Neugeborenenscreening auf Stoffwechselerkrankungen und ... · Lebensbedrohliche Stoffwechselkrisen...

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Deutsches Ärzteblatt | Jg. 108 | Heft 1–2 | 10. Januar 2011 11 MEDIZIN Neugeborenenscreening auf Stoffwechselerkrankungen und Endokrinopathien Erik Harms, Bernhard Olgemöller ZUSAMMENFASSUNG Hintergrund: Das Screening auf angeborene Endokrinopa- thien und angeborene Stoffwechselerkrankungen ist eine wichtige Präventionsmaßnahme für alle Neugeborenen. Fortschritte der Diagnostik und Therapie dieser Erkrankun- gen haben eine Erweiterung des Screeningprogramms er- forderlich gemacht. Methode: Diese Arbeit beruht auf einer selektiven Litera- turrecherche und der klinischen Erfahrung der Autoren. Ergebnisse: Durch die Vorgabe des Gemeinsamen Bundes- ausschusses wurde 2005 die Zahl der Zielkrankheiten von 3 auf 14 erhöht. Damit konnten in den Jahren 2005 bis 2008 bei 2 758 633 gescreenten Neugeborenen 1 932 Fäl- le mit behandlungsbedürftigen Erkrankungen diagnosti- ziert werden (Inzidenz: 1 : 1 428). Durch dieses erweiterte Screeningprogramm erhöhte sich die Gesamtfinderate um den Faktor 1,57, für die Stoffwechselerkrankungen alleine um den Faktor 1,92. Schlussfolgerungen: Das Screeningprogramm auf angebo- rene Stoffwechselerkrankungen und Endokrinopathien ist eine komplexe, integrierte Präventionsmaßnahme, deren Effektivität sich durch die Erweiterung deutlich steigerte. Zitierweise Harms E, Olgemöller B: Neonatal screening for metabo- lic and endocrine disorders. Dtsch Arztebl Int 2011; 108(1–2): 11–22. DOI: 10.3238/arztebl.2011.0011 D as Screening auf behandelbare, angeborene Endo- krinopathien und Stoffwechseldefekte ist eine wichtige Präventionsmaßnahme, die in Deutschland al- len Neugeborenen zur Verfügung steht. Fortschritte in der Behandlung angeborener Stoffwechseldefekte haben eine Erweiterung der Zielkrankheiten erforderlich ge- macht. Durch den Einsatz der Tandemmassenspektrome- trie (TMS) konnte das Spektrum der nachweisbaren an- geborenen Stoffwechselerkrankungen im Neugebore- nenscreening erweitert werden. Seit dem Jahr 2005 ist dieses „erweiterte Neugeborenenscreening“ eine Regel- leistung der Krankenkassen. Lernziele für Leser dieses Beitrags sind: die Bedeutung des Neugeborenenscreenings, den Umfang des derzeitigen Screeningprogrammes in Deutschland und die dabei diagnostizierten Er- krankungen kennenzulernen mit dem Ablauf, den Verantwortlichkeiten, den Fehlermöglichkeiten und den Dringlichkeiten der Intervention vertraut zu werden die besondere Stellung des Neugeborenenscree- nings als (überwiegend) genetische Reihenunter- suchung zu verstehen. Grundlage dieses Beitrags sind eine selektive Lite- raturrecherche sowie die langjährige Erfahrung der Autoren als Leiter eines Screeninglabors und als Vor- sitzender der Screeningkommission der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e.V. (DGKJ). Fallbeispiele Die folgenden beiden Fallbeispiele sollen dem Leser die Notwendigkeit der im Jahr 2005 erfolgten Überar- beitung und Erweiterung des Screeningprogramms ver- ständlich machen. Klinik für Kinder- und Jugendmedizin – Allgemeine Pädiatrie – der Westfäli- schen Wilhelms-Universität Münster, Prof. Dr. med. Harms Labor Becker, Olgemöller & Kollegen, München: Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Olgemöller 3 Punkte cme Teilnahme nur im Internet möglich: aerzteblatt.de/cme Reichweite 99,5 % aller Neugeborenen werden in Deutsch- land im Neugeborenenscreening untersucht.

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Deutsches Ärzteblatt | Jg. 108 | Heft 1–2 | 10. Januar 2011 11

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Neugeborenenscreening auf Stoffwechselerkrankungen und EndokrinopathienErik Harms, Bernhard Olgemöller

ZUSAMMENFASSUNGHintergrund: Das Screening auf angeborene Endokrinopa-thien und angeborene Stoffwechselerkrankungen ist eine wichtige Präventionsmaßnahme für alle Neugeborenen. Fortschritte der Diagnostik und Therapie dieser Erkrankun-gen haben eine Erweiterung des Screeningprogramms er-forderlich gemacht.

Methode: Diese Arbeit beruht auf einer selektiven Litera-turrecherche und der klinischen Erfahrung der Autoren.

Ergebnisse: Durch die Vorgabe des Gemeinsamen Bundes-ausschusses wurde 2005 die Zahl der Zielkrankheiten von 3 auf 14 erhöht. Damit konnten in den Jahren 2005 bis 2008 bei 2 758 633 gescreenten Neugeborenen 1 932 Fäl-le mit behandlungsbedürftigen Erkrankungen diagnosti-ziert werden (Inzidenz: 1 : 1 428). Durch dieses erweiterte Screeningprogramm erhöhte sich die Gesamtfinderate um den Faktor 1,57, für die Stoffwechselerkrankungen alleine um den Faktor 1,92.

Schlussfolgerungen: Das Screeningprogramm auf angebo-rene Stoffwechselerkrankungen und Endokrinopathien ist eine komplexe, integrierte Präventionsmaßnahme, deren Effektivität sich durch die Erweiterung deutlich steigerte.

►Zitierweise Harms E, Olgemöller B: Neonatal screening for metabo-lic and endocrine disorders. Dtsch Arztebl Int 2011; 108(1–2): 11–22. DOI: 10.3238/arztebl.2011.0011

D as Screening auf behandelbare, angeborene Endo-krinopathien und Stoffwechseldefekte ist eine

wichtige Präventionsmaßnahme, die in Deutschland al-len Neugeborenen zur Verfügung steht. Fortschritte in der Behandlung angeborener Stoffwechseldefekte haben eine Erweiterung der Zielkrankheiten erforderlich ge-macht. Durch den Einsatz der Tandemmassenspektrome-trie (TMS) konnte das Spektrum der nachweisbaren an-geborenen Stoffwechselerkrankungen im Neugebore-nenscreening erweitert werden. Seit dem Jahr 2005 ist dieses „erweiterte Neugeborenenscreening“ eine Regel-leistung der Krankenkassen.

Lernziele für Leser dieses Beitrags sind:● die Bedeutung des Neugeborenenscreenings, den

Umfang des derzeitigen Screeningprogrammes in Deutschland und die dabei diagnostizierten Er-krankungen kennenzulernen

● mit dem Ablauf, den Verantwortlichkeiten, den Fehlermöglichkeiten und den Dringlichkeiten der Intervention vertraut zu werden

● die besondere Stellung des Neugeborenenscree-nings als (überwiegend) genetische Reihenunter-suchung zu verstehen.

Grundlage dieses Beitrags sind eine selektive Lite-raturrecherche sowie die langjährige Erfahrung der Autoren als Leiter eines Screeninglabors und als Vor-sitzender der Screeningkommission der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e.V. (DGKJ).

FallbeispieleDie folgenden beiden Fallbeispiele sollen dem Leser die Notwendigkeit der im Jahr 2005 erfolgten Überar-beitung und Erweiterung des Screeningprogramms ver-ständlich machen.

Klinik für Kinder- und Jugendmedizin – Allgemeine Pädiatrie – der Westfäli-schen Wilhelms-Universität Münster, Prof. Dr. med. Harms

Labor Becker, Olgemöller & Kollegen, München: Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Olgemöller

3Punkte

cme

Teilnahme nur im Internet möglich: aerzteblatt.de/cme

Reichweite99,5 % aller Neugeborenen werden in Deutsch-land im Neugeborenenscreening untersucht.

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Beispiel 1Beide Eltern sind gesund und nicht miteinander ver-wandt. Sie haben drei Kinder, die sich alle nach un-auffälliger Schwangerschaft und Geburt bisher alters-gerecht gesund entwickelt haben. Der jüngste Sohn erkrankt im Alter von 23 Monaten an einer Gastroen-teritis mit Erbrechen. Obwohl der Gewichtsverlust nur weniger als 5 % beträgt, treten zunehmende Bewusst-seinstrübung und Krampfanfälle auf. Bei der Aufnah-me auf der Kinderintensivstation findet man bei dem komatösen Jungen eine Hypoglykämie, erhöhte Transaminasen sowie eine Hyperammonämie, aber keine Ketose. Die Diagnose lautet Reye-Syndrom. Bei der weiteren Abklärung wird als Ursache des Reye-Syndroms der häufigste Defekt der β-Oxidation der Fettsäuren, der Mangel der mittelkettigen Acyl-CoA-Dehydrogenase (MCAD-Mangel) nachgewie-sen.Kommentar: Der autosomal rezessiv vererbte MCAD-Mangel (Häufigkeit ~ 1 : 10 000) wird klinisch nur in katabolen Stoffwechselsituationen manifest (zum Bei-spiel bei Fieber, Erbrechen, verlängertem Fasten). Die im Fallbeispiel genannte typische Situation kann zum Tod oder zu dauerhafter Schädigung führen. Bei vorhe-riger Kenntnis des Stoffwechseldefektes kann die Ma-nifestation der Erkrankung durch geeignete diätetische Behandlung und/oder Infusionstherapie verhindert werden (1).

Beispiel 2Beide Eltern sind gesund, aber konsanguin. Nach ei-ner komplikationslosen Schwangerschaft und Geburt am errechneten Termin kommt ihr erstes Kind zur Welt. Bei der ersten kinderärztlichen Untersuchung am 1. Lebenstag ist der Befund unauffällig. Die Ent-lassung aus der Geburtsklinik erfolgt am 4. Lebenstag nach einer unauffälligen Vorsorgeuntersuchung U2. Zuhause ab dem 6. Lebenstag zeigen sich Trink-schwäche und Schläfrigkeit. In den nächsten Tagen entwickeln sich rasch zunehmende Zeichen einer En-zephalopathie: Wechselnder Muskeltonus (Hypo-/Hy-pertonie), dystone Streckbewegungen der Arme, Opisthotonus, Hypothermie, Krampfanfälle, Apnoe, Koma. Das Kind wird auf der Kinderintensivstation aufgenommen. Die behandelnden Ärzte bemerken ei-nen eigenartigen süßlichen Geruch. Im Urin findet sich eine ausgeprägte Ketose. Dies legt den Verdacht auf eine Ahornsiruperkrankung nahe, der durch eine Aminosäureanalyse bestätigt wird. Die Eiweißzufuhr

wird gestoppt. Es wird eine anabole Stoffwechselsi-tuation (Glukose plus Insulin plus Kalium) wiederher-gestellt und eine kontinuierliche veno-venöse Hämo-filtration begonnen. Des Weiteren erfolgt die Einlei-tung der diätetischen Therapie, bei der die verzweigt-kettigen Aminosäuren reduziert werden.

Kommentar: Typischer Fall einer neonatalen Ahornsiruperkrankung („maple syrup urine disease“ – MSUD). Da der Stoffwechseldefekt des Kindes bis zur Geburt über die Nabelschnur durch den mütterlichen Stoffwechsel kompensiert wird, besteht nach der Ge-burt zunächst ein symptomfreies Intervall von einigen Tagen, bis sich im nun getrennten kindlichen Stoff-wechsel die toxischen Metabolite akkumuliert haben. Wird die Diagnose der Erkrankung bereits im sym -ptomfreien Intervall durch ein Stoffwechselscreening gestellt, kann die im Fallbeispiel genannte Dekompen-sation verhindert werden, die trotz erfolgreicher Akut-behandlung zu bleibenden Schäden des ZNS führen kann (2).

Entwicklung des NeugeborenenscreeningsDie Einführung eines generellen Screenings aller Neugeborenen auf behandelbare angeborene Erkran-kungen ist eng mit dem Krankheitsbild Phenylketonu-rie verknüpft, für das Horst Bickel im Jahr 1953 eine diätetische Behandlung beschrieben hat (3). Es hatte sich rasch gezeigt, dass der langfristige Erfolg dieser diätetischen Behandlung entscheidend von einem Be-ginn der Behandlung vor Auftreten von Symptomen abhängt. Robert Guthrie und Ada Susi entwickelten Anfang der 1960er-Jahre den bakteriologischen Test auf Phenylalanin, der als Guthrie-Test weltweit be-kannt wurde (4). Etwa seit dem Jahr 1968 wurden bundesweit alle Neugeborenen mit diesem Test auf er-höhte Phenylalanin-Blutspiegel getestet. Als weitere angeborene Stoffwechselkrankheit wurde die Galak-tosämie in das Screeningprogramm aufgenommen. In den 1970er-Jahren wurde das Screeningprogramm durch das Thyreotropin-Screening auf angeborene Hypothyreose (5), in den 1990er-Jahren in einigen Bundesländern auch durch das 17-OH-Progesteron-Screening auf adrenogenitales Syndrom (6) wesent-lich erweitert.

Angesichts der Behandlungserfolge bei einer stei-genden Zahl angeborener Stoffwechseldefekte genüg-te der Umfang dieses etablierten Neugeborenen-screenings allerdings nicht mehr dem Bedarf. Immer mehr Erkrankungen wären prinzipiell präsymptoma-

Autosomal rezessiv vererbter MCAD-MangelBei vorheriger Kenntnis des Stoffwechseldefektes kann die Manifestation der Erkrankung durch geeignete diätetische Behandlung und/oder Infusionstherapie verhindert werden.

Ahornsiruperkrankung Der Stoffwechseldefekt des Kindes wird bis zur Geburt durch den mütterlichen Stoffwechsel kom-pensiert. Es besteht nach der Geburt ein sym -ptomfreies Intervall, bis sich im kindlichen Stoff-wechsel die toxischen Metabolite anreichern.

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tisch, das heißt vor Ausbruch der Erkrankung, thera-pierbar gewesen, wenn es Screeningmethoden zu ih-rer frühzeitigen Diagnose gegeben hätte. Angesichts der Vielfalt und Seltenheit der einzelnen Erkrankun-gen wären mit herkömmlichen Technologien viele Einzeltests erforderlich und damit die Fallfindungs-kosten (Untersuchungskosten zur Diagnose eines Be-troffenen) kaum finanzierbar gewesen. Die entschei-dende Weiterentwicklung zur Behebung dieses Pro-blems war die Einführung der Tandem-Massenspek-trometrie (TMS) für das Neugeborenenscreening in den 1990er-Jahren (7). Damit können in einem Ar-beitsgang simultan eine große Anzahl von Störungen des Aminosäure-Stoffwechsels, des Stoffwechsels or-ganischer Säuren und des Fettsäureabbaus aus einer Probe identifiziert werden.

Ein von den gesetzlichen Krankenkassen finanzier-ter Modellversuch untersuchte von 1999 bis 2001 in Bayern die Guthrie-Testkarten von mehr als 300 000 Neugeborenen mit Hilfe der TMS, um den Nutzen der TMS für das generelle Neugeborenenscreening nach-zuweisen. Durch die Einführung von AGS-, Biotini -dase- und TMS-Screening konnten im Modellversuch wesentlich mehr Neugeborene mit angeborenen Stoff-wechselerkrankungen und Endokrinopathien identifi-ziert werden (8, 9). Gleichzeitig verminderte sich deut-lich die Anzahl der falschpositiven Proben. Aufgrund dieser eindeutigen Ergebnisse hat die Screeningkom-mission der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Ju-gendmedizin (DGKJ) in den von ihr veröffentlichten Screening-Richtlinien bereits im Jahr 2002 gefordert, dass die TMS grundsätzlich den Guthrie-Test ersetzen und generell als Standardtechnik für das Metabolit-screening eingesetzt werden sollte (10).

Ziele und Rahmenbedingungen des NeugeborenenscreeningsDas Neugeborenenscreening ist eine medizinische Maßnahme zur Prävention. Das Ziel ist sowohl die vollständige und frühzeitige Erkennung als auch die frühest mögliche Einleitung einer qualitätsgesicherten Therapie aller Neugeborenen mit behandelbaren endo-krinen und metabolischen Erkrankungen. Für ein Screening der Bevölkerung auf eine Erkrankung gel-ten auch heute noch die im Jahr 1968 im Auftrag der WHO von Wilson und Jungner formulierten Grundsät-ze (11). Danach muss es sich im Wesentlichen um eine ernsthafte Erkrankung handeln, deren Ätiologie und Pathogenese verstanden ist, die nach einem latenten

oder frühsymptomatischen Stadium manifest wird, für die es die medizinischen und organisatorischen Mög-lichkeiten einer erfolgreichen Behandlung gibt und für die geeignete Test- und Untersuchungsmethoden zur Verfügung stehen. Angesichts neuer technischer Mög-lichkeiten einer umfangreichen prädiktiven geneti-schen Diagnostik gibt es inzwischen überarbeitete Vorschläge, mit denen die Rahmenbedingungen für ein Screeningprogramm allgemeiner gefasst werden (12). Die Auswahl von Krankheiten in einem Scree-ningprogramm wird auch durch gesundheitsökonomi-sche Aspekte beeinflusst. Während für Phenylketonu-rie (PKU) und MCAD abgesehen von dem Nutzen für den einzelnen Betroffenen auch klare gesundheitsöko-nomische Aspekte nachgewiesen sind (13, 14), muss dies für sehr seltene Erkrankungen weiter geprüft wer-den.

Auch wenn die Kriterien von Wilson und Jungner heute noch als Goldstandard für die Etablierung eines Screeningprogramms angesehen werden, zeigen sich doch in ihrer strengen Anwendung Probleme, die da-mals noch nicht absehbar waren, die aber gerade für die Auswahl der Zielkrankheiten des Neugeborenen-Screenings bedeutsam sind. Abgesehen von der Mehr-zahl der Fälle von angeborener Hypothyreose sind alle Zielkrankheiten des Neugeborenenscreenings gene-tisch bedingt. Der individuelle Phänotyp einer gene-tisch bedingten Erkrankung kann aber sehr variabel sein. In diesen Fällen ist zum Zeitpunkt des Neuge -borenenscreenings nicht unbedingt vorauszusehen, ob sich eine Erkrankung, das heißt ein behandlungsbe-dürftiger Phänotyp, entwickeln wird. Eine solche Va-riabilität macht nicht nur die Beurteilung der Behand-lungsnotwendigkeit, sondern auch eines Behandlungs-erfolges schwierig, da im Einzelfall der Erfolg einer Therapie kaum von einem milderen Verlauf unterschie-den werden kann. Auf der anderen Seite ist ein dia -gnostischer Nihilismus ethisch nicht vertretbar, weil man sonst den Patienten mit schwer verlaufender Er-krankung die Chance einer erfolgreichen präventiven Behandlung nimmt.

Alle Stellungnahmen stimmen darin überein, dass das Neugeborenenscreening nicht nur eine Laborunter-suchung bedeutet, sondern eine komplexe integrierte Gesamtleistung ist, die Probenentnahme, Probenver-sand, Laboruntersuchung, Interpretation des Befundes, Befundübermittlung, eventuell notwendige Konfirma-tionsdiagnostik und gegebenenfalls Einleitung einer Therapie umfasst.

Ergebnis der TandemmassenspektrometrieDurch den Einsatz der Tandemmassenspektrome-trie hat sich die Zahl der im Screening diagnosti-zierten Stoffwechselpatienten verdoppelt.

Ziel des Neugeborenenscreeningsist die vollständige und frühzeitige Erkennung und Einleitung einer qualitätsgesicherten Therapie al-ler Neugeborenen mit behandelbaren endokrinen und metabolischen Erkrankungen.

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EndokrinopathienAngeborene Hypothyreose und adrenogenitales Syndrom (AGS) sind behandelbare Endokrinopathien, die durch das Neugeborenenscreening erfasst werden.

Lebensbedrohliche StoffwechselkrisenAhornsirupkrankheit, Fettsäureoxidationsdefekte und Or-ganoazidämien können schon in der ersten Lebenswoche zu lebensbedrohlichen Stoffwechselkrisen führen.

TABELLE 1

Häufigkeit der im Neugeborenenscreening in Deutschland entdeckten Zielkrankheiten von 2005 bis 2008 (16)

*1 Daten aus Screeningberichten der DGNS 2005–2008 (n = 2 758 633 gescreente Kinder). Zu Details der Screeninguntersuchungen und zu den Screeninglabors siehe Screeningreports der DGNS (16)A: Akut lebensbedrohliche Gefährdung, sofortige stationäre Einweisung in ein primäres Behandlungszentrum zur Befundkontrolle beziehungsweise Bestätigungsdiagnostik und gegebenenfalls

Einleitung einer Therapie. Für das Screening auf Galaktosämie gilt Vorgehen A bei GALT-Aktivität < 10 %, allerdings nur, wenn Artefakte unwahrscheinlich sind beziehungsweise gleichzeitig eine Galaktose-Erhöhung nachgewiesen wird.

B: Bei TSH-Wert > 50 µU/mL sofortige ambulante Vorstellung im primären Behandlungszentrum zur Abnahme einer Kontrollblutprobe und sofortiger Behandlungsbeginn mit L-Thyroxin, 10–15 µg/kg (17). Bei TSH < 50 µU/mL Vorstellung im primären Behandlungszentrum zur Bestätigungsdiagnostik, gegebenenfalls Behandlungsbeginn nach Kontrollbefund.

C: Bei geringer Erhöhung von 17-OH-Progesteron und/oder bei Störfaktoren umgehende Kontrollblutprobe; bei starker Erhöhung sofortige Vorstellung im primären Behandlungszentrum zur Kontrolle, Bestätigungsdiagnostik, Bestimmung von Na, K, Blutgasanalyse und Renin sowie gegebenenfalls sofortige Therapieeinleitung und Beratung.

D: Sofortige ambulante Vorstellung in einem primären Behandlungszentrum zur Kontrolluntersuchung, Bestätigungsdiagnostik, Bestimmung klinisch-chemischer Parameter, Beratung und Einlei-tung einer Therapie

E: Zunächst Abnahme einer Kontrollblutprobe; falls pathologischer Screeningbefund bestätigt, unverzügliche Vereinbarung einer zeitnahen ambulanten Vorstellung in einem primären Behand-lungszentrum zur Bestätigung der Diagnose und frühzeitigen Einleitung einer Therapie, gegebenenfalls auch stationär. Eine Kontrollblutprobe bei Verdacht auf Glutarazidurie I sollte vor und nach einer Carnitingabe abgenommen werden.

Krankheiten

Endokrinopathien

Hypothyreose

Androgenitales Syndrom (AGS)

Angeborene Stoffwechseldefekte

Biotinidasemangel

Galaktosämie

Aminoazidopathien

Phenylketonurie (PKU) undHyperphenylalaninämie (HPA)

Ahornsirupkrankheit (MSUD)

Fettsäureoxidationsdefekte

Medium-Chain-Acyl-CoA-Dehydrogenase-Mangel (MCAD)

Long-Chain-3-OH-Acyl-CoA-Dehydrogenasemangel (LCHAD)

Very-Long-Chain-Acyl-CoA-Dehydrogenasemangel (VLCAD)

Carnitinzyklusdefekte

Carnitin-Palmitoyl-Transferase-I-Mangel (CPT-I)

Carnitin-Palmitoyl-Transferase-II-Mangel (CPT-II)

Carnitin-Acylcarnitin-Translocase-Mangel (CAT)

Organoazidämien

Glutarazidurie Typ I (GA I)

Isovalerianazidämie (IVA)

Gesamt

bestätigte Fälle2005―2008*1

699

216

111

37

494

17

260

13

31

5

3

0

22

24

1 932

Inzidenz

1 : 3 947

1 : 12 771

1 : 24 853

1 : 74 558

1 : 5 584

1 : 162 273

1 : 10 610

1 : 212 202

1 : 88 988

1 : 551 727

1 : 919 544

1 : 125 392

1 : 114 943

1 : 1 428

Diagnostische Marker/Methoden

TSH/immunchemisch

17-OH-Progesteron/immunchemisch

Aktivität/enzymatisch

Galaktose und GALT-Aktivität/enzymatisch

Phenylalanin und Phe/Tyr-Quotient/TMS

Leucin/Isoleucin und Valin/TMS

Octanoylcarnitin/TMS

Hydroxyhexadecanoyl-Carnitin undHydroxyoleyl-Carnitin/TMS

Tetradecanoyl- und Tetradecadienoyl-Carnitin/TMS

Palmitoyl-Carinitin (↓) und freies Carnitin/TMS

langkettige Acylcarnitine/TMS

langkettige Acylcarnitine/TMS

Glutarylcarnitin/TMS

Isovalerycarnitin/TMS

Dringlichkeit der Intervention

B

C

E

A

D

A

D

A

A

E

A

A

E

A

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Androgenitales SyndromEin adrenogenitales Syndrom kann schon im Verlauf der ersten Lebenswoche(n) zu einem lebensgefährlichen Salz-verlustsyndrom führen.

Typische Zeichen für das Salzverlustsyndrom• Trinkschwäche, Erbrechen, Gewichtsabnahme, Apathie • im Serum: erniedrigtes Natrium und Chlorid, erhöhtes

Kalium

TABELLE 2

Erweitertes Neugeborenenscreening: Zielkrankheiten – Symptome – Behandlung

Erkrankung

Angeborene Hypothyreose (primäre Hypothyreose)

Adrenogenitales Syndrom (AGS)

Biotinidasemangel

Galaktosämie

Phenylketonurie

Ahornsiruperkrankung (MSUD)

Medium-Chain-Acyl-CoA-Dehydrogenasemangel (MCAD)

Long-Chain-3-OH-Acyl-CoA-Dehydrogenase-Mangel (LCHAD)

Very-Long-Chain-Acyl-CoA-Dehydrogenase-Mangel (VLCAD)

Carnitin-Palmitoyl-Transferase-I-Mangel (CPT-I)

Carnitin-Palmitoyl-Transferase-II-Mangel (CPT-II)

Carnitin-Acylcarnitin-Translocase-Mangel (CAT)

Glutaracidurie Typ I (GA I)

Isovalerianacidämie (IVA)

Hauptsymptome der unbehandelten Erkrankung

neonatal oft asymptomatisch oder Ikterus prolongatus, Muskelhypotonie, Trinkschwächespäter schwere Entwicklungsverzögerung, Wachstumsstillstand, Makroglossie, ObstipationCave: sekundäre und tertiäre Hypothyreosen werden im TSH-Screening nicht erkannt!

Virilisierung ± Salzverlustsyndrom (neonataler Beginn)

nach Aufbrauchen angeborener Biotinreserven ausgeprägte metabolische Azidose, Ataxie, Alopezie

unter Milchzufuhr (Laktose) schwere Leberfunktions-störung, Ikterus, Gerinnungsstörung, Hepatomegalie, Katarakt (neonataler Beginn)

Entwicklungsverzögerung, bleibender Hirnschaden, schwerer Intelligenzdefekt, Anfallsleiden

Trinkschwäche, Somnolenz, Hypo- bis Areflexie, veränderter Muskeltonus, Krampfanfälle, respiratori-sche Insuffizienz, Koma, Maggi-ähnlicher Geruch (neonataler Beginn)

Fieber, Erbrechen, Fasten führen zu katabolen Stoffwechselsituationen mit Hypoglykämie, Krampfanfällen, Koma, Reye-Syndrom-ähnliche Symptomatik (hypoketotische Hypoglykämie, Hepato-pathie, Hyperammonämie, Enzephalopathie) (neonataler Beginn möglich)

neonataler Beginn: hypoketotische Hypoglykämie, Lactatazidose, Kardiomyopathie, CK-Erhöhung; später: Reye-ähnliche Symptomatik, Polyneuropathie, Retinopathia pigmentosa

neonataler Beginn möglich wie LCHAD; sonst in den ersten Lebensmonaten Kardiomyopathie + Reye-ähnliche Symptomatik (Hepato-Enzephalopathie)

Fastenintoleranz, Reye-ähnliche Symptomatik (Hepato-Enzephalopathie)

neonatale Form mit Myopathie, Kardiomyopathie, Hepatopathie, Reye-ähnliche Symptomatik, adulte Form mit belastungsinduzierter Rhabdomyolyse

hypoketotische Hypoglykämie, Myopathie, Kardiomyopathie

Makrozephalie, frontotemporale Hirnatrophie, hyperpyretische enzephalopathische Krisen, Entwicklung einer dyston-dyskinetischen Bewegungs-störung

neonataler Beginn: Trinkschwäche, Erbrechen, Krampf-anfälle, Enzephalopathie, Koma, ausgeprägte Ketoazi-dose, Schweißgeruch; mildere, spät oder nicht manifestierende Formen häufig

Grundprinzip der Behandlung

lebenslange Substitution mit L-Thyroxin

lebenslange Substitution von Hydrocortison ± Mineralocorticoid

lebenslange Gabe von täglich 5–10 mg Biotin p. o.

lebenslang Laktose-(Galaktose-)freie Ernährung

phenylalaninarme Diät

akut: Eiweißzufuhr stoppen, anabole Stoffwechsel-situation herstellen, evtl. Dialyseverfahrenlebenslang: Leucin-, Valin- und Isoleucin-arme Diät

Nüchternperioden vermeiden, häufige kohlenhydrat-reiche Mahlzeiten, Carnitin p. o.

Diät mit starker Reduktion langkettiger Fette, Ersatz durch MCT-Fette, Carnitin p. o., Nüchternperioden vermeiden, häufige, kohlenhydratreiche Mahlzeiten

Diät mit starker Reduktion langkettiger Fette, Ersatz durch MCT-Fette, Carnitin p. o., Nüchtern -perioden vermeiden, häufige, kohlenhydratreiche Mahlzeiten

kohlenhydratreiche, fettarme Ernährung, Ersatz durch MCT-Fette, Nüchternperioden vermeiden

kohlenhydratreiche, fettarme Ernährung, Ersatz durch MCT-Fette, Nüchternperioden vermeiden

kohlenhydratreiche, fettarme Ernährung, Ersatz durch MCT-Fette, Nüchternperioden vermeiden

hochkalorische Notfallbehandlung zur Vermeidung enzephalopathischer Krisen + Carnitin

akut: Eiweißzufuhr stoppen, anabole Stoffwechsel-situation herstellen, Glycin + Carnitin, evtl. Dialyseverfahren; langfristig: proteinarme Diät + Carnitin + Glycin

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Umfang des erweiterten NeugeborenenscreeningsDurch den Beschluss des Gemeinsamen Bundesaus-schusses (G-BA) vom 21. 12. 2004 (15) wurde mit Wir-kung vom 1. 4. 2005 das erweiterte Neugeborenen-screening als Regelleistung der gesetzlichen Kranken-kassen in die Kinderrichtlinien aufgenommen. Mit die-sem Beschluss wurde die Tandemmassenspektrometrie als Standardmethode für das Metabolitscreening vorge-geben. Der Beschluss enthält Verfahrensanweisungen und Verantwortlichkeiten sowie die Liste der Ziel-krankheiten des erweiterten Neugeborenenscreenings. Die Tabelle 1 listet die vereinbarten Zielkrankheiten, die bestätigten Fälle in den Jahren 2005 bis 2008 (16), die daraus errechnete Inzidenz, die diagnostischen Marker und die erforderlichen Interventionsmaßnah-men auf.

Für ein Neugeborenenscreening nach seltenen Er-krankungen kommen nur Testverfahren infrage, die nicht nur eine höchstmögliche Sensitivität haben, um alle Erkrankten vollständig zu erfassen, sondern die auch eine höchstmögliche Spezifität besitzen, um möglichst wenige Gesunde positiv zu testen. Wenn zum Beispiel ein Test bei 0,1 % der Probanden positiv ausfällt, die getestete Erkrankung aber nur bei 0,01 % der Probanden vorkommt, dann hat dieser Test einen positiven Vorhersagewert von nur 10 %, mit anderen Worten sind 9 der 10 positiv Getesteten gesund. Die erforderlichen Kontrollen belasten in erster Linie die Familien, aber auch das Gesundheitssystem. Die TMS ist eine wesentlich treffsichere Methode, da zum Beispiel für PKU/HPA ein positiver Vorhersagewert von durchschnittlich 55 % erreicht wird, das heißt mindestens jedes zweite positive Testergebnis wird bei der Kontrolle bestätigt. Beim immunchemischen Test für das 17-OH-Progesteron-Screening liegt der positive Vorhersagewert dagegen nur bei etwa 3 %. Das heißt um einen AGS-Kranken zu identifizieren müssen etwa 30 Probanden nachuntersucht werden. Folgende mittlere Kennzahlen für die Spezifität der verwendeten Testverfahren wurden für 2005 bis 2008 berichtet (16): ● Hypothyreose 99,88 % ● Adrenogenitales Syndrom 99,39 % ● Biotinidasemangel 99,98 % ● Galaktosämie 99,93 % ● TMS (alle Zielkrankheiten zusammen) 99,86 %. Mit dieser Erweiterung des Neugeborenenscree-

nings können nun auch Erkrankungen präsymptoma-

tisch diagnostiziert und behandelt werden, die bisher regelhaft schon in den ersten Lebenstagen oder Le-benswochen zu schweren Stoffwechselentgleisungen des Neugeborenen mit Enzephalopathie und Koma geführt haben. Die Ahornsirupkrankheit, die Defekte der Fettsäureoxidation und die Organoazidämien kön-nen bei Neugeborenen tödlich verlaufen oder durch die Stoffwechselentgleisung zu irreversiblen Schäden führen. Voraussetzung für eine präsymptomatische Er-kennung und Behandlung dieser Störungen ist ein frü-her Screeningzeitpunkt und die perfekte Organisation und schnellstmögliche Durchführung des gesamten Screeningprozesses bis zur Einleitung einer Therapie. Ein früher Screeningzeitpunkt ist vor allem für die Er-kennung von Defekten der Fettsäureoxidation von Vorteil, weil eine postnatal katabole Stoffwechsellage für Neugeborene physiologisch ist und dadurch ein abnormes Metabolitmuster sicherer erkannt werden kann. Diese katabole Stoffwechselsituation birgt na-türlich auch die Gefahr der frühen Stoffwechselent-gleisung bei den oben genannten Erkrankungen. Die wesentlichen Symptome und Behandlungsmöglich-keiten der Zielkrankheiten sind in Tabelle 2 zusam-mengefasst. Der Beschluss des G-BA gestattet aus-drücklich nicht die Erhebung weiterer Daten, die nicht der Erkennung einer der genannten Zielkrankheiten dienen. Vorgesehen ist eine Überprüfung und gegebe-nenfalls Anpassung des Screeningprogramms durch den G-BA alle zwei Jahre.

Der Beschluss des G-BA hat zu einer Vereinheitli-chung des Untersuchungsumfangs und der Methodik des Screenings in den 15 deutschen Laboratorien ge-führt, die derzeit die Proben des Neugeborenenscree-nings bearbeiten. Für 2005 bis 2008 liegen die Ergeb-nisse aller Laboratorien vor (16). Danach wird eine der Zielkrankheiten auf 1 428 Proben festgestellt. Durch die Erweiterung des Neugeborenenscreenings im Jahr 2005 stieg die Gesamtfinderate um den Faktor 1,57, die der Stoffwechselkrankheiten alleine um den Faktor 1,92.

Das Neugeborenenscreening anderer Länder ist sehr unterschiedlich entwickelt. Teilweise fehlen Ressour-cen und Infrastruktur, während einzelne Länder wie zum Beispiel Großbritannien aus gesundheitsökonomi-schen Gründen bisher noch auf wesentliche Erweite-rungen ihres Programms verzichtet haben. Die Scree-ningprogramme unserer Nachbarländer Österreich, Schweiz und Niederlande sind mit unserem Programm vergleichbar.

AufklärungspflichtDie Eltern müssen vor Probenabnahme über Sinn und Zweck des Screenings ärztlich aufgeklärt werden. Mindestens ein Elternteil muss schriftlich zustimmen.

Neugeborenenscreening in Europa Das Neugeborenenscreening anderer Länder un-terscheidet sich. Teilweise fehlen Ressourcen und Infrastruktur. Einzelne Länder verzichten bisher aus ökonomischen Gründen noch auf wesentliche Erweiterungen ihres Programms.

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RegelentnahmezeitpunktDer Regelentnahmezeitpunkt für die Blutprobe des Neugeborenenscreenings ist der dritte Le-benstag, frühestens nach 36 Lebensstunden.

Verfahrensweise nach ProbenentnahmeDie mit Vollblut betropfte Screeningkarte wird ei-ne Stunde bei Raumtemperatur getrocknet und am Abnahmetag an das Screeninglabor versandt.

KASTEN 1

Durchführung und Verantwortlichkeit des Neugeborenenscreenings

1. Probenentnahme und Versand● die Eltern sind vor der Durchführung über Sinn und Zweck des Screenings aufzuklären (mit Unterstützung eines Informati-

onsblatts)*1

● mindestens ein Elternteil muss sein Einverständnis schriftlich erteilen*2

● der dritte Lebenstag ist der Regelentnahmezeitpunkt der Blutprobe (nicht vor 36 und nicht nach 72 vollendeten Lebensstun-den)

● ist der Regelentnahmezeitpunkt versäumt, muss die Blutentnahme zum frühestmöglichen Zeitpunkt nachgeholt werden● wird das Neugeborene vor einem Alter von 36 Lebensstunden entlassen, muss eine erste Probe abgenommen und müssen

die Eltern über die Notwendigkeit einer weiteren Probenentnahme am Regelentnahmezeitpunkt am 3. Lebenstag informiert werden (Zweitscreening).

● die Probenentnahme erfolgt durch Auftropfen von nativem Venen- oder Fersenblut (ohne Zusätze!) auf die von den Scree-ninglaboratorien bereitgestellten Filterpapierkarten, auf der alle Daten zum Neugeborenen vollständig ausgefüllt sind. Eine venöse Blutentnahme ist weniger schmerzhaft.

● die Probe wird eine Stunde bei Raumtemperatur getrocknet (keinesfalls erhitzen!)● die Probenentnahme wird im Kinderuntersuchungsheft (gelbes Untersuchungsheft) dokumentiert (Datum, Uhrzeit, Adresse

des Screeninglabors)● die Probe wird am Tag der Entnahme an das Screeninglabor versandt (Entnahmedatum = Versanddatum) 2. Probenverarbeitung● das Screeninglabor muss für sämtliche Laborleistungen des erweiterten Neugeborenenscreenings akkreditiert sein. Aus

Gründen der Qualitätssicherung und der Wirtschaftlichkeit wird eine Mindestzahl von 50 000 Erstscreeningproben im Jahr vorausgesetzt.

● aus derselben Blutprobe müssen sämtliche Laborleistungen in einem Labor erbracht werden (Verbot des Probensplittings)● das Screeninglabor führt die Untersuchung am Tag des Probeneingangs durch, das heißt die Laborleistung muss an allen

Tagen mit Posteingang vorgehalten werden (6-Tage-Woche) 3. Befundübermittlung● bei Verdacht auf das Vorliegen einer Zielkrankheit informiert das Screeninglabor sofort den verantwortlichen Einsender und

fordert eine Kontrollblutprobe an. Die Information und das vereinbarte Vorgehen sind zu dokumentieren. ● der informierte verantwortliche Einsender informiert seinerseits sofort die Eltern und weist sie auf die Notwendigkeit der un-

verzüglichen fachkompetenten Abklärung des Befundes hin. Die Informationsübermittlung ist zu dokumentieren.● unauffällige Befunde des Neugeborenenscreenings werden an den Einsender schriftlich übermittelt. Der Einsender über-

prüft, dass er für jede eingesandte Probe einen Befund erhalten hat.

*1 Die Proben für das Neugeborenenscreening werden nicht nur unter ärztlicher Aufsicht, sondern auch von Hebammen abgenommen. Nicht jedes Kind wird in einer Klinik geboren, und der Zeitpunkt der Vorsorgeuntersuchung durch den Kinderarzt (U2 am 3. bis 10. Lebenstag) kann zu spät für ein sinn-volles Screening sein. Allerdings besteht derzeit hinsichtlich des Arztvorbehalts für die Aufklärung und Beratung im Rahmen des Neugeborenenscree-nings kein Zweifel. Hebammen und Entbindungspfleger sollen die Proben für das Neugeborenenscreening daher zeitgerecht im Auftrag eines Arztes abnehmen, der für die ärztliche Aufklärung und Beratung Sorge trägt.

*2 Ein bislang nicht geklärtes Problem ist der Umgang der Screeninglabore mit Proben, bei denen die Einwilligungserklärung der Eltern fehlt. Dürfen sie die Probe bearbeiten, denn die unverzügliche Probenbearbeitung dient ja der Abwehr einer unmittelbaren Gefahr, oder müssen sie erst die – im Zwei-felsfall nur vergessene oder versäumte – Einwilligungserklärung der Eltern abwarten? Dies ist ein alltägliches Problem der praktischen Durchführung des Screenings.

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Durchführung des ScreeningsDie organisatorischen Maßnahmen bei der Durchfüh-rung des Neugeborenenscreenings wurden bereits in den Screeningrichtlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) 2002 formu-liert (10) und im Beschluss des Gemeinsamen Bundes-ausschusses (15) übernommen. Das maximale Zeit-fenster zwischen Probenentnahme und Übermittlung eines auffälligen Befundes soll nicht über 72 Stunden liegen (Kasten 1).

FehlermöglichkeitenErfahrungen der letzten Jahrzehnte haben gezeigt, dass Fehler im Screeningprozess zu etwa zwei Drit-teln organisatorischer Natur sind. Trotzdem soll hier auf einige Fehlermöglichkeiten hingewiesen werden. Dabei handelt es sich sowohl um patientenbezogene Einflussgrößen als auch um Störfaktoren, die das Er-gebnis der Laboruntersuchung beeinflussen können (Kasten 2).

Diagnosesicherung und Einleitung der TherapieUm die komplexe Gesamtleistung eines Neugebore-nenscreenings regional zu sichern, hatte die Scree-ningkommission der DGKJ bereits in der Richtlinie von 2002 (10) gefordert, dass regionale Screening-zentren gebildet werden. Diese bestehen aus primären Behandlungszentren, öffentlichem Gesundheitsdienst und den beauftragten Screeninglaboratorien mit dem Ziel einer qualitätsgesicherten Durchführung des Neugeborenenscreenings als integrierte Gesamtleis-tung. Die regionalen Screening-Zentren erstellen Da-tensätze, mit denen die Effizienz des Neugeborenen-screenings belegt werden kann.

Ein primäres Behandlungszentrum sollte nach den Richtlinien der Screeningkommission folgende Krite-rien erfüllen:● speziell ausgebildetes ärztliches Personal, das

über besondere Kenntnisse auf dem Gebiet der Diagnostik, Beratung und Langzeitbehandlung von angeborenen Endokrinopathien und/oder an-geborenen Stoffwechselstörungen verfügt

● ständige Rufbereitschaft des speziellen ärztlichen Personals

● diagnostische Möglichkeiten für die Konfirmati-onsdiagnostik und für die Therapieüberwachung der im Behandlungszentrum behandelbaren Krank heiten ständig verfügbar

ScreeninglaboratorienScreeninglaboratorien bearbeiten die Proben am Tag des Postein-gangs und verfügen in der Regel innerhalb von 24 Stunden über das Ergebnis.

FehlermöglichkeitenFehler im Screeningprozess sind zu etwa zwei Dritteln organisatorischer Natur.

KASTEN 2

FehlermöglichkeitenEinflussgrößen: A. Zu frühe Probennahme ● Unmittelbar postnatal sind TSH und 17-OH-Progesteron häufig noch erhöht.

Außerdem ist nicht bei allen Stoffwechselerkrankungen gesichert, dass das krankheitsspezifische Metabolitprofil in den allerersten Lebensstunden auf-grund der vorangegangenen diaplazentaren Dialyse bereits ausgeprägt ist. Es ist daher bei Probennahme vor der 36. Lebensstunde immer ein Zweitscree-ning erforderlich.

B. Unreife ● Frühgeborene weisen erhöhte 17-OH-Progesteronwerte auf. Trotz Anpassung

der Referenzbereiche führt dieses häufig zu Kontrolluntersuchungen. ● Eine konnatale Hypothyreose wird bei Frühgeborenen < 32 Schwanger-

schaftswochen nicht sicher erkannt. Hier ist bei einem Normalbefund ein Zweitscreening bei einem korrigierten Gestationsalter von 32 Schwanger-schaftswochen erforderlich.

C. Therapie ● Kortikosteroid-Gabe: Falschnormale Befunde insbesondere für 17-OH-Proges-

teron. Kontrolle zwei Wochen nach Therapieende erforderlich. ● Katecholamin-Gabe: Falschnormale Befunde für TSH, Biotinidase-Aktivität

kann erniedrigt sein. Kontrolle zwei Wochen nach Therapieende erforderlich. ● Parenterale Ernährung: Die unspezifische Erhöhung der Aminosäuren kann

krankheitsspezifische Profile maskieren. Aufgrund der fehlenden Katabolie wird die Detektion von Fettsäure-Oxidationsdefekten weniger empfindlich. Blutentnahme besser vier Stunden nach Unterbrechung der Zufuhr.

● Jodexposition: Kann zu falschpositiven TSH-Befunden führen. ● Bluttransfusion beziehungsweise „fresh frozen plasma“-(FFP)-Gabe: falsch-

normale Befunde bei allen Screeninguntersuchungen möglich. Es soll daher in jedem Fall eine Blutabnahme vor der Transfusion stattfinden, selbst wenn das Kind jünger als 36 Stunden ist. Eine Kontrolle soll zwei Wochen nach der Transfusion erfolgen. Falls vor der Transfusion keine Blutentnahme erfolgt ist, sind zwei Kontrollen eine Woche sowie sechs bis acht Wochen nach der Transfusion erforderlich.

Störfaktoren: ● Screeningkarte erhitzt: Die dadurch bedingte Zerstörung der Enzymaktivität

führt zu falschpathologischen Befunden beim Galaktosämie- und Biotinidase -screening.

● Kontamination mit Desinfektionsmitteln: Führt ebenfalls zur Zerstörung der En-zym-Aktivitäten.

● Kontamination mit Muttermilch: Falschauffällige Befunde beim Galaktosämie -screening.

● Kontamination mit EDTA: Falschnegative Befunde für TSH, 17-OH-Progeste-ron falscherhöht; Galaktosämiescreening gestört.

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Zur Versorgung angeborener Stoffwechselstörungen müssen zusätzlich vorhanden sein:● Möglichkeiten der Intensivbehandlung (Neugebo-

rene und ältere Kinder) einschließlich Blutreini-gungsverfahren (zum Beispiel Dialyse, kontinu-ierliche veno-venöse Hämofiltration) zur Behand-lung und Entgiftung bei akuten Stoffwechselent-gleisungen

● pädiatrische Diätabteilung mit Erfahrungen in der Langzeitbetreuung von Patienten mit angebore-nen Stoffwechseldefekten (zum Beispiel Phenyl-ketonurie, Ahornsirupkrankheit, Organoazidurien und andere)

Wissenschaftliche Weiterentwicklung des NeugeborenenscreeningsBereits Wilson und Jungner hatten im Jahr 1968 als wichtiges Kriterium für das Funktionieren eines Screeningprogramms die kontinuierliche wissen-schaftliche Weiterentwicklung genannt. Gerade die Einführung des erweiterten Neugeborenenscreenings hat die Richtigkeit dieses Kriteriums bestätigt, denn ohne vorherige wissenschaftliche Untersuchung, wie zum Beispiel den Modellversuch in Bayern, hätte es die Entwicklung des erweiterten Neugeborenenscree-nings in der jetzigen Form nicht gegeben. Neue Be-handlungserfolge bei angeborenen Stoffwechselde-fekten werden auch in Zukunft zu verzeichnen sein. In einer Reihe von Screeninglaboratorien wird seit eini-ger Zeit das Screening auf zystische Fibrose (Muko-viszidose) durchgeführt. Dabei wird in einer ersten Stufe das immunreaktive Trypsin (IRT) bestimmt. Proben mit einem auffällig erhöhten Wert wurden in der bisherigen Methodik durch Mutationsanalytik weiter untersucht. Es ist zu erwarten, dass dieses Ver-fahren durch die Bestimmung des Pankreatitis-assozi-ierten Proteins ersetzt wird, so dass die mit einer DNA-Analytik verbundenen Probleme damit vermie-den werden können (18). Der α1-Antitrypsinmangel ist dagegen ein Beispiel einer Erkrankung, die sich nicht für das Neugeborenenscreening eignet, denn je nach Erkrankungstyp manifestiert sich eine Erkran-kung überwiegend erst im Erwachsenenalter bei nur einem Teil der Betroffenen. Es fehlt eine anerkannt wirksame Therapie, und die Bestimmung des α1-Anti-trypsins ist Standard bei der Diagnostik von Leber- und Lungenerkrankungen.

Die im G-BA-Beschluss geforderte Verblindung al-ler Daten, die nicht der Erkennung der derzeit verein-

barten Zielkrankheiten dienen, darf nicht zu einem Stillstand der Weiterentwicklung des Screeningpro-gramms führen. Da eine Blockade der Entwicklung auch nicht die Absicht gewesen sein kann, wird man Vereinbarungen treffen müssen, für welche Erkran-kungen und unter welchen Bedingungen man künftig Pilotprojekte im Screening durchführt. In Anbetracht der sich rasant erweiternden Diagnosemöglichkeiten – zum Beispiel durch DNA-Diagnostik mit hohem Durchsatz – ist es besser, sich dadurch eröffnende sinnvolle präventive Diagnostik in ein funktionieren-des Screeningprogramm einzubetten, als es dem grau-en Markt individueller Gesundheitsleistungen zu überlassen (19).

Neugeborenenscreening und Gendiagnostikgesetz Das neue Gendiagnostikgesetz (GenDG) (20) hat zur Verunsicherung der Akteure im Neugeborenenscree-ning geführt. Man kann davon ausgehen, dass das er-weiterte Neugeborenenscreening weder Anlass noch Ziel dieser gesetzgeberischen Maßnahme war. Im ver-abschiedeten Gesetzestext kommt das Wort Screening nicht vor. Im Regierungsentwurf zum GenDG wird in der Begründung aber sehr ausführlich und eindeutig zum Neugeborenenscreening Stellung genommen (Begründung zum § 16 – Genetische Reihenuntersu-chungen [21]). Danach wird das bereits seit dem 1. April 2005 durchgeführte erweiterte Neugebore-nenscreening in der jetzigen Form und im vereinbar-ten Umfang weitergeführt und nicht einer neuerlichen Überprüfung durch die Vorschriften des GenDG un-terzogen, da dieses erst nach Einführung des erweiter-ten Neugeborenenscreenings in Kraft getreten ist. Es bleibt allerdings abzuwarten, ob künftige Änderungen oder Erweiterungen des Neugeborenenscreenings vor einer generellen Einführung weiterer Untersuchungen zunächst durch die Gendiagnostik-Kommission ge-prüft werden müssen.

Unter die Vorschriften des GenDG fallen alle Un-tersuchungen, bei denen auf molekularer Ebene nach Genmutationen gesucht wird. Unbeabsichtigt werden durch DNA-Diagnostik auch phänotypisch gesunde, heterozygote Merkmalsträger identifiziert, was ei-gentlich nicht erwünscht ist. Dadurch wird bei einer nichteinwilligungsfähigen Person ein genetisches Merkmal ohne Krankheitswert für diese Person fest-gestellt. Das Recht auf informationelle Selbstbestim-mung schließt das Recht auf Wissen, aber auch das

Pilotprojekte zum NeugeborenenscreeningIn einer Reihe von Screeninglaboratorien werden seit einiger Zeit Pilotprojekte zum Neugeborenen-screening auf zystische Fibrose (Mukoviszidose) durchgeführt.

Gendiagnostikgesetz (GenDG)Eindeutig unter die Vorschriften des GenDG fallen alle Untersuchungen, bei denen auf molekularer Ebene nach Genmutationen gesucht wird.

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Recht auf Nichtwissen ein. Kinder können ihr Recht auf informationelle Selbstbestimmung noch nicht wahrnehmen. Eltern können dieses Recht nicht stell-vertretend für ihre Kinder beanspruchen, es sei denn, eine diagnostische Untersuchung ist zur Erkennung einer im Kindesalter behandelbaren Krankheit drin-gend erforderlich (GenDG § 14). Nur dann ist die Für-sorgepflicht der Eltern vorrangig. Das Problem der Informationspflicht bei unbeabsichtigter Identifizie-rung eines phänotypisch gesunden, heterozygoten Merkmalsträgers ist bislang nicht gelöst, muss aber ge-regelt werden, bevor bei gesunden, nichteinwilligungs-fähigen Kindern in größerem Umfang Muta tions -analytik durchgeführt wird. Auch die durch solche ungewollten Befunde entstehende Drittbetroffenheit innerhalb der Familien sollte bei einer Regelung be-rücksichtigt werden.

Grenzen des NeugeborenenscreeningsIn den vergangenen Jahren hat sich ein Markt von An-bietern präventiv diagnostischer Untersuchungen ent-wickelt, die als sinnvolle Ergänzung zum Neugebore-nenscreening angepriesen werden. Diese Angebote sind individuelle Gesundheitsleistungen und daher nicht zu verwechseln mit einer genetischen Reihenun-tersuchung wie dem Neugeborenenscreening. In fast allen Fällen wird molekulargenetisch nach Mutatio-nen gesucht, die Erkrankungen oder Gesundheitsstö-rungen auslösen können. Darunter finden sich auch Mutationen, die nur zu einem kleineren Teil zu mani-festen Erkrankungen führen, sowie Mutationen, die zu manifesten Erkrankungen erst jenseits des Kindesal-ters führen können, oder sogar Mutationen, die nicht behandelbare Erkrankungen auslösen (zum Beispiel α1-Antitrypsinmangel). Bei nichteinwilligungsfähi-gen Kindern sind derartige Untersuchungen nach GenDG § 14 ausschließlich zur Vermeidung, Behand-lung oder Vorbeugung genetisch bedingter Erkrankun-gen oder gesundheitlicher Störungen erlaubt, die sich vor Vollendung des 18. Lebensjahres manifestieren und behandelt werden können. Trifft dies nicht zu, hat das Recht des Kindes auf informationelle Selbstbe-stimmung Vorrang vor der Fürsorgepflicht der Eltern. Die Anbieter solcher Untersuchungen machen ihr Ge-schäft mit der Sorge junger Eltern, die das Beste für ihr neugeborenes Kind tun wollen, dabei aber nur Un-sicherheit einkaufen. Interessanterweise bewerben diese Anbieter die Eltern neugeborener Kinder vor-wiegend über die Hebammen und nicht über Kinder-

ärzte. Es ist sehr zu begrüßen, wenn die Umsetzung des Gendiagnostikgesetzes diesem um sich greifenden „genetischen Voyeurismus“ ein Ende setzt.

Interessenkonflikt Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors besteht.

Manuskriptdaten eingereicht: 31. 5. 2010, revidierte Fassung angenommen: 18. 11. 2010

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12. Andermann A, Blancquaert I, Beauchamp S, Déry V: Revisiting Wil-son and Jungner in the genomic age: a review of screening criteria over the past 40 years. WHO bulletin 2008; 86: 317–9.

13. Pollitt RJ, Greene A, McCabe CJ, et al.: Neonatal screening for in-born errors of metabolism: cost, yield and outcome. Health Technol Assess 1997; 1(7).

Präventiv diagnostische Untersuchungen Diese Angebote sind individuelle Gesundheitsleis-tungen und daher nicht zu verwechseln mit einer genetischen Reihenuntersuchung wie dem Neu-geborenenscreening.

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14. Pandor A, Eastham J, Beverley C, Chilcott J, Paisley S: Clinical ef-fectiveness and cost-effectiveness of neonatal screening for in-born errors of metabolism using tandem mass spectrometry: a systematic review. Health Technol Assess 2004; 8(12).

15. Bekanntmachung eines Beschlusses des Gemeinsamen Bundes-ausschusses über eine Änderung der Richtlinien des Bundesaus-schusses der Ärzte und Krankenkassen über die Früherkennung von Krankheiten bei Kindern bis zur Vollendung des 6. Lebensjah-res (Kinder-Richtlinien) zur Einführung des erweiterten Neugebo-renen-Screenings. BAnz. Nr. 60 vom 31.03.2005, 4833–8.

16. Nationale Screeningreports der Deutschen Gesellschaft für das Neugeborenenscreening (DGNS): http://www.screening-dgns.de/screeningregister-1.htm

17. Grüters A, Delange F, Giovannelli G, et al.: Guidelines for neonatal screening programmes for congenital hypothyroidism. Eur J Pe-diatr 1993; 152: 974–5.

18. Sarles J, Berthézène P, Le Louarn C, et al.: Combining immunore-active trypsinogen and pancreatitis-associated protein assays, a method of newborn screening for cystic fibrosis that avoids DNA analysis. J Pediatr 2005; 147: 302–5.

19. Fingerhut R, Olgemöller B: Newborn screening for inborn errors of metabolism and endocrinopathies: an update. Anal Bioanal Chem 2009; 393: 1481–97.

20. Gesetz über genetische Untersuchungen beim Menschen (2009) Bundesgesetzblatt, S. 2529–37.

21. Entwurf eines Gesetzes über genetische Untersuchungen bei Menschen (Gendiagnostikgesetz – GenDG) 2008, Bundestags-drucksache 16/10532: http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/105/1610532.pdf

Anschrift für die Verfasser Prof. Dr. med. Erik Harms Einener Straße 10 48291 Telgte E-Mail: [email protected]

SUMMARY

Neonatal Screening for Metabolic and Endocrine DisordersBackground: Neonatal screening for treatable endocrinopathies and inborn errors of metabolism is an important preventive measure. Ad-vances in the diagnosis and treatment of these diseases have made it necessary to expand the screening program.

Methods: This article is based on a selective literature review and our clinical experience.

Results: In 2005, neonatal screening in Germany was expanded from 3 to 14 diseases, as mandated by the responsible governmental au-thority (the Gemeinsamer Bundesausschuss, i.e., Joint Federal Com-mittee). From 2005 to 2008, screening revealed diseases requiring treatment in 1932 out of a total of 2758633 newborns (prevalence, 1 in 1428). The expansion of the screening program resulted in a 57% increase in the overall number of cases detected and a 92% increase for metabolic diseases alone.

Conclusion: The German neonatal screening program for treatable en-docrinopathies and inborn errors of metabolism is a complex and inte-grated preventive measure that has become markedly more effective as a result of its expansion in 2005.

Zitierweise Harms E, Olgemöller B: Neonatal screening for metabolic and endocrine disorders. Dtsch Arztebl Int 2011; 108(1–2): 11–22. DOI: 10.3238/arztebl.2011.0011

@ The English version of this article is available online: www.aerzteblatt-international.de

Weitere Informationen zu cme

Dieser Beitrag wurde von der Nordrheinischen Akademie für ärztliche Fort- und Weiterbildung zertifiziert. Die erworbenen Fortbildungspunkte können mit Hilfe der Einheitlichen Fortbildungsnummer (EFN) verwaltet werden. Unter cme.aerzteblatt.de muss hierfür in der Rubrik „Meine Daten“ oder bei der Registrierung die EFN in das entspre-chende Feld eingegeben werden und durch Bestätigen der Einverständniserklärung aktiviert werden.Die 15-stellige EFN steht auf dem Fortbildungsausweis.

Wichtiger HinweisDie Teilnahme an der zertifizierten Fortbildung ist aus-schließlich über das Internet möglich: cme.aerzteblatt.de Einsendeschluss ist der 21. 2. 2011.Einsendungen, die per Brief oder Fax erfolgen, können nicht berücksichtigt werden.Die Lösungen zu dieser cme-Einheit werden in Heft 9/2011 an dieser Stelle veröffentlicht. Die cme-Einheit „Die idiopathische Skoliose“ (Heft 49/2010) kann noch bis zum 21. 1. 2010 bearbeitet wer-den.Für Heft 5/2011 ist das Thema „Wirbelsäulenmetastasen“ vorgesehen.

Lösungen zur cme-Einheit in Heft 45/2010:Schneider T, Mawrin C, Scherlach C, Skalej M, Firsching R: Die Gliome des Erwachsenen Lösungen: 1b, 2a, 3c, 4b, 5b, 6c, 7a, 8d, 9d, 10b

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Bitte beantworten Sie folgende Fragen für die Teilnahme an der zertifizierten Fortbildung. Pro Frage ist nur eine Antwort möglich. Bitte entscheiden Sie sich für die am ehesten zutreffende Antwort.

Frage Nr. 1Welches ist der Regelentnahmezeitpunkt der Blutprobe für das Neugeborenenscreening?a) bei Vorsorgeuntersuchung U2b) bei Vorsorgeuntersuchung U1c) 3. Lebenstagd) 1. Lebenstage) 1. Lebenswoche

Frage Nr. 2Welche Metabolitkonstellation ist typisch für einen Fett-säureoxidationsdefekt?a) hypoketotische Hypoglykämieb) ketotische Hypoglykämiec) ketotische Hyperglykämied) respiratorische Alkalosee) metabolische Alkalose

Frage Nr. 3Wie wird eine behandlungsbedürftige Phenylketonurie behandelt?a) phenylalaninarme Diätb) phenylalaninfreie Diätc) eiweißreduzierte Diätd) tyrosinreiche Diäte) kohlenhydratreiche Diät ohne natürliches Einweiß

Frage Nr. 4Beim Screening auf welche Erkrankung muss man mit den heute verwendeten Methoden noch am ehesten mit einem falschpositiven Befund rechnen?a) Hypothyreoseb) Adrenogenitales Syndromc) Galaktosämied) Phenylketonuriee) MCAD-Mangel

Frage Nr. 5Bei einem Neugeborenen wird bei der am 3. Lebenstag abgenommenen Screeninguntersuchung ein TSH von 65 µU/mL festgestellt. Welche Maßnahme ist erforder-lich?a) Ultraschall der Schilddrüseb) Szintigraphiec) Kontrolle im Alter von vier Wochend) Kontrollblutentnahme und sofortiger Behandlungsbeginne) Behandlung nach Vorliegen eines Kontrollbefundes

Frage Nr. 6Zur sicheren Erkennung welcher Zielkrankheit des Neugeborenenscreenings muss man bei Frühgeborenen, die vor Vollendung der 32. Schwangerschafts-woche (SSW) geboren wurden, ein Zweitscreening nach Erreichen eines kor-rigierten Gestationsalters von 32. SSW durchführen?a) Phenylketonurieb) Hypothyreosec) Biotinidase-Mangeld) Galaktosämiee) VLCHAD-Mangel

Frage Nr. 7Bei welcher Verdachtsdiagnose aus dem Neugeborenenscreening muss das Neugeborene sofort wegen vitaler Bedrohung stationär aufgenommen und behandelt werden?a) Biotinidase-Mangelb) Glutarazidurie Typ Ic) MCAD-Mangeld) Phenylketonuriee) Ahornsirupkrankheit

Frage Nr. 8Unter wie viel positiven Proben findet sich ein Erkrankter, wenn ein Test im Neugeborenenscreening einen positiven Vorhersagewert von 2 % hat?a) 5b) 10c) 20d) 50e) 100

Frage Nr. 9Für welche Erkrankung sind die Symptome eines Reye-Syndroms (Hepato-Enzephalopathie) typisch?a) Ahornsiruperkrankungb) Fettsäureoxidationsdefektc) Biotinidasemangeld) Galaktosämiee) Adrenogenitales Syndrom mit Salzverlust

Frage Nr. 10Wie lang ist der Regelzeitraum vom Eingang einer Blutprobe bis zum Ergeb-nis des Neugeborenenscreenings?a) 1 Tagb) 3 Tagec) 5 Taged) 7 Tagee) 2 Wochen