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Universit¨ at Bielefeld Fakult¨ at f¨ ur Physik Neutrino-Oszillationen Bachelorarbeit von Daniel Grewe Betreuer und 1. Gutachter: Prof. Dr. Dietrich B¨ odeker 2. Gutachter: Denis Besak Matrikelnummer: 1886324 Bielefeld, den 19. August 2011

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Universitat BielefeldFakultat fur Physik

Neutrino-Oszillationen

Bachelorarbeitvon

Daniel Grewe

Betreuer und 1. Gutachter: Prof. Dr. Dietrich Bodeker2. Gutachter: Denis Besak

Matrikelnummer: 1886324

Bielefeld, den 19. August 2011

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Danksagung

Ganz besonders mochte ich meinem Betreuer Prof. Dr. Dietrich Bodeker furden Vorschlag dieses spannenden Themas danken und dafur, dass er immer einoffenes Ohr fur Fragen hatte. Weiterer Dank geht an Denis Besak, der sichfreundlicherweise bereit erklarte, meine Bachelorarbeit als zweiter Gutachterdurchzusehen.

Meinem Studienkollegen Michael danke ich fur den Austausch nutzlicher LATEX-Befehle und das eifrige Korrekturlesen. Zuletzt mochte ich mich bei Isabellebedanken. Sie war ein willkommener und liebreizender Grund, die Arbeit auchmal ruhen zu lassen und so neue Motivation zu sammeln.

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Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung 4

1.1 Paulis Neutrino-Hypothese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4

1.2 Erste Messversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

1.3 Sind Neutrinos masselos? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

1.4 Die drei Familien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6

1.5 Das solare Neutrino-Ratsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

2 Neutrino-Massen 9

2.1 Dirac- und Majorana-Massen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

2.2 Lepton-Mischung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10

3 Neutrino-Oszillationen 14

3.1 Flavour-Oszillationen im Vakuum . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14

3.1.1 Vereinfachung fur zwei Neutrino-Generationen . . . . . . 18

3.1.2 Spezialfalle bei drei Neutrino-Generationen . . . . . . . . 18

3.2 Flavour-Oszillationen in Materie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

4 Experimentelle Ergebnisse 22

4.1 Eine Erklarung fur das solare Neutrino-Ratsel? . . . . . . . . . . 22

4.2 Das Verschwinden der atmospharischen Neutrinos . . . . . . . . . 26

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4.3 Experimente mit Neutrinos aus Reaktoren und Beschleunigern . 28

4.3.1 Reaktor-Experimente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28

4.3.2 Beschleuniger-Experimente (Long-Baseline) . . . . . . . . 29

4.3.3 Beschleuniger-Experimente (Short-Baseline) . . . . . . . . 30

4.4 Zusammenfassung der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33

5 CP-Verletzung 35

5.1 Der entscheidende Parameter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

5.2 Ein Maß fur die Starke der leptonischen CP-Verletzung . . . . . 36

5.3 Die Losung fur das LSND-Problem? . . . . . . . . . . . . . . . . 37

A Verwendete Formeln 40

B Mathematica-Notebook 42

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Kapitel 1

Einleitung

In diesem Kapitel wird kurz der Werdegang des Neutrinos von Paulis Hypothesebis zu Pontecorvos Neutrinooszillation beschrieben. Der Text orientiert sich am1. Kapitel und am Anfang des 4. Kapitels von [Cal01].

1.1 Paulis Neutrino-Hypothese

Am Anfang des 20. Jahrhunderts stand die Physik vor einem Dilemma: Der Satzvon der Energie- und Impulserhaltung schien bei Kernprozessen seine Gultig-keit zu verlieren. So erhielt man beim β-Zerfall entgegen der Berechnungen einkontinuierliches Energiespektrum des Elektrons. Niels Bohr spielte bereits mitdem Gedanken, den bisher unantastbaren Erhaltungssatz aufzugeben. WolfgangPauli war dieser Ansatz jedoch zu radikal. Am Ende des Jahres 1930 teilte eranderen bedeutenden Physikern in Briefen seine Idee von einem leichten undelektrisch neutralen Fermion mit, das als drittes Zerfallsprodukt beim β-Zerfallauftritt und so die Energie- und Impulserhaltung rettet. Enrico Fermi, der Pau-lis Idee begeistert aufnahm, taufte das Teilchen etwa zwei Jahre spater auf denNamen Neutrino.

Pauli stellte sich die Neutrinos offensichtlich als Bestandteile des Atomkernsvor. In Fermis Theorie zum β-Zerfall werden Elektron und Neutrino hingegenerst dann erzeugt, wenn sich ein Neutron in ein Proton umwandelt. Anhand desElektron-Energiespektrums stellte er fest, dass

”die Neutrino-Masse entweder

Null oder, in jedem Fall, sehr klein im Vergleich zur Elektron-Masse“ [Cal01]sein muss.

Wie Hans Bethe und Rudolf Peierls herausfanden, impliziert Fermis Theorieeinen vernachlassigbar kleinen Wirkungsquerschnitt von Neutrinos mit Materie.So haben Neutrinos mit einer β-Zerfall-typischen Energie von einigen MeV inWasser eine mittlere freie Weglange von 1000 Lichtjahren. Deshalb waren viele

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Einleitung 5

der Meinung, es sei unmoglich, Neutrinos experimentell zu finden. Pauli selbstsagte:

”Ich habe etwas schreckliches getan. Ich habe ein Teilchen postuliert, das

nicht nachgewiesen werden kann“ [Cal01].

1.2 Erste Messversuche

Zunachst sollte er recht behalten. Zwar wurden neben dem β-Zerfall viele Pro-zesse gefunden, in denen Neutrinos oder moglicherweise auch zugehorige Anti-teilchen vermutet wurden (z.B. Elektroneneinfang, Pion-Zerfall, Myon-Zerfall),aber ein direkter Nachweis gelang vorerst nicht.

Erst in den 50er Jahren, nachdem das Manhattan-Projekt zur Entwicklung derAtombombe eine starke Neutronen- und Neutrinoquelle hervorbrachte, hattendie Physiker Frederick Reines und Clyde Cowan den entscheidenen Einfall. Sieverwendeten neu entwickelte Flussig-Szintillatoren, die ihnen erlaubten, einenDetektor zu bauen, der groß genug war, um Neutrino-Ereignisse zu detektieren.Sie errichteten einen Flussig-Szintillator-Tank, der 300 Liter fasste und von 90Fotozellen beobachtet wurde, nahe der Atomreaktoren, die Plutonium fur dasManhattan-Projekt erzeugten. Dort untersuchten sie die Reaktion

ν + p→ n+ e+,

die bei Antineutrino-Einfang zwei Lichtblitze in einem bestimmten zeitlichenAbstand liefern sollte. Ein Reaktor-abhangiges Signal konnte jedoch kaum aus-gemacht werden.

Ein weiteres Experiment wurde am neu errichteten Savannah River Reaktor,der in 11 m Entfernung einen Neutrinofluss von 1013cm−2s−1 lieferte, unter-irdisch installiert. Das fuhrte zu einer besseren Abschirmung der kosmischenStrahlung. Der Detektor bestand aus drei Flussig-Szintillator-Tanks, die je von110 Fotozellen beobachtet wurden und zwei Wassertanks mit gelostem CdCl2zum Einfang der in der Reaktion entstehenden Neutronen. Wenn der Reaktorin Betrieb war, wurden etwa 3 Ereignisse pro Stunde gezahlt, was die Anzahlder Hintergrundereignisse deutlich uberstieg. Im Juni 1956 informierten Reinesund Cowan schließlich Pauli uber ihren Neutrino-Nachweis.

1.3 Sind Neutrinos masselos?

In den folgenden Jahren wurde eine wichtige Eigenschaft der Neutrinos undder schwachen Wechselwirkung entdeckt. Tsung-Dao Lee und Chen-Ning Yangveroffentlichten 1956 ihre Theorie, nach der die schwache Wechselwirkung nichtinvariant unter Raumspiegelung (Paritat) ist. Mehrere Experimente, wie dasWu-Experiment oder das Goldhaber-Experiment bestatigten diese Vermutung.In letzterem wurde eine mittlere Neutrino-Helizitat von −1 gemessen. Daraus

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Einleitung 6

ergibt sich, dass nur linkshandige Neutrinos schwach wechselwirken. Antineutri-nos sind hingegen immer rechtshandig. In der Theorie erreicht man das durcheine verschwindende Neutrino-Masse und der Tatsache, dass Neutrino und An-tineutrino verschiedene Teilchen sind.

Im sogenannten Standardmodell der Teilchenphysik, dass die vereinheitlichteelektroschwache Wechselwirkung enthalt, wird die Wechselwirkung von Neutri-nos mittels geladener Strome (W -Bosonen) und dem neutralen schwachen Strom(Z-Boson) beschrieben. Auch in dieser Theorie wird das Neutrino als masselosangenommen.

1.4 Die drei Familien

Ein großes Geheimnis blieb bis zum Anfang der 60er Jahre, ob die Teilchen, diein Pion- und Myon-Zerfallen emittiert werden, die gleichen Neutrinos wie beimβ-Zerfall sind. Um dieser Frage nachzugehen, betrachtete Melvin Schwartz dieNeutrinos aus Pion-Zerfallen. Die Pionen wurden erzeugt, indem Protonen aufein Beryllium-Target geschossen wurden. Durch eine 12 m dicke Abschirmungaus Stahl wurden dann alle geladenen Teilchen absorbiert, so dass ein reinerNeutrino-Strahl ubrig blieb. In einer Funkenkammer ließen sich die Wechsel-wirkungs-Ereignisse dieser Neutrinos messen. Schwartz und seine Mitarbeiterstellten fest, dass es sich dabei hauptsachlich um Ereignisse handelte, bei de-nen Myonen erzeugt wurden.

”Falls es nur einen Neutrino-Typ gegeben hatte,

dann mussten ebenso viele elektronartige wie myonartige Ereignisse auftreten“[Cal01], argumentierte Schwartz.

So stellte sich heraus, dass das Neutrino, das zusammen mit einem Myon imPion-Zerfall erzeugt wird (Myon-Neutrino), verschieden von dem ist, das zu-sammen mit einem Elektron im β-Zerfall entsteht (Elektron-Neutrino). Manbezeichnet die Neutrinos mit νµ bzw. νe. Um die korrekte Leptonzahl zu erhal-ten, wird zudem zwischen Teilchen und Antiteilchen unterschieden: So tretenzum Beispiel beim Zerfall des positiven Pions Myon-Neutrinos (νµ) mit positi-ver Leptonzahl, beim Zerfall des negativen Pions hingegen Myon-Antineutrinos(νµ) mit negativer Leptonzahl auf.

Eine dritte Familie von Leptonen und Quarks wurde Anfang der 70er Jahre vonMakoto Kobayashi und Toshihide Maskawa vorgeschlagen, denn so ergab sichin der Theorie der elektroschwachen Wechselwirkung die CP-Verletzung, alsodie Verletzung der Invarianz unter kombinierter Raumspiegelung und Ladungs-konjugation, die in einigen Kaon-Zerfallen gemessen worden war. Einige Jahrespater wurde das τ -Lepton als erstes Familienmitglied in Elektron-Positron-Stoßen erzeugt. Außerdem wurde der Zerfall

τ− → π− + ντ

gemessen, so dass es im Sommer 1978 kaum noch einen Zweifel an der Existenzdes Tau-Neutrinos gab. Die direkte Messung eines freien Tau-Neutrinos gelangjedoch bis zum Jahr 2000 nicht. Die Schwierigkeit lag darin, einen Strahl dieser

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Einleitung 7

Neutrinos zu produzieren, der stark genug war, um sie eindeutig zu identifizieren.Nachgewiesen wurde das ντ schließlich im DONUT-Experiment am FermiLab.

Messungen der Zerfallsbreite des Z-Bosons am SLAC sowie am CERN zeigten,dass es genau drei schwach wechselwirkende Neutrinos mit Massen kleiner als derhalben Z-Masse geben muss. Sollte ein vierter Neutrino-Typ existieren, so mussdieser entweder steril, d.h. nicht elektroschwach wechselwirkend oder schwererals 45,5 GeV sein.

1.5 Das solare Neutrino-Ratsel

Neuere Theorien und Erkenntnisse, die Neutrinos betreffen, hangen mit demRatsel um die solaren Neutrinos zusammen. Solare Neutrinos sind Elektron-Neutrinos, die in Kernreaktionen im Inneren der Sonne entstehen. Die phy-sikalischen Prozesse innerhalb der Sonne werden in Standard-Sonnenmodellenbeschrieben, denen die folgenden Annahmen zu Grunde liegen: Die zu 73,5%aus Wasserstoff und zu 25% aus Helium bestehende Sonne entwickelte sich un-ter Aufrechterhaltung eines lokalen Gleichgewichts zwischen Gravitationskraftund Gradient des Strahlungsdrucks. Dadurch bleibt sie stabil. Die Energie, dieden Strahlungsdruck erzeugt, wird in Kernprozessen im Inneren der Sonne frei-gesetzt. Der großte Teil davon entsteht durch die Reaktionsketten, in denen vierWasserstoffkerne (Protonen) zu einem Heliumkern fusionieren (pp-Kette), derRest im sogenannten CNO-Zyklus, in dem die Endprodukte ebenfalls Heliumker-ne sind. Im Inneren der Sonne wird die Energie durch Strahlung transportiert,an der Oberflache durch Konvektion. Die Modelle wurden so eingeschrankt, dasssie den Radius, die Masse und die Leuchtstarke der heutigen Sonne vorhersagen.

In der folgenden Tabelle sind die neutrino-erzeugenden Prozesse der pp-Ketteund des CNO-Zyklus’ mit der zugehorigen Neutrino-Energie [Cal01] sowie demtheoretisch erwarteten Neutrinofluss nach Berechnungen von BPS08 [Pdg10]aufgefuhrt.

Prozess Energie in MeV Neutrinofluss in 1cm2s

p+ p → 2H + e+ + νe 0 bis 0,42 5,97× 1010

p+ p+ e− → 2H + νe 1,44 1,41× 1083He + p → 4He + e+ + νe 0 bis 18,77 7,90× 103

7Be + e− → 7Li + νe + (γ) 0,38 oder 0,86 5,07× 1098B → 8Be∗ + e+ + νe 0 bis 15 5,94× 106

13N → 13C + e+ + νe 0 bis 1,20 2,88× 10815O → 15N + e+ + νe 0 bis 1,73 2,15× 10817F → 17O + e+ + νe 0 bis 1,74 5,82× 106

Tabelle 1.1: Neutrinoerzeugende Prozesse in der Sonne.

Eine grafische Darstellung nach Berechnungen von Bahcall und Serenelli imJahre 2005 befindet sich am Ende des Kapitels (Abbildung 1.1). Messungen desNeutrinoflusses der verschiedenen Energien bestimmen die relativen Beitrage

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Einleitung 8

der entsprechenden Reaktionen zur gesamten Energieproduktion in der Sonne,denn die Neutrinos entkommen dem Inneren der Sonne relativ ungehindert. Derentscheidende Parameter fur die relative Haufigkeit ist in den meisten Sonnen-modellen die Temperatur im Zentrum der Sonne, die etwa 1,55 × 107 Kelvinbetragt. Bei dieser Temperatur dominiert die als ppI bezeichnete Reaktions-kette, bei der nur die ersten beiden Reaktionen der Tabelle zum Neutrinoflussbeitragen.

Die ersten Messergebnisse fur solare Neutrinos wurden 1968 von Ray Davis Jr.und seinen Mitarbeitern am Brookhaven National Laboratory veroffentlicht. DerDetektor, ein uber 300 000 Liter fassender C2Cl4-Tank, befand sich tief in derHomestake-Goldmine in South Dakota. Die Neutrinos wurden dort mithilfe derReaktion

37Cl + νe → 37Ar + e−

nachgewiesen. Der gemessene Neutrinofluss war nur etwa ein Drittel des Flus-ses, der nach Standard-Sonnenmodellen erwartetet worden war. Auch Nach-folgeexperimente wie SAGE und GALLEX stellten ein Neutrino-Defizit fest.Zunachst wurde versucht die Standard-Sonnenmodelle an den gemessenen Neu-trinofluss anzupassen, jedoch stellte es sich als unmoglich heraus, das Modell sozu verandern, dass der Neutrinofluss fur alle verschiedenen Reaktionen mit demgemessenen ubereinstimmte.

Eine naheliegende Moglichkeit, um die Abweichungen zu erklaren, ist ein neuesVerstandnis von Neutrinos. Die Idee von sogenannten Neutrino-Oszillationen,d.h. Flavour-Umwandlungen von Neutrinos kam von Maki, Nakagawa und Saka-ta, nachdem Bruno Pontecorvo bereits 1957 auf die Moglichkeit einer Neutrino-Antineutrino-Oszillation hingewiesen hatte [Pov09].

Abbildung 1.1: Neutrinofluss aus verschiedenen solaren Prozessen als Funktionder Neutrino-Energie nach Berechnungen von Bahcall und Serenelli, 2005 [Gon07].

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Kapitel 2

Neutrino-Massen

Viele Physiker waren lange der Meinung, Neutrinos seien masselos. Der Grunddafur war, dass keine Wechselwirkungen von rechtshandigen Neutrinos beobach-tet wurden. Durch einen Lorentz-Boost kann fur massive linkshandige Neutrinosjedoch immer ein Koordinatensystem gefunden werden, in dem sie rechtshandigsind. Daher wurden die Neutrinos im Standardmodell als masselos angenommen.

Bei dem Versuch, das solare Neutrino-Ratsel mithilfe von Flavour-Oszillationenzu erklaren, benotigt man Neutrino-Massen. Dabei mussen zwei Typen betrach-tet werden: Einerseits die Dirac-Masse, die auch fur die ubrigen Fermionen auf-tritt und andererseits die Majorana-Masse, fur den Fall, dass ein Neutrino seineigenes Antiteilchen ist.

2.1 Dirac- und Majorana-Massen

Im Standardmodell sind Neutrinos stets linkshandig und werden mit νL be-zeichnet. Es gibt verschiedene Moglichkeiten, das Modell um Neutrino-Massenzu erweitern. Alle haben gemeinsam, dass sie der Theorie entweder neue Teil-chen hinzufugen, die Eichinvarianz verletzen oder die Renormierbarkeit aufhe-ben. Eine Moglichkeit ist die Einfuhrung von sterilen Neutrinos νs als Singulettunter der Eichgruppe des Standardmodells. Damit kann mithilfe von spontanerSymmetriebrechung aus der eichinvarianten Yukawa-Wechselwirkung mit φ einMassenterm der Form

Lm = −m (νLνs + νsνL) (2.1)

konstruiert werden. Darin ist m die Masse, wahrend die vierkomponentigenSpinoren νL(x) und νs(x) die Neutrinos beschreiben. Dieser Term, der analogzum Massenterm geladener Fermionen aufgebaut ist, erhalt die Leptonzahl Lund wird Dirac-Massenterm genannt. Tritt fur Neutrinos nur dieser Massentermin der Lagrangedichte auf, dann werden sie Dirac-Neutrinos genannt.

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Neutrino-Massen 10

Der zweite mogliche Massenterm wird als Majorana-Massenterm bezeichnet. Erkann mithilfe des ladungskonjugierten Spinors νcs := C νs

T fur sterile Neutrinosals bloßer Massenterm1

Lm′ = −m′

2(νsν

cs + νcsνs)

= −m′

2

(νs C νs

T + νTs Cνs).

(2.2)

eingefuhrt werden. Der Term ist eichinvariant, da sterile Neutrinos per Definitionals Singulett νs 7−→ νs transformieren. C ist der Operator der Ladungskonjuga-tion mit der Eigenschaft

C−1γµC = −(γµ)T, (2.3)

wobei γµ mit µ ∈ {0, 1, 2, 3} die Dirac-Matrizen sind. Majorana-Massenter-me fur linkshandige Neutrinos verletzen die Eichinvarianz, konnen jedoch mitnichtrenormierbaren Yukawa-Kopplungen oder in Theorien mit noch weiterenTeilchen erzeugt werden.

An der zweiten Darstellung in (2.2) ist leicht zu erkennen, dass ein Majorana-Massenterm nicht invariant unter der U(1)-Transformation

νs 7−→ exp(−iϕL) νs, ϕ ∈ R (2.4)

ist. Daher verletzt er die Erhaltung der Leptonzahl L in einer Theorie, in derdie ubrigen Terme invariant unter dieser Transformation sind. Fur geladeneTeilchen ist eine Verletzung der Leptonzahl-Erhaltung gleichbedeutend mit derNichterhaltung der elektrischen Ladung. Somit kann ein Majorana-Massentermnur fur elektrisch neutrale Teilchen auftreten.

Er fuhrt außerdem dazu, dass massive Neutrinos die Majorana-Bedingungν = νc erfullen, also ihre eigenen Antiteilchen sind [Pdg08]. Sie werden in die-sem Fall Majorana-Neutrinos genannt. Eine Konsequenz ist der neutrinolosedoppelte β-Zerfall, der bei Leptonzahl-Erhaltung verboten ware. Bisher konntedas Auftreten dieses Prozesses experimentell nicht bestatigt werden.

2.2 Lepton-Mischung

Die Kopplung der Leptonen an die W -Bosonen in der elektroschwachen Wech-selwirkung ist gegeben durch den geladenen Strom (charged current)

LCC = − g√2

(l′Lγ

µν′LW−µ + h.c.

), (2.5)

wobei g die Kopplungskonstante der Wechselwirkung ist und l′L und ν′L Vektorensind, die Spinoren fur die geladenen Leptonen bzw. die entsprechenden Neutrinosenthalten2.

1Es ist also keine Yukawa-Wechselwirkung notig.2Die Dirac-Matrizen γµ werden im n-dimensionalen Flavour-Raum als Skalare behandelt,

die nur auf die einzelnen Komponenten (die Spinoren) wirken.

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Neutrino-Massen 11

Fur n Generationen von Leptonen haben beide Vektoren n Komponenten. Diewechselwirkenden Zustande l′L und ν′L haben im Allgemeinen keine definierteMasse, sondern sind eine koherante Uberlagerung von massiven Teilchen. Furdie n geladenen Leptonen sind nur Dirac-Massen erlaubt (vgl. Kapitel 2.1).Diese lassen sich zusammenfassen zu

LMl= −l′RMll

′L + h.c. (2.6)

mit der n×n-Matrix Ml. Diese Matrix kann durch eine biunitare Transformation

W †l MlVl =Ml (2.7)

mit unitaren n × n-Matrizen Vl und Wl diagonalisiert werden. Die Elementeder DiagonalmatrixMl sind die Massen der geladenen Leptonen. Anschließendkonnen die neuen Lepton-Felder

lL := V †l l′L, lR := W †l l

′R. (2.8)

eingefuhrt werden, so dass der Massenterm sich zu

LMl= −l′RMll

′L + h.c.

= −l′RWlMl V†l l′L + h.c.

= −lRMllL + h.c.

(2.9)

vereinfacht. Die eingefuhrten Felder sind die physikalischen Felder definierterMasse. Die Lagrangedichte der elektroschwachen Wechselwirkung ist mit Aus-nahme des geladenen Stroms invariant unter dieser Ersetzung. Dieser Term wirderst nach der Einfuhrung des Neutrino-Massenterms genauer betrachtet.

Durch die Erweiterung des Standardmodells um n sterile Neutrinos, die alsrechtshandige Gegenstucke νR zu den n linkshandigen Neutrinos identifiziertwerden, lasst sich sowohl ein Dirac- als auch ein Majorana-Massenterm erzeu-gen. Hier soll der einfachere Fall betrachtet werden, in dem die Neutrinos Di-rac-Teilchen sind. Wie spater (4.25) gezeigt wird, spielt die Majorana-Naturvon Neutrinos fur Flavour-Oszillationen keine Rolle. Analog zu den geladenenLeptonen erhalt man

LMν= −ν′RMνν

′L + h.c.

= −ν′RWνMν V†ν ν′L + h.c.

= −νRMννL + h.c.

(2.10)

mit der beliebigen n× n-Matrix Mν , die durch

W †νMνVν =Mν (2.11)

mit zwei weiteren unitaren Matrizen Vν und Wν diagonalisiert wird, und denmassiven Neutrino-Feldern

νL := V †ν ν′L, νR := W †ν ν

′R. (2.12)

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Neutrino-Massen 12

Auch die Redefinition der Neutrino-Felder lasst die gesamte Lagrangedichte mitAusnahme des geladenen Stroms unverandert. Dieser Term (2.5) muss jetztgenauer untersucht werden. Durch Einsetzen der massiven Felder ergibt sich

LCC = − g√2

(l′Lγ

µν′LW−µ + h.c.

)= − g√

2

(lLV

†l γ

µVννLW−µ + h.c.

)= − g√

2

(lLγ

µUνLW−µ + h.c.

) (2.13)

mit3 der leptonischen Mischungsmatrix U := V †l Vν .

Die Mischungsmatrix wird zu Ehren der Pioniere auf dem Gebiet der Neutri-no-Oszillationen auch haufig als Pontecorvo-Maki-Nakagawa-Sakata-Matrix be-zeichnet. Sie ist das leptonische Gegenstuck zur Cabbibo-Kobayashi-Maskawa-Matrix bei den Quarks. Aufgrund der Gleichung

UU† = V †l Vν

(V †l Vν

)†= V †l VνV

†ν Vl = 11 (2.14)

ist U unitar. Die Unitaritat kann auch durch die einzelnen Matrixelemente aus-gedruckt werden. Das ist nutzlich fur Berechnungen, in denen diese Eigenschaftverwendet wird. U ist genau dann unitar, wenn die Beziehung(

UU†)αβ

=

n∑k=1

UαkU∗βk = δαβ (2.15)

fur alle α, β ∈ {1, . . . , n} gilt.

Parameter der Mischungsmatrix fur Dirac-Neutrinos: Das Ziel diesesUnterabschnitts ist eine geeignete Parametrisierung von U zu finden. Dazu sollzunachst errechnet werden, durch wieviele unabhangige reelle Parameter sicheine unitare n× n-Matrix ausdrucken lasst.

Eine beliebige komplexe n × n-Matrix A ist durch 2n2 reelle Parameterbestimmt. Ist A zusatzlich selbstadjungiert, d.h. A = A†, dann gelten die n2

unabhangigen Relationen

Aij = A∗ji ∀ i, j ∈ {1, . . . , n} mit j ≤ i (2.16)

und fur die vollstandige Parametrisierung reichen 2n2 − n2 = n2 reelle Zahlenaus. Da sich die unitare n× n-Matrix U durch

U = exp(iA) (2.17)

mit selbstadjungiertem A darstellen lasst, ist U ebenfalls durch n2 Parameterausdruckbar. Waren die Matrixelemente zusatzlich reell, dann ware U orthogo-nal, das heißt UTU = 11. Sie ware dann durch 1

2n(n−1) Parameter darstellbar4.

3Da die Komponenten der Matrizen V †l und Vν komplexe Zahlen sind, vertauschen sie

problemlos mit den Gamma-Matrizen.4Eine reelle Matrix hat n2 Parameter und aus der Orthogonalitat folgen 1

2n(n+ 1) Rela-

tionen.

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Neutrino-Massen 13

Fur eine komplexe unitare Matrix konnen diese Parameter als Winkel gewahltwerden. Die ubrigen n2− 1

2n(n− 1) Parameter mussen also Phasen sein. Einigevon diesen sind jedoch physikalisch bedeutungslos, da sie lediglich einer U(1)-Transformation der Felder

li → exp(iαi)li, νj → exp(iβj)νj (2.18)

mit i, j ∈ {1, . . . , n} entsprechen. Es handelt sich dabei um 2n− 1 unabhangigePhasen, denn alle Phasen der gleichwertigen Transformationen der Matrixele-mente

Uij → exp (i(βj − αi))Uij (2.19)

sind durch die Kenntnis von βj −αj und αj −α1 fur alle j eindeutig festgelegt.Es ist somit leicht zu berechnen, dass U genau 1

2 (n − 1)(n − 2) physikalischrelevante Phasen enthalt.

An dieser Stelle sollen die Ergebnisse noch einmal zusammengefasst werden: Uist durch 1

2n(n − 1) Winkel und 12 (n − 1)(n − 2) Phasen darstellbar. Fur zwei

Generationen von Leptonen bedeutet das, dass nur ein Winkel notig ist, um dieMischungsmatrix zu parametrisieren:

U =

(cos(θ) sin(θ)− sin(θ) cos(θ)

)(2.20)

In drei Generationen ist eine mogliche Darstellung [Cal01] gegeben durch

U =

c12c13 s12c13 s13e−iδ

−s12c23 − c12s13s23eiδ c12c23 − s12s13s23eiδ c13s23s12s23 − c12s13c23eiδ −c12s23 − s12s13c23eiδ c13s23

(2.21)

mit cij := cos(θij) und sij := sin(θij), also mit den vier Parametern θ12, θ13, θ23und δ.

Parameter der Mischungsmatrix fur Majorana-Neutrinos: Bisher wur-de die Parametrisierung der Mischungsmatrix fur Dirac-Neutrinos betrachtet.Gibt es stattdessen n Majorana-Neutrinos, dann folgt eine kleine Anderung:Die Neutrino-Felder νj durfen nicht redefiniert werden wie in (2.18). Somit ent-fallen nur die n Phasen, die den Redefinitionen der geladenen Lepton-Felderentsprechen und es verbleiben 1

2n(n − 1) Phasen in der Mischungsmatrix. Diehinzugewonnenen Phasen verletzen jedoch die Leptonzahlerhaltung.

Eine geeignete Parametrisierung fur drei Generationen von Majorana-Neutrinosist [Pdg08]

U = U · D mit D =

exp( iα1

2 ) 0 00 exp( iα2

2 ) 00 0 1

(2.22)

mit der Mischungsmatrix U aus (2.21) und den Majorana-Phasen α1, α2. Mitdieser Mischungsmatrix kann spater gezeigt werden, dass die Majorana-Naturder Neutrinos fur die Oszillationen unerheblich ist. Streng genommen gilt dieseParametrisierung nicht, falls die Majorana-Massen sehr viel großer als die Dirac-Massen sind, jedoch ist die Abweichung nur sehr klein [Gon07].

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Kapitel 3

Neutrino-Oszillationen

Eine interessante Konsequenz und der Grund fur die Einfuhrung der Neutrino-Massen sind Neutrino-Oszillationen. Dabei wechselwirkt ein Neutrino νi, das beieinem Prozess zusammen mit dem geladenen Lepton lα erzeugt wird, anschlie-ßend mit dem Lepton lβ des Flavours β 6= α. Der zugehorige Wechselwirkungs-term in der Lagrangedichte ist der geladene Strom (2.13). Der Prozess kann, wiespater gezeigt wird, auch durch eine Oszillation des Neutrinos

να → νβ

beschrieben werden.

3.1 Flavour-Oszillationen im Vakuum

Zunachst wird dazu der n-dimensionale Vektor

NL := UνL (3.1)

mit den gleichen Bezeichnungen wie in Kapitel 2 definiert. Dann gelten fur dieeinzelnen Felder die Beziehungen

(NL)α =

n∑i=1

Uαi(νL)i (3.2)

fur alle α ∈ {1, . . . , n}. Die (NL)α lassen sich als Neutrinos mit Flavour αverstehen, denn jedes dieser Felder koppelt gemaß (2.13) an das massive Leptonmit dem Flavour α. Sie besitzen aber selbst keine definierte Masse. Im Folgendenwird der Index L zugunsten einer besseren Lesbarkeit weggelassen.

Im Sinne der Quantenmechanik kann man die Zeitentwicklung eines Neutrinos,das zum Zeitpunkt 0 mit Flavour α entstanden ist, als Zustand im Schrodin-ger-Bild beschreiben, auf den der Zeitentwicklungsoperator wirkt. Dafur muss

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Neutrino-Oszillationen 15

angenommen werden, dass es sich um ein freies Teilchen handelt. Da Neutri-nos nur sehr schwach wechselwirken, ist diese Naherung meistens sehr gut. ImRuhesystem des Neutrinos gilt zur Eigenzeit τ

|Nα(τ)〉 = exp(−iHτ) |Nα〉

=∑i

Uαi exp(−iHτ) |νi〉

=∑i

Uαi exp(−imiτ) |νi〉 .

(3.3)

mit dem Hamilton-Operator H. Wegen der Lorentz-Invarianz des Vierer-Vektor-Skalarprodukts gilt dann in einem beliebigen Laborsystem

|Nα(t, L)〉 =∑i

Uαi exp(−iEit+ ipiL) |νi〉 (3.4)

mit der Energie Ei und dem Impuls pi des massiven Neutrinos, sowie der ver-strichenen Zeit t und dem zuruckgelegten Weg L. In Experimenten werdenhochenergetische Neutrinos gemessen. Deshalb wird der Ausdruck in der Nahe-rung t ' L ausgewertet. Mit der zusatzlichen Annahme, dass die Neutrinosunabhangig von ihrer Masse mit dem Impuls p erzeugt werden, kann wegenp� mi die Reihen-Entwicklung

Ei =√p2 +m2

i = p ·

√1 +

(mi

p

)2

' p+m2i

2p(3.5)

vorgenommen werden. Alternativ kann man auch annehmen, dass die Neutrinoseine bestimmte Energie E haben. Aufgrund der Relation E � mi lasst sich dannder Term

pi =√E2 −m2

i = E ·√

1−(mi

E

)2' E − m2

i

2E(3.6)

entwickeln. Da fur hochenergetische Neutrinos jedoch auch p ' E gilt, verein-facht sich der Zustand in beiden Fallen zu

|Nα(L)〉 '∑i

Uαi exp

(−i m

2iL

2E

)|νi〉 . (3.7)

Die Wahrscheinlichkeitsamplitude dafur, dass dieses Neutrino nach der StreckeL den Flavour β angenommen hat, ist

〈Nβ | Nα(L)〉 '∑i,j

U∗βjUαi exp

(−i m

2iL

2E

)〈νj | νi〉

=∑i

U∗βiUαi exp

(−i m

2iL

2E

).

(3.8)

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Neutrino-Oszillationen 16

Die Wahrscheinlichkeit selbst ergibt sich zu

Pαβ := |〈Nβ | Nα(τ)〉|2

'∑i,j

U∗βiUαiUβjU∗αj exp

(−i m

2iL

2E+ i

m2jL

2E

)

=∑i,j

U∗βiUαiUβjU∗αj exp

(−i∆m2

ij

L

2E

)=∑i,j

U∗βiUαiUβjU∗αj exp(−2i∆ij).

(3.9)

Dazu wurden die zwei Abkurzungen

∆m2ij := m2

i −m2j und ∆ij := ∆m2

ij

L

4E(3.10)

eingefuhrt. Die Wahrscheinlichkeit Pαβ lasst sich so umschreiben, dass alle Ter-me reell sind. Dazu werden einige Formeln aus dem Anhang verwendet. Auf-grund der Unitaritat der Mischungsmatrix gilt die Identitat

δαβ = δαβ · δβα(2.15)

=∑i,j

U∗βiUαiUβjU∗αj

=∑i=j

U∗βiUαiUβjU∗αj +

∑i>j

(U∗βiUαiUβjU

∗αj + U∗βjUαjUβiU

∗αi

)(A.3)=

∑i=j

U∗βiUαiUβjU∗αj +

∑i>j

2 Re(U∗βiUαiUβjU∗αj).

(3.11)

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Neutrino-Oszillationen 17

Damit ergibt sich schließlich

Pαβ '∑i=j

U∗βiUαiUβjU∗αj exp(−2i∆ij)

+∑i 6=j

U∗βiUαiUβjU∗αj exp(−2i∆ij)

=∑i=j

U∗βiUαiUβjU∗αj

+∑i>j

U∗βiUαiUβjU∗αj exp(−2i∆ij)

+∑i>j

U∗βjUαjUβiU∗αi exp(2i∆ij)

=∑i=j

U∗βiUαiUβjU∗αj

+∑i>j

2 Re(U∗βiUαiUβjU∗αj) cos(2∆ij)

+∑i>j

2 Im(U∗βiUαiUβjU∗αj) sin(2∆ij)

(A.1)=

∑i=j

U∗βiUαiUβjU∗αj +

∑i>j

2 Re(U∗βiUαiUβjU∗αj)

−∑i>j

4 Re(U∗βiUαiUβjU∗αj) sin(∆ij)

2

+∑i>j

2 Im(U∗βiUαiUβjU∗αj) sin(2∆ij)

(3.11)= δαβ

−∑i>j

4 Re(U∗βiUαiUβjU∗αj) sin(∆ij)

2

+∑i>j

2 Im(U∗βiUαiUβjU∗αj) sin(2∆ij).

(3.12)

Es ist leicht zu sehen, dass diese Wahrscheinlichkeit tatsachlich eine Oszillationbeschreibt. Der entscheidende Parameter dafur ist

∆ij = ∆m2ij

L

4E≈ 1, 27

∆m2ij

eV2

L

km

GeV

E. (3.13)

Ein typisches Experiment ist durch den Abstand L des Detektors zur Neutrino-quelle und die Energie E der in der Quelle erzeugten Neutrinos charakterisiert.Falls alle Differenzen der Massenquadrate klein sind, d.h. ∆m2

ij � E/L, dann istdas Experiment nicht sensitiv fur Neutrino-Oszillationen. Um moglichst kleineMassendifferenzen aufzulosen, muss also ein Experiment mit sehr großen Wertenfur L/E gebaut werden.

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Neutrino-Oszillationen 18

3.1.1 Vereinfachung fur zwei Neutrino-Generationen

Der allgemeine Ausdruck fur die Oszillations-Wahrscheinlichkeit lasst sich nunfur bestimmte Falle vereinfachen. Gabe es nur zwei Generationen von Neutrinos,die auch nur an zwei Generationen von Leptonen koppelten, dann ware n = 2.In diesem Fall gibt es nur eine Massendifferenz und man erhalt mit (2.15)

U∗β2Uα2Uβ1U∗α1 = U∗β2Uα2δαβ − U∗β2Uα2Uβ2U∗α2

= |Uα2|2(δαβ − |Uβ2|2

).

(3.14)

Da dieser Term offensichtlich reell ist, verschwindet der Imaginarteil in derWahrscheinlichkeit (3.12) und der Ausdruck vereinfacht sich zu

Pαβ = δαβ − 4 |Uα2|2(δαβ − |Uβ2|2

)sin(∆21)2. (3.15)

Durch Einsetzen der Matrixelemente aus (2.20), also durch die Wahl einer be-stimmten Parametrisierung, ergibt sich die haufig verwendete Form

Pαβ =

{sin(2θ)2 sin(∆21)2, falls α 6= β

1− sin(2θ)2 sin(∆21)2, falls α = β. (3.16)

3.1.2 Spezialfalle bei drei Neutrino-Generationen

Da es nach jetzigem Kenntnisstand drei Generationen geladener Leptonen gibt,liegt es nahe anzunehmen, dass es auch drei Neutrino-Generationen gibt. Ent-sprechende Hinweise liefert auch der Zerfall des Z-Bosons (siehe Kapitel 1.4).In diesem Fall gibt es drei Winkel und ein oder drei Phasen in der Mischungs-matrix, je nachdem, ob die Neutrinos Dirac- oder Majorana-Teilchen sind.

Ein Spezialfall, der sich nach den Ergebnissen einiger Experimente moglicher-weise als hochst relevant herausstellen konnte, ist, dass die drei Neutrinos ν1, ν2und ν3 einer bestimmten Massenhierarchie genugen, so dass die Massendifferenzzwischen ν1 und ν2 klein gegenuber der Massendifferenz der beiden zu ν3 ist.Dann gilt bei naherungsweise festem Abstand und fester Energie

|∆21| � |∆31| ' |∆32| . (3.17)

In dieser Naherung konnen fur einen geeigneten1 Quotienten von L und E dievon ∆21 abhangigen Terme in der Wahrscheinlichkeit (3.12) vernachlassigt wer-den. Außerdem verlieren die Winkelfunktionen ihre Abhangigkeit von den Sum-mationsindizes. So ergibt sich mit der Unitaritat der Mischungsmatrix (2.15)

1geeignet bedeutet in diesem Fall, dass |∆21| � 1

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Neutrino-Oszillationen 19

der Ausdruck

Pαβ = δαβ

− 4 Re(U∗β3Uα3Uβ1U

∗α1 + U∗β3Uα3Uβ2U

∗α2

)sin(∆31)2

+ 2 Im(U∗β3Uα3Uβ1U

∗α1 + U∗β3Uα3Uβ2U

∗α2

)sin(2∆31)

= δαβ

− 4 Re(U∗β3Uα3δαβ − U∗β3Uα3Uβ3U∗α3

)sin(∆31)2

+ 2 Im(U∗β3Uα3δαβ − U∗β3Uα3Uβ3U∗α3

)sin(2∆31)

= δαβ − 4 |Uα3|2(δαβ − |Uβ3|2

)sin(∆31)2.

(3.18)

Das bedeutet, dass eine Drei-Neutrino-Oszillation bei obiger Massenhierarchie inguter Naherung durch eine Zwei-Neutrino-Oszillation (3.15) beschrieben werdenkann. Die Vereinfachung ist auch anschaulich einfach zu verstehen: Die Massen-differenz zwischen ν1 und ν2 ist in einem Experiment mit geeigneten Wertenfur L und E unsichtbar. Daher wird in diesem Experiment nur die Oszillationzwischen dem Paar ν1-ν2, das sich wie ein einzelnes Neutrino verhalt, und ν3beobachtet. Dabei spielt es keine Rolle, ob ν3 das schwerste oder das leichtesteNeutrino ist.

3.2 Flavour-Oszillationen in Materie

Bisher wurden die Flavour-Oszillationen im Vakuum, d.h. in Abwesenheit vonWechselwirkungen, betrachtet. Diese Annahme ist jedoch bei der Betrachtungvon solaren Neutrinos nicht haltbar. Dazu herrscht in der Sonne eine zu hoheDichte an schwach wechselwirkender Materie, besonders Elektronen, Protonenund Neutronen.

In diesem Kapitel wird der Effekt von Materie am Beispiel der νeνµ-Oszillation,also der Mischung von nur zwei Lepton-Generationen eingefuhrt. Das Problemwird dabei analog zu den Vakuum-Flavour-Oszillationen im Formalismus derQuantenmechanik gelost, so wie auch in [Pas07]. Neben den zwei Masseneigen-zustanden |ν1〉 und |ν2〉 gibt es dann die beiden Flavour-Eigenzustande |Ne〉und |Nµ〉. Bezeichnet man die Vektoren, die die jeweiligen Zustande als Kom-ponenten enthalten, mit |ν〉 und |N 〉, dann lasst sich Gleichung (3.7) als

|N (L)〉 ' U exp(−iLH) |ν〉 (3.19)

schreiben, wobei die Matrix

H =1

2E

(m2

1 00 m2

2

)(3.20)

den Hamilton-Operator in der Massen-Basis darstellt. Um den Einfluss von Ma-terie zu beschreiben, muss der Hamilton-Operator in die Flavour-Basis trans-formiert werden, denn die schwache Wechselwirkung koppelt an die Flavour-

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Neutrino-Oszillationen 20

Zustande. Mit der Mischungsmatrix aus (2.20) ergibt sich

H := UHU†

=1

2E

(cos(θ)2m2

1 + sin(θ)2m22 sin(θ) cos(θ)∆m2

sin(θ) cos(θ)∆m2 sin(θ)2m21 + cos(θ)2m2

2

)=m2

1 +m22

4E

(1 00 1

)+

∆m2

4E

(− cos(2θ) sin(2θ)sin(2θ) cos(2θ)

).

(3.21)

Dabei wurden im letzten Schritt die Relationen (A.1) und (A.2) genutzt. DieWechselwirkung mit den Elektronen, Protonen und Neutronen kann in einemelektrisch neutralen Medium als Potential

V =√

2GF ·

{− 1

2nn + ne fur Ne− 1

2nn fur Nµ(3.22)

beschrieben werden [Pas07], wobei ne = np und nn fur die entsprechenden Teil-chenzahldichten stehen. Addiert man dieses Potential zum Hamilton-Operatorim Vakuum und lasst den zur Einheitsmatrix proportionalen Term weg, dannerhalt man die symmetrische Matrix

HM :=∆m2

4E

(− cos(2θ) + 2A sin(2θ)

sin(2θ) cos(2θ)

), A :=

2√

2GFEne∆m2

. (3.23)

Die Elektronendichte ne ist im Allgemeinen abhangig vom Ort, soll hier jedochals konstant angenommen werden. HM stellt den Hamilton-Operator in Materiedar und soll nun mithilfe einer neuen unitaren Mischungsmarix

UM :=

(cos(θM ) sin(θM )− sin(θM ) cos(θM )

)(3.24)

wieder diagonalisiert werden. Der vernachlassigte Term hat keinen Einfluss aufden neuen Mischungswinkel θM und die Differenz der Eigenwerte, was im An-hang (A.5 bis A.11) bewiesen wird. Außerdem wird dort gezeigt, dass die trans-formierte Matrix

HM := U†MHMUM (3.25)

genau dann diagonal ist, wenn fur den Mischungswinkel

tan(2θM ) =sin(2θ)

cos(2θ)−A(3.26)

gilt. Aus der Differenz der Eigenwerte folgt daruber hinaus die Differenz dereffektiven Massenquadrate

∆m2M = ∆m2

√A2 − 2 cos(2θ)A+ 1

= ∆m2

√(A− cos(2θ))

2+ sin(2θ)2.

(3.27)

Das fanden die beiden russischen Physiker Stanislav Mikheyev und Alexei Smir-nov 1985 nach theoretischer Vorarbeit von Lincoln Wolfenstein (1978) heraus[Pas07]. Im dem Fall, dass die Elektronendichte ne vernachlassigbar klein wird,folgt A→ 0 und es ergeben sich der Mischungswinkel sowie die Massendifferenzder Vakuum-Oszillationen.

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Neutrino-Oszillationen 21

Ein anderer Fall ist in der Sonne realisiert. Im Inneren, wo eine sehr großeElektronendichte ne herrscht, entstehen Elektron-Neutrinos und es gilt nahe-rungsweise

tan(2θM ) ' −2θ

A. (3.28)

Dieser Term ist immer negativ und nahert sich fur wachsendes A gegen null.Das ist beim Tangens fur einen positiven Mischungswinkel gerade dann der Fall,falls θM ' π/2. Fur den zweiten effektiven Massen-Eigenzustand innerhalb derSonne folgt mit diesem Winkel

|νM2〉 = U∗Me2 |Ne〉+ U∗Mµ2 |Nµ〉= sin(θM ) |Ne〉+ cos(θM ) |Nµ〉' |Ne〉 .

(3.29)

Außerhalb der Sonne (also im Vakuum) ist der Zustand hingegen

|νM2〉 ' |ν2〉= U∗e2 |Ne〉+ U∗µ2 |Nµ〉= sin(θ) |Ne〉+ cos(θ) |Nµ〉 .

(3.30)

Also verandert sich beim Verlassen der Sonne die Flavour-Zusammensetzungder Neutrinos. Dieses Phanomen wurde nach Mikheyev, Smirnov und Wolfen-stein als MSW-Effekt bekannt. Er beschrankt sich auf Oszillationen, an denenElektron-Neutrinos oder sterile Neutrinos beteiligt sind, da das Potential V furNeutrinos, die genau gleich mit der umgebenden Materie wechselwirken, nurTerme proportional zur Einheitsmatrix enthalt.

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Kapitel 4

Experimentelle Ergebnisse

Es soll nun uberpruft werden, ob die theoretischen Vorhersagen das Verschwin-den der solaren Neutrinos erklart und welche Parameter sich aus den entschei-denden Experimenten ergeben. Dazu beinhaltet dieses Kapitel zunachst einenUberblick uber alle entscheidenden Experimente, die Neutrinos aus der Sonne,aus der Atmosphare, aus Reaktoren und aus Beschleunigern erfassen. Als Quellediente wenn nicht anders vermerkt [Gon07]. Außerdem wurden [Pdg08], [Pdg10]und [Min10] herangezogen.

Die folgende Tabelle gibt einen groben Uberblick uber diesen Abschnitt. Ange-geben sind, neben dem Flavour der Neutrinos bei ihrer Entstehung, die Großen-ordnungen der Energie E, der Distanz L und der so minimal messbaren Mas-sendifferenz ∆m2

min. Bei Reaktor- und Beschleuniger-Neutrinos muss zwischenExperimenten mit kurzer und langer Distanz unterschieden werden.

Neutrinoquelle Flavour E in GeV L in km ∆m2min in eV2

Sonne νe 10−3 108 10−11

Atmosphare νe, νe, νµ, νµ 1 104 10−4

Reaktor νe 10−3 1 10−3

102 10−5

Beschleuniger νµ, νµ 1 1 10−3

103 10−4

Tabelle 4.1: Sensitivitat verschiedener Oszillations-Experimente [Pdg10].

4.1 Eine Erklarung fur das solare Neutrino-Ratsel?

Wie bereits im ersten Kapitel erwahnt, brachten die Ergebnisse der folgendenExperimente Hinweise auf Flavour-Oszillationen der solaren Neutrinos. Diesewerden in diesem Kapitel gemaß ihrem Erstehungsprozess in der Sonne (sieheTabelle 1.1) benannt.

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Experimentelle Ergebnisse 23

Homestake Experiment: Das in Kapitel 1.5 beschriebene Experiment weistNeutrinos mithilfe des induzierten Beta-Zerfalls von Chlor nach. Die fur den Pro-zess benotigte Schwellenenergie betragt 0,814 MeV, daher tragen vor allem die7Be- und 8B-Neutrinos zur Messung bei. Vergleicht man die mittlere Ereignisra-te RCl, die in uber zwanzig Jahre andauernden Messungen ermittelt wurde mitder Ereignisrate RSSM, die nach Standardsonnenmodellen erwartet wird, dannerhalt man

RCl

RSSM= 0,30± 0,03. (4.1)

SAGE, GALLEX und GNO: Das Soviet-American Gallium Experiment(SAGE, seit 1990) in Russland, das Gallium Experiment (GALLEX, 1991 bis1997) in Italien und sein Nachfolgeprojekt, das Gallium Neutrino Observatory(GNO, 1998 bis 2003) verwenden bzw. verwendeten anstelle des Chlors Galliumzum Nachweis von Neutrinos. Die Reaktion

71Ga + νe → 71Ge + e− (4.2)

hat den Vorteil, dass die Schwellenenergie nur bei 0,233 MeV liegt. Aus diesemGrund ist der Wirkungsquerschnitt mit den haufigeren pp-Neutrinos besondershoch. Naturlich ist ein Gallium-Detektor auch fur die 7Be- und 8B-Neutrinosempfindlich. Die relative mittlere Ereignisrate RGa aller drei Experimente ist

RGa

RSSM= 0,52± 0,03. (4.3)

Kamiokande und Super-Kamiokande: Das Kamioka Nucleon Decay Ex-periment1 (Kamiokande, 1987 bis 1995) in Japan und sein NachfolgeprojektSuper-Kamiokande (seit 1996) funktionieren grundlegend anders als die radio-chemischen Detektoren auf Chlor- oder Gallium-Basis. Hier wird in einem Tankmit 2140 t bzw. 45000 t Wasser die elastische Streuung von solaren (und auchatmospharischen) Neutrinos an Elektronen

να + e− → να + e− (4.4)

registriert. Das geschieht durch die Messung der Tscherenkow-Strahlung, dievon den gestreuten Elektronen abgegeben wird, mithilfe von Photomultipliern.Die elastische Streuung (ES) kommt im Gegensatz zu den radiochemischen Pro-zessen auch fur die anderen Flavour vor, denn der Prozess kann auch durch denAustausch eines Z-Bosons vermittelt werden. Den großten Anteil hat jedochder geladene Strom, so dass der Wirkungsquerschnitt fur Elektron-Neutrinoswesentlich großer ist. Außerdem haben die Kamiokande-Projekte eine hohereSchwellenenergie (zwischen 5 und 8 MeV). Aufgrund dieser Tatsache werdenfast nur 8B-Neutrinos gemessen. Der am Super-Kamiokande ermittelte FlussΦSK dieser Neutrinos betragt im Verhaltnis zum vorhergesagten

ΦSK

ΦSSM= 0,413± 0,014. (4.5)

1ursprunglich sollte der Detektor der Beobachtung des Protonzerfalls dienen, aber seit derSupernova 1987A werden mit ihm Neutrinos nachgewiesen

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Experimentelle Ergebnisse 24

Der große Vorteil von Tscherenkow-Detektoren ist, dass sie die Neutrino-Ereig-nisse in Echtzeit aufzeichnen, das heißt zeitaufgelost. Da jedes gestreute Elek-tron etwa die Richtung des Neutrinos beibehalt, lasst sich die Position der Son-ne ermitteln und vergleichen. Daruber hinaus konnen aufgrund der Menge dererzeugten Tscherenkow-Strahlung Ruckschlusse auf die Energie des Neutrinosgezogen werden.

Sudbury Neutrino Observatory (SNO): Dieses kanadische Experiment,das ebenfalls aus einem von Photomultipliern umgebenen Wassertank besteht,begann im Jahr 1999 Daten aufzunehmen. Der Tank befindet sich wie die meis-ten Neutrino-Experimente zur Abschirmung kosmischer Strahlung tief unter derErde und enthalt etwa 1000 t schweres Wasser D2O. Das ermoglicht die folgen-den drei Reaktionen zum Nachweis von Neutrinos heranzuziehen:

να + e− → να + e− (4.6)

να + D→ να + n+ p (4.7)

νe + D→ e− + p+ p (4.8)

Der erste Prozess (ES) ist bereits vom Kamiokande und Super-Kamiokande be-kannt (4.4). Der nachste ist eine NC-Wechselwirkung, die fur alle Neutrino-Flavour gleichermaßen auftritt. Ihre Schwellenenergie ist 2,225 MeV, so dassauch hier fast nur 8B-Neutrinos erfasst werden. Durch den großen Reaktions-querschnitt dieses Prozesses ist SNO deutlich sensitiver fur Myon- und Tau-Neutrinos als alle Experimente zuvor. Der induzierte β-Zerfall (4.8) findet nurfur Elektron-Neutrinos statt, denn die Energie solarer Neutrinos reicht nichtaus, um Myonen oder gar Tau-Leptonen zu erzeugen. Es handelt sich um einenCC-Prozess mit einer Schwelle von uber 5 MeV. Die jeweiligen Ergebnisse sind:

ΦESSNO

ΦSSM= 0,41± 0,05 (4.9)

ΦNCSNO

ΦSSM= 0,87± 0,08 (4.10)

ΦCCSNO

ΦSSM= 0,29± 0,02 (4.11)

Erst SNO ermoglichte eine vom vorhergesagten Neutrinofluss ΦSSM unabhangigeAuswertung, denn das Verhaltnis von CC- und NC-Ereignissen gab Aufschlussuber den Fluss von Myon- und Tau-Neutrinos. Dieser sollte – ungeachtet desverwendeten Sonnenmodells – ohne Flavour-Oszillationen verschwinden.

Borexino: Das Borexino-Experiment in Italien, das 2007 die ersten Datenlieferte, ist genau wie das Super-Kamiokande noch Heute (Stand 2010) in Be-trieb. Es benutzt einen Flussig-Szintillator, der genug Licht produziert, um dieelastische Streuung von Elektronen und Neutrinos bei niedrigen Energien zumessen. Ein Ziel dieses Versuchs ist die Messung des Flusses der monoenerge-tischen 7Be-Neutrinos (0,862 MeV). Das Verhaltnis der mittleren Ereignisrate

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Experimentelle Ergebnisse 25

zur vorhergesagten betragt fur diese Neutrinos laut [Gon07]

RBorexino

RSSM= 0,63± 0,18. (4.12)

Zusammenfassung: An dieser Stelle sollen die Ergebnisse der Versuche mitsolaren Nautrinos zusammengefasst und kurz analysiert werden. Aus den Mess-werten der verschiedenen Experimente konnen zunachst zwei Dinge abgelesenwerden:

- Bis auf die NC-Messung am SNO ergaben alle Experimente einen deutlichkleineren Fluss als den vorhergesagten.

- Das Defizit unterscheidet sich fur verschiedene Experimente. Das deutetdarauf hin, dass das Phanomen energieabhangig ist.

Den Schlussel zur Losung des solaren Neutrino-Ratsels lieferte SNO. Die Bei-trage der Flavour zu den drei Prozessen sind

ΦESSNO ' Φνe + 0,15 Φνµντ (4.13)

ΦNCSNO = Φνe + Φνµντ (4.14)

ΦCCSNO = Φνe (4.15)

wobei Φνe der Elekton-Neutrinofluss und Φνµντ der Myon- und Tau-Neutri-nofluss ist. Ohne Flavour-Oszillationen mussten also alle drei Messungen diegleichen Ergebnisse ergeben. Man fand aber heraus, dass der Myon- und Tau-Neutrinofluss nicht null ist, sondern dass der Anteil der Elektron-Neutrinos amgesamten Neutrinofluss nur

ΦνeΦνe + Φνµντ

' 0, 340 (4.16)

[Pdg08] betragt. Das ist ein uberzeugendes Indiz fur Neutrino-Oszillationen alsUrsache fur das solare Neutrino-Ratsel, das oft als

”smoking gun evidence“ be-

zeichnet wird. Der gesamte Neutrinofluss stimmt außerdem gut mit den Vorher-sagen nach Standard-Sonnenmodellen uberein [Pdg08], so dass fur die Erklarungdes Ratsels keine zusatzlichen sterilen Neutrinos benotigt werden. Um die Os-zillationen auch quantitativ richtig zu erfassen, muss man den MSW-Effekt miteinbeziehen. Nachdem vor SNO noch vier mogliche Parameterregionen fur dieDifferenz der Massenquadrate und den Mischungswinkel in Frage kamen2, ergabdie Analyse aller solaren Neutrinodaten und der Daten des KamLAND (sieheKapitel 4.3), dass die Oszillationen durch die LMA-Losung∣∣∆m2

�∣∣ = 7,59× 10−5 eV2 und sin(2θ�)2 = 0,87 (4.17)

[Pdg10] korrekt beschrieben werden.

2Die drei erlaubten Regionen mit MSW-Effekt wurden als MSW small mixing angle (SMA),MSW large mixing angle (LMA) und MSW low mass (LOW) bezeichnet.

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Experimentelle Ergebnisse 26

4.2 Das Verschwinden der atmospharischen Neu-trinos

Wenn kosmische Strahlung auf die Stickstoff- und Sauerstoff-Atome in der At-mosphare trifft, entstehen in einer Hohe von etwa 15 Kilometern Pionen. Diesezerfallen unter anderem in hochenergetische Elektron- und Myon-Neutrinos und-Antineutrinos:

π− → νµ + µ−

→ νµ + e− + νe + νµ

π+ → νµ + µ+

→ νµ + e+ + νe + νµ

(4.18)

Neben weiteren Neutrinos aus selteneren Zerfallen (wie dem Kaon-Zerfall) wer-den diese als atmospharische Neutrinos bezeichnet. Naiv werden zwei Myon-(Anti-)Neutrinos pro Elektron-(Anti)-Neutrino erwartet, also eine Rate 2 : 1.Myonen mit sehr großen Energien zerfallen moglicherweise nicht mehr, bevorsie den Detektor erreichen, wodurch die Rate tatsachlich etwas großer ist.

Kamiokande und Super-Kamiokande: Neben der Messung von solarenNeutrinos sind das Kamiokande und das Super-Kamiokande auch fur ihre inter-essanten Ergebnisse bei atmospharischen Neutrinos bekannt. Da man den abso-luten Fluss dieser Neutrinos nur ungenau voraussagen konnte, verglich man nurdie gemessenen und erwarteten Flavour-Verhaltnisse. Im Gegensatz zu den sola-ren Neutrinos kann aufgrund der sehr viel hoheren Energie3 fur atmospharischeNeutrinos auch die CC-Wechselwirkung von Myon-Neutrinos beobachtet wer-den. Die Messungen am Kamiokande ergaben ein Flavour-Verhaltnis, das nuretwa 60% des erwarteten entsprach [Gon07]. Es war allerdings nicht moglich zusagen, ob das gemessene Flavour-Verhaltnis durch zu wenige Myon-Neutrinosoder zu viele Elektron-Neutrinos hervorgerufen wurde. Außerdem wurde disku-tiert, ob die falsche Rate nur ein systematischer Fehler sein konnte, denn fruheExperimente mit Eisen-Kaloriemetern (Frejus, NUSEX) konnten keine Abwei-chung feststellen.

Das Kamioka Observatory veroffentlichte fur die Multi-GeV-Neutrinos auch dieAbhangigkeit des Neutrinoflusses vom Winkel zum Zenit ϑ. Senkrecht von obenkommende Neutrinos werden durch cos(ϑ) = 1, senkrecht von unten kommendedurch cos(ϑ) = −1 und horizontal eintreffende durch cos(ϑ) = 0 beschrieben.Die Ergebnisse vom Kamiokande deuteten darauf hin, dass der Effekt vorrangigfur von unten kommende Neutrinos auftritt. Das ließ sich durch den lange-ren Weg der Neutrinos zum Detektor erklaren: Wahrend die Neutrinos

”von

oben“ nur etwa 15 km zurucklegen, durchqueren die Neutrinos”von unten“

die Erde mit einem Durchmesser von uber 104 km. Der Super-Kamiokande-Detektor mit hoherer Prazision und großeren Datenmengen manifestierte die-se Erklarung und im Juni 1998 wurde der Nachweis von Flavour-Oszillationen

3Die Energie atmospharischer Neutrinos liegt im Sub- bis Multi-GeV-Bereich.

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Experimentelle Ergebnisse 27

bei atmospharischen Myon-Neutrinos verkundet. Abbildung 4.1 zeigt die An-zahl der gemessenen Ereignisse in Abhangigkeit vom Kosinus des Zenit-Winkelscos(ϑ).

Abbildung 4.1: Abhangigkeit der Anzahl an Neutrino-Ereignissen von cos(ϑ) furverschiedene Energiebereiche und Flavour. Die grauen Balken zeigen die erwarte-ten Werte ohne Oszillationen (mit stat. Fehler) und die schwarze Linie stellt denbesten Fit fur νµντ -Oszillationen mit den beiden Parametern sin(2θatm)2 = 1,0und

∣∣∆m2atm

∣∣ = 0,0035 eV2 dar [Sch99].

Da die Verteilungen der νe sehr gut mit den Erwartungen ohne Oszillationenubereinstimmen, kann auf ein Verschwinden der νµ als Ursache fur die falschenFlavour-Verhaltnisse geschlossen werden. Außerdem stellte man noch eine Ener-gieabhangigkeit fest: Das Defizit an Myonen, die den Detektor verließen, warkleiner, als das Defizit der im Detektor gestoppten Myonen, also ist das Ver-schwinden eines νµ mit hoherer Energie unwahrscheinlicher. Diese drei Phano-mene – das Verschwinden der Myon-Neutrinos, die Abhangigkeit von der Distanzund die Abhangigkeit von der Energie – lassen sich am einfachsten mit νµντ -Oszillationen im Vakuum4 erklaren.

Soudan2 und MACRO: Soudan2 und das Monopole, Astrophysics and Cos-mic Ray Observatory (MACRO) sind Eisen-Kaloriemeter. Diese bestehen ab-wechselnd aus Eisenschichten als Target und Schichten zur Rekonstruktion derMyon-Spuren sowie Messung der Elektron-Ereignisse. Beide Experimente besta-tigten die Ergebnisse aus Kamioka und raumten so die Sorgen um systematischeFehler bei Wasser-Tscherenkow-Detektoren aus.

4Im Fall dieser Flavour gibt es keinen Unterschied zur Oszillation in Materie (siehe EndeKapitel 3).

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Experimentelle Ergebnisse 28

4.3 Experimente mit Neutrinos aus Reaktorenund Beschleunigern

Neben den naturlichen Neutrinoquellen lassen sich naturlich auch in Atomreak-toren und Teilchenbeschleunigern produzierte Neutrinos untersuchen. In Re-aktoren werden stets Elektron-Antineutrinos νe mit einer geringen Energie5

erzeugt. In Beschleunigern wird der Neutrinostrahl hingegen meist aus Pion-Zerfallen gewonnen. Dabei werden die Myonen nach relativ kurzer Distanz ge-stoppt, so dass der Strahl neben einigen elektronartigen vor allem hochener-getische myonartige Neutrinos bzw. Antineutrinos enthalt. Diese Experimentesind daher gut zur Uberprufung der Ergebnisse fur atmospharische Neutrinosgeeignet.

4.3.1 Reaktor-Experimente

CHOOZ: Es gab einige νe-Detektoren in der naheren Umgebung von Atom-reaktoren, die alle keine Anzeichen fur Flavour-Oszillationen fanden. Daruntersind die Experimente Gosgen, Krasnoyarsk, Bugey, Palo Verde und CHOOZ.Letzteres liegt in der gleichnamigen Gemeinde in Frankreich und die Distanzdes Detektors zum Reaktor betragt etwa 1 km. Hier wurde fur den Fluss vonElektron-Antineutrinos das Verhaltnis

RCHOOZ = 1,01± 2,8% (statistisch) ± 2,7% (systematisch) (4.19)

zwischen gemessenem und erwartetem Fluss ermittelt. CHOOZ und die anderenReaktor-Experimente grenzen durch ihre negativen Resultate die moglichen Pa-rameter fur die Antineutrino-Oszillation νe → νµ sehr stark ein. Unter Annahmevon CPT-Invarianz, das heißt Invarianz der physikalischen Gesetze unter kom-binierter Ladungs-, Raum- und Zeitumkehr, gelten die Einschrankungen auchfur die Neutrinooszillation νµ → νe.

KamLAND: Der Kamioka Liquid Scintillator Antineutrino Detector (Kam-LAND) ist Teil des Kamioka Observatoriums in Japan. Der Flussig-Szintillator-Detektor wurde an der Stelle errichtet, an dem zuvor der Kamiokande-Detektorstand und ist seit 2002 in Betrieb. KamLAND erfasst Elektron-Antineutrinosaus mehreren japanischen Atomkraftwerken mit einer mittleren Entfernung von150 bis 210 km. Das Verhaltnis zwischen gemessenem und erwartetem Fluss istnach ersten Ergebnissen [Gon07]

RKamLAND = 0,611± 0,094 (4.20)

fur Energien uber 3,4 MeV. Bei diesen großeren Entfernungen gibt es also auchbei Reaktor-Experimenten positive Ergebnisse fur Neutrino-Oszillationen. DieKamLAND-Resultate zeigen ebenso wie die Messungen von solaren und atmo-spharischen Neutrinos eine Energieabhangigkeit. Beide Oszillations-Parameter

5Typisch sind Energien im MeV-Bereich.

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Experimentelle Ergebnisse 29

fur die solaren Neutrinos werden durch KamLAND eindrucksvoll bestatigt. Diein Kapitel 4.1 angegebenen Werte (4.17) wurden in einer gemeinsamen Analysemit allen solaren Daten gefunden6.

4.3.2 Beschleuniger-Experimente (Long-Baseline)

K2K und MINOS: Das erste Long-Baseline-Experiment (1999 bis 2004) mitNeutrinostrahlen aus einem Teilchenbeschleuniger war das KEK to Kamioka-Projekt (K2K), mit einer Entfernung von 235 km zwischen dem Beschleunigeram KEK und dem Super-Kamiokande in Kamioka. Das Main Injector NeutrinoOscillation Search-Experiment (MINOS) lauft seit 2003. Es besteht aus einemBeschleuniger sowie einem Nah-Detektor am Fermilab, Illinois und einem große-ren Fern-Detektor, der ca. 730 km entfernt im Norden Minnesotas steht.

Beide Experimente bestatigen sowohl im beobachteten Defizit des Myon-Neu-trinoflusses als auch in der Energieabhangigkeit die vorherigen Messungen amSuper-Kamiokande. Die gemessenen Werte sind vertraglich mit den dort gefun-denen Parametern fur atmospharische Neutrinos. Die von MINOS veroffentlich-ten Parameter fur die νµντ -Oszillation sind

sin(2θatm)2 > 0,92 und∣∣∆m2

atm

∣∣ = 2,43× 10−3 eV2 (4.21)

[Pdg10].

6Die Daten durfen nur zusammengefasst werden, wenn CPT eine gultige Symmetrie ist.

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Experimentelle Ergebnisse 30

4.3.3 Beschleuniger-Experimente (Short-Baseline)

LSND und KARMEN: Die meisten Experimente mit Neutrinostrahlen ausBeschleunigern sind nur einige hundert Meter vom Beschleuniger selbst entferntund werden Short-Baseline-Experimente genannt. Mit einer Ausnahme hat kei-nes dieser Experimente einen Hinweis auf Neutrino-Oszillationen gefunden. Dasist auf die geringe Distanz zuruckzufuhren.

Die Ausnahme machte der Liquid Scintillator Neutrino Detector (LSND, 1993bis 1998) an der Los Alamos Meson Physics Facility, USA. Er sollte in etwa 30mEntfernung νe und νµ aus dem µ+-Zerfall messen. Dabei trat ein Uberschuss anνe auf, der mithilfe der Antineutrino-Oszillation νµ → νe erklart werden kann.Das Karlsruhe Rutherford Medium Energy Neutrino-Experiment (KARMEN)in Großbritannien ist dem LSND sehr ahnlich, allerdings betragt die Distanzzwischen Beschleuniger und Detektor dort nur ungefahr 18m. KARMEN konnteden νe-Uberschuss nicht bestatigen, sondern schloss die vom LSND favorisiertenParameter teilweise aus (siehe Abbildung 4.2).

Abbildung 4.2: Erlaubte Regionen (90% bzw. 99% CL) fur die Parameter derAntineutrino-Oszillation νµ → νe nach dem LSND-Experiment im Vergleich mitden von KARMEN und anderen Experimenten ausgeschlossenen (zu 90% CL)Regionen. Die ausgeschlossenen Parameter liegen immer rechts von der Linie[Gon07].

Es gibt jedoch auch Gebiete im Parameterraum, die nicht ausgeschlossen werdenkonnten. Eine gemeinsame Analyse beider Experimente zeigt, dass die folgendenParameter beide Experimente erklaren konnten [Pdg08]:∣∣∆m2

LSND

∣∣ ∈ (0,2 eV2; 1 eV2)

und sin(2θLSND)2 ∈ (0,003; 0,030) (4.22)∣∣∆m2LSND

∣∣ ' 7 eV2 und sin(2θLSND)2 ' 0,004. (4.23)

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Experimentelle Ergebnisse 31

MiniBooNE: Da KARMEN die Ergebnisse des LSND nicht vollstandig wie-derlegen konnte, wurde ein weiteres Experiment geplant, um sie zu uberprufen:Das MiniBooNE (BooNE steht fur Booster Neutrino Experiment) am Fermilab,USA. Im ersten Suchlauf von 2002 bis 2005 wurde nach dem Prozess νµ → νein einem νµ-Strahl gesucht. Das Verhaltnis L/E wurde so gewahlt, dass es inder Großenordnung 1 km/GeV liegt, wie das am LSND. Im Energiebereich475 MeV < E < 3 GeV stellte man jedoch keinen signifikanten Uberschussan νe fest. Lediglich fur kleinere Energien war ein Uberschuss messbar, dessenUrsprung jedoch noch ungeklart ist7 [Min10]. Eine gemeinsame Analyse derLSND- und MiniBooNE-Daten schloss die Hypothese von einer Zwei-Neutrino-Oszillation als Erklarung der LSND-Resultate mit einer stat. Sicherheit von 98%zunachst aus [Gon07].

Seit 2006 wird das Projekt mit einem νµ-Strahl fortgefuhrt, was ein noch ge-nauerer Test der LSND-Daten ist. Neueste Ergebnisse [Min10] zeigen, dass furdie νµ im gleichen Energiebereich (475 MeV < E < 3 GeV) ein Uberschuss anνe gemessen wird. Diese Tatsache bestatigt das LSND-Experiment. Die Wahr-scheinlichkeit, dass dieser Uberschuss nur mit Hintergrund-Strahlung erklartwerden kann, liegt bei 0,5%. Der beste Fit hat sich fur die Parameter∣∣∆m2

LSND

∣∣ ' 0,064 eV2 und sin(2θLSND)2 ' 0,96 (4.24)

ergeben. Dieser Mischungswinkel wird jedoch vom Reaktor-Experiment Bugeyausgeschlossen. Abbildung 4.3 zeigt die erlaubten Regionen nach der neuen Mes-sung.

7Es gibt mehrere Hypothesen, unter anderem eine Neutrino-Photon-Kopplung oder Fla-vour-Oszillationen mit zusatzlichen sterilen Neutrinos, die eine CP- oder CPT-Verletzung mitsich bringen.

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Experimentelle Ergebnisse 32

Abbildung 4.3: Erlaubte Regionen (68%, 90% und 99% CL von innen nachaußen) fur die Parameter der Antineutrino-Oszillation νµ → νe nach den neuestenMiniBooNE-Resultaten im Vergleich mit Abbildung 4.2 [Min10].

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Experimentelle Ergebnisse 33

4.4 Zusammenfassung der Ergebnisse

Fur eine gemeinsame Analyse aller Neutrinodaten (mit Ausnahme der LSND-und MiniBooNE-Ergebnisse) werden mindestens drei Neutrinos benotigt. DieParameter, die bestimmt werden konnen, sind dann einerseits zwei unabhangigeMassendifferenzen und andererseits die vier Parameter in der Mischungsmatrix(2.21). Die zusatzlichen Majorana-Parameter sind durch Neutrino-Oszillationennicht zu bestimmen, denn es gilt mit (2.22)

Pαβ '∑i,j

U∗βiUαiUβjU∗αj exp(−2i∆ij)

=∑i,j

U∗βiDiiUαiD∗iiUβjD∗jjU∗αjDjj exp(−2i∆ij)

=∑i,j

U∗βiUαiUβjU∗αjDiiD∗iiD∗jjDjj exp(−2i∆ij)

=∑i,j

U∗βiUαiUβjU∗αj exp(−2i∆ij).

(4.25)

Auch die absoluten Massen konnen auf diesem Weg nicht gemessen werden.Die Ergebnisse aus den Experimenten werden mit den folgenden Parameternidentifiziert:

∆m221 := ∆m2

� = 7,59× 10−5 eV2∣∣∆m232

∣∣ := ∆m2atm = 2,43× 10−3 eV2

sin(2θ12)2 := sin(2θ�)2 = 0,87

sin(2θ23)2 := sin(2θatm)2 > 0,92.

(4.26)

Das bedeutet per Definition, dass ν1 und ν2 an der solaren Neutrino-Oszillationbeteiligt sind und ν2 die großere Masse hat. Da die Massendifferenz zwischen ν3und ν2 aber viel großer ist, kommen nur noch zwei Massenhierarchien in Frage.Eine wird als normal und die andere als invertiert bezeichnet:

m1 < m2 < m3 bzw. m3 < m1 < m2. (4.27)

Die bisherigen Daten erlauben keine Entscheidung fur eine der beiden, deshalbkann ∆m2

32 nur bis auf das Vorzeichen festgelegt werden. Die Differenz ∆m231

ergibt sich fur drei Neutrinos in jedem Fall uber

∆m231 = ∆m2

21 + ∆m232. (4.28)

Der fehlende Mischungswinkel θ13 kann durch Reaktor-Experimente wie CHOOZeingeschrankt werden8, denn mit Gleichung (3.18) folgt

PCHOOZee ' 1− 4 sin(θ13)2

(1− sin(θ13)2

)sin(∆31)2

= 1− sin(2θ13)2 sin(∆31)2.(4.29)

8Voraussetzung dafur ist wieder CPT-Invarianz

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Experimentelle Ergebnisse 34

Die Differenz der Massenquadrate, die in dieser Gleichung auftritt, ist zwar nichtexakt bekannt aber durch (4.28) sehr beschrankt. Aus der Messung von PCHOOZ

ee

ergab sich fur den Mischungswinkel die obere Schranke

sin(2θ13)2 < 0,15. (4.30)

Der letzte fehlende Parameter mit Einfluss auf Neutrino-Oszillationen ist dieCP-verletzende Phase δ (siehe Kapitel 4). Fur sie gibt es momentan noch keineexperimentellen Einschrankungen, da sie selbst durch sin(2θ13)2 unterdruckt ist.In Abbildung 4.4 ist ein Vergleich von Elektron-Neutrino-Oszillationen ohne θ13und mit maximalem θ13 nach (4.30) zu sehen.

10 100 1 000 104 105

L

E

0.2

0.4

0.6

0.8

1.0

P

10 100 1 000 104 105

L

E

0.2

0.4

0.6

0.8

1.0

P

Abbildung 4.4: Wahrscheinlichkeit fur νe → νe (blau), νe → νµ (rot) undνe → ντ (gelb) aufgetragen gegen L/E in km/GeV (logarithmisch) mit normalerMassenhierarchie und δ = 0 (B.1).

Die positiven Ergebnisse fur den Prozess νµ → νe vom LSND und vom Mi-niBooNE lassen sich mit Oszillationen fur drei Neutrinos nicht erklaren, denndie zusatzliche Differenz der Massenquadrate ∆m2

LSND lasst sich nicht mit Glei-chung (4.28) vereinbaren. Wenn die aktuellen Messergebnisse vom MiniBooNEsich weiter bestatigen, gibt es einen Unterschied zwischen den Prozessen νµ → νeund νµ → νe, das bedeutet eine Verletzung der CP-Invarianz.

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Kapitel 5

CP-Verletzung

Das letzte Kapitel behandelt die Verletzung der CP-Invarianz fur Leptonen.Als Literatur diente besonders [Nir01]. Zunachst soll die Ursache fur CP-Verlet-zung bei Leptonen ausgemacht werden und anschließend die Starke des Effektsabgeschatzt werden.

5.1 Der entscheidende Parameter

Im Standardmodell der Teilchenphysik wird die CP-Symmetrie nur durch denKobayasha-Maskawa-Mechanismus bei Quarks verletzt. Die Quelle der CP-Ver-letzung ist dort die komplexe Phase in der Mischungsmatrix. Wenn Neutrinos je-doch massiv sind, dann gibt es fur mindestens drei Neutrino-Generationen auchin der leptonischen Mischungsmatrix (2.21) eine solche Phase. In der Standard-Parametrisierung wird sie mit δ bezeichnet.

Eine einfache Erklarung, warum diese Phase die CP-Invarianz verletzt, ist fol-gende: Da die Lagrangedichte hermitesch ist, tauchen nach der Diagonalisierungder Massenterme im geladenen Strom (2.13) paarweise Terme der Form

Uij lLiγµνLjW

−µ + U∗ij νLjγ

µlLiW+µ (5.1)

auf. Bei kombinierter Anwendung von Ladungskonjugations- und Paritatsope-rator werden diese Terme zu

Uij νLjγµlLiW

+µ + U∗ij lLiγ

µνLjW−µ . (5.2)

Das heißt, dass der geladene Strom LCC nur fur reelle Koeffizienten Uij = U∗ijinvariant ist. Wenn also eine komplexe Phase in der Mischungsmatrix auf-tritt, wird automatisch die Invarianz unter der CP-Transformation verletzt. Diezusatzlichen Phasen α1 und α2 bei Majorana-Neutrinos fuhren daher ebenfalls

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CP-Verletzung 36

zu einer CP-Verletzung, die jedoch zusatzlich mit einer Verletzung der Lepton-zahlerhaltung einhergeht, was in Kapitel 2 bereits gezeigt worden ist. Im di-rekten Zusammenhang mit Neutrino-Oszillationen spielen diese Phasen jedochkeine Rolle, da sie in der Oszillationswahrscheinlichkeit verschwinden.

5.2 Ein Maß fur die Starke der leptonischen CP-Verletzung

Im Hinblick auf die experimentellen Abweichungen zwischen den beiden Prozes-sen νµ → νe und νµ → νe, die von LSND und MiniBooNE gemessen wurde, liegtes nahe, an diesem Beispiel den Effekt der CP-Verletzung berechnen. Gilt dabeiCPT-Invarianz, dann ist der zweite Prozess gleichbedeutend mit νe → νµ. Mit(3.12) folgt fur die Abweichung der Wahrscheinlichkeit des ersten vom zweitenProzess der Ausdruck

Peµ − Pµe = δeµ − δµe− 4

∑i>j

Re(U∗µiUeiUµjU∗ej) sin(∆ij)

2

+ 4∑i>j

Re(U∗eiUµiUejU∗µj) sin(∆ij)

2

+ 2∑i>j

Im(U∗µiUeiUµjU∗ej) sin(2∆ij)

− 2∑i>j

Im(U∗eiUµiUejU∗µj) sin(2∆ij)

= −4∑i>j

Re(U∗µiUeiUµjU∗ej) sin(∆ij)

2

+ 4∑i>j

Re(UeiU∗µiU

∗ejUµj) sin(∆ij)

2

+ 2∑i>j

Im(U∗µiUeiUµjU∗ej) sin(2∆ij)

+ 2∑i>j

Im(UeiU∗µiU

∗ejUµj) sin(2∆ij)

= +4∑i>j

Im(U∗µiUeiUµjU∗ej) sin(2∆ij)

= −4 JCP · (sin(2∆32) + sin(2∆21)− sin(2∆31))

(5.3)

mit dem neu eingefuhrten Parameter

JCP := sin(θ12) cos(θ12) sin(θ13) cos(θ13)2 sin(θ23) cos(θ23) sin(δ), (5.4)

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CP-Verletzung 37

der sich durch Einsetzen der Matrixelemente von U in der Standard-Parametri-sierung (2.21) ergibt. Dieser Parameter kann auch unabhangig von einer Para-metrisierung der Mischungsmatrix uber die Gleichungen

Im(U∗βiUαiUβjU∗αj) ≡ JCP

3∑γ=1

εαβγ

3∑k=1

εijk ∀α, β, i, j ∈ {1, 2, 3} (5.5)

definiert werden [Nir01]. Fur die CP-Verletzung bei anderen Flavour-Ubergang-en taucht also dieselbe Konstante JCP auf, nur die Vorzeichen unterscheidensich:

|Peµ − Pµe| = |Peτ − Pτe| = |Pµτ − Pτµ| . (5.6)

5.3 Die Losung fur das LSND-Problem?

Mit dem ermittelten Parameter JCP lasst sich nun leicht abschatzen, ob die CP-Verletzung aus der leptonischen Mischungsmatrix fur den gemessenen Uber-schuss der νe am LSND und MiniBooNE verantwortlich sein kann. Mit denWerten aus (4.26) folgt fur ein Experiment mit L/E ' 1 km/GeV

|Peµ − Pµe| = 4 |JCP| · |sin(2∆32) + sin(2∆21)− sin(2∆31)|(4.30)< 0,177 · |sin(2∆32) + sin(2∆21)− sin(2∆31)|

< 6,71× 10−10

(5.7)

sowohl fur die normale als auch fur die invertierte Massenhierarchie. Das liegtmehrere Großenordnungen unter dem am LSND gemessenen Uberschuss, dereiner Oszillationswahrscheinlichkeit von etwa 2,64 × 10−3 entspricht [Gon07].Nimmt man die in (4.26) zusammengefassten Parameter als richtig an, dannscheidet dieser Effekt innerhalb des Modells von drei massiven Neutrinos alsmogliche Erklarung aus.

Wird der Effekt der maximalen CP-Verletzung fur großere Quotienten L/E be-trachtet, wie sie zum Beispiel bei Long-Baseline-Experimenten oder Experimen-ten mit atmospharischen Neutrinos vorkommen, dann lasst sich feststellen, dasser sehr stark schwankt und fur θ13 nahe der oberen Schranke stellenweise einerDifferenz von uber 40% in der Oszillationswahrscheinlichkeit entspricht (sieheAbbildung 5.1). Dann mussten tatsachlich die bisher angenommenen Werte ausden Experimenten mit solaren und atmospharischen Neutrinos in Frage gestelltund genau uberpruft werden. Eine Analyse unter Einbeziehung aller Parame-ter fur Drei-Neutrino-Oszillationen legten jedoch θ13 ' 0 nahe [Gon07]. DaJCP ∝ sin(θ13) cos(θ13)2 ist, wird der CP-Effekt dann auch fur große L/E starkunterdruckt.

In diesem Kapitel sind bisher nur Flavour-Oszillationen im Vakuum betrachtetworden. Konnte das LSND-Problem durch die Einbeziehung der Materie gelostwerden? Die Reise der Neutrinos durch unseren Planeten fuhrt zu einem CP-verletzenden Effekt wegen des unausgeglichenen Verhaltnisses von Materie zu

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CP-Verletzung 38

20 000 40 000 60 000 80 000 100 000

L

E

0.1

0.2

0.3

0.4

 DP ¤

Abbildung 5.1: Maximale CP-Verletzung ausgedruckt durch die Differenz derOszillationswahrscheinlichkeiten aufgetragen gegen L/E in km/GeV mit normalerMassenhierarchie. Die zugehorigen Parameter sind δ = π/2 und θ13 = 0,198 (B.1).

Antimaterie. Fur Short-Baseline-Experimente erweist sich die Abweichung abernach [Ruj98] als zu klein. Damit scheidet wohl auch dieser Erklarungsversuchaus. Ein Ausweg aus dem Dilemma konnte die Einfuhrung von weiteren steri-len Neutrinos sein, die zu zusatzlichen Phasen in der Mischungsmatrix fuhrenwurden (siehe Kapitel 2).

Ein vielversprechender Ansatz ist der Seesaw-Mechanismus, der schwere Majo-rana-Neutrinos vorhersagt, die nur bei sehr hohen Temperaturen (wie sie zumBeispiel kurz nach dem Urknall herrschten) erzeugt werden [Pdg08]. Beim Zerfalldieser schweren Neutrinos kurz nach dem Urknall konnte CP-Verletzung zur Be-vorzugung von geladenen Leptonen gegenuber geladenen Antileptonen gefuhrt(Leptogenese) und so zu dem Verhaltnis Materie zu Antimaterie, wie es heuteim Universum herrscht, beigetragen haben. Ihre hohe Masse ist gleichzeitig dieErklarung dafur, dass sie heute nicht mehr gemessen werden.

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CP-Verletzung 39

Trotz spektakularer experimenteller Ergebnisse ist noch lange kein Ende in derNeutrinoforschung abzusehen. Die wichtigsten Ziele aktueller oder sich in Pla-nung befindender Experimente sind [Pdg10]

- die Verbesserung der Genauigkeit aller gemessenen Parameter.

- die Bestimmung der Natur – Dirac- oder Majorana – der massiven Neu-trinos.

- die Bestimmung des Vorzeichens von ∆m32. Daraus folgt fur drei massiveNeutrinos direkt die Massenhierarchie.

- die Bestimmung der absoluten Neutrino-Massen.

- weitere Einschrankung von θ13. Das hat direkte Auswirkungen auf diemaximale Starke der CP-Verletzung.

- die Bestimmung der Phase δ selbst.

Außerdem mussen die vorgeschlagenen Erweiterungen des Standardmodells ge-pruft werden. Mit viel Gluck und Geduld wird sich uns dann vielleicht sogar diegeheimnisvolle Abwesenheit der Antimaterie in unserem Universum erschließen.

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Anhang A

Verwendete Formeln

In diesem Anhang sind einige Formeln aus der Mathematik zu finden, die sichfur die Berechnungen als nutzlich herausgestellt haben. Ihre Verwendung ist anden entsprechenden Stellen vermerkt.

Winkelfunktionen: Die Produkte von Winkelfunktionen lassen sich haufigvereinfachen. Nutzlich sind zum Beispiel die beiden Gleichungen

cos(2x) = 1− 2 sin(x)2 ∀x ∈ R, (A.1)

sin(2x) = 2 sin(x) cos(x) ∀x ∈ R. (A.2)

Komplexe Zahlen: Bei der Addition einer komplexen Zahl z mit ihrer kom-plex Konjugierten gelten die Beziehungen

z + z∗ = 2 Re(z) ∀z ∈ C, (A.3)

z − z∗ = 2i Im(z) ∀z ∈ C. (A.4)

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Verwendete Formeln 41

Diagonalisierung einer symmetrischen Matrix: Eine beliebige symme-trische 2× 2-Matrix

M =

(a bb d

)(A.5)

lasst sich mithilfe einer orthogonalen Matrix O diagonalisieren. Wahle dazu dieorientierungserhaltende Drehmatrix

O =

(cos(x) sin(x)− sin(x) cos(x)

)(A.6)

mit Drehwinkel x und verwende die beiden Abkurzungen c := cos(x) und s :=sin(x). Dann gilt: Die transformierte Matrix

M := OTMO =

(a c2 − 2b cs + d s2 (a− d) cs + b

(c2 − s2

)(a− d) cs + b

(c2 − s2

)a s2 + 2b cs + d c2

)(A.7)

ist genau dann diagonal, wenn fur den Winkel x die Gleichung

(a− d) cs + b(c2 − s2

)= 0

⇔ cs

c2 − s2=

b

d− a

⇔ tan(2x) =2b

d− a

(A.8)

gilt. Die Eigenwerte λ1,2 der Matrix M ergeben sich zu

det(M − λ · 11) = 0

⇔ (a− λ)(d− λ)− b2 = 0

⇔ λ2 − λ(a+ d)− b2 + ad = 0

⇔ λ1,2 =a+ d

2±√

(a+ d)2

4+ b2 − ad

⇔ λ1,2 =a+ d

2± b

sin(2x).

(A.9)

Der Winkel x und somit auch die Differenz der Eigenwerte

∆λ =2b

sin(2x)(A.10)

sind unabhangig von Termen proportional zur Einheitsmatrix in M , denn auchmit den neuen Diagonaltermen a+ z und d+ z gilt nach wie vor

tan(2x) =2b

(d+ z)− (a+ z)=

2b

d− a. (A.11)

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Anhang B

Mathematica-Notebook

Die selbst erstellten Abbildungen im Text wurden mithilfe des folgenden Mathe-matica-Notebooks erzeugt.

Abbildung B.1: Notebook zur Erzeugung der Grafiken, erstellt mit der SoftwareWolfram Mathematica 7.

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Literaturverzeichnis

[Cal01] David O. Caldwell (Ed.), Current Aspects of Neutrino Physics (2001)

[Gon07] M. C. Gonzalez-Garcia, Phenomenology with Massive Neutrinos(2007, arXiv:hep-ph/0704.1800v2)

[Kug97] Taichiro Kugo, Eichtheorie (1997)

[Min10] The MiniBooNE Collaboration, Observed Event Excess in the Mini-BooNE Search for νµ → νe Oscillations(2010, arXiv:hep-ex/1007.1150v1)

[Nir01] Yosef Nir, CP Violation – A New Era (2001, arXiv:hep-ph/0109090v1)

[Pas07] Emmanuel A. Paschos, Electroweak Theory (2007)

[Pdg08] C. Amsler et al. (Particle Data Group), Physics Letters B667, 1 (2008)

[Pdg10] K. Nakamura et al. (Particle Data Group), J. Phys. G 37, 075021(2010)

[Pov09] Bogdan Povh et al., Teilchen und Kerne (2009)

[Ruj98] A. De Rujula et al., Neutrino Oscillation Physics with a NeutrinoFactory (1998, arXiv:hep-ph/9811390v2)

[Sch99] Kate Scholberg, Atmospheric Neutrinos at Super-Kamiokande (1999,arXiv:hep-ex/9905016v1)

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Erklarung

Hiermit versichere ich, dass ich die vorliegende Arbeit selbststandig verfasstund keine anderen als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel benutzt habe,dass alle Stellen der Arbeit, die wortlich oder sinngemaß aus anderen Quellenubernommen wurden, als solche kenntlich gemacht sind und dass die Arbeit ingleicher oder ahnlicher Form noch keiner Prufungsbehorde vorgelegt wurde.

Bielefeld, den 19. August 2011Unterschrift