Neue Städte und Grosssiedlungen der Epoche 1950–1975: schon Baugeschichte oder noch aktuell?

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This article was downloaded by: [FU Berlin] On: 31 October 2014, At: 03:22 Publisher: Routledge Informa Ltd Registered in England and Wales Registered Number: 1072954 Registered office: Mortimer House, 37-41 Mortimer Street, London W1T 3JH, UK disP - The Planning Review Publication details, including instructions for authors and subscription information: http://www.tandfonline.com/loi/rdsp20 Neue Städte und Grosssiedlungen der Epoche 1950–1975: schon Baugeschichte oder noch aktuell? Thomas Sieverts & Ilse Irion Published online: 01 Nov 2012. To cite this article: Thomas Sieverts & Ilse Irion (1994) Neue Städte und Grosssiedlungen der Epoche 1950–1975: schon Baugeschichte oder noch aktuell?, disP - The Planning Review, 30:117, 3-10, DOI: 10.1080/02513625.1994.10556536 To link to this article: http://dx.doi.org/10.1080/02513625.1994.10556536 PLEASE SCROLL DOWN FOR ARTICLE Taylor & Francis makes every effort to ensure the accuracy of all the information (the “Content”) contained in the publications on our platform. However, Taylor & Francis, our agents, and our licensors make no representations or warranties whatsoever as to the accuracy, completeness, or suitability for any purpose of the Content. Any opinions and views expressed in this publication are the opinions and views of the authors, and are not the views of or endorsed by Taylor & Francis. The accuracy of the Content should not be relied upon and should be independently verified with primary sources of information. Taylor and Francis shall not be liable for any losses, actions, claims, proceedings, demands, costs, expenses, damages, and other liabilities whatsoever or howsoever caused arising directly or indirectly in connection with, in relation to or arising out of the use of the Content. This article may be used for research, teaching, and private study purposes. Any substantial or systematic reproduction, redistribution, reselling, loan, sub-licensing, systematic supply, or distribution in any form to anyone is expressly forbidden. Terms & Conditions of access and use can be found at http:// www.tandfonline.com/page/terms-and-conditions

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Neue Städte und Grosssiedlungen der Epoche1950–1975: schon Baugeschichte oder noch aktuell?Thomas Sieverts & Ilse IrionPublished online: 01 Nov 2012.

To cite this article: Thomas Sieverts & Ilse Irion (1994) Neue Städte und Grosssiedlungen der Epoche 1950–1975: schonBaugeschichte oder noch aktuell?, disP - The Planning Review, 30:117, 3-10, DOI: 10.1080/02513625.1994.10556536

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DISP 117 3Thomas Sieverts, lise Irion

Neue Steidte und Grosssiediungen der Epoche 1950-1975:schon Baugeschichte oder noch aktuell?

Nach fast zwei Jahrzehnten des stagnie­renden Stadtwachstums, in dem manglaubte, wegen zuruckgehender Bevol­kerungszahlen die Aufgaben der Stadt­planung durch Stadterneuerung und In­nenentwicklung losen zu konnen, stehen

die Stadte seit der grossen europaischenWende wieder vor Dimensionen derWohnungsnachfrage, die mit Innenent­wicklung allein nicht zu losen sind, son­dern offensichtlich erhebliche Stadter­weiterungen erfordern: In den meistendeutschen Grossstadten sind wieder

Planungen fur grosse, neue, in sich ge­schlossene Stadtteile in Arbeit.

Da sollte es eigentlich selbstverstand­lich sein, sich mit den Siedlungsergeb­nissen aus der letzten grossen Phase dereuropaischen Stadterweiterungen zwi­schen 1950 und 1975 zu beschaftigen,um offensichtliche Fehler in der vor uns

liegenden Phase der Entwicklung neuerStadtteile zu vermeiden. Dabei ist unseregrundsatzliche Einstellung der Aufgabegegenuber von Bedeutung:

Sind die Grosssiediungenund «NeuenStadte» jener Zeit eigentlich schon einhistorisch abgeschlossenes Thema derStadtgeschichte, oder zeigen sie eineauch heute noch aktuelle Konzeption derModerne?

.Erfahrungstransfer: zwischen zuuberwindender und .unvollendeterModerneAusserlich gesehen zeigen sie durchausverwandte Merkmale mit den heute ge­bauten neuen Stadttei len:

Denn «Neue Stadte», «Trabantenstad­te» oder - nuchterner - «Grosssiedlun­gen» sind die Bezeichnungen fur die insich geschlossenen, schon von weitemerkennbaren Siedlungsgebiete mit meh­reren tausend Bewohnern, die nach ein­heitlichen, haufig mit ehrgeizigen sozia­len und kulturellen Zielen verbundenenPlanen, in der Nachkriegszeit etwa zwi­schen 1950 und 1975, in ganz Europakonzipiert und gebaut wurden.

Um die Frage der Aktualitat beant­worten zu konnen, muss man differen­zleren:

Die Grosssiediungen waren im allge­meinen konzipiert fur eine Grossenord­nung von 15000-25000 Einwohnern,

ZUnl Teil wurde die Zahl der Bewohnerauch erheblich uberschritten. Sie zeigenin allen europaischen Laridern typischeEntwicklungszuge, die es erlauben,idealtypisch von drei «Generationen» zusprechen. Trotz ihrer Unterschiedlichkeit

im Detail weisen sie aile in verschieden­

gestaltiger Auspragung das Grundprin­zip der nach den Hauptfunktionen Woh­nen, Versorgen, Bildung und Erholungsowie Arbeit geordneten «funktionalenStadt» auf.

Die erste Generation der funfziger

Jahre in der Wiederaufbauzeit folgt demIdeal der gegliederten, aufgelockerten

. und durchgrunten Stadt, die zweite Ge­neration ist gepragt von den grossenWachstumserwartungen der sechzigerJahre und zeigt im Kontrast zur erstenGeneration eine ausserordentliche hori­zontale und vertikale Verdichtung, biszur einheitlichen, stadtebaulichenGrossform, wahrend die dritte Genera­tion der siebziger Jahre nach den Erfah­rungen der Rezession Ende der sechzi­ger Jahre und nach Beseitigung derdruckendsten Wohnungsnot meist wie­der eine grossere Vielfalt der Erschei­nung zeigt, mit geringeren Dichten,anspruchsvoller Architektur und mehroffenen, landschaftlich gestalteten Frei­flachen.

In den «Neuen Stadten» haben sichdie stadtebaulichen Ideale der jeweili­gen Entstehungszeit am deutlichsten aus­gepragt, die sich partiell auch, der klei­neren Grossenordnung entsprechend, inden sehr viel zahlreicheren Grosswohn­anlagen unterschiedlicher Dimensionenausdrucken. Die «Neuen Stadte» stellendeswegen ein besonders geeignetes Un­tersuchungsfeld fur die Periode von 1950bis 1975 fur die jeweils zeittypischenZielvorstellungen im Stadtebau dar. Sogesehen sind sie einer abgeschlossenenPhase der zentraleuropaischen Stadtent­wicklung zuzurechnen und sind als insich geschlossene Gebilde damit trotzihres geringen Alters - sie sind nochnicht einmal finanziell abgeschrieben ­

zu einem Thema der modernen Stadtge­schichte geworden.

Andererseits konnten Analyse undDarstellung der Erfahrungen mit ausge­wahlten Neuen Stadten in Zentral-, Ost­und Nordeuropa zu einem nutzlichen Er-

fahrungstransfer fur die neu anstehen­den Aufgaben der Stadterweiterung bei­tragen - wenn es gelingt, das spezifischeWesen und die strukturellen Merkmaleherauszuarbeiten.

Dieser Doppelcharakter von Ge­

schichtlichkeit und konzeptioneller Ak­tualitat fuhrt in der stadtplanerischenPraxis zur Gretchenfrage: Soil man sieals Zeugnisse einer abgeschlossenen,historischen Epoche behandeln oder alsnoch konzeptionell aktuelle, «unvollen­dete Moderne», die es weiterzufuhrenund deren Anspruch es auch unter ver­anderten Bedingungen einzulosen gilt?

In einer wichtigen Eigenschaft konnenwir ihr historisch bedingtes Wesen deut­lich erkennen:

Die Grosssiediungen waren zumeistnicht nur als raumlich begrenzte, son­dern auch als zeitlich abgeschlosseneSiedlungsgebilde entworfen worden, furein endgultiges Bild einer zeitlosen Zu­kunft, sozusagen fur einen endgultigenZustand der Fertigkeit und Ganzheit, oh­ne konzeptionelle Offenheit fCir ge­schichtlichen Wandel. Diese Auffassungerweist sich heute als falsch und ver­hangnisvoll, denn ihre beabsichtigte undvermeintliche Fertigkeit birgt gleichzei­tig eine Fulle von Konflikten: Wenn sie ­gemessen an okonomischen und sozia­len Kriterien - erfolgreich sind, sind die,Neuen Stadte weiterhin aktive Entwick­lungsgebiete und haben deshalb vitaleAnpassungsprobleme.

Die weniger erfolgreichen NeuenStadte, insbesondere diejenigen derzweiten Generation aus den sechzigerJahren, die gepragt sind von industriali­sierter Vorfertigung und hoher Dichte,.leiden zum Teil jetzt schon, nach ein biszwei Jahrzehnten, unter schweren sozia­len, okonomischen und technischen Pro­blemen, die ihnen bisweilen den Ruf vonSlums eingetragen hoben, die dringendder Stadterneuerung bedurfen.

In jedem Fall erweist sich die Eigen­schaft des «Fertigen», das konzeptionellkaum Entwicklungen zulasst, als schwe­

res Hindernis bei der Anpassung an ge­

wandelte Bedingungen, insbesondere inden baulich verdichteten und industriali­sierten Stadtstrukturen. Man muss die­se Neuen Stadte heute aus ihrer stahlbe­tonierten Versteinerung befreien und

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Karlsruhe-Waldstatt: Die Abstande zwischen den

Zeilen bilden grosszUgige Freiflochen, und der

alte Baumbestand pragt den Raum.

Karlsruhe-Waldstatt (K. Selg), Modellfoto 1956.

(Bsp. fUr die «erste Generation» von Neuen

Stodten)

offnen fur eine Entwicklung, in der wie­der Spielraume freigelegt werden undsoziale Aneignungsprozesse stattfinden

konnen, in der diese Gebilde auch in

Wurde altern und Patina ansetzen

konnen.Damit stellen sich Fragen des Um­

gangs mit der ursprunglichen Planungs­konzeption: Der bewusst antihistorischeCharakter dieser Konzeptionen verleitetdazu, mit ihnen historisch sorglos umzu­gehen und sie so zu behandeln, als obsie keine eigene Geschichte hatten. Die­

se Einstellung erscheint uns aber heute

unangemessen und kurzsichtig.

Denn diesen Konzeptionen liegt eine

eigene wesentliche Geschichte zugrun­de. Die Konzipierungs- und Entstehungs­zeit hat einen geschichtlichen Charakter,

den man genauso erkennen muss wiebei Eingriffen in historisch schon sank­

tionierte Stadtkonzeptionen des Mittelal­ters und der Neuzeit: Wir machen sonstwieder den gleichen Fehler wie nachdem Zweiten Weltkrieg im Umgang mitder Stadt des 19. Jahrhunderts.

Vor allen punktuell-pragmatischen,einseitig sektoralen Sanierungs- und An­

passungseingriffen erscheint es notwen­

dig, innezuhalten und den Blick nicht nurisolieri auf die Probleme einzelner Sied­lungen zu richten, sondern die Betrach-

tung mit etwas mehr Distanz auf dasGanze zu lenken: auf die Planungsziele

die Entstehungsbedingungen und die

Durchfuhrungsprobleme nicht nur der

heutigen Problemsiedlungen, sondernauch der gelungenen Beispiele derNeuen Stadte, und zwar nicht nur in derBundesrepublik, sondern auch im euro­paischen Ausland. Dabei mussen einer­seits die jeweiligen Siedlungsindividuali­taten analysiert und andererseits diegemeinsamen strukturellen Merkmaleherausgearbeitet werden.

Ergebnisse einer Untersuchung

Der heroische Stadt- und Weltverbesse­rungsidealismusDie Jahre, in denen die Neuen Stadte

nach demo Zweiten Weltkrieg konzipiertund begonnen wurden, waren ohneZweifel eine Periode mit dem grossten

Stadtwachstum in der Geschichte Euro­pas. In den Neuen Stadten haben sich

die Hoffnungen, Ideen und Ziele, die mit

diesem gewaltigen Stadtwachstum ver­

bunden waren, am reinsten verkorpert.Sie dienten neben dem unabweisbaren

Bedurfnis, moglichst viel Wohnraum inkurzer Zeit zu schaffen, auch als gesell­

schaftspolitische Hoffnungs- und Experi­mentierfelder.: Es galt, mit einer neuen,

idealen Wohnumwelt auch einen neuen,besseren und glucklicheren Menschenzu schaffen.

Die Planungskonzepte der NeuenStadte waren bisher die letzten heroi­schen Versuche, da~ gesamte Alltags­leben in einer nicht nur funktionell, son­dern auch kulturell ganzheitlich gesehe­nen stadtischen Umwelt zu beheimaten

und abzubilden.Das scheint auf den ersten Blick im

Widerspruch zu stehen zu der These derFunktionstrennung, die den funktionalen

Stadtebau kennzeichnet. Ein grundle­

gender Bestandteil der Theorien des mo­dernen Stadtebaus ist jedoch die geziel­te strukturelle Verknupfung der Alltags­funktionen derart, dass sie mit einemMinimum an Zeitaufwand benutzt wer­

den konnen.Das «Heroische» zeigt sich zum Teil

auch in der Art der Planungskonzeptio­

nen, die als grosser Wurf die Traume

ihrer Verfasser von einer besseren, dem

industriellen Fortschritt verschriebenen

Welt widerspiegeln. In dieser besseren

Welt war - wie im Paradies - die Ge­

schichte ein fur allemal «stillgelegt»!

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Bei oller grundlegenden Unterschied­

lichkeit der Ausgangsbedingungen - et­

wa in den fur die Untersuchung gewahl­

ten Landern in Schweden, Finnland, Po­

len und Deutschland [1] - gab es einen

verbindenden Notstand: die grosse

Wohnungsnot - und eine verbindende

Ideologie: der Glaube an die Moderne

und an den mit ihr verbundenen Fort­

schritt.

Wir kdnnen deswegen neben allen

politischen, okonomischen und kulturel­

len Unterschieden eine machtige zivili­

satorische Grundstromung feststellen,

die sicherlich nur vor dem gemeinsamen

Hintergrund des Erlebnisses der Verhee­

rung des Zweiten Weltkriegs verstand­

lich ist.

Diese Grundstromung schlug sich po­

litisch nieder in konkreten stadtebauli­

chen Program'men, die das Alltagsleben

- besonders der Frauen, Kinder und AI­

ten - erleichtern und befreien wollten

von den inhumanen Zwangen ungesun­

der Wohnverhaltnisse, longer Wege,

isolierten Wohnens und mangelnder Bil­

dungs- und Erholungsmoglichkeiten,

Programme, die schon viele Jahrzehnte

vorher konzipiert worden waren, aber

erst zu diesem Zeitpunkt auf nationaler,

regionaler und kommunaler Ebene rea­

lisiert werden konnten.

Der scheinbar so einseitig technokra­

tische Charakter dieser Stadtebaubewe­

gung dod uns uber die humanistischen

Ziele, die auf die Befreiung des Wohn­

alltags von unnotigen Zwangen und Ge­

fahren ausgerichtet waren, nicht hin­

wegtauschen.

Die drei Generationen von Neuen

StCidten

Die eingangs gemachte Unterscheidung

in drei Generationen von Grosssiedlun­

gen bzw. Neuen Stadten lasst sich fol­

gendermassen genauer umreissen:

Fur die erste Generation gelten folgende

Merkmale:

- Es wird ausnahmslos eine enge,

lichst fusslaufige Verknupfung von

Wohnen, sozialen und kommerziellen

Versorgungseinrichtungen sowie Ar­

beitsplatzen angestrebt, wenn ouch

nicht immer erreicht.

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Heidelberg-Emmertsgrund (F. Angerer,

V Branca), Ausfuhrungsmodell um 1970.

(Bsp. fur die «zweite Generation» von Neuen

Stadten)

Heidelberg-Emmertsgrund: Zahlreiche Kinder­

spielgebiete wurden von Anfang an angewiesen

und mit der Wohnbebauung erstellt.

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- Die Boustruktur ist eng mit einer land­schaftlich aufgefassten GrOnstrukturverzahnt, die Natur dominiert.

- Die Bau- und Wohndichte ist - vergli­chen mit der kompakten historischenStadt, wie auch mit der zweiten Gene­ration der Neuen Stadte - gering.Die verschiedenen BauformenHochbau und Flachbau, Geschoss­wohnungen und Einfamilienhauser ­werden in unterschiedlichen VerknOp­fungen gemischt angeordnet.

- Die Nachbarschaften gruppieren sichum Grundschulen, Kindergarten undTagesbedarfsladen, getrennt durchGrGnzOge.

- Fussganger und Autofahrer werdenebenerdig auf verschiedenen WegengefOhrt, ohne aufwendige Trennung inmehreren Ebenen.

- Ais maximale Fusswegentfernung vonder Wohnung zu den Zentren undHaltepunkten des offentlichen Nah­verkehrs werden 700-1000 m in Kaufgenommen, dabei gelten fur Kinder­garten und Grundschulen geringereMaximalentfernungen von nur 300­500m.

Die zweite Generation der Neuen Stadte- konzipiert in den sechziger Jahren, derZeit der grossen Wachstumserwartun­gen und des Glaubens an die Allzustan­digkeit der Planung - ist als eine typi­sche kulturelle Gegenbewegung zu ver­stehen. Sie verwirft das Form-Ideal dergegliederten und aufgelockerten Stadtmit ihrer'geringen Dichte und der Domi­nanz der Natur, als antiurban und ver­sucht dagegen, eine neue Art der Urba­nitat zu setzen mit stark verdichtetenBauformen in geometrisch-strukturellerAnordnung als bewusster Kontrast zurumgebenden NattJr der offenen Land­schaft. Dabei wird das Ziel verfolgt, Fla­che zu sparen und durch die Steigerungder Wohndichte und der Anordnung kur­zer Wege zu den Gemeinschaftseinrich­tungen das stadtische Leben zu fordern.Damit wird auch das Ordnungsprinzipder kleinen Nachbarschaft aufgegebenzugunsten grosserer Einzugsgebiete mitmehr Zentralitat der Gemeinschaftsein­richtungen, ohne das Ziel der Einheit vonForm, Funktion und Lebenszugen zu ver­lassen.

Foigende Merkmale kennzeichnendiese zweite Generation der NeuenStadte:

starke horizontale und vertikale Yer­dichtung der Bebauung in geome­trisch geordneter Baustruktur bis zureinheitlichen stadtebaulichen Gross­form,bauliche VerknOpfung der Gemein­schaftseinrichtungen mit der Wohnbe­bauung mit dem Ziel kurzer, witte­rungsgeschOtzter Wege.Vergrosserung der Infrastrukturein­richtungen mit derFolge grossererEinzugsbereiche - raumlich ausgegli­chen durch die grossere Wohndichte- und dem Ziel der betrieblichen Op­timierung und der Maximierung derWahlfreiheit fOr den Nutzer,

- Natur und Landschaft als Kontrast­umgebung, GrOn innerhalb der Stadtvorwiegend als geometrisch ange­ordnetes StadtgrOn,Bebauung gepragt durch Industriali­sierung der Bausysteme, Bauokono­mie als Ausdrucksprinzip: Form folgtFertigung.Dominanz der Verkehrssysteme inForm von Strassensystemen und PKW­Garagen in mehreren Ebenen, haufigerganzt durch die technische AusrO­stung, z. B. zentraler MOlisammelsy­steme, Fernheizung und Verkabelungieder Wohnung.

Die dritte Generation Neuer Stadtestammt aus den siebziger Jahren. Sie istwiederum eine Reaktion auf die vorher­gehende Generation.

Die Eindeutigkeit der beiden vorher­gehenden Generationen von NeuenStadten, die gleichzeitig auch Einseitig­keit bedeutete, wird aufgegeben zugun­sten grosserer Vielfalt und Vieldeutig­keit: Die progende Kraft der Theorie unddes auf ihr beruhenden Gliederungs­schemes schwacht sich abo

Diese dritte Generation Neuer Stadtewurde in einer Zeit konzipiert, als sichschon das Ende der drOckenden Woh­nungsnot abzeichnete urid aus einemAngebotsmarkt ollmahlich ein nachfra­gebestimmter Markt wurde. Die Pla­nungskonzeptionen mussten deswegenstarker als die vorhergehenden Genera­tionen Neuer Stadte die differenzierte-

ren und sich teilweise schnell verandern­den Krafte des Marktes berucksichtigen.

Die AnsprOche an die Qualitat undIndividualitat des Wohnens stiegenebenso wie der Anspruch on das Wohn­umfeld und die Moglichkeiten der Frei"zeitbeschaftigung. Die 'VerkOrzung der .Tagesarbeitszeit allgemein und die wei­tere Verbreitung von Halbtagsarbeitsteigerten d,ie Bedeutung der Nahe at­traktiver Arbeitsplatze.

Gleichzeitig ging die Dominanz desausschliesslich offentlich finanziertenMietwohnungsbaus zugunsten des Ein­satzes von Privatkapital und von Eigen­tumswohnungen und EinfamilienhausernzurOck. Die Prioritaten in der Rangfolgeder Nachfrage wandelten sich von derMietgeschosswohnung ober Eigentums­wohnungen in unterschiedlichen VerfG­gungsformen zum Einfamilienhaus alsEigentum.

Der Charakter dieser GenerationNeuer Stadte lasst sich nicht mehr soeindeutig auf in sich schlOssige TheorienzurOckfOhren. Trotzdem gibt es eine Rei­he typischer Merkmale:- Die Standortqualitat ist meistens her­

vorragend.Sie sind haufig auch sehr gut mit demoffentlichen Nahverkehr erschlossen.Die Ausstattung mit Infrastruktur istquantitativ wie auch qualitativ viel­seitig.

- Die Zentren sind meist multifunktionalund in architektonisch anspruchsvol­ter, Oberdachter Form ausgebildet.

- Die Wohnungen sind in kleineren, in­formell ausgebildeten Wohngruppenangeordnet, mit differenzierter, hau­fig traditionelle Elemente und Mate­rialien verwendender Architektur.

- Der Anteil von Eigentumswohnungenund eigentumsahn lichen Verfugungs­formen liegt meist bei ober 50C}"o.

- Die umgebende Landschaft ist haufigvon besonderer Freizeitqualitat. Inder Regel werden den Neuen Stadtenattraktive Arbeitsstatten zugeordnet.

Die Einteilung in drei Generationen ist­wie iedes Ordnungsschema - nur be­dingt aussagekraftig; natOrlich gibt esauch Misch- und Obergangsformen.Auch treten - bei jahrzehntelangen Bau-

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Kivenlahti,

1966-70.(Bsp. fur die «dritte Generation» von Neuen

Stadten)

Kivenlahti, Espoo: WOlhn()nlc]Qe «Amfi»,

in Neuen Stadte

Merkmale aller drei Generationen auf.

Zwischen Eigenstandigkeit und Ein­fugung: Neue Stadt oder neuer Stadtteil1m der untersuchten

sich interessan-te aber auch \1\1.rlL"'l>"'~""',""

che: Die rtn.rtO'ctr4:::lhto t-.rt.c~nC"1'rt,'"\rtlrtLt'Olt

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die sich als ganz norma Ie Stadt­

das der

wo

\/OI'"'t"lc,rhtllr"l,rt ist

als ein bestim­

mendes Strukturmerkmal noch bei allen

tselsplelE~n deutlich erkennbar: Auch ab­

wurden ge­

staltet wie «Neue Stadte» und setzen

sich in der Form bewusst ab von dem

Die

meistens nicht Bereiche ausqE~blldE~t,

welche die bestehenden alteren Stadttei-Ie mit der Neuen Stadt son-dern als deutlich Zentruminmitten der Neuen das somit de-

ren hervorhebt.

Der Einfluss der Organisationsformenfur Bau und BetriebEntscheidend fur den Charakter der

waren nicht nur die

sondern auch die

fur Bau und Be-

Fallen bot die

besondere Probleme:des Bo-

die mindestens

stadt-

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Die auf wenige Jahre konzentrierteriesige Wohnungsproduktion fuhrte inder Mehrzahl der Beispiele, unabhangigvon der politischen Struktur der Auftrag­geber, zur Bildung grosser Wohnungs­bauunternehmen, die mit dem Eigenge­wicht ihrer Kapitalkonzentration sowieihrer burokratischen Organisations- undtechnokratischen Produktionsformen die«Neuen Stadte» weitgehend gepragt ho­ben, insbesondere die der zweiten Ge­neration, in denen sich die Kapital- undEntscheidungskonzentration mit derKonzentration der Industriealisierungder Bauweise verband und der Einflussder Architekten immer schwacherwurde.

Dos Verhaltnis der planenden Archi­tekten zu den Durchfuhrungsorgani­sationenwar durchaus zwiespaltig: Ei­nerseits erfuhren sie den schwindendenEinfluss, den sie auf die Durchfuhrunghatten, andererseits kam aber dieMachtkonzentration mit ihren zentralenEntscheidungswegen und die kurzzeiti­gen Realisierungsmoglichkeiten ihreraufgeklart-technokratischen Hei Isge­wissheit und ihrem missionarischen Om­nipotenzbewusstsein durchaus ent­gegen.

Die Machtzusammenballung in Gross­organisationen mit ihrer zentralgesteuer­ten Planung und Wohnungsproduktionsetzte sich spoter fort in der zentralenVerwaltung der Wohnungen und Ge­meindebedarfseinrichtungen, die donnletztl ich zu den schwerwiegendsten Pro­blemen der «Neuen Stodte» gefuhrt hat,zu der Entfremdung der Bewohner vonihrer Siedlung, die weder bei der Planungund beim Bau noch bei der Verwaltungund Erneuerung beteiligt waren.

Ausmass und Auswirkungen der Ent­fremdung sind stark beeinflusst von dersoziolen Zusammensetzung der Bevolke­rung: Je schlechter der Bildungsstand, jeniedriger das Einkommen und je hoher dieArbeitslosenrate sind - je starker also dieBevolkerung auf ihr Wohnumfeld unmit­telbar angewiesen ist -, desto verhangnis­voller wirkt sich die Entfremdung aus.

Die «ROckfOhrung» der Neuen Stadtein das ganz normale, soziale, kommu­nalpolitische, okonomische und verwal­tungsmassige GefOge der jeweiligenStadtregionen ist besonders in den kriti-

schen Siedlungen der zweiten Genera­tion haufig eine immer noch anstehendeAufgabe.

Ein anderes verbindendes Merkmal istder Glaube an die Rationalisierung derBauproduktion.

Die Rationalisierung der Bauproduk­tion war ein wesentlicher Programm­punkt der Charta von Athen und Be­standteil" der meisten Planungskonzep­tionen der Neuen Stadte:

Zur Begeisterung fur den Fortschrittund die Technik als Instrument derMenschheitsbefreiung gehorte von An­fang an ouch die Forderung, die in ihrerProduktionsweise so ruckstandige Bau­technik in Richtung Serienfertigung undMontagebauweise zu industrialisieren.

Es ist fast tragisch,-dass die industriali­sierte Montagebauweise erst zu einemZeitpunkt technisch perfektioniert wur­de, als sie nicht mehr gefragt war.

Die Rationalisierung der Wohnungs­bauproduktion ist andere Wege gegan­gen, nicht weiter in Richtung der seriel­len Fertigung grosser Elemente, sondernin der Rationalsierung einer individuellgestaltbaren Fertigungstechnik in Ver­bindung mit standardisierten, aber nichtbausystemgebundenen Ausbauelemen­ten.

Die Foigen von Bevolkerungszusam­mensetzung und -entwicklungFast aile Grosssiediungen hatten mit denEntwicklungsphasen ihrer Bewohner zukampfen:

Die Probleme, die sich aus der Bevol­kerungsentwicklung ergaben, wurdenanfangs haufig unterschatzt. Dies ist zumTeil auf den Mangel an Erfahrung zu­ruckzufuhren,zum Teil aber ouch auf dieOberschatzung der gOnstigen Wirkungder gebauten Umwelt auf das Verhalten,die ein wesentlicher Bestandtei-I der so­zialen Oberzeugung der Stadtplanerwar. Die Unterschatzung der sozio lenEigengesetzlichkeiten in Verbindung mit.der Oberschatzung der sozialen Wir­kung der gebauten Umwelt, hat wahr­scheinlich zum Teil zu den fOr viele NeueStadte heute typischen sozialen Konflik­ten beigetragen.

Dabei sind drei Problemursachen zuunterscheiden, die freilich in den unter­suchten Beispielen mit verschiedenem

Gewicht auftreten: die unausgeglicheneAltersstruktur, die anfonglich mangeln­de Ausstattung mit Infrastruktur, ins­besondere die schlechte Anbindung anden offentlichen Nahverkehr und - amschwerwiegendsten - die unausgewoge­nesoziale Schichtung mit einem Oberge­wicht sozial schwacher Bevolkerungs­gruppen und sozialer Problemgruppenin roumlicher Konzentration.

Der von Anfang an unausgeglicheneAltersaufbau fOhrte zu dynamischenVeranderungen innerhalb weniger Jah­re, denen die normativ festgelegte Infra­struktur nicht gewachsen war. Die vor­wiegend junge Anfangsbevolkerung inder Phase der FamiliengrOndung hattezahlreiche Kinder zur Folge, die wellen­formig in jeder Altersstufe neue Bedarfs­probleme erzeugten - bis zur Gegen­wart, wo sich in den «Neuen Stadten»der ersten und zweiten Generationschon die ersten Probleme der Oberalte­rung der Bevolkerung zeigen, verbun­den mit einem starken Ruckgang derWohndichte.

Insbesondere in den meisten NeuenStadten der ersten Generation ist an­fangs der Ausbau der Versorgungsein­richtungen und die Bereitstellung von Ar­beitsplatzen nicht im Einklang gewesenmit· den Bedurfnissen der Bevolkerung,dieser Mangel der Unterversorgungkonnte erst spoter korrigiert werden,teilweise zu spat: Die Gewohnheiten derneuen Bevolkerung hatten andere Ver­haltensmust~r eingeschliffen, die sichnicht mehr korrigieren liessen.

Verscharft wurde der Konflikt dur~h

die zum Teil einseitige Belegungspolitikder Stadte und Gemeinden: Die offent­lich kontrollierten Wohnungsbestandeboten die Moglichkeit, auf organisato­risch einfache Weise die Sozialfolle undRandgruppen unterzubringen. Dies fOhr­te zu der verhangnisvollen raumlichenKonzentration von sozialen Problem­gruppen.

Die hieraus entstehenden Probleme­wurden anfangs im Glauben an denwohltuenden Einfluss des neuen besse­ren Wohnmilieus unterschatzt, und spa­ter liessen sie sich kaum noch korrigie­ren, weil das Image der betreffendenGrosssiediungen schon zu tief als sozia­les Problemgebiet eingeforbt war.

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Hat eine Grosssiediung erst einmal ei­nen schlechten Ruf, so lasst sich dieserauch mit objektiv wirksamen Verbesse­rungen in der Wohnungs- und Infrastruk­turausstattung kaum kurz- und mittelfri­stig verbessern, die Korrektur bedarf der

muhsamen, langfristig angelegten So­zial- und Kulturarbeit, die den gewach­senen besonderen sozialen Status derSiedlung erst einmal akzeptiert und sichbewusst ist, dass eine grossere sozialeAusgewogenheit nur mit einem sehr lan­gen Atem zu erreichen ist. Denn es zeig­te sich, dass der sich zunehmend ent­spannende Wohnungsmarkt die sozia­len Segregationen unterstutzte: Wer essich leisten konnte, verliess die sozialeGeschosswohnung und zog in ein Einfa­milienhaus. Die hohen Baudichten dieserzweiten Generation Neuer StCidte unddas einseitige Wohnungsangebot (uber­wiegend Geschosswohnungen) stellensich heute deswegen als besonders hart­nackiges Hindernis der sozialen Befrie­digung dar.

Die stadtraumliche Gestalt der ver­

schiedenen Grosssiediungen ist ganzunterschiedlich. Trotzdem folgen aileStadte einem ubergeordneten idealtypi­schen Grundprinzip: der Identitat vonfunktionaler Einheit, soziologischem Zu­sammenhang und architektonisch-stad­tebaulicher Form. In diesem Prinzip, dassich in der «Nachbarschaftseinheit» amdeutlichsten auspragte, bleiben die Neu­en Stadte dem Funktionalismus struktu­rell verpflichtet; bis in die Entwicklungder Normen und Richtwerte hinein istdieser Grundzug des funktionalistischenStadtebaus ablesbar.

Das Prinzip der Nachbarschaftsein­heit stellt sich als Grundzelle der NeuenStadt von 5000 bis 10 000 Einwohnerndar, mit der Grundschule als Bezugs­

grosse.Empirisch-soziologische Untersuchun­

gen von Prof. Klages haben zwar schonin den funfziger Jahren nachgewiesen,dass dem stadtebaulichen Konstrukt derNachbarschaft die soziale Realitat nur

sehr schwach entsprach. Diese grundle­gende Kritik hat jedoch das Gliede­rungsprinzip sehr wenig beeinflusst - al­lenfalls z. B. in der Aufgabe der kleinenNachbarschaftseinheiten bei der zwei­ten Generation der Neuen Stadte zugun-

sten grosser Einzugsbereiche. 1m ubri­gen bleibt das funktionale Gliederungs­prinzip trotz der soziologischen Kritikgewahrt.

Chancen und Anknupfungsmoglich­keitenDie kurze Epoche der Neuen Stadte hatein breites Erbe hinterlassen, das in dergegenwartigen Diskussion vorwiegend·als soziales und bautechnisches Pro­blemfeld betrachtet wird. Die grossenChancen dagegen, die dieses Erbe furdie zukunftige Stadtentwicklung birgt,werden noch nicht gesehen: Die NeuenStadte unterliegen zurzeit ziemlich ein­seitig und pauschal der Kritik, die jedeGeneration an den Werken der vorher­gehenden obt. Wahrscheinlich wird erstdie nachste Generation wieder die Wer­te und Qualitaten erkennen konnen, die

das Erbe der Neuen Stadte beinhaltet.Die grossen Chancen der ersten Ge­

neration Neuer Stadte liegen in der Of­fenheit der Baustruktur und der ver­gleichsweise geringen Dichte. Die Of­fenheit der Struktur gibt die Freiheit bau­

licher Erganzungen und vergleichsweiseproblemlosen Austauschs veralteter Ele­mente. Beides ermoglicht die verhaltnis­massig zwanglose Anpassung an ge­wandelte Anforderungen. Der grosseAnteil landschaftlicher, offener Freifla­che erlaubt im Prinzip sowohl die Anla­ge privat zu nutzender und zu gestalten­der Garten in verschiedener, den Woh­nungen enger und weiter zugeordneterForm als auch die «Renaturierung» derVegetation und des Wasserhaushaltes.Damit kommen die Neuen Stadte derersten Generation den Anforderungeneiner okologisch ausgerichteten Stadt­planung wie auch den Anspruchen einesStadtebaus entgegen, bei dem Mitbe­stimmung und kreative Mitwirkung derBewohner von besonderer Bedeutungsind.

Die zweite Generation der NeuenStadte, die gegenwartig am starkstender Kritik ausgesetzt ist un~ die grosstenProbleme aufwirft, konnte in Zukunft fOrbestimmte Gruppen der Gesellschaft,denen weniger an Selbstgestaltung undMitbestimmung liegt, sondern die in derStadt in erster Linie einen Serviceappa­rat sehen, eine Renaissance der Wert-

schatzung erleben: Fur diese Gruppe ty­pischer Stadter konnte die Verbindungvon hoher technischer Ausrustung, reich­haltiger Infrastruktur «im Hause» mitgrossen Wahlmoglichkeiten und grosserDichte dann interessant werden, wenn es

gelingt, den Teufelskreis des schlechtensozialen Images aufzubrechen und denVorteil der baulichen Verdichtung durchNutzungsmischung und Nutzungsan­reicherung (Arbeitsplatze, soziale Dien­ste) in den bestehenden Gebauden kon­sequent zu nutzen. Auch die unmittel­bare kontrastierende Nahe, aber nichtbauliche Durchdringung von Stadt undoffener Landschaft konnte fur dieseNachfragegruppe attraktiv werden.

Die dritte Generation Neuer Stadte istschon weitgehend auf die absehbaren

gesellschaftlichen Bedurfnisse ausge­richtet, ihre Zukunft muss zum Teil mitregionalplanerischen Mitteln gesichertwerden.

Die Neuen Stadte sind heute im allge­meinen hervorragend mit Infrastrukturau-sgestattet, zum Teil so gut, dass be­stimmte Einrichtungen nicht mehr vollausgelastet sind. Es ware ein verhang­nisvoller Fehler, diese Einrichtungen we­gen der hohen Folgekosten jetzt beseiti­gen zu wollen, weil sie wahrscheinlichfur zukunftige Bedurfnisse im Bereichder Freizeit, der erweiterten kulturellenBetatigung, der Bildung und Altenpflegesowie der informellen Arbeit dringendbenot~t werden: Die Starke der NeuenStadte liegt in der funktionellen Strukturder Zuordnung von Wohnungen, Freifla­chen und Gemeinbedarfseinrichtungen.

Wollen wir angemessen mit den Neu­en Stadten umgehen, mussen wir die ur­sprunglichen Leitvorstellungen - dieVorstellungen der aufgelockerten,durchgrunten und in Bereiche geglieder­ten Stadt oder der Stadt als verdichteterDienstleistungsapparat - aus ihrer Ent­stehungszeit heraus verstehen und ausheutiger Sicht baulich weiterentwickeln.

In einigen Fallen wird man auch densogenannten Ruckbau nicht vermeiden

konnen, um durch teilweisen oder voll­standigen Abriss von nicht mehr ange­nommenen Bauwerken und Strassen dasGleichgewicht zwischen Belastbarkeitder naturlichen Lebensgrundlagen derVegetationen, des Bodens, des Wassers

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sowie des Mikroklimas und den AnsprG­chen stadtischer Lebensweise in neuerForm herzustellen.

Ebensowichtig, ja vielleicht noch wich­tiger als die bauliche Erganzung undUmgestaltung ist die sozio-okonomischeAnpassung an die gewandelten AnsprG­che: Die entfremdende Wirkung derzentralen Wohnungsproduktion undVerwaltung durch Grossorganisationenmuss durch effektive, die Verantwortungder Bewohner fGr ihre Wohnumwelt for­dernde Beteiligungs- und wirksame Ver­fGgungsformen abgelost werden, ohnedoss durch ein Obermass an traditionel­ler zersplitterter und isolierter Eigen­tumsbildung die grossen Vorteile des zu­sammenhangenden offentlichen Besitzesdes Bodens aufgelost werden. Die vonuns untersuchten Beispiele zeigen hierein breites Spektrum unterschiedlicherVerfGgungsformen der Bewohner Gberdie verschiedenen Ebenen und Bestand­teile ihrer Siedlungen. Die Entwicklungkonnte anknGpfen an die Tradition derGenossenschaften wie in Polen; bei-

. spielhaft sind ouch die schwedischenTraditionen des Wohnrechts, das ver­erbbar ist und verkauft werden kann, mitdem aber nicht spekuliert werden darf,und die Form des Wohneigentums in Ta­piola/Finnland, bei dem jeder Woh­nungseigentGmer gleichzeitig Aktionardes Stadtteils ist.

Nur in der Bundesrepublik sind die .alten Genossenschaftsformen verkGm­mert und neue, auf die Neuen Stadte undihre Eigenarten zugeschnittene dezen­trale VerfGgungsmoglichkeiten kaumentstanden.

Ein wichtiger Weg zur Weiterentwick­lung besteht in der Ausweisung vonWohnerweiterungs- und Erganzungsfla­chen, weil diese zu einer grosseren Aus­gewogenheit im Wohnungsgemenge,der Alters- und Sozialstruktur sowie zueiner besseren Auslastung der Infra­struktur beitragen.

Modernisierung und Instandsetzungdorfen nicht dazu fGhren, unbrauchbareStrukturen zu konservieren, d. h. Restau­ration um jeden Preis ist falsch. Teilwei­ser oder vollstandiger Abriss oder Teil­demontage konnen auch eine Chancebieten, die stadtebauliche Struktur nach­haItig zu verbessern.

RGckbau bedeutet den Versuch, dasGleichgewicht zwischen der Belastbar­keit der natGrlichen Lebensgrundlagenund dem Anspruch stadtischer Lebens­weise in neuer Form herzustellen, unddas bedeutet Grenzen an Verdichtungzu wahren. Diese These wurde durch dieUnt~rsuchungen bestatigt: Die Stadteund Siedlungen, die Gberwiegend vonder Gartenstadtbewegung gepragt sind,sind heute von vieI weniger Problemenbelastet als Stadtorganismen, die mitdem Mittel der baulichen Verdichtungeine neue Urbanitat anstrebten.

Man kann es an den einzelnen Sied­lungen erkennen - zum Guten oder zumSchlechten -, ob es «nun> eine bGrokra­tisch und technokratisch gut funktionie­rende Planungs- und DurchfGhrungs­gruppe gab, mit mehr oder weniger aus­tauschbaren Funktionstragern oder obbei der Entstehung und DurchfGhrungengagierte, unverwechselbare Person­lichkeiten mit charismatischer Ausstrah­lung Pate gestanden und verschworeneTeams von idealistischen Enthusiasteninspiriert haben.

Eir:' weiteres personliches Merkmalkennzeichnet die politischen GrGn­dungsvater und fachlichen GrGndungs­planer: der Mut zum Wagnis, ein Mut zurganzheitlichen gedachten Stadt, der eingegenwartig kaum nachvollziehbaresMass an Selbstvertrauen und Glaubenan Fortschritt, Reform und eine bessereZukunft zeigt. Ein Mut ouch in bezug aufdas Vertrauen in fachliche Autoritat, wis­senschaftliche Prognose und Erfingung,ein Mut, der spater freilich zum Teil ent­tauscht wurde.

In dieser Hinsicht tragen die NeuenStadte deutlich das Signum ihrer Zeit unddas ihrer Vater. Ihre Behandlung undWeiterentwicklung muss in Kenntnis derEntstehungsbedingungen und in Achtungder Ziele erfolgen. Auch als ein zum Teilgescheiterter Versuch zu einem besse­ren, leichteren und gesGnderen Lebenund als Marksteine der Stadtentwicklungverdienen sie den Respekt einer wichti­gen Epoche der europaischen Stadt­geschichte.

Anmerkung

[1] Die ausfohrlichen Untersuchungen derForschungsarbeit wurden publiziert unter: liseIrion, Thomas Sieverts, Neue StCidte - Experi­mentierfelder der Moderne, Deutsche' Ver­lagsanstalt Stuttgart 1991.

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