten, – Untersuchungen zur jüdischen Freiheitsbewegung in der Zeit von Hero-des I. bis 70 n. Chr., Leiden u.a. 1976 (Erstaufl. 1961), S. 362, Anm. 3

136 Ios.ant.Iud.20.138; bell.Iud.2.247137 Schürer, Gesch.d.jüd.Volkes, Bd. 1, S. 571f. mit Hinweis auf Suet.Claud.28138 Z.B. Apg.24.26. Der Verfasser der Apostelgeschichte ist eher unverdächtig, weil apologetisch für Felix

eingenommen (Das ganze wirkt jedoch im Falle des gefangenen römischen Bürgers Paulus seltsam.)139 Apg.24.24; Tac.hist.5.9.3; Ios.ant.Iud.20.141ff.140 K.-S. Krieger, Geschichtsschreibung als Apologetik bei Flavius Josephus, Tübingen – Basel 1994, S. 12141 Ios.ant.Iud.20.166142 Ios.bell.Iud.2.252f.; Nach den Ausführungen unter Heranziehung hebräischer Quellen von Hengel,

Die Zeloten, S. 356f.; Krieger, Josephus, S. 143 und zum negativen Felix-Bild in den ant.20.161 ebd. S. 155f.

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Die Beseitigung der von Eleazar und seinen Anhängern ausgehenden Gefahren führte keine dauerhafte Beruhigung herbei. Bald darauf begann eine Vereinigung von Dolchträ-gern, die sogenannten sicarii, im Auftrag oder auf eigenen Antrieb hin Morde zu begehen, die sich vor allem gegen Hochgestellte richteten. Auch der Hohepriester Jonathan fiel den Sicariern zum Opfer, doch die wahren Hintergründe des Attentats bleiben dunkel.143 Diese Dolchträger mischten sich unter die Volksmenge und, gegen die Heiligkeit der hohen Fest-tage in Jerusalem frevelnd, verübten sie wiederholt unbemerkt ihre blutige Arbeit, ohne daß man sie fassen konnte, weil sie rasch in der Menschenansammlung und im unübersicht-lichen Gewirr der Jerusalemer Gassen unterzutauchen verstanden.144

Auch auf dem Lande verstärkte sich das Treiben von Räuberbanden und Volksverhet-zern. Besonders die hochgestellten Personen und auch wer nur seinen bürgerlichen All-tagsgeschäften nachgehen wollte, hatte es in den späten 50er Jahren schwerer. Doch ein Kriegszustand oder Bürgerkriegszustand, wie Iosephus ihn im Bellum (2.253ff.) suggeriert, war damit noch nicht gegeben.145

Die fiebrige Atmosphäre und das Gären im Volk machten sich auch religiöse Fanatiker, Propheten und Betrüger zunutze, die Wunder versprachen.146 Manche verführten Scharen dazu, mit ihnen in die Wüste zu gehen, wo sie Wunder sehen oder erfahren sollten. Ein Prophet aus Ägypten versprach der Menge, die ihm auf den Ölberg folgen sollte, durch seine Kraft den Einsturz der Mauern Jerusalems vorführen zu wollen. Angeblich 30.000 Menschen ließen sich von ihm verführen. Felix rückte, wie auch in anderen Fällen, mit bewaffneter Macht aus und ging gegen die Schwärmer vor. 4000 Menschen kamen um, 200 gerieten in Gefangenschaft während der Prophet nach Ägypten entwich.147 Die Apostelge-schichte hat die Erinnerung an diesen Propheten aufbewahrt. Man suchte ihn noch lange Zeit nachher, als man angeblich den zurückgekehrten Paulus im Haupttempel fälschlicher-weise für den Propheten hielt.148 Felix war es auch, vor dessen Gericht im Jahre 58(?) Paulus geführt worden sein soll.149 Nachdem in Jerusalem Agrippa II. einen neuen Hohepriester mit Ismaël ernannt hatte, kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen von Anhängern

143 Nur bei Ios.ant.Iud.20.162–64 findet sich die Behauptung, Felix habe den Mord an dem Hohe-priester Jonathan bei den Räubern/Unruhestiftern (lēstai) in Auftrag gegeben. Sowohl die Wort-wahl, die Abfolge des Geschehens und dessen innere Unwahrscheinlichkeiten lassen nach der überzeugenden Analyse Kriegers, Josephus, S. 157–61 den Schluß zu, daß hier eine Klitterung der Geschichte zu Lasten des Felix vorliegt, der auf diese Weise gar als Urheber der Sicarier-Bewegung verdächtig gemacht werden soll. Hintergrund ist das Hervortreten alttestamentlicher Züchtigungs-vorstellungen im Spätwerk der Antiquitates.

144 Ios.bell.Iud.2.254ff.; ant.Iud.20.162ff.; dazu Krieger, Josephus, S. 144 der auf das städtische Phäno-men verweist.

145 Krieger, Josephus, S. 152f. zu recht kritisch zu Ios.bell.Iud.2.264f.; ant.Iud.20.172146 Ios.bell.Iud.2.258ff.; dazu im einzelnen Krieger, Josephus, S. 145ff.147 Ebd. 2.261ff.; ant.Iud.20.169ff. Krieger, Josephus, S. 150f. macht auf die polemische Wortwahl im

Bellum und den Unterschied zu den Antiquitates (dort ist der Ägypter auf einen reinen Goëten reduziert, S, 162f.) aufmerksam, die die gesamte Zeichnung des Propheten als eines Dictators, Ge-walttäters und Umstürzlers (Tyrann mit einer bewaffneten Leibwache) verdächtig machen. Nicht nur an dieser Stelle sondern auch später läßt er das „Volk“ als Opfer von Verführern erscheinen.

148 Apg.21.38149 Apg.23.23ff.

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332 | Die späten Jahre (65–68)

der Hohepriester mit denen der übrigen Priesterschaft und der Vornehmen, wobei der Streitgegenstand unbekannt ist. Das offenbart eine bedenkliche Zersetzung der jüdischen Oberschicht. Die Hohepriester sandten auch verwegene Rotten ihrer Diener und Knechte aufs Land, die die Dorfpriester des Zehnten beraubten, wodurch viele von ihnen verarmten und manche dem Hungertode verfielen.150 Überhaupt begannen diejenigen, die infolge ih-rer Stellung und ihres Wohlstandes viel zu verlieren hatten, sich mit Scharen von Leibwäch-tern zu umgeben, die sich auch untereinander bekämpften.151

263. Beginn der hellenistisch-jüdischen Unruhen in der Hauptstadt Kaisareia

Ganz besonders verschärften die Auseinandersetzungen zwischen aufgehetzten Juden und hellenisierten Syrern in der Provinzhauptstadt Kaisareia die Lage (58/60?). Dort scheint der Streit von fanatisierten Juden jüngeren Alters ausgegangen zu sein, die den Vorrang ihrer Bevölkerungsgruppe in der Stadt beanspruchten, weil Herodes einst diese Stadt ge-gründet hatte. Die Syrer gaben dies zwar zu, meinten aber, schon vor dieser Gründung habe eine syrische Siedlung namens Stratonsturm bestanden. Außerdem verwiesen sie auf die Standbilder und Tempelbauten, die Herodes nach griechischer Art in der Stadt hatte er-richten lassen und die in einer rein jüdischen Siedlung nicht zu finden seien. Der Streit zwischen den Heißspornen steigerte sich beiderseits und mündete in einen Bürgerkampf. Dabei wußten die syrisch-hellenistischen Bürger sich unterstützt von den römischen Trup-pen mit Stadtbürgerrecht, die in kurzer Entfernung von ihnen stationiert waren. Die Po-lizeibehörden bemühten sich vergeblich, durch Inhaftierung und Bestrafung nach Polizei-recht die Ruhe wiederherzustellen. Der Versuch der gemäßigten und um ihren Wohlstand besorgten Juden ihre fanatisierten Landsleute zu beruhigen, scheiterte ebenfalls. Nun sah Felix sich veranlaßt, die Scharfmacher auf jüdischer Seite zur Mäßigung zu rufen. Da dies nur kurzzeitig half, brachen die gewalttätigen Streitigkeiten bald wieder aus. Felix rückte sodann mit Truppen heran. In den Straßenschlachten wurden viele Unruhestifter umge-bracht und das Plündern der reichen jüdischen Häuser erlaubt. In der Drangsal ersuchten die gemäßigten, wohlhabenden Juden den Statthalter um Schonung. Nachdem er schließ-lich dem Morden und Plündern Einhalt geboten hatte, ließ er es zu, daß die verfeindeten Teile in der Stadt Gesandtschaften zu Nero nach Rom abordneten, auf daß der Streit am Kaiserhof geschlichtet werde.152

150 Diese Nachricht nur Ios.Ant.Iud.20.179ff.; bestätigt auch durch eine Quelle talmudischer Tradi-tion, mitgeteilt bei Schürer, Gesch.d.jüd. Volkes, Bd. 1, S. 576, Anm. 35; dazu auch Krieger, Jose-phus, S. 169f.

151 P. Schäfer, Geschichte der Juden in der Antike, Stuttgart 1983, S. 132152 Ios.ant.Iud.20.173–78; 182–84; bell.Iud.2.266ff.; nach Schürer, Gesch.d.jüd.Volkes, Bd. 1, S. 580,

Anm. 41 noch unter Felix. Nach Krieger, Josephus, S. 167 und 200 ging der Streit nicht wie sonst um Gleichberechtigung, sondern um Vorrang der jüdischen Bevölkerungsgruppe. Die Einzelheiten, vor allem was die Gewalttätigkeiten betrifft, sind nur schwer zu interpretieren. Die Darstellung im Bellum erscheint authentischer, weil neutraler, während die in den Antiquitates auf ein griechisches Lesepublikum zu zielen scheint, mit der Absicht, das jüdische Vorgehen nicht allzu negativ erschei-nen zu lassen (s. ebd. 164ff.) und die Amtsführung des Felix in ein schlechtes Licht zu rücken (ebd. S. 164–69, 171–73).

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66 nach Christus | 333

Die weitere Karriere des Felix verliert sich. Er wurde bald darauf von vornehmen Bür-gern Kaisareias (vermutlich den jüdischen Einwohnern) vor dem Kaisergericht verklagt. Der Grund seiner Abberufung und Ersetzung durch Porcius Festus ist nicht bekannt.153

264. Die Statthalterschaft des Porcius Festus (ca. 60–ca. 62)

Porcius Festus ist als ein energischer Bekämpfer der Gewalttätigkeiten in Iudaea aufgetre-ten, doch hatte er mit seinem Bemühen keinen Erfolg. Räuberbanden, Zeloten, sicarii und einen Propheten ließ er scharf verfolgen und bestrafte auch viele, aber die Übel, die schon unter Felix das Land überzogen hatten, hielten sich auch unter Festus.154

Unter ihm wurde Paulus abermals vor Gericht gestellt, aber schließlich nach Rom ver-bracht.155

Deutlich verschärfte sich die Lage in Kaisareia nachdem die jüdische und die syrische Gesandtschaft von Rom zurückgekehrt war. Die Regierung konnte sich eine Entscheidung zugunsten der jüdischen Einwohner der Stadt gar nicht leisten, zumal diese offensichtlich die Unruhen begonnen hatten. Die Forderung der Juden nach Gleichberechtigung oder gar Vorrang in der Stadt wurde zurückgewiesen. Daraus entwickelte sich ein dauernder Auf-ruhr, und seine Steigerung führte zum Krieg.156

Der Bau einer Aussichtsanlage auf der alten Königsburg der Hasmonäer brachte Agrippa II. einen Streit mit den Mitgliedern der Oberschicht Jerusalems ein, weil der Kö-nig entgegen den Rechtsvorschriften von dort aus die Vorgänge im Tempelgebiet besonders an hohen Festtagen beobachten konnte. Die Integrität des Heiligtums war für die Priester ein Bekenntnisfrage.157 Als Gegenmaßnahme ließ man an der westlichen Einfassung des Heiligtums eine Mauer aufführen, die durch ihre Höhe den Einblick in das Tempelareal unmöglich machen sollte. Gegen dieses Vorhaben erhoben Agrippa und Festus Einspruch und Festus befahl, die Wand niederzureißen. Doch als die vornehmen Bürger baten, eine

153 Zum Jahr der Abberufung ausführlich unter Vortrag des Quellenmaterials überzeugend Schürer, Gesch.d.jüd.Volkes, Bd. 1, S. 578f. (Anm. 38)

154 Ios.bell.Iud.2.271; ant.Iud.20.185ff.155 Apg.25f. (dazu oben die Darstellung zum Jahre 64)156 Ios.ant.Iud.20.182ff. Die bei Iosephus mitgeteilten Einzelheiten sind zum Teil obskur und nicht

zutreffend – ein Beleg für die gelegentliche Unzuverlässigkeit des Autors. Pallas war seit 55 am Hofe in Ungnade entlassen worden und starb 62. Er war nicht mehr in der Stellung, um seinen von den Stadtoberhäuptern von Kaisareia angeklagten Bruder Felix durch seine Fürsprache am Hofe zu be-günstigen (Anders Schürer, Gesch.d.jüd.Volkes, Bd. 1, S. 580f. mit Anm., der von einem fortge-setzten Einfluß des Pallas auch nach seiner Absetzung ausgeht). Damit will Iosephus die Tatsache erklären, daß Felix unbehelligt geblieben ist. Nach den quellenkritischen Untersuchungen Kriegers (S. 171–73) kam den Juden Kaisareias eine erhebliche Bedeutung bei der Verschärfung des Streits innerhalb der Bürgerschaft zu, die Iosephus in den Antiquitates herunterzuspielen sucht. Sie erschei-nen bei Iosephus als Opfer von Intrigen und Bestechung, wobei auch eine Entlastung Neros vorzu-liegen scheint, weil die Entscheidungen durch seine Umgebung getroffen werden.

In bell.Iud.2.284 scheint Iosephus die Entscheidung des Kaisers in die Statthalterschaft des Gessius Florus (64–66) zu legen. Sie fiel aber in die des Porcius Festus (Schäfer, Gesch. d. Juden, S. 132; Krieger, Josephus, S. 173).

157 Hengel, Die Zeloten, S. 359.

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334 | Die späten Jahre (65–68)

Gesandtschaft zur Entscheidung über den Gegenstand des Streits an Nero schicken zu dür-fen, gewährte Festus dies. Die zwölfköpfige Gesandtschaft unter Führung des Hoheprie-sters Ismaël und des Tempelschatzmeisters Helkias erhielt Audienz vor Nero, der den Bau der Mauer genehmigte. Die Vorgänge und ihre Begründung im einzelnen bleiben jedoch unklar.158 Der Streit um Privilegien der levitischen Sänger, bei dem Agrippa später entgegen der väterlichen Gesetze zugunsten derselben entschied, gilt als Beleg für die tiefe Zerstrit-tenheit zwischen dem Priesteradel und dem Herodischen Hause.159 Festus starb kurz darauf in seinem Amt.

265. Der Statthalter Lucceius Albinus (ca. 62160–ca. 64)

Nachdem der Tod des Festus in Rom bekannt geworden war, wurde Lucceius Albinus zum Statthalter ernannt. Er reiste über Ägypten in die Provinz Iudaea. In der Zwischenzeit er-nannte Agrippa II. einen neuen Hohepriester namens Ananos, Sohn des Ananos. Er besaß ein heftiges und unduldsames Wesen und gehörte den Sadduzäern an. In seiner Eigenschaft als Hohepriester soll er gegen die ( Juden-) christen in Jerusalem vorgegangen sein. Dies betraf namentlich den Bruder Jesu Christi namens Jacobus, der damals noch lebte, sowie auch etliche Gemeindevorsteher, die um ihn waren.161 Das aber schien vielen der ansonsten strengen Leute, unter ihnen auch Pharisäer,162 zu hart, und sie schrieben an Agrippa, er solle auf die zukünftige Mäßigung des Ananos hinwirken. Jacobus galt nämlich als sehr ge-mäßigter Judenchrist und hatte den Ehrentitel „Der Gerechte“ erhalten.163 Als dann noch eine Gesandtschaft dem Albinus, der gerade aus Alexandria in die Provinz einzog, von dem Vorfall berichtete, geriet dieser in Zorn, weil Ananos nicht befugt war, eigenmächtig ohne Zustimmung des Statthalters in der Sache den Hohen Rat einzuberufen, Todesurteile aus-zusprechen und zu vollstrecken und drohte ihm Bestrafung an. Agrippa aber setzte Ananos nach dreimonatiger Amtszeit ab und übergab das Hohepriesteramt dem Jesus, Sohn des Dinaios.164

158 Ios.ant.Iud.20.189ff.; Nero soll durch seine Gemahlin Poppaea zu seiner Entscheidung bestimmt worden sein, die Iosephus an dieser Stelle als eine den Juden zuneigende Gottesfürchtige bezeich-net. Ismaël und Helkias aber sollen auf Betreiben Poppaeas als Geiseln in Rom geblieben sein. Ant.Iud.20.252 nennt Iosephus Poppaea im Widerspruch zu seinen früheren Angaben eine Gottlose – ein weiterer Beleg für die mangelnde geistige Durcharbeitung des Werkes und die gelegentliche Unzuverlässigkeit des Iosephus.

159 Hengel, Die Zeloten, S. 360; Schäfer, Gesch. d. Juden, S. 132160 Schürer, Gesch.d.jüd.Volkes, Bd. 1, S. 583, mit Anm. 47: Sommer 62; nach Hengel, Die Zeloten,

S. 360 vor dem Laubhüttenfest 62 (Ios.bell.Iud.6.300ff.).161 Doch ist die Stelle bei Iosephus christlicher Umgestaltung verdächtig. Ananos soll den Hohen Rat

versammelt und Jacobus wegen irgendwelcher Gesetzesübertretungen angeklagt haben, woraufhin er und andere Judenchristen, zum Tode verurteilt, nach jüdischem Recht von den Mauerzinnen ge-stürzt und gesteinigt worden sein sollen. Im einzelnen Schürer, Gesch.d.jüd.Volkes, Bd. 1, S. 581ff. mit Anm. 45 und 46

162 Dassmann, Kirchengeschichte I, S. 28163 Euseb.hist.eccl.2.23.7164 Ios.ant.Iud.20.197ff.; Schäfer, Gesch. d. Juden, S. 133; Schürer, Gesch. d. Jüd. Volkes, Bd. 2, S. 261.

Krieger, Josephus, S. 179 hält die Stelle mit überzeugenden Gründen für wahrheitsgemäßen Be-

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66 nach Christus | 335

Agrippa II. finanzierte in seinem Herrschaftsgebiet und anderwärts wie auch seine Vor-gänger große öffentliche Bauten nach hellenistischer Art. Seine eigene Hauptstadt Kaisareia Philippi ließ er erweitern und nannte sie Nero zu Ehren Neroneias.165 In Berytos (Beirut), einer fast römischen Stadt, ließ er auf seine Kosten ein Theater errichten und finanzierte mit großem Aufwand jährlich stattfindende Schauspielfeste, wobei das Volk Getreide und Öl erhielt. Mit Kopien bildlicher Darstellungen nach griechischer Art, die Agrippa von Originalen herstellen ließ, wurde der gesamte öffentliche Raum der Stadt geschmückt. All dies aber weckte den Neid und Unwillen der jüdischen Bevölkerung, die sich durch die hohen Aufwendungen Agrippas benachteiligt und beraubt glaubte.166

Gegen Ende der Amtszeit des Albinus war auch der Haupttempel Jerusalems vollendet. Tausende von Arbeitern verloren dadurch ihren Verdienst, so daß die städtischen Behörden König Agrippa um einen Auftrag baten, die alte Säulenhalle Salomos, die das Tempelareal nach Osten hin begrenzte, wiederherstellen zu lassen. Hierzu wollte man aus Furcht, die Römer könnten sich des Tempelschatzes bedienen, die dort gelagerten Reichtümer verwen-den. Agrippa hielt dieses Vorhaben für zu zeit- und kostenaufwendig und erlaubte nur, die Stadt mit weißem Marmor zu pflastern.167

Die von Iosephus allgemein geschilderten Zustände in Iudaea unter Albinus entspre-chen nicht der geschichtlichen Wirklichkeit der Vorkriegszeit. Allenfalls die Nachrich-ten über die Bildung von Räuberbanden und Leibwachen einzelner Hochgestellter (auch unter dem Eindruck der Sicariermorde) können Anspruch auf Glaubwürdigkeit erheben. Daneben ist es nicht unwahrscheinlich, daß der Streit über Abgaben mit örtlichen Rab-binern von Seiten der mächtigen Priester gewaltsam ausgetragen wurde, wofür es Hin-weise auch in hebräischen Quellen gibt.168 Aber die durch und durch korrupte Amtsfüh-rung, die dem Albinus durch Iosephus’ geschickte Gleichsetzung mit Gewalttätern und dessen Beteiligung an ihren Machenschaften zugeschrieben wird, ist seine Erfindung. Da-durch will er eine bürgerkriegsähnliche Lage und eine Terrorherrschaft suggerieren, wie sie erst um die Wende 67/68 in Iudaea und vor allem in Jerusalem geherrscht hat. Auch die Angabe, daß Albinus gegen Ende seiner Amtszeit viele inhaftierte Straftäter freigelas-sen haben soll, steht unter dem Verdacht, erfunden zu sein, weil sie in sich nicht stimmig und nachvollziehbar ist. Durch den Bericht in den Antiquitates scheint immerhin noch die allgemeine Streßsituation der Jerusalemer Oberschicht hindurch. Und daß manche der aristokratisch finanzierten Milizen sich auch für den national-religiösen Widerstand gebrauchen ließen, zeigt gerade die Schar um Jesus, Sohn des Gamala, eines späteren Füh-rers in Jerusalem.169

richt, weil er 20 Jahre nach Ende des Krieges auf hohepriesterliche Interessen keine Rücksicht mehr nehmen mußte.

165 Ios.ant.Iud.20.211; Suet.Nero 55166 Ios.ant.Iud.20.211f.167 Ios.ant.Iud.20.219ff.168 Belege bei Krieger, Josephus, S. 191f.169 Zu den Passagen Ios.bell.Iud.2.272–76 und ant.Iud.20.204–15 Krieger, Josephus, S. 179–82;

184–94. S. ferner die gänzlich andere Wertung des Albinus bell.Iud.6.302-05 mit Kommentar ebd., S.  183f., wo dieser einen Propheten des Untergangs der Hauptstadt freiläßt. Albinus wurde an-

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336 | Die späten Jahre (65–68)

266. Die Statthalterschaft des Gessius Florus: Allgemeine Darstellung der chaotischen Zustände und der Ausbruch des Jüdischen Krieges (64/65–66)

Der neue Statthalter Iudaeas Gessius Florus stammte aus dem griechischen Osten und zwar aus Klazomenai in Lydien. Er war mit Kleopatra, einer Freundin der Kaiserin Poppaea, verheiratet und dürfte durch diese Beziehung von Nero die Procuratur in Iudaea erhalten haben.170 Florus war weder persönlich noch fachlich einer Aufgabe gewachsen, die auch fähigere Provinzbeamte überfordert hätte.

Ausgangspunkt für den sich über Jahrzehnte steigernden Konflikt in Iudaea war die Vielfalt religiöser Anschauungen unterschiedlicher Observanz. Durchwebt waren diese von einer Rivalität zwischen Priesterschaft und Laien, von reicheren und ärmeren Schichten der Bevölkerung sowie zwischen städtischen und ländlichen Bewohnern. Die innerreligiösen Rivalitäten vor dem Hintergrund eines exklusiven Gottesbezugs waren der nichtjüdischen Umwelt fremd. Die Anwesenheit der römischen Fremdherrscher – in Fragen der Religion wie der Lokalverwaltung sehr tolerant – verschärfte den innerjüdi-schen Konflikt. Zu den Römern, die der weit überwiegenden Mehrheit gleichsam als Fremdherrscher galten, mußte jede Gruppe der jüdischen Gesellschaft eine eigene Hal-tung und Stellung finden. Unterbrochen von der Regierung Herodes Agrippas I. (37–44) war Iudaea der unmittelbaren Herrschaft römischer Statthalter unterstellt, denen oft die Fähigkeiten fehlten, diese schwierige Unterprovinz Syriens zu leiten. Die seitdem fort-schreitende Verschärfung der inneren Verhältnisse wurden als eine Gottesstrafe gedeutet. Der religiöse Streit und der Bezug zur römischen Herrschaft führten eine religiös-völ-kische Bewegung herbei, die langsam aber stetig immer größere Teile des Volkes ergriff. Dies ist geschichtlich gesehen immer dann besonders brisant, wenn es in einem Gemein-wesen, dessen Bestand nach eigenem Verständnis von einer mehr oder weniger starken Theokratie bestimmt ist,171 früher oder später um Grundsätzliches geht – um Sieg oder Niederlage. Ein Sieg mußte die streng religiösen Kräfte stärken, eine Niederlage das Ende des jüdischen Staates bedeuten. Die innerreligiöse Auseinandersetzung verschiedener Gruppen bei Anwesenheit der römischen Fremdherrschaft steigerte in immer breiteren Volksschichten zunächst den politisch-religiösen Widerstand gegen Rom. Die jüdische Oberschicht, besonders die Pharisäer, die bei Bestehen ihres innerjüdischen Führungsan-spruchs der römischen Herrschaft nicht ablehnend gegenüber standen und den Verlust von Macht und Wohlstand befürchteten, haben lange versucht, mäßigend zu wirken. Aber schon vor Ausbruch des Krieges waren die Zustände hochgradig gespannt und ver-

schließend Procurator von Mauretania Caesariensis und Ende 68 auch von Mauretania Tingitana (Tac.hist.2.58; 59.1).

170 Ios.bell.Iud.2.277; ant.Iud.20.252171 J. Burckhardt, Über das Studium der Geschichte, nach den Handschriften hrsgg. v. P. Ganz, Mün-

chen 1982, S. 310: „So sieht man die Juden durch alle Wandelungen ihrer Geschichte hindurch beständig wieder der Theocratie zustreben, wie sich am deutlichsten aus ihrer spätern Restauration als Tempelstaat zeigt. Sie hoffen nicht sowohl Weltherrschaft ihrer Nation als ihrer Religion; alle Völker sollen kommen auf Moriah anzubeten. – Periodisch suchen die Juden von ihrem Wesen Alles das auszuscheiden, was Staat und was Weltcultur hineinzumischen suchen.“

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schiedene Banden suchten teils auf eigene Faust, teils im Auftrag mancher Geistlichen das Land mit ihren Machenschaften heim. Diese sich langsam steigernden Vorgänge ha-ben schließlich zum Kriege geführt, in dessen Verlauf es bald schon nicht mehr um reli-giöse Fragen, sondern im wesentlichen um Machtfragen ging. Das zu diesen schwierigen politisch-religiösen Zuständen in Iudaea auch römische Statthalter beigetragen haben, die ihren Aufgaben nicht immer gewachsen waren, wird von einer unverdächtigen römi-schen Quelle bestätigt.172 Allerdings ist schon vor längerer Zeit nicht zu unrecht darauf hingewiesen worden, daß die Geschichtsschreibung des Iosephus weit überwiegend von korrupten römischen Procuratoren berichtet, die fortgesetzt mit Kriminellen gemein-same Sache gemacht hätten. Der übergeordnete Statthalter von Syrien hat jedoch nie eingegriffen, was für eine weitgehend korrekte Amtsauffassung der iudaeischen Statthal-ter spricht. Die Geschichtsschreibung flavischer Zeit hatte vielleicht ein Interesse daran, die unruhige Provinz unter der neronischen Verwaltung besonders negativ darzustellen. Überhaupt erscheinen – wie auch sonst häufig bei Iosephus – die eigentlichen Probleme der Provinz in einer sehr personalisierten Geschichtsauffassung. Dies trifft auch für Flo-rus zu.173

Es mag sein, daß auch die schonendste Behandlung jüdischer Interessen und Tabus keine dauerhafte Begütigung der Lage hätte herbeiführen können. Trotz der Toleranz der römischen Regierung in religiösen Fragen, schon gar mit Rücksicht auf die Vorschriften der jüdischen Religion, war Iudaea keine Provinz wie viele andere. Es mußte über kurz oder lang die Frage nach der Berechtigung der Fremdherrschaft eine Entscheidung finden. Die Auswahl des Florus, aber auch anderer Statthalter Iudaeas, stellt der neronischen, wie auch der claudischen Regierung aufs ganze gesehen nicht immer ein gutes Zeugnis aus. Auf der Art und Weise der Ernennung des letzten Statthalters Florus liegt zudem der Schatten von Intrige und Korruption.

Die erhaltenen Berichte174 schildern die Statthalterschaft des Florus als ein Peinigerre-giment. Mit Übermut und vorsätzlicher Grausamkeit soll er hauptsächlich für Räuberei unter ganzen Volksgruppen und in verschiedenen Städten verantwortlich gewesen sein. Hierdurch seien viele Bewohner Iudaeas zu Flüchtlingen geworden. Die Haupttriebfedern seines Handelns waren danach Bosheit und Habgier, Freude an Mißhandlung und Ver-höhnung der ihm untergebenen Juden. Diese allgemeinen Schilderungen sind nicht nur übertrieben, sondern verleumderisch. Iosephus ist nicht in der Lage, seine pauschalen An-würfe durch irgendeinen konkreten Fall zu erläutern. Unabhängig von diesem Verdikt ist die persönliche Unzulänglichkeit zu sehen. Nirgendwo wird bei ihm ein guter Wille oder ein Ansatz dafür sichtbar, in dieser schwierigen Provinz zu einer Milderung der Gegensätze beizutragen.

172 Tac.hist.5.10.1173 Schiller, Nero, S. 213, Anm. 2174 Ios.bell.Iud.2.277ff.; ant.Iud.20.253ff.

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338 | Die späten Jahre (65–68)

267. Die Zeloten, Sicarier und andere Gruppen

Den Gegensatz zu den asketischen Religionsanschauungen, etwa der Essener, bildeten die radikalen und gewaltbereiten Zeloten („Eiferer) 175 und Sicarier („Dolchträger“)176 – beides unduldsame religiöse Vereinigungen mit unterschiedlichsten Facetten, deren extreme Ver-treter für einen Gottesstaat in der Art eines religiösen Sozialismus eintraten.

Dennoch ist es wichtig, die Begrifflichkeit, wie sie bei Iosephus entgegentritt, genauer zu betrachten.177 Iosephus benutzt verschiedene Kampfbegriffe für die jüdische Aufstands-bewegung und ihre Führer, durch die er den Zweck verfolgt, die eigentlichen Beweggründe der sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen zu verschleiern. Dies war die Folge seiner Verteidigung römischer Machtpolitik, nachdem er als ein bedeutender Aristokrat und Führer der Juden während des Jüdischen Krieges zu den römischen Machthabern über-getreten war. Der allgemeinste Begriff bezeichnet wahllos unterschiedliche Aufständische als „Räu-ber“ lēstai. Darunter konnte jeder verstanden werden, der ein Störer der öffentlichen Ruhe und Ordnung war, wie sie das römische Provinzialsystem vorsah.178 Den anderen Begriff, zēlotai, verwendet Iosephus selten in der neutralen und aus jüdischer Sicht ehrenvollen Bedeutung als „Eiferer“179 – etwa wenn er die gemäßigten Zeloten um Eleazar, Sohn des Si-mon, bezeichnet, – sondern ebenfalls polemisch, etwa im Sinne von „Hetzer“ „Aufrührer“, dem sich auch stasiastai („Aufständische“) und vor allem auch ponēroi180 („die Lästigen“) angliedert. Dazu gehören auch die Pseudopropheten, goētai. Die spätere Terrorherrschaft in Jerusalem (67/68) ist nach der Behauptung des Iosephus von Leuten ausgegangen, die sich selbst als Zeloten bezeichneten, sich aber aus landflüchtigen Kriminellen (Räubern) zusammengesetzt haben sollen. Iosephus macht sich so die aus jüdischer Sicht diskriminie-rende Begrifflichkeit der Römer zu eigen, wonach jeder bewaffnete Gegner der römischen Herrschaft als ein Krimineller und Feind galt. Oft läßt sich gar nicht unterscheiden, ob Iosephus von politisch-religiösen „Überzeugungstätern“ oder einfachen Straßenräubern und Wegelagerern spricht.181 Das führt soweit, daß Iosephus nach der Einnahme Galilaeas die antirömische Kriegspartei in Jerusalem wahllos wechselweise entweder als „Räuber“,

175 Graetz, Geschichte der Juden, Bd. 3.1, 5. Aufl., Leipzig 1905, S. 258f.176 Dazu Krieger, Josephus, S. 175f. unter Hinweis auf bell.Iud.2.254–57; ant.Iud.20.186f., der zudem

auf die lateinische Bedeutung in der Strafjustiz als „Mörder“ verweist.177 Schäfer, Gesch.d.Juden, S. 124ff.178 Krieger, Josephus, S. 144, Anm. 5179 Hengel, Die Zeloten, S. 77. Sie nannten sich übrigens selbst „Zeloten“, worauf Hengel S. 396 unter

Bezug auf Ios.bell.Iud.4.160f. – die einzige bekannte Stelle – verweist. Dazu auch Josephus, Michel/Bauernfeind, Bd. 2, S., S. 213 (Exkurs V).

180 Darauf hat Krieger, Josephus, S. 148 aufmerksam gemacht.181 Anders Hengel, Die Zeloten, S. 46 und 389, der meint, Räuber und Aufständische habe Iosephus

stets synonym für Gegner der römischen Herrschaft oder der Ruhe und Ordnung verwendet; ferner F. Siegert, H. Schreckenberg, M. Vogel, Josephus, Flavius Josephus, Aus meinem Leben, Münster 2001, S. 167f.; zur Ballung der polemischen Begriffe auch Krieger, Josephus, S. 152f., der zu recht dem falschen, von Iosephus hervorgerufenen Eindruck entgegenwirkt, es habe sich im damaligen Iudaea um eine einheitliche romfeindliche Wiederstandsbewegung gehandelt.

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„Zeloten“, oder „Aufständische“ bezeichnet.182 Diese bewußten und absichtlichen Unter-lassungen im Hinblick auf eine genaue Beschreibung der Haltung von unterschiedlichen Gruppen der jüdischen Gesellschaft,183 erschweren erheblich Kenntnis und Beurteilungs-möglichkeiten, was Anzahl und Vorgehen der verschiedenen gesellschaftlichen Bewegun-gen der Zeit anbelangt.

Der politisch-religiöse Zelotenbegriff läßt sich etwa folgendermaßen umschreiben: Die Zeloten sind danach Pharisäer, deren Freiheitsdrang von römischer Fremdherrschaft kom-promißlos ist. (Freiheit und Herrschaft Gottes). Dieser radikale Gottes- und Freiheitsbegriff war Ursache für ihren politischen Aktivismus. Sie waren bestrebt, die Einheit des politischen und des religiösen Aspekts der Thora wiederherzustellen. Sie wollten hierdurch die Trennung zwischen dem politischen und bloß religiösen Auftrag der Thora überwinden, wie er von den-jenigen Pharisäern verstanden wurde, die sich mit den römischen Fremdherrschern arrangiert hatten. Als Gegebenheiten, welche die Zeloten ablehnten, galten der Census und das römi-sche Steuersystem. Da dies nichts Neues war, fragt es sich, warum die Zeloten erst in dieser Zeit so viel Zulauf erhielten. Schäfer184 betont als einen dieser Gründe vor allem den sozialen Aspekt der Bewegung (Sklavenbefreiung als politisches Programm, Brand der Archive (s.u.)).

Das erste Auftreten der Zeloten ist mit Judas von Gamala verbunden, der die Bewegung im Jahre 6 ins Leben rief. Den strengen aber gemäßigten Zeloten ging es um absolute Rein-erhaltung des Tempels und der gesetzlich überlieferten Bräuche. Die radikalen Zeloten da-gegen, deren Übergang zu den sicarii fließend war,185 forderten auch eine Neuverteilung des Grundbesitzes. Beide radikale Kräfte einigte der Haß auf die Vorrechte der Vornehmen, der um so größer war, als sie jene als Stützen der römischen Fremdherrschaft ansahen. Allein Gott gebühre die Herrschaft; ihm allein schulde man Gehorsam; seine Gesetze seien die staatliche Verfassung.

Sikarioi = sicarii, bezeichnet im engeren Sinne die bewaffnete Schar um den Führer Menachem, die sich nach dessen Ermordung nach Masada geflüchtet hatte. Bei Iosephus werden so auch die terroristischen Gewalttäter bezeichnet, die seit den späten 50er Jahren zum Teil politisch motivierte Morde an Mitgliedern der jüdischen Oberschicht bei öffent-lichen Festen und auch sonst verübten. Anders wieder die auf römische Begrifflichkeit zu-rückgehenden Quellen, denen zufolge jeder bewaffnete Aufständische sicarius war.186 In der rabbinischen Literatur werden zudem nur die Aufständischen in Jerusalem als sicarii bezeichnet, aber auch hier ist die Grenze zu den „Eiferern“ fließend.187

Die radikalen Zeloten und Sicarier waren trotz ihrer Berufung auf das Gesetz Mosis sehr weltlich orientiert und schreckten vor Gewalttaten nicht zurück. Von ihnen ist stets

182 Hengel, Die Zeloten, S. 44183 Ebd., S. 76184 Schäfer, Gesch.d.Juden, S. 126. Zum sozialen Aspekt der Zelotenbewegung auch Josephus, Michel/

Bauernfeind, Bd. 2, S. 216, Anm. 63185 Insoweit ist auch das Zelotenbild, das Graetz, Geschichte der Juden, Bd. 3,2, 5. Aufl., Leipzig 1906,

S. 453f. gibt, zu einseitig.186 Apg.21.38 die Anhänger des „Ägypters“ in der Apostelgeschichte.187 Hengel, Die Zeloten, S. 52

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viel Unruhe und Verhetzung ausgegangen. Man könnte sagen, „das Verhalten der Zeloten ist genau genommen eine faktische Negation der messianischen Hoffnung.“188

Die verworrene Begrifflichkeit, die die antike Zeit hervorgebracht hat, läßt sich, wenn überhaupt, allenfalls in dem jeweils gegebenen Zusammenhang klären. Der Zerfall der zelo-tischen Bewegung als einer Einheit unter Menachem hat hierbei noch verstärkend gewirkt (s.u.).189

Die Ereignisse in Iudaea vom Frühjahr 66 bis zum Winter 66/67

Übergang des jüdischen Aufstands in den Krieg190

188 Wellhausen schon 1874 (Zitat bei Hengel, Die Zeloten, S. 296, Anm. 3)189 Hengel, Die Zeloten, S. 372f.190 Zu Iosephus’ Lagebeschreibung am Beginn des jüdischen Aufstands (bell.Iud.1.5): Iosephus

erweckt den Eindruck, als habe die jüdische Erhebung neben der Erwartung von Zuzug ihrer Glau-bensgenossen aus Parthien die spätere Widerstandsbewegung unter Vindex in Gallien (ab März 68) in ihr Kalkül einbezogen. Die jüdischen Unruhen aber begannen im Mai 66. Allenfalls Unmuts-äußerungen der Provinzialen über die neronische Regierung mögen bis nach Iudaea vorgedrungen sein.

Anmerkungen zu den geschichtlichen Berichten des Jüdischen Krieges: Die wesentlichen Nachrichten über alle hierzu gehörenden Vorgänge enthalten drei geschichtliche

Werke des Flavius Iosephus (37/38-nach 100), eines Pharisäers (dazu Josephus, Aus meinem Leben, S. 163), der einer Priesterfamilie Jerusalems entstammte (bell.Iud.1.3). Die letzten Paragraphen der „Jüdischen Altertümer“ (Ant.Iud.20.252ff.) leiten zu den Ereignissen über, die dann im Hauptwerk mit dem Titel „Über den jüdischen Krieg“ (De bello Iudaico, bell.Iud., Bellum) in 7 Büchern aus-geführt werden. Eine sehr tendenziöse Ergänzung bietet die vita („Lebensbeschreibung“) des Iose-phus, eine Selbstverteidigungsschrift gegen aufgekommene Beschuldigungen. (Zusammenfassung der quellenkritischen Ergebnisse bei Krieger, Josephus, S. 326ff.; besonders 334–36)

Im wesentlichen kommen also der „Jüdische Krieg“ und die vita in Betracht. Beide Schriften haben nicht nur eine weit auseinander liegende Entstehungszeit, sondern sind von gänzlich unterschied-lichem geschichtlichem Wert, geben aber dadurch auch der Person des Verfassers eine greifbarere Gestalt.

Das „Bellum“ ist in den 70er Jahren, noch ganz im Bann der zerstörerischen und blutigen Ereig-nisse in Iudaea geschrieben – zunächst aramäisch, dann 75–79? griechisch (contra Ap.1.50; bell.Iud.1.3; 7.158) – und Vespasian und Titus übergeben worden (vita 361), die den Inhalt gebilligt haben. Quellen werden im wesentlichen Iosephus‘ eigene Erinnerungen und Aufzeichnungen ge-wesen sein, ergänzt durch Berichte von Überläufern und anderes. Einer ausführlichen Einleitung in die jüdische Geschichte seit der Makabäerzeit (ab 175 v.Chr.) und der herodianischen Zeit folgt ab bell.Iud.2.280 die eigentliche Darstellung des Krieges in sieben Büchern – eine die Vorgänge selbst wohl richtig wiedergebende Schilderung. Dabei liegt der Schwerpunkt auf den Ereignissen in Galilaea, wo Iosephus Oberbefehlshaber war. Die Tendenz des Werkes speist sich aus der Absicht, die jüdische Aristokratie und das einfache Volk als Opfer verbrecherischer Führer darzustellen, die Aufstand und Krieg mit Rom herbeigeführt hätten. Abgesehen von dieser vereinfachenden Kon-zeption, mancher Übertreibung und der tendenziösen Begrifflichkeit, die sich oft kritisch bearbei-ten läßt, den erfundenen Reden und der Verherrlichung des neuen Kaiserhauses der Flavier haben wir im „Jüdischen Krieg“ dennoch eine weitgehend wirklichkeitsgetreue Darstellung der Tatsachen vor uns.

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268. Der syrische Statthalter Cestius Gallus besucht Jerusalem

Während so in Iudaea die allseitigen Provokationen verschiedener extremer jüdischer Gruppen unter teilweiser Mithilfe oder Gleichgültigkeit des überforderten Florus eine

Die vita dagegen ist ein schlecht konzipiertes und geschriebenes Machwerk der Zeit nach 100 (zur Datierung schon richtig Schürer, Gesch.d.jüd.Volkes, Bd. 1, S. 88 mit Anm. 20). Eine Lebensbe-schreibung ist die Schrift nicht. Neben ein paar einleitenden Abschnitten über seinen Werdegang und der Überleitung zu dem Hauptwerk des „Jüdischen Krieges“ hat sie Iosephus‘ Oberbefehl in Galilaea (ab November/Dezember 66) zum Hauptinhalt (vita 30–412). Der Zweck des Werkes ist die Rechtfertigung gegen Vorwürfe, namentlich durch Iustos von Tiberias (nicht nur 336–367). Dieser hatte zuvor eine eigene Darstellung des Jüdischen Krieges gegeben und darin Iosephus als einen eifrigen Leiter der Kriegsvorbereitungen in Galilaea geschildert (Phot.Bibliotheca 33, s.u.). Auch von verschiedenen Juden und dem Erzieher eines seiner Söhne wurde er angeschuldigt (vita 429). Das war Iosephus bei seiner geachteten Stellung im damaligen Rom und unter dem argwöh-nischen Kaiser Domitian sehr unangenehm. Aber selbst den Zweck bedenkend, ist die Schrift argumentativ wirr – vielleicht eine Sammlung absichtsvoll ausgewählter Episoden, jedoch ohne strikt chronologische Anordnung oder historisch verständliche Folgerichtigkeit. Durch eine un-geschickte, tolpatschige und wirre Darstellung, die gelegentlich Doubletten zu enthalten scheint, versuchte sich Iosephus als Römerfreund zu geben, der gezwungenermaßen die Verteidigung in Galilaea organisiert hat. Dabei verstrickt er sich in Widersprüche und Ungereimtheiten, so etwa, wenn er aus der schwankenden Persönlichkeit des Iustos einen Führer des galilaeischen Aufstands herausarbeiten will. Einzelnes wird an den einschlägigen Stellen ausgeführt werden.

Im ganzen gesehen wird die kürzere und weniger geschwätzige Darstellung im Bellum wohl das Richtige treffen, auch weil sich Iosephus dort nicht so unehrlich als ein Verräter an der jüdischen Sache gibt wie in der vita. Auch das Bellum ist nicht frei von einer oft wenig substantiierten Selbst-belobigung des Verfassers. Der eigentliche Wert der vita besteht darin, daß wir die Gärung und die unterschiedlichen Auffassungen über die Abwehrmaßnahmen in Galilaea vor dem Feldzug Vespa-sians genauer kennenlernen. Man muß sich jedoch durch einen weitschweifigen Wust von Infor-mationen, von Parteilichkeit, Eigenlob und Dünkel hindurch arbeiten und nicht zuletzt hierdurch verrät diese Schrift, verglichen mit dem Bellum und unter der Forderung geschichtlicher Wahrheit eine Klitterung der eigentlichen Geschehnisse – eben bloß eine subjektive oder relative Wahrheit (zum Wahrheitsbegriff bei Iosephus meines Erachtens zu differenziert Josephus, Aus meinem Le-ben, S. 170.)

Hätte sich das Geschichtswerk des Iustos erhalten, so wäre man in der Lage, manch eine Einseitig-keit der Darstellung bei Iosephus in anderem Licht zu sehen. Abgesehen von seiner angeblichen Römerfeindschaft wirft Iosephus ihm zum Beispiel vor: 1. daß er seine Mordbrennereien in der Dekapolis verschwiegen habe (vita 341–43); 2. daß er von den Vorgängen in Galilaea, besonders bei der Belagerung von Jotapata, nichts wissen konnte, weil alle dabei umgekommen seien (357); 3. daß dasselbe für die Vorgänge in Jerusalem gelte (358); 4. daß sein Bericht den Aufzeichnungen (commentarii) des Kaisers widerspreche (358ff.). Dazu wäre in aller Kürze anzumerken: ad 1: Dies ist vielleicht der einzige berechtigte Vorwurf (s. dazu u.); ad 2. und 3: Auch Iosephus hat über die spätere Zeit, in der er nicht mehr am Kriege teilnahm, berichtet. Wie er so hat auch Iustos über die Vorgänge Nachrichten eingeholt und eben anders als jener zusammengestellt und verarbeitet; ad 4: So wie es Siegerjustiz gibt, so gibt es Siegergeschichtsschreibung. Die Bestätigung von Iosephus‘ Geschichtsauffassung durch das regierende Kaiserhaus der Flavier, zu dem er während des Krie-ges übergegangen war, kann objektive historische Wahrheit nicht ersetzen. Zu allen Zeiten gibt es abseits des offiziellen oder offiziösen Geschichtsbildes geschichtliche Wahrheit, die möglichst unbefangen ermittelt und ausgesprochen werden muß.

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fortschreitende Zerrüttung des bürgerlichen Lebens herbeiführten, hatte Cestius Gallus, der Vorgesetzte des Florus, die Statthalterschaft von Syrien inne – ein gutwilliger Sachwal-ter der ihm obliegenden Angelegenheiten und ohne bösen Argwohn. Die jüdischen Obe-ren wagten es zunächst dennoch nicht, sich durch eine Abordnung bei Cestius über Florus‘ Amtsführung zu beschweren. Um so eifriger aber war man, als Cestius kurz vor dem Fest der ungesäuerten Brote in Begleitung des Florus in Jerusalem eintraf. Als Cestius den Inhalt der Vorwürfe erfuhr, die ihm von vielen Seiten zugetragen wurden, da versprach er, auf eine bessere Amtsauffassung des Florus hinzuwirken. Und als Cestius in Begleitung des Florus nach Kaisareia hinweg zog, soll dieser, wie es heißt, den syrischen Statthalter mit Schwinde-leien hinters Licht geführt haben.191

269. Ausbruch der Unruhen in Kaisareia

Ein an sich harmloser Streit in der Provinzhauptstadt Kaisareia bildete dann den Anlaß, von dem aus bald ein vernichtender Krieg mit einer Vielzahl von Greueln und Schrecknis-sen seinen Ausgang nahm. Auffällig ist allerdings, daß es nun nicht mehr um die Rangfra-gen unterschiedlicher Bürgergruppen in der Stadt ging. Allenfalls standen diese im Hinter-grund. Die Rolle, die der Procurator Florus dabei einnahm, ist nicht klar. Iosephus zeigt von jetzt ab in den Berichten nachweislich das verdächtige Bestreben, ihn als den eigentlichen Kriegstreiber zu schildern und dadurch die Juden beziehungsweise die jüdische Führung in Jerusalem zu entlasten. 192

Ein Grieche besaß ein Grundstück, das nahe der Synagoge lag und das die jüdische Ge-meinde wiederholt zu erwerben bestrebt war, um den Zugang zum Heiligtum zu erweitern. Doch der Grieche weigerte sich beharrlich, das Grundstück zu verkaufen, obwohl man ihm das Dreifache des eigentlichen Wertes als Kaufpreis anbot. Im Gegenteil ließ er nun Werk-stattgebäude auf ihm errichten und gab den Juden das Wegerecht auf einem noch schmaleren Zugang als bisher. Darüber gerieten zuerst die jüngeren Männer in Zorn und versuchten, die Bauarbeiten zu behindern. Die geschichtliche Einordnung einer berichteten Bestechung des Florus durch eine reiche jüdische Gesandtschaft der Stadt, deren Mitglieder der Statthalter inhaftieren ließ, ist nicht mehr nachvollziehbar möglich.

Bald darauf verunreinigte ein Provokateur, während die Juden am Sabbath in der Syna-goge versammelt waren, die heilige Versammlungsstätte durch ein Sakrileg. Sowie die Juden dies bemerkten, waren sie völlig außer sich. Die Gemäßigteren versuchten vergeblich die Jüngeren zurückzuhalten. Ein Kampf in den Straßen der Stadt war nicht mehr aufzuhalten. Die herbei geeilte Reiterabteilung unter Iucundus blieb ohne Wirkung.193

191 Ios.bell.Iud.2.280ff.; rabbinische Quellen bei Hengel, Die Zeloten, S. 363. Die Behauptung des Iosephus, Florus habe von nun an danach getrachtet, die Juden zum Aufstand zu treiben, indem er sein räuberisches Vorgehen verschärfte, ist eine Übertreibung. Er habe damit die Absicht verfolgt, durch den Ausbruch des Krieges und die allseitige Beschäftigung mit den Folgen seine gewalttätigen Bereicherungen zu verbergen. Dazu auch Krieger, Josephus, S. 199f.

192 Krieger, Josephus, S. 200ff. Dies ist bei der Darstellung der folgenden Ereignisse berücksichtigt.193 Ios.bell.Iud.2.285ff.; zum Sakrileg des Vogelopfers Josephus, Michel/Bauernfeind, Bd. 1, S.  445,

Anm. 156

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270. Steigerung des Volkszorns durch römische Greuel in Jersualem am 16. Artemision 66 und die Folgen

Ausgehend von den Gewalttaten in Kaisareia, kam es zu einem nicht immer leicht verständ-lichen und daher nur unzureichend beschreibbaren Kriegsverlauf, überlagert von einem in-nerjüdischen Bürgerkrieg, bei dem 1. die Kriegspartei ihre gemäßigten Gegner unterwirft, was 2. zu einem völlig erfolglosen Feldzug des römischen Statthalters von Syrien gegen die Aufständischen führt, dem 3. der machtvolle Feldzug von drei römischen Legionen nebst einer Vielzahl weiterer Truppen folgt. Dieses verworrene Geschehen wenigstens halbwegs nachvollziehbar zu schildern, versucht die folgende Darstellung. Iosephus’ Berichte über die Vorgänge ist oft parteiisch und ungenau, so daß nur ein vorläufiges und näherungs-weises Verständnis des gesamten folgenden Geschehens möglich ist, weil er bestrebt ist, die Mehrheit des Volkes als friedensgesinnt darzustellen und die Provokation, die in Wirklich-keit von vielen Juden ausgegangen ist, alleine einigen Führern und ihren angeblich kleinen radikalen Gruppen anzulasten.

Sowie man in Jerusalem von den Vorgängen in Kaisareia erfuhr, war man unabhängig vom gesellschaftlichen Stand vor allem über den Religionsfrevel schwer verärgert. Vereinzelt fan-den sich bereits Aufstandsführer, die im Zorn über die Ereignisse zum Widerstand gegen die römischen Fremdherrscher aufriefen und selbst bereit waren, zu Gewalt zu greifen. Man hatte auch im Lande bereits örtlich die Abgabenzahlungen verweigert. Jetzt heizte die Forderung des Florus nach Übergabe von 17 Talenten aus dem Tempelschatz die gesamte Stimmung zusätzlich an. Es war wahrscheinlich die Summe, die an dem geplanten Steueraufkommen fehlte, das durch die zunehmend chaotischen Zustände oder den Unwillen der Steuerpflich-tigen ausgeblieben war.194 Die Heißsporne heizten jetzt den Zorn der Empfänglichen an; an-dere verhöhnten den Statthalter, indem sie mit Sammelkörben für ihn um Almosen baten.

Währenddessen sandte Florus eine Reiterabteilung von 50 Leuten unter dem Centurio Capito nach Jerusalem voraus. Er selbst folgte mit den weiteren römischen Hilfstruppen. Als Capito erschien, trat man ihm zunächst anscheinend unterwürfig entgegen. Capito for-derte die Provokateure, die sich bei Abwesenheit der Truppen so mutig gegeben hatten, auf, sich zu stellen, doch zeigte dies keine Wirkung und die Menge der Bewohner verbarg sich in ihren Häusern. Nachdem Florus in die Stadt eingezogen war, nächtigte er im Königs-palast. Tags darauf wollte er auf einer Tribüne vor dem Palast eine Gerichtssitzung gegen die Aufrührer abhalten. Die Hohepriester und Vornehmen der Stadt waren erschienen, traten vor und versuchten vielleicht wirklich zu beschwichtigen – eine Rolle, in der sie bei Iosephus überwiegend auftreten. Aber das erwies sich als erfolglos. Höchstwahrscheinlich irgendein von Iosephus verschwiegener Anlaß (bei ihm ist es allein der Zorn des Florus)

194 So Schäfer, Gesch. d. Juden, S. 133 und Hengel, Die Zeloten, S. 363; Krieger, Josephus, S. 204 (Be-zug auf bell.Iud.2.403; 405) – die Forderung eines Fehlbetrags, die Iosephus nutzt, um allein die Habgier und die Kriegstreiberei des Florus herauszustellen. Bezeichnenderweise stellt Iosephus die Verweigerung der Steuerzahlung (eingearbeitet in die große Rede des Agrippa bell.Iud.2.345ff.) ganz an das Ende der Darstellung der Ereignisse in Jerusalem kurz vor Ausbruch des jüdischen Krie-ges. Er hat somit einen aus römischer Sicht entscheidenden Kriegsgrund absichtlich an eine gänz-lich versteckte Stelle gesetzt (Krieger, Josephus, S. 204, 221).

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führte zum Übergriff der Truppen. Es kam zur Plünderung des Hochmarktes, vielleicht weil man dort Aufständische zu finden hoffte. Aber nicht nur dort, sondern durch ganz Jerusalem hob nun ein Morden und Rauben an, eine Hetzjagd durch die Gassen der Stadt, die auch Frauen und Kinder nicht verschonte. Verschiedene Leute wurden ergriffen und dem Statthalter vorgeführt, ausgepeitscht und sodann ans Kreuz geschlagen. An dem Tage sollen 630 Menschen umgekommen sein. Unter ihnen sollen auch römische Ritter jüdi-scher Abstammung gewesen sein, die römische Ehrenämter innehatten. Es zeigte sich erst-mals mit aller Deutlichkeit, daß die jüdische Aristokratie in Jerusalem die Lage nicht mehr im Griff hatte. Mit diesem Ereignis (Anlaß) begann, wie Iosephus richtig äußert, der Jüdi-sche Krieg, weil sich die aufgebrachten Gemüter der Juden dauerhaft nicht mehr beruhigen ließen. Es war der 16. Tag des Monats Artemision – etwa April/Mai 66.195

König Agrippa II. hielt sich zu dieser Zeit in Alexandria auf, wo er dem von Nero er-nannten Praefecten Tiberius Iulius Alexander zur Ernennung gratulierte. Seine Schwester und Königin Berenike hatte währenddessen wie viele andere auch Todesangst auszuste-hen. Sie war gerade wegen eines Gelübdes nach Jerusalem gekommen und fand sich nun in höchster Gefahr. Den Bitten ihrer abgesandten Reiteroffiziere um Schonung der Stadt schenkte Florus kein Gehör. Die römischen Soldaten schwärmten plündernd und mordend durch die Stadt und drangen auch in die Königsburg ein.196

Der Jammer und das Wehklagen über die Greuel waren groß und man konnte Äußerun-gen des Hasses gegen Florus und die Truppen vernehmen. Die jüdischen Amts- und Wür-denträger der Stadt beschworen das Volk, sich zu beruhigen und keinesfalls den Zorn des Statthalters weiter zu reizen. In einer Versammlung, die bald darauf vor dem Tempel zusam-mengekommen war, verliehen die Hohepriester mit Unterstützung der Tempeldiener und Musiker ihren Worten Nachdruck, weil der Zorn wegen der Grausamkeiten des Vortags nicht weichen wollte. Schließlich brachten sie diejenigen, die noch Frieden wollten dazu, weitere zwei aus Kaisareia ankommende Cohorten römischer Hilfstruppen vor der Stadt zu begrüßen. Als diese aber den Gruß nicht erwiderten, fielen erste beleidigende Worte seitens einiger Römerfeinde, ein Wort gab das andere und schon hatten die Soldaten zu den Waffen gegriffen und begannen wahllos die zur der Stadt hin fliehenden Juden niederzuschlagen. Am schlimmsten war die nun beginnende Hetzjagd. Alles staute sich vor den Toren und die rö-mischen Truppen drängten mitsamt den Fliehenden in die Stadt hinein. Sie jagten mordend das Volk durch die Vorstadt Bezetha in der Absicht, die Festung Antonia und den Tempel einzunehmen. Sie zu unterstützen machten die Truppen des Florus einen Ausfall aus ihrem Lager bei dem Königspalast. Doch sie wurden jetzt von einer kampfbereiten Volksmasse in den Straßen aufgehalten. Gleichzeitig traf sie eine Unmenge von Steinen, die von den Haus-

195 CAH 1st Ed., S. 855 (Stevenson/Momigliano): ca. Mai; Schäfer, Gesch.d.Juden, S. 135: April/Mai; Ios.ant.Iud.20.257; bell.Iud.2.293–308; 315. Die gesamte Passage im Bellum ist, was Florus angeht, in einem ironisch-hämischen Ton gehalten, macht zudem den Procurator verächtlich und zeigt gleichzeitig seine mit Borniertheit gemischte Gewaltherrschaft. Die Juden (bei Ios. der dēmos oder plēthos = die Menge) werden demgegenüber faßt ausschließlich als friedliebende Opferherde dar-gestellt, die zwischen den Friedensappellen ihrer aristokratischen Führer und den aufrührerischen Reden einiger weniger Unruhestifter hin und her gerissen werden (im einzelnen Krieger, Josephus, S. 203ff.).

196 Ios.bell.Iud.2.309ff.

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dächern geworfen wurden, so daß ihnen nichts übrig blieb, als sich zurückzuziehen und im Lager Schutz zu suchen. Kurz darauf zerstörten die aufständischen Juden, die schon Teile des Tempels in ihrer Gewalt hatten, die Säulenhallen, die die Festung Antonia mit dem Tempel verbanden und zwar aus Furcht, Florus könne von da die Einnahme des Tempels versuchen. Weder die römischen Truppen noch die Hohepriester waren jetzt noch Herr der Lage. Au-ßerdem war durch den jüdischen Widerstand bereits ein Grund zu schärferem Vorgehen ge-geben. Florus entschloß sich jedoch vorerst, die Stadt zu verlassen,197 rief die Hohepriester und Vornehmen zu sich und teilte ihnen dies mit. Wahrscheinlich wollte er der jüdschen Aristokratie noch einmal Gelegenheit geben, in eigener Verantwortung die Lage zu beruhi-gen. Sie erbaten sich zum Schutz eine Cohorte der Hilfstruppen. Florus ließ also eine Abtei-lung zurück und zog mit den übrigen Soldaten nach Kaisareia ab.198

271. Der Abgesandte des Cestius Gallus besucht Jerusalem

Nun ließ Florus einen Bericht an den Statthalter von Syrien, Cestius Gallus, abgehen, worin er den Widerstand der Juden gegen die Einziehung der Steuerfehlbeträge und auch die Un-ruhen in Jerusalem geschildert hat, mit denen sie begonnen hätten. Dies dürfte im wesent-lichen auch zutreffend sein.199 Die vornehmen Amts- und Würdenträger in Jerusalem aber gaben zusammen mit Berenike eine Gegendarstellung der Ereignisse, die die Übergriffe von Florus’ Truppen zu Inhalt hatte. Im Rat der Freunde und Offiziere des Cestius war man geteilter Meinung, wie weiter vorzugehen sei. Einige meinten, man solle sofort mit den Truppen in Erscheinung treten und entweder die Juden für ihr Verhalten züchtigen oder sie andernfalls beruhigen und bestärken. Doch Cestius zog es vor, sich zunächst durch einen Abgesandten über die Vorgänge in Kenntnis setzten zu lassen und ließ den Chiliarchen Neapolitanus mit Begleitern nach Iudaea abgehen. Dort traf er bei Iamnia (Jabne) mit Kö-nig Agrippa II. zusammen, der gerade aus Alexandria eingetroffen war. Dorthin waren nun auch die vornehmen Juden, die Hohepriester und der Hohe Rat gekommen, um Agrippa die Aufwartung zu machen. Als sie von den Vorgängen in Jerusalem berichteten, geriet der König äußerlich in Zorn über das Geschehen, weil es nicht hatte verhindert werden können. Da die Vornehmen schon ihres reichen Besitzes wegen Frieden wünschten, nah-men sie den Tadel des Königs als wohlmeinende Äußerung auf. So zogen sie gemeinsam mit Agrippa und Neapolitanus nach Jerusalem. Dort besah der Gesandte des Cestius die verschiedenen Orte des Geschehens, durchwanderte mit seiner Begleitung die Stadt vom Oberen Markt bis zum Teich Siloah in der Unterstadt, sprach dann zum Abschied noch einige der Lage angemessene und beruhigende Worte und zog hinweg nach Syrien.200 Ob

197 Ob „furchtsame Nachgiebigkeit“ der Grund war, ist unsicher (so Hengel, Die Zeloten, S. 362).198 Ios.bell.Iud.2.315–332 unter Berücksichtigung der bei Krieger, Josephus, S. 209ff. gegebenen Kom-

mentierung, die erneut die unwahrscheinliche Denunziation des Florus als Kriegstreiber am Origi-naltext nachweist.

199 Krieger, Josephus, S. 216200 Ios.bell.Iud.2.333–341. Dazu Krieger, Josephus, S. 216–18 der auf die Ungereimtheiten in Iose-

phus’ Bericht verweist. Er ist stets bemüht, die Mehrheit der Jersualemer als friedliebend darzustel-len und den Begriff des Aufstands zu vermeiden, gesteht dies aber ungewollt in der fiktiven Rede Agrippas (2.342–401) an verschiedenen Stellen ein.

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Neapolitanus die Cohorte im Königspalast aufgesucht und auch von dort Erkundigungen von „römischen“ Zeugen eingezogen hat, wird von Iosephus nicht berichtet.

272. König Agrippas Friedensbemühungen

Nach dem Abzug des Neapolitanus aber gingen die Führer des Volkes die Hohepriester und den Agrippa an, bei Nero Klage gegen das mörderische Vorgehen des Florus zu erheben. Wenn man sich nicht Gehör verschaffe, setze man sich dem Verdacht aus, die Unruhen seien von den Juden ausgegangen. Nun war es einerseits nicht leicht, Ankläger zu finden, die am Kaiserhof vorsprechen sollten, andererseits empfand Agrippa auch eine gewisse Scheu vor diesem Schritt. Doch ebenso gefährlich mochte es sein, tatenlos zuzusehen, wie sich der Unmut der Juden – und besonders der Heißsporne – verselbständigte und erneut in Auf-ruhr überging. Deshalb ließ Agrippa in der Säulenhalle beim Tempel das Volk versammeln. Er selbst nahm mit Berenike den Platz beim Hasmonäerpalast ein, der von allen eingesehen werden konnte. Dieser Palast stand oberhalb des Säulengangs am Rande der Oberstadt. Von dort hielt Agrippa eine inhaltsreiche Ansprache, in der er trotz der erlittenen Greuel und Schäden zum Frieden mahnte. Er forderte auch alle auf, dem Kaiser die jüngst vorent-haltenen Steuern wieder zu zahlen und die Säulenhalle bei der Festung Antonia wieder aufzubauen, da ihr Abriß als ein Zeichen der Unbotmäßigkeit gegen Rom gelte.201

Kurzzeitig soll es seinen Argumenten gelungen sein, große Teile der Bewohner zu be-sänftigen, und indem nun Agrippa und Berenike zum Tempel voran gingen, begann man, die niedergerissene Säulenhalle wieder aufzubauen. Die Steuereinnehmer des Rats gingen hinaus und sammelten die noch fehlenden und bislang zurückgehaltenen kaiserlichen Steu-ern in Höhe von 40 Talenten ein. Als aber bekannt wurde, daß Agrippa wegen der began-genen Grausamkeiten rein gar nichts unternehmen und zuwarten wollte, bis ein anderer Statthalter nach Iudaea entsandt werde, da erhob sich der Unmut von neuem; von Seiten der antirömischen Parteiungen gingen erneut Unruhen aus. Da sah Agrippa II. ein, daß er keine Autorität mehr besaß und der Krieg nicht mehr aufzuhalten war. Er verließ die Stadt und kehrte in sein Herrschaftsgebiet zurück.202

Beginn der Kriegshandlungen

273. Einnahme der römischen Festung Masada – Ausschluß der Römer von Opfergaben im Tempel – Erfolglose Ansprache der Hohepriester an Priester und Volk

Mehrere Gruppen, die zum Krieg mit Rom drängten, fanden sich jetzt zusammen und nahmen im Handstreich die Festung Masada – etwa 55 Kilometer Luftlinie südlich von Jerusalem gelegen. Sie machten dort die römische Besatzung nieder und legten eine eigene Abteilung hinein.

201 Ebd. 2.342–401202 Ebd. 2.402–407

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Währenddessen brachte der Befehlshaber der Tempelwache in Jerusalem, Eleazar, Sohn des Hohepriesters Ananias, die diensthabenden Priester dazu, keine Gaben oder Opfer von Fremden mehr anzunehmen.203 Dieser Übergang des Tempelhauptmanns auf die Seite der Partei der Freiheitskämpfer wird nirgends in den Quellen motiviert.204 Dies aber hatte zur Folge, daß die Gaben der Römer zurückwiesen wurden, war diesen doch daran gelegen, ihre Reverenz auch der jüdischen Religion zu erweisen. So aber wurde die herrschende Macht in Iudaea durch das verächtliche und feindliche Verhalten der Priester schwer brüskiert. Die Hohepriester beschworen die Priester, das zu unterlassen, doch blieben diese bei ihrer Haltung. Sie vertrauten darauf, daß die Menge und besonders Eleazar mit der Tempelwache hinter ihnen stünden.205

Nun traten die Vornehmsten der Stadt mit den Hohepriestern und Pharisäern ange-sichts der schon weitgehend zerrütteten Lage zu einer Beratung zusammen. Sie hatten der Voraussicht nach am meisten und am ehesten etwas von einem Krieg mit Rom zu befürch-ten.206 Man beschloß, es noch einmal mit einer Ansprache zu versuchen. Das Volk wurde vor dem „Ehernen Tor“ im östlichen Teil des Tempelbezirks versammelt. Anwesend waren auch die für Kultfragen zuständigen Priester, allerdings nicht diejenigen, welche gegenwär-tig für die Durchführung der heiligen Bräuche im Tempel Sorge tragen sollten und die an-tirömischen Vorschriften erlassen hatten.207 Nach heftigem Beginn, in dem die Redner die Menge wegen ihrer Unbesonnenheit scholten, stellten sie ihr tollkühnes Unterfangen ins Verhältnis zu der Gefahr, die für den Bestand Iudaeas zu befürchten sei, wenn sie sich aus geringen Anlässen, die ein einzelner Statthalter begangen habe, mit der Weltmacht anlegen wollten. Im übrigen sei ihre Verweigerung der Annahme von Opfergaben Fremdstämmiger eine durch nichts gerechtfertigte Neuerung im Verhältnis zu Ausländern. Würde dieselbe Weigerung einzelnen Privatleuten gegenüber zur Geltung gebracht, so würden sie selbst sogleich ein Geschrei erheben, weil dies ein Verstoß gegen die Menschenliebe sei. Diese neue Verfahrensweise trage überhaupt den Geruch der Gottlosigkeit, also des Frevels an sich. Wenn sie sich nicht eines besseren besännen, würden vielleicht bald die Opfer ganz unmöglich und der Rechtsschutz Roms von Jerusalem abgezogen. Sie sollten aber rasch zu Besinnung kommen, bevor die Beleidigungen den Offiziellen Roms zu Ohren kämen.208

Aber die vorgetragenen Gründe nutzten nichts. Dagegen hatten diejenigen, die zum Kriege trieben, mit ihren Reden Erfolg. Da wollten die meisten der führenden Männer – einige waren aber auch auf Seiten der Aufständischen, was Iosephus verschweigt -, schon

203 CAH 2nd Ed., S. 754 (Goodman): Mai/Juni 66204 Dazu Hengel, Die Zeloten, S. 366f.; Krieger, Josephus, S. 224205 Ios.bell.Iud.2.408–410206 Ebd. 2.418207 Ebd. 2.417208 Ebd. 2.411–416. Auffällig: Während Iosephus das Vorgehen der Eleazar-Gruppe nicht eigens nach-

vollziehbar motiviert, gibt er den Gegnern der politisch-religiösen Führung breiten Raum für ihre Argumente, die erkennbar auch die seinen (geworden) sind (s. Krieger, Josephus, S. 229 und unten Anm. 470 zu Ios.vita 17ff.). Überhaupt dürfen in den retardierenden Momenten bei Iosephus die besonnenen Teile der jüdischen Gesellschaft – zumeist sind es die Aristokraten – lang und breit ihre Argumente vortragen, während die Motive der Aufständischen manchmal gar nicht oder reduziert auf negative Charaktereigenschaften (Zorn, Habgier, Geldgier, Machtgier) Erwähnung finden.

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um dem Verdacht entgegenzutreten, sie würden den Aufstand begünstigen oder gar an-zetteln, für sich Hilfe beschaffen. Sie ließen Gesandtschaften sowohl an Florus als auch an Agrippa II. abgehen, des Inhalts, sie sollten schleunigst Truppen herbei senden, die in die Stadt einrücken, bevor der drohende Aufstand ausgebrochen sei und dies unmöglich ma-che. Die Gesandtschaft zu Florus führte Simon, Sohn des Ananias.209 Zu Agrippa schickte man vornehme Männer – Saulus, Antipas und Kostobar, die allesamt mit dem Königshaus verwandt waren. Agrippa war sich im klaren, daß von einem Aufstand nur Unheil ausgehen könne. Er hoffte also durch die Absendung einer 3000 Mann starken Reitertruppe für die Vornehmen Jerusalems210 die Kriegspartei wenigstens abzuschrecken. Diese Abteilung aus der Auranitis, Trachonitis und aus Batanaea wurde angeführt von dem Reiterführer Dar-eios und dem Feldherrn Philippos, Sohn des Jakim.211

274. Kämpfe der jüdischen Gruppen in Jerusalem

Sobald die Reiter Agrippas angekommen waren, stieg die Zuversicht derjenigen, die den Krieg mit Rom verhindern wollten. Das waren überwiegend die Vornehmen, die Hohe-priester und der furchtsame und friedliebende Teil des Stadtvolkes. Doch um den großen Krieg abzuwenden, standen diese jetzt vor der Herausforderung eines Bürgerkriegs. Eine Niederlage der gemäßigten Partei mußte unabsehbare Folgen für den Bestand des Staa-tes haben. Die Reiterei nahm die Oberstadt Jerusalems ein, während die Aufständischen in den Teilen der Unterstadt Stellung bezogen und auch den Tempel innehatten. Sieben Tage ( Juli/August 66?) lang dauerte der Kampf wobei man mit Fernwaffen, Wurfgeschos-sen und im Nahkampf einander viel Schaden und Verluste beibrachte. Was den Rebellen an Erfahrung gegenüber den königlichen Truppen fehlte, machten sie durch Kampfeseifer und Tollkühnheit wett. Die in der Oberstadt versuchten die Besatzer aus dem Tempel zu vertreiben, während Eleazar mit der Tempelwache und anderen einen Angriff gegen die Oberstadt unternahm. Da steigerten am 8. Tage die Aufständischen die Erbitterung ihrer Gegner, indem sie ihnen untersagten und verhinderten, am sogenannten Fest des Holz-tragens Holz zum Hauptaltar im Tempel zu bringen. Das war ein hohes Kultfest, das dem ewig brennenden Feuer geweiht war. Bei diesem Fest hatte jeder Jude Zugang zum Tempel. Als der Zug Gestalt angenommen hatte, mischten sich unter die gemäßigten Leute Män-ner mit Dolchen (Sicarier) und verbreiteten durch ihre Meuchelmorde, die sie anrichte-ten, Schrecken. Radikale Kämpfer waren unbemerkt in die Stadt eingesickert und fanden die Unterstützung all derer, die es mit der Kriegspartei hielten. Die königlichen Truppen, ohnehin nicht besonders kampfbegeistert, wurden jetzt aus der Oberstadt verdrängt und die Kriegspartei war im Begriff die gesamte Stadt einzunehmen. Man legte Feuer an das Stadthaus des Hohepriesters Ananias und an den Palast des Agrippa und der Berenike. Da-nach wurde die Brandfackel in das städtische Archiv geworfen. Unter anderem gingen dort

209 Es paßt wieder in das Kriegstreiberbild, daß Iosephus den Florus als hocherfreut über die Entwick-lung darstellt.

210 Krieger, Josephus, S. 230 weist darauf hin, daß Iosephus die Hilfe als für den dēmos umdeutet, um so einen Schulterschluß des „Volkes“ gegen die Aufständischen zu suggerieren.

211 Ios.bell.Iud.2.419–421

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66 nach Christus | 349

die Schuldurkunden in Flammen auf. Durch diese Tat brachten sie die Schuldner, die sich darüber freuten, auf ihre Seite, denn die Schuldeintreibung war durch die Vernichtung der Unterlagen unmöglich geworden. Zu den religiös-politisch motivierten Machtkämpfen kam dadurch vielleicht noch eine Auseinandersetzung der Besitzenden gegen Enteignete, Minderberechtigte und Schuldner hinzu und verweist so auch auf die soziale Seite des jü-dischen Aufstands.212 Die Hohepriester und ihr Anhang flohen teils in die unterirdischen Gänge, teils in den oberen Palast, den des Herodes, und verrammelten die Tore. Dort waren der Hohepriester Ananias, Vater des Eleazar, sein Bruder Ezechias und die drei vornehmen Führer der Gesandtschaft an Agrippa. So vergingen der Rest des Tages und die Nacht.213

Am Folgetag, dem 15. Loos, begann die Belagerung der Festung Antonia. Nach zwei Tagen wurde sie eingenommen, sämtliche Verteidiger niedergemacht und durch Feuer zer-stört. Sodann setzte man den Kampf mit der Belagerung der Eingeschlossenen im Königs-palast fort. In vier Abteilungen rückte man gegen die Mauer vor. Ausfälle konnten die Leute im Palast nicht unternehmen, beschossen aber von der Brüstung und den Türmen aus die Anstürmenden, die viele Verluste erlitten. Der erbitterte Kampf begann bei Tageslicht und dauerte auch in der Nacht an infolge der auf beiden Seiten herrschenden Zuversicht, weil die einen mit dem Lebensmittelmangel der Eingeschlossenen rechneten, die anderen mit der baldigen Erschöpfung ihrer Gegner.214

275. Einzug des Menachem und seiner Kampftruppe in Jerusalem – Niederlage der Friedenspartei

Unterdessen kam ein gewisser Menachem, Sohn des Judas aus Galilaea, der einst im Jahre 6 gegen den Census des Statthalters Quirinus opponiert hatte, mit seiner Leibgarde in Jeru-salem an. Er hatte sich in Masada mit Hilfe seines Anhangs zum Führer der dortigen Auf-ständischen gemacht und das Waffenhaus des Herodes erbrochen. Neben den jüdischen Begleitern wurden auch Fremdstämmige als seine Leibwache mit den Waffen ausgerüstet, und „wie ein König“ soll er in Jerusalem eingezogen sein. Über seine Haltung bestehen in-des Zweifel. Es ist umstritten, ob er gar ein Schriftgelehrter war, der einen großen Anhang um sich scharte. Die Art seines Einzuges könnte darauf hindeuten, daß er einen gewissen messianischen Anspruch stellte. Aber Iosephus hat sein Auftreten wahrscheinlich tenden-ziös als das eines Tyrannen gestaltet (s. auch u.), um dadurch die stadtjüdischen Aufständler und deren politisch-religiösen Freiheitsbegriff zu diskreditieren, indem sie gerade solcherlei Gestalten wie Menachem hervorbrächten. Ein sicheres Urteil läßt sich nicht gewinnen.215

212 Hengel, Die Zeloten, S. 368f.; Schäfer, Gesch. d. Juden, S. 136; dagegen allerdings mit bedenkens-werten Argumenten Krieger, Josephus, S. 232–34

213 Ios.bell.Iud.2.422–429214 Ebd. 2.430–432215 Hengel, Die Zeloten, S. 369, wo er darauf hinweist, daß Menachem wahrscheinlich nicht nur mi-

litärischer Führer, sondern auch geistliches Oberhaupt (σοφιστής) der kampfbereiten Zeloten war; Schäfer, Gesch. d. Juden, S. 136; dagegen Krieger, Josephus, S. 237, der einen Konflikt der Priester-gruppe um Eleazar mit der Laiengruppe um Menachem vermutet.

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Da die Belagerer keine Werkzeuge zum Brechen der Palastmauern besaßen, und auch die Mauern ohne Schutzvorrichtung nicht unterhöhlt werden konnten, grub man in einiger Ent-fernung einen schief nach unter führenden Schacht bis unter einen der Türme, stützte alles mit einem Holzgerüst ab und setzte es in Brand. Sowie das Feuer die Stützvorrichtung unter dem Turm aufzehrte, stürzte er mit Krachen zusammen. Doch dahinter hatten die Verteidiger währenddessen einen neuen Wall errichtet, weil sie die Grabungsarbeiten rechtzeitig bemerkt hatten. Das machte zwar die Angreifer zunächst recht mutlos. Dennoch entschieden sich die Belagerten bald darauf, aufzugeben und baten Menachem um freien Abzug. Dies wurde aber nur den Soldaten des Agrippa und den übrigen Kämpfern zugestanden, nicht jedoch der römischen Cohorte. Und so geschah es am 6. Gorpiaios. Während sich Hohepriester und Vornehme, die sich nicht gegen Roms Fremdherrschaft stellten, verborgen hielten, zogen die Truppen Agrippas ab; einige Teile von ihnen liefen jedoch auch zu den Aufständischen über.216 Die römischen Truppen hatten nicht um freien Abzug gebeten, vielleicht weil es ih-nen ehrlos erschien, oder weil sie Versprechungen der Rebellen nicht trauten. So machten sie sich aus ihrem Lager fort in die Königstürme Hippikos, Phasaël und Mariamne. Die Leute des Menachem rückten in den Palast nach, machten nieder, was nicht rechtzeitig entkommen war und steckten das römische Lager daselbst in Brand.217

276. Ermordung des Hohepriesters Ananias durch die Sicarier Menachems – Ermordung des Menachem

Am nächsten Tage erwischte man den Hohepriester Ananias (Vater des Eleazar) und des-sen Bruder Ezechias (Onkel des Eleazar), zog sie aus ihrem Versteck, einer Wasserleitung, und Menachem und seine Leute richteten sie sofort hin, wahrscheinlich weil sie in ihnen Verräter sahen. Die Königstürme wurden streng bewacht. Währenddessen gelangte der Streit innerhalb der zelotischen Aufstandsbewegung zum offenen Ausbruch. Es muß un-entschieden bleiben, ob die Ursache in Rivalitäts- und Rangfragen zu sehen ist und welcher Art sie waren. Einen Rest geschichtlicher Wahrheit könnte die Notiz enthalten, der Stan-desdünkel von Eleazar und seinen Leuten, die Priester waren, habe hier mitgespielt und im Grunde Menachem und seine Anhänger wegen ihrer gesellschaftlich niedrigeren Stellung verachtet. Der Schulterschluß, den Iosephus zu diesem Zweck zwischen „dem Volk“ und der Eleazar-Gruppe konstruiert, dient nur dazu, auch diese zu diskreditieren, wenn er be-hauptet, daß das Volk damit den Krieg mit Rom noch verhindern wollte, was dann nicht geschah. 218 An der Teilnahme von Teilen der Jerusalemer Bevölkerung bei der Beseitigung der Menachem-Gruppe muß man dennoch nicht zweifeln, unter anderem auch deshalb, weil Menachem nicht davor zurückschreckte, hohe Würdenträger zu ermorden, die noch

216 Schürer, Gesch.d.jüd.Volkes, Bd. 1, S. 603: September; Zum weiteren Schicksal des Philippos s.u. sowie die Darstellung zum Jahre 67. Überläufer: Ios.bell.Iud.2.430; 520; vita 220; 397

217 Ios.bell.Iud.2.433–440218 Hengel, Die Zeloten, S. 373, Anm. 4 macht es sehr unwahrscheinlich, daß man entgegen der Be-

hauptung des Iosephus hierdurch den Krieg mit den Römern noch vermeiden wollte. Alle Anfangs-erfolge gegen die Römer waren nur durch eine breite Teilnahme des Volkes möglich. Ebenso Krie-ger, Josephus, S. 238.

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Ansehen besaßen.219 So wurde Menachem mit seinen Leuten im Tempel überfallen, als er sich der Andacht hingeben wollte. Nur kurz war die Gegenwehr seiner Leibwächter. Sie flohen Hals über Kopf; dennoch wurden die meisten von ihnen ergriffen und umgebracht. Nur wenige entkamen nach Masada unter anderen Eleazar, der Sohn des Jair. Menachem selbst versuchte sich im Ophel, einem Hügel südlich des Tempelplatzes, zu verstecken, wurde aber aufgefunden und nach einer Vielzahl von Martern getötet.220

Der Entschluß der Eleazar-Gruppe, gegen Menachem und seine Leute vorzugehen und sie zu beseitigen, führte zur ersten Spaltung der Aufstandspartei.221 Nach den Unter-suchungen Hengels war mit diesem Ereignis die zelotische Partei in Jerusalem als eine wir-kungsvolle Widerstandsbewegung Iudaeas zerschlagen. Während die treusten Anhänger Menachems sich nach Masada flüchteten, zerfiel die zelotische Partei in unterschiedlichste, zum Teil von gegenseitigem Mißtrauen erfüllte Gruppen. Damit einher gingen Opposi-tion und Mißtrauen der Landbevölkerung gegen die Führer in Jerusalem. Dies alles führte dazu, daß ein planvoller Krieg gegen Rom nicht geführt werden konnte. Dagegen wurde der Abwehrkampf von örtlichen Führern organisiert. Erst vor diesem Hintergrund werden die Schwierigkeiten erklärbar, die etwa ein aus Jerusalem gesandter Organisator wie Iose-phus in Galilaea später finden mußte. Hinzu kamen die unterschiedlichen Auffassungen in Jerusalem selbst, in welcher Weise die Auseinandersetzung mit Rom geführt werden sollte. Wirksam blieb lediglich in jeweils anderer Gestalt das zelotische Gedankengut. Dies alles führte so nach den ersten anfänglichen Erfolgen zur Zersplitterung der einheitlichen Wi-derstandbewegung in Jerusalem in teilweise sich bekämpfende Gruppen.

277. Niederlage und Untergang der römischen Cohorte

Die Einschließung der römischen Kampfverbände in den genannten drei Türmen wurde währenddessen fortgesetzt.222 Bald schon waren ihre Widerstandskräfte am Ende, und ihr Führer Metilius bat um freien Abzug gegen Abgabe der Waffen. Eleazar sandte auf dieses Ersuchen hin sogleich den Gorion, Sohn des Nikomedes, Ananias, Sohn des Saduki223 und Judas, Sohn des Jonathan in das Lager, um die Bedingungen abzumachen und diese eidlich zu bekräftigen. Sobald aber die Niederlegung der Waffen vollzogen war und die wehrlosen römischen Truppen geschlossen abziehen wollten, wurden sie von den Kämpfern des Elea-zar eingekreist und allesamt getötet. Nur Metilius blieb am Leben, weil er um Schonung ge-fleht und seinen Übertritt zum Judentum einschließlich der Beschneidung zugesagt hatte. Von diesem Freveltage an wußte die breite Masse des Volkes, daß der Krieg nicht mehr

219 Nach Graetz, Gesch.d.Juden, Bd. 3,2, S. 461220 Ios.bell.Iud.2.441–448221 Hengel, Die Zeloten, S. 371–73; Schäfer, Gesch. d. Juden, S. 136222 Iosephus betont demgegenüber eine Steigerung der Aktivitäten der Aufständischen als Auftakt zu ei-

ner Reihe von Anwürfen gegen Eleazar und seine Anhänger mit tendenziöser Gewichtung (s.u.).223 Ein Pharisäer, der auch der Kriegpartei angehörte (über die beiden genanten Personen Hengel, Die

Zeloten, S. 374)

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aufzuhalten war. Durch diese eidbrüchige Bluttat war für Rom ein schwerwiegender Anlaß zum Kriegsbeginn gegeben.224

278. Wechselseitige Verfolgungen in den Städten Iudaeas und der angrenzenden Gebiete

Um dieselbe Zeit begann die Verfolgung der Juden in verschiedenen Städten Iudaeas, denen sich Massaker der Juden an den Nichtjuden anschlossen. Dabei läßt sich jedoch nicht mehr genau feststellen, was im einzelnen die Ursache der jeweiligen Pogrome war, weil Iosephus selbst sie im Bellum und in der vita unterschiedlich angeordnet hat. Fest steht lediglich, daß einige Verfolgungen der Vernichtung der römischen Cohorte, andere dagegen dem Feldzug der römischen Truppen unter dem syrischen Statthalter Cestius, der unten dargestellt ist, nachfolgten.225

Zuerst sollen 20.000 Juden in der Provinzhauptstadt Kaisareia getötet worden sein. Als Motiv können nur die Vorgänge in Jerusalem zur Erklärung dienen. Die Flüchtigen ließ Florus verfolgen und die Eingefangenen als Zwangsarbeiter in die Schiffswerften bringen. Darauf rottete sich die jüdische Bevölkerung in verschiedenen syrischen Gegenden zusam-men und überfiel die Städte (überwiegend in der Dekapolis). Philadelphia (Amman), Ese-bon (Hesbon), Gerasa (Dscherasch), Pella und Skythopolis wurden zerstört; Gadara und Hippos in der Dekapolis226 und das Gebiet von Gaulana verwüstet. Hier flohen die nicht-jüdischen Bewohner um später Rache zu nehmen. Dann folgten auch die Thyrerstädte Kasada (Kedesch), Ptolemais, Gaba227 und Kaisareia (in Nord-Iudaea), des weiteren Sebaste und Askalon, gefolgt von Anthedon und Gaza228 (diese in Süd-Iudaea).229 Den bewaffneten jüdischen Haufen gelang es, die oberhalb von Jericho gelegene Festung Kypros zu erobern.

224 CAH 1st Ed., S. 856 (Stevenson/Momigliano): September; Ios.bell.Iud.2.449–456. Dazu Krieger, Josephus, S. 238ff. An den mitgeteilten Tatsachen selbst ist nicht zu zweifeln. Aber Iosephus wagt keine Kritik daran, daß die Truppen Agrippas gesondert ihre römischen Kampfgenossen verlas-sen hatten. Die Tendenz verrät sich auch darin, daß er den kultischen Frevel erwähnt, man habe den Eidbruch an einem Sabbath begangen, wobei er bewußt verschweigt, daß nach einer Thora-auslegung aus der Makkabaeerzeit auch am Sabbath gekämpft werden darf (1. Makk. 2.39–41). Die gesamte Darstellung zeigt ein dramatisches Gepräge (nach Iosesphus sah man viele Menschen in Trauerkleidung, weil sie ein furchtbares Strafgericht erwarteten), bei dem allein der Gruppe der Aufständischen um Eleazar – also einer angeblichen Minderheit – die Schuld an der Eskalation und am Ausbruch des Krieges zugeschoben wird, der eine Bestrafung des friedliebenden Volkes in sakraler Dimension zwangsläufig folgen muß.

225 Dazu unter Berücksichtigung von Ios.vita 25ff. Krieger, Josephus, S. 274–76. Zweck ist es im Bel-lum, die Verfolgungen von Juden als Folge des Frevels der Aufständischen gegen die römische Co-horte und als göttliche Strafe darzustellen. In der vita dagegen ist die Kriegsschuld geteilt zwischen den unbeherrschten Aufständischen in Jerusalem und den Syrern, die die angeblich friedliebenden und unschuldigen Juden in den Städten Iudaeas zum Aufstand reizen und in den Krieg treiben.

226 Ios.vita 42 durch Angriff der Juden unter der Führung von Iustos von Tiberias (s.u.)227 An der Westgrenze Galilaeas am Karmel ( Josephus, Michel/Bauernfeind, Bd. 1, S. 448, Anm. 205)228 Nach Schürer, Gesch.d.jüd.Volkes, Bd. 2, Leipzig 1907, S. 115 Gaza nur oberflächlich zerstört.229 Aus weiteren Städten, in denen jüdische Gemeinden existierten, sind keine Greuel bekannt gewor-

den, aber dennoch nicht auszuschließen: etwa in Azotos, Iamnia.

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Sie schleiften die Mauern, um sie unbrauchbar zu machen. Und mit der römischen Kampf-truppe in Machairos in der Peraea, die keine Aussicht hatte, standzuhalten, vereinbarten die jüdischen Rebellen freien Abzug und legten sodann eine Besatzung hinein.230

Durch diese Vorgänge hob in der Provinz und angrenzenden Gebieten ein allgemeines Morden und Rauben an. Die Syrer und Hellenisten in den Städten und auf dem Lande gingen gegen die Juden vor und zwar diesmal weniger aus Haß als aus Furcht vor ihnen. Auch als man sie umgebracht und ihre Habe geplündert hatte, verblieb die Angst vor der Rache ihrer nichtjüdischen Anhänger. Die Hetzjagd führte dazu, daß sogar unbescholtene und neutrale Leute, von Raubgier ergriffen, den Besitz politischer Gegner sich aneigneten. In den Straßen der Städte lagen Mengen von unbestatteten Leichen jeden Alters und Ge-schlechts und die Frauen waren zum Teil geschändet worden.231

Durch dieses Morden und Plündern kam der ortsweise unterschiedlich ausgeprägte wechselseitige und lang unterdrückte Haß zum Ausdruck, nachdem er schon zuvor die ei-fernden Sekten der Juden gegen ihre gemäßigten Volksgenossen ergriffen hatte.232

Während so allerwärts Juden und Nichtjuden einander die grausamsten Behandlungen zukommen ließen, machten die Juden in Skythopolis in der Dekapolis den Versuch, mit den übrigen Einwohnern der Stadt sich gegen ihre mordlüsternen Volksgenossen zu verbünden. Sie wollten sich von vornherein die Nichtjuden zu Partnern der Sicherheit machen, weil sie, wie sie meinten, durch das Treiben der rebellischen Juden mehr Schaden zu gewärtigen hätten. Doch ihre Bereitschaft erregte allzu sehr Verdacht und man traute ihnen nicht, weil man sie für fähig hielt, nächtens die Stadt unter ihre Herrschaft zu bringen und sodann ihren Landsleuten auszuliefern um schadlos zu bleiben. So schlug man ihnen vor, zunächst draußen im städtischen Wald mitsamt den Familien und ihrer Habe zur Erprobung ihrer Treue Aufenthalt zu nehmen. Und die Juden taten, wie ihnen gesagt war.233 Nachdem sie zwei Tage lang ohne Wachposten ausgeharrt hatten, kamen in der dritten Nacht die übrigen Bewohner der Stadt bewaffnet herbei, metzelten alle Juden nieder, angeblich 13.000, und rissen die gesamte Habe der Toten an sich.234 Nach einer anderen Fassung des Geschehens hatten die Juden zunächst geholfen, ihre rebellischen Volksgenossen abzuwehren, wurden sodann von den Skythopoliten in den Wald gelockt und dort ums Leben gebracht.235

Nach dem Vorgang in Skythopolis begannen auch in vielen anderen syrischen Städten der Dekapolis Judenverfolgungen, etwa in Hippos und Gadara als Rache für den Angriff der Tiberienser (s.u.). In Askalon kamen 2500, in Ptolemais 2000 Juden ums Leben. Wo sie nicht ums Leben gebracht wurden, warf man die Juden in großen Scharen in die Ge-fängnisse. In Gerasa (Dscherasch in der Dekapolis) dagegen unterblieb trotz der jüdischen

230 Ios.bell.Iud.2.457–460; 484–486231 Ebd. 2.461–465; vita 24232 Krieger, Josephus, S. 242–44 weist zu recht auf die Tendenz in der Darstellung des Iosephus hin,

die Juden in den genannten Städten seien mittelbar auch Opfer des göttlichen Strafgerichts für die durch die Jerusalemer Aufständischen begangenen Freveltaten. Überhaupt scheint Iosephus das Aufstandspotential in jenen Städten (ausgenommen Alexandria) herabzumindern.

233 Ob währenddessen schon die Scharen der bewaffneten Juden heranrückten, wird nicht gemeldet.234 Ios.bell.Iud.2.466–468; kürzer vita 26. Siehe ferner die Geschichte des Simon, Sohn des Saulus (Ios.

bell.Iud.2.469–476) – es fand also ein Kampf statt, aber wann, wird nicht gemeldet.235 Ios.vita 26

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Angriffe von außerhalb eine Verfolgung der jüdischen Mitbürger durch die nichtjüdischen Stadtbewohner.236 Man stellte es vielmehr in ihr Belieben, zu bleiben oder die Stadt zu verlassen. Diejenigen, die auswandern wollten, erhielten das Geleit bis an die Grenze des Gemeindegebiets. Ebenso in Antiochia, Sidon und Apameia. Dort unternahm man keine Verfolgung und untersagte dies auch – vielleicht infolge der liberaleren Einstellung der Be-völkerung, des allgemeinen Ansehens der Juden und weil sie nicht den Anschein erweck-ten, rebellieren zu wollen.237

279. Verfolgungen im Herrschaftsgebiet König Herodes Agrippas II. – Der Verweser Noaros (Varus)

Auch im Herrschaftsgebiet Agrippas II. kam es zu Verfolgungen der Juden und zwar im Zusammenwirken mit Syrern. Der König war zu Cestius Gallus nach Antiochia238 gereist und hatte einen Verwandten des Sohaimos namens Noaros239 – ebenfalls ein Jude240 – als Verweser in Kaisareia Philippi zurückgelassen. Möglicherweise war es auch eine Flucht vor der um sich greifenden Aufstandsbewegung der Juden, die Agrippa aus dem Lande trieb. Die Lage in der Hauptstadt bleibt ungewiß. Noaros aber schien ein Doppelspiel zu betreiben. Angeblich rief er die reichen babylonischen Juden aus der Batanaea zu sich und ließ 70 der vornehmsten Männer ums Leben bringen und berauben. Die Einzelhei-ten dieser Greuel bleiben unklar. Möglicherweise hatte Noaros tatsächlich von Agrippa den Auftrag erhalten, unruhige jüdische Gruppen und Aufständische zu bekämpfen. Er überschritt jedoch seine Befugnisse und sann auf Bereicherung und Raub.241 Auch die Tatsachen werden von Iosephus unterschiedlich berichtet. Nach dem älteren Bericht im Jüdischen Krieg hätten sich die Juden der Batanaea eine Schutztruppe gegen Aufruhr (ihrer Landsleute?) und gegen Übergriffe erbeten. Sie wurden hingehalten und sodann in der Nacht auf Noaros’ Befehl allesamt getötet und anschließend beraubt. Nach der jüngeren Fassung in der vita242 forderte Noaros durch die zwölf vornehmsten Juden von Kaisareia Philippi die batanaeischen Juden auf, zu ihm zu kommen, um sich gegen Vor-würfe zu verteidigen. Auf ihrem Wege geschah das Massaker und daran schloß sich eine große Verfolgung an. Gewarnt, flohen Hunderte ohne ihre Habe in die Festungsstadt Gamala, die der Teilung der Befehlsbezirke gemäß eigentlich dem Befehl des Iosephus unterstehen sollte (s. dazu unten).243

236 Schürer, Gesch.d.jüd.Volkes, Bd. 2, S. 180237 Ios.bell.Iud.2.477–480238 Ios.vita 49 hat fälschlich Berytos. Der Sitz des syrischen Statthalters war Antiochia.239 In der vita Varos genannt. Zur Abstammung Josephus, Michel/Bauernfeind, Bd. 1, S. 448, Anm.

209240 Ios.vita 52241 Der Bericht bell.Iud. spricht von Noaros’ Geldgier242 Ios.vita 54ff.243 Ebd. 49–58

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280. Unruhen und Verfolgungen in Alexandria

Während dies in Syrien, in Iudaea und den angrenzenden Gebieten so vor sich ging, brei-tete sich die zwischen Juden und Nichtjuden bestehende Unruhe nach Alexandria aus, wo eine große jüdische Gemeinde lebte. Aus Anlaß einer Versammlung der alexandrinischen Bürger im Amphitheater, die dem Zweck diente, in einer unbekannten Angelegenheit an Nero eine Gesandtschaft abzusenden, kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen. Unter die Teilnehmer hatten sich widerrechtlich etliche Juden gemischt und sowie man dies be-merkte, wurden sie angefeindet und angegriffen. Die Provokationen gingen hier also von den Juden aus. Während sich die meisten zur Flucht wandten, ergriff man drei jüdische Männer und verbrannte sie kurzerhand bei lebendigem Leibe. Das war der Ausgangspunkt gewaltiger Unruhen mit Tausenden von Toten. Zunächst mit Steinwürfen, dann mit Feuer gingen die erzürnten Juden gegen ihre Feinde vor. Kurzzeitig konnte der Statthalter Tibe-rius Iulius Alexander mit Hilfe vornehmer (jüdischer?) Bürger dem Treiben Einhalt gebie-ten – allein, als man dem Versuch einer Befriedung mit Hohn begegnete, mußte er bald einsehen, daß ohne Einsatz bewaffneter Kräfte die Gewalt nicht beendet werden konnte. So ließ er die zwei römischen Legionen, die in der Stadt lagerten, sowie die 2000 Soldaten, die gerade aus Libyen eingetroffen waren, gegen die jüdischen Aufständischen in Bewe-gung setzen. Es ging nicht mehr nur um das Brechen von Widerstand; den Soldaten war vielmehr alles erlaubt – von Mord über Plünderung bis zur Zerstörung. Dabei wurden sie vielleicht vom Stadtvolk unterstützt, obwohl dies nicht ausdrücklich berichtet wird. Die Juden lebten überwiegend im Stadtteil genannt Delta (Δ). Anfangs fiel es den römischen Truppen unter empfindlichen Verlusten schwer, vorzudringen, weil die Juden die fähigsten und am besten bewaffneten Kämpfer in den vorderen Linien aufgestellt hatten. Nachdem aber ihre Kampfkraft gebrochen war, durchkämmte man das gesamte Judenviertel, machte nieder, wen man aufgriff, raubte, was man erlangen konnte und steckte sodann die Häuser in Brand. 50.000 Juden sollen dabei umgekommen sein und nur wenige entkamen durch Bittflehen dem Untergang, nachdem der Praefect dem Kampf Einhalt geboten hatte.244

Eingreifen der römischen Truppen in Iudaea unter dem Statthalter Cestius Gallus und die Folgen

281. Eroberung des Küstengebiets

Während das Morden in Iudaea so fortging, trat die Eskalation in ein neues Stadium ein. Im Rat des Statthalters Cestius Gallus wurde der Entschluß gefaßt, in das Geschehen einzu-greifen. Doch auch hier, wie anderwärts, benennt Iosephus die Motive nicht genau, bezie-hungsweise falsch. Nicht die Vorgänge in Jerusalem oder die Tötung der Cohortensoldaten werden angegeben, sondern er erweckt den falschen Eindruck, als habe Cestius allein aus Sympathie für die Syrer gegen die harmlosen und wehrlosen Juden vorgehen wollen.245 Der Legat ließ die XII. Legion Fulminata in Antiochia marschbereit machen. Dazu nahm er

244 Ios.bell.Iud.2.487–498245 Krieger, Josephus, S. 246f.

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von den beiden übrigen Legionen jeweils die besten 2000 Mann, sechs Cohorten Fußtrup-pen und vier Abteilungen Reiterei. Ergänzt wurden diese durch Hilfstruppen: 2000 Reiter und 3000 Fußsoldaten aus Antiochia, weniger als 2000 Reiter und ebenfalls 3000 Fuß-kämpfer von Agrippa II. und 4000 Mann von Sohaimos, von denen etliche Bogenschützen waren. Von verschiedenen Städten waren auch Bürgermilizen oder Räuber gekommen, die alle der Haß auf die Juden einte (insgesamt etwa 30.000 Mann). Agrippa II. selbst war anwesend, um Cestius hinsichtlich des Feldzugsverlaufs zu beraten und die Versorgung des Heeres zu übernehmen.

Im September 66246 rückte zunächst die Truppenmacht in die Stadt Ptolemais ein. In der Nähe lag die Stadt Chabulon (Kabul), deren Einwohner geflohen waren. Die Schön-heit von Chabulon wird mit der von Tyros, Sidon und Berytos verglichen. Dennoch wurde die Stadt von Cestius zur Plünderung freigegeben und sodann vollständig zerstört. Den umliegenden Dörfern erging es ebenso. Während Cestius mit den ordentlichen Truppen bereits nach Ptolemais zurückkehrte, streiften Milizen aus Syrien, besonders Berytos, ge-trieben durch ihre Gier nach weiterer Beute umher, wurden jedoch von den Juden überfal-len, wobei 2000 Leute umkamen.247

Von Ptolemais zog das Heer nun nach Kaisareia. Durch einen Teil der Truppen, die Cestius voraus geschickt hatte, wurde im Handstreich von Land und Meer aus Joppe, eine überwiegend jüdische Stadt,248 eingenommen, ohne daß die Bewohner Zeit zur Flucht hat-ten. Sie wurde geplündert und in Brand gesteckt; 8400 Einwohner kamen um. Und eine größere Abteilung Reiter ließ Cestius ins Gebiet von Narbata einfallen, dort jeden umbrin-gen, den man erwischte, plündern und alles durch Feuer zerstören.249

Nach Galilaea entsandte Cestius den Befehlshaber der XII. Legion Caesennius Gal-lus mit einer ausreichend erscheinenden Abteilung. Die am stärksten befestigte Stadt Sep-phoris war und blieb romtreu (s. dazu u.) und empfing die römischen Truppen mit Jubel. Diesem Beispiel folgten andere galilaeische Orte. Die radikalen Juden und die jüdischen Räuber hatten sich indes in ein nahes Gebirge mit Namen Asamon zurückgezogen. Dort erwarteten sie die römischen Kämpfer und waren anfangs überlegen, weil sie von erhöhter und sicherer Stellung aus verteidigten. Dabei erlitten die Römer empfindliche Verluste von etwa 200 Männern. Sobald aber die Gegner durch Umwege noch höhere Stellen erreichen konnten, brach der Widerstand der Rebellen zusammen. Weil sie mit ihren leichten Waffen den Schwerbewaffneten unterlegen waren und bei der Flucht auch auf die Reiter trafen, kamen die meisten von ihnen, insgesamt etwa 2000 Mann, um.250

282. Vordringen gegen Jerusalem – Letzte Friedensgesandtschaft Agrippas II.

Nachdem Caesennius Gallus mit den Truppen wieder in Kaisareia eingetroffen war, unter-nahm Cestius mit dem gesamten Heer den Feldzug ins eigentliche Iudaea. Über Antipatris

246 CAH 2nd Ed., S. 755 (Goodman)247 Ios.bell.Iud.2.499–506248 Schürer, Gesch.d.jüd.Volkes, Bd. 2, S. 131249 Ios.bell.Iud.2.507–509250 Ebd. 2.510–512

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kam man zu einem Befestigungsturm namens Aphete,251 der, wie man erfuhr, von einer gro-ßen jüdischen Abteilung besetzt war. Aber nicht im gleichen Verhältnis dazu stand ihr Mut und ihre Standhaftigkeit, war sie doch auf die Nachricht vom Anrücken der Römer bereits geflohen. Die Festung wurde zerstört. Sodann kam man im Oktober 66252 nach Lydda,253 doch war die Stadt verlassen, weil die meisten Einwohner am gerade stattfindenden Laub-hüttenfest in Jerusalem teilnahmen. Die 50 zurückgeblieben Leute wurden aus ihren Ver-stecken gezerrt, umgebracht und Lydda eingeäschert. Über Bethoron kam das Heer nach Gabao (alttest. Gibeon, Ed-Dschib) und lagerte jetzt etwa 10 Kilometer nördlich von Jeru-salem.254

Sowie die Bewohner und Festgäste Jerusalems sodann vom Herannahen des römischen Heeres erfuhren, unterbrachen sie das Laubhüttenfest, griffen zu den Waffen und stürmten im Vertrauen auf ihre Stärke gegen die Feinde vor, indem sie dabei auch vergaßen, daß es Sabbattag war. Mit solchem Ungestüm, in Unordnung und mit lautem Geschrei prallten sie derart auf die römische Front, daß sie diese zerrissen, und wäre nicht noch rechtzeitig die Reiterei zur Unterstützung der schon wankenden Fußkämpfer eingeschwenkt, so hätte sich das römische Heer in einer sehr schwierigen Lage befunden. Die Römer hatten an die-sem Tage 515 Mann verloren, die Juden 22. Tapfer hatten sich die Verwandten des Königs Monobazos von Adiabene geschlagen, nämlich Monobazos und Kenedaios, des weiteren Niger von Peraea und Silas von Babylon, der aus dem Heer König Agrippas II. zu den auf-ständischen Juden übergegangen war. Während die zurückgeschlagenen Juden nach Jeru-salem zurückkehrten, faßte der Befehlshaber Simon, Sohn des Giora mit seiner Truppe den Entschluß, den nach Bethoron abmarschierenden Römern aufzulauern. Während diese offensichtlich ohne Kundschafter den beschwerlichen Anstieg begannen, überfielen die Ju-den unvermutet die römischen Truppen, nahmen große Teile des Trosses und der Lasttiere hinweg und verfolgten sie bis nach Bethoron (Oktober).255 Dort blieben sie noch drei Tage und gaben dadurch den Juden Gelegenheit, die Anhöhen und Marschwege zu besetzen für den Fall, daß sie wieder fortziehen wollten.256

In dieser Lage machte Herodes Agrippa, der sich im römischen Heer befand, durch eine Gesandtschaft zweier in Iudaea bekannter Persönlichkeiten aus seiner Umgebung namens Borkios und Phoibos den Versuch, den Krieg im letzten noch möglichen Augenblick zu beenden.257 Er verfolgte damit die Absicht, wenn schon die Rebellen vom Frieden nichts wissen wollten, wenigstens den friedensgesinnten Teil der Juden zum Abfall zu bewegen. So wurde vielleicht vor den Mauern Jerusalems (?) im Namen von Cestius vertraglich Straf-losigkeit für die begangenen Taten zugesagt, wenn alle die Waffen abgäben und sich fortan friedlich verhielten. Sowie der Anführer der Aufständischen und ihre Mitstreiter von der

251 Zur Lage von Antipatris (Aufenthalt des Paulus nach Apg.23.31) und Aphete Josephus, Michel/Bauernfeind, Bd. 1, S. 449, Anm. 219f.

252 Schürer, Gesch. d. jüd.Volkes, Bd. 1, S. 604253 Zur Lage Josephus, Michel/Bauernfeind, Bd. 1, S. 449, Anm. 221254 Ios.bell.Iud.2.513–516. Zur Lage Josephus, Michel/Bauernfeind, Bd. 1, S. 449, Anm. 223255 CAH 2nd Ed., S. 755 (Goodman)256 Ios.bell.Iud.2.517–522257 Die Einzelheiten, etwa von wo aus Agrippa die Gesandtschaft schickte, wo sie ihre Botschaft ver-

kündete, und anderes mehr sind unbekannt.

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Gesandtschaft erfuhren, überfielen und töteten sie Phoibos, während sich Borkios verwun-det durch Flucht retten konnte. Die Teile des Volkes, die sich über dieses Verhalten erregten, wurden durch Steinwürfe und Stockschläge zur Ruhe gebracht und zurück getrieben.258

283. Cestius Gallus in Jerusalem – Rückzug und römische Niederlage Oktober/November 66 bei Bethoron

Trotz der großen Gefahr, die von den auf den Höhen lagernden jüdischen Kämpfern ausging, sammelte Cestius seine gesamte Streitmacht, durchbrach in einem plötzlichen Ansturm die feindlichen Linien und ließ die Fliehenden bis vor Jerusalem verfolgen. Dann machte er bei der Örtlichkeit namens Skopos, etwa 1,5 Kilometer vor der Stadt, halt und ließ ein Lager auf-schlagen. Drei Tage beschäftigte er die Truppen mit der Plünderung umliegender Dörfer und Felder. Am vierten Tage ließ Cestius das Heer in Schlachtordnung aufmarschieren und gegen Jerusalem führen. Während Teile der Rebellen mit der Beaufsichtigung der unentschlossenen Bewohner beschäftigt waren, ergriff alle Übrigen der Schrecken bei dem Anblick des geord-neten Angriffs des römischen Heeres. Die Aufrührer gaben also die Vorstadt Bezetha auf und zogen sich in das befestigte Tempelgebiet zurück. Die Römer nahmen die Vorstadt ein und steckten diese und den Stadtteil, genannt „Holzmarkt“, in Brand. Sodann ließ Cestius das Lager vor dem Königspalast (des Herodes?) aufschlagen.259

Währenddessen hatten die vornehmen Juden auf Zureden des Ananos, Sohn des Jona-than, heimlich eine Abordnung zu Cestius geschickt, die ihn zur energischen Fortsetzung der Eroberungsbemühungen aufforderte und anbot, die Tore zur inneren Stadt zu öffnen. Doch Cestius traute dem Anerbieten nicht. Bald darauf kam das Ansinnen der vornehmen Juden ans Tageslicht und die Aufständischen ergriffen etliche von ihnen und stürzten sie von der Mauer in die Tiefe oder gingen mit Steinen gegen sie vor. Darauf wogte fünf Tage lang ein Kampf an der Mauer hin und her, wobei die Römer von allen Seiten beschossen wurden. Am sechsten Tage versuchte Cestius mit einer Eliteabteilung und den Bogenschüt-zen einen Ansturm auf die nördliche Mauer des Tempels. Lange Zeit gelang es den Juden die wiederholten Angriffswellen von den Dächern der Säulenhalle aus zurückzuschlagen, bis sie dem ständig zunehmenden Hagel der Pfeile weichen mußten. Jetzt bildeten die römi-schen Soldaten aus ihren Schilden ein Wehrdach, genannt Schildkröte, unter dessen Schutz sie den Versuch machten, die Mauer zu unterhöhlen und das nördliche Tempeltor in Brand zu setzen. Dies versetzte den Aufständischen einen furchtbaren Schrecken. Etliche von ih-nen begannen angeblich aus der Stadt zu entfliehen, während die friedensgesinnten Leute Cestius die Tore geöffnet haben sollen. Tatsache aber ist, daß Cestius aus nicht genannten Gründen schon bald den Kampf abbrach und beschloß, sich aus Jerusalem zurückzuziehen

258 Ios.bell.Iud.2.523–526259 Ebd. 2.527–532; ferner 5.302. Nach Iosephus‘ Ansicht hätte bei einem energischen Eindringen der

Römer die Stadt sofort eingenommen werden können und der Krieg wäre beendet gewesen, doch bleibt diese Beurteilung sehr zweifelhaft. Angeblich habe der von Florus bestochene Lagerpraefect Tyrannius Priscus mit seinen Reiterführern Cestius davon abgehalten. Das alles scheint eher eine Erfindung des Iosephus zu sein (Krieger, Josephus, S. 248f.) die auch Cestius und seine Offiziere belasten soll. Daß Cestius vielleicht schlecht beraten und nicht fähig genug war, kann man indes getrost annehmen.

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und das Lager auf dem Skopos aufzusuchen. Vielleicht war es kluge Vorsicht, entweder weil die Regenzeit einsetzte oder das Land voller Feinde war.260 Möglicherweise aber bemerkte Cestius, daß es große Schwierigkeiten beim Nachschub gab261 und seine Truppen der Übermacht der umherschwärmenden Feinde auf Dauer nicht gewachsen sein würden.262 In jedem Fall scheint hier eine Klitterung des Geschehens durch Iosephus vorzuliegen, in der Absicht, Cestius eine Mitschuld an dem nachfolgenden Ringen und Chaos zu geben. Wahrscheinlicher ist es, daß die römischen Erfolge um und in Jerusalem so bedeutend doch nicht waren, wie er behauptet.

Beim Rückzug erlitt die römische Nachhut, die von den wieder ermutigten Rebellen angegriffen wurde, empfindliche Verluste. Am folgenden Tag brach das Heer in Richtung auf Gabao auf. Erneut wurde der hintere Teil des Zuges von den leicht bewaffneten Juden angegriffen. Eine wirkungsvolle Abwehr war infolge der Behinderung durch Gepäck nicht möglich. Es gab hohe Verluste auf römischer Seite und ein großer Teil des Trosses geriet in die feindlichen Hände. Unter anderen fielen der Befehlshaber der VI. Legion Priscus, der Reiterführer Longinus und der Reiteroberst Aemilius Iucundus. Schließlich kam man mit letzter Not zum alten Lager in Gabao. Dort ließ Cestius das Heer zwei Tage ruhen, bemerkte aber währenddessen, daß sich die Zahl der Feinde durch Zuzug rasch vermehrte und beschloß am dritten Tage nach Bethoron weiter zu ziehen.263

Um die Behinderung durch alles Überflüssige zu vermeiden, ließ Cestius Esel und Maul-tiere töten und behielt nur so viele Lasttiere, wie für das Mittragen der Waffen, Rüstung und Kriegsgeräte notwendig war, weil man dies nicht in die Hände der Juden fallen lassen wollte. Solange der Zug durch die Ebene seinen Weg nahm, konnten die jüdischen Angrei-fer ferngehalten werden. Als aber der Marsch hinunter nach Bethoron in eine Schlucht un-vermeidlich war, geriet das Heer des Cestius in große Gefahr. Berittene jüdische Kämpfer waren voraus geeilt und hatten vor dem Heer die Enge gesperrt. Andere griffen die Nach-hut an. Das Heer befand sich auf einer talwärts in die Schlucht führenden Straße, auf deren einer Seite die Abhänge immer steiler wurden; auf der anderen Seite der Straße befand sich ein Steilabfall in die Tiefe. Von den Höhen bestrichen die Juden den Heereszug mit Geschoßhagel, gegen den nur Schilde oder andere Abwehrmittel halfen. Gegenunterneh-mungen waren aussichtslos, weil das Fußvolk infolge seiner Einschüchterung kampfunfähig war und die römischen Reiter für einen Angriff die Steilhänge nicht hinauf reiten konnten. Wäre nicht alsbald die Nacht hereingebrochen, in deren Schutz die meisten Römer irgend-wie nach Bethoron gelangten, so wäre das Heer untergegangen.264

Dort angekommen, faßte Cestius noch in der Dunkelheit folgenden Plan: Er ließ 400 der tapfersten Kämpfer beständig durch Zurufen von Parolen und anderes den Anschein

260 Graetz, Gesch. d. Juden., Bd. 3,2, S. 468261 CAH 2nd Ed., S. 755 (Goodman)262 Schürer, Gesch.d. jüd. Volkes, Bd. 1, S. 605; nach Schiller, Nero, S. 223 ist durch die erfolglose Be-

lagerung die Stimmung in Jerusalem auch für die Römer immer bedrohlicher geworden. Weiteres Krieger, Josephus, S. 251f.

263 Ios.bell.Iud.2.533–545264 Ebd. 2.546–550. Wie es den Römern gelang, die Sperre der Schlucht gegen den Weiterzug zu

durchbrechen, wird nicht berichtet. Zum Gelände Josephus, Michel/Bauernfeind, Bd. 1, S. 450, Anm. 233

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von Lagerleben erwecken, während er mit den übrigen Einheiten in aller Vorsicht die Flucht ergriff. Erst im Morgengrauen bemerkten die Juden, daß sie getäuscht worden wa-ren. Die 400 römischen Soldaten wurden niedergemacht. Die übrigen Juden nahmen die Verfolgung auf, doch das römische Heer hatte bereits etwa 6 Kilometer Vorsprung und war zu weit abgerückt. Cestius hatte zudem die Marschgeschwindigkeit noch erhöht, und infolge der dadurch verursachten Panik blieb das gesamte Belagerungsgerät und der größte Teil von Rüstung und Kriegsmaterial zurück, das den Juden in die Hände fiel. Das römi-sche Herr war zwischenzeitlich bis Antipatris gekommen, wo die Juden noch die Nachhut erreichten, aber nicht weiter vorzudringen wagten. So plünderten sie die Leichen, nahmen das erbeutete Kriegsgerät an sich und näherten sich im Siegeszug Jerusalem. In dem Kampf sollen 5.300 Soldaten und 480 Reiter auf römischer Seite gefallen sein. Ob der Adler der XII. Legion in die Hände der Aufständischen fiel, ist fraglich.265 Diese Ereignisse fielen in den November 66.266

284. Folgen der Niederlage – Gesandtschaft an Nero in Griechenland (Nov. /Dez. ? 66) – Zur Kriegsschuldfrage und allgemeine Tendenz der Berichte – Massenmord an den Juden in Damaskos

Die Niederlage des Cestius Gallus hatte weniger die Kraft des gering organisierten jüdi-schen Kampfes als vielmehr den Zustand der syrischen Legionen unter einer überforder-ten militärischen Führung offenbart.267 Jetzt verließen etliche vornehme oder angesehene und romtreue Juden Jerusalem und gingen zu Cestius Gallus nach Antiochia, unter ihnen die Brüder Saulus und Kostobar.268 Antipas blieb im Königspalast und sollte später darin umkommen. In Antiochia bat Saulus den Cestius, eine Gesandtschaft zu Nero nach Grie-chenland anführen zu dürfen. Cestius gestattete dies, und man machte sich dorthin auf den Weg, um Nero über die Lage zu benachrichtigen. Davon versprach sich auch Cestius, der zweifellos einen eigenen Bericht an den Kaiserhof absandte, eine Entlastung.269

Iosephus hat die Schuld am Kriegausbruch den Amtsträgern der neronischen Zeit und mittelbar auch dem Kaiser zugeschoben und dies mit einer Entlastung der jüdischen

265 Eine Behauptung Suetons Vesp.4.5; Iosephus erwähnt davon nichts. Vielleicht war es Scheu, die Demütigung der Römer bloßzustellen. Andererseits hätte er Vespasian und Titus, seine Gönner, als die Wiederhersteller der römischen Waffenehre im besten Licht darstellen können.

266 Ios.bell.Iud.2.551–555. Oktober/November: Josephus, Michel/Bauernfeind, Bd. 1, S. 450, Anm. 236. November 66: CAH 1st Ed., S. 856 (Stevenson/Momigliano); Schäfer, Gesch. d. Juden, S. 136. Zur Datierung bei Iosephus Schürer, Gesch.d. jüd. Volkes, Bd. 1, S. 605, Anm. 16; Tac.hist.5.10.1 faßt das gesamte Geschehen richtig zusammen, indem er von unentschiedenen, öfter aber unglück-lichen Kämpfen des Cestius spricht. Weiteres zu den religiösen Implikationen auf beiden Seiten Krieger, Josephus, S. 252f.

267 So etwa die zutreffende Anschauung von den Ereignisses am Kaiserhof in Griechenland (Ios.bell.Iud.3.2).

268 Zu Philippos s.u. und die Darstellung zum Jahre 67269 Ios.bell.Iud.2.556–558. Daß Florus von Juden umgebracht worden ist, wie Suet.Vesp.4.5 behauptet,

trifft nicht zu.

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66 nach Christus | 361

Mehrheitsbevölkerung von dem Schuldvorwurf verbunden.270 Das trifft jedoch so nicht zu. Auch jüdische Gruppen haben in nicht unerheblichem Maß mit ihren Provokationen zum Kriegsausbruch beigetragen. Daß Florus örtlich begrenzte Unruhen in Iudaea viel-leicht nicht ungelegen kamen, um eigene Korruption oder Versagen zu decken, ist nicht unwahrscheinlich. Unglaubwürdig und verleumderisch aber ist die Behauptung, er habe bewußt auf den Ausbruch des Krieges hingearbeitet. Damit hätte er seine Stellung auch gegenüber dem Kaiserhof gefährdet. Ohnedies verloren er und Cestius durch die Nie-derlage ihre Posten. Florus verschwindet aus der Überlieferung. Cestius war wohl schwer krank und starb bald darauf. Auch er kommt in Iosephus’ Darstellung nicht gut weg, um eine „dunkle Folie“ (Krieger) zu bilden für das strahlende Auftreten Vespasians und mit ihm der neuen Dynastie. In diesen Zusammenhang fällt auch die nicht überzeugend be-gründete Entscheidung zum Rückzug der Römer aus Jerusalem, durch die Iosephus Ce-stius und sein Offizierskorps in eine schlechte Beleuchtung rückt. Cestius war, wie Stellen der vita belegen, auch nach der römischen Niederlage nicht so passiv, wie Iosephus ihn im Bellum erscheinen läßt (s. Darstellung zum Jahre 67). Dort erwähnt er nicht einmal dessen Tod, um den Verdacht zu vermeiden, lediglich Cestius’ Ableben habe zu Vespasians Ernennung geführt. All dies entspringt der apologetischen Tendenz und Parteilichkeit für das späterhin siegreiche Herrscherhaus der Flavier, unter dem die geschichtlichen Berichte des Iosephus entstanden sind.

Auf die Nachricht von der Niederlage kam es in Damaskos zum Massenmord an den Juden der Stadt. Man hatte sie schon eine geraume Zeit zuvor im Gymnasion eingesperrt. Jetzt wurden innerhalb einer Stunde angeblich 10.500 Juden getötet.271 Die Damascener führten alles so überraschend wie möglich durch, in Furcht vor der Aufregung der Frauen, die in Damaskos mehrheitlich als Gottesfürchtige dem jüdischen Glauben zuneigten.272

285. Neuordnungen in Jerusalem – Ernennung der Heerführer

Inzwischen kehrten auch die siegreichen jüdischen Kämpfer nach Jerusalem zurück. Ihr Erfolg ließ das Selbstgefühl der kriegsbegeisterten Juden und ihrer Führer mächtig anstei-gen. Es gelang ihnen dadurch etliche Römerfreunde auf ihre Seite zu ziehen. Auch in der Oberschicht gehörte es nun zum guten Ton, unabhängig von der inneren Einstellung sich gegen die römische Fremdherrschaft auszusprechen.273 Auch etliche geistliche Würden-träger, unter ihnen Iosephus, der Geschichtsschreiber, haben an der Aufstandsbewegung teilgenommen. Anders ist ihre spätere Ernennung zu Organisatoren des Widerstandes in den verschiedenen Landesteilen nicht erklärbar.274 Die Konzentration des Iosephus auf die

270 Krieger, Josephus, S. 279ff.271 Nach Ios.bell.Iud.7.368 18.000 Juden272 Ios.bell.Iud.2.559–561; vita 27273 Diese zwiespältige Haltung der neuen Führer verdeutlicht Iosephus in seiner Person vita 17–23.274 Dazu auch die quellenkritischen Ausführungen Krieger, Josephus, S. 273f.

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Ereignisse in Jerusalem verdeckt zudem die Tatsache, daß auch in Iudaea bereits Aufstands-bewegungen bestanden, so etwa im Landesteil Idumaea.275

Daß aber schon bald nach den ersten Erfolgen der Bewegung gemäßigtere Führer die Geschicke bestimmten, weist auf Veränderungen in Jerusalem hin, deren Hintergründe sich aus den Berichten nicht mehr ermitteln lassen.276 Es sind die Mitglieder der oberen Stände, die die Verteidigung jetzt leiten (die „gemäßigten Zeloten“).277 Diese Tatsache belegt, daß sie und nicht die extremen Römerfeinde der ersten Bewegung die Führer und Vertreter der Volksmeinung waren. Wahrscheinlich war den Priestern und ihren Anhängern noch immer eine Autorität eigen, die die Mehrheit des Volkes nicht missen wollte. Da versam-melten sich der Hohe Rat (Synhedrion) und dessen Führer im Tempelbezirk. Das Synhe-drion übernahm wieder voll und ganz seine ursprünglichen Aufgaben einschließlich der Kapitalgerichtsbarkeit und stand unter dem besonnenen Vorsitzenden Simon, Sohn des Gamaliel.278 Er war kein Zelot, und dennoch Befürworter der Erhebung gegen Rom. Im Synhedrion solidarisierten sich sadduzäische und pharisäische Führer.279 Das Problem aber bildeten heimliche Römerfreunde und die unentschiedenen Mitglieder des Priesteradels, die in die nicht selten von der gerade gegenwärtigen Volksstimmung abhängigen Bera-tungen immer wieder sachfremde Bedenken hinein trugen, und so manches Mal unver-ständliche Beschlüsse herbei führten oder tatkräftige Beschlüsse verhinderten.280 In einer Versammlung (des Volkes?) wurden die Befehlshaber (Hengel nennt sie „Gesandte“) für den bevorstehenden Krieg ernannt, unter denen auch frühere Römerfreunde waren. Für die Stadt Jerusalem bestimmte sie Joseph, den Sohn des Gorion und den Hohepriester Ananos, Sohn des Ananos.281 Unter ihrer Leitung sollten vor allem die Stadtmauern zur Abwehr wieder hergerichtet werden. Den einflußreichen Eleazar, Sohn des Simon, wollte man nicht mit einem Amt betrauen. Es war ihm gelungen, die den Römern abgenommene Beute, ihre Kriegskasse und erhebliche Summen an Staatsgeldern sich anzueignen. Aber man hatte

275 Ios.bell.Iud.2.566276 Hengel, Die Zeloten, S. 377277 Schäfer, Gesch.d.Juden, S. 137; Schürer, Gesch.d. jüd. Volkes, Bd. 1, S. 606278 Graetz, Gesch.d.Juden, Bd. 3,2, S. 471279 Simon, Sohn des Gamaliel, Ananaos, Sohn des Ananos und Joseph, Sohn des Gorion280 Graetz, Gesch.d.Juden, Bd. 3,2, S. 475281 Für die tendenziöse Berichterstattung des Iosephus bildet die Gestalt des Hohepriesters Ananos,

Sohn des Ananos, einen Hauptbeleg, worauf bereits Graetz, Gesch.d.Juden, Bd. 3,2, S. 514, Anm. 1 hingewiesen hat. In den „Altertümern“ (20.197ff ) schildert er ihn (zum Jahr 62?) als einen Sad-duzäer von aufbrausender und verwegener Wesensart, der distanziert und hart auftritt. Dies scheint zu dem bestechlichen Amtsträger in der vita 195f. zu passen (s.u.). Im Bellum 4.151 widerspricht er sich selbst und darüber hinaus den bereits genannten Stellen, indem er ihn dort einen besonnenen Mann nennt, der die Stadt vielleicht hätte retten können. Gleichzeitig schildert er ihn als das Haupt derjenigen, die zum Bürgerkrieg aufrufen. Dies geschieht dort und besonders durch den Nachruf bell.Iud.4.319–325 in der Absicht, einen Kontrast zu den „Zeloten“ zu schaffen, denen Iosephus die alleinige Schuld am Bürgerkrieg in Jerusalem zuschiebt. Auch bell.Iud 4.160 nennt er die prie-sterlichen Wortführer des Bürgerkriegs „die ausgezeichnetsten der Hohepriester“ (δοκιμότατοι τών αρχιερέων). Dazu die Darstellung zum Jahr 68 und weiteres Krieger, Josephus, S. 270f., 293f., der nachweist, daß Ananos stets zur antirömischen Partei gehört hat und nie ein Vertreter friedensge-sinnter Gruppen gewesen ist.

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seine anmaßende und bestimmende Art mit Mißfallen bemerkt und war abgestoßen auch von seinen eifernden Anhängern (von Iosephus Zeloten genannt), mit denen er sich wie mit einer Leibgarde umgab. Aber bald schon benötigte man seine Reichtümer und erlag auch seiner Demagogie, so daß er eine einflußreiche Stellung einnahm.282

In diesen Wochen und Monaten, aber auch später noch strömten der jüdischen Auf-standsbewegung zahlreiche Juden aus der Diaspora und auch aus dem Partherreich jenseits des Euphrat zu. Außer durch die Menschen erhielt Iudaea auch große materielle Unterstüt-zung aus verschiedenen Teilen des Reiches.283

Draußen im Lande wurde Idumaea dem Jesus, Sohn des Sapphas und Eleazar, Sohn des Hohepriesters Neos284 unterstellt; Niger aus Peraea mußte sich ihnen unterordnen. Eleazar, einen der ersten Führer der Erhebung, entfernte man so aus Jerusalem; die Hintergründe dieser Entscheidung lassen sich nicht mehr aufhellen; aus der Geschichte des Krieges ist er fortan verschwunden. Joseph, der Sohn des Simon befahl in Jericho, Manasses in der Peraea, dem Essener Johannes wurden die Orte Thamna (Thimnat-Serah), Lydda, Joppe und Emmaus unterstellt, südlich davon Gophna und Akrabatta dem Johannes, Sohn des Ananias. Einige der sonst so friedliebenden, asketischen und scheuen Essener schlossen sich an285 und auch die auf Abstand bedachten Samariter begruben bald ihre Absonderung von den übrigen Juden286 und traten in den Kampf ein.

286. Erste Jüdische Niederlagen bei Askalon (Dezember 66/Januar 67?)

Der jüngste Sieg über die römischen Truppen hatte die Gemüter vieler Juden begeistert und machte sie auch übermütig. Mit entfesseltem Kampfesmut gingen sie als nächstes daran, die alte Feindstadt Askalon anzugreifen. Die Unternehmung wurde geleitet von Niger von Peraea, Silas von Babylon und Johannes dem Essener. Die Stadt war stark befestigt, wurde aber nur von einer römischen Reitercohorte unter Antonius verteidigt. In raschem An-sturm drangen die Juden, die nur über Fußvolk verfügten gegen die Stadt vor. Doch Anto-nius hatte bereits von ihrem Heraneilen erfahren und empfing sie trotz ihrer deutlichen Überzahl vor den Stadtmauern. Die Juden waren überwiegend schlecht bewaffnet, rückten, mehr getrieben von Leidenschaft als von Überlegung in ungeordnetem Sturmlauf heran, und die berittenen römischen Kämpfer hatten es nicht schwer, standzuhalten und sie abzu-wehren. Verschiedene Angriffswellen der Juden gerieten ins Gedränge und richteten unter-einander mehr Schaden an als ihre Feinde, bis sie schließlich, verfolgt von der Reiterei, über die weite Ebene bei Askalon hin in wilder Flucht auseinanderstoben. Während sie sich in Haufen wieder zu sammeln suchten und dadurch noch leichter von den Reitern eingekreist und getötet werden konnten, hatten die Römer nur leichte Verluste. 10.000 Juden kamen

282 Ios.bell.Iud.2.562–565; vita 24; Graetz, Gesch.d.Juden, Bd. 3,2, S. 474283 Cass.Dio 65.4.3 zum Jahre 70, aber sicher auch für die vorangehende Zeit gültig; die Erwartung der

Juden erwähnt Ios.bell.Iud.1.5.284 Krieger, Josephus, S. 252f.; dagegen Schürer, Gesch.d.jüd.Volkes, Bd. 1, S. 607 und Josephus, Mi-

chel/Bauernfeind, Bd. 1, S. 450, Anm. 240: Sohn des Ananias285 Ios.bell.Iud.2.152f.286 Ebd. 3.307ff.

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bei diesem Kampf elend ums Leben. Unter den Toten waren auch Silas von Babylon und der Essener Johannes. Die zersprengten Reste des jüdischen Heeres sammelten sich unter Niger in einem Städtchen der Landschaft Idumaea namens Chaallis.

Diese schwere Niederlage aber machte die Juden keineswegs mutlos. Bald darauf nahmen sie mit einem ähnlich großen Heere unter Führung Nigers abermals den Marsch Richtung Askalon auf, doch wurde auch dieses Vorhaben zu einer Katastrophe. Antonius hatte nämlich auch davon rechtzeitig erfahren und stellte ihnen eine Falle, in der 8000 Kämpfer ums Leben kamen. Niger konnte sich mit Streitern in ein Dorf namens Bezetha retten und besetzte dort einen Befestigungsturm. Die Römer setzten das Bauwerk in Brand und zogen ab. Noch bevor er in Lebensgefahr geraten konnte, sprang Niger in eine Höhlung hinunter und verbarg sich dort, wo er drei Tage später aufgefunden wurde, was man für ein Wunder hielt.287

Kriegsvorbereitungen in Iudaea, besonders in Galilaea unter Iosephus

287. Allgemeine Übersicht über Galilaea unter Iosephus

Die Übernahme der Bewegung durch gemäßigte Führer in Jerusalem hat im Land orts-weise unterschiedlich stark zu Irritationen und Mißtrauen unter den verschiedenen Befrei-ungsbewegungen geführt.288 Dies bildete den Nährboden für inneren Zwist in Iudaea und Iosephus hat durch seine Berichte davon ein Beispiel für das Gebiet von Galilaea und die angrenzenden Landschaften gegeben.289

Galilaea mit Gamala in der Gaulanitis wurde nämlich dem Iosephus, Sohn des Matthias, zugeteilt (ab November oder Dezember 66), dem Geschichtsschreiber, dem wir die Be-richte über den Jüdischen Krieg verdanken. Nur in seiner Lebensbeschreibung (vita) er-wähnt er seine zwei Begleiter, die ihm mitgegeben waren: die Priester Joazar und Judas. Wie zusammengestoppelt und unaufrichtig die Lebensbeschreibung ist, zeigt sich daran, daß Iosephus sie zunächst als Ehrenmänner einführt.290 Im späteren Verlauf der Erzählung erscheinen sie als unzuverlässig und bestechlich.291

In seiner Schilderung hat Iosephus die eigenen Leistungen und Erlebnisse in Galilaea be-sonders im Blick. Er hat die örtliche Verwaltung Persönlichkeiten von lokalem Einfluß über-tragen und einen Ältestenrat aus 70 erfahrenen Galilaeern gebildet, die seine Weisungen durch das Gewicht ihres Ansehens vermitteln sollten – vielleicht eine Art „Synhedrion“ von Galilaea.292 In jeder Stadt wurden sieben Richter für die kleineren Streitigkeiten ernannt. Am wichtigsten waren die Vorbereitungen für den Krieg. Verschiedene Siedlungen wurden befestigt, so Jotapata, Bersabe, Kapharecho, Japha, Sigoph, Tarichaea (El-Medschel), Tiberias

287 Ebd. 3.9–28288 Hengel, Die Zeloten, S. 378289 Ios.vita 28ff. Durch die Konzentration der Berichte auf Galilaea erfahren wir so gut wie nichts aus

den anderen Teilen Iudaeas.290 Ebd. 29291 Ebd. 63; 73292 Ebd. 79

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und Sepphoris; in Ober-Galilaea Sepph, Jamnith, Meroth, Akabaron/Akbaria und Selame. Tarichaea blieb währenddessen weitgehend auf Iosephus‘ Seite; anders das schwankende Ti-berias, wo der Stadtrat gelegentlich wechselte und der Rivale des Iosephus, Johannes von Gischala, eine große Anhängerschaft besaß (s.u.).293 Die größeren Bergfestungen waren Ita-byrion und Akabaron/Akbaria (Ober-Galilaea) und in der Nähe des Sees Genezareth gab es die Höhlen von Arbela, die Iosephus befestigen ließ. Die Gaulanitis gehörte zum Herr-schaftsgebiet Agrippas, war aber abgefallen und zu den römerfeindlichen Juden übergetre-ten. Dort ließ Iosephus die Orte Seleukeia, Sogane und Gamala sichern.294 Einzig die Städte Sepphoris und Gischala haben aus eigenen Mitteln ihre Befestigung durchgeführt (s.u.). Ein Heer von angeblich 100.000 jungen Leuten aus Galilaea hat Iosephus ebenfalls aufgestellt, doch bleiben die Einzelheiten dazu im Dunkeln.295 Die Versorgung des Heeres übernahmen die Städte. Das eigentliche Heer bestand nach Iosephus Angaben in Galilaea aus 60.000 Fußsoldaten und lediglich 350 Reitern. Daneben hatte er noch 4500 Söldner, die sehr gut geübt waren. Eine Leibwache von 600 Mann begleitete Iosephus. Durch verschiedene Maß-nahmen, strenge Disziplin nach römischer Art und wiederholte mahnende Ansprachen ver-suchte Iosephus die Kampfkraft seiner Truppen zu heben.296 Auch bezahlter Räuberbanden hat sich Iosephus bedient.297 Ihre Disziplin blieb naturgemäß zweifelhaft und ebenso der Nutzen. Die Maßnahme entsprang auch der Einsicht, daß ihre friedliche Entwaffnung nicht möglich sei. Iosephus‘ Versuch, die verschiedenen Gruppen von Freischärlern oder Banden von Räubern zu disziplinieren und sie für den nationalen Verteidigungskampf zu gewinnen, führte immerhin eine Verminderung der Unsicherheit in Galilaea herbei, die ihm die dortige Landbevölkerung dankte.298 Demgegenüber bestand in manchen Städten nicht nur Abnei-gung, sondern Ablehnung gegen die Einmischung in die Gemeindeangelegenheiten durch das Jerusalemer Synhedrion und die abgesandten Organisatoren des Widerstands, brachte doch Iosephus seine Vorstellungen nicht selten in anmaßender und verletzender Weise vor. Wenn er davon spricht, daß er gegen Unruhen in Galilaea vorgegangen sei, so verschweigt er, daß er diese zum Teil durch sein Verhalten verursacht hat. Schürer, ansonsten sehr gemäßigt im Urteil, äußert, Iosephus sei frech genug zu behaupten, er sollte Galilaea beruhigen.299 Es läßt sich nicht erkennen, daß er in jeder Lage das absolut oder auch verhältnismäßig Richtige getan hat. Oft genug ist er gegen galilaeische Städte vorgegangen, die ihre Verteidigung selbst organisieren wollten, die in sich zerstritten waren oder zu den Römern halten wollten. Die Behauptung, er habe Sepphoris zweimal, Tiberias viermal und Gadara einmal eingenom-

293 CAH 1st Ed., S. 858 (Stevenson/Momigliano)294 Ios.vita 187295 Bell.Iud.3.129f. standen sie jedoch ihm nicht mehr zur Verfügung.296 Allgemein Ios.bell.Iud.2.566–582297 Ios.vita 77f.298 Hier ist Iosephus in der vita ehrlicher als im Bellum ( Josephus, Aus meinem Leben, S. 35 und 51)299 Schürer, Gesch.d.jüd.Volkes, Bd. 1, S. 607, Anm. 18; Ios.vita 29 und 78. Auch Iosephus‘ Äußerung,

weil Galilaea noch nicht gänzlich zu den Römern hin abgefallen sei (!), hätten die Spitzen in Jerusa-lem ihn zur Entwaffnung der dortigen Räuber oder des Volkes entsandt ist von Selbstüberschätzung und Überheblichkeit geprägt. Dies ist geschichtlich unzutreffend und überdies wäre der Auftrag undurchführbar gewesen.

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men300 ist vermutlich so nicht richtig und zeigt nur seine Tendenz zur Übertreibung, wenn es seiner Stellung nutzt.

288. Iustos von Tiberias, sein (verlorenes) Geschichtswerk und die Zustände in Tiberias 66/67 – Plünderung des Herodespalastes301

Die Zustände in Tiberias geben ein Bild für ähnlich gelagerte innerstädtische Auseinan-dersetzungen in Iudaea in jener Zeit. Die um 26 gegründete Hauptstadt Galilaeas302 kam etwa 61 durch Verleihung Neros zum Herrschaftsgebiet König Agrippas II.303 Tiberias ge-hörte zu den drei größten Städten Galilaeas, mit einer jüdisch-hellenistischen Bevölkerung. Die zahlreichen Kleingewerbetreibenden (Fischer, Schiffer u.a.) und Besitzlosen gaben der Stadt das Gepräge.

Iustos von Tiberias war jüdischer Politiker und Geschichtsschreiber im letzten Drittel des 1. Jahrhunderts. Er war Angehöriger der Oberschicht von Tiberias und griechisch gebil-det.304 Neben einer Chronik oder besser einer „Stammtafel“ der jüdischen Könige, verfaßte er ein eigenes, heute verlorenes Geschichtswerk über den Jüdischen Krieg,305 in dem er sich kritisch mit dem Verhalten des Iosephus auseinandergesetzt hat und auf das dieser in seiner Lebensbeschreibung (vita) polemisch Bezug nimmt. Nur hierdurch gebrochen erfahren wir etwas über Iustos. Die Lebensbeschreibung hat die Tendenz, Iosephus‘ eigene Handlungen zu verteidigen und seinen Gegner durchweg nachteilig darzustellen. Das hat zur Folge, daß vor allem die Ausführungen über Iustos verzerrt und häufig nicht zutreffend sind. Diese zwischen beiden Verfassern bestehende literarische Fehde und Rivalität hat schon der by-zantinische Gelehrte und Patriarch Photios im 9. Jahrhundert im 33. Abschnitt seiner „Bi-bliotheca“ (auch „Myrobiblon“) bemerkt und in wenigen Worten beschrieben. Obwohl ihm noch das Werk des Iustos vollständig vorlag, erfahren wir bedauerlicherweise aus den kurzen Ausführungen des Photios nicht viel mehr darüber, als was in der vita des Iosephus an Kritik enthalten ist – nur, daß Iustos die Geschichte in einer sehr knappen und kurzen Ausdrucksweise abgefaßt hat.

Nach Iosephus gab es zu der Zeit seiner Kommandantur über Galilaea in Tiberias drei Parteien.306 Sie hatten sich schon seit Ausbruch der Unruhen des Jahres 66 gebildet. Die wohlhabenden Bürger hielten zu den Römern und König Agrippa und wurden geführt von Iulius Capellus, Herodes, Sohn des Miaros, Herodes, Sohn des Gamala und Kompsos, Sohn des Kompsos. Die dominierende Partei bestand aus den Anhängern der antirömischen, jüdischen Aufstandsbewegung und wurde von Jesus, dem Sohn des Sapphais geführt.307 Die dritte Partei der sozusagen Unentschiedenen, die allerdings nicht sehr stark war, stand

300 Ios.vita 82301 Schürer, Gesch.d. jüd. Volkes, Bd. 1, S. 58ff.302 Ios.vita 37303 Ios.ant.Iud.20.159; bell.Iud.2.252; vita 38; Schürer, Gesch.d. jüd. Volkes, Bd. 1, S. 588, Anm.  7;

Bd. 2, S. 220; jetzt neuerdings auch Josephus, Aus meinem Leben, S. 37, Anm. 53304 Ios.vita 40305 Ebd. 338306 Ebd. 32ff.307 Ebd. 66

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unter dem Wortführer Iustos, dem genannten Geschichtsschreiber, und seinem Vater Pi-stos. Wie verzerrt dessen Bild bei Iosephus erscheint, erhellt aus mehreren Einzelheiten, die unzutreffend oder mindestens sehr unwahrscheinlich sind. Während seiner Erzählung der Vorgänge in Tiberias befaßt sich Iosephus vorwiegend mit Iustos und seinen Anhängern. Er sucht dadurch das Bild eines dominanten und schillernden Unruhestifters zu erzeugen, der er schon deshalb nicht gewesen sein kann, weil er dessen Partei als eine Art mittlere be-zeichnet. Iosephus läßt, wenn möglich, keine Gelegenheit aus, Iustos nachteilig darzustel-len. Noch gegen Anfang spricht er von seiner leicht erregbaren Natur; er habe seinen Vater Pistos gegen die Römer aufgehetzt.308 Iustos habe so getan, als hege er Bedenken gegen den Krieg; in Wirklichkeit aber habe er Umsturz im Sinn gehabt um Macht zu gewinnen.309 Wenn Iosephus behauptet,310 die Tiberienser hätten bei Beginn des Krieges zu Agrippa und den Römern gehalten, so ist das nicht richtig. Romtreu war überwiegend der Rat der Stadt mit seinen Anhängern. Und der Aufruf zum Umsturz und Abfall von den Römern ist ganz sicher nicht nur von Iustos und nicht einmal von ihm zuerst ausgegangen.311 Nach Iosephus habe Iustos das Volk gegen Agrippa aufgehetzt312 (an anderer Stelle313 gegen die Römer) und die Plünderung von Dörfern im Gebiet von Gadara und Hippos, an der Grenze von Tiberias zu Skythopolis – wahrscheinlich im Sommer 66 – gehe auf ihn zurück.314 Diese letztgenannte Begebenheit ist wohl historisch zutreffend. Iosephus beruft sich nicht nur auf das Zeugnis Vespasians, sondern er berichtet auch, daß Iustos im Jahre 67 vor das Gericht des Feldherrn geführt wurde, weil die syrischen Bewohner der Dekapolis ihn als Anführer der Zerstörungen angezeigt hatten. Die Beschuldigungen waren wahrscheinlich berechtigt. Vespasian übergab Iustos König Agrippa zur Bestrafung, der ihn aber auf Zureden Bere-nikes begnadigte.315 Vielleicht hat Iustos geschwankt, wie er und seine Anhänger sich im Zuge der ersten jüdischen Erfolge verhalten sollten, hat dann zunächst die Seite der Auf-ständischen ergriffen,316 um sich später wieder anderen Überlegungen zuzuwenden. Mög-licherweise hat er seine unbedachte revolutionäre Aufwallung wirklich bereut und dafür überzeugende Worte vor dem König gefunden. Aber er wird damals nicht, wie Iosephus behauptet, der einzige oder gar erste Wortführer des Aufstands gewesen sein, und vollends

308 Ebd. 34309 Ebd. 36ff.; 391310 Ebd. 391311 Dies behauptet Ios.vita 344f.; 349–353312 Ebd. 39313 Ebd. 391314 Ebd. 42; 341ff. Die Erzählung in der vita erweckt durch ihren Aufbau den Eindruck, daß dies erst

nach der Niederlage des Cestius Gallus geschehen sei. Dagegen ist es nach Ios.bell.Iud.2.457–60 klar, daß dies im Sommer 66 geschehen sein muß. Die Feindschaft zwischen Tiberias und dem auf östlicher Seite des Genezarethsees gelegenen Hippos war traditionell ( Josephus, Aus meinem Le-ben, S. 39).

315 Ios.vita 343316 Graetz, Gesch.d.Juden, Bd. 3,2, S. 480, der Iustos mit ihnen in stetem Bund sieht.

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unglaubwürdig ist der Vorwurf, Iustos habe unwillige Bürger von Tiberias zu den auswärti-gen Plünderungen gezwungen.

Während seiner Befehlsgewalt in Galilaea hat Iosephus nach eigenen Angaben Tiberias viermal eingenommen.317 Dies ist ein Beleg für die starke Eigenständigkeit der Tiberienser. Wenn Iosephus dabei immer wieder Iustos in den Mittelpunkt rückt, so ist dies durchaus unzutreffend. Die antirömische Bewegung der breiten Volksmasse war auch Iosephus oft genug nicht gehorsam. Wie auch anderwärts hatte man Probleme damit, sich von der Zen-trale in Jerusalem hohe und reiche Würdenträger mit Anordnungsgewalt ohne örtlich an-erkannte Fähigkeiten und Beziehungen aufdrängen zu lassen.

Das zeigte sich sogleich am Beginn von Iosephus‘ Kommando.318 Er gelangte damals aus Sepphoris in die Nähe von Tiberias. Warum er die Stadt selbst nicht betrat, ist unbekannt. Die Stadtoberen von Tiberias bestellte er zu sich und ordnete unter Berufung auf das Syn-hedrion in Jerusalem an, daß der alte Palast des Herodes Antipas (Tetrarch von 4 v.Chr-39 n.Chr.)319 zerstört werden sollte. Es befanden sich an der Außenwand Tierdarstellungen, die nach dem jüdischen Gesetz verboten waren.320 Der Widerstand der Stadtoberen un-ter Iulius Capellus nutzte nichts. Iosephus selbst aber führte das Zerstörungswerk nicht an, sondern begab sich wieder fort nach Bethmaon, während bald darauf die Volksmenge unter dem genannten Jesus in den Palast eindrang, dort nicht nur Zerstörungen anrich-tete, sondern wertvolles Mobiliar wie Leuchter, wertvolle Tische und Silberklumpen aus der Prägestätte mitnahm. Als Iosephus von der Plünderung erfuhr, war ihm nicht recht, was geschehen war. Statt die Durchführung selbst zu überwachen, schob er Verantwortung und Schuld auf andere.321 Vielleicht will er durch diese wenig glaubhafte Darstellung seine Anwesenheit bei den Vorgängen verschleiern.322 Er eilte nach Tiberias, ließ sich die Wert-gegenstände herausgeben und von den zehn obersten Ratsherren und Iulius Capellus für den König Agrippa, der auf römischer Seite stand, verwahren.323 Seit dieser Zeit ließ er einen Vertrauten namens Silas in Tiberias zurück, der ihm von den Vorgängen in der Stadt zu berichten hatte.324

289. Zerstörung und Wiederaufbau Gischalas (Gusch Halav)

Eine lange Leidensgeschichte im jüdischen Krieg hatte die Stadt Gischala (Gusch-Chalab oder Halav = fette Scholle), nahe des Gemeindegebiets von Tyros gelegen.325 Die Haltung

317 Ios.vita 82318 Nach Graetz, Gesch.d.Juden, Bd. 3,2, S. 486f. ein Beispiel für die schwankende Haltung des Iose-

phus, die der jüdischen Bewegung schadete (dort mit scharfem Urteil gegen Iosephus).319 Um 24 v.Chr. errichtet; dazu bell.Iud.5.156–83320 Schürer, Gesch.d. jüd. Volkes, Bd. 2, S. 65, Anm. 169321 Zweifelnd auch Josephus, Aus meinem Leben, S. 49, Anm. 91322 Josephus, Aus meinem Leben, S. 166323 Ios.vita 64–69324 Ios.vita 88325 Schürer, Gesch.d. jüd. Volkes, Bd. 1, S. 616, Anm. 50; Josephus, Michel/Bauernfeind, Bd. 2, S. 208,

Anm. 20

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ihres Vorkämpfers, Johannes, Sohn des Levi, bleibt im Einzelnen unklar. Er hatte seine Mit-bürger zunächst gewarnt, von Rom abzufallen. Später sehen wir Johannes als einen Gegner des Iosephus auftreten, der dessen laue326 und teilweise undurchsichtige Befehlsführung kritisierte. Nachdem Gischala nämlich von den Syrern der umliegenden Landschaften und Siedlungen überfallen worden war, ohne daß die römische Schutzmacht dies hinderte, än-derte sich ihr Sinn. Die Syrer machten sich offensichtlich die allgemeine antijüdische Po-gromstimmung zunutze, um zu morden und zu plündern. Die Bewohner der Umgebung, dazu die von Gadara, Kefar Aganaia (Baraganaioi) und sogar Tyros rotteten sich zusammen und nahmen die unzureichend geschützte jüdische Stadt im Sturm, raubten und töteten was nicht entfliehen konnte und machten in Gischala, wie es vielleicht etwas übertrieben heißt, alles dem Erdboden gleich. In einem Rachefeldzug gingen die Überlebenden, die sich gesammelt hatten und etliche weitere Begleiter unter Johannes gegen die Räuber vor.327 Der Erfolg ihrer Glaubensbrüder gegen die syrischen Legionen des Cestius könnte ihr Be-streben verstärkt haben.328 Nachdem die Kämpfer unter Johannes’ Führung die syrischen Mordbrenner gezüchtigt hatten, ließ er unter seiner Leitung die Stadt völlig neu errichten und mit einer starken Mauer versehen.329 Von da an war er ein überzeugter Gegner Roms.

290. Die Festungsstadt Gamala 66/67 – Noaros (Varus) und der Feldherr Philippos

Agrippas Feldherr Philippos wurde nach der Niederlage in Jerusalem von den Leuten Me-nachems gesucht, jedoch von seinen jüdischen Verwandten versteckt gehalten, bis ihm fünf Tage später die Flucht unter abenteuerlichen Umständen gelang.330 Er hielt sich in der Nähe von Gamala versteckt und sammelte seine Getreuen um sich, denn er besaß wohl in der Gegend von Gamala Landgüter. Von dort versuchte er brieflich durch Vermittlung des Noaros, dem Verweser König Agrippas in Kaisareia Philippi, Verbindung mit dem König aufzunehmen. Weil Noaros Philippos als Konkurrenten fürchtete, hielt er aber die Briefe zurück.331 Nachdem Philippos von den Zuständen in Gamala erfahren hatte, entschloß er sich, mit einigen Begleitern dorthin aufzubrechen. Als er dort ankam, verlangte die Menge sogleich von ihm, gegen die Syrer und Noaros in Kaisareia Philippi vorzugehen. Doch es ge-lang ihm, durch intensives Zureden den Ansturm der Fordernden zu beruhigen. Auf diese Weise aber war Gamala dem Zugriff des Iosephus entzogen worden. Als der abwesende König Agrippa von den Machenschaften seines Verwesers erfuhr, setzte er ihn ab (wie, wird

326 Schürer, Gesch.d. jüd. Volkes, Bd. 1, S. 608, Anm. 21327 In seinem älteren Bericht im „Jüdischen Krieg“ (bell.Iud.2.585ff.) stellt Iosephus die Wahrheit voll-

ends auf den Kopf und behauptet, Johannes sei ein durchtriebener Räuberhauptmann gewesen, der mit kampferprobten Flüchtlingen aus Tyros eine Räuberbande von 400 Mann geschaffen und Un-ruhe in Galilaea gestiftet habe.

328 Vermutlich hat Iosephus‘ Bericht vita 43–45 die Ereignisse nach diesem römischen Feldzug zum Inhalt.

329 Ios.vita 189. Eine völlige Zerstörung und Wiederaufbau innerhalb weniger Monate ist eher unwahr-scheinlich.

330 Ebd. 46f.; über die zeitliche Einordnung Krieger, Josephus, S. 276f.331 Dazu auch Josephus, Aus meinem Leben, S. 41, Anm. 70

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nicht berichtet), wagte aber nicht, ihn zu bestrafen, weil er ein Mitglied des Königshauses war. An seiner Stelle übernahm Aequus Modius die Verweserschaft für Agrippa in Kaisareia Philippi.332

Bald darauf, vielleicht schon Anfang 67, erfuhr Philippos von dem neuen Verweser Modius und schrieb ihm aus Gamala. Hierdurch erfuhren Modius und durch ihn König Agrippa, daß Philippos noch am Leben sei und so ließ der König ihn zu sich kommen und stellte ihn den römischen Offizieren vor. Dann beauftragte er ihn, nach Gamala zurückzu-kehren, die entflohenen Juden, die in Gamala Schutz gesucht hatten in die Batanaea zu-rückzuführen und dafür Sorge zu tragen, daß in seinem Königreich unter den Juden keine Unruhen ausbrächen.333

Doch in Gamala hatten sich inzwischen, vermutlich infolge der zahlenmäßigen Unter-legenheit der Gegenkräfte, unter Führung eines gewissen Joseph, Sohn des Jair – nach bell.Iud.4.18 gemeinsam mit Chares – die jungen Männer erhoben, und indem man die Stadt-oberen beiseite drängte, fiel die Stadt von Agrippa und den Römern ab und dem Kompetenz-bereich des Iosephus zu.334 Der Zorn war von der Vielzahl der jüdischen Flüchtlinge ausge-gangen, von denen die Stadt übervoll war, die alles verloren hatten und denen die Aussicht auf Rache genommen war. Die Gegner des Aufstands wurden offensichtlich ohne viel Mühe vertrieben oder umgebracht.335 Sogleich schrieb die Aufstandspartei an Iosephus, den Befehls-haber in Galilaea, Truppen zu schicken und auch Mittel zum Wiederaufbau beziehungsweise zur Verstärkung der Mauern zu senden. So geschah es auch. Mit Gamala fielen weitere Gebiete von Agrippas Königreich ab – Teile der Golanhöhen (obere Gaulanitis) bis Schalem (Solyma) und die Siedlungen Seleukeia beim Meromsee und Sogane (Soganni).336

291. Johannes von Gischala und Iosephus

Unter Johannes’ Leitung wurde die Stadt Gischala ein starker Herd des jüdischen Wider-stands in Galilaea. Schon bald traten die unterschiedlichen Auffassungen hinsichtlich der Kriegsvorbereitungen und einzelner Maßnahmen zwischen ihm und Iosephus hervor. Iose-phus ist in seinen Berichten bestrebt, Johannes als verwegenen Gesellen, als eine Art Räuber-hauptmann, darzustellen, der Unruhe geschaffen habe, während er selbst die Verteidigung nach den Anweisungen des Hohen Rats von Jerusalem habe ordnen wollen.337 Aber das Ge-genteil ist der Fall und Iosephus bemüht sich an manchen Stellen seiner Schilderungen nicht einmal, seine eigene zwielichtige Handlungsweise genugsam zu verbergen. Johannes hatte im-merhin Beziehungen und vielleicht auch Protektion in Jerusalem und war alles andere sonst, aber kein Räuberanführer. Er war befreundet mit Simon, Sohn des Gamaliel, dem Oberhaupt

332 Ios.bell.Iud.2.481–483; Modius wird dort nicht namentlich erwähnt333 Ios.vita 179–184334 Zuvor war nach Ios.vita 114 ein Versuch Agrippas gescheitert, die befestigte Stadt wieder einzuneh-

men.335 Nach Ios.vita 177 und 186 ein gewisser Chares, den er allerdings gemeinsam mit Joseph im bell.Iud.

die Anführer des Aufstands in Gamala nennt; dazu Josephus, Aus meinem Leben, S. 83, Anm. 184336 Ios.vita 187337 Ebd. 62. Allgemein dazu und zum Folgenden auch Krieger, Josephus, S. 258ff. mit etwas anderer

Gewichtung.

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des Synhedrions. Er war vaterlandliebend und hat mit seinen Geldmitteln patriotische Trup-pen unterstützt – sicherlich oft genug ohne Iosephus‘ Genehmigung.338 Johannes war nicht nur schlau, sondern hatte den Vorteil einer eindeutigen Haltung, weil er, den erreichbaren Nachrichten zufolge, ganz auf der Seite der Aufständischen gegen die Fremdherrschaft Roms stand. Ob er Iosephus geistig überlegen war,339 bleibe dahin gestellt. Vielleicht war er kühn und durchtrieben und er war, vor dem Hintergrund seines späteren Lebenswegs, auch ehrgei-zig im Interesse der Sache, die er vertrat. Auch tyrannisches Auftreten ist ihm zuzutrauen. In Iosephus sah er jedenfalls einen Befehlshaber, der der jüdischen Sache durch seine zweideutige Haltung schadete – er war ihm zu kompromißlerisch.340 Iosephus stellte es in seinen Schriften genau andersherum dar. So entwickelte sich wechselseitiger Haß.341

Iosephus dagegen dachte weiter. Nicht nur daß es ihm unangenehm war, der römischen Schutzmacht und König Agrippa entgegentreten zu müssen, von deren Schirm die Herr-schaft seiner eigenen Kaste, der mächtigen Priester, abgehangen hatte: die Kräfteverhält-nisse zwischen den im Augenblick vom Erfolg getragenen Aufständischen seines Volkes und der Weltmacht Rom ließen ihn auch an dem erfolgreichen Ausgang der jüdischen Un-ternehmung zweifeln, und er dachte bereits an die Zeit nach dem Ende der gewiß äußerst blutigen Auseinandersetzung. Dem glühenden Romhasser Johannes hat Iosephus denn auch nicht eben selten Anlaß zu dem Verdacht gegeben, daß er nur halbherzig für die jüdi-sche Sache tätig sei.342

Johannes hat auch nach Bekunden des Iosephus die Befestigungsarbeiten von Gischala, angeblich auf seine Anweisung hin, selbst geleitet.343 Er schlug sodann Iosephus vor,344 die römischen Getreidevorräte, welche noch in verschiedenen Dörfern Ober-Galilaeas lager-ten, zu sammeln und aus deren Verkauf die Befestigung von Gischala zu finanzieren. Iose-phus lehnte das ab und teilt in seinem Bericht sogar noch mit, daß er das Getreide für die Römer (!) verwahren wollte oder für sich selbst, um Galilaea, wie er sagt, in eigener Verant-wortung zu versorgen. Daß Johannes Iosephus’ Begleiter bestochen habe, den Befehlshaber zu überstimmen und Iosephus dazu geschwiegen haben soll, wie er berichtet, dürfte unwahr sein. Auch sonst stellt sich Iosephus in seiner Lebensbeschreibung gern noch unter viel ge-fährlicheren Umständen als Held gegenüber einer angeblich verblendeten Volksmenge dar. Wahrscheinlich hat sich Johannes einfach über Iosephus hinweggesetzt und das Getreide beschlagnahmt. Nach dem älteren Bericht soll Johannes die wohlhabenden Bürger Gischa-las zur Finanzierung der Stadtbefestigung erpreßt haben.345 Viel wahrscheinlicher klingt dagegen ein Bericht über erfolgreiche Spekulation mit dem damaligen Preis für kosche-res Olivenöl aus Galilaea.346 Durch einen geschickten Handel mit Öl nach Syrien, den er

338 Ebd. 190; Graetz, Gesch.d.Juden, Bd. 3.2, S. 479f.339 Graetz, Gesch.d.Juden, Bd. 3.2, S. 487340 CAH 1st Ed., S. 857f. (Stevenson/Momigliano)341 Ios.vita 189342 Schürer, Gesch.d. jüd. Volkes, Bd. 1, S. 608343 Ios.bell.Iud.2.575; 590 behauptet er dann verleumderisch, daß Johannes dies zur Entreicherung der

Wohlabenden getan habe.344 Dies nur Ios.vita 71ff. erwähnt345 Ios.bell.Iud.2.590; ein weiterer Beleg für die Unzuverlässigkeit des Iosephus346 Zur Ölproduktion Josephus, Aus meinem Leben, S. 167

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gleichsam als ein Monopol mit verbrieftem Recht durch Iosephus betrieb, gewann Johan-nes hohe Geldsummen,347 die es ihm ermöglichten, große Ausgaben zu tätigen und in Kon-kurrenz zu Iosephus zu treten. Auch hier behauptet Iosephus völlig unglaubwürdig, sich vor der erzürnten Volksmenge gefürchtet zu haben, hätte er die Genehmigung für Johannes verweigert.

Im älteren Bericht behauptet Iosephus, Johannes habe durch sein aktives Verhalten bei den Kriegsvorbereitungen auf ihn Eindruck gemacht und sein Vertrauen erschlichen. In sei-ner Lebensbeschreibung aber rühmt er sich seines scharfen Verstandes, der angeblich sofort die räuberische Durchtriebenheit des Johannes erkannt haben will, dessen Trachten auf Um-sturz und Übernahme der Befehlsgewalt ging. Ihn aus dem Amt zu verdrängen unterstellt er ihm durchweg und behauptet ganz allgemein, er habe dies durch Schüren von Unsicherheit und Unruhe durch bezahlte Banden beabsichtigt.348 Doch dieser Vorwurf fällt unabhängig von der Absicht auf Iosephus selbst zurück, gibt er doch unmißverständlich zu, daß auch er sich während seiner Zeit in Galilaea auf bezahlte Räuberbanden gestützt hat (s.o.).

292. Erste Gefechte (Nov.66-Jan.67?)349 – Johannes von Gischala

Zu dieser Zeit hielt sich Iosephus in der Siedlung Simonias im westlichen Galilaea auf. Bei sich hatte er etwa 2000 Fußsoldaten, aber keine Reiterei. Der Decurio der römischen Rei-tertruppen Aebutius, hatte hiervon erfahren und rückte mit 100 Reitern, etwa 200 Fuß-soldaten und etlichen Bewohnern der Stadt Gaba, die er als Hilfskämpfer rekrutiert hatte, heran. Mehrere Tage lang versuchte Aebutius vergeblich, die Juden in die Ebene zu locken, wo er mit seinen Reitern im Vorteil war. Schließlich ging er selbst gegen die Juden vor, scheiterte aber infolge des ungünstigen Geländes und zog ab. Iosephus nahm mit seinen Leuten die Verfolgung auf, kam bis Besara bei Ptolemais, ließ den dort lagernden Getrei-devorrat auf Kamele und Esel verladen und nach Galilaea fortschaffen. Da Aebutius einen weiteren Kampf scheute, zogen die Juden unbehelligt ab. Als Iosephus davon erfuhr, daß der Reiteroberst (des Agrippa?), Neapolitanus, der zum Schutz von Skythopolis eingesetzt war, mit seinen Truppen das Gebiet von Tiberias heimsuchte, hinderte er ihn mit seiner Streitmacht daran, ohne daß man Genaueres über die Vorgänge erfährt.

In der Folgezeit versuchte Johannes von Gischala mehrere Städte von Iosephus abspens-tig zu machen. Sepphoris blieb auf römischer Seite; Tiberias verhielt sich unentschieden; nur bei Gabara – zwischen Chabulon und Bersabe gelegen – hatte er Erfolg, doch wagten die Gabarener nicht, ihren Übergang zu Johannes offen zu bekennen.350

347 Die Einzelheiten Ios.bell.Iud.2.590ff.; vita 74–76348 Die Unwahrheiten haben etwa folgendes zum Inhalt: So soll er gebietsweise wieder mit Raub be-

gonnen haben, um Iosephus zu beschäftigen oder ihn gar zu beseitigen, sollte dieser dagegen vorge-hen. Bliebe seine räuberische Rotte dagegen unbehelligt, so hatte er die Absicht, Iospehus‘ Tatenlo-sigkeit anzuprangern. Außerdem streute er noch das Gerücht aus, der jüdische Befehlshaber wolle in Wirklichkeit Galilaea den Römern ausliefern. Auf diese Weise hoffte er, Ansehen und Stellung des Iosephus auch in der galilaeischen Volksversammlung zu untergraben.

349 Dies nur Ios.vita 115–121350 Ebd. 123–125

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293. Raubüberfall auf Beauftragte des Königs Agrippa und die Folgen – Unruhen in Tarichaea351

Eine erste Probe seiner Schlauheit gab Iosephus anläßlich des Raubzugs einiger übermütiger junger Leute aus dem Dorf Dabaritta (Deburije), die in der „Großen Ebene“ im Südwesten Galilaeas auf Wachposten waren. Der Verwalter des Königs Agrippa und der Berenike na-mens Ptolemaios oder, nach dem späteren Bericht, dessen Ehefrau, die aus dem Aufstandge-biet fliehen wollte352 war mit einigen Begleitern unterwegs überfallen und beraubt worden. Da man sich nicht über die Aufteilung der Beute einigen konnte, glaubte man Iosephus, der sich gerade in Tarichaea aufhielt, eine Freude damit zu machen und ihn um Zuteilung zu bitten. Maultiere, beladen mit kostbaren Gewändern, Tafelsilber und 500 oder 600 Gold-stücken, führte man Iosephus zu. Der aber war nicht nur erschreckt, sondern verärgert, hatte die Absicht, sämtliche geraubten Gegenstände an das Königshaus zurück zu gegeben und übergab sie einstweilen dem vertrauenswürdigen Bürger Annaios zur Verwahrung. Den jungen Leuten teilte Iosephus inzwischen mit, er wolle die Schätze zur Finanzierung der Ausbesserungsarbeiten an den Mauern von Jerusalem verwenden.353 Dies rief den Zorn der jungen Leute hervor, weil sei keinen Anteil an der Beute erhalten hatten. Sie verbreite-ten in der Gegend, was geschehen war. Das Verhalten des Iosephus erweckte Verdacht und Ärger; man sprach davon, er wolle gemeinsame Sache mit dem romfreundlichen Königs-haus machen, ja ganz Galilaea den Römern ausliefern und nannte ihn schon Verräter. In seiner Erklärung zugunsten Jerusalems sah man nur einen Vorwand. Bald darauf ließ Iose-phus tatsächlich zwei Beauftragte des Agrippa kommen, die das geraubte Gut dem König in aller Heimlichkeit zurückerstatten sollten. In seiner Lebensbeschreibung beruft Iosephus sich auf das gesetzliche Verbot, Landsleute zu bestehlen, erkennt aber nicht, daß zumindest dann, solange Menschenleben nicht betroffen sind, im Krieg naturgemäß für die Güter des Gegners andere Regeln gelten. Die bekannt gewordenen Vorgänge brachten eine große Menschenmenge gegen Iosephus auf.354 Ob an der Widerstandsbewegung gegen Iosephus auch Johannes von Gischala teilnahm, ist ungewiß und wird nur im Bellum behauptet,355 ohne daß man etwas Genaueres erfährt. Auch im benachbarten Tiberias hatte man von allem erfahren und der dortige Vorsteher des Stadtrats, Jesus, – er hatte offensichtlich als Führer des radikal antirömischen Stadtvolkes Iulius Capellus abgelöst – war verärgert mit vielen anderen nach Tarichaea gekommen. Iosephus bezeichnet Jesus – eigentlich ein Ver-treter der jüdischen Sache – mit den verächtlichsten Ausdrücken und sieht nicht ein, daß sein Handeln hinsichtlich des eingezogenen Vermögens mindestens der Kontrolle unterlie-gen mußte. Am Morgen hatte sich die Menge schon im Circus von Tarichaea versammelt

351 Dazu die nicht in allem übereinstimmenden Berichte bei Ios.bell.Iud.2.595–613 und vita 126ff. Der Stadtname rührt vom Einsalzen von Fischen (aus dem See Genezareth) her; über die Lage von Tarichaea Schürer, Gesch.d.jüd.Volkes, Bd. 1, S. 614, Anm. 44

352 Josephus, Michel/Bauernfeind, Bd. 1, S. 451, Anm. 254353 Dies nur Ios.vita 128354 Im bell.Iud.2.598 gibt Iosephus ohne Bedenken zu, daß man seine wahren Absichten durchschaut

habe.355 Ebd. 2.599

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und forderte, den Verräter aus dem Weg zu räumen. Schließlich sah Iosephus sich durch die Bedrohungen veranlaßt, sich zu rechtfertigen, und da ihn etliche seiner Leibwächter bis auf vier Leute (bell.Iud.2.600) aus Angst bereits verlassen hatten, trat er demütig und reumütig hervor und äußerte, er habe gar nicht die Absicht gehabt, die Schätze zurück zu erstatten. Mit dem erbeuteten Gut, so behauptete er jetzt, sollte vielmehr die noch ausste-hende Befestigung von Tarichaea bezahlt werden, wogegen die Menge aus Tiberias den Raub für sich beanspruchen wolle. Die Bürger von Tarichaea und ihre Umwohner freuten sich darüber und damit begann der Streit zwischen ihnen und den Tiberiensern, denen sich nach dem Bericht in der Lebensbeschreibung Teile der erzürnten Landbevölkerung Galilaeas anschlossen. Hierdurch hatte Iosephus nach eigenen Angaben 40.000 Tarichaeer und ihre Anhänger wieder auf seine Seite gebracht und rief zum Beginn der Befestigungs-arbeiten auf.356

Mindestens mehrere hundert bewaffnete Männer357 glaubten ihm nicht und schrien durcheinander ihre Forderungen. Da trat Iosephus auf das Dach seines Hauses und sprach sie an, sie sollten eine Abordnung ihrer Fürsprecher zu ihm ins Haus schicken. Dort werde er die Forderungen anhören. Als dann die Abgeordneten bei ihm eingetroffen waren, ließ er sie ergreifen, entkleiden, auspeitschen und sie blutig entstellt wie sie waren vor das Haus werfen, wo die Menge gespannt auf eine Verlautbarung wartete.358 Als sie sahen, was gesche-hen war, warfen sie ihre Waffen fort und stoben im Schrecken auseinander.359 Später verhalf Iosephus den Gesandten Agrippas heimlich in einem Boot zur Flucht nach Hippos und bezahlte ihnen den Verlust ihrer Pferde.360

Durch diese drastischen und unaufrichtigen Maßnahmen hat Iosephus eher zur Zwie-tracht in Galilaea beigetragen. Er hat, wie er selbst zugibt, den Haß der Tiberienser auf die von ihm begünstigten Tarichaeer angestachelt. Und gänzlich ohne Scheu berichtet er, wie er seinem Kriegsgegner, König Agrippa, habe einen Gefallen tun wollen, wobei er jedoch enttarnt wird. Dennoch hielten viele Galilaeer, vor allem auf dem Lande, fernerhin zu Iose-phus, weil sie sein Doppelspiel nicht durchschauten.361

294. Ereignisse in Tiberias und Johannes von Gischala – Versuchter Mordanschlag auf Iosephus

Ein andermal waren die Tiberienser dabei, von Iosephus‘ Befehlsgewalt abzufallen, als Jo-hannes von Gischala sich dort aufhielt. Einzelheiten und Hintergründe auch dieser Be-richte362 lassen sich kaum nachprüfen. Einen angeblich vorgetäuschten Heilaufenthalt bei

356 Nach Ios.vita 156 wurde Tarichaea zuerst befestigt, im Widerspruch dazu nach bell.Iud.3.464f. Ti-berias.

357 Nach bell.Iud.2.610 waren es 2000, nach Ios.vita 145 600.358 Nach Ios.vita 147 war es einer, den er auspeitschen, verstümmeln und erhängen ließ. Die Leiche ließ

er hinauswerfen.359 Ähnlich Ios.bell.Iud.2.610–613360 Ios.vita 149–154361 Ähnlich, aber noch schärfer im Urteil Graetz, Gesch.d.Juden, Bd. 3,2, S. 487–489362 Ios.bell.Iud.2.614–625. Nach vita 85–103 geschah dies vor dem Überfall der Dabaritthischen Jüng-

linge; dazu Graetz, Gesch.d.Juden, Bd. 3,2, S. 489, Anm. 1. Auffällig sind einige doublettenhafte

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Tiberias suchte Johannes zu nutzen, um die Stadt und die dortige Bevölkerung von Iosephus abzuwenden. Hatte Iosephus kurz zuvor noch seine Menschenkenntnis in bezug auf den durchtriebenen Johannes gerühmt, so widerspricht er sich jetzt, wenn er behauptet, er sei bei dessen Ansinnen, nach Tiberias der Heilung wegen zu kommen, völlig ohne Argwohn gewesen. Nur in dem späteren Bericht (vita) behauptet Iosephus, Iustos und Pistos seien besonders begierig auf den Abfall von Iosephus gewesen, während er von der antirömisch eingestellten Volksmasse unter deren Führer Jesus schweigt; denn die allgemeine Stim-mung, also die Masse des Volkes, war, wie Iosephus gleich zuvor noch äußert, zum Abfall und Aufruhr geneigt. Iosephus hielt sich damals in Kana auf. Durch eine Nachricht seines Aufsehers Silas erfuhr er von den Machenschaften des Johannes und erschien kurzerhand mit 200 Mann in Tiberias. Dort wurde er von der Volksmenge begrüßt. Wahrscheinlich war auch ihr Führer Jesus anwesend, obwohl ihn Iosephus nicht erwähnt. In dem älteren Bericht läßt sich Johannes, weil bettlägerig, verleugnen. Der spätere Bericht zeigt ihn unter den Begrüßenden – als einen durch Iosephus‘ plötzliches Erscheinen Verlegenen. Als Iose-phus im Circus oder Stadion eine Ansprache hielt, entging er knapp einem Mordanschlag. Es liegt nahe, Johannes als den Urheber anzusehen; sein Fanatismus könnte ihn dazu verlei-tet haben. So berichtet es auch Iosephus. Möglicherweise aber haben Johannes’ Anhänger auf eigene Faust gehandelt. Johannes hat sich nach dem Anschlag bei Iosephus schriftlich entschuldigt. Iosephus war inzwischen die Flucht gelungen. Mit einigen seiner Leute war er in einem Kahn mitten auf den Genezarethsee gefahren. Seiner zurückgebliebenen Schutz-truppe verbot er die Verfolgung der Leute des Johannes aus Furcht vor einem Bürgerkrieg in Tiberias. Wahrscheinlich aber ist Iosephus in die Nachbarstadt Tarichaea entflohen,363 die stets treu zu ihm hielt und zeitweilig dessen Hauptquartier bildete. Dorthin kamen auch etliche seiner Anhänger aus Tiberias. Die Einwohner Tarichaeas und Bewaffnete aus vielen Teilen Galilaeas, die den Befehlen Iosephus‘ gehorchten, waren zusammengekommen, um mit Iosephus gegen die Tiberienser364 und gegen Johannes und die Stadt Gischala vorzuge-hen. Es drohte ein Bürgerkrieg. Iosephus aber gelang es, sie unter Hinweis auf die römische Bedrohung zu beruhigen. Inzwischen war Johannes nämlich mit seinen Begleitern nach Gischala entkommen.

295. Erster Abfallversuch der Tiberienser zu Agrippa

Bald darauf365 faßten die Bewohner von Tiberias oder Teile von ihnen ein Schreiben an den König Agrippa ab, welcher der Sache nach ihr Oberhaupt war. Darin äußerten sie, sie woll-ten sich ihm wieder anschließen. Einzelheiten nennt der Bericht des Iosephus nicht. Nach dem Parallelbericht366 war der Anlaß zum Anschluß an König Agrippa das Erscheinen rö-mischer Reiter in der Nähe von Tiberias. Vermutlich war hierbei in der Tat eine treibende

Einzelheiten zu vita 271–308.363 Ios.vita 96364 Dies nur in der vita 97365 Für das Folgende Ios.vita 155ff.366 Ios.bell.Iud.2.632ff.

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Kraft Iustos mit seinem Vater Pistos, die Iosephus beide namentlich nennt.367 Aber sie wa-ren nicht die einzigen, denn der Anstifter zum Abfall soll ein gewisser Kleitos gewesen sein. Iustos war jetzt von dem Bestreben geleitet, mit dem König Agrippa dauerhaft Verbindung zu halten. Beide verband vielleicht die nüchterne und wirklichkeitsnähere Einschätzung über die Erfolgsaussichten des begonnenen Krieges. Agrippa II. stand, wenn auch ohne innere Überzeugung, auf römischer Seite. Die Folgen dieser Absetzbewegung der Tiberi-enser führten zum Streit mit Iosephus. Der hielt sich gerade in Tarichaea auf, als er von den Vorgängen in Tiberias erfuhr. Weil er infolge der Beurlaubung eines Großteils seiner Trup-pen nicht genügend Soldaten bei sich hatte, ließ er sämtliche erreichbaren Boote, 230 an der Zahl,368 bereit machen und auf den Genezarethsee in Richtung Tiberias fahren. Diese Boote waren nur mit wenigen Leuten besetzt und ohne Kampftruppen, während Iosephus eines der Boote mit sieben bewaffneten Begleitern bestieg. Er ließ die Boote vor Tiberias weit draußen auf dem See verharren, um durch ihre große Anzahl die Tiberienser zu beein-drucken, die daher auch annahmen, sie würden durch eine große heran fahrende Kampf-truppe bedroht. Inzwischen war nämlich gar nichts geschehen. König Agrippa hatte keine Reiter geschickt und so fürchteten die Tiberienser, ihr Abfall von der Sache der Aufstän-dischen könnte böse Folgen für sie haben. Als dann Iosephus mit seinem Boot nahe heran gefahren war, unterwarfen sie sich ihm bittflehend, und lieferten den Anstifter Kleitos aus. Dieser schlug sich auf Iosephus‘ Aufforderung zur Strafe eine Hand ab.369 Hernach bekam er durch eine weitere List den Rat der Stadt Tiberias (angeblich 600 Männer) und etliche vornehme Bürger (weitere 2000) in seine Gewalt, ließ sie auf Kähnen nach Tarichaea brin-gen und in die Gefängnisse werfen.370 Dort lud er den Iustos und seinen Vater Pistos zu einem Gespräch und mahnte sie zur Treue. Danach hat Iosephus nach eigenem Bekunden auch die übrigen Gefangenen Tiberienser entlassen.371

296. Sepphoris November 66 – Frühjahr 67

Eine eigene Stellung im Jüdischen Krieg nahm die Stadt Sepphoris ein – neben Tiberias am Genezarethsee, mit der die Stadt rivalisierte,372 die größte373 einschließlich einer befestigten Oberstadt (Akropolis).374 Wegen ihrer Bedeutung war ihre Haltung im Krieg von Gewicht. Die verschiedenen Berichte des Iosephus geben ein absichtlich verworrenes Bild – vor al-

367 Ios.vita 175368 Ios.bell.Iud.2.635369 Ebd. 2.642–44; vita 170–73370 Ios.bell.Iud.2.639–41; vita 168f.371 Letzteres nur Ios.vita 175–178. An dieser Stelle versucht Iosephus sich als Hochverräter an der jü-

dischen Sache vor dem römischen Publikum rein zu waschen, indem er Iustos und Pistos insgeheim angeraten haben will, einen gelegeneren Zeitpunkt zum Abfall der Stadt zu Rom/Agrippa abzuwar-ten – abgesehen von dem Eingeständnis persönlicher Unzuverlässigkeit zudem eine reine Erfindung von Iosephus (Graetz, Gesch.d.Juden, Bd. 3,2, S. 485, Anm. 1).

372 Ios.vita.37373 Ios.bell.Iud.2.511; ferner vita 123 (Gabara, Tiberias und Sepphoris die drei größten Städte Gali-

laeas); 232374 Ios.vita 376

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lem um seinen halbherzigen Einsatz für die jüdische Sache zu verwischen und im Anschluß daran erklären zu können, warum er während des Krieges zu den Römern überlief. Richtig dürfte nur sein, daß er mit seinen Truppen mindestens zweimal versucht hat, Sepphoris auf die Seite der jüdischen Aufständischen zu ziehen.375 Die Bewohner der Stadt waren näm-lich überwiegend romtreu. Die geschickte und riskante Politik der Stadtoberen verstand es jedoch, die Partei(en) der aufständischen Juden gegeneinander auszuspielen.376

Nachdem Cestius Gallus abgezogen war, wurde der jüdische Befehlshaber für Galilaea, Iosephus, von den Sepphoriten mindestens zeitweise als ein Aufrührer gegen Rom angese-hen und behandelt.377 Die Stadtmauern brachte man aus eigenen Mitteln in einen wehr-haften Zustand – nicht so sehr als Schutz gegen die Römer, sondern zu deren Gunsten.378

Man brachte gegen Iosephus in Stellung was möglich war. Zunächst kaufte man sich in Ptolemais eine Söldnertruppe von 800 Mann – bei Iosephus als Räuber tituliert – unter Führung eines Jesus. Iosephus ist nach eigenen Angaben damals in die Stadt hineingelassen worden. Man wollte Aufsehen unter den jüdischen Freiheitskämpfern vermeiden. Durch eine List bekam er unter Mithilfe von Galilaeern und Tiberiensern Jesus in seine Gewalt und entließ ihn wieder, nachdem er ihn auf seine Seite gezogen hatte. Die ganze Erzählung wirkt sehr naiv und wenig glaubwürdig.379

Später wurde Sepphoris von einer großen Menge von Galilaeern angegriffen, die zum Plündern gekommen waren. Die romtreuen Bürger flüchteten mit ihrer Habe in die Ober-stadt, während die Galilaeer mit dem Rauben begannen. Angeblich kam Iosephus wäh-renddessen dorthin und rettete, wie er sich ausdrückt, Sepphoris durch ein falsches Gerücht vom Herannahen der Römer, das die Galilaeer in die Flucht trieb.380 Meines Erachtens hat Iosephus trotz gegenteiliger Behauptungen Sepphoris niemals dauerhaft in seiner Gewalt gehabt,381 und der Eindruck ist nicht verkehrt, daß er entweder nicht in der Lage oder nicht willens war, eine judentreue Besatzung in die Stadt zu legen oder etwas Wirksames gegen die spätere römische Besatzung in Sepphoris zu unternehmen.382

297. Lage und Vorbereitungen zum Krieg in Jerusalem

In Jerusalem hatten währenddessen die Kriegsvorbereitungen begonnen. Der Oberste Prie-ster Ananos ließ die Stadtmauern in Stand setzten. Es war viel Eifer für den Krieg vorhan-den. Man versuchte so gut es ging militärische Disziplin einzuüben. Allenthalben wurde gerüstet und bereitgestellt, was die Abwehrmaßnahmen für den Verteidigungsfall erforder-ten. Tag und Nacht herrschte Gewimmel und die Stadt hallte von geschäftigem Gelärm wi-der. Kaum gelang es dem Ananos die Kriegsbegeisterung, besonders der Eiferer, ein wenig

375 Ebd. 82376 So die ansprechende Vermutung von Schürer, Gesch.d. jüd. Volkes, Bd. 2, S. 212, Anm. 502; ferner

Ios.vita 124, wo sich die Sepphoriten als romtreu bezeichnen. 377 Ios.vita 346378 Ebd. 347; Schürer, Gesch.d. jüd. Volkes, Bd. 2, S. 212, Anm. 502379 Einzelnes Ios.vita 104ff.380 Ebd. 373–80381 Josephus, Aus meinem Leben, S. 53, Anm. 105382 Graetz, Gesch.d.Juden, Bd. 3,2, S. 493

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zu dämpfen, denn er ahnte, daß ihre Begierde, den Feind zu treffen, der eigentlichen Auf-gabe hinderlich sein mochte. Aber immer noch war der Anteil der Einwohnerschaft nicht gering, der der bevorstehenden Auseinandersetzung auch mit Bangen und großer Furcht entgegensah und den Krieg lieber vermieden hätte.383

298. Klage des Johannes von Gischala über Iosephus vor dem Hohen Rat und die Folgen

Johannes von Gischala setzte seine Gegnerschaft zu Iosephus fort und sandte durch eine Abordnung Botschaften an den Hohen Rat nach Jerusalem384 des Inhalts, Iosephus habe seine Streitkräfte verstärkt und wenn man nicht bei Zeiten Obacht gebe, so sei zu befürch-ten, daß er sich bald schon als Tyrann gebärde und auch Jerusalem nicht vor ihm sicher sei. Wahrscheinlich hatte aber die Gesandtschaft des Johannes vor allem substantielle Kritik an Iosephus‘ Haltung und Kriegsvorbereitung vorzubringen, die dieser in seinen Berichten später unterdrückt hat. Die Einzelheiten der folgenden Ereignisse sind unklar. Durch die Gewundenheit und inhaltliche Weitschweifigkeit verbirgt der Bericht in der vita nur allzu dürftig die von Iosephus konstruierte Wirklichkeit, die dort mit Sicherheit nicht zutreffend dargestellt ist. Weder die beteiligten Personen noch die Vorgänge stimmen im Bellum und in der vita überein. Nach der vita385 wurde die Gesandtschaft des Johannes geführt von seinem Bruder Simon und Jonathan, Sohn des Sisenna, die 100 bewaffnete Männer beglei-teten. In Jerusalem traf die Gesandtschaft zunächst mit Simon, Sohn des Gamaliel, Ober-haupt des Rates, zusammen. Er war ein Pharisäer, den Iosephus als weise und umsichtig sehr lobt. Er behauptet, er sei ein Freund des Johannes und in jener Zeit auf ihn – Iosephus – sehr verärgert gewesen.386 Im Gespräch mit den Hohepriestern Ananos und Jesus, Sohn des Gamala, erwies es sich als schwierig, Iosephus des Postens zu entheben, weil sie und ihre Anhänger nicht wüßten, was Iosephus vorzuwerfen sei. Nur durch Bestechung seiner Freunde im Synhedrion, wie Iosephus Glauben machen möchte, sei sein Sturz möglich ge-worden; wahrscheinlich wurden sie einfach überstimmt, weil die vorgetragenen Tatsachen die Mehrheit überzeugten. Warum aber der Rat Iosephus nicht Gelegenheit zu einer Stel-lungnahme gegeben hat, wird immer unklar bleiben; ebenso, warum Iosephus selbst nicht den Versuch gemacht hat, sich zu rechtfertigen. Im Ergebnis glaubte man im Hohen Rat in Jerusalem mehrheitlich die Vorwürfe gegen Iosephus und beschloß seine Absetzung. Es scheint, daß die Kritik an seinen verschiedenen Maßnahmen nicht ohne Berechtigung ge-wesen ist. Die Vorgänge stellten einen schweren Vertrauensentzug seitens des Synhedrions dar, das den von ihm eingesetzten Feldherrn für Galilaea des Amtes enthob und damit auch eine Fehlbesetzung zugab. Daß dies allein auf Machenschaften der Gegner des Iosephus zu-rückzuführen ist, trifft nicht zu. Ebenso ausgeschlossen sind leichtfertige Entscheidungen des Synhedrions in dieser Frage. Ohne es zu wollen hat so Iosephus mittelbar zugegeben,

383 Ios.bell.Iud.2.647–651384 Ebd. 2.626385 Ios.vita 190ff.386 Dazu Josephus, Aus meinem Leben, S. 176

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daß man ihn in der noch gemäßigten Regierung Jerusalems für nicht fähig hielt, die Vertei-digung Galilaeas sachgerecht und besonnen vorzubereiten.

Johannes von Gischala sollte Iosephus unmittelbar ersetzen. Die Ratsgesandtschaft nach Galilaea wurde angeführt von Jonathan und Ananias, zwei Laien; der dritte war ein Priester namens Joazar und der vierte der jüngste der Jerusalemer Hohepriester namens Simon. Nach dem älteren Bericht im Bellum waren es ein gewisser Joësdros, Sohn des Nom-mikos, Ananias, Sohn des Saduki, sowie Simon und Judas.387 Nach der vita schloß sich auch der Bruder des Johannes, Simon, an. Alle sollen gewandte Redner gewesen sein und den Auftrag gehabt haben, Iosephus‘ Stellung in der Volksversammlung in Galilaea zu unter-graben. Gleichzeitig waren sie beauftragt, ihn entweder lebend nach Jerusalem zu bringen oder zu töten, falls er sich ferner den Oberbefehl anmaße und auf eigene Faust Krieg führe. Sie bekamen große Geldsummen für Johannes mit, der Truppen anwerben sollte auch für einen möglichen Kampf mit den Anhängern des Iosephus.388 Denn die Lage in Galilaea war sehr verworren. Man sah ein, daß der Beschluß sich vielleicht nicht ohne Widerstand durchsetzten ließe und gab der neuen Gesandtschaft eine Kampftruppe mit. Nach dem Bellum waren es 2500 Fußsoldaten; die vita dagegen hat ganz andere Zahlen: 100, die mit der Gesandtschaft nach Jerusalem gekommenen waren und 600 Kämpfer unter einem Ga-lilaeer namens Jesus, die sich gerade in Jerusalem aufhielten. Vorab erhielt Johannes Nach-richt, er solle als neuer Befehlshaber gegen Iosephus vorgehen und die Städte Sepphoris, Gabara und Tiberias sollten Johannes Truppenunterstützung zuführen.389

299. Iosephus’ Gegenmaßnahmen

Iosephus erhielt durch Freunde oder seinen Vater (so in der vita) vorab Nachricht von seiner Absetzung und beschloß, nicht freiwillig abzutreten. In der Öffentlichkeit aber stellte er es so dar, als wolle er wegen der durch Intrigen haltlosen Stellung seinen Befehlshaberposten freiwillig räumen.390 Auf diese Weise scharte er seine nicht geringe Anzahl von Anhängern um sich – sie sammelten sich in der Großen Ebene namens Asochis -, ließ sich von ihnen „umstimmen“ und blieb in seiner Stellung wie zuvor. Galilaea war nicht zuletzt durch Iose-phus’ Verhalten bei der Kriegsvorbereitung stark zerrissen. Es gab viele Gemeinden abseits der großen Zentren des Streits, die durch sein Wirken auch Vorteile und mehr Sicherheit erhalten hatten;391 denn träge war Iosephus nicht, sondern im Gegenteil sehr rührig. Durch diese Solidarisierung mit ihm war die Gefahr eines Bürgerkriegs in Galilaea größer gewor-den. Jedenfalls wurde die Zwietracht zwischen ihm, Johannes, Iustos und noch weiteren Ungenannten nicht beseitigt, sondern steigerte sich wohl noch.

387 Ios.vita 197; bell.Iud.2.628388 Nach Ios.vita 199 40.000 Silbermünzen; ferner bell.Iud.2.627389 Jeweils mit vielen Abweichungen Ios.vita 198–203; bell.Iud.2.626–628390 Ios.vita 204–211 ist voll von apologetischen Beschreibungen der Lage, zu denen noch ein angebli-

cher Bekehrungstraum hinzu tritt, durch den sich Iosephus umstimmen läßt, die ihm treuen Gali-laeer nicht im Stich zu lassen. Dies alles fehlt im früheren Bericht des Bellum.

391 Dazu auch Josephus, Aus meinem Leben, S. 164

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300. Weitere Vorgänge in Galilaea – Fehlschlag bei den Versuchen, Iosephus abzusetzen

Die folgenden Wochen bevor die römische Offensive begann, waren angefüllt mit großer Unruhe in Galilaea. Iosephus ließ zu seinen eigenen 3000 Mann und 80 Reitern noch 5000 Fußsoldaten hinzu kommen und rückte damit von der Großen Ebene in die Nähe von Pto-lemais vor zur Siedlung Chabulon. Dort kam es zu mehreren unentschiedenen Gefechten mit der römischen Reiterei unter dem Führer Placidus. Den hatte der damals noch amtie-rende Cestius mit der Verwüstung galilaeischer Dörfer beauftragt.392

Währenddessen versuchten die Jerusalemer Gesandten um den Leiter Jonathan zu-nächst Iosephus durch Einladungen zur Unterredung in Gewahrsam zu nehmen. Sie hiel-ten sich damals wahrscheinlich in der Siedlung Gabaroth auf. Iosephus äußerte sich schrift-lich, er sei durch die Verteidigungsmaßnahmen in Chabulon gehindert zu kommen. Bald wurden die Gesandten deutlicher, teilten Iosephus mit, daß er abgesetzt sei und forderten ihn auf, nach Gabaroth zu kommen. Die Teile der Bevölkerung, welche zu Iosephus hielten, verbargen ihren Zorn auf die abgesandten Würdenträger aus der Hauptstadt nicht, so in Asochis und Japha, wo die gasandten ihre Gegner mit Stockschlägen auseinander treiben ließen. In Gabara trafen sie Johannes, der mit 3000 Kämpfern gekommen war. Schließlich machte sich auch Iosephus von Chabulon mit 3000 Mann auf, während er die restlichen zur Bewachung der Grenze Galilaeas zurückließ und zog nach Jotapata ( Jodafat). Wäh-renddessen faßten die Gesandten mit Johannes in Gabara den Beschluß, an alle Städte Ga-lilaeas eine Verlautbarung zu schicken, des Inhalts, daß Iosephus abgesetzt sei; eine Nach-richt hiervon sollte auch nach Jerusalem abgehen. Iosephus, der durch einen Überläufer rasch davon erfahren hatte, ließ nun durch zwei Abteilungen von 200 und 600 Mann die Straßen Galilaeas überwachen und alle Briefboten abfangen. Den Galilaeern befahl er, sich in Gabaroth bewaffnet zu sammeln. Am nächsten Tage war dort eine große Menge der Iosephusanhänger zusammengekommen; die Briefe waren abgefangen. Und dorthin, wo sich die Gesandten mit Johannes verschanzt hatten, nämlich in einem Palast des Jesus (in Gabara?), kam Iosephus mit seinen Leuten. Dort will er angeblich die Gegner als Ver-leumder dargestellt haben; zu Blutvergießen ist es danach nicht gekommen, während sich Iosephus mit den Bewaffneten in das Dorf Sogane, vier Kilometer von Gabara gelegen, ab-setzte. Vielleicht lassen sich die Ereignisse am ehesten dahingehend zusammenfassen, daß Iosephus einerseits rastlose Tätigkeit bei den Abwehrmaßnahmen vorgab, andererseits aber für seine Anhänger den Anschein erweckte, die Befehlsgewalt niederzulegen zu wollen. Währenddessen wurden die Gesandten wiederholt bedroht und entgingen wahrscheinlich auch Anschlägen.393 Von Sichnin aus sandte Iosephus schließlich eine Abordnung von 100 zuverlässigen Männern aus Galilaea394 nach Jerusalem, die ihn vor dem Rat rechtfertigen sollte. Begleitet wurde sie von 500 Bewaffneten. Und er bereitete die Reise durch das an-

392 Ios.vita 213–215393 Graetz, Gesch.d.Juden, Bd. 3,2, S. 490394 Nach Graetz, ebd., S. 491 waren dies die einfältigen Vorsteher der Gemeinden.

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geblich von den Römern bereits kontrollierte Samaria vor. Er selbst schlug das Feldlager mit seinen Truppen bei Joppe auf.395

301. Weitere Ereignisse bis zum Frühjahr 67 – Abfall weiterer Städte von Iosephus, Ereignisse um Tiberias – Rehabilitierung des Iosephus

Während oder kurz nach diesen Ereignissen, fielen weitere Städte von Iosephus‘ Oberbe-fehl ab. Der ältere Bericht im Bellum ist sehr kurz, und dennoch in Teilen unzutreffend. So seien beim Eintreffen der Jerusalemer Gesandtschaft in Galilaea Sepphoris, Gamala, Gischala und Tiberias von Iosephus abgefallen.396 Ohne Kampf brachte Iosephus nach ei-genen Angaben die Städte wieder unter seine Befehlsgewalt.397 Was Sepphoris angeht, so hat Iosephus für die fragliche Zeit in seiner vita betont, daß die Stadt romtreu war und bei Erscheinen der Gesandtschaft sich hinsichtlich der Äußerungen zu Iosephus‘ Kommando neutral verhielt. Sepphoris war, wie Iosephus zugesteht, gleichsam durchgehend auf römi-scher Seite und hat sich demgemäß nicht erst jetzt seinem Oberbefehl entzogen. Gamala lag gar nicht in Galilaea und war lange Zeit auf Seiten König Agrippas, bis, wie dargestellt, ein gewisser Joseph dort die jüdische Aufstandsbewegung führte, also mindestens Gegner König Agrippas und prinzipiell auf Iosephus‘ Seite war. Dies war auch der Stand kurz vor dem Feldzug Vespasians im Frühjahr 67.398 Ob sich die Stadt dem Befehl Johannes’ von Gischalas, anschloß ist ungewiß. Gischala stand gegen Iosephus und blieb unter der Herr-schaft des Johannes, was Iosephus selbst im Widerspruch zu seiner Behauptung im folgen-den Absatz bestätigt.399

Einzig Tiberias scheint von Iosephus infolge verworrener Verhältnisse abgefallen zu sein. Mit dieser Stadt alleine beschäftigt sich weitschweifig der spätere Bericht in der Le-bensbeschreibung.400 Wenn auch wieder Iustos in den Mittelpunkt gerückt wird, so waren die eigentlichen Antreiber der dortige Aufstandsführer und Stadtratsvorsitzende Jesus, der die Jerusalemer Gesandtschaft um Jonathan nach Tiberias einlud mit dem Versprechen, die Stadt dem Johannes und der Regierung in Jerusalem zuzuführen. Doch durch Silas benach-richtigt, erschien Iosephus unvermutet vor der Stadt. Nach einem kurzen Treffen, zog sich Iosephus nach Tarichaea zurück, ließ aber von einigen seiner Leute die weiteren Vorgänge in Tiberias auskundschaften. In der Proseucha, einem riesigen Versammlungshaus, sollte der Abfall der Stadt von Iosephus öffentlich beschlossen werden. Leiter war Jesus, assistiert von Iustos. Die Stadt sollte der Ermessensfreiheit der Gesandtschaft unterstellt werden.401

395 Diese gesamten Vorgänge sind wortreich und weitschweifig mit starker apologetischer Tendenz nur Ios.vita 216–270 beschrieben und finden sich nicht im Bellum. Vielleicht hat Iosephus vita 242–65 eine Niederlage verschleiert ( Josephus, Aus meinem Leben, S. 109, Anm. 228).

396 Vielleicht traf dies auch für andere, nicht genannte Städte zu.397 Ios.bell.Iud.2.629f.398 Ios.vita.398399 Ios.bell.Iud.2.632400 Ios.vita 271–336401 Iosephus läßt in der vita an dieser Stelle absichtsvoll in der Schwebe, ob er einen Abfall von Rom

oder von seiner Befehlsgewalt meint. Hierdurch suggeriert er eine gemeinsame Frontstellung von Rom und ihm gegen die Aufständischen ( Josephus, Aus meinem Leben, S. 113).

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382 | Die späten Jahre (65–68)

Da aber Iosephus selbst auch im Versammlungsgebäude erschien, wagte man dies zunächst nicht, sondern versuchte, ihn mit einer Falschmeldung zum Auszug aus der Stadt zu bewe-gen. Doch der Plan gelang nicht. Da wurde kurz darauf ein Fest angeordnet, bei dem alle ohne Waffen zu erscheinen hatten. Auch Johannes wurde heimlich aus Gischala gerufen, um bei der Festnahme des Iosephus anwesend zu sein und zu helfen. Doch auch dieser Plan mißlingt, weil Johannes mit seinen Leuten erst erscheint, als Iosephus abermals zu Schiff nach Tarichaea entflohen ist. Hier erreichte ihn durch seine aus Jerusalem zurückkehrende Gesandtschaft nun die Nachricht, daß seine Befehlsgewalt für Galilaea durch das Synhe-drion nach Anhörung seiner Abordnung bestätigt worden sei.402 Seltsamerweise fehlt über diese wichtige Mitteilung jede Erwähnung im Bellum, wo Iosephus nur berichtet, wie er die vier Gesandten des Synhedrions durch List gefangennahm und nach Jerusalem zurück bringen ließ. Angeblich war das einfache Volk Jerusalems sehr erzürnt über Iosephus‘ Geg-ner und es bestand die Gefahr, daß deren Häuser in Brand gesteckt würden.403

Anders in der vita. An der Tatsache der Rehabilitation selbst ist nicht zu zweifeln, denn Iosephus behielt auch bei dem kommenden römischen Angriff die Befehlsgewalt inne. Dieser sozusagen innenpolitische Sieg über seine Gegner steigerte die Zwietracht und Erbitterung und machte Iosephus nun stolz und überheblich. Er berief eine Ver-sammlung in die Siedlung Arbela, wo er die Neuigkeiten bekanntgab und ließ ein Schrift-stück an die Gesandten um Jonathan in Tiberias übergeben, das sie zur Rückkehr nach Jerusalem aufforderte. Doch in Tiberias dachte man nicht daran. Abermals wollte man den Hohen Rat in Jerusalem umzustimmen suchen. Anwesend waren die Gesandten, der Rat der Stadt Tiberias unter Jesus und die Obersten von Gabara. Johannes sollte weiter-hin der Befehlshaber sein, während Jonathan und Ananias nach Jerusalem gehen sollten, begleitet von 100 Bewaffneten. Joazar und Simon blieben in Tiberias zurück. Jonathan und Ananias wurden jedoch in der Großen Ebene bei Dabaritta von einer Abteilung des Iosephus rasch gefangen. Mit 10.000 Mann rückte er sodann vor Tiberias und verteilte die Truppen in drei Abteilungen rings um die Stadt im Gelände. Es gelang ihm, Simon mit seinen Getreuen vor die Stadt zu locken mit dem Angebot, den Oberbefehl mit ihm und Joazar zu teilen. Während Joazar zu recht eine Falle vermutete, wurde Simon gefangen genommen, woraufhin der Kampf um Tiberias begann. Dabei schlugen sich die Trup-pen der Stadt anfangs nicht schlecht, wurden jedoch durch einen überraschenden Angriff auf die Vorwerke in Schrecken versetzt und ergaben sich. Am nächsten Tag ließ Iosephus sich die Rädelsführer bezeichnen und gefesselt nach Jotapata verbringen. Die Jerusalemer Gesandtschaft erhielt Reisegeld und eine Bewachung von 500 Mann zur Rückkehr in die Hauptstadt.

Mit dieser Entscheidung und der Bestätigung seiner Stellung durch den Hohen Rat ging Iosephus nun auch gegen Johannes und seine Anhänger vor.404 Er ließ sich durch An-zeigen oder Informanten die Namen der Kämpfer des Johannes geben und diese auf eine Liste setzten. Daneben ließ er durch Herolde in ganz Galilaea verkünden, er gebe allen eine

402 Ios.vita 309ff.403 Nach Ios.bell.Iud.2.630f. mußten sie nach ihrer Rückkehr sofort aus Jerusalem flüchten.404 Iosephus setzt die folgende Maßnahme in bell.Iud.2.624f. nach den fehlgeschlagenen Mordan-

schlag auf ihn. In der vita 368ff. jedoch folgt sie seinem Sieg in Tiberias.

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66 nach Christus | 383

Frist von 5, nach der anderen Quelle (vita) von 20 Tagen, Johannes zu verlassen, zu ihm zu kommen und (so im Bellum) die Waffen niederzulegen. Denjenigen, die sich weigern sollten, drohte er Tod und Verderben an. Er werde sie und ihre Familien mit Feuer und Schwert heimsuchen. Bald fanden sich etwa 3000 (nach der vita 4000) bei Iosephus ein. Auf Johannes‘ Seite blieben die Bewohner von Gischala und etwa 1500 (nach dem Bellum 2000) Anhänger aus Tyros. Von nun an soll sich Johannes mit seinen Leuten aus Furcht in seiner Heimatstadt aufgehalten haben.405

302. Zweiter Abfallversuch der Stadt Tiberias

Zu einem späteren Zeitpunkt sollen die mehrheitlich wieder römischen Ratsherren von Tiberias erneut den Entschluß gefaßt haben, zu König Agrippa überzugehen. Nach der vita406 erfuhren die Galilaeer rechtzeitig davon, waren im Begriff die Stadt zu plündern, bis Iosephus die Gemüter beruhigte mit dem Bemerken, er werde zunächst die Schuldigen er-mitteln, an denen die Galilaeer sodann Rache nehmen könnten. Später aber verläuft die Sa-che im Sand und so, meint Iosephus, habe er die Stadt errettet. Die Umstände, daß darin ein Gesandter des Agrippa namens Crispus verwickelt war, den Iosephus heimlich zum König entkommen ließ, machen deutlich, daß den Hintergrund auch dieses Ereignisses hochver-räterische Vorgänge bildeten. Während Iosephus nur einen angeblichen Erfolg vermeldet, scheint durch, daß er mindestens zu König Agrippa das Verhältnis nicht zerstören will. Ein ähnlicher Sachverhalt ist im Bellum wiedergegeben. Dort aber plündert Iosephus die Ti-berienser zunächst aus, um Schrecken zu erregen und sie sodann fester an sich zu binden, indem er ihnen das geraubte Gut zurückerstattet.407

303. Bemerkungen zur Haltung des Iosephus und zum Verhältnis zu Iustos von Tiberias nach der vita des Iosephus408

Immer wieder einmal hat der Streit über geschichtliche Tatsachen und ihre Deutung eine gleiche Grundlage in der Auffassung und dem Wollen der Berichterstatter. In der Öffent-lichkeit jedoch versuchen sie im Eigeninteresse polemisch eine Abgrenzung zum Gegen-über. Bei genauem Hinsehen ist sie oftmals nur künstlich geschaffen. Ebenso verhält es sich bei Iustos und Iosephus. Iosephus’ schwankende Haltung in bezug auf die revolutionären Ereignisse im jüdischen Volk hat verschiedene Wurzeln. Einerseits ist er Angehöriger der Oberschicht, dessen Wohlergehen auch ganz wesentlich von der römischen Fremdherr-schaft gestützt wird. Andererseits glaubt man heute bei ihm im Verlauf der Ereignisse Pha-

405 Zunächst, weil an eine andere Stelle seines Berichts gesetzt, hat Iosephus bell.Iud.2.625 noch be-hauptet, Johannes habe mit den restlichen 2000 tyrischen (!) Flüchtlingen (nach vita 372) weiter-hin Unruhe im Land geschaffen. Erst 2.632, nach der Rückkehr der Jerusalemer Gesandtschaft, soll Johannes fortan sich ruhig gehalten haben.

406 Ios.vita 381–389407 Ios.bell.Iud.2.644–646; dort angeblich auch Sepphoris auf gleiche Weise behandelt.408 Zum folgenden Schürer, Gesch.d.Jüd.Volkes, Bd. 1, S. 59f.; Josephus, Aus meinem Leben, S. 168;

171f.; ähnlich, aber anders hergeleitet Krieger, Josephus, S. 266ff. (besonders 269f.)

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sen erkennen zu können: Anfangs scheint er, wie auch die Jerusalemer Aristokratie, nach den ersten blutigen Ereignissen der im Volk populären Aufstandsbewegung gegen Rom nicht abgeneigt gewesen zu sein.409 Dies wich aber schon bald nüchterner Abwägung und Überlegung hinsichtlich der Folgen einer militärischen Auseinandersetzung mit der Welt-macht. Vielleicht nicht allein aus egoistischen Erwägungen, sondern auch aus objektiven Einsichten heraus konnte und wollte Iosephus nicht eine strikt antirömische Haltung ein-nehmen. Was generell den Vorrang hatte, wird wohl immer ungewiß bleiben. Wie viele seiner Standesgenossen war Iosephus nach den ersten Aufwallungen des Zorns eher ein Anhänger von Verhandlungen mit Rom und blieb dies wenigstens bis zu seiner Gefangen-nahme im Jahre 67. Hieraus erst erklärt sich die oft schwankende Einstellung in bezug auf seine Entscheidungen als Befehlshaber in Galilaea. Einerseits galt er in Sepphoris410 und Tiberias411 als ein Aufstandsführer; er hat, um die Radikalen zu befriedigen – wenn er darin nicht sogar selbst Radikaler war – die Zerstörung des Herodespalastes in Tiberias herbei-geführt. Er hat verschiedene wichtige Befestigungs- und Infrastrukturmaßnahmen (z.B. Getreidespeicher)412 in Galilaea veranlaßt. Sie gehören neben der Erhöhung der Sicherheit auf dem Lande zu den wirkungsvollen Leistungen seines Kommandos.413 Andererseits hat er peinlich vermieden, römische Interessen und Gebiete zu verletzen und ist wohl auch streng gegen Disziplinlosigkeiten seiner Truppen, wo dies möglich war, vorgegangen, auch um die Gegner nicht zu reizen.

Eine ähnlich schwankende Haltung hat den Hinweisen der vita zufolge auch Iustos eingenommen. Glaubwürdig wird er anfangs als Führer einer Rotte von Mordbrennern aus Tiberias geschildert und auch an seinen Verbindungen zu weiteren Führern der Auf-standsbewegung wie Jesus und Johannes von Gischala sind Zweifel kaum angebracht.414 Dagegen hat er bald darauf eine besonnenere Einstellung eingenommen, hat sich gegen die Zerstörung des Herodespalasts gewandt,415 wurde später als ein Gegner der Aufständischen von Iosephus gefangengesetzt,416 seine Angehörigen von den Aufständischen ums Leben

409 In der vita 17ff. behauptet Iosephus später wahrheitswidrig, daß er von Anfang an die militärische Auseinandersetzung mit Rom für aussichtslos gehalten habe. Er habe nicht als Römerfreund gel-ten wollen und sich dennoch insgeheim über den Feldzug des Cestius mit seinen Truppen gefreut. Ähnlich schon Graetz, Gesch.d.Juden, Bd. 3,2, S. 485, Anm. 1, wonach Iosephus „Anfangs ebenfalls vom Taumel der Revolution ergriffen war.“ Dazu vor allem Krieger, Josephus, S. 227ff. zu vita 20f., wo er nachweist, daß Iosephus zur Eleazar-Gruppe gehört und dies im Bellum später verschwiegen hat. Über die Entwicklung in Jerusalem während der Wochen der Aufstandsbewegung berichtet Iosephus in der vita überhaupt ungenau, vielleicht weil ihm auch die Teilnahme seiner Klasse an der Rebellion peinlich war – besonders nach seinem Übertritt zum Römertum – und er darüber schweigen wollte, um sie nicht zu diskreditieren (CAH 2nd Ed., S. 755 (Goodman)).

410 Ios.vita 104, 346, 373411 Ebd. 155–158, 351412 Ebd. 118413 Die Einnahme verschiedener Städte ( Jotapata, Gamala) hat Wochen beziehungsweise Monate in

Anspruch genommen. Abweichend Krieger, Josephus, S. 261, Anm. 9414 Ebd. 341–344415 Ebd. 65416 Ebd. 175ff.

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66 nach Christus | 385

gebracht,417 und schließlich begab er sich, als die Revolution in Tiberias noch andauerte, zu König Agrippa.418

Wenn Iosephus und Iustos wechselseitig in ihren Schriften den jeweils anderen als Auf-standsführer darstellen, so ist das aus den angegebenen Hinweisen gleichermaßen unglaub-würdig und es trifft eher zu, daß beide in etwa auf derselben Linie verfuhren. Beide waren anfangs von der Aufstandsbewegung mitgerissen worden und haben sich bald darauf an-ders besonnen. Dies führte dazu, daß keiner von beiden später im Angesicht der römischen Weltmacht als Aufstandsführer in Galilaea gelten wollte und deshalb den jeweils anderen beschuldigte, der eigentliche Organisator des Aufstands oder Widerstands gewesen zu sein.

Überhaupt standen Iustos und Iosephus dem König Agrippa II. in der Auffassung der Geschehnisse sehr nahe. Der jüdische Aufstand war vielleicht auch Agrippa nicht ganz un-willkommen, aber die Eskalation bis zum Krieg hat er nicht gewollt. Ihm – wie auch Iose-phus – lag vielmehr an einem Verhandlungsfrieden mit Rom, indem Iudaea und er selbst vielleicht mehr Autonomie erhalten konnten. Ohne Begeisterung, aber entschieden war er dann doch auf die römische Seite getreten. Iustos und Iosephus standen so lange es gut oder nützlich war, auf der jüdischen Seite. Objektive Gegebenheiten wie die unterschiedliche Auffassung über Abwehrmaßnahmen, die Eitelkeit und Geltungssucht mancher Gemein-deführer, die Rivalität zur Zentrale in Jerusalem und anderes mehr brachten im Angesicht der Bedrohung von außen eine unruhige Gemengelage in Galilaea hervor. Iosephus vermag nicht überzeugend darzustellen, daß er zur Begütigung und Einheit in Galilaea wesentlich beigetragen hat; eher ist das Gegenteil der Fall. Seine Schriften offenbaren oft genug seinen eigenen Mangel an Überlegenheit und Abstand zu den Vorkommnissen. Kleingeistigkeit, gestelzte Selbstgefälligkeit und Schläue419 liegen nahe beieinander. Ehrgeizig war er zwar nicht, aber sehr eitel,420 von aufdringlichem Selbstlob und Selbstruhm.421 Wenn man auch das vernichtende Urteil von Graetz über Iosephus‘ Wirken in Galilaea nicht teilt,422 könnte man gemäßigter sagen, daß er zu unerfahren war und seine Ernennung den Beziehungen in der Oberschicht verdankte. Eine wirkungsvolle Verteidigung zu organisieren war er nicht in der Lage, ging jedoch zunächst mit Eifer an die Sache.423 Aber es steht fest, daß er rück-blickend keine wahrheitsgetreue Geschichte der Geschehnisse geliefert, sondern diese zum Zweck der Selbstverteidigung vor den Siegern zurecht gebogen hat.

304. Der Räuberhauptmann Simon, Sohn des Giora

Während in Galilaea nun eine angespannte Ruhe herrschte, sammelte Simon, Sohn des Giora, der erfolgreich im Kampf gegen Cestius befehligt hatte,424 aber bei der Verteilung

417 Ebd. 186418 Ebd. 354, 357419 Siehe besonders Ios.vita 216ff.420 Graetz, Gesch.d.Juden, Bd. 3,2, S.486421 Wahllos herausgegriffen, etwa Ios. vita 174, 206ff.; 17ff. lobt er ex eventu seinen Weitblick.422 Graetz, Gesch.d.Juden, Bd. 3,2, S. 494423 Schürer, Gesch.d.Jüd.Volkes, Bd. 1, S. 607424 Ios.bell.Iud.2.521

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von Posten in Iudaea nicht zum Zuge gekommen war, eine Meute Unzufriedener Gesellen und begann mit seiner Bande die Reichen in der Toparchie Akrabatene nicht nur auszu-plündern, sondern auch körperlich zu züchtigen. Zwar kam bald schon eine von Ananos und dem Hohen Rat aus Jerusalem gesandte Truppe herbeigeeilt, doch entwich die Bande nach Süden in die Festung Masada, wo sie bis zum Sturz des Ananos verblieb. Von dort aus schloß sich Simon mit seinen Leuten wiederholten Raubzügen in der Landschaft Idumaea an. Die dortigen Behörden sahen sich gezwungen wegen der Mordtaten und Räubereien Truppen zu sammeln, die sie in die Dörfer legten, um die Banden abzuschrecken.425 So weit fürs erste die Ereignisse in Iudaea.

Die Ereignisse im Westen

305. Die Vinicianische Verschwörung

Während so die tragischen Verstrickungen von römischer Machtpolitik und nationaljüdi-schem Selbstbehauptungswillen in seiner unterschiedlichen Ausprägung eine blutige und zerstörerische Entwicklung in jener Weltgegend herbeiführten, nahmen in Rom und Ita-lien die Ereignisse auf folgende Weise ihren Fortgang:

Bald nach der Inthronisierung des Tiridates wurde die Gefahr weiterer Verschwörungen gegen Neros Herrschaft im Juni 66426 offenbar und die Furcht des Kaisers hierdurch bestätigt. Einzelheiten dieses geplanten Anschlags sind kaum bekannt.427 Es wird mangels Nachrichten ungewiß bleiben, ob und inwieweit Corbulo in das Komplott verstrickt war.428 Die Vinicia-nische Verschwörung wurde entweder verraten oder rechtzeitig aufgedeckt. Fern von Rom, in der süditalischen Stadt Beneventum, hatte man wahrscheinlich die Beseitigung des Kaisers geplant. Sie lag auf der gewöhnlichen Reiseroute in den Osten des Reiches und an der Über-fahrt nach Griechenland.429 Die Inhaftierten wurden hingerichtet; weitere beteiligte oder ver-dächtige Personen vielleicht während der Griechenlandreise Neros belangt.430

Über die Beweggründe des Annius Vinicianus gibt es nur Vermutungen. Vinicianus war seit 63 legatus Augusti der legio V Macedonica unter Corbulos Befehl. Möglicherweise hat Corbulo seinen Schwiegersohn Vinicianus431 im Gefolge des Tiridates432 als Loyalitäts-beweis zu Nero nach Rom gesandt. Die Prozesse und Anschläge gegen Mitglieder der rö-mischen Oberschicht näherten sich der Familie Corbulos. Corbulos Schwiegervater, der

425 Ios.bell.Iud.2.652–654426 Wahrscheinlich sind die Dankopfer der Arvalbruderschaft ob detecta nefariorum consilia nach dem

18. Juni 66 und vor den Bitten um Neros unbeschadete Rückkehr aus Griechenland am 25. Septem-ber 66 auf diese Verschwörung zu beziehen (CIL VI 2044 = CIL VI 32355).

427 Das Ereignis wird außer in den Arvalakten nur bei Suet.Nero 36.1 erwähnt.428 Eine Beteiligung Corbulos ist nicht erkennbar und sehr unwahrscheinlich. Er blieb bis an sein Le-

bensende Nero gegenüber loyal. Dazu auch Rutledge, Imperial Inquisitions, S. 172429 Hohl, RE Suppl. III, Sp. 388430 Ein Nachhall davon vielleicht Cass.Dio 63.11.4431 Tac.ann.15.28.3432 Cass.Dio 62.23.6

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Jurist Gaius Cassius Longinus,433 war 65 verurteilt worden. Ein Neffe Corbulos, der oben genannte Glitius Gallus, wurde mit dem Bruder des Vinicianus, Annius Pollio, nach der Pisonischen Verschwörung verbannt;434 der andere Neffe Corbulos, Servius Cornelius (Sci-pio) Salvidienus Orfitus – der Consul des Jahres 51435 und Proconsul von Asia ca. 62436 –, kam wahrscheinlich 66/67 auf Anklage des Aquilius Regulus um.437 Diese betraf, ohne daß ein Hinweis auf eine Begründung erkennbar ist, seine Vermietung von Gewerberäu-men in seinem Anwesen am Forum Romanum an Gesandte aus nicht genannten Städten. Vielleicht standen die Städte in einem Zusammenhang mit ermordeten Verbannten; Ge-naues aber ist nicht bekannt.438 Annius Pollio war zudem durch die Ehe mit Servilia der Schwiegersohn des gerade zum Tode verurteilten Barea Soranus. Derselbe Prozeß hatte den Tod seiner Gattin zur Folge. Ob dieses Tatsachengeflecht indes Vinicianus zum Handeln bewogen haben könnte, bleibt unklar. Vielleicht hat er erst in Rom überhaupt Einzelheiten über die genannten Vorgänge erfahren und wurde durch die eigene Anschauung von Neros Auftreten zum Handeln bewogen.

306. Die dritte Ehe Neros mit Statilia Messalina (Frühjahr 66)

Nach dem Tod Poppaeas hatte Nero vergeblich versucht, Antonia für eine Ehe zu gewin-nen. Mit Statilia Messalina hatte er schon länger ein Liebesverhältnis. Sie war eine gebildete Frau und beherrschte angeblich die Redekunst bis zur Auftrittsreife.439 Statilia stammte aus höchstem Adel und war die Urenkelin des Titus Statilius Taurus, des zweimaligen Consuls (suff. 37 v.Chr., ord. 26 v.Chr.) und Triumphators über Africa 34 v.Chr. Ihr Vater war viel-leicht Titus Statilius Taurus, der Consul 44.440 Sie war zuvor bereits viermal verheiratet. Ih-ren letzten Ehemann hatte Nero im vergangenen Jahr beseitigen lassen. Zur Eheschließung kam es wahrscheinlich im Frühjahr 66.441 Sämtliche Hintergründe und Einzelheiten dieser Verbindung liegen im Dunkeln. Vielleicht hatte Nero die Absicht, mit einer rechtmäßigen Ehefrau noch einen Nachkommen zu zeugen, um seine Stellung hierdurch zu festigen, aber dazu ist es nicht gekommen Ob er Statilia auf die Griechenlandreise mitnahm, ist ungewiß, wenn auch die Arvalakten dafür sprechen.442

433 ILS 9518434 Tac.ann.15.71.3435 Ebd. 12.41.1; CIL VI 353, 30747 = ILS 4375; CIL VI 1984 = ILS 5025436 IRT 341 (Inschrift aus Tripolitania)437 Tac.hist.4.42.1; Suet.37.1; Cass.Dio 62.27.1. Noch 65 hatte Orfitus im Senat Anträge zugunsten

Neros gestellt (Tac.ann.16.12.2). Nach Kierdorf, Claud./Nero, S. 214 Vermietung als Maiestätsver-brechen ausgelegt, aber warum?

438 Suet.Nero 37.1; Cass.Dio 62.27.1439 Iuv.schol.6.434440 Zu Statilia und Otho s. Suet.Otho 10.2441 Suet.Nero 35.1. Bradley, Nero, S. 208 unter Bezug auf Münzen aus Ephesos. Allerdings wird sie in

dem erhaltenen Teil der Annalen, der bis etwa Mai 66 reicht, nicht erwähnt. Vielleicht vor Mitte Mai 66, nach dem Besuch des Tiridates; ferner Arvalakten CIL VI 2044 = 32355.

442 CIL VI 2044c,27ff. (25. Sept. 66)

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Beginn der großen Künstlerreise Neros nach Griechenland (August? 66 – Januar? 68)

307. Neros Philhellenismus

Die große Künstlerreise, die Nero nun nach Griechenland führte, steht im Zusammenhang mit dem römischen Philhellenismus. Seine Bildung und seine hierdurch geförderten Interes-sen hatten in Nero während seiner Kindheit und Jugend mehr noch als bei den früheren Kai-sern die Liebe zum Griechentum erweckt. Der Philhellenismus war seit Augustus in der kai-serlichen Familie verbreitet, aber Nero ist der erste Kaiser gewesen, der diesem in seiner Fülle und als öffentlich auftretender Künstler und Sportler in Wettbewerben Ausdruck verliehen hat. Schon Claudius hatte sich zum Vorbild der Griechen in Kultur und Wissenschaften be-kannt.443 Augustus, Tiberius und Germanicus – um nur die Bekanntesten zu nennen – waren griechisch gebildet.444 Nero weitete dies auf die künstlerischen und sportlichen Wettbewerbe aus, an denen er als erster Kaiser selbst teilnahm und damit auch eine Vorbildrolle überneh-men wollte. Neros Philhellenismus war ein praktizierender. Er war mit ganzem Herzen dabei und auch schwärmerisch begeistert für die Künste und den Sport – vor allem bezogen auf die Musik, Athletik, die Wagenrennen. 47 war er im Amphitheater im griechischen Waffentanz aufgetreten; Homers Lektüre diente ihm als Vorwand, sich über das Wagenrennen auszutau-schen; die Iuvenalia, die Neronia waren weitgehend Spiele nach griechischem Vorbild gewor-den. Immer wieder verteidigte er, wie gesagt, seine Vorlieben für derartige Aufführungen und seine eigene Teilnahme als wahrhaft fürstliche Betätigung seit alter Griechenzeit. Und nun, bewogen auch durch die Umstände seiner späten Regierungszeit, wollte er das Ursprungsland all dieser Genüsse, an denen er aktiv teilnahm, selbst aufsuchen.

308. Anlässe und Planungen (64–66)

War nun dies die tiefere Ursache für die Entscheidung zur Reise, so lassen sich die Anlässe zum Aufbruch schwerer fassen. Zuerst ist Nero, wie es den Anschein hat, nicht in Rom, sondern in der „griechischen“ Stadt Neapel öffentlich aufgetreten. Hier hatte er seine er-sten Erfolge und ist häufig auch zu großen Anlässen dort gewesen, unter anderem nach der Ermordung Agrippinas, nach Poppaeas Tod, zum Empfang des Tiridates und später nach der Rückkehr aus Griechenland und bei der ersten Nachricht von Aufständen in der Provinz.445 Hier soll Nero auch durch abgestimmte Beifallsrufe der Alexandriner, die zu Schiff Getreide nach Campanien gebracht hatten, im Theater angefeuert und derart begeistert worden sein, daß er weitere Leute aus Alexandria kommen ließ, die ihn sehen und bejubeln sollten.446 Vielleicht schon früh (ab 60),447 wahrscheinlich aber erst später,

443 Suet.Claud.42444 Ein knapper Überblick ferner bei Schumann, Hellenistische und griechische Elemente, S. 3ff. mit

etwas zu starkem Bezug des neronischen Philhellenismus auf das Vorbild Caligulas und Ägyptens.445 Tac.ann.14.10; 16.10; Suet.Nero 20; 25.1; 40.4; Dio 63.2.3446 Suet.Nero 20.3447 Nach Cass.Dio 61(62).21.2 wurden Nero bereits 60 alle Siegeskränze zugesandt.

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wohl im Jahre 64, noch vor dem großen Brand, wurde erstmals in der Öffentlichkeit be-kannt, daß er Griechenland aufsuchen wolle.448 Die Gesandten griechischer Städte, in denen Kitharödenwettbewerbe stattfanden, kannten die grenzenlose Begeisterung Neros für diese Kunst und faßten den Entschluß, ihm sämtliche Siegeskränze vorab zu überrei-chen. Als Nero davon erfuhr, empfing er die Abordnungen der Städte vor allen anderen Gesandtschaften. Mit großer Befriedigung nahm er die Gaben entgegen und lud in seiner augenblicklichen Begeisterung die Gesandten im kleinen Kreis zum Mahl. Da forderten einige Nero auf, seine Kunst zu zeigen und seine Darbietung wurde mit solchem Beifall aufgenommen, daß er äußerte, alleine die Griechen hätten ein Ohr für seine Sangeskunst und seien würdig, ihn zu hören.449

Doch wurde das Vorhaben, das so spontan beschlossen450 worden war, fürs erste auf-gegeben, vielleicht weil die organisatorischen Schwierigkeiten zunächst nicht bedacht worden waren. Jedenfalls wußten schon die Zeitgenossen den Grund dafür nicht anzu-geben.451 In einem Edict versuchte Nero die Sorgen des einfachen Stadtvolkes hinsicht-lich der ungestörten Versorgung zu zerstreuen. Aber es vergingen noch mehr als zwei Jahre, bis der Plan einer Griechenlandreise ausgeführt wurde. Der Brand und die Folgen mit ihren außerordentlichen Anforderungen verzögerte eine rasche Entscheidung und die sofortige Durchführung der Reise. Seit Sommer 64 hielt Nero die Aufgebrachtheit und das Mißvergnügen des Volkes in Rom zurück. Da wollte er noch, so gut es ging, im eigenen Interesse Ordnung schaffen. Die Pisonische Verschwörung indes beschleunigte das Vorhaben ab 65 wiederum. Aus dem Jahre 65 gibt es Hinweise auf die Absicht Ne-ros, die großen gesamtgriechischen Feste zu besuchen und den zuständigen griechischen Gemeinden Anordnungen zu erteilen.452 Aber zuvor mußte die Krönung des Tiridates in Rom abgewartet werden. Jetzt, nach dem prachtvollen Auftritt mit Tiridates, fühlte Nero sich sicher, die Gunst des Volkes zu besitzen. Im Vollgefühl vermeintlicher Macht, glaubte er die oberen Stände vorerst eingeschüchtert und auch der Praetorianer sicher zu sein. Die vielen insgeheim mißgelaunten Senatoren, die an seinen öffentlichen Auftritten und seiner Popularität Anstoß nahmen, wollte er nicht mehr sehen und floh sie. Hinzu kam die Furcht vor einem weiteren Mordanschlag, die ihn außer Landes trieb. Und au-ßerdem, was das Wichtigste war, wartete in Griechenland gewiß eine Fülle von Ruhm auf ihn.

Während dieser zwei Jahre und verstärkt ab Mai 66 wandten sich die Tätigkeiten des Hofes verstärkt den Vorbereitungen dieser Reise zu. Der Aufwand und die Schwierigkei-ten, die dabei zu bewältigen waren, können, auch nach Anlegung eines modernen Maß-stabs, kaum überschätzt werden. Den Kaiser sollten eine Leibwache und eine nach Tau-senden zählende Anhängerschaft begleiten – den Hofstaat nicht mitgerechnet. Es mußte für Sicherheit und Wohlergehen der Reisenden gesorgt werden. Dann waren da die Be-

448 Tac.ann.15.33449 Hertzberg, Gesch. Griechenlands, Bd. 2, S. 101f. verlegt ohne genaue Angabe das Ereignis ins

Jahr 66.450 ...und durchgeführt wurde, wie Suet.Nero 22.3 entgegen dem wirklichen Ablauf behauptet.451 Tac.ann.15.36.1452 Hertzberg, Gesch. Griechenlands, Bd. 2, S. 101, Anm. 94b

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findlichkeiten und Empfindlichkeiten der leicht erregbaren Griechen mit ihrer bekannten Renommiersucht zu beachten und umständlich zu behandeln. Die Altehrwürdigkeit der heiligen Stätten, der alteingewurzelte Stolz der festgebenden Gemeinden auf ihre Traditio-nen und Kulte taten ein übriges. Überhaupt ist der diplomatische Verkehr nicht gering zu denken. Freilich: Unterwürfig werden die gastgebenden griechischen Gemeinden gewesen sein. Aber viele werden es sich zur Ehre angerechnet haben, den Kaiser beherbergen zu dürfen, wobei sich nicht alle über die Folgen ganz im Klaren gewesen sein dürften. Was galten da Zaudern, was Verdrießlichkeit, gegen die Ehre, vom Herrscher des Erdkreises des Besuchs für würdig erachtet zu sein?453 Sowie Nero irgendwann auf den Gedanken verfiel, an den großen vier gesamtgriechischen Wettkämpfen teilzunehmen, mußte alles so ange-ordnet werden, daß diese innerhalb eines Jahres stattfanden, um ihm in einer angemessenen Zeit die Teilnahme an ihnen zu ermöglichen, während sie sonst versetzt gefeiert wurden.

Außerdem wollte er an allen übrigen kleineren Wettkämpfen teilnehmen oder Angebote der Gemeinden annehmen, dies zu tun. Diese Vorbereitungen nahmen mit einem ungeheu-rem Aufwand viel Zeit in Anspruch.

Von Anfang an war höchstwahrscheinlich nicht nur eine Reise nach Griechenland beabsichtigt, sondern auch der Besuch weiterer Provinzen des Ostens. Ob sich daran ein Feldzug anschließen sollte, bleibt, wie gesagt, ungewiß.454 Namentlich wollte Nero Alexan-dria in Ägypten besuchen, wo seit spätestens September 63 Gaius Caecina Tuscus Praefect war.455 Schon 64 hatte Nero daran gedacht, nach Ägypten zu reisen; dies trat dann aber ge-meinsam mit der verschobenen Reise nach Griechenland zunächst in den Hintergrund.456 In Alexandria waren aus diesem Anlaß die Thermen erneuert worden. Tuscus war ein enger Vertrauter Neros – 51 zunächst Iuridicus, eine Art Vertreter des Praefectus Aegypti – eine hohe Vertrauensstellung, in der er, wie der Praefect selbst, nur dem Kaiser unmittelbar un-terstand. Seit 55 wieder in Rom, war er angeblich für die Nachfolge des Praetorianerpra-efecten Burrus ausersehen. Tuscus hatte es nun unbedacht oder aus irgendeinem Grunde gewagt, in den neu hergestellten Thermen von Alexandria zu baden und wurde deswegen von Nero noch im Jahre 64 oder 65 (?) mit der Verbannung bestraft. Ein politischer Hin-tergrund ist nicht zu erkennen.457

453 Die örtliche Münzprägung spricht allerdings nach Bergmann, Strahlen d. Herrscher, S. 213 eher nicht dafür.

454 Skeptisch Meier, HZ 286 (2008), S. 573455 P.Fouad.21; P.Yale inv. 1528 = SB 8247456 Hertzberg, Gesch. Griechenlands, Bd. 2, S. 101, Anm. 94b. Wie sehr die Alexandriner das Ver-

trauen Neros genossen, zeigt der Plan seiner Flucht aus Rom kurz vor seinem Ende (Cass.Dio 63.27.2; Plut.Galba 2.1; Suet.Nero 47.2).

457 Suet.Nero 35.5; Cass.Dio 63.18.1. Sohn einer Amme Neros; somit aus dem Sklavenstand und spä-ter freigelassen. Der letzte Beleg für seine Amtszeit stammt vom 25. Juli 64 (P.Yale inv. 1545 = SB 10788). Möglicherweise hat er noch bis 65 oder gar 66 amtiert. Im Mai (?) 66 ist Tiberius Iulius Alexander Praefect (Ios.bell.Iud.3.209; bell.Iud.2.492f. – Sommer 66). Weitere Stellen zu Caecina Tuscus: P.Mich.179; P.Ryl.119; P.Lond.359.2, S. 150; SB 8247; 9066 II.14; P.Oxy.3472.8. Ob CIL XI 7285 = ILS 8996 aus Volsinii in der Lücke Caecina Tuscus einzusetzen ist, ist sehr zweifelhaft;

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309. Endgültige Zerrüttung im Verhältnis zum Senat

Nach der Zerschlagung der Verschwörung zwischen Mai und September 66 begann Nero die lange geplante Reise nach Griechenland und den weiteren Osten des Reiches. Die Ge-fahr, der er sich in Rom von Seiten der senatorischen Oberschicht ausgesetzt sah, hat sei-nen Entschluß wohl beschleunigt. Manch eine Mitteilung aus jener Zeit gibt das zerrüttete Verhältnis zur Senatsaristokratie wieder und nach der Vincianischen Verschwörung wurde die Zusammenarbeit mit dem Senat vermutlich endgültig aufgekündigt. Kein Zweifel kann daran bestehen, daß Nero fortan in den Senatoren Todfeinde sah. Er soll damals oder später im Zorn von ihrer Ausrottung gesprochen haben und von der Absicht, die Provinzstatthal-ter durch Ritter oder Freigelassene zu ersetzen.458

310. Neros Stellvertreter in Rom

Über die unmittelbare Begleitung Neros nach Griechenland und seine Stellvertreter in Rom ist nicht viel überliefert.459 Das wenige zeigt die tiefe Entfremdung von der römischen, besonders der senatorischen Oberschicht nach den fehlgeschlagenen Anschlägen auf sein Leben. Ob Tigellinus Nero über die gesamte Zeit seines Griechenlandaufenthalts hinweg begleitete, ist unklar. Während dessen langer Abwesenheit ist sein Kollege Nymphidius Sabinus in Rom verblieben. Über sein Verhältnis zu den Stellvertretern Neros ist nichts be-kannt. In Rom stützte der Kaiser seine Herrschaft nicht mehr auf den Senat. Wie Caligula in seinen letzten Jahren so bediente sich Nero jetzt weit überwiegend der Freigelassenen, deren Herrschaft noch einmal für kurze Zeit zu größter Bedeutung anwuchs. Weit entfernt war Nero von den Regierungsgrundsätzen seiner Anfangszeit, als er, beziehungsweise seine ersten Minister, noch die Nähe zum Senat gesucht hatten und den Anmaßungen eines Pal-las entgegengetreten waren. In Rom ließ Nero als offiziellen und vertrauenswürdigen Lei-ter der Regierung den Freigelassenen Helius zurück – eine unerhörte Neuerung. Wie sich zeigen sollte, war er Nero unentbehrlich. Neben Helius war da noch Polyclitus,460 der sich bereits als anmaßender Räuber mit höherer Protektion hervorgetan hatte.

311. Neros Begleitung in Griechenland

Wichtigster Begleiter Neros war Tigellinus als Befehlshaber der Praetorianercohorten,461 von denen die meisten nach Griechenland mit reisten. Außerdem diente Tigellinus als Ge-schmacksrichter des Kaisers. 462

die erhaltenen Familiennamen sprechen eher für die tiberianische Zeit; Caecina war ab 69 wieder in Rom, wo Iunius Blaesus für ihn ein Gastmahl gab (Tac.hist.3.38f.).

458 Suet.Nero 37.3; ferner Cass.Dio 63.15.1459 Allgemein mit polemischem Tonfall Cass.Dio 63.12460 Cass.Dio 63.12.3461 Ebd. 63.10.1; 11.f462 Cassius Dio läßt Tigellinus an den wenigen Stellen (63.11.2; 12.3; 13.1) mit namentlichen Erwäh-

nungen stets in der Umgebung Neros erscheinen.

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Die meisten Verwaltungsspitzen mit ihren nachgeordneten Verwaltungseinheiten nahm Nero nach Griechenland mit und zeigte auch hierdurch schon, wie weit er sich von den Zuständen in der Hauptstadt und von der bisherigen Regierungsform entfernt hatte. Auf die Beratung und Unterstützung durch senatorische Begleiter hat er allem Anschein nach fast völlig verzichtet. Zudem machte sein Verhalten je länger desto mehr den Ein-druck, als ob er dauerhaft abwesend sein wollte.

Die Mehrheit der wichtigen Begleiter und wohl auch Berater waren jetzt und wahr-scheinlich bereits seit 65 Freigelassene oder dem gesellschaftlichen Rang nach tief stehende Personen. Daß der Hof, der in Korinth residierte, das eigentliche Zentrum der reichsre-levanten Entscheidungen war, zeigen verschiedene politische Vorgänge von Absetzungen, Hinrichtungen und Ernennungen (Statthalter, Consuln). So bildeten die Leiter der ver-schiedenen Hofressorts Neros unmittelbare Umgebung, und sie folgten ihm auch bis in seine letzten schweren Tage. Dies waren der a libellis Epaphroditus, vielleicht der a ratio-nibus (?) Lucius Domitius Phaon,463 wohl Leiter des fiscus Caesaris und ab epistulis. Ferner waren um ihn die Unterhalter Phoebus (nicht ganz sicher),464 der bösartige Hofnarr und „Giftzwerg“ Vatinius,465 dann auch Sporus der seine verstorbene Ehefrau Poppaea Sabina vertrat466 und sein „Ehemann“ Pythagoras.467 Eine gewisse Calvia Crispinilla diente Spo-rus als Kammerzofe und Kleiderfrau und soll nebenbei umfangreiche Raubzüge in Grie-chenland unternommen haben. Sie war auch, wie es heißt, Lehrmeisterin für Neros sexuelle Abenteuer.468

In seinen letzten Jahren hielten sich in Neros Umgebung nur sehr wenige Vertraute aus dem Senatorenstand auf. Diese begleiteten ihn auch nach Griechenland – so Aulus Vitel-lius und Cluvius Rufus, sein Herold,469 der Geschichtsschreiber der neronischen Zeit, ein ansonsten integerer Mann. Er hat es vielleicht aufgrund bemerkenswerter Eigenschaften und Fähigkeiten verstanden, sich ohne Schändlichkeit und Makel in Neros Umgebung zu halten;470 und Vespasianus, der sich – sofern nicht nachträglich konstruiert – bald Neros Ärger zuzog, und dennoch überlebte zusammen mit seinem Sohn Titus;471 ferner auch Gaius Paccius Africanus, der sich als Ankläger von Kollegen hervortat. Er war Juli/Aug. 67 im Ersatzconsulat, das erzur Belohnung für seinen Verratan den Brüdern Scribonii erhalten hatte.472 Dafür durfte dessen Kollege Annius Afrinus zu Nero nach Griechenland reisen.473 Ob ihn Statilia Messalina begleitete, ist, wie gesagt, nicht bekannt.474 Vielleicht war sie an-

463 Siehe die Darstellung zum Jahre 55464 Cass.Dio 63.10.1a; 66.11.2465 Ebd. 63.15.1466 Ebd. 63.12.3467 Ebd. 63.13.2468 Tac.ann.1.73; Cass.Dio 63.12.3469 Ebd. 63.14.3; Tac.hist.2.71470 S. die späteren Ausführungen des Helvidius Priscus über ihn im Senat Tac.hist.4.43471 Cass.Dio 66.11.2; Suet.Vesp.4.4; Ios.bell.Iud.3.8; 64472 Tac.hist.4.41473 IG II/III2 4184; Griffin, Nero, S. 285, Anm. 82474 Verneint von Momigliano (CAH 1st Ed., S. 735)

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fangs noch bei Nero und ist später, ohne daß hierüber etwas in die erhaltenen geschichtli-chen Berichte gelangt ist, nach Rom zurückgekehrt.

Außer den wenigen namentlich bekannten Mitreisenden folgte Nero die nach Tau-senden zählende Schar der Claqueure475 zusammen mit den vielen Praetorianern und dem Hofstaat – für sich genommen ein riesiges Heer von Begleitern. Neben dem notwendigen Personal des Hofes war damit natürlich die Menge der Schaulustigen, die sich dies leisten konnten, und der gekauften Beifallklatscher (Augustani) gemeint. Nero zog, kaum dreißig-jährig, als Vorbild für die neugierige Jugend etliche junge Ritter und Senatorensöhne mit sich. Da war also die Schar der Sensationshungrigen, der Gaffer und Laffen, die oft gleich-zeitig Neros Claque bildeten. Wie viele in aufrichtig empfundener Begeisterung dem Kaiser gefolgt sind, bleibt unbekannt. Viele zog die modische Sucht nach dem Neuesten und nach Sensation an, bewegte der Herdentrieb, dabei zu sein, wenn Standesgenossen dabei sind und ihre mehr oder weniger affektierte Verzückung bei den künstlerischen Leistungen des Kaisers mit ihresgleichen zu teilen. Eine solche bunte Menge bewegte sich nun im Spät-sommer 66 gen Osten, die man satirisch mit einem Heer auf dem Feldzug verglich, dessen Größe ausgereicht hätte, die Parther in Angst und Schrecken zu versetzen. Aber statt Waf-fen trug man Instrumente und Schauspielerrequisiten.476

312. Zeit des Aufbruchs – Verlauf der Reise nach Griechenland

Die Zeit des Aufbruchs ist nicht gesichert. Am 25. September 66 hielten die Arvalbrüder eine Zusammenkunft ab, um für die sichere Rückkehr des Kaisers und seiner Gattin Statilia Messalina zu bitten.477 Doch ist Nero vielleicht schon früher (Ende August? nach Half-mann) aufgebrochen.478 Die üblichen rituellen Küsse bei Abreise und Rückkehr zwischen ihm und Senatoren lehnte Nero fortan ab und behandelte auch den informellen Anspruch der Senatsabordnung, nach Reisen empfangen zu werden, mit Gleichgültigkeit.479 Mit gro-ßem Geleit wird er durch Italien an die Adriatische Küste gereist sein und sich vermutlich in Brundisium eingeschifft haben. Die Gesellschaft landete zuerst in Kassiope im Nordosten der Insel Korkyra. Dort opferte Nero am Altar des Tempels des Iuppiter Cassius und trat erstmals in Griechenland als Sänger auf.480 Dann begann seine große Reise mit der Durch-querung des Gebirgslandes Epiros, von wo aus er nun die Städte und Festorte Griechen-lands besuchte.

475 Bis zu 5000 Leute (Suet.Nero 20.3)476 Reste davon in den Auszügen bei Cass.Dio 63.8.3f.477 S.o.478 Nach Bradley, Nero, S. 137 früh im August 66; H. Halfmann, Itinera Principum, Geschichte und

Typologie der Kaiserreisen im Römischen Reich, Stuttgart 1986, S. 173f.; nach Dessau, Röm. Kai-serzeit, Bd. 2,1, S. 264 erst im Frühjahr 67, aber die Gesandtschaft aus Iudaea (beziehungsweise Syrien) trifft den Kaiser wohl doch schon Ende 66 in Griechenland.

479 Suet.Nero 37.3 aber übertrieben, weil für die frühere Regierungszeit nicht glaubwürdig480 Suet.Nero 22.3; Plin.nat.hist.4.52; CIL III 576; 577 = ILS 4043 (=IG IX,1,4 843f.)

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