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Zum Neuen Jahr

Ich hab den Jahreskreis durchschritten.Die Zukunft tut sich vor mir auf.Nun setze, Herr, laß Dich erbitten,des Segens Siegel Du darauf!

Aus eigener Kraft ist nichts gewonnen.Der eigne Wille reicht nicht weit.Wie schnell ist meine Zeit zerronnenvorm Horizont der Ewigkeit!

Noch bin ich hier, noch darf ich schaffen,noch schlägt mein Herz gewohnten Gang.Laß Aug' und Muskel nicht erschlaffendies eine neue Jahr entlang!

Da will ich glauben, will ich dienenund Dank und Bitten heut erneun.Was fremd und schwer, was hart erschienen,Du kannst der Sorgen Last zerstreun.

Noch gönnst Du mir im Strom der Jahre,was mir allzeit vonnöten ist.Und Du bestimmst das wunderbare,das sel'ge Ende meiner Frist.

Wilhelm Horkel

Inhaltsverzeichnis:

Editorial Dr. Alfred Häußler 3

Aufwachen in später Stunde Christa Meves 5

Die Fortschrittsfalle.... Walter Krämer 8

Brief an den Bundespräsidenten Dr. S. Ernst 12

Brief an Minister Seehofer Europ.Ärzteaktion 13

Das Tor zur Euthanasie Elisabeth Backhaus 16

Euthanasiegift patentiert Zeit-Fragen 17

Transplantation föt.Gewebes G. Klinkhammer 19

Die heilsgesch. Bedeutung.. L.Börsig-Hover 21

Aktive Sterbehilfe Dr.K.H. Beckers 26

Stellungnahme Hubert Hüppe MdB 28

Dokumentation Bioethik - Konvention 45

MEDIZIN & IDEOLOGIE Dezember 96

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Editorial

Verantwortung statt Emanzipation

Von Viktor Frankl stammt das Wort: "Glauben Siemir, auch Auschwitz, Treblinka und Maidonek sindursprünglich nicht in den Ministerien zu Berlin vor-bereitet worden, sondern zuvor an den Schreibti-schen und in den Hörsälen nihilistischer Wissen-schaftler und Philosophen". Viktor Frankl muß dieswissen, denn der am 26.3.1905 in Wien geborenePsychiater und Neurologe und Herausgeber desHandbuches der Neurosenlehre und Psychothera-pie war selbst viele Jahre in einem Konzentrati-onslager interniert. Davon berichtet der jetzt 91-Jährige in seinem Buch "Ein Psychologe erlebt dasKonzentrationslager". Die Konzentrationslager unddie Menschenvernichtungslager mit ihren Gas-kammern sind nach Auffassung von Viktor Franklnichts anderes als das traurige und unheilvolleEndprodukt einer Ideologie, die sich vom Glaubenan Gott und von seiner von ihm gegebenen Ord-nung für die Menschen und ihr Zusammenlebenemanzipiert hat.

Die Emanzipation des Menschenund Folge der Kulturrevolution von1968Trotz Auschwitz, trotz Treblinka und trotz Maido-nek ist die Emanzipation des Menschen dieHauptforderung und das Endziel der Kulturrevo-lution, die seit 1968 das Denken und das Verhaltenso vieler Menschen in ganz Europa und Nordame-rika, besonders aber in Deutschland bestimmt.Diese Kulturrevolution hat ihre Wurzeln in der mo-dernen Philosophie des Existentialismus, aus demauch der Feminismus hervorging, sowie in denLehren der Frankfurter Schule der "KritischenTheorie" mit ihrem Neo-Marxismus. Die FrankfurterSchule wurde von Max Horkheimer gegründet undfortgeführt von Theodor W.Adorno und von HerbertMarcuse. Heute ist Jürgen Habermas der Vertreterder Frankfurter Schule. Die Emanzipation desMenschen von allen Herrschaftsstrukturen und vonjeder Bevormundung und von jeder Autorität ist dieHauptforderung der neuzeitlichen Kulturrevolution.Dazu gehört auch die Emanzipation von Gott, vonseiner dem Menschen vorgegebenen Ordnung,von seinen Geboten und Verboten, eben dieEmanzipation von jeder Religion überhaupt. Deremanzipierte Mensch ist der Mensch der Selbstge-setzlichkeit, der Selbstbestimmung, der Nichtver-antwortlichkeit vor einer höheren Instanz, also derautonome Mensch mit der autonomen Moral.

Die Eigenverantwortlichkeit desMenschen für sich selbst und fürsein TunNicht die Emanzipation des Menschen, sonderndie Verantwortung des Menschen ist das eigent-liche Lebensprinzip für den Menschen, die Richt-schnur für sein Leben. Diese Verantwortung des

Menschen gründet sich auf die Aussagen desSchöpfungsberichtes in der Heiligen Schrift, in demes heißt, daß jeder Mensch ein Abbild Gottes ist(Genesis 1,27) und daher stets auf Gott hin bezo-gen bleibt. Deshalb trägt der Mensch Verantwor-tung gegenüber Gott, dessen Abbild er ist(Genesis 1,27). Er kann und darf sich nicht vonihm emanzipieren. Gott als Autorität und als Ge-setzgeber für menschliches Handeln anzuer-kennen, ist Pflicht und Aufgabe des Menschen seinganzes Leben lang. Dafür trägt er die Ver-antwortung.

Die Mitverantwortung des Menschenfür seine MitmenschenDer Mensch lebt nicht allein auf dieser Welt, nichtnur für sich allein, sondern er ist immer auch fürandere da, für seine Mitmenschen. Darum trägt erauch Verantwortung für seine Mitmenschen, fürseine Nächsten, für seine Familie, für die gesamteMenschheit. Denn der einzelne Mensch ist nur einwinziges Glied des gesamten Menschen-geschlechtes. Haben doch alle Menschen ihrengemeinsamen Ursprung und auch alle das gleicheZiel. Gerade dadurch sind alle Menschen aufsengste miteinander verbunden. Keiner kann wirk-lich Mensch sein im Vollsinn dieses Wortes ohnedie tiefgreifenden und so vielfältigen Bindungen anseine Mitmenschen und ohne Mitverantwortung fürdiese.

Die Mitverantwortung des Menschen für seineMitmenschen duldet keine Vernichtung menschli-chen Lebens, auch nicht die des ungeborenen Le-bens. Darf denn der Mensch die Axt an den "Baumdes Lebens" (Genesis 2,9) legen, indem er unge-borene Kinder tötet?! Ist dies Mitverantwortung desMenschen für den Mitmenschen, zu der jederMensch berufen ist und von der sich nicht ein Ein-ziger emanzipieren kann und darf?!

Verantwortung setzt BindungvorausVerantwortung ist nur in Freiheit und in gleichzei-tiger Bindung möglich. Nur der Mensch im Besitzder Willensfreiheit vermag verantwortlich zu han-deln. Aber auch nur der Mensch, der sich gebun-den weiß an eine höhere, über ihm stehende In-stanz und der sich von dieser Instanz nicht eman-zipiert, handelt in Verantwortung vor dieser höhe-ren Instanz. Beides gehört zusammen, auch wennsie gegenseitige Pole zu sein scheinen: Freiheitund Bindung! Denn nur bei der in Freiheit vollzo-genen Respektierung der Bindung entsteht Ver-antwortung!

In seiner Freiheit, aber auch durch die Bindung aneine höhere Instanz unterscheidet sich der Menschwesentlich vom Tier. Das Tier ist nicht frei, es lebtnach seinen Instinkten und Trieben und kann keine

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Bindung an eine über ihm stehende Instanz erken-nen. Das Tier ist nicht transzendenzfähig. Es kannkeinen Gesetzgeber über sich erkennen und aner-kennen. Dadurch ist das Tier kein Verantwor-tungsträger. Verantwortliche Entscheidungen ver-mag es nicht zu treffen. Und dennoch ist es eineTatsache: Kein Tier bringt in der Regel seineNachkommen um. Es sorgt für diese, pflegt undhegt und füttert sie, bis sie flügge sind. Hier zeigtsich in ganzer Deutlichkeit die absolute Verant-wortungslosigkeit der Menschen, die ihre eigenenungeborenen Kinder umbringen oder umbringenlassen. Nur die Emanzipation macht dies möglichund erklärbar. Sie schafft den verantwortungslosenMenschen!

Der verantwortungslose MenschWohin wir uns auch immer umsehen in der mo-dernen Gesellschaft, so stellen wir fest: DerMensch in der heutigen Zeit lebt nur zu gernemanzipiert, selbstbestimmend und ohne Bindung,damit aber auch ohne Verantwortung für sichselbst und ganz besonders ohne Verantwortung fürandere. Er meint niemanden Rechenschaft schul-dig zu sein für sein Handeln und Verhalten, denner ist autonom. Er lebt als verantwortungsloserMensch. Er ist ein Produkt der Emanzipation!

In dieser Emanzipation läßt es sich für den Ein-zelnen vielleicht eine Zeit lang ungestört leben. Istein solches Leben aber für die Gesellschaft nütz-lich und auf die Dauer tragbar? Wir sehen heuteüberall bereits die Folgen. Sie sind erschreckend.Acht Millionen getötete ungeborene Kinder allein inDeutschland klagen an! Sie klagen an den verant-wortungslosen Menschen, seine Ichbezogenheit,seinen Egoismus, seine Selbstbestimmung, seineAutonomie, seine Selbstgesetzlichkeit, seineEigenverantwortlichkeit nur sich selbst gegenüber,seine Bindungslosigkeit, seine Überheblichkeit,seine Emanzipation von allen Geboten und Ver-boten, die dem Menschen vor viertausend Jahrenzu seinem eigenen geglückten Leben und zu sei-nem Zusammenleben in der sozialen Gemein-schaft mit seinen Mitmenschen gegeben wurden.Die Emanzipation, diese Hauptforderung derKulturrevolution, in der wir immer noch leben,schuf den verantwortungslosen Menschen.

Die FolgenderVerantwortungslosigkeit des Men-schenNach den neuesten Statistiken sinkt in allen Län-dern Europas die Geburtenzahl seit den aus-gehenden 60er - Jahren. Europa wurde ein ster-bender Kontinent. Der Zustrom von Menschen ausden islamischen Ländern ist die Folge davon undwird sich voraussichtlich weiter erhöhen. Denn dieGeburtenziffer in Deutschland hat sich mehr alshalbiert. Wir haben mehr Särge als Wiegen! "DerUntergang des Abendlandes", von dem OswaldSpengler schon im Jahre 1922 schrieb, wird danntraurige Wirklichkeit. Daß sich darüber niemand er-regt und so gut wie niemand darüber nachdenkt,ist wiederum eine Folge der Emanzipation.

Wenn jetzt blankes Entsetzen viele Menschen in

aller Welt befällt über die perversen Kinder-schändungsdelikte in Belgien, in Thailand und an-derswo, nicht zuletzt auch in der BundesrepublikDeutschland, so sind diese abscheulichen Verbre-chen doch seit Jahren geradezu vorprogrammiertdadurch, daß man im Zeichen der Emanzipationdie Strafgesetzgebung seit 1975 ständig gelockerthat. So hat man den Blasphemieparagraphen alsnicht mehr zeitgemäß gestrichen. Im Jahre 1975wurde im Strafreformgesetz die Pornographieweitgehend freigegeben und im Jahre 1976 unge-borenen Kindern ihr Lebensrecht dem Selbstbe-stimmungsrecht der Frau überlassen. Seitdem istdie Tötung ungeborener Kinder zwar noch"rechtswidrig, aber nicht strafbar". Und nun fiel denDelegierten auf dem Weltkongress gegen kom-merziellen sexuellen Missbrauch von Kindern inStockholm im August 1996 nichts anderes mehrein, als zu verlangen, die Strafgesetzgebung zuverschärfen. Dies ist eine späte Einsicht. Denn inallen Diskussionen und Parlamentsdebatten umden §218 StGB wurde doch immer wieder betont,daß "Strafen nichts nützen". Selbstverständlichnützen Strafen sehr viel, sie haben eine abschrec-kende Wirkung. Nur im Falle von Blasphemie, beiPornographie und bei der Tötung ungeborenerKinder sollen sie angeblich nichts nützen. Aber beiSteuerhinterziehung nützen sie doch! Hier müssenStrafen bleiben!

Die aufgehende SaatSeit 1968 wird uns in Presse, Rundfunk und Fern-sehen verkündet, daß der Mensch ein Selbstbe-stimmungsrecht besitzt, daß er autonom, eigen-verantwortlich und emanzipiert ist von allen Gebo-ten und Verboten, von allen überkommenen Wert-vorstellungen und von jedweder Autorität, vor al-lem kirchlicher, die dem Menschen Vorschriftenmachen oder gar Belehrungen erteilen möchte.Wenn aber ungeborene Kinder in ihrem Lebens-recht selbst vom Gesetzgeber so missachtet wer-den, dass ihre Tötung nicht mehr mit Strafandro-hungen bedacht wird, wer vermag dann Pornogra-phie und sexuellen Missbrauch von Kindern nochaufzuhalten? Denn die gesetzliche Freigabe dermassenhaften Tötung ungeborener Kinder öffnetdie Schleusen zum genau so massenhaften undhemmungslosen sexuellen Missbrauch von Kin-dern! Beides gehört in einem Rechtsstaat unterStrafe gestellt! Je höher die Strafe, um so höherdie Hemmschwelle für jedes Verbrechen an Kin-dern!

Nur wenige Tage vor dem Bekanntwerden derKinderschändungs- und Tötungsdelikte in Belgienfeierte man in München mit großem Pomp und so-gar unter Beteiligung namhafter und hoher Reprä-sentanten unserer parlamentarischen Demokratiedas vierzigjährige Jubiläum des Jugendmagazins"Bravo". Alle Festgäste waren voll des Lobes überdie "jugendpädagogischen Wertvorstellungen" die-ses Magazins, ohne zu bedenken, dass in solchenMagazinen die Saat früher Versexualisierung vonKindern und Jugendlichen gelegt wird, die in ihrerübelsten Form in Pornographie, Prostitution, inFrühschwangerschaften und nur zu häufig in dermillionenfachen Tötung ungeborener Kinder auf-geht-

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Die Hauptschuldigen des sittlichenNiederganges der GesellschaftDie Schuldigen sind daher nicht die Täter allein,sondern auch die Propheten der Emanzipation undnicht zuletzt der Gesetzgeber, der Pornographieund die Tötung ungeborener Kinder freigegeben

hat und darüber hinaus in Presseorganen, inRundfunk und Fernsehen nichts verbietet, was un-sere Jugend verdirbt. So bewahrheitet sich jetzt,was Friedrich Schiller gerade heute uns zu sagenhat: "Das eben ist der Fluch der bösen Tat, dasssie, fortzeugend, immer Böses muss gebären".

Alfred Häußler

Christa Meves

Aufwachen in später Stunde!

Jüngst ist eine furchtbare Eiterbeule aufgegangen:Es kam ans Tageslicht, daß ein belgischer Mannals Kinderfänger, Kinderschänder und Kindermör-der entlarvt wurde. Er entführte meist Mädchen inder Vorpubertät (zweimal auch ältere), setzte sieunter Drogen, mißbrauchte sie vor laufender Ka-mera und machte dann mit den daraus angefer-tigten Videos ein Bombengeschäft, weil diesepädophilen Szenen einen reißenden Absatzfanden. Die Kinder wurden nach entsetzlichenQuälereien umgebracht, zwei Neunjährige verhun-gerten während einer Inhaftierung des Verbrechersin einem Keller; denn bereits zum zweiten Mal wa-ren die düsteren Geschäfte des Herrn Dutroux derPolizei aufgefallen - aber man ließ ihn nach kurz-zeitigen Strafen immer wieder laufen.

Die Öffentlichkeit horcht nun zwar erschrocken aufund fordert mit Recht harte Bestrafung des Tätersund seiner Komplizin, der eigenen Ehefrau, selbstMutter zweier Kinder, Akademikerin, die in ihrerRegion eine beliebte Lehrerin war (!); aber mit demEntsetzen über die Taten dieses Paares allein darfman sich nicht beruhigen. Es ist zwingend, nachdem Hintergrund dieser Kindesmißhandlungen undKindermorde zu fragen, die tieferen Ursachen auf-zudecken und daraus endlich Schlüsse zu ziehen.

Als erstes darf nicht daran vorbeigesehen werden,daß die Furchtbarkeiten, der schwungvolle Handelmit Filmen sexuell mißbrauchter Kinder, nur mög-lich werden konnten, weil er so floriert, daß derMörder sich vom Erlös mehrere Häuser kaufenkonnte. Es bestand und besteht also ein umfängli-cher internationaler Markt - besonders in Deutsch-land - für solche Videos, das heißt: Jede MengeMensch hat ein großes Interesse daran, sich der-artige Produkte zu kaufen und anzuschauen. Esgibt also in Mitteleuropa ein breitgefächertes Po-tential an (weitgehend männlichen) Wesen, die soverroht sind, daß für sie ein besonderes Vergnü-gen ist, sich am Anblick sexuell mißbrauchter Kin-der zu weiden.

Das heißt: Es gibt hierzulande zahllose Menschenmit sadistischen, voyeuristischen und pädophilenGelüsten. Setzt man diese mehr als berechtigteVermutung in Beziehung zu der Hochrechnung vonFachleuten, die besagt, daß in Deutschland proJahr ca. 300.000 Kinder sexuell mißbraucht wer-

den, so taucht die grauenvolle Wahrscheinlichkeitauf, daß die Betrachter solcher Videos offenbar soauch zur Nachahmung der dort vorgeführten Sze-nen angeregt werden. Es läßt sich vermuten, daßder sexuelle Kindsmißbrauch geradezu boomt.

Diese Entwicklung ließ sich voraussagen. Sie istdie Folge eines allzu leichtfertigen Umgangs mitder Großmacht Sexualität.

Die Entstehungsgeschichte dieser Fehlentwicklungist rasch zusammengefaßt: In der Mitte der 60erJahre erreichte (gleichzeitig mit der Freigabe derAnti-Baby-Pille) von den USA her anrollend dieSexwelle Europa. In Deutschland machte 1968 dieStudentenrevolte, die es sich zum Ziel setzte, dieGesellschaft zur Anarchie zu verändern, die"Befreiung zur Sexualität" zu einem Programm-punkt ihres "Marsches durch die Institutionen". DieLust avancierte zum höchsten Garanten des Le-bensglücks. Die Sexualität wurde infolgedessen ih-rer Tabuzonen enthoben. Alle herkömmlichen Ba-stionen der Eingrenzung wurden als eine zu über-windende "Leibfeindlichkeit" diskriminiert.

Es wurde die Parole ausgegeben, daß der Menschso früh wie möglich mit Sexualität vertrautzu-machen sei. Eine Schwemme von Aufklä-rungsaktionen setzte ein, damit die Menschen biszum Beginn der Pubertät für jegliche sexuelle Be-tätigung aufbereitet seien; denn so war und ist bisheute der Tenor (bis in die Aufklärungsbroschürender Regierung hinein): Jegliche Formen von Se-xualität dienten gleichermaßen der Le-benssteigerung. Sie hätten deshalb alle eine gleichgute Gültigkeit, wenn sie nur gekonnt so gehand-habt würden, daß keine Kinder dabei entstünden.

Erklärtes Ziel war es, die Kinder und Jugendlichenzu sexueller Betätigung jedweder polymorph-per-versen Spielart zu animieren, um mit ihrer Hilfe(durch die Zerstörung ihrer familiären Bindungen)die Überwindung des kapitalistischen Gesell-schaftssystems zu erreichen. Die sexuelle Befrei-ung der Jugend hatte das Ziel, sie als "revolutionä-res Potential" in diesem Kampf einzusetzen. Undschmackhaft gemacht werden sollte dieses - meistschön gefärbte, notdürftig verschleierte Ziel mitHilfe einer Ideologie, die mit seltener Unverfroren-heit plötzlich als Wissenschaft verkauft wurde: der

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absurden Idee, daß Sexualität vom Säuglingsalterab gelernt, ja, trainiert werden müsse, um zu ihrerlustvollen Entfaltung zu gelangen.

Dieser Inszenierung wurde mit der Übernahme derSPD/FDP-Regierung ab 1969 alle Tore meilenweitgeöffnet: Erziehung zur Sexualität vom Kindergar-tenalter ab wurde zur Devise. Die sexuelle Aufklä-rung in der Schule - gerade erst in pfleglicherSorgfalt für das Jugendalter eingeführt - fiel jetztvom Grundschulalter ab der ideologischen Ver-frühung zum Opfer. Blutige Filme über die Geburt,pornographisches Bildmaterial, unflätige Theater-stücke ("Was heißt hier Liebe?" und "Darüberspricht man nicht") überschwemmten - fleißig ge-fördert durch die Administration - die Klassenzim-mer. Die Jugendzeitung BRAVO, allwöchentlichmillionenfach ausgestreut, installierte eine Sex-seite, auf der der "Ratgeber" Dr. Sommer (einPseudonym) regelmäßig seine kindsverführendenAnregungen in die Kinderzimmer ausstreute. DieInstitution "Pro Familia" schwenkte voll in denTrend ein, bis zur Befürwortung und Durchführungvon Abtreibungen.

Die Bevölkerung zeigte sich (von einigen als re-aktionär gebrandmarkten Restposten abgesehen)rasch für diese Trends aufgeschlossen. Die Me-dien erkannten stehenden Fußes die pfundigeQuelle für noch bessere Verkaufs- und Einschalt -zahlen. Von der Mitte der 70er Jahre ab war dieSituation so weit gediehen, daß die einschlägigenParagraphen, besonders der § 184 nur noch zuunwirksamen Instrumenten der Jurisprudenz ab-sanken: In der 4. Strafrechtsreform wurde die"einfache Pornographie" freigegeben. Bald gab esimmer weniger Verurteilungen wegen der nochstrafbaren "harten Pornographie" und immer weni-ger Verurteilungen von Kinderschändern (§ 182StGB). 1976 gelang die erste Etappe zur Legalisie-rung der Abtreibung durch eine Aufweichung des §218. Die Befreiung zur Sexualität - vor allem ge-rade auch der Kinder und Jugendlichen - war vollerreicht. Die wenigen Restparagraphen - auch aufden Sektor Homosexualität mit Jugendlichen biszur Unwirksamkeit eingeschränkt - wurde immerweniger in Anspruch genommen.

Die Hüllen fielen auf der ganzen Bandbreite. Dietäglich millionenfach in Augenschein genommeneaufreizend nackte Schöne in der Bild-Zeitung (bzw.in der Kronen-Zeitung) hat - so können die Machersicher sein - mit Pornographie angeblich ebensowenig zu tun wie die TV-Sendungen nach Mitter-nacht und die pornographische Videoschwemme.Das alles sei "Kunst" - und deshalb sei verdammt,wer hier Übles denke; er erweist sich allenfallsselbst als Relikt vergangener Zeiten mit einer ver-klemmten Sexualität...

Diese rasante Entwicklung wurde möglich, ob-gleich Leute vom Fach wissen konnten, wie ne-gativ die Ergebnisse sein würden. Das dreißig-jährige Großexperiment ließ sich von vornhereinals halsbrecherisch kennzeichnen. Schließlich gabes bereits bis zur Mitte dieses Jahrhunderts einegut fundierte Sexualwissenschaft. Über die Entste-hung der Perversionen existierten - gefördert vorallem durch die Psychoanalyse - Bibliotheken vongesammelten Erfahrungen. Es war bekannt, daß

es eines sehr sorgsamen Umgangs mit Sexualitätbesonders im Hinblick auf die Kinder bedurfte, da-mit keine neurotischen Fehlentwicklungen und vorallem auch keine Fixierungen an den verabsolu-tierten Trieb entstünden.

Als Psychotherapeut für Kinder und Jugendlichekonnte man deshalb voraussagen, daß durch eineso durchgängige ideologische Enthemmung vorallem Sexualsüchten und Perversionen in großemUmfang Vorschub geleistet werden würde. 1971ging ich deshalb mit einer Arbeit unter dem Thema:"Manipulierte Maßlosigkeit - zur Sexualität befreit,zur Abartigkeit verführt" an die Öffentlichkeit, umvor einem so gefährlichen Tabubruch vom Kin-desalter ab zu warnen. Aber wissenschaftliche Ar-gumentation galt von nun an nicht mehr. Sie wurdedurch Ideologie ersetzt, die sich skurrilerweise alsdie "neue", die "fortschrittliche" Wissenschaft ver-kaufte.

Diese Situation begann zunehmend mehr eineHerausforderung für die Kirchen zu werden; dennschließlich gab die Bibel, gab auch das neue Te-stament ganz entschieden eine andere Zielrichtungvor. Sie raten zu sorgsamer Eingrenzung derTriebbasis, um das eigentliche Ziel: Kultivierungdes Menschen mit Hilfe von opferbereiter, gottge-fälliger Liebe nicht zu verstellen. Die Vergötzungder Sexualität, so läßt sich hier lernen, bedeutetVerstoß gegen das erste Gebot. Sie ist einedumme Sünde, weil sie überheblich einen Teil derNatur des Menschen an die Stelle Gottes setzt.

Der evangelischen Kirche gelang es dennochnicht, dem epidemischen Zeitgeist zu widerstehen.Sie öffnete ihre Akademien und ihre Kanzeln denverwildernden Trends und versagte so zum zwei-ten Mal in diesem Jahrhundert angesichts des An-sturms einer eigentlich atheistischen Ideologie. Diekatholische Kirche bekam besonders mit demPontifikat von Johannes Paul II. einen unerschüt-terlichen Rückhalt durch eine Kette von Verlautba-rungen und Enzykliken zum Thema Sexualmoral,in denen der Papst die unaufgebbare Gegenposi-tion der Mater Ecclesia markierte. Weite Teile derInsider ließen sich freilich dennoch anfechten undsogar zur Rebellion aufstacheln, besonders häufigmit Hilfe von Materialien - z.B. der Sexspiele - desBdKJ.

Auch die CDU-Regierung ab 1982 erwies sich alsnicht fähig, der immer größer werdenden Schutzlo-sigkeit der Kinder entgegenzuwirken. Im Gegenteil:Nach dem Auftauchen der GeschlechtskrankheitAIDS gerieten ihr die Aufklärungsschriften aus derBundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zudem beschämenden Versuch, trotz der neuen töd-lichen Gefahr einem Rückzug aus der Frühsexuali-sierung der Kinder entgegenzuwirken und die ge-konnt schmackhaft gemachte Kindsverführungnachdrücklich aufrecht zu erhalten.

Die Moderne hat die Großmacht Sexualität leicht-fertig in einer verheerenden Weise fehlein-geschätzt. Es ist dem Menschen unbekömmlich,den so mächtigen, notwendigen LebensbewegerSexualität aus seinem Zusammenhang zu reißen.Sie hat das mit allen Grundtrieben des Menschengemein: Isoliert man sie, setzt man sie absolut, so

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beginnen sie zu wuchern und den Menschen sei-ner Freiheit zu berauben. Sein Wille erweist sichallzu oft geringer als der hochgezüchtete, aufge-reizte und absolut gesetzte Antrieb. Er verselb-ständigt sich und zwingt so die Menschen in dieSucht. An den Trieb gefesselt verlieren sie ihreWillensfreiheit - nicht sie sind noch in der Lage,den Trieb zu beherrschen, sondern dieser be-herrscht sie. Er fordert durch immer größer wer-denden Druck seinen Tribut. Der Mensch wird zuseinem Sklaven. Pornographisches Material wirdzum süchtig gesuchten Moloch.

Diese Entwicklung hatte zur Folge, daß jedeMenge verderblicher Ware für Kinderaugen und -ohren den Medienmarkt überschwemmte. Aus se-xualisierten Kindern wurden sexualsüchtige Er-wachsene - besonders unter den Männern. Diefrühe Stimulierung des Antriebs drängte später zurimmer gleichen, oft nur schein-befriedigendenEntlastung; denn die Sexualität der so Fehlge-leiteten blieb auf das Kind fixiert. Ein Teil ihrerSeele selbst blieb infantil. Auf diese Weise wurdenpädophile Bedürfnisse enorm verstärkt. Obgleichdie Verführten sich dann im Erwachsenenalter alsTäter gebärden, sind sie im Grunde doch erbar-mungswürdige Opfer einer ihnen aufgenötigtenTriebsucht im Wiederholungszwang.

Diese Fehlentwicklung zur Pädophilie findet heuteum so häufiger statt, je mehr das Kind un-zureichend betreut wird. Fehlender familiärer Hin-tergrund, nicht ausreichende Anwesenheit der Be-zugspersonen, das Fernsehen als ein schädi-gender Ersatz für eine zureichende Bindung annahe Verwandte - eine Situation, die nur allzu häu-fig die Kinder heute in unseren Gesellschaften er-leiden - bereiten diese Fehlentwicklungen vor. DieKinder gehen auf die Suche nach Liebe und Zärt-lichkeit, so daß sie zur leichten Beute von Kinds-verführern werden.

Die Eskalation der Pädophilie und anderer Per-versionen, die horrende Zunahme des sexuellenKindsmißbrauchs auch im privaten Bereich alskonsequente Folge der Fehlentwicklung ist einegroße Herausforderung besonders für katholischeGläubige. Spätestens jetzt, angesichts der aufge-platzten belgischen Eiterbeule, sollte das einenAufbruch hervorrufen. Es ist an der Zeit, nichtweiterhin verantwortungslosen Schreibtischtäternund Geschäftemachern das Feld zu überlassen.Es ist in später Stunde noch möglich, Tritt zu fas-sen, sich neu an den vorhandenen Orientierungs-möglichkeiten der katholischen Kirche auszurich-ten und kämpferischen Mut zu entwickeln, wenn esdarum geht, den manipulierten Enthemmern dasHandwerk zu legen.

Eine zusätzliche Gefährdung unserer Kinder ent-stand in den vergangenen 20 Jahren auch da-durch, daß - wie auch am Fall Dutroux erkennbar -die Täter in leichtfertiger Fehleinschätzung (wennsie - was selten genug geschah - angezeigt wur-den) meist nur mit kurzfristigen Gefängnisstrafenzu rechnen hatten. Das lag daran, daß der ideolo-gische Trend auch die Revisionsmöglichkeit beiSexualstraftätern überschätzte. Sexualtäter sind inden allermeisten Fällen Sexualsüchtige, und dasheißt, daß der pathologisch gewordene Drang

stärker ist als der Wille und den Menschen so zumWiederholungstäter macht. Es ist dringend an derZeit, daß hier endlich wieder Erfahrungswissen-schaft an die Stelle einer blauäugigen Fehlein-schätzung tritt.

Nötig ist dazu auch ein wachsamer Protest gegendie enthemmenden bzw. pornographischen Trendsim Fernsehen, die unsere Kinder mit Jugend-Talkshows und Sex-Szenen schon am frühenAbend in eine falsche Weichenstellung ihres Le-bens zu nötigen suchen; denn nur wacher Wi-derstand vieler mündiger Bürger, die auf dem Bo-den des Christentums stehen, kann es vielleichtnoch bewirken, daß hier eine Umkehr möglichwird.

Vor allem müssen die unzähligen leichtfertigenverantwortungslosen Schreibtischtäter (besondersin staatlich hochsubventionierten Institutionen undGazetten) zur Verantwortung gezogen werden;denn sie tragen schwere Schuld. Ja, viele von ih-nen machen nun biedermännisch die belgischeKatastrophe abermals zu ihrem Geschäft, nach-dem sie vorher jahrzehntelang daran mitgewirkthaben, daß es zu solchen Auswüchsen kam.

Auf eine Veränderung ist nur zu hoffen, wenndiese Zusammenhänge durchschaut werden undin der vom Grauen aufgeschreckten Bevölkerungeine radikale Einstellungsänderung erfolgt. Aberdas hieße vor allem zu erkennen, daß der Menschmaßlos seine eigene Steuerungsfähigkeit über-schätzt hat - daß er dumm und überheblich dasMachen nach der eigenen Mütze an die Stelle desHinaufhorchens und -fragens gesetzt hat. Erstnach einer solchen Rückkehr zur Realität men-schlicher Ohnmacht angesichts der Mächte überihm ließe sich auf echten Fortschritt hoffen.

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aus FAZ Magazin 19. April 1996

Walter Krämer

Die Fortschrittsfalleoder Hippokrates versus SisyphusEs gibt ein langfristiges und strategisches Dilemmades modernen Medizinbetriebs, das völlig unab-hängig davon ist, wie der Gesundheitsminister derBundesrepublik heißt, und das auch dann vorhan-den bliebe, wenn alle Ärzte und Patienten Engelwären und die Pharmaindustrie ein Zweigbetriebder Heilsarmee. Dieses Dilemma ist, daß die mo-derne Medizin in mehrfacher Weise immer mehrzum Opfer ihres eigenen Erfolges wird. Wäre dieMedizin heute nicht so gut, blieben uns viele tragi-sche Entscheidungen erspart. Wäre die Medizinauf der Stufe des Jahres 1900 - bei Koch undRöntgen, Sauerbruch oder Semmelweis - stehen-geblieben, hätte sie heute gewiß eine Menge Pro-bleme weniger.Das ist die völlig wertneutrale Feststellung einerTatsache, für die ich als Statistiker und Ökonom(und eben nicht als Mediziner) genausowenig et-was kann wie etwa ein Klimaforscher für dasOzonloch. Und wie ein Klimaforscher, der sagt:"Über der Antarktis gibt es ein Ozonloch", nicht be-schimpft werden darf, genausowenig darf ein Stati-stiker gescholten werden, wenn er sagt: "In dermodernen Medizin gibt es ein Bedarfsloch: einenÜberhang des theoretisch Machbaren über daspraktisch Finanzierbare. Darum kommt in Zukunftnicht nur eine Rationalisierung, sondern auch ganzdezidiert eine Rationierung auf uns zu: eine mehroder weniger drastische Begrenzung der Ausga-ben im Gesundheitswesen"Wenige neue Schlagzeilen aus den Tagesmedienmögen kurz illustrieren, wovon hier im Detail dieRede ist:- erstes Medikament gegen Alzheimer- Fortschritte bei Hörschnecken-Implantaten- Hörtest schon bei Ungeborenen möglich- bald künstliches Lebersystem- per Computersimulation zur Hüftgelenkprothese- Fötus im Mutterleib am Herzen operiert- Herzschrittmacher für Babys- Herzschrittmacher mit 86- Herzschrittmacher mit 96- Herzschrittmacher mit 102- Fuß nach Monaten wieder angenäht- Blutwäsche auch bei Herzversagen- Vierjährige erhält fünf neue Organe- Transplantation von Gehirnzellen- Dünndarmtransplantat bei Zungenkrebs- Laser gegen Karies- der schmerzlose Zahnbohrerund so weiter und so fort. Verglichen mit der Medi-zin von vor dreißig oder gar vor fünfzig Jahren,umreißen diese Schlagzeilen vielleicht besser alsjede gelehrte Studie, wie sehr sich der Horizontdes medizinisch Machbaren - und zwar des medi-zinisch sinnvoll Machbaren! - in den vergangenenJahren und Jahrzehnten ausgeweitet hat.Als Konsequenz dieser Explosion des Machbarenist es aber heute nicht mehr möglich, jedem Kran-ken und Patienten eine Versorgung nach dem

letzten Stand der Technik anzubieten. Das ist eineTatsache. Eine im medizintechnischen Sinne opti-male Medizin für alle ist heute völlig illusorisch -genauso illusorisch wie etwa der Wunsch, derRhein möge bergauf und rückwärts fließen.Warum? Einer Antwort darauf muß sinnvollerweiseeine Warnung vor zwei Trugschlüssen vorgescho-ben werden, mit denen viele glauben, sich an derEinsicht in dieses Dilemma vorbeimogeln zu kön-nen. Der erste Trugschluß ist das Schlagwort vonder "Kostenexplosion". Denn diese Explosion ist inWahrheit gar keine Kosten-, sondern aller unbe-streitbaren Korruption und Mißwirtschaft zum Trotzvor allem eine Effizienz- und Leistungsexplosion.Ausgaben sind immer das Produkt von Preis undMenge, und wenn die Ausgabenexplosionen dersiebziger und achtziger Jahre einmal auf diesebeiden Komponenten aufgeteilt werden, wird völligklar, daß nicht die Preise, sondern allein die Men-gen der Hauptmotor gewesen sind.Zum Beispiel die Arzneimittel: Vielleicht sind Medi-kamente hierzulande wirklich überteuert. Betrach-tet man aber allein die Preise im Zeitverlauf, dasheißt die Änderungsraten und nicht das Niveau,kann von einer Inflation der Preise keine Redesein. Die reinen Preise der Arzneimittel sind in denvergangenen Jahrzehnten im Gegenteil fastdurchweg langsamer gestiegen als der allgemeinePreisindex. Wenn trotzdem unsere Arzneimittel-ausgaben so explodieren, dann erstens, weil wirrein mengenmäßig immer mehr davon verbrau-chen, wobei ich offenlassen will, ob das wirklichnötig ist, und zweitens, weil ständig neue Arznei-mittel auf den Markt kommen, die früher auf keinerRechnung vorgekommen sind.Ein zweites Beispiel: die Zahnmedizin. Wennmeine Quellen stimmen, bekam ein Zahnarzt inden alten Bundesländern 1975 für einen gezoge-nen Zahn 9,70 Mark - 1985, also zehn Jahre spä-ter, 12,05 Mark. Das ist ein Anstieg in zehn Jahrenum vierundzwanzig Prozent. In der gleichen Zeitstieg etwa der Preis eines Haarschnitts beim Fri-seur um durchschnittlich fünfundsiebzig Prozent,also mehr als dreimal so viel. Trotzdem habenZahnärzte eine Villa im Tessin, Friseure aber nicht.Das liegt aber nicht daran, daß ein konkretes Pro-dukt dramatisch teurer wird, sondern daß die Pro-dukte selber immer mehr und immer besser wer-den, in der Zahnheilkunde wie im ganzen Rest derMedizin.

Drittes Beispiel: das Krankenhaus. Obwohl einmoderner Riegetag drei- bis viertausend Prozentteurer ist als ein Pflegetag vor vierzig Jahren, kannauch hier von einer Explosion der Preise nichternsthaft die Rede sein. Denn ein Pflegetag 1996ist doch etwas ganz anderes als ein Pflegetag1956 - und zwar etwas sehr viel Besseres (will ichzumindest hoffen). Wer früher einen VW-Käfer fuhrund sich heute einen Mercedes leistet, darf doch

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auch nicht darüber klagen, daß der Preis desFahrzeuges gestiegen ist. Genauso absurd ist esaber, bei den Krankenhäusern von einer Kosten-explosion zu sprechen. Dem nächsten Kranken-kassenfunktionär, der über hohe Pflegesätze klagt,könnte deshalb ja einmal eine Behandlung fürzwölf Mark am Tag angeboten werden, wie im Jahr1955 - aber auch mit den Geräten, dem Personalund dem medizinischen Wissen von dazumal,ohne Intensivstation und Computertomographie,ohne Herzschrittmacher, Dialyseautomaten odermoderne Antibiotika, ohne Ultraschall und Wehen-schreiber und wie die Wunderdinge alle heißen,von denen man damals bestenfalls nur träumenkonnte. Ob er auf diesen Handel eingehen wird?

Das englische "Office of Health Economics" hateinmal ausgerechnet, wieviel wir heute für die Ge-sundheit ausgeben müßten, wenn sich die Medizinseit hundert Jahren nicht geändert hätte. Ergebnis:etwa ein Prozent des gegenwärtigen Budgets.Statt der rund vierhundert Milliarden Mark, welchedie Medizin 1995 allein in der deutschen Bundes-republik gekostet hat, wären es nur rund vier Milli-arden Mark. Soviel und nicht mehr würde heute dieMedizin der Jahrhundertwende kosten. Die restli-chen dreihundertsechsundneunzig Milliarden Mark,wenn wir dieser Überschlagsrechnung einmalglauben wollen, gehen ausschließlich und alleinauf das Konto von Dingen, die es damals nochnicht gab.Das Prinzip ist also nur allzu einfach: Was nichtexistiert, das kostet auch nichts. Das fängt beiKontaktlinsen an und hört bei Kernspintomogra-phen auf - genau das unterscheidet die Medizinzum Beispiel wesentlich von der EDV. Auch dieEDV hat ja in den vergangenen Jahrzehnten einenrasanten Fortschritt mitgemacht, der aber die Da-tenverarbeitung nicht verteuert, sondern enormverbilligt hat. Der Grund ist, daß der Fortschritt inder EDV vor allem sogenannte "Ersatztechnolo-gien" produziert, also Verfahren, mit denen einevorgegebene Leistung (wie etwa die Addition voneins plus eins) effizienter und damit auch billigerherzustellen ist.Solche Ersatztechnologien gibt es in der Medizinzwar auch, aber nur am Rand. Hier dominierenganz eindeutig die sogenannten "Zusatztechnolo-gien", also Verfahren, die etwas bis dato prinzipiellUnmögliches auf einmal möglich machen. Zusatz-technologien wie Organverpflanzungen oder Ope-rationen am offenen Herzen erzeugen einen Be-darf, der vorher allenfalls latent vorhanden war.Und die meisten medizinischen Fortschritte sindgenau von diesem Typ. Solange es moderne Me-dikamente und künstliche Hüftgelenke noch nichtgab, bestand auch kein Bedarf danach, zumindestkein kassenwirksamer Bedarf. Erst ab dem Mo-ment, wo eine neue Technik praktikabel wird, ent-steht auch ein Bedarf danach.Der große Kostentreiber des modernen Gesund-heitswesens sind also nicht die Gesundheitsberufeoder die Pharmaindustrie, auch nicht die Patientenoder Krankenkassen, trotz aller Kleinkriminalität,die es hier an allen Ecken und Enden nur zu offen-sichtlich immer wieder gibt, der große Kostentrei-ber ist der medizinische Fortschritt selbst. UnserGesundheitswesen war früher preiswerter, nichtweil die Menschen gesünder, die Ärzte bescheide-ner oder die Preise niedriger waren, sondern weil

es all die teuren Wunderdinge, die heute die Kas-senbudgets belasten, damals noch nicht gab.Darüber hinaus ist die moderne Medizin aber nochin einem weiteren Sinn zum Opfer ihres eigenenErfolges geworden, und das wird häufig übersehen(wahrscheinlich, weil wir es nicht sehen wollen).Denn zweitens macht sie die Menschen im Durch-schnitt nicht gesunder, sondern kranker, und dasmeine ich vollkommen im Ernst. Konkret meine ichdamit jene Lage, wie sie am besten durch das Zitateines alten Klinikers deutlich wird, den ich auf einerTagung einmal habe sagen hören: "Früher hattenwir es einfach. Da war der Patient nach einer Wo-che entweder gesund oder tot."Das ist heute anders. Heute ist der typische Pati-ent nach einer Woche weder gesund noch tot.Heute hält die Medizin im Gegensatz zu früher eingroßes Arsenal von Abwehrwaffen bereit, aberdies sind zu einem großen Teil, wie die Amerikanersagen, nur "halfway technologies." Sie halten unszwar am Leben, aber machen uns nicht komplettgesund. Das ist zwar kein hundertprozentiger, aberdoch ein Erfolg, um das klarzustellen, aber trotz-dem haben wir damit das nächste Paradox.Denn ohne die moderne Medizin wären vermutlichviele, die diese Zeilen lesen, schon lange tot, aberdie Überlebenden dafür im Durchschnitt! - ich be-tone: im Durchschnitt! - eher gesünder, als sie esheute sind. Das ist ein wertneutrales Faktum.Das heißt, die moderne Medizin gibt vielen, dieohne ihre Segnungen schon gar nicht mehr unteruns wären, gewissermaßen eine Aufenthaltsver-längerung. Diese massenhaften Aufenthaltsverlän-gerungen - die ich übrigens durchaus nicht negativbewerte (allein schon deshalb nicht, weil ich jaselbst einmal davon zu profitieren hoffe)! - habenaber den Effekt, daß wir immer mehr zu einemVolk von Kranken werden. Ein völlig gesunderMensch ohne alle Beschwerden kann doch heutefast schon im Zirkus auftreten. Während ich dieseZeilen schreibe, liegt mehr als eine halbe MillionBundesbürger stationär in einem Krankenhaus.Jeder zehnte Deutsche ist heute amtlich schwer-behindert, jeder fünfte psychisch krank und jederdritte Opfer einer Allergie. Rund vierhunderttau-send Menschen in der Bundesrepublik leiden anMuskel-, mehr als zwei Millionen an Knochen-schwund. Eine halbe Million Bundesbürger hatmultiple Sklerose, eine Million hat Krebs, drei Mil-lionen haben chronische Bronchitis, vier Millionenhaben Leberschäden, fünf Millionen haben Gallen-steine, jeweils fünf bis zehn Millionen Bundesbür-ger sind schwerhörig oder venenkrank, jeweilsüber zehn Millionen haben Rheuma, Rücken-schmerzen oder Hörprobleme, fünfzehn bis zwan-zig Millionen sind zu dick und so weiter und so fort.So kommen wir am Ende auf rund hundertfünfzigMillionen Kranke hierzulande, fast das Doppelteder Wohnbevölkerung der Bundesrepublik.

Auch wenn dieses Bild leicht überzeichnet ist, weilviele Kranke mehrere Krankheiten auf einmal ha-ben und deshalb in dieser Statistik mehr als einmalzählen oder weil wir heute im Vergleich zu frühereinfach zimperlicher und viel leichter krankzukrie-gen sind - es bleibt die Tatsache bestehen, ohneMedizin wäre der Durchschnitt der Überlebendenheute gesünder.Nehmen Sie Nierenversagen. Wir haben inDeutschland mit die höchsten Raten an Nieren-

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kranken in der ganzen Welt, aber nicht, weil un-sere Medizin so schlecht ist, sondern weil sie sogut ist. Hätten wir nicht die weltweit vorbildlichenMöglichkeiten der künstlichen Blutwäsche für alle,die sie brauchen, gäbe es heute bei uns sehr vieleNierenkranke weniger. In Großbritannien bei-spielsweise gibt es nur rund hundert Nierenkrankepro eine Million Einwohner, verglichen mit runddreihundert in der Bundesrepublik, aber nicht, weilin Großbritannien diese Krankheit seltener auftritt,sondern weil dort kaum ein Nierenkranker seinensechzigsten Geburtstag überlebt. Oder nehmen wirden Diabetes. Heute gibt es rund zwei MillionenZuckerkranke in der Bundesrepublik, mehr alszehnmal soviel wie zu Zeiten Röntgens oderKochs. Das liegt aber nicht an der Unfähigkeit derMedizin, sondern daran, daß vor siebzig Jahrendas Insulin erfunden wurde.

Beispiele gibt es also genug, und ich will auch garnicht weiter in die Einzelheiten gehen. Der Punktist einfach der, daß es, je besser die Medizin ist,umso mehr Kranke geben wird. Der moderne Arztist also weniger ein weißer Engel, der uns die Türzum ewigen Leben aufschließt, als vielmehr einneuer Sisyphus, dessen Mühen und Sorgen mit je-dem Erfolg nur immer größer werden. Es ist daherauch eine absolute Illusion zu glauben, daß einmedizinisch effizienteres Gesundheitswesen unsals Kollektiv gesunder macht. Den einzelnen Pati-enten ja, aber den Durchschnitt der Überlebendennein. Die große Gleichung "mehr Geld gleich mehrGesundheit" ist ganz eindeutig falsch. Genausokönnten wir versuchen, einen Brand zu löschen,indem wir Benzin hineinschütten. Je mehr die Me-dizin sich anstrengt, desto kranker werden wir, diemoderne Medizin sitzt ein für allemal in diesergroßen Fortschrittsfalle fest.Natürlich müssen wir uns nun Gedanken darübermachen, wie wir diesem Dilemma auf die human-ste Weise begegnen können. Davor möchte ichaber noch vor einem Irrweg warnen, den viele füreinen Ausweg aus dieser Falle halten, der aber diemoderne Kluft zwischen Verheißung und Erfüllungim Gesundheitswesen leider auch nicht überbrückt- zumindest nicht hinsichtlich einer Kostendämp-fung. Dieser Irrweg heißt "Prävention statt Thera-pie".Der Grund für meine Skepsis ist ebenso trivial wieunangenehm. In einem englischen Andenkenladenhabe ich dazu einmal einen Aufkleber mit folgen-dem Spruch gesehen: "If you give up drinking,smoking and sex, you don't live longer. It justseems like it." (Wenn Du das Trinken, Rauchenund Sex aufgibst, lebst Du nicht länger, es siehtnur so aus.)Das ist natürlich falsch, denn Nichtraucher lebennicht nur subjektiv, sondern auch objektiv längerals andere, enthält aber trotzdem einen wahrenKern. Denn auch Nichtraucher müssen sterben,genau wie Müsli-Freunde oder Anti-Alkoholiker,und eine per Prävention verhinderte Krankheitmacht uns leider nicht unsterblich, wie viele Prä-ventionsverliebte offenbar zu glauben scheinen,sondern schafft in erster Linie doch nur Zeit füreine andere Krankheit.Die Sterblichkeitsrate bleibt immer hundert Pro-zent, da kann die Medizin machen was sie will.Sterben wir nicht an Krebs A, dann an Krebs B.Und sterben wir nicht an Krebs, dann an Alzheimer

und Herzinfarkt, und damit bin ich auch schon beiden Kosten angelangt. Denn ob die erfolgreichePrävention einer bestimmten Krankheit das Ge-sundheitsbudget entlastet oder nicht, hängt dochoffenbar entscheidend davon ab, was billiger ist:die verhinderte Krankheit oder diejenige, die manstatt dessen kriegt. Das kann man nicht am grünenTisch entscheiden, aber ich kenne hier einige sehrseriöse Modellrechnungen, die bezüglich des reinökonomischen Nutzens von noch mehr Präventionzu eher skeptischen Ergebnissen kommen.

Es gibt eine berühmte Untersuchung von Leu undSchaub von der Universität Basel zum Rauchenund zu den Gesundheitskosten in der Schweiz, dieunter anderem zu dem Ergebnis kam, daß dieSchweiz langfristig eher mehr statt weniger für dieGesundheit auszugeben hätte, wenn es dort seithundert Jahren keine Raucher gäbe. So paradoxdas auf den ersten Blick auch klingen mag, aberdas Gesundheitswesen würde durch ein totalesRauchverbot tatsächlich nicht billiger, sondernlangfristig nur noch teurer (weil nämlich die Kosten,die in den Extra-Lebensjahren des Nichtrauchersentstehen, die vorher gesparten Ausgaben mehrals aufwiegen). Wenn man also ernst nimmt, wasman in den vergangenen Monaten zum Bonus-Malus-System beim Krankenkassenbeitrag liest,müßten wir Rauchern keinen Malus, sondern einenBonus auf ihren Kassenbeitrag einräumen (was,nebenbei bemerkt, auch die beste Methode wäre,sie von diesem Laster ein für allemal zu heilen).

Unter reinen Kostenaspekten ist Prävention in derRegel ein Verlustgeschäft. Damit wir uns in diesemwichtigen Punkt nicht mißverstehen: Ich habeüberhaupt nichts gegen gesundes Leben und frei-willige Prävention. Auch wenn Prävention keineKosten spart, kann sie ja trotzdem sinnvoll sein,und in der Regel ist sie das ja auch. Bedenkenhabe ich daher auch weniger zum Ob, sondernmehr zum Wie der Prävention. Prävention verlangtnämlich geradezu nach Zwang. Freiwillig hat sieauf dieser schönen Erde noch niemals lange funk-tioniert, so daß hinter dem Zuckerbrot, mit demman uns gesundes Leben schmackhaft machenwill, meist eine große Peitsche droht. Darüber kannauch die bekannte Kundenfänger-Kampagne derOrtskrankenkassen mit dem Motto "Präventionmacht Spaß" nicht hinwegtäuschen. Präventionmacht nämlich durchaus keinen Spaß. Mir jeden-falls nicht. Ich muß mich zum Zähneputzen ge-nauso zwingen wie zur Frühgymnastik oder zumVerzicht auf ein weiteres Glas Wein, wenn es mirgerade besonders gut schmeckt.Natürlich sieht aber auch ein Liberaler bestimmteZwangsmaßnahmen durchaus ein, wie sie zumBeispiel immer dann geboten scheinen, wenn Prä-vention sogenannte "externe Effekte" hat, wie dasim Fachjargon der Ökonomen heißt. Ein Para-debeispiel sind Schutzimpfungen, denn hierschützt man durch Prävention nicht nur sich selbst,sondern auch andere. Aber ich habe auch schonSchlagzeilen gelesen wie "Krebsärzte fordern:Vorsorge als Pflicht", und das geht mir eindeutig zuweit. An Krebs hat sich schließlich meines Wissensnoch niemals jemand angesteckt.Hierher gehört auch der von manchen Medizinernpropagierte Zwangs-Gesundheits-Check-up allezwei Jahre für alle Versicherten, ob sie wollen oder

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nicht. Auch hier ist das Motiv zu loben, die Metho-den aber weniger. Dann fehlte nämlich nur nochder TÜV-Stempel auf dem Hinterteil, und ehe wirbis drei zählten, hätten wir den totalen medizini-schen Überwachungsstaat.Aus einem Recht auf könnte nämlich sehr schnelleine Pflicht zur Gesundheit werden, wie in vielentotalitären Gesellschaften links wie rechts bereitsgehabt. Die russische Wochenzeitung "Literatur-naja Gaseta" etwa klagte vor einigen Jahren dar-über, daß dreißig Prozent der russischen Kinderübergewichtig seien und daß ihre körperliche Ver-fassung nicht den Ansprüchen einer modernen In-dustrie und Armee genüge. Alles in allem müssedie Einstellung zur Gesundheit geändert werden,da diese kein Privateigentum sei, sondern demStaat gehöre. Damit will ich den Präventions-verliebten hierzulande durchaus keine totalitärenTendenzen unterstellen. Aber die Gefahr ist nichtvon der Hand zu weisen. Hier kämpfen offensicht-lich linke Zwangsbeglücker und rechte Paternali-sten Hand in Hand.

Karl der Große soll zu seinen Ärzten gesagt ha-ben, als diese ihm gebratenes Fleisch verboten, andessen Stelle er gekochtes essen könne, sie soll-ten sich zum Teufel scheren. Was Karl demGroßen recht war, sollte uns billig sein. Eine freieGesellschaft wie unsere sollte sich im Zweifelsfalldazu durchringen, ihre Bürger nach eigener Fas-son leben, aber auch nach eigener Fasson krankwerden und sterben zu lassen.Damit sind wir wieder bei unserem alten Dilemmaangelangt. Denn wie wir die Sache auch drehenund wenden, eine optimale Medizin für alle istheute eine absolute Illusion. Statt dessen steuernwir unausweichlich auf eine Rationierung knapperGesundheitsgüter zu. Wie auch immer wir dieDecke strecken, sie bleibt auf jeden Fall zu kurz.Die Kluft zwischen Verheißung und Erfüllung in derMedizin wird niemals mehr verschwinden, es bleibtauf jeden Fall viel Sinnvolles aus Kostengründenungetan.Die Frage ist dabei auch schon längst nicht mehr,wie vermeiden wir dieses Dilemma, denn das wirdbis zum Ende aller Tage mit uns sein, sondern nurnoch, wie reagieren wir darauf. Folgende Prinzi-pien (von denen mir, um das gleich klarzustellen,eines so suspekt ist wie das andere) wären daherunter anderem denkbar. Erstens: Wir verteilen wieauf der Titanic die Rettungsboote nur noch an dieerste Klasse. In den Vereinigten Staaten hat manjetzt schon ohne ein dickes Bankkonto kaum eineChance auf ein neues Herz. Außerdem sind über-proportional viele Herz-Patienten männlich oderweiß - oder aus Saudi-Arabien. Mit anderen Wor-ten, die großen Geldverdiener haben erstes Zu-griffsrecht.Zweitens: Der "soziale Wert" bestimmt, wer lebendarf und wer sterben muß. Das ist die Situationaus den Kindertagen der künstlichen Blutwäsche,als es noch nicht genug Dialysegeräte für alle Nie-renkranken gab. Ein arbeitsloser Junggeselle ziehtdann gegen einen seriösen Familienvater mit achtKindern klar den kürzeren. Drittens: Keine Herz-verpflanzungen oder andere teure Therapien fürPatienten ab einem bestimmten Lebensalter, wieheute schon in durchaus zivilisierten Ländern wieGroßbritannien oder Schweden standardmäßigpraktiziert. Wer etwa in England als über Fünfund-

sechzigjähriger ein Nierenleiden entwickelt, machtbesser gleich sein Testament.Ich glaube, hier sind sich alle einig: Solche Metho-den wollen wir in Deutschland lieber nicht. Stattdessen plädiere ich für einen vierten Weg, der unseine Bewältigung dieses Dilemmas auch ohneeinen Rückfall in Methoden erlaubt, die ansonstenin der Veterinärmedizin zu Hause sind.Das Stichwort heißt dabei: Statistische gegen indi-viduelle Menschenleben. Ein Beispiel zur Verdeut-lichung: Angenommen, ein Schiff ist in Seenot.Keine Frage, daß zur Rettung der bedrohten Pas-sagiere und Besatzung alles Menschenmöglichezu unternehmen ist. Meinetwegen mag dafür diegesamte deutsche Seenotrettungsflotte auslaufen,und die dänische und schwedische dazu. Bei ei-nem individuellen, konkreten Menschenleben ha-ben Kosten-Nutzen-Analysen keinen Platz. Einkonkretes Menschenleben ist kein ökonomischesGut und hat daher auch keinen Preis. Punkt. Hiergibt es überhaupt nichts herumzudeuteln.

Heißt das aber, frage ich jetzt, daß wir in jedemNordseehafen zehn Seenotrettungskreuzer statio-nieren müssen? Ich glaube nein, und dieses Prin-zip gilt auch im Gesundheitswesen. Auch hier sindzur Rettung konkreter Menschen keine Kosten undMühen zu scheuen, Kostendämpfung hin oder her.Das heißt aber nicht, daß wir nicht vor Eintretendes Eventualfalls - ich betone: vor Eintreten desEventualfalls - die Kapazitäten beschränken dürf-ten, denn das trifft keine konkreten Patienten, nurdie Wahrscheinlichkeit eines frühzeitigen Todes-falls nähme für alle Bundesbürger zu, und das istein ganz großer und zentraler Unterschied.In New York hat man in den achtziger Jahren einegeplante Spezialklinik für Brandverletzungen mitder Begründung abgelehnt, für die dadurch proJahr geretteten zwölf Menschenleben sei das Pro-jekt zu teuer. Jetzt frage ich: Ist der damaligeOberbürgermeister Edward Koch ein Massenmör-der?Wer jetzt meint "ja" muß das gleiche Urteil dannauch über Ex-Verkehrsminister Krause fällen, weiler sich geweigert hatte - und wie ich finde, völlig zuRecht -, alle ostdeutschen Alleebäume abzuhol-zen, genauso wie über Innenminister Kanther, weiler nicht schon längst gefährliche Sportarten wieDrachenfliegen oder Skifahren verboten hat, oderwie viele Verkehrspolitiker der Grünen, die sichgegen Umgehungsstraßen oder neue Autobahnenwehren.Durch die eingesparte Brandklinik in New Yorkwurden doch nicht zwölf Bürger jährlich zum Todedurch Verbrennen verurteilt, auch wenn die Heilbe-rufe das gerne so darstellen. Allein die Wahr-scheinlichkeit, durch Brandverletzungen zu ster-ben, hat für jeden New Yorker um einen zehntau-sendstel Prozentpunkt zugenommen, und das istmeiner Meinung nach ein großer Unterschied.Auch wer noch nie etwas von Wahrscheinlichkeits-rechnung gehört hat, ahnt doch instinktiv, daß eseinen Unterschied macht, ob man ein Unfallopferverbluten läßt, obwohl man ihm theoretisch helfenkönnte, oder ob man beim Ampelbauen oder beiVerkehrsumleitungen spart.

Ein letztes Beispiel: Jedes Jahr sterben inDeutschland mehr als tausend Menschen, nur weilsie nicht Mercedes fahren. Die Wahrscheinlichkeit,

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bei einem Verkehrsunfall zu sterben, ist in einemKleinwagen je nach Marke bis zu zehnmal größerals in einem Mercedes, aber trotzdem liegt es wohlden meisten fern, für jeden erwachsenen Bundes-bürger einen Mercedes auf Krankenschein zu for-dern (was nur logisch wäre, wenn man gewissegesundheitspolitische Maximen bezüglich derGleichheit der Überlebenschancen konsequent zuEnde dächte). Aber wenn das Auto gegen denBaum gefahren ist und der Rettungswagen kommt,dann sollen der Mercedes- und der Fiat-Fahrergleiche Chancen haben.Wie auch immer wir die knappen Gesundheitsgüteraber verteilen, ob per Versteigerung an den Meist-bietenden, ob über Warteschlangen, staatlicheZuteilung oder durch Sparen auf der Planungs-ebene, fest steht, daß rationiert werden muß. Wirhaben keine andere Wahl. Durch die enormen Er-folge der Vergangenheit hat die moderne Medizinsich selbst und die Gesellschaft als Ganzes in eineSituation geführt, wie sie uns fast nur aus griechi-schen Tragödien vertraut ist - wie auch immer wirhandeln, es hat fatale Konsequenzen.Das ist die Situation. Sie ist tragisch. Die Ärzte als

diejenigen, die das alles auszubaden haben, müs-sen aber nicht im Büßerhemd herumlaufen. Denndaß die Medizin heute so viel mehr kann als vorfünfzig Jahren, ist doch alles anderes als einGrund zur Schande. Schließlich entschuldigt sichHerr Witzigmann ja auch nicht dafür, daß er besserkocht als McDonald's, auch wenn er sehr viel teu-rer ist. Genauso aber, wie wir unsere Kinder zuMcDonald's schicken können und sagen: "Eßt wasihr wollt, alles wird bezahlt", zu Witzigmann abernicht, genauso konnte man vor fünfzig Jahren zuden Ärzten sagen: "Macht, was ihr könnt, alles wirdbezahlt", heute aber nicht. Denn heute hält dieMedizin im Gegensatz zu damals ein Riesenmenüder exquisitesten Heilmitteldelikatessen bereit, dienur den einen Nachteil haben, daß sich nicht mehralle Hungrigen daran satt essen können. Als Au-ßenseiter bin ich schon sehr gespannt darauf, wiedie Mediziner als die Schöpfer dieses Gabenti-sches mit diesem Dilemma fertig werden.

Der Text ist die gekürzte Fassung eines Festvor-trags vor der Landesärztekammer Rheinland-Pfalzin Mainz vom 19. Januar 1996.

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Europäische Ärzteaktion

Postfach 112389001 Ulm

Ulm, den 5. Dezember 1996

HerrnBundesgesundheitsministerSeehoferGesundheitsministeriumAm Probsthof 78a

53121 Bonn

Sehr geehrter Herr Bundesminister,

Anlässlich einer Sitzung des Vorstandes der"Europäischen Ärzteaktion in den deutschsprachi-gen Ländern" beschäftigten wir uns auch mit dergegenwärtigen Krise um die Reform des Gesund-heitswesens und möchten Ihnen dazu ein paarGedanken schreiben, von denen einige unser er-ster Vorsitzender Dr.S.Ernst bereits auf dem Bun-desparteitag der CDU in Düsseldorf als Delegierterdes Kreises Ulm vorgetragen hat (Siehe Protokolldes Parteitags in der Anlage!):

1.) Die Krise ist primär moralischer und ideologi-scher Natur, denn auch für das Gesundheitswesengilt der Satz Dr.Frank Buchmans: "Es ist genügendvorhanden für jedermanns Bedürfnisse, aber nichtfür jedermanns Habgier!" Das heißt: ohne die Be-reitschaft bei allen Beteiligten (Patienten, Ärzte,Pharmazeuten, Krankenkassen, Bundesregierung,usw. zu Ehrlichkeit und Einschränkung ist jede"Reform" unmöglich. Die Massendemonstrationender letzten Wochen beweisen, daß die Menschenheute unfähig geworden sind auch das geringsteOpfer für die Allgemeinheit zu bringen und der Be-treffende, der ihnen Opfer zumutet, zum Buhmannder Nation abgestempelt wird. Daran mitschuld istzweifellos die Tatsache, daß die Bundesregierungund auch die CDU durch falsche Ausgaben auchim Gesundheitswesen ihre Glaubwürdigkeit verlo-ren hat.

2.) Um die Krise zu meistern, muß deshalb zuerstdie verlorene Glaubwürdigkeit wiederhergestelltwerden. Solange also z.B. ca 3 - 400 000 Abtrei-bungen von Krankenkassen oder Sozialämternjährlich mit den oft lebenslangen Folgekrankheitenfinanziert werden (Professor Dr.jur Isensee, Bonn:Der Staat tötet!), wird jede Kürzung am Arzneimit-teletat für echte Erkrankungen zum unerträglichenverlogenen Skandal. Dasselbe gilt für die unent-geltliche Abgabe von Verhütungsmitteln an jungeMädchen, die unser Vorsitzender bereits als krimi-nelle "sexuelle Bedarfsweckung bei Jugendlichen"beim CDU Bundesparteitag bezeichnet hat. DieBeseitigung der hippokratischen Ethik aus demÄrztestand und dem übrigen Gesundheitswesendurch die Freigabe der Tötung ungeborener Kindermußte automatisch zum Zusammenbruch der ge-samten Ethik des Gesundheitswesens führen. Un-sere diesbezüglichen Warnungen glaubten auchder größte Teil der CDU Politiker in den Windschlagen zu können, weil moralische Maßstäbe fürsie keine politische oder gar wirtschaftliche Be-deutung und Relevanz haben.

Der ganze irreale Illusionismus der Mehrheit derPolitiker wird beispielsweise sichtbar an demAberglauben, daß die abtreibenden Mediziner ihreMeldungen der Abtreibungen wahrheitsgemäß ab-geben würden, dabei wissen wir , daß höchstensein Drittel von ihnen gemeldet werden. Warumsollten sie auch einem tötenden Staat gegenüberehrlich sein? Das gilt auch für die Krankschrei-bungen! Ein Berufsstand, der von der "Gesell-schaft" ganz offiziell zum Töten, statt zum Heilenmißbraucht wird, hat doch keinen Grund in derFrage der Krankschreibungen plötzlich moralischzu werden, wenn man dadurch in Gefahr kommtPatienten zu verlieren! Das Problem der Kranken-geldfortzahlung wird dadurch unlösbar, denn wennder Staat schon das "flächendeckende" Tötenverlangt, wieso soll man dann nicht lügen dürfen,was doch viel weniger schlimm ist! Die holländi-sche "Lösung" mit jährlich etwa 20 000 Euthana-siefällen von chronisch oder unheilbaren Kran-ken,die viel Geld kosten, wird dann trotz Adolf Hit-lers Euthanasieprogramm sich auch bei unsschließlich durchsetzen und legalisiert werden. Beieiner Ablösung der CDU Regierung in Bonn (auchwegen der Massenproteste gegen die Gesund-heitsreform ohne eine "geistig-moralische Wende"im Regierungslager und im Gesundheitsministe-rium) würde uns dann der "holländischen Lösung"sehr schnell näher bringen.

3.) Die Finanzierung der "Deutschen Aids-Hilfe"!mit 20 Millionen DM, die dann zur Propagierungvon Homosexualität und Sadomasochismus durchdie Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärungmit pornographischen Flugblättern und Schriftenzum geistig-moralischen Krankmachen mißbrauchtwerden ist ein Betrug am Steuerzahler genau sowie die Kondompropaganda, von der wir wissen,daß das Kondom keineswegs Sicherheit vor An-steckung gibt.

Es tut uns leid, Herr Minister, Ihnen dies sagen zumüssen:Sie werden die Probleme nicht lösen können ohneeine Reform der Gesinnung aller Beteiligten, dieohne eine Revision und Wiederherstellung unsererGesetze und öffentlichen Verhaltensnormen un-möglich ist.Wir stehen auf Ihrer Seite, was die Notwendigkeitvon Kürzungen und Sparen im Gesundheitswesenangeht und sind nicht interessiert an Ihrem Sturz.Man muß aber kein Prophet sein ihn voraussagenzu können, wenn man die geistig-moralischeWende weiterhin im Gesundheitswesen nicht auchbeim Gesetzgeber selbst beginnt und dabei mitdem guten Vorbild voran geht.Eine "christliche" Regierung muß wissen, daß manden Segen Gottes durch widerchristliche Gesetzeverliert und daß wir diese Grundlektion aus derVergangenheit eigentlich hätten lernen können.Wir sind überzeugt, daß an diesem Segen "allesgelegen ist" und möchten Ihnen Mut machen ihnwieder zu gewinnen!

Wir verbleiben mit den besten Wünschen undGrüssen Ihre sehr ergebene

Europäische Ärzteaktion e.V.Der Vorstand:

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Auszug aus dem Parteitagsprotokoll, Düsseldorf1992Seiten 150,151 und 309 u. 310

Dr. Siegfried Ernst: Liebe Freunde, ich sprechehier als Vizepräsident der World Federation ofdoctors, who respect human life. Das ist eineWeltorganisation der Ärzte mit 350.000 Mitgliedernin 63 Ländern.Ich möchte zu einem entscheidenden Punkt, dender Bundeskanzler erwähnt hat, etwas sagen,nämlich der Frage der Schaffung eines Rechtsbe-wußtseins. Denn das, was in den letzten Jahrengeschehen ist, ist mit Hilfe der Gesetzgebung un-seres Staates die Zerstörung des Rechtsbewußts-eins und der Ethik im gesamten Gesundheitswe-sen. Liebe Freunde, in dem Augenblick, in demman Ärzte nach dem Dritten Reich erneut zu Tö-tungsfunktionären der Gesellschaft degradiert, diedafür zuständig sind, daß ungeborene Kinder, dieeinem irgendwo im Wege sind, beseitigt werden,zerstört man das 2400 Jahre alte Grundethos allenärztlichen Handelns, nämlich niemals absichtlichzu schaden oder niemals zu töten. (Beifall)Dabei geht es nicht bloß um die "armen Frauen",wie man immer sagt. Liebe Freunde, es geht umdie gesamte moralische und ethische Situation desGesundheitswesens schlechthin. Denn in dem Au-genblick, in dem ich für das Töten Geld aus demgemeinsamen Topf der Kassenärztlichen Vereini-gung bekomme oder sozusagen auf Befehl derBundesregierung Geld für das Töten gezahlt wer-den muß, verliert z.B. jede Reform des Gesund-heitswesens ihre moralische Basis. Ich habe unse-rem lieben Freund Dr. Norbert Blüm vor zweiein-halb Jahren in Bonn in einer Versammlung öffent-lich gesagt, als es um seine Gesundheitsreformging: "Solange Tötungen von ungeborenen Men-schen von der Krankenkasse bezahlt werden, ha-ben Sie moralisch überhaupt kein Recht dazu,auch nur eine einzige echte medizinische Leistungzu kürzen." (Beifall)Darum wird das Ganze ein Flop werden und wirdnicht gelingen. Denn zu einer Gesundheitsreformgehört zunächst einmal eine geistig-moralische,ethische Basis des Gesundheitswesens. Die Leutemüssen zunächst einmal ehrlich werden. Wenn derStaat sie aber zum Töten auffordert, liebeFreunde, geht jede Ehrlichkeit zum Teufel. Wennman mich von Staats wegen betrügt, indem manaus dem Topf, aus dem meine Leistungen als Arztbezahlt werden sollen, eine große Menge Geldesfür das Töten, für das Gegenteil von dem, wasärztliches Handeln ist, abzweigt, sagt der Durch-schnittsarzt: "Hier werde ich vom Staat betrogen;also betrüge ich auch."Schauen Sie: in den letzten zehn, fünfzehn Jahrenist das ethische Niveau im gesamten Gesund-heitswesen derartig gesunken, daß ein Großteilder Ärzte heute eben auch nur aufs Geld schaut.Liebe Freunde, wenn dies das Ergebnis ist, näm-lich ein korruptes Gesundheitswesen, dann so zutun, als ob es nur um "arme Frauen" gehe, undwenn unsere Frau Bundestagspräsidentin darüberhinaus noch behauptet, durch die Beseitigung derStrafnorm in Bezug auf die Frage der Abtreibungwürden weniger Abtreibungen vorgenommen, essei ein besserer Schutz des ungeborenen Kindes,wenn man das Gesetz beseitige, frage ich Sie: Fürwie dumm hält uns diese Frau eigentlich, daß sie

sich erlaubt, so etwas zu sagen?(Pfiffe)Von mir aus können Sie ruhig pfeifen. Eines Tageswerden Sie auf der Straße ausgepfiffen, wenn sichdiese Dinge in unserer Partei nicht ändern, wennwir nicht zu klaren Maßstäben der Ehrlichkeit,Sachlichkeit und Sauberkeit auch in diesen Fragenzurückkehren. Es gibt schließlich eine Ärzteschaft,die man durch solche Gesetze nicht einfach mora-lisch kaputtmachen darf.Liebe Freunde, das letzte, was ich noch sagenmöchte, ist: Heute geht es zwischen Ost und Westletzten Endes um die Grundlage der Gesell-schaftsordnung, und diese ist das Menschenbild.Das christliche Menschenbild, von dem heute dieRede war, besagt: Der Mensch ist als EbenbildGottes geschaffen. Das andere Menschenbild imOsten, das von Stalin, besagt: Der Mensch istdenkende Materie. Es ist gelungen, die östlicheIdeologie, daß der Mensch nur ein Stück Materiesei, mit Hilfe des Gesetzes zur Fristentötung zurGrundlage auch unserer Rechtsordnung zu ma-chen. Darum geht es bei der ganzen Sache. Wenndas gelingt, hat zwar der Kommunismus zunächsteinmal eine wirtschaftliche Pleite erlitten; aber erhat einen ideologischen Sieg errungen, indem erseine Vorstellung vom Menschen bei uns zurGrundlage unserer Gesetzgebung und Gesell-schaftsordnung mit Hilfe eines solchen Gesetzesmachen konnte.Liebe Freunde, hier geht es um mehr als um dasSchicksal "armer Frauen". Lassen Sie sich an die-ser Stelle nicht für dumm verkaufen, sondernkämpfen Sie darum, daß wir wirklich wieder klareMaßstäbe auch in unserem Gesundheitswesenbekommen! Denn das gelingt nur dann, wenn sichder alte Grundsatz wieder durchsetzt, daß wir alsÄrzte an die hypokratische Verpflichtung aus derZeit von vor 2400 Jahren anknüpfen und daranfesthalten. - Danke schön.(...)Prof. Dr. Rita Süssmuth: Es ist hier eben gesagtworden, wir würden hinsichtlich der Renten- bzw.Krankenversicherung und der Pflegekonzeptionmehr mit der SPD liebäugeln, statt unser eigenesKonzept zu vertreten. Da möchte ich nicht nur denMittelstand, sondern uns alle hier an folgendes er-innern: Was haben wir denn in den vergangenenJahren getan? Konsequent christliche Soziallehreund unser Grundsatzprogramm umgesetzt! Es isttöricht, anzunehmen, wir hätten SPD-Politik betrie-ben, wenn die SPD allmählich begreift, daß das,was unsere Politik ist, alternativlos ist und getanwerden muß. (Beifall)Die SPD hat in der Frage des Vergleichs von Er-werbsarbeit und Familienarbeit immer nur die Er-werbsarbeit bewertet. Sie hat jahrelang alle anste-henden Sanierungen im Zuge einer Krankenkas-senreform, der Rentenreform nicht durchgeführt.Sie sind von uns durchgeführt worden! (Beifall)Einen dritten Punkt bitte ich zu beachten, geradeauch wenn man wirtschaftlich denkt: Was ist un-sere Politik? Die kleinen Einheiten zu fördern!Wenn man, statt die Erziehungszeiten wenigstensim Rentenrecht anzuerkennen, dies alles in öffent-liche Einrichtungen verlegt, dann kann man mitRecht fragen: In welcher Weise wird das ganzeSystem ausgebeutet und überfordert? Wir habenaber genau das Umgekehrte getan, nämlich dieFamilie gefördert im Sinne der Selbsthilfe.

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Genauso verhält es sich bei der Pflege. Wollen wirwirklich warten, bis die letzte Familienfrau dasHaus verlassen hat und ihre soziale Sicherung inder Erwerbsarbeit sucht, weil die wirklich Pflegen-den ungerecht behandelt werden? (Beifall)Deswegen ist die revolutionäre CDU-Tat in Fort-setzung der Rentenpolitik der 50er Jahre, daß wirgerade die Familientätigkeit in die Bewertung ein-beziehen und nicht die außen vor stehen lassen,die dem Staat Milliarden durch Erziehung undPflege ersparen und letztlich auch unsere Wirt-schaft fördern.Unser Weg ist der der Christlichen Soziallehre. Ichwill Ihnen nur ein Beispiel nennen. Als ich inSchweden war, fragte der Fraktionsvorsitzende derSozialisten: Was ist denn nun unser Weg in dieZukunft? Wir befassen uns gegenwärtig mit derChristlichen Soziallehre. - Meine Empfehlung: daßwir uns nicht aus der Hand schlagen lassen, wasunser bestes Erbe ist! (Beifall)Klaus Landowsky, Tagungspräsidium: SchönenDank, Frau Dr. Süssmuth! Das Wort hat Herr Dr.Ernst.Dr. Siegfried Ernst: Sehr verehrter Herr Bundes-kanzler! Liebe Freunde! Lassen Sie mich hier ei-nige Gedanken vortragen, damit auch ein Arzt et-was zur Gesundheitspolitik sagt.Frau Süssmuth hat gerade von der christlichenSozialpolitik gesprochen. Liebe Freunde, ich habehier schon vorgestern abend gesagt: Die Frage ei-ner wirksamen Reform des Gesundheitswesens istauch eine moralische Frage. Denn wenn die Ärzteund alle übrigen Träger des Gesundheitswesensnicht ehrlich sind, dann können Sie Strukturrefor-men noch und noch machen, - Sie werden dochscheitern.

Mit der Abtreibungsfinanzierung z.B. zwingt manvom Staat her die Ärzte zur Unehrlichkeit. Oderwie ist die Reaktion, wenn plötzlich 65 MillionenMark allein für Antibabypillen für 14jährige Mäd-chen ausgegeben werden sollen?! Liebe Freunde,das ist keine christliche Sozialpolitik, sondern dasist sexuelle Bedarfsweckung bei Jugendlichen.(Lachen und Zurufe)Ich darf nur ein Beispiel anführen: Als mein ältesterEnkelsohn 16 Jahre alt war, da kam in seine ge-mischte Klasse an der Schule in Radolfszell einMann vom Kultusministerium in Baden-Württem-berg und hat dort Kondome vorgeführt.(Lachen und Händeklatschen)Anschließend ist mein Enkelsohn rausgegangen -als Klassensprecher konnte er sich das erlauben -und hat zu dem Mann gesagt: Herr Sowieso, dasbrauche ich alles nicht! - Wieso brauchen Sie dasnicht? - Darauf sagte er: Meine Eltern sind ohnevorherigen Sex in die Ehe gegangen, meine Groß-eltern auch, und was die gekonnt haben, kann ichauch!(Lachen und Zurufe)Der Herr vom Kultusministerium wußte nichts an-deres zu sagen als: Das können Sie nicht! - Daraufer: Doch, das kann ich!Liebe Freunde, sowie wir aufhören, daran zu ap-pellieren, daß es eine sexuelle Enthaltsamkeit gibt,sondern nur noch die Bedarfsweckung betreiben -mit solchen Pillen -, verlieren wir die Glaubwürdig-keit. So etwas zu finanzieren und gleichzeitig vonden Ärzten zu verlangen, daß sie sonst sparen, istvölliger Blödsinn. Bitte, denken Sie daran! Wir ste-hen fassungslos vor solchen Entscheidungen desBundestages. Das hat es in der deutschen Ge-schichte noch nie gegeben. - Danke schön!

Elisabeth Dorn

Das Jahr

Als Gott sprach, dass es Licht für uns werde,schenkte er uns alle Wunder der Erde.Der Frühling die Herzen der Menschen erfreut,mit neuer Hoffnung uns Blumen streut.

Sieh, wie anmutig die Zweige der Birke sind,wenn sie tanzen den Reigen im leichten Wind.Wie malerisch ein goldenes Ährenfeld ist,wenn der Sommersonne Strahlen es küsst.

Und Staunen erfüllt unser Sein mit Macht,wenn Sterne besticken den Mantel der Nacht.Und zieht der Herbst rotflammend ins Land,reicht ihm die Farbpalette des Schöpfers die Hand.

Auch im Regen liegt eine Spur Poesie,versinkt auch die Welt in Melancholie.Und sind die dunklen Wolken weitergezogen,spannt sich der leuchtende Regenbogen,wenn es des Schöpfers Laune gefällt,um seine graue, ertrunkene Welt.Dann spiegelt die kleinste Pfütze auf nassem Aspaltein Stückchen Himmelsbläue schon bald.

Und auch in der Schneesterne lautlosem Schwebenkann man die Allmacht Gottes erleben.Aus allem Schönen man Gottes Trost erkennt,wenn die lieblose Welt uns die Flügel verbrennt.

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Das Tor zur Euthanasie schon halboffen

Zum aktuellen Stand der Diskussion um ärztlich assistierten Selbstmord inden Vereinigten Staaten

Das Gesetz des Staates Washington welches ärzt-liche Beihilfe zum Selbstmord verbietet, bleibt so-lange in Kraft bis das Supreme Court entscheidet,ob die Berufungsklage ebendieses Staates zuge-lassen wird. Wie berichtet (Theologisches Sept.96) hatte das Appellationsgericht in San Franciscodieses Gesetz aufgrund der Klage der Euthanasie-gesellschaft "Compassion in Dying" gegen denStaat Washington umgestoßen.• Wie ebenfalls berichtet wurde, hat einen Monat,nachdem das genannte Appellationsgericht dasVerbot ärztlicher Beihilfe zum Selbstmord im StaatWashington niedergeschlagen hatte, eingleichrangiges Appellationsgericht (US SecondCircuit Court of Appeals) das Gesetz im Staat NewYork, das auch ärztlich assistierten Suizid verbie-tet, für verfassungswidrig erklärt. Inzwischen ha-ben 15 US-Staaten die Klage New Yorks gegendiese Entscheidung in einem "amici curiae brief"(Eingabe einer Notgemeinschaft) unterstützt. DieseStaaten bitten das Supreme Court, den Fall zu be-handeln.Die Konferenz der amerikanischen katholischenBischöfe stellte Ende Juni d.J. an das SupremeCourt den Antrag, die Entscheidung des Appellati-onsgerichts aufzuheben und zu revidieren. Auchweisen die Bischöfe den Kongreß darauf hin, daßdie Frage auf ihn zukommen könne, ob föderativeGelder zur Vermittlung tödlicher Arznei an schwer-kranke Patienten benutzt werden dürften. DieBischöfe hatten den 11. Juli zum Tag des Gebetesund des Fastens ausgerufen, um die Aufmerksam-keit auf Abtreibung und ärztlich assistierten Suizidzu lenken.Wenn das Supreme Court die Berufungsklagenicht annimmt, treten sofort die Urteile der Appel-lationsgerichte in Kraft.• In einem nahezu einmütigen Votum lehnten am29.6.1996 430 Delegierte der American MedicalAssociation (AMA) zwei Resolutionen ab, welchedie entschiedene Haltung der ANIA gegen ärztlichassistierten Suizid aufgeweicht hätten. Die Vorsit-zende des Kuratoriums Nancy W. Dickey äußertegegenüber Reportern, daß die nachdrückliche Zu-rückweisung von ärztlich assistiertem Suizid durchdie Delegierten, die 296 000 Ärzte vertreten "eintief empfundenes ethisches Prinzip" reflektiere."Die überwältigende Reaffirmation übermittelt einegrundsätzliche Botschaft. Der medizinische Be-rufsstand wird nicht tolerieren, daß ... wir dahin ge-bracht werden, uns ein Urteil über den Lebenswertder Patienten anzumaßen ... Wir dürfen nie ausdem Blick verlieren, daß es die Aufgabe des Arztesist, zu heilen und wenn Heilung nicht möglich ist,zu lindern." Dickey kündigte an, daß die AMA einProgramm initiieren würde, um Ärzte noch besserin der Behandlung von Schmerzen auszubilden.1

• In einer von der "World Federation of Right toDie Societies" (Weltförderation für das Recht zu

sterben, einem Dachverband von Euthanasiege-sellschaften) veröffentlichten Auflistung undBeschreibung ihrer 36 Mitgliedsorganisationen wirdüber "Compassion in Dying", jener Organisation,die gegen den Staat Washington geklagt hat,folgendes gesagt: "Nachdem 1991 eineVolksabstimmung in Washington zwecks Legalisie-rung ärztlich assistierter Hilfe zum Sterben erfolg-los war, kam eine Gruppe von Mitarbeiten zu derErkenntnis, daß eine Gesetzesreform noch in derFerne liege. So gründeten sie diese Organisation,um tödlich Kranken, falls sie es wünschen, soforteinen ärztlich assistierten Abschied zu ermögli-chen. Seit ihrem Beginn im Jahre 1993 hat Com-passion in Dying 17 Personen (Stand vom Mai1995) Hilfe zum Selbstmord geleistet und mehr als11 00 Anfragen beantwortet.Das Anliegen der Organisation ist als 'pastoraleBeratung1 bezeichnet worden. Sie überredet dieÄrzte der Patienten, die angemessenen Lebens-beendenden Arzneien zu verschreiben und derenEinnahme zu beaufsichtigen. Die telefonische Be-ratung ist auf Washington beschränkt. Die Organi-sation hat auch Prozesse in Washington und NewYork angestrengt mit dem Argument, daß assi-stierter Selbstmord für die tödlich Kranken nachdem 14. Zusatzartikel (der Verfassung) als einFreiheitsinteresse erlaubt ist. Gerichtliche Einzel-heiten können über 'DeathNET' (innerhalb des In-ternet) abgerufen werden."• Seit langem haben die Euthanasiebefürworteroffenbar weltweit das Schwergewicht ihrer Be-mühungen auf die Legalisierung ärztlich assistier-ten Suizids gelegt, wohlwissend, daß dann dieganze Palette der Formen der Euthanasie folgenwird. Wie könnte man z.B. ein "Freiheitsrecht" aufSelbsttötung jenen absprechen, die nicht tödlichkrank sind, und wie könnte man die "Gnade" derLeiderlösung mittels Tötung jenen verweigern, dienicht fähig sind, sich selbst zu töten? Diese Folge-rung hat bereits das Appellationsgericht im Fall von"Compassion in Dying" gegen den StaatWashington gezogen, als es Dritte ermächtigte,solchen Personen diesen "Gnadenerweis" zu-kommen zu lassen.

Elisabeth Backhaus

1 Vgl. JAETF UPDATE Mai/Juni 1996, Hrsg.: In-ternational Anti Euthanasia Task Force, Steuben-ville, USA

Quelle: Theologisches, Kath. Monatsschrift, Ok-tober 1996, mit freundlicher Genehmigung desHerausgebers.

Nachbemerkung: Die Berufungsklage ist inzwi-schen vom Supreme Court angenommen worden.Eine Entscheidung wird im nächsten Sommer er-wartet.

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aus: Zeit-Fragen, Sonderdruck

Erstmals Euthanasiegift patentiert!

US-Universität und anonyme Geldgeber stellenRecht auf Leben in Frage

Das Europäische Patentamt erteilte kürzlich derstaatlichen Universität von Michigan (USA) dasPatent auf eine Giftmischung, die einen«ästhetischen» und schnellen Tod garantiert und(nach Angaben der Universität Michigan) auch fürdie Tötung von Menschen benutzt werden kann.Sie wird gegen einfaches Rezept leicht erhältlichsein. Soll jetzt an den beschämenden Patienten-tötungen auch noch gut verdient werden?

ne. Am 10. April 1996 erhielt die Universität desUS-amerikanischen Bundesstaates Michigan vomEuropäischen Patentamt in München das Patentauf eine Giftlösung für die Tötung von«Säugetieren». Es gilt europaweit, unter anderemalso auch für die Niederlande, für Deutschland,Österreich und die Schweiz. Ein Blick auf die Hin-tergründe dieses Patentes offenbart Schreckliches:Es gilt - falls in einem Lande ein Euthanasiegesetzbesteht - auch für die Anwendung des Patentes fürdie Tötung von Menschen! In den Niederlandenund im australischen Bundesstaat Northern Territo-ries existieren bereits solche Euthanasiegesetze.

Tötung von Menschen beabsichtigtBereits aus dem Patentantrag war klar hervorge-gangen, dass sich das Patent auf die Tötung vonTieren und Menschen mittels der neuen Giftmi-schung erstrecken sollte. Es bleibt daher unver-ständlich, wie das Europäische Patentamt diesessittenwidrige Patent an die Universität von Michi-gan vergeben konnte. Noch unverständlicher istdies angesichts der Tatsache, dass der Prüfer desEuropäischen Patentamtes, der den Patentantraguntersuchte, in einem Schreiben vom 1. März 1996die Universität von Michigan unmissverständlichauf die beabsichtigte Tötung von Menschen hin-wies: «Die Untersuchungskommission stellt fest,dass der Zweck des Patentantrages nicht auf Eu-thanasie an niederen Säugetieren beschränkt ist.Wir machen den Antragsteller darauf aufmerksam,dass der Mensch eine Säugetierart ist und dassaus den Worten des Antrags hervorgeht, dass derAntragsteller ein Mittel schützen lassen will, womitebenso Euthanasie an Menschen begangen wer-den kann.» Der Antragsteller rede daher bewusstvon «menschlichem Tod» («humane death»)? beiSäugetieren und davon, dass es um die «Ästhetikder Euthanasie» gehe.

Ein Blick in die dem Patent beigefügte Literaturlisteoffenbart, womit sich diejenigen beschäftigten, dieein neues Gift für Euthanasie an «Säugetieren»patentieren Hessen: «Selbstmord mit Hilfe vonGiften für die Euthanasie an Tieren» oder:«Euthanasie und das Recht auf den Tod: Hollandund die USA stehen vor einem Dilemma».

Umgehung gesetzlicher Kontrollen

Der Antragsteller hat sodann bewusst eine neueGiftmischung hergestellt, die keine gesetzlich kon-trollierten Substanzen mehr enthält. Bereits aufdem Markt befindliche Lösungen, mit denen Tiereeingeschläfert werden, müssen staatlich kontrolliertwerden, wenn sie gefährliche und/oder suchter-zeugende Substanzen enthalten. Zu welchemZweck sollte ein Gift für die Einschläferung vonSäugetieren frei von staatlich kontrollierten Sub-stanzen sein? Es gehört zu den grössten Selbst-verständlichkeiten eines seriösen Tierarztes, sichals Benützer gesetzlich kontrollierter Gifte registrie-ren zu lassen. Soll hier also ein Gift - nur noch ge-gen Rezeptpflicht - leicht für jedermann erhältlichauf den Markt geworfen werden?

Im Patentantrag ist zudem unverblümt davon dieRede, das Mittel solle auch von denjenigen leichthandhabbar sein, «die es anwenden wollten, abernicht vertraut sind mit dem zeitlichen Verlauf oderder tödlichen Wirkung». Damit sind sicher keineTierärzte gemeint, auch keine Hilfskräfte in Tier-arztpraxen oder -kliniken! Diese sind als Fachleutevertraut mit der Handhabung solcher Gifte. Ein Giftfür den Hausgebrauch also, leicht käuflich undauch von Laien einfach - und «ästhetisch», wie esder Antragsteller nennt anwendbar!

Ausserdem: In der Literatur über Gifte für die Ein-schläferung von Tieren wird auf die Gefahr desMissbrauchs für Selbsttötungen hingewiesen. Diesist dem Antragsteller bekannt.

Perversion der Sprache und desDenkensDer bereits zitierte Prüfer des Europäischen Pa-tentamtes wies die Universität Michigan darauf hin,dass Euthanasie ein Kapitalverbrechen ist, undverlangte hierzu eine klärende Stellungnahme be-ziehungsweise eine entsprechende Beschränkungdes Patentantrages auf Tiere.

Statt zu widersprechen, bestätigen die Anwälte derUniversität von Michigan am 1. Juli 1996 die Vor-würfe frank und frei. Man wolle nichts Ungesetzli-ches tun, aber: «Falls es jedoch legal würde, dieseLösungen auch an Menschen anzuwenden, so sollsich dieses Patent auch auf die Anwendung derLösungen zu diesem Zweck erstrecken.» Sie spre-chen an anderer Stelle offen davon, es gehe umdie Anwendung bei «niederen und höheren Tieren,den Menschen eingeschlossen». Die Rechtsan-wälte verstiegen sich sogar zu der Aussage, dasEuropäische Patentamt verstehe nichts von der«Ästhetik der Euthanasie».

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Patent trotz Kritik der Prüfungs-kommissionObwohl die Universität Michigan damit eingestand,dass sie auch Euthanasie an Menschen meint,wurde das Patent schliesslich doch erteilt. Am 10.Januar 1997 läuft die Einspruchsfrist dafür ab.Hatte nicht die Prüfungskommission des Patent-amtes betont, dass mit diesem Patent Kapitalver-brechen begangen werden können? Wer hat dieseEinwände zum Schweigen gebracht?

Die Brisanz des gesamten Vorgangs wird erst rich-tig deutlich, wenn man fragt, woher die stattlicheSumme von etwa 30 000 US-Dollar stammt, dieeine europäische Patentanmeldung bis zur Ertei-lung kostet. Eine öffentliche (!) Institution wie dieUniversität Michigan, finanziert aus Steuermitteln,will Euthanasie kommerzialisieren! Sind dieGelder, welche die Universität Michigan in dasGiftpatent investierte, Steuergelder? Oder steckenandere Geldgeber dahinter? Auf alle Fälle liegt nunerstmals der unumstössliche Beweis vor, dass eineöffentliche Institution an Patiententötungen verdie-nen will! Ein moralischer wie staatsrechtlicherSkandal!

Unbekannte multinationale Organi-sation im HintergrundWie den «Detroit News» vom 22. September 1996zu entnehmen ist, hat mittlerweile Fred Erbisch,Sprecher des Amtes «für geistiges Eigentum» imUS-Staat Michigan, erklärt, die Giftmischung seiursprünglich nicht für den Gebrauch an Menschengedacht gewesen. Eine multinationale Organisa-tion, deren Namen er nicht nennen wollte, habe je-doch die Sache in die Hand genommen, um daseuropäische Patent zu sichern. Erbisch betonte,die Rechtsanwälte der Universität Michigan hättennur versucht, den besten und breitesten Schutzder Patentrechte an dieser Giftmischung zu errei-chen. Es bestehe ein Lizenzvertrag zwischen der

Universität Michigan und der ungenannten multi-nationalen Organisation. Dieser erlaube nur dieAnwendung auf Tiere. Zumindest augenblicklichnoch - Lizenzverträge lassen sich jederzeit erwei-tern.

Was unterscheidet die Skrupellosigkeit der Ver-antwortlichen an der Universität von Michigan(beziehungsweise der unbekannten multinationa-len Organisation), die sich mit der Patentierungihres Giftes Profitmöglichkeiten am Tod von Men-schen sichern wollen, von der menschenver-achtenden Gesinnung eines Drogendealers oderWaffenschiebers?

Skrupellose Missachtung desRechts auf LebenUnter der Schutzbehauptung, man tue nichts Un-gesetzliches, es gehe ja «nur» um ein Patent, wer-den wie bei der Euthanasie-Debatte «Verständnis»und «Toleranz» gegenüber der Tötung von«lebensunwertem Leben» vorbereitet. Wenn dasEuthanasieverbot wie in Holland oder Australienaufgehoben und es damit legal würde, Menschenzu töten, dann soll daran auch noch verdient wer-den. Die Skrupellosigkeit eines solchen Ansinnenswird deutlich, wenn man sich den Hintergrund fürdas Euthanasieverbot vergegenwärtigt: KeinMensch darf einen anderen töten, und keinMensch kann in seine eigene Tötung einwilligen.Das ist der naturrechtliche Kern jeder Rechtsord-nung, jeder Zivilisation. Darum darf man keinemMenschen gestatten, an einer Tötung zu verdie-nen. Das geplante Patent ist in dieser Form sitten-widrig und muss widerrufen werden! Weil das Tö-tungsverbot naturrechtlich gegeben und damit vor-staatliches Recht ist, verstösst das Patent nicht nurgegen bestehendes Recht, sondern gegen allge-meine, vorstaatliche sittliche Prinzipien, auf dieauch die Schweizer Verfassung und das deutscheGrundgesetz aufbauen.

Korrektur zu:Medizin und Ideologie 3/96 Seite 18 und 19

Die in der letzten Ausgabe abgedruckte "Überset-zung: Eine Bedrohung unvorhersehbaren Ausma-ßes...", sowie das "Nachwort" sind nicht, wie irr-tümlich angegeben, in Theologisches' in derJuli/August Ausgabe, sondern in der September-Ausgabe erschienen.Das letztere Nachwort ist keine Übersetzung, son-dern von Frau Backhaus verfasst worden.

"Niemand sollte eine multikuturelle Gesellschaft fürerstrebenswert halten: In keinem Land der Erdewürde eine solche politisch-soziale Umgestaltungals Programm ohne große Erschütterungen undKämpfe vor sich gehen. Und die Staaten, die durchgeschichtliche Fehlentwicklungen schon multikul-turell sind - z.B. USA, Südafrika - wären froh, wennsie es nicht schon geworden wären."

Kommentar im Informationsbrief der "LebendigenGemeinde Bayern"

aus idea - Basis Nr. 84/96

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aus: Deutsches Ärzteblatt vom 8.11.96

Gisela Klinkhammer

Transplantation fötalen Gewebes bei Parkinson

Kontroverse um rechtliche GrauzoneErstmals wurde jetzt von der Ethikkommission derMedizinischen Hochschule Hannover ein Antragauf "Verwendung von humanem embryonalenZNS-Gewebe zur Erforschung und Behandlung derexperimentellen und klinischen Form der Parkin-sonschen Erkrankung" in einer ersten Phase ge-nehmigt. Das löste eine Diskussion über die Not-wendigkeit einer gesetzlichen Regelung derTransplantation fötalen Gewebes aus.Mögliches Ziel eines vor kurzem in Hannover ge-nehmigten Projekts ist die Implantation embryona-ler menschlicher Zellen in das Gehirn von Morbus-Parkinson-Patienten. Diese klinische Anwendungsei jedoch nicht Inhalt der jetzigen Entscheidung,betonte die Ethikkommission der MedizinischenHochschule Hannover (MHH). Das Teilprojekt, das"als ethisch verantwortbar gehalten wurde, betrifftVerfahren zur Gewinnung und Reindarstellung vonmenschlichen embryonalen Hirnzellen aus Ge-webe, das bei Schwangerschaftsunterbrechungenbis zum dritten Monat gewonnen wird". Es geheaußerdem um spezielle experimentelle Untersu-chungen mit diesem Gewebe, unter anderem auchum die Implantation von Zellen in Ratten. DieseVersuche sollen der Feststellung und Verbesse-rung der Funktionsfähigkeit von embryonalen Zel-len dienen, auch nach deren Übertragung in einenlebenden Organismus. Über eine klinische Anwen-dung der Implantation embryonaler Gehirnzellenbeim kranken Menschen will die Ethikkommissionnach Vorlage der Ergebnisse des jetzt genehmig-ten Teilprojektes erneut entscheiden. Dabei werdedann auch der aktuelle Stand anderer Behand-lungsmöglichkeiten der Parkinsonschen Krankheitzu berücksichtigen sein.Auf scharfe Kritik stieß die Entscheidung der Ethik-kommission beim Behindertenbeauftragten desLandes Niedersachsen, Karl Finke. "Diese Be-handlungsmethode, deren Erfolgsaussichten äu-ßerst ungewiß sind, degradiert die verbrauchtenEmbryonen zum Ersatzteillager und drängt Frauenin die Rolle von Rohstofflieferantinnen für ethischäußerst fragwürdige Forschungsprojekte", soFinke. Er räumte jedoch ein, daß die verbrau-chende Forschung an abgetriebenen Embryonenbisher gesetzlich nicht geregelt sei. Die grundsätz-liche Entscheidung, ob kranken Menschen em-bryonales Gewebe übertragen werden dürfe,könne nicht von Ethikkommissionen getroffen wer-den. "Hier ist der Gesetzgeber gefragt, der solchenPraktiken einen Riegel vorschieben muß", forderteFinke.

"Abtreibung auf Bestellung"Diese Ansicht vertrat auch Marina Steindor, ge-sundheitspolitische Sprecherin von Bündnis 90/DieGrünen. "Derzeit nutzen Mediziner die rechtlicheGrauzone zwischen Embryonenschutzgesetz und

Paragraph 218 aus, um verschiedene Verfahrender Embryonalzelltransplantation zu entwickeln."Leichtfertig würden Ärzte und Forscher ihren kurz-sichtigen Machbarkeitsvorstellungen erliegen. Sol-che Transplantationen förderten die Abtreibung aufBestellung. Das zeichne sich bereits in China undden GUS-Staaten ab, wo der Schwanger-schaftsabbruch gängiges Mittel der Familienpla-nung sei. Dort würden embryonale Zellen derBauchspeicheldrüse bereits zur Diabetesbehand-lung eingesetzt.Im Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen seideshalb festgelegt, daß "Organe, Organteile, Ge-webe und Zellen von Anencephalen, Embryonenund Föten weder entnommen noch übertragenoder zu experimentellen oder industriellen Zwec-ken, insbesondere der pharmazeutischen oderkosmetischen Industrie dienenden Zwecken ver-wendet werden" dürfen.Der Entwurf zu einem Transplantationsgesetz, dendie Regierungsparteien und die SPD erarbeitet ha-ben, stellt ausdrücklich fest, daß sich der Gel-tungsbereich "nicht auf Gene oder andere DNA-Teile, Ei- und Samenzellen, embryonale und fetaleOrgane" bezieht. Dafür würden das Embryonen-schutzgesetz und die entsprechenden Richtliniender Bundesärztekammer (BÄK) greifen.Die Ethikkommission der MHH beruft sich auf die"Richtlinien zur Verwendung fetaler Zellen und fe-taler Gewebe" der BÄK von 1991. Darin heißt es,daß "Entscheidungen zum Schwangerschaftsab-bruch unabhängig von dem Vorhaben einer Ver-wendung für Forschungs- oder Therapiezweckeerfolgen. Das Gespräch über die Verwendung fe-taler Zellen oder Gewebe darf erst geführt werden,wenn der Entschluß zum Schwangerschaftsab-bruch endgültig ist. Vergünstigungen, mit denendie Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruchoder zur Verwendung des Fetus beeinflußt werdensollen, dürfen weder angeboten noch gewährtwerden." Die an der Abtreibung Beteiligten dürftennicht an der Verwendung fetaler Zellen oder fetalerGewebe zu Forschungs- oder fremdnützigen The-rapiezwecken mitwirken.Prof. Dr. med. Rudolf Pichlmayer, der Vorsitzendeder Ethikkommission der MHH, betont, "daß ent-scheidende Grundvoraussetzung für die Akzeptanzdieses auf die Behandlungsmöglichkeit einerschweren und häufigen Erkrankung gerichtetenForschungsvorhabens ist, daß eine strikte und ge-sicherte Trennung des Bereichs Schwanger-schaftsunterbrechung einerseits und einer erstnach der Entscheidung zu der Schwangerschafts-unterbrechung möglichen Diskussion über eineVerwendung des Gewebes - einschließlich einerentsprechenden Entscheidung der Schwangeren -andererseits gewährleistet wird." •

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aus: Rheinischer Merkur vom 8.11.96

Eckart Klaus Roloff

Der Griff nach den Keimzellen

"Wir dürfen nicht zulassen, daß bestimmte tech-nologische Themen mit Tabus belegt werden." Sosagt es Herbert Reul, der Generalsekretär der nor-drhein - westfälischen CDU, der zugleich den Bun-desfachausschuß Bildung, Forschung und Kulturder Union leitet.

Mit dem unerwünschten Tabu zielt Reul weder aufden Transrapid noch auf Mars-Missionen oder dieAtomenergie, sondern auf ein Thema, das zu denFundamenten der Medizin und unseres Men-schenbildes gehört: auf die bisher unmögliche undgenerell abgelehnte Manipulation der Keimbahnund der Keimzellen, also der Geschlechtszellen ei-nes Organismus, die anders als die Körperzellendie genetische Information von einer Generationauf die folgenden übertragen.

Nach dem deutschen Embryonenschutzgesetz von1990 ist diese Manipulation verboten. "Wer die Er-binformation einer menschlichen Keimbahnzellekünstlich verändert, wird mit Freiheitsstrafe bis zufünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft", heißt eseindeutig in Paragraph 5 des Gesetzes; sogar derVersuch ist strafbar. Für dieses Verbot sei er auch,versichert Reul, wenigstens gegenwärtig, doch an-dererseits werde international immer wieder überden therapeutischen Nutzen des Keimbahneingriffsdebattiert; davor könne die CDU nicht einfach dieAugen schließen. Dies heiße nicht, die eigene Po-sition aufzugeben.

Heißt es das wirklich nicht? Die eigenen Par-teifreunde haben Reul so verstanden, daß er undsein Ausschuß doch etwas verändern wollen. Esgab heftige Proteste: Der CDU-Bundestagsabge-ordnete Hubert Hüppe nennt die Äußerung"unverantwortbar", "weit von jeder Mehrheitsfähig-keit entfernt", der Humangenetiker Peter Liese, derdie Union im Europaparlament vertritt, kündigt sei-nen "energischen Widerstand" an, und die JungeUnion hat Reul geraten, "eine andere Spielwiesefür forsche Vorstöße zu suchen. Die der Keim-bahnmanipulation ist denkbar ungeeignet."

Dem ist zuzustimmen. Bei einer so grundsätzlichenEntscheidung darf man sich nicht auf den kleinstengemeinsamen Nenner internationaler Regelungeneinlassen - dann müßte Deutschland auch"liberalere" Gesetze zur Abtreibung gutheißen.

Das ist auch zu beachten, wenn Klaus Kinkel alseiner der 39 Außenminister der Staaten des Euro-parates seine Stimme zur jahrelang verhandelten,aber immer noch umstrittenen Bioethik-Konventionabgeben wird: Er muß sein Votum auch mit Blickauf das abgeben und verantworten, was nachdeutschen Gesetzen Recht ist.

Es gibt gute Gründe, weshalb die Keimbahnmani-pulation - schon das scheinbare Synonym Keim-

bahntherapie gleicht einer Manipulation - untersagtist. In ihrem Anspruch, behindertes Leben zu ver-hindern, bedeutet sie Verhinderung von Leben; sieist sowohl Menschenzucht als auch Selektion. Sol-che Eingriffe sind die totale Technisierung desMenschen, eine Neukonstruktion seiner Anlagen,die bald dem Subjektivismus genetischer Designerentspringen könnten.

Da ist es kein Trost, daß die von Reul erwähnteTechnologie noch gar nicht so weit ist, Keimzellengezielt zu verändern. Dies erfordert unzählbareTier - und Menschenversuche mit tödlichen Risikenund gibt einen weiteren Grund, solche Verfahrenabzulehnen. Sie wollen den Menschen zum opti-mierbaren (und irgendwann garantiert gesunden)Produkt machen - natürlich vor allem den Men-schen der sogenannten Ersten Welt.

"Mit diesem Eingriff ins Leben", so hat der Dort-munder Theologe Hans Growel einmal gesagt,"wird eine Grenze überschritten, für die ich keineLegitimation finden kann. Wenn wir hier zustim-men, ist auf Dauer nichts mehr verboten."

aus: idea 48/96

Ungewöhnliche Aktion gegen Pornographie inden USA:

Pornos von Dampfwalzezermalmt

Mit einer Dampfwalze hat ein amerikanischerGrundstücksmakler 2.500 Porno-Videos zerstört.Jim Ryffel, Präsident der Woodcrest-Company imtexanischen Fort Worth, setzte sich an das Steuerder tonnenschweren Straßenbaumaschine, um dieKassetten "unschädlich" zu machen. "Der Schundgehört auf den Müll", sagte er bei der Aktion aufdem Parkplatz eines Einkaufszentrums in GrandPrairie bei Dallas/Fort Worth. Die Zuschauermengeklatschte Beifall, als die Walze die Videos zer-malmte. Die Müllabfuhr entsorgte die Überrestekostenlos. Die Pornokassetten im Wert von umge-rechnet 67.500 Mark waren dem Grundstücks-makler als Entschädigung für ausgebliebenePachtzinsen von der Firma "Cinematyme Enter-tainment" übergeben worden, die in dem Einkaufs-zentrum eine Videothek betrieb. Ryffel sprach sichbei der Aktion dafür aus, Sperrbezirke für den Ver-trieb pornographischer Produkte einzurichten, umsie von Wohngebieten fernzuhalten. Bürgerinitiati-ven wie die "Amerikanische Familien-Vereinigung"sowie christliche Organisationen und örtliche Pfar-rer begrüßten die Aktion. "Pornographie untergräbtdie Familie und erniedrigt Frauen und Kinder; es istZeit, daß wir die Gottesgabe Sex wieder auf dieEhe als einzigen schöpfungsgemäßen Bereich zu-rückführen", sagte Pastor Tony Adams (Dallas).

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Lina Börsig-Hover, Kleinweil

Die heilsgeschichtliche Bedeutung der Frau

Edith Steins Beitrag zum Verhältnis von Frau und Kirche

Edith Stein gehört zu den Wegbereiterinnen, diedie Eigenart von Mann und Frau feststellen, unter-suchen und beschreiben. Sie kommt zu der Er-kenntnis, daß der Eigenart der Frau ein Eigenwertentspricht, den es zu verwirklichen gilt. Nach EdithStein zeigt sich das Menschsein des Menschen inzweifacher Ausgestaltung: als Mann- und Fraus-ein. Diese verschiedenartigen Seinsweisen hinter-lassen im gesamten Wesensaufbau des Menschenihre Signatur. Hier kommt schon zum Ausdruck,daß es in der Anthropologie des Mannes und derFrau um Sein und Wesen geht, d. h. um Ontologieund Metaphysik. Ein moderner Feminismus kannsich also in keiner Weise auf Edith Stein berufen.Das weibliche Sein und das weibliche Wesen sindda. Beides kann nicht wegdiskutiert werden, wennes auch heute noch immer wieder und wieder ver-sucht wird. Die weibliche Eigenart, die sich in Kör-per, Seele und Geist der Frau ausdrückt, gilt esheute in ihrer Bedeutung zu entdecken, damit dieFrau ihren Beitrag in Gesellschaft, Kirche und Poli-tik wahrnehmen kann.1 Die weibliche Eigenart be-steht nicht in einem Freibrief für das Sich-Ausle-ben, oder darin, es dem Manne gleichzutun, oderin der Leugnung der spezifisch weiblichen Aufga-ben, oder darin, daß in der öffentlichen Diskussiondas neue Aufbrechen der Frauenfrage mißbrauchtwird - sei es in politischer, wirtschaftlicher oderkirchlicher Hinsicht. Bestimmte wirtschaftspoliti-sche Kreise wollen die Frau als Frau auslöschen,indem sie der Frau ihre weibliche Eigenart streitigmachen. Sie soll als Roboter, reduziert um das,was sie als Lebensträgerin ausmacht, in einerPseudoWohlstandsgesellschaft vegetieren. Dieserganze unmenschliche Vorgang wird von einerPseudo-Medienwelt propagiert und unterstützt.Einschlägige, kirchliche Kreise wollen der Frau ihreWürde und Sendung streitig machen, indem sieden Frauen vorrechnen und vorjammern, daß ih-nen bisher das Amt vorenthalten worden sei. Wie-der andere halten sich in der direkten Argumenta-tion für das Amt der Frau zurück, deuten aber dasZukurz-Gekommensein der Frau in der Kirchelaufend an und verbreiten eine aufklärerischePseudo-Aufbruchstimmung. Es ist von der Sacheher nichts anderes als Aufwiegelei, die in sichselbst zerfällt, und Luftschloßmalerei, die aufGrund einer Affekthascherei zustande kommt, d.h.auf Grund von Geltungs- und Anerkennungssucht.Es sind negativ motivierte Kreise, die der Frau ihreheilsgeschichtliche Bedeutung verschleiern wollen,indem sie sie für ihre persönlichen Interessen miß-brauchen, die immer durch Machtbesessenheitcharakterisiert sind. Es ist eine Machtbesessen-heit, die sich in zwei Richtungen teilt: zum einengeht es ganz einfach um absatzpolitische Interes-sen, d.h. um Märkte, und zum anderen spielt per-sönliches Ansehen und wissenschaftliche Reputa-tion, d.h. der Stolz, die ausschlaggebende Rolle.Aber Märkte und Stolz werden vergehen und die

Frau in ihrer ganzen heilsgeschichtlichen Bedeu-tung wird aufleben.Wird die Sekundärliteratur zu Edith Stein zumThema »Frau« gesichtet,2 dann fällt auf, daß sieoft für emanzipatorisch-feministische Bestrebun-gen herhalten muß. Dies ist insbesondere für denkirchlichen Bereich festzustellen. Hier wird EdithStein mit der Aussage zitiert, daß von dogmati-scher Seite dem Amt der Frau nichts im Wegestünde. Es soll damit gesagt werden, daß EdithStein für das Amt der Frau gesprochen habe. Dieswird auch argumentativ so belegt, daß Edith Steinsich an einem Gespräch über das Priestertum derFrau beteiligt hat. Dies sind jedoch Argumentatio-nen, die nichts zur Sache beitragen, da sie ausdem theologisch-philosophischen Kontext desSteinschen Denkens abgelöst worden sind. Bio-graphische Begebenheiten können nicht gleich mitSachzusammenhängen verwechselt werden.Weiter wird Edith Stein im kirchlichen Bereich indie Richtung mißbraucht, daß dem Leser und Hö-rer vermittelt wird, daß die Frau überhaupt in derKirche bisher zu kurz gekommen sei. Es wird einFrauenbild Edith Steins gezeichnet, das so in derPrimärliteratur nicht zu finden ist. Ein Grund magdarin liegen, daß Edith Steins Gedankenführungnicht verstanden wird und der Interpret an Wortenkleben bleibt und nicht zum Sinn der SteinschenAussage vordringt. Edith Stein kommt aus derPhilosophie. Ihr Denken ist philosophisch unter-baut, und zwar ganz klar und entschieden philoso-phisch durchreflektiert. Sie bringt bewußt in diethematischen Arbeiten den ontologischen undmetaphysischen Gehalt mit ein. So kann EdithStein nicht rezipiert werden ohne philosophischeSchulung und Vorbildung des Interpreten. Diesmag bei keinem anderen Autor so zutreffen wie ge-rade bei Edith Stein. Ihre einzelnen Aussagen sindganz von ihrem philosophischen Hauptwerk»Endliches und ewiges Sein« her zu entschlüs-seln.

I. Das Sein der FrauDas Sein der Frau ist wie das Sein des Manneszunächst und grundsätzlich personales Sein. EdithStein drückt diesen Sachverhalt in ihrem berühm-ten Ausspruch so aus: »Menschsein ist dasGrundlegende, Frausein das Sekundäre«.3 Daspersonale Sein des Menschen definiert Edith Steinwie folgt: »Person sein heißt ein freies und geisti-ges Wesen sein«.4 So ist der Mensch selbst eingeistiges Wesen aufgrund seines personalenSeins. Dieses »geistige Wesen« ist gekennzeich-net durch sein »Ichsein«. Dieses »Ichsein« be-zeichnet Edith Stein auch als »freie geistige Per-son«.5 Der Mensch ist jemand, »der von sich Ichsagt«.6 Edith Stein nimmt hier Bezug auf das Tier,von dem gesagt werden kann, daß es dies nichtkann: »Ich blicke in die Augen eines Tieres und es

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blickt mir etwas daraus entgegen. Ich schaue in einInneres, in seine Seele hinein, die meinen Blickund meine Gegenwart spürt. Aber es ist einestumme und gefangene Seele: in sich selbst ge-fangen, unfähig, hinter sich selbst zurückzugehenund sich selbst zu fassen, unfähig, aus sich selbstheraus und zu mir zu gelangen«.7 Das Tier kanneben nicht Ich sagen, es verfügt nicht über diesesIchsein, d.h. über eine ganze bestimmte Form derInnerlichkeit. So verfügt das Tier über das Tiersein,nicht jedoch über das Ichsein. Das Ichsein kommtin der Begegnung zum Tragen. Edith Stein be-schreibt diesen Vorgang wie folgt: »Ich schaue indie Augen eines Menschen und sein Blick antwor-tet mir. Er läßt mich eindringen in sein Inneres oderwehrt mich ab. Er ist Herr seiner Seele und kannihre Tore öffnen und schließen. Er kann aus sichselbst heraustreten und in die Dinge eingehen.Wenn zwei Menschen einander anblicken, dannstehen ein Ich und ein anderes Ich einander ge-genüber«.8 Edith Stein bezeichnet diesen Vorgangals »Begegnung«.9 Dabei kann es »eine Begeg-nung vor den Toren sein oder eine Begegnung imInnern«.10 Wichtig ist hier, daß das Ichsein dieGrundlage für Begegnung ist. Der Mensch als per-sonales Wesen verfügt als Person über diesesIchsein. Es ist konstitutiv für Begegnung. Das Ich-sein weitet sich zum Dusein für ein anderes Ich,wenn die Begegnung nicht vor den Toren bleibt,sondern wenn »es eine Begegnung im Innernist«.11

Beim personalen Sein des Menschen gehört alsozum Ichsein des Menschen das Dusein-Können.Dieser Vorgang hängt davon ab, ob das Zusam-mentreffen von einem Ich und einem anderen Ichvon innen her geschieht, ob es eine Begegnung imInnern ist.Eine Stärke des weiblichen Seins liegt nun im Be-gegnungsereignis selbst. Es ist die Frau, die einbesonders ausgeprägtes Bedürfnis nach Verwirkli-chung der eigenen Person hat und der es in Bezugauf ein anderes Ich um Begegnung geht, d.h. umein Sich-Offenbaren von innen her. Eingeschlos-sen darin ist die Fähigkeit und Begabung, sich umandere Menschen fördernd zu bemühen, d.h., siein ihrem Personsein, und damit in ihrem Mensch-sein vorwärts zu bringen. Edith Stein spricht hiervon der »Gabe, sich in fremdes Seelenleben undauch in fremde Zielstellung und Arbeitsweise ein-zuleben«, und vom »Verlangen, Menschentum inseiner spezifischen und individuellen Ausprägungbei sich selbst und anderen zu möglichst voll-kommener Entfaltung zu bringen«.12 So ist derFrau die Entwicklung ihres Personseins und dasanderer Personen in einer besonderen Weise an-vertraut. Dies bedingt, daß sie Mutter und Gefähr-tin sein kann. Die Förderung anderer in ihrem Per-sonsein und die Annahme der ihr Anvertrauten istdie Grundlage für die Seinsweise als Mutter undGefährtin. Edith Stein spricht von der Aufgabe derFrau, »Gefährtin und Mutter zu sein«.13 Dies setztdie »personale Entscheidung« der Frau voraus, indiesem Sinne für andere Hilfe sein zu wollen. Diesgilt gemäß dem Schöpfungsbericht zunächst inBezug auf den Mann, »ihm die Hilfe (zu) sein, dieihm ermöglicht zu werden, was er sein soll«.14

Die Förderung des personalen Seins bei sichselbst und anderen zeigt sich grundsätzlich in derVerwirklichung personaler Akte, d.h. seinsträchti-ger Handlungen. Daraus leitet sich ab, daß alle

negativen Handlungen die Entwicklung personalenSeins beeinträchtigen. So ist mit Edith Stein zu se-hen, daß der Frau der Kampf gegen das Böse auf-getragen ist.15 Gerade die Frau steht mit ihremmütterlichen Sein für das Leben. So wird auch ver-ständlich, weshalb Eva »Mutter der Lebendigen«genannt wird.16 Die Frau steht also für das Leben.Es ist ihr in jeder Weise anvertraut.Als vorläufiges Ergebnis kann festgehalten wer-den, daß das Sein der Frau in einer engen Bezie-hung zum Leben in allen Formen steht. In der Fraufindet eine intensive Hinordnung zum Lebendigenseinen Ausdruck. Sie steht eigentlich für das Le-ben schlechthin, und damit für das Wesen desSeins, für das, was das Sein als Sein in einer per-sonalen Gestalt zum Ausdruck bringt. Diese Näheund wesenhafte Verbundenheit zum Sein zeigt,daß die Frau in einer besonderen Bindung steht.Wenn Christus selbst von sich sagt, daß er derWeg, die Wahrheit und das Leben ist, so geht dar-aus hervor, daß die Frau mit ihrem Sein in einerengen Christusverbundenheit steht. Christus, derdas Leben selbst ist, gibt der Frau an diesem Le-ben einen besonderen Anteil, und zwar seinsmä-ßig, d.h. durch die Frau als Frau pulsiert das Le-ben; dies deshalb, weil sie in dieser Christusnähesteht. Wie ist dies zu verstehen? Christus als derneue Adam hat der Frau ihre Größe wiedergege-ben, die darin besteht, daß die Frau Lebensträge-rin ist, und damit Christusträgerin. Mit Edith Steinist zu sehen, daß sich diese tiefe Christusverbun-denheit, und damit die Verbindung zum Lebendi-gen selbst, in Maria zeigt. In dem: »Siehe, ich bineine Magd des Herrn« ist nach Edith Stein »Mariasganzes Sein ausgesprochen«.17 Es »ist dieDienstbereitschaft für den Herrn und schließtdarum jede andere Bindung aus«.18 Edith Steinbringt jetzt einen Vergleich mit dem Priester:»Freilich hat auch des Priesters Zölibat seine Be-gründung in ungeteilter Bereitschaft für den Dienstdes Herrn. Der Unterschied zeigt sich darin, wieder Herr hier und dort die Bereitschaft zu aktuellemDienst werden läßt. Er macht den Priester zu sei-nem Stellvertreter und läßt uns wiederum in ihmden Herrn selbst sehen. In Maria sehen wir nichtden Herrn, sondern wir sehen sie selbst immer ander Seite des Herrn«.19 Maria, und mit ihr die Frau,hat also eine besondere Beziehung zum Herrn.Noch deutlicher wird das Verhältnis Maria undChristus, Christus und Priester, wenn Edith Steinschreibt: »Sie (Maria) repräsentiert nicht denHerrn, sondern sekundiert ihm«.20 Hier wird auchganz deutlich, daß Edith Stein den seinsmäßigenZusammenhang von Maria und Christus, Frau undChristus, Priester und Frau kennt. Es besteht einePolarität, die nicht aufgelöst werden kann. ÜberMaria sagt Edith Stein in diesem Zusammenhang:»Ihr Dienst ist Dienst, den sie unmittelbar ihm lei-stet, Fürbitte, die sich für die Menschen bei ihmverwendet, Gnadenspendung, die an die Men-schen weiterleitet, was sie aus seiner Hand emp-fängt«.21 Maria, und mit ihr die Frau, handeln alsonicht an Christi Statt, sondern sie sind Mithelferin-nen im Erlösungswerk. Dies ist ein eigener, nurvon der Frau zu leistender Erlösungsauftrag, derneben dem Erlösungsauftrag des Mannes besteht.Weiter gehört zum personalen Sein des Menschenneben der Begegnung die Tatsache, daß die Per-son Geist ist. Edith Stein weist darauf hin, daß derMensch nicht nur ist und lebt, sondern er weiß um

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sein Sein und Leben.22 In der Rückwendung, derReflexion, ist dem Menschen bewußt, daß er istund lebt. Diese »personale Geistigkeit« besagtnach Edith Stein »Wachheit und Aufgeschlossen-heit«.23 Es gibt also eine »ursprüngliche Form desWissens, die zum geistigen Sein und Leben ge-hört«.24 Diese ursprüngliche Form des Wissens istjedoch nach Edith Stein »kein nachkommendes«Wissen, sondern es ist »wie ein Licht, von dem dasgeistige Leben als solches durchleuchtet ist«.25

Das personale Sein des Menschen ist also»geistiges Leben«, und dieses ist ein ursprüngli-ches Wissen um anderes als auch um sichselbst.26 »Geistiges Leben« heißt »bei anderenDingen sein, in eine Welt hineinschauen, die derPerson gegenübersteht«.27 Das »geistige Leben«setzt also die Begegnungsfähigkeit, das Ich- undDu-sein, und damit das personale Sein voraus.Durch das »geistige Leben« erfährt der Vollzugdes Personseins seine eigentliche Verwirklichung.So beinhaltet das personale Sein des Menschendas »geistige Leben«. Dabei ist das Wissen umsich selbst »Aufgeschlossenheit nach innen, dasWissen um anderes ist Aufgeschlossenheit nachaußen«.28

Wenn nun die Frau eine Stärke in der Begeg-nungsfähigkeit aufweist, dann ist damit eine Gabeund Berufung zum »geistigen Leben« verbunden,d.h. eine besondere »Aufgeschlossenheit« nachinnen und außen. Die Aufgeschlossenheit nach in-nen, und das damit verbundene Wissen, führt zurChristusbegegnung im eigenen Inneren; die Auf-geschlossenheit nach außen zeigt sich in der Be-gegnung selbst und führt zur Nächstenliebe in ei-gener Ausprägung. Das Sein der Frau ist alsozunächst ein personales Sein, aber mit einerzweifachen Ausprägung: Es weist eine Stärke imBegegnungsvorgang auf und in all dem, was»geistiges Leben« ausmacht und fördert. Von ihrerSeinsstruktur her ist die Frau also besonders fürdas Geistige aufgeschlossen und empfänglich.Dafür verfügt sie über eine besondere Transparenzund Sensibilität. In Maria wird diese personaleStruktur der Frau heilsgeschichtlich wirksam. Siebesitzt diese Offenheit und Empfänglichkeit für al-les Geistige in reinster Ausprägung, d.h. in einervollkommenen Art und Weise. In jeder Frau lebtdavon etwas, und die Aufgabe besteht darin, die-sen weiblichen Seinsanteil in möglichst voll-kommener Weise auszubilden. Darin besteht derheilsgeschichtliche Auftrag jeder Frau. Das eigeneSein erkennen zu können, ist ja schon eine Fruchtder Erlösungstat Jesu Christi und bindet die Fraugleichzeitig in sein Erlöungswerk mit ein.

II. Das Wesen der FrauGott hat sich den Menschen als sein Abbild ge-schaffen. Dieses Abbild-Sein, d.h. Wesen-Sein desMenschen zeigt sich in den beiden Urbildern vonMann und Frau. Nach Edith Stein ist Maria »in ih-rer Jungfräulichkeit reines Urbild des Frauentums,indem sie an der Seite dessen steht, der Urbild al-les Mannestums ist, und die Menschheit ihm zu-führt«.29 Urbild der Frau ist also Maria und Urbilddes Mannes Christus.30 Maria selbst steht für»dienende Liebe«, und darin ist sie »Abbild derGottheit«.31 »Dienende Liebe« ist »Beistand«, derallen Geschöpfen zu Hilfe kommt, um sie zur Voll-endung zu führen.32 »Beistand« ist aber der Titel

des Heiligen Geistes. So kann im Geist Gottes,»der ausgegossen ist über alle Kreatur, das Urbildweiblichen Seins« gesehen werden.33 Dieses Ur-bild »findet sein vollkommenstes Abbild in der rein-sten Jungfrau, die Gottes Braut und aller Men-schen Mutter ist«.34 Das Abbild Mariens findet sichalso besonders in den Frauen, die den Titelsponsa Christi tragen und in jenen, die »an derSeite eines Mannes stehen, der Christi Abbild ist,und durch leiblich-geistige Mutterschaft seinenLeib, die Kirche, aufbauen helfen«.35 Maria ver-körpert also in sich die beiden Wesensformen derFrau: Jungfrau und Mutter. Finden sich diese bei-den Wesensformen der Frau in der Verwirklichungvor, dann geschieht Mitwirkung am Erlösungswerk.Wenn nun Maria Urbild der Frau ist, so folgt fürEdith Stein daraus, daß »Marien-Nachfolge Zielder Mädchenbildung«36 sein muß. Der Weg zumZiel ist aber »nicht nur das Aufschauen zu ihr,sondern der vertrauensvolle Anschluß an sie«.37

Dieser Weg ist »nicht ein Weg neben der Christus-Nachfolge«, sondern die »Marien-Nachfolgeschließt Christus-Nachfolge ein, weil Maria die er-ste Christus-Nachfolgerin und das erste und voll-kommenste Christus-Bild ist«.38 Deshalb ist »jaauch Marien-Nachfolge nicht nur Sache derFrauen, sondern aller Christen«.39 Für die Frauenjedoch hat die Marien-Nachfolge eine »spezifischeBedeutung«: »sie zu der ihnen gemäßen, zurweiblichen Ausprägung des Christusbildes zu füh-ren«.40

Die heilsgeschichtliche Aufgabe der Frau bestehtalso insbesondere darin, »zur weiblichen Ausprä-gung des Christusbildes« zu finden. Dies ist nichtanders möglich als über die Beziehung der Frau zuMaria. Diese »weibliche Ausprägung des Christus-bildes« beinhaltet die je einmalige Eigenart jederFrau, setzt sie als Formprinzip voraus und kommtdurch Entwicklung zur Ausgestaltung. Edith Steinformuliert so: »Jede Menschenseele ist von Gottgeschaffen, jede erhält von ihm ein Gepräge, dassie von jeder anderen unterscheidet; diese ihre In-dividualität soll mit ihrem Menschentum durch ih-ren Bildungswert zur Entfaltung kommen. Und eineBerufung zu einem ihr entsprechenden Wirken istin ihrer persönlichen Eigenart vorgezeichnet. Somuß die Entfaltung dieser Eigenart in das Ziel derMädchenbildung aufgenommen werden«.41

Maria, das Urbild der Frau, ist noch näher zu be-leuchten, um es überhaupt nur annäherungsweisebesser verstehen zu können. Maria ist dieNeuschöpfung schlechthin, das, was Frau-Seinheißt und das, was die Frau ist. Sein und Wesender Frau sind nur von dieser Neuschöpfung her zuverstehen und zu begreifen. Maria ist wirklich »dieNeuschöpfung«, d.h., Eva ist vergangen, aufgeho-ben, und Maria »ist«. Was ist nun das Neue anMaria und das, was mit ihr jetzt die Wesensformder weiblichen Seele ausmacht? Maria vereinigt insich drei Urbilder, das Urbild der Jungfrau, das Ur-bild der Mutter und das Urbild der Braut. Sie ist al-les in einem. Edith Stein spricht in diesem Zusam-menhang von dem Urbild der »mater-virgo« unddem Urbild der »sponsa Christi«. Die »mater-virgo« war »einmal das Urbild jenes Frauentyps,den das Alte Testament zeichnet: der Frau, die ander Seite ihres Gatten steht, ein Haus verwaltetund ihre Kinder in der Furcht Gottes erzieht«; dasHaus der »sponsa Christi« ist »das Reich Gottes«,ihre »Familie die Gemeinschaft der Heiligen«.42

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Edith Stein stellt nun hier die entscheidende Frage:»ob und wie weit es sich hier um ein Entweder-Oder handelt«.43 Ihre Antwort auf diese Frage ist:»Wenn die mater-virgo Urbild reinen Frauentumsist, so wird in einem gewissen Sinn beides Ziel al-ler Frauenbildung sein müssen«.44 Edith Steingeht dann noch einen Schritt weiter, wenn siesieht, daß mit der Bezeichnung »sponsa Christi«nicht nur die »gottgeweihte Jungfrau, sondern dieganze Kirche und jede Christenseele« gemeintist.45 »Braut Christi« sein heißt »dem Herrn ange-hören und der Liebe Christi nichts voranstellen«;dies bedeutet weiter die »Liebe Christi über allesstellen, nicht bloß in theoretischer Überzeugung,sondern in der Gesinnung des Herzens und in derPraxis des Lebens, das heißt frei sein von allenGeschöpfen; von falscher Bindung in sich selbstund an andere, und das ist der innerste, geistigeSinn von Reinheit«.46 Jetzt kommt die entschei-dende Aussage: »Diese virginitas der Seele mußauch die Frau besitzen, die Gattin und Mutter ist:ja, nur kraft solcher virginitas kann sie ihre Aufgabeerfüllen; dienende Liebe, die weder sklavischesUnterworfensein noch herrisches Sichbehauptenund Gebietenwollen ist, kann nur aus dieser Quellefließen«.47 Weiter: »Andererseits muß sich die-nende Liebe, die das Wesen der maternitas ist,allen Geschöpfen gegenüber aus der Liebe Christinotwendig ergeben. Darum wird auch die Frau, dienicht Gattin und Mutter ist, diese geistige materni-tas in Gesinnung und Tat bewähren müssen«.48

Die weibliche Seele ist also so gebaut, daß sieeine dreifache Bestimmung aufweist, die eine ist,aber in einer dreifachen Gliederung sich zeigt: Esist die Bestimmung zur Jungfrau, Mutter und Braut.Diese drei Bestimmungen der weiblichen Seelemachen die Identität der Frau aus, die für sich ge-nommen ein Geheimnis ist; dies deshalb, weildiese drei Ausformungen der weiblichen Seelevom neuzeitlichen, d.h. modernen Menschen sehrschwer zu verstehen sind. Jede weibliche Seele istso geschaffen, daß sie über diese drei Ausfor-mungsmöglichkeiten verfügt. Je nach persönlicherEigenart, Aufgabe und Berufung steht die eineoder andere Ausformung der weiblichen Seele imVordergrund. Wichtig ist jedoch zu wissen, daß alledrei Ausformungen die weibliche Seele ausma-chen, d.h., alle drei Eigenschaften der weiblichenSeele müssen in der jeweiligen konkreten Situationzur Ausprägung kommen. Ist dies nicht der Fall,dann entstehen die verschiedenen Fehlformenweiblicher Entwicklung.Die dreifache Formung der weiblichen Seele mußnoch tiefer gesehen werden: In Anbetracht desfortgeschrittenen Zeitlaufes - Edith Stein hat in den30er Jahren viele ihrer Gedanken zum ThemaFrau niedergeschrieben - kann die Gestaltung derweiblichen Seele noch treffender beschrieben wer-den. Es geht nicht mehr nur um zwei Typen derLebensgestaltung, wie es Edith Stein noch be-schrieben hat,49 sondern jede Frau hat die Auf-gabe, in ihrer konkreten Lebenssituation alle dreiAusformungen der weiblichen Seele zur Ausge-staltung zu bringen. In der Gleichzeitigkeit ist dieFrau sponsa Christi, Jungfrau und Mutter. Darinbesteht die Würde der Frau und ihre heilsge-schichtliche Sendung.

III. Die heilsgeschichtliche Sendungder FrauIn der Verwirklichung des Frauseins liegt die heils-geschichtliche Bedeutung der Frau. In der Beja-hung des eigenen Seins und Wesens liegt die hei-lende Wirkung für die eigene Person wie für dieanderen Personen sowie für die Kirche und dieGemeinschaft der Völker untereinander. Die heils-geschichtliche Sendung der Frau bedeutet näher-hin, daß sie die Erlösungstat Christi zunächst fürihr Leben annimmt und fruchtbar werden läßt. Esheißt zunächst bereit zu sein für ein Leben im»Stande der Gnade«. Dies heißt Wissen um dieeigene Erlösungsbedürftigkeit und die Notwendig-keit der Sakramente, die die Heilung und Heiligungder eigenen Seele ermöglichen. Heilsgeschichtli-che Sendung der Frau heißt ferner, sich auf denWeg der Christusnachfolge zu begeben, um soselbst gerettet zu werden und anderen zusammenmit Christus die Erlösungsgnade zu erwirken, d.h.einen Leidens- und Sühneschatz zu erwerben, dernotwendig ist, um alle Mängel tilgen zu können.Es zeigt sich, daß die Verwirklichung des eigenenSeins und Wesens unabdingbar die Erlösungsord-nung voraussetzt, d.h. die Wiedergutmachung desFalls des ersten Menschenpaares durch die Erlö-sungstat der Person Jesu Christi. Ontologie undMetaphysik sind so unwiderruflich an die Erlö-sungstat gebunden. Eine Seins- und Wesensver-wirklichung geht somit nicht ohne das Wissen umdie Erlösungsbedürftigkeit und die Erlösungsnot-wendigkeit des eigenen Menschseins. Die Seins-und Wesensverwirklichung der Frau setzt also dieErlösungsordnung voraus. Ohne Erlösungsge-schehen ist der Frau der Zugang zum eigenenSein und Wesen versperrt. Alle Selbstreflexion undjeder Einsatz der Frau im eigenen Umfeld, im Be-ruf und in der Kirche ist ohne Blick auf die PersonChristi und seine Erlösungstat zum Scheitern ver-urteilt. Das ist der Sachverhalt, den es als Aus-gangspunkt zu verstehen gilt. Die erste Einsicht indiesen Zusammenhang ist schon der Beginn derheilsgeschichtlichen Sendung der Frau. DieserWeg der Sendung führt dann nicht - wie heuteviele meinen - zur Gleichmacherei untereinanderund mit dem männlichen Geschlecht, noch führtdieser Weg zum Amt der Frau in der Kirche. Es istder Weg der Nachfolge, wie ihn Maria, die neueSchöpfung, die Mutter des Herrn und die Braut desHeiligen Geistes gegangen ist. Auch für das kon-krete Umfeld und das berufliche Wirken gibt eskeinen anderen Weg für die Frau als den Weg Ma-rias. Sie ist das Urbild der Frau, von dem alle an-deren Frauen ihr ganz persönliches und verwirk-lichtes Abbild sein sollten. Hier gibt es auch keinedemokratischen Modelle oder diskutierbare Wahl-möglichkeiten, sondern ausschließlich existentiel-len Vollzug. Das ist der Ernst der menschlichenSituation in der Zeit: Ewiges, Vollkommenes sollvom gefallenen Menschen, dem die Erlösungdurch Jesus Christus wieder ermöglicht wurde,verstanden werden. Wer nimmt dies heute über-haupt noch wahr? Welche Frau hat heute nochden Mut und die Kraft, sich ihrem miterlösendenDienst zu stellen, überhaupt darum zu wissen?Wer macht die heutigen Frauen darauf überhauptnoch aufmerksam?Die tiefe Wahrheit über die Frau gilt es heute über-

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haupt zu entdecken. In diesem Zusammenhang istes verwerflich, wenn beispielsweise Edith Stein,die zur Aufdeckung der weiblichen Seele und ihrerAufgabe Wesentliches geleistet hat, so interpretiertwird, daß sie für die Emanzipation der Frau, füreinen Gleichheitsfeminismus und das Amt der Frauin der Kirche eingetreten sei und dies forcierthätte.50 Insbesondere hat sich bei einigen Edith-Stein-Interpretinnen die Unsitte herausgebildet,Zitate aus ihrem Kontext zu lösen und in eine ge-genteilige, neuzeitliche Aussage einzubauen. DasErbe Edith Steins besteht gerade darin, daß sie dieneuzeitlichen Defizite überwunden hat. Sie zeigtdem modernen, neuzeitlichen Menschen die Tiefeder menschlichen Seele auf, die unauflösbareVerwurzelung der menschlichen Seele in Gott, dieheilsgeschichtliche Aufgabe der Frau usw. Dieheilsgeschichtliche Aufgabe der Frau ist nach EdithStein an die Erlösungsordnung gebunden, unddamit an eine verschiedene Aufgabenteilung derGeschlechter. Gott hat den Menschen als Mannund Frau geschaffen; dieses Ereignis, dieseSchöpfungstat Gottes wird durch die Erlösungs-ordnung nicht aufgehoben, sondern durch Maria,der neuen Eva, und Christus, dem neuen Adam,nochmals bestätigt. Durch die beiden Urbilder»Maria« und »Christus« wird die Gemeinschaft vonMann und Frau und ihr Zusammenwirken wiedermöglich, und zwar dergestalt, daß der Auftrag,unter dem Maria und Christus stehen, konkretweitergegeben wird: Mann und Frau sind jetzt zurMiterlöserschaft berufen; dabei steht der Priesteran Christi Statt und die Frau wird zur Christusträ-gerin, wie Maria, ihr Urbild. Maria hat der WeltChristus gebracht, und die Sendung der Frau be-steht nun darin, die Welt Christus zuzuführen. Diesbeginnt bei der eigenen Person, im eigenen Um-feld und zieht je nach Berufung und Sendung ei-gene Kreise. Die Haltung der Frau für diese we-senseigene Aufgabe ist jedoch bei jeder Frau nureine: die Haltung des Evangeliums, d.h. Selbst-und Gotteserkenntnis, Demut, Dienstbereitschaft,Gottes- und Nächstenliebe; kurzum: es sind dieEigenschaften des neuen, des durch Christus erlö-sten Menschen. Überall, wo diese Eigenschaftender Frau fehlen, verkündet sie sich selbst, und da-mit wirkt sie zerstörend und zersetzend auf ihre ei-gene Seele, auf ihre Umgebung und auf ihr Be-rufsfeld. Sie verliert immer mehr an Grund undwird grund- und haltlos in ihren persönlichen undgesellschaftlichen Forderungen.Edith Stein hat ihre Zeitgenossinnen und uns Heu-tige das Gegenteil gelehrt. Mit ihr ist in besondererWeise Oda Schneider (1892-1987) zu nennen, diewie Edith Stein zu einem späteren Zeitpunkt in denKarmel eintrat.51 Beide haben sie das verwirklicht,was das Frausein ausmacht, und sie waren es, diesich für die Würde der Frau eingesetzt haben, unddurch ihr Leben nahmen sie teil an der heilsge-schichtlichen Sendung der Frau. Die letzten Wortevon Oda Schneider kennzeichnen die Aufgabe derFrau: »Lauter Liebe werden«.52

Anmerkungen:

1 Vgl. Lina Börsig-Hover: Frau und Kirche - Die Suchenach einer neuen Beziehung, in: Die Frau in Kircheund Sport, hg. v. Deutschen Sportbund (= Schriften-reihe »Berichte und Analysen«, Heft 104), Frank-

furt/Main 1989, 24-39; Vgl. dies.: Vom Wesen derFrau. Der Beitrag Edith Steins zum Verhältnis vonFrau, Kirche und Gesellschaft, in: dies. (Hg.): Ein Le-ben für die Wahrheit, Fridingen a.D. 1991, 147-158

2 Mit editorischen Problemen bei der Herausgabe derWerke Edith Steins beschäftigt sich Sabine Düren inihrem Artikel: »Über die wissenschaftliche Redlich-keit bei der Herausgabe der Werke Edith Steins«, in:FKTh, 10. Jahrgang, Heft 3, 1994, 211-215

3 Diskussion zum Vortrag von Dr. E. Stein: Grundla-gen der Frauenbildung, am 9.11.1930 (nur maschi-nenschriftlich im Karmel Köln), 10

4 Edith Stein: Der Aufbau der menschlichen Person,Ges. Werke Bd. XVI, Freiburg - Basel - Wien 1994,

5 Ebda. 1066 Ebda7 Ebda.8 Ebda.9 Vgl. ebda.10 Ebda11 Ebda.12 Edith Stein: Probleme der Frauenbildung (1932), in:

Die Frau, Ges. Werke Bd. V, Louvain - Freiburg 959,139

13 Ebda., 13814 Ebda. 14715 Vgl. ebda.. 14816 Vgl. ebda.17 Edith Stein: Probleme der Frauenbildung (1932),

1959, 15118 Ebda.19 Ebda.20 Ebda.21 Edith Stein: Probleme der Frauenbildung ( 1932),

1959, 15122 Dies.: Der Aufbau der menschlichen Person, 1994,

10623 Vgl. ebda.24 Ebda.25 Ebda.26 Vgl. ebda.27 Ebda.29 Edith Stein: Probleme der Frauenbildung (1932),

1959, 15130 Edith Steins Bezug zur Gestalt Mariens erörtert An-

ton Ziegenaus in seinem Artikel »Urbild und Hilfe -Die Gestalt der Gottesmutter aus der Sicht Edith St-eins (1891 -1942)«, in: Pontificia Academia MarianaInternationalis (Hg.), De Cultu Mariano Saeculis XIX-XX (Kongreß-Akten des Internationalen Mariolo-gisch-Marianischen Kongresses in Kevelaer, 1987,Vol. IV), Rom 1991,355 374

31 Vgl. Edith Stein: Probleme der Frauenbildung, 1959,151

32 Vgl. ebda.33 Edith Stein: Probleme der Frauenbildung (1932),

1959, 15134 Ebda.35 Ebda.36 Ebda.37 Ebda., 15238 Ebda.39 Ebda.40 Ebda.41 Edith Stein: Probleme der Frauenbildung (1932),

1959, 15242 Ebda., 15343 Ebda., 15444 Ebda.45 Ebda.46 Ebda.47 Edith Stein: Probleme der Frauenbildung (1932),

1959, 15448 Ebda.49 Ebda.50 Vgl. Hanna-Barbara Gerl: Alte (Unter)Ordnung, neue

Aufgabe: die Öffnung der Kirche zur Frau, in: Anzei-ger für die Seelsorge, Heft 2, Feb. i 993, 48 f.; vgl.Waltraud Herbstrith: Rezension, in: TheologischeRevue Nr. 4, Jg. 89, 1993,294

51 Vgl. Oda Schneider: Vom Priestertum der Frau, 2.Aufl., Abensberg 1993 52 Ebda., 95

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Dr. Karl-Heinz Beckers

Aktive Sterbehilfe - Tötung aufVerlangen

Das geltende Recht verbietet Tötung auf Verlan-gen (aktive Sterbehilfe) in jedem Falle. Es gibt je-doch Bestrebungen, dieses in mehr oder wenigerbegrenzten Ausnahmefällen zuzulassen. SolcheAusnahmefälle sollen z.B. schwere Leidenszu-stände sein, denen anders nicht beizukommen ist.Das ausdrückliche Verlangen des Leidenden sollVoraussetzung sein. So einleuchtend und humandiese Bestrebungen auf den ersten Blick erschei-nen mögen, so überwiegen doch gravierende Be-denken:Menschliches Leben steht grundsätzlich nichtzur Disposition. Wer über menschliches Lebenverfügt, muß vorher eine Wertung dieses Lebensvorgenommen haben, er muß taxiert haben, ob essinnvoll ist, daß es weitergelebt wird oder nicht.Eine solche Taxierung aber entzieht sich prinzipiellmenschlicher Kompetenz.Wenn aus humanitären Gründen, um einen schwe-ren Leidenszustand, der durch andere Maßnah-men nicht behoben oder gemildert werden kannund auf ausdrückliches Bitten des Leidenden eineTötung auf Verlangen erwogen wird, muß nebenden erwähnten prinzipiellen Gründen folgendeseingewandt werden:Es gibt keine objektiven Kriterien für eine solcheEntscheidung, nach denen sich der Handelnderichten könnte. So wird beispielsweise ein depres-siver Patient schneller damit bei der Hand sein, beieinem schweren Leiden um Beendigung seinesLebens zu bitten, als ein psychisch Gesunder.Schmerz oder Luftnot lassen dem Leidenden kaumdie Möglichkeit, in nötiger Distanz über die Irrever-sibilität seines Verlangens nachzudenken.Auf der Helferseite wird z.B. jemand mit religiöserBindung wesentlich schwerer dazu zu bewegensein, einen anderen zu töten, als ein religiös Un-gebundener, der menschlichem Handeln alleinigeKompetenz zumißt.Auf beiden Seiten, auf Helfer- und Patientenseite,ist eine Variabilität der Maßstäbe zum Handeln zuerwarten, die nicht hinnehmbar ist.Die Möglichkeit eines Mißbrauchs ist nichtauszuschließen. Wenn z.B. jemand einen schwerpflegebedürftigen, leidenden Menschen langepflegt, vielleicht unter Einsatz seiner gesamtenFreizeit und unter Vernachlässigung eigenerInteressen, kann die Straffreiheit der Tötung aufVerlangen ihn vielleicht dazu verleiten, demKranken die Aussichtslosigkeit seiner Situationklarzumachen.Dem Leidenden selber kann alleine die Kenntnisder Tatsache, daß Tötung auf Verlangen unter denBedingungen, die er möglicherweise erfüllt, erlaubtist, ein schlechtes Gewissen verursachen.In Kenntnis einer solchen Rechtslage kann er denEindruck gewinnen, er sei es seiner Umgebungschuldig, angesichts der Belastung, die er verur-sacht, die erlösende Willenserklärung abzugeben.Je mehr der Wert der Selbstbestimmung betontwird, desto mehr kann eine Erwartungshaltung inder Bevölkerung entstehen, wonach alle behin-

derten, unheilbar Kranken oder alten Menschen esfür anständig halten müssen, um den Tod zu bit-ten. Wir lernen unser Leben zu taxieren, es einzu-teilen in wertes und unwertes Leben.Nicht zuletzt können z.B. Krankenhausärzte inBedrängnis kommen, wenn der Träger einesKrankenhauses bei der Einstellung von ihnenverlangt, dem Gesetz entsprechend bereit zu sein,aktive Sterbehilfe zu leisten.Daß dies nicht nur eine finstere Vision ist, zeigt dieteilweise geübte Praxis bei der Einstellung vonGynäkologen, wenn ihre Bereitschaft zur Durchfüh-rung von Abtreibungen vorausgesetzt wird.Hierdurch können sich schwere Konflikte für deneinzelnen Arzt ergeben angesichts der herrschen-den Abtreibungspraxis (de-facto-Fristenregelung).Der bewußtseinsbildende Effekt von Gesetzenkann nicht bestritten werden.Wenn bei einer Gesetzesnovellierung Abstand ge-nommen wird von bisher postulierten Grundsätzenund praktizierten Verhaltensweisen, bleibt im Be-wußtsein der Bevölkerung möglicherweise nur dasFallen eines Tabus haften, die sorgfältig differen-zierte Formulierung des Gesetzestextes geht un-ter. Das Signal, das von einer solchen Geset-zesänderung ausgeht, kann die fatale Wirkung ha-ben: So absolut gilt das Tötungsverbot auch wie-der nicht.Solch eine negative Bewußtseinsänderung hatdurch die Änderung des § 218 StGB tatsächlichstattgefunden. Obwohl der Gesetzgeber denSchwangerschaftsabbruch, den er nicht mehr»Tötung der Leibesfrucht« nannte, nur unter be-stimmten Voraussetzungen straffrei ließ, blieb dieBotschaft: Abtreibung ist erlaubt.In einer Umfrage äußerten 70% der Befragten dieirrige Auffassung, Abtreibung sei grundsätzlich er-laubt.Die Forderung, die das Bundesverfassungsgerichtin seiner Entscheidung zur Fristenlösung 1975 ge-stellt hat, daß eine Notlage so schwer sein muß,daß sie einer medizinischen Indikation gleich-kommt, ist dagegen im Bewußtsein der Menschenund sogar in der Praktizierung des Gesetzes völligverdrängt worden. Die klare Formulierung desBundesverfassungsgerichts hat hieran nichts ge-ändert, sie geht in der Eigendynamik der eingelei-teten Bewußtseinsänderung unter.Ist es so weit hergeholt, wenn wir eine ähnlicheEntwicklung bei der Sterbehilfe befürchten? Juri-sten mögen dies abtun. Der politisch Handelndehat jedoch die Pflicht, diese Gefahr bei seinen Ent-scheidungen zu berücksichtigen.Wenn ein Patient um seine Tötung bittet, muß ge-fragt werden, ob wirklich alles ausgelotet und un-ternommen wurde, um ihm anderweitig zu helfenund ihm personalen Beistand zu leisten.Je mehr die Möglichkeit der aktiven Sterbehilfe insBewußtsein rückt als relativ aufwandsarme Pro-blemlösung, desto größer ist die Gefahr, daß dieviel aufwendigere Mühe um die Leidensminde-rung verdrängt wird.So vermittelt die Erlaubnis einer Tötung auf Ver-langen vordergründig den Eindruck einer Humani-sierung des Strafrechts. Sie ist in Wahrheit inhu-man. Sie ist geeignet, vom Wichtigsten in dieserSituation wegzuführen: von geduldiger menschli-cher Zuwendung.Nachdruck aus einer Informationsschrift der CDL.Mit freundlicher Genehmigung.

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CDL - Christdemokraten für das Leben e.V.Initiative in der CDU/CSU

Bioethik-Konvention

Nachdem der Lenkungsausschuß Bioethik des Eu-roparates lange Zeit im Verborgenen gewirkt hatte,gelangte sein Entwurf einer "Konvention desEuroparates zum Schutz der Menschenrechteund der Menschenwürde im Hinblick auf dieAnwendung von Biologie und Medizin: Bio-ethik-Konvention" erstmals im Frühjahr 1994 andie Öffentlichkeit. Dies geschah aber keineswegsauf Veranlassung des Lenkungsausschusses,sondern durch eine "demokratische Indiskretion".Besonders durch die Arbeit der "InternationalenInitiative gegen die geplante Bioethik-Konven-tion für Europa", dann durch die Beratungen derParlamentarischen Versammlung des Europarates,des Bundestages und des Bundesrates wurdenÖffentlichkeit, Kirchen, Verbände und Medienwachgerüttelt.

Proteste riefen insbesondere hervor die vorgese-hene Zulässigkeit von verbrauchender Embryo-nenforschung (in Deutschland durch das Embryo-nenschutzgesetz verboten!) sowie die Zulässigkeitvon Forschungseingriffen an nicht-zustimmungsfä-higen Behinderten ohne Heilungsabsicht. WichtigeFragen wie der Schutz ungeborener Kinder und ih-rer Mütter vor Abtreibung sowie die Probleme derOrgantransplantation waren gar nicht erst aufge-griffen worden, da man hier von vornherein keineChance einer Einigung sah.

Der Lenkungsausschuß Bioethik hat seinen Ent-wurf dann im vergangenen Jahr überarbeitet, wie-derum unter strengster Geheimhaltung. Der Ent-wurfstext vom 13. September 1995 gelangte wie-derum erst durch eine "demokratische Indiskretion"im November an die Öffentlichkeit. Selbst gegen-über Abgeordneten des Deutschen Bundestagesund des Europäischen Parlaments wurde seineExistenz offiziell verschwiegen. Eine öffentliche,der europäischen Demokratie würdige Diskussionwurde effektiv unterbunden.

Wie Hohn mutet dann der Artikel 26 des Entwurfesan, der festlegt, "daß die sich durch die Entwick-lungen in Biologie und Medizin ergebenden fun-damentalen Fragen, insbesondere unter Berück-sichtigung der relevanten medizinischen, gesell-schaftlichen, ökonomischen, ethischen und rechtli-chen Implikationen, zum Gegenstand einer ange-messenen öffentlichen Diskussion gemacht unddaß ihre mögliche praktische Anwendung zum Ge-genstand geeigneter Beratungen gemacht wer-den."

Die unter Ausschluß jeder "angemessenen öffent-lichen Diskussion" entstandene neue Fassung derBioethik-Konvention ignoriert die von der Parla-mentarischen Versammlung des Europarates, vomDeutschen Bundestag, von Kirchen und Verbän-den geäusserte schwere Kritik.

Entgegen dem ausdrücklichen Wunsch des Deut-schen Bundestages, "keine Einfallstore für Ein-griffe in unverletzliche Individualrechte" zu eröff-nen, sind im neuen Entwurf noch detaillierter alsvorher "Ausnahme"-Regelungen vorgesehen fürForschung an und Organentnahme von lebendenPersonen, die nicht fähig sind, einem solchen Ein-griff selbst zuzustimmen.

Der ausreichende Schutz einwilligungsunfähigerPersonen vor mißbräuchlichen Eingriffen ist in derNeufassung keineswegs sichergestellt. Vielmehrgibt es Ausnahmeregelungen mit nebulösen Be-gründungen wie "einem beträchtlichen Nutzen" fürihre Gesundheit, oder wenn "Risiko und Belastungfür den Betroffenen" nur "minimal" sind.

Solche Formulierungen lassen breiten Raum fürfast beliebige Interpretationen. Denn: Wer definiertdas "minimale Risiko" oder den "beträchtlichenNutzen"? Wer kontrolliert im Einzelfall, ob Gestikund Gesichtsausdruck eines in ein Forschungs-projekt einbezogenen Behinderten, der dem nichtselbst zugestimmt hat, als Weigerung oder Abwehrzu verstehen sind - und dann zum Abbruch desExperiments führen müßten?

Weiterhin gestattet der Bioethik-Konventions-Ent-wurf vom 13. September 1995 die verbrauchendeForschung an menschlichen Embryonen, die etwabei künstlicher Befruchtung "übrig" bleiben. InGroßbritannien gestattet ein Gesetz ("Human Fer-tilisation and Embryology Act") solche Forschungbeispielsweise zur Verbesserung der Präimplanta-tionsdiagnostik und zur Erforschung von Familien-planungsmethoden.

Eine solche Bioethik-Konvention wäre nachteilignicht nur für die betroffenen Menschen in denStaaten, die den Text unterzeichnen. Selbst wennDeutschland nicht unterzeichnete, würde ein Druckerzeugt, der die strengere deutsche Gesetzgebungauf lange Sicht hin untergräbt.

Wir wehren uns gegen eine Konvention, die bisheranerkannte individuelle Grundrechte aufweicht. Wirsind gegen weit interpretationsfähige Sonder- undAusnahmeregelungen für nicht-zustimmungsfähigeMenschen. Das darf nicht wieder in Deutschlandzugelassen werden und nicht für Europa festge-schrieben werden.

Wir fordern Bundestag und Bundesregierungauf, klar und deutlich zu sagen, daßDeutschland eine solche Konvention niemalsunterzeichnen wird.

Christdemokraten für das Leben e.V.Bundesgeschäftsstelle:Haus Laer, 59872 MeschedeTelefon 02 91 - 22 61, Fax 02 91 - 61 91

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Hubert Hüppe MdB

Sprecher der Initiativgruppe "Schutz des menschlichen Lebens" innerhalb der CDU/CSU-Bundes-tagsfraktion

Stellungnahme

zur Antwort der Bundesregierung auf dieKleine Anfrage "Tötung ungeborener Kinder,staatliches Schutzkonzept, Beobachtungs- undNachbesserungspflicht" vom 27. Juni 1996

Auf die Kleine Anfrage "Tötung ungeborener Kin-der, staatliches Schutzkonzept, BeobachtungsundNachbesserungspflicht" ist den CDU/CSU-Abge-ordneten Hubert Hüppe, Monika Brudlewsky, Nor-bert Geis und weiteren 74 Abgeordneten aus derUnionsfraktion eine ausführliche Antwort der Bun-desregierung zugegangen.

Die fragestellenden Abgeordneten nehmen mit ih-rer Kleinen Anfrage die Beobachtungspflicht wahr,die das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzge-ber auferlegt hatte. Bei erkannten Mängeln desSchutzkonzeptes hätte dann der Gesetzgeber diePflicht zur Nachbesserung. Denn mit der Einfüh-rung der sogenannten "Beratungsregelung", ver-knüpft mit einer medizinischen und einer krimino-logischen Indikation (Schwangeren- und Familien-hilfeänderungsgesetz - SFHÄndG - vom 21. Au-gust 1995), trifft den Gesetzgeber, wie das Bun-desverfassungsgericht in seinem Urteil vom 28.Mai 1993 klargestellt hat, die Verpflichtung, "dieAuswirkungen seines neuen Schutzkonzeptes imAuge zu behalten (Beobachtungs- und Nachbesse-rungspflicht)" (BVerfGE 88, 269). Bei erkanntenMängeln ist der Gesetzgeber verpflichtet, auf de-ren Beseitigung sowie die "Sicherstellung einesdem Untermaßverbot genügenden Schutzes hin-zuwirken (Korrektur- oder Nachbesserungspflicht)"(BVerfGE 88 309)

Einen Wechsel im Schutzkonzept hat der Gesetz-geber auch bei der bisherigen eugenischen/em-bryopathischen Indikation vollzogen, für die biszum Inkrafttreten des SFHÄndG eine Frist von 22Wochen gegolten hatte, und deren Fallkon-stellationen nunmehr in der zeitlich unbefristetenmedizinischen Indikation aufgefangen werden. Hiergilt daher gleichermaßen - insbesondere auch un-ter Berücksichtigung des im Grundgesetz veran-kerten Verbotes einer Diskriminierung von Men-schen mit Behinderung - eine Beobachtungs- undNachbesserungspflicht.

Die Bundesregierung nimmt in der vom Familien-ministerium erarbeiteten Antwort Stellung zu deninsgesamt 31 Fragen, die sich mit der Abtrei-bungsstatistik, den angewandten Abtreibungsme-thoden sowie mit der Selektion und Tötung Behin-derter vor der Geburt befassen.

Unzulängliche Erfassung derAbtreibungsrealitätZwar kann das Statistische Bundesamt detailliertaufgeschlüsselte Zahlen vorweisen, die zunächst

den Eindruck sorgfältig registrierter und verläßli-cher Daten vermitteln. Dabei räumt die Bundesre-gierung aber an verschiedenen Stellen ein, daßeine exakte Beobachtung des tatsächlichen Ge-schehens unter den derzeit gegebenen Regelun-gen gar nicht möglich ist. Eine solche Beobachtungwäre jedoch unabdingbare Grundlage für dieKenntnis des Abtreibungsgeschehens und Aus-gangspunkt für notwendige Nachbesserungen.

Die unzulänglichen Beobachtungsmöglichkeitenbeginnen mit der statistischen Erfassung der vor-genommenen Abtreibungen. Ende Juli 1996, sodie Bundesregierung, "liegen die Daten für das er-ste Quartal 1996 noch nicht vor", und "die erstenErgebnisse werden im vierten Quartal 1996 bereit-stehen". Dies wird im wesentlichen damit begrün-det, daß es Umstellungsschwierigkeiten gebe,auch sei "eine erhebliche Anzahl von Erinnerungender Einrichtungen an die Meldepflicht erforderlich"geworden (Antwort zu Frage 2).

Letzteres erstaunt, wenn man bedenkt, daß sicherdie weitaus überwiegende Anzahl der"Einrichtungen" auch bislang schon einer solchenMeldepflicht unterlegen hatten. Nur die Melde-Mo-dalitäten hatten sich mit dem 1. Januar 1996(geringfügig) geändert, nicht aber der Sachverhalteiner grundsätzlichen Meldepflicht. Die von derBundesregierung angeführten "Verbesserungen"sind allenfalls marginal. Die besonders("insbesondere") betonten Hilfsmerkmale entpup-pen sich bei einem Blick in § 17 SchKG als "Nameund Anschrift der Einrichtung" sowie eine Telefon-nummer für Rückfragen, deren Angabe freiwillig ist(§ 18 Abs. 2 SchKG). Während die Anschrift der"Einrichtung" eine bare Selbstverständlichkeit ist,wobei deren Telefonnummer ggf. auch über dieTelefonauskunft in Erfahrung zu bringen wäre,stellt sich die Frage, inwieweit aufgrund telefoni-scher Nachfrage überhaupt zuverlässige, über-prüfbare und somit verwertbare Erkenntnisse ge-wonnen werden können.

Es mag sein, daß - wie in der Antwort zu Frage 1gesagt wird - die "zentralen Beratungsträger teil-weise über einschlägige Erkenntnisse" verfügen.Der "Hauptberatungsträger" Pro Familia jedenfallsbehält seine "einschlägigen Erkenntnisse" weitge-hend für sich: im Gegensatz etwa zu den katholi-schen Beratungsträgern gibt Pro Familia nachmündlicher Auskunft des Familienministeriumskeine Erhebungen über Zahl der Beratungen undden Ausgang der Schwangerschaften heraus. DemBundesfamilienministerium ist schlichtweg unbe-kannt, wieviele §-218-Beratungen mit welchemAusgang der Schwangerschaft Pro Familia durch-führt. Bekannt hingegen ist dort, daß Pro Familiaauch heute noch die Gelder aus der Bundesstif-tung "Mutter und Kind" nicht an ratsuchendeFrauen vermittelt, sondern die Frauen lediglich an

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andere, meist konfessionelle, Beratungsstellenverweist, die dann ihrerseits die Stiftungshilfenvermitteln.

Aber die Beratungsstellen wissen selbst nur wenigüber den Ausgang der Schwangerschaft. Der zurZeit aktuellsten verfügbaren Erhebung der Caritas(14. Erhebung: Werdende Mütter in Not- und Kon-fliktsituationen in katholischen Beratungsstellen,Zeitraum 1992) ist zu entnehmen, daß im Jahre1992 von katholischen Beratungsstellen 12.528 §-218-Beratungen durchgeführt und dabei 8.488 Be-ratungsscheine ausgestellt wurden, wobei in derMehrzahl der Fälle, 7.429 mal (59,3%) der Aus-gang der Schwangerschaft unbekannt blieb. Hierzuführt die Caritas aus: "Definitionsgemäß ist in derZahl 'Ausgang unbekannt' mit 59,3% ein hoherAnteil von Schwangerschaftsabbrüchen" (Caritas:14. Erhebung ..., S. 71).

"Einrichtungen" zur Vornahme vonAbtreibungen unvollständig erfaßtLaut Bundesstatistik (Antwort zu Frage 2) findet einDrittel der Abtreibungen in Krankenhäusern statt,über die "grundsätzlich ein guter Überblick" be-stehe (Antwort zu Frage 4 und 5). Doch falls ein-mal Unklarheit bestünde: wird die laut Bundesre-gierung "in Betracht" kommende "direkte Befra-gung der Krankenhäuser" tatsächlich durchgeführt,und welche gesetzliche Handhabe würde dies ga-rantieren?

Über die "weiteren Einrichtungen", in denen zweiDrittel und damit der überwiegende Teil aller Ab-treibungen stattfinden (vgl. Tabelle in Antwort zuFrage 2), bestehen weder bundeseinheitliche nochvollständige "Erkenntnisse". Unter diese"Einrichtungen" fallen ärztliche Praxen, in denenneben ärztlichen Heilbehandlungen auch Abtrei-bungen vorgenommen werden, Praxen wie die desMünchner Abtreibungsarztes Stapf, in denen aus-schließlich abgetrieben wird, sowie die sogenann-ten "Familienplanungszentren" der Pro Familia. §13 SchKG verzichtet auf eine bundeseinheitlicheZulassungspflicht für solche "Einrichtungen", undder Antwort zu Fragen 4 und 5 ist weiterhin zu ent-nehmen, daß eine Zulassungspflicht in den Län-dern nur "teilweise" besteht bzw. "eingeführt wer-den soll". In Einzelfällen gebe es Mitteilungen der-Kassenärztlichen Vereinigungen.

Über die Möglichkeit, daß Einrichtungen nicht er-faßt wurden (Frage 6), kann die Bundesregierungkeine Auskunft geben.

Mangels hinreichender anderer Erkenntnisse überAbtreibungseinrichtungen hat das StatistischeBundesamt die Landesärztekammern um die An-schriften aller Gynäkologen ersucht. Dabei wurdeoffensichtlich außer acht gelassen, daß auchÄrzte, die keine Fachärzte für Frauenheilkundesind (wie beispielsweise der Münchner Arzt Fried-rich Stapf), dennoch Abtreibungen vornehmen. DerSächsische Datenschutzbeauftragte hatte diesenSachverhalt in der Presse dargestellt (FAZ29.04.1996). Die Sächsische Landesärztekammerhat sogar unter Berufung auf den Datenschutz dieWeitergabe der Adressen aller Gynäkologen ver-

weigert. Dennoch wurden auch für Sachsen Ab-treibungsdaten erhoben und in der Bundesstatistikmitaufgeführt, die aber offensichtlich lückenhaftsein müssen (vgl. Antwort zu Frage 7).

Die Bundesregierung weicht der Frage nach ge-setzgeberischem Handlungsbedarf (Frage 5)insofern aus, als sie sich darauf zurückzieht, dieserHandlungsbedarf werde "in den Ländern ... unter-schiedlich beurteilt". Die bayerische Staatsregie-rung hat dabei den vom Urteil des Bundesverfas-sungsgerichts gewiesenen Weg eingeschlagen,ähnliche Vorschlage haben sächsische Unionspo-litiker gemacht. Dagegen versäumen hier geradeSPD-geführte Landesregierungen ihre Pflicht zumSchutz des Lebens Ungeborener und zur sachge-mäßen Beobachtung der Abtreibungsrealität, de-ren Vertreter sich in jüngster Zeit besonderslautstark über den bayerischen angeblichen"Sonderweg" ereifern. Es gehört zu den Unver-ständlichkeiten der Abtreibungsdebatte, daß ge-rade diejenigen, die das "Beratungskonzept" we-gen seiner angeblich besseren Schutzwirkung fürUngeborene preisen, keinen ernsthaften Willen er-kennen lassen, zur Erhebung verläßlicher Datenbeizutragen.

Angesichts der verfassungsrechtlich gebotenenzuverlässigen Beobachtung des Abtreibungspraxisist hier aber ein gesetzgeberischer Handlungsbe-darf absolut zu bejahen. Ein unmittelbarer Ansatz-punkt ist die Ergänzung von § 13 SchKG um einebundeseinheitliche Zulassungspflicht von Einrich-tungen zur Vornahme von Schwangerschaftsab-brüchen wie in Bayern. Wurde hierauf verzichtet,so mußte zwangsläufig der Eindruck entstehen,daß Möglichkeiten der Gewinnung zuverlässigererDaten von vornherein unterbunden bleiben sollen.Das in der Antwort der Bundesregierung offenbargewordene Untätigbleiben der Länder verpflichtetden Bundesgesetzgeber nun hier tätig zu werden.

Auch über die Zahl der über die Krankenkassenabgerechneten nicht-indizierten bzw. indiziertenAbtreibungen (Fragen 9 bzw. 10) ist laut Bundes-regierung derzeit kein Aufschluß möglich, da ent-sprechende Angaben "im Rahmen der Finanzstati-stik der gesetzlichen Krankenversicherung" nichtgesondert erfaßt werden. Dies wäre gleichwohl ab-rechnungstechnisch durchaus möglich und als In-strument der Beobachtung der Praxis auch drin-gend geboten, gerade auch angesichts der Unzu-länglichkeit anderer Beobachtungsinstrumente.Auch werden auf Landesebene schließlich"Erkenntnisse der ... Krankenkassen berücksich-tigt" (Antwort zu Frage 1). Verwertbare Erkennt-nisse liegen also bei den Versicherern vor, wobeidie privat abgerechneten Abtreibungen noch unbe-rücksichtigt sind.

Was in welcher Form in der - immerhin gut fünf-hundert Seiten starken - Finanzstatistik der gesetz-lichen Krankenversicherung (GKV) auszuweisenist, regelt das Bundesgesundheitsministerium"durch Rechtsverordnung mit Zustimmung desBundesrates" nach § 78 SGB IV. Es ist daher zufordern, daß dementsprechend die Anlage zu § 25der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift über dasRechnungswesen in der Sozialversicherung(SRVwV), die den Kontenrahmen für die Finanz-

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Statistik der GKV's definiert, so geändert wird, daßdie Ausgaben der GKV für Schwangerschaftsab-brüche zukünftig erfaßt werden.

Weitere Erkenntnisse liegen bei den Landesbehör-den vor, die nach § 4 des "Gesetzes zur Hilfe fürFrauen bei Schwangerschaftsabbrüchen in beson-deren Fällen" dafür zuständig sind, "den gesetzli-chen Krankenkassen die ihnen durch dieses Ge-setz entstehenden Kosten" für nicht-indizierte Ab-treibungen nach der "Beratungsregelung" bzw. inwenigen Fällen für "nicht rechtswidrige" Abtreibun-gen zu erstatten. Diese Daten müssen erhobenund für den Gesetzgeber zur Wahrnehmung derBeobachtungspflicht bereitgestellt werden.

Momentan jedoch gibt es kein bundeseinheitliches,flächendeckend zuverlässiges System der statisti-schen Erfassung von Abtreibungen. Dies ist dasResumée der Antwort der Bundesregierung zudiesem Fragebereich. Somit läßt sich die verspro-chene Wirksamkeit des "Schutzkonzeptes" für un-geborene Kinder derzeit nicht verifizieren.

Eugenische Abtreibungen imRahmen der erweitertenmedizinischen IndikationIn Beantwortung von Frage 11 (Beobachtung undÜberprüfung der tatsächlichen Schutzwirkung fürungeborene Behinderte nach Wegfall der auf 22Wochen befristeten embryopathischen Indikation)verweist die Bundesregierung zunächst auf die zuFrage 1 gemachten Ausführungen. Der dortige er-ste Teil (Aufzeichnungen der Beratungsstellen) istoffensichtlich für die Beobachtung in diesem Be-reich untauglich, da nämlich für die medizinischeIndikation und die in ihr "aufgefangenen Fallkon-stellationen" der sogenannten embryopathischenIndikation keinerlei Beratungspflicht und somitauch keinerlei Vorschriften für Beratungsstellenexistieren.

Als ebenso untauglich erweist sich der Hinweis aufdie Bundesstatistik, da diese einerseits selbst un-zulänglich ist und da andererseits eine Behinde-rung des abgetriebenen Kindes mit dem Wegfallder embryopathischen Indikation kein eigenes Er-hebungsmerkmal mehr darstellt, wie aus der Ant-wort der Bundesregierung zu Frage 12 hervorgeht.Diesem eingestandenen Verlust einer Beobach-tungsmöglichkeit in der Bundesstatistik steht derangebliche Gewinn gegenüber, klargestellt zu ha-ben, daß ungeborene Menschen mit Behinderung"keinem Sonderstatus unterworfen" seien.

Daß der Wegfall der embryopathischen Indikationtatsächlich diese Klarstellung bewirkt habe, mußleider auch bezweifelt werden. So hat bereits in derBundestagsplenardebatte zum § 218 vom 29. Juni1995 der damals zuständige Sprecher der FDP,Heinz Lanfermann, zur embryopathischen Indika-tion ausgeführt: "Jede Spekulation, daß sich in derPraxis für die betroffenen Frauen, für die betroffe-nen Eltern etwas ändern würde, scheint meinerAnsicht nach falsch zu sein" (Plenarprotokoll13/47, S. 3761 D).

"Durch die Formulierung des § 218 a Abs. 2 ....können diese Fallkonstellationen aufgefangenwerden", hieß es in der Begründung des SF-HÄndG zu § 218 a Abs 2 und 3. Zwar rechtfertigtdanach nicht allein die Behinderung des Kindesseine Abtreibung, doch genügt die eben darausabgeleitete "unzumutbare Belastung" für dieSchwangere. Es wird also nur der "Umweg" überdie Unzumutbarkeit konstruiert, doch das Resultatfür das Kind - seine rechtmäßige Tötung - bleibtdasselbe. Jede Spekulation, daß sich - abgesehenvom Entfallen der bisherigen 22-Wochen Frist -etwas geändert haben könnte, scheint falsch zusein.

Daneben existieren unabweisbar Berichte vonÄrzten, die aussagen, daß die Bereitschaft eineBehinderung zu akzeptieren aufgrund eines"vermeintlichen Anspruches 'Ich kann dieseSchwangerschaft zu jeder beliebigen Zeit been-den'" zurückgeht (so der Münchner Pränataldia-gnostik-Spezialist Karl-Philip Gloning, zitiert in derWELT vom 16.02.1996). Schon vergleichsweiseleichte und ggf. behebbare Behinderungen wieetwa eine Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte (soge-nannte "Hasenscharte") ließen den Wunsch nacheiner Abtreibung aufkommen. Diese Erkenntnis(vgl. Antwort zu Frage 13) liegt der Bundesre-gierung nicht vor. Auch, so Gloning weiter, seienviele Mediziner irritiert, ob sie nicht auch im spätenStadium der Schwangerschaft auf die Abtrei-bungsmöglichkeit hinweisen müßten.

Daß, wie die Bundesregierung weiter zu Frage 11antwortet, die Dokumentationspflicht des Arztesder Beobachtung und Überprüfung der tatsächli-chen Schutzwirkung für ungeborene Behindertediene, ist abstrakte Theorie. Insbesondere die Ein-sichtnahme von Strafverfolgungsbehörden in ärzt-liche Patientendokumente ist unrealistisch - schonangesichts der extremen Seltenheit von Strafver-fahren im Zusammenhang mit § 218. Daher istaufgrund der Tragweite solcher ärztlicher Ent-scheidungen zusätzlich zu fordern, daß in denMeldungen für die Bundesstatistik die medizinischeIndikation dahingehend differenziert werden muß,ob sie mit einer Behinderung oder vorgeburtlichenSchädigung des Kindes in Zusammenhang steht.Hierzu bedarf es einer Ergänzung von § 16SchKG.

Ausdrücklich begrüßenswert ist die Klarstellungdurch die Bundesregierung (Antwort zu Frage 13),"daß die medizinische Indikation ... äußerst strenggestellt und auf Fälle beschränkt werden soll, indenen das Leben der Mutter in Gefahr ist". DieseAuffassung in der Öffentlichkeit und in Fachkreisenmit allem Nachdruck zum Tragen zu bringen, ent-spricht auch der in Leitsatz 10 des Verfassungsge-richtsurteils angesprochenen Verpflichtung desStaates, "... den rechtlichen Schutzanspruch desungeborenen Lebens im allgemeinen Bewußtseinzu erhalten und zu beleben".

Das Vertrauen in die Zuverlässigkeit von ärztlichenMitteilungen, Indikationsstellungen und von Anga-ben zum Alter des ungeborenen Kindes (vgl. Ant-wort zu Frage 13) wird allerdings stark erschüttert,wenn abtreibende Ärzte etwa folgenden Bericht ineinem Standardwerk publizieren: "Der Fetus wies

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in der rechnerisch 30. Schwangerschaftswocheeinen biparietalen Durchmesser auf, der dem der24. Schwangerschaftswoche entsprach, wahrendder Thoraxdurchmesser bei bestehendem Oligo-hydramnion noch kleiner war. Dieser Fetus wiesaußerdem eine pathologische Herzaktion auf.Nach Besprechung mit den Eltern und einerGruppe von Menschen, die gewillt waren, zur Ent-scheidung beizutragen, haben wir uns entschlos-sen, eine Schwangerschaftsdauer von nur 24 Wo-chen anzunehmen und die Schwangerschaft ab-zubrechen. Durch die schwammige Formulierungdes Gesetzes war dies bei extremer Auslegungmöglich." (Fritz K. Beller: Rechtliche und ethischeAspekte der pränatalen Diagnostik, in WolfgangHolzgreve [Hrsg.]: Pränatale Medizin, Springer-Verlag 1987, S. 141 -149).

Pränataldiagnostik undSchwangerschaftsabbruchIn Beantwortung von Frage 14 bleibt die Bundes-regierung eine Auskunft über den etwaigen Einsatzöffentlicher Mittel zur Förderung von pränatalerDiagnostik schuldig. Zuletzt hatte das Bundesfor-schungsministerium 1984 - trotz der damaligenmittelfristigen Haushaltssperre - invasive pränataleDiagnostik gefordert, dies sei nach deren gutemAnlaufen später nicht mehr nötig gewesen. Unter-lagen darüber sind nach Auskunft des heutigenBundesministeriums für Bildung, Wissenschaft,Forschung und Technologie nicht mehr verfügbar,sie seien beim Umzug verloren gegangen.

Trotz der einschränkenden Anmerkung in der Ant-wort der Bundesregierung (zu Fragen 17 und 18)ist ein stetiger Rückgang der lebendgeborenenKinder mit Spina bifida und Down-Syndrom sowohlin absoluten als auch relativen Zahlen erkennbar.

Insbesondere beim Down-Syndrom legt die vonder Bundesregierung (Antwort zu Frage 16)zunächst genannte Häufigkeit von 1:600 Neugebo-renen, d.h. 167:100.000, im Vergleich zu den An-gaben in der Antwort zu Frage 18 (19908,7:100.000) die Frage nahe, was mit den fehlen-den Kindern geschehen ist.

Das Statistische Jahrbuch 1995 gibt für 1990905.675 Lebendgeborene an. Darin mußten bei ei-nem Anteil von 1:600 über 1.500 Kinder mit Down-Syndrom enthalten sein. Tatsächlich werden(Antwort zu Frage 18) nur 63 Kinder mit Down-Syndrom genannt. Die in der Statistik fehlendenüber 1.400 Kinder sind mit Sicherheit nicht nur aufMangel der statistischen Erfassung zurückzufüh-ren.

Im Gegenteil weisen erfahrene Medizinerinnen undMediziner darauf hin, daß bei pränatal diagnosti-ziertem Down-Syndrom zu 90 % abgetrieben wird(vgl. auch Schlingensiepen-Brysch, in Zeitschriftfür Rechtspolitik 1990, S.25; Zahn: Zur Technik derChorionzottenbiopsie, in Kinderkrankenschwester1989, S. 110; Karkut u.a.: Erfahrungen mit dertranszervikalen Chorionzottenbiopsie, in Geburts-hilfe und Frauenheilkunde 1989, S. 701; Froster-Iskenius u.a., Chorionzottenpunktion, in Zentral-blatt für Gynäkologie 1988, S. 146). Dies würde

sich auch mit den von der Bundesregierung ge-nannten Zahlen decken.

Ähnliches gilt bei Spina bifida, für die in der medi-zinischen Fachliteratur eine Häufigkeit von 1 bis2:1.000 Geburten genannt wird (vgl. das Stan-dardwerk von Karl-Heinz Niessen [Hrsg]: Pädiatrie,VCH-Verlag Weinheim 3. Aufl. 1993; Prof. Niessenist Direktor der Universitätskinderklinik Mannheim).Nun wurden laut Antwort der Bundesregierung (zuFrage 17) im Jahre 1990 nur 56 Kinder mit Spinabifida geboren. Jedoch hätten unter den 905.675Lebendgeborenen zwischen 910 und 1820 Kindermit Spina bifida sein müssen. Auch hier liegt wohlnicht nur eine statistische Untererfassung vor.

Eine solche besorgniserregende Entwicklungwürde jedenfalls mit Einstellungen von Humange-netikern korrespondieren, von der Nippert/Horstberichten (Nippert, I.; Horst, J.: Die Anwendungs-problematik der pränatalen Diagnose aus der Sichtvon Beratenen und Beratern unter besonderer Be-rücksichtigung der derzeitigen und zukünftig mögli-chen Nutzung genetischer Tests, TAB Hinter-grundpapier Nr. 2, Gutachten im Auftrag des Bürosfür Technikfolgen-Abschätzung beim DeutschenBundestag, Januar 1994; hier: Tab. 11 auf Seite112). Die Fragestellung "Angenommen, es stündeein sicherer, verläßlicher und kostengünstiger Testtechnisch zur Verfügung, um die folgenden Stö-rungen zu diagnostizieren - bei welchem Test wür-den Sie es gerne sehen, wenn er zusammen mitder Option eines Schwangerschaftsabbruchs fürbetroffene Schwangere verfügbar wäre?" wurde fürDown-Syndrom von 53%, für Spina bifida apertavon 74% der deutschen Humangenetiker bejaht.Die Frage, ob sie selbst eine Abtreibung vorneh-men lassen würde, hätte ihr eigenes ungeborenesKind eine schwere offene Spina bifida, bejahten90,4% der Humangenetiker, bei Down-Syndrom69,6% (Nippert, I.; Horst, J. a.a.O.; hier Tab. 56).

Für die von Nipper/Horst ebenfalls in der genann-ten Studie befragten betroffenen Frauen traf dieAussage "Ich habe mich für die vorgeburtlicheUntersuchung entschieden, weil ich es nicht fürverantwortlich halte, ein behindertes Kind zur Weltzu bringen" für 38,9% "völlig" zu, und für 32,9%"mit Einschränkung" zu. (ebd., Tab. 30). Ähnlichdie Zustimmung zu "weil ich einem behindertenKind nicht zumuten wollte, geboren zu werden": für43,3% traf dieser Grund "völlig", für 33,3% "mitEinschränkung" zu (ebd., Tab. 31).

Deutsche Genetiker wurden zu 42% einer Frau,bei deren Fötus in der 23. Schwangerschaftswo-che ein Down-Syndrom diagnostiziert wurde unddie im Lande nicht legal abtreiben konnte, eineÜberweisung ins Ausland anbieten. Dies ist einerbei der Europäischen Gesellschaft für Humange-netik am 24. Mai 1995 - vor Inkrafttreten des SF-HÄndG - in Berlin vorgestellten Umfrage über ethi-sche Ansichten von Genetikern zu entnehmen(Dorothy C. Wertz: Ethical Views of European andNon-European Geneticits: Results of an Internatio-nal Survey. Presented at the European Society ofHuman Genetics, Berlin, May 24, 1995; FrauWertz ist Senior Scientist, Social Science, Ethicsand Law am The Shriver Center for Mental Retar-dation, Waltham, MA 02254, USA; hier: Table 32

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A). Es liegt deshalb nahe zu fragen, wie sich diese42% heute verhalten würden, da ja die 22-Wo-chen-Frist mit der eugenischen Indikation entfallenist.

Vorgeburtliche GeschlechtswahlWeiterhin wurde den Genetikern eine Frage zurpränatalen Geschlechtswahl gestellt: Eheleute mitvier Töchtern wünschen sich einen Sohn. Einenweiblichen Fötus würden sie abtreiben. Befragt, obsie in diesem Fall die Pränataldiagnostik durchfüh-ren würden, antworteten im Jahre 1985 2% derdeutschen Humangenetiker mit "ja", im Jahre 1994wurde dieselbe Frage bereits von 18% mit "ja" be-antwortet (Dorothy C. Wertz, a.a.O. Table 13 A).Dies unterstreicht die Notwendigkeit eines Verbotsder Geschlechtswahl durch Abtreibung. Ein sol-ches Verbot fehlt noch, und dies, obwohl es vomBundesverfassungsgericht unmißverständlichgefordert worden war: "Außerdem muß die Ver-pflichtung ... keine Mitteilungen über das Ge-schlecht des zu erwartenden Kindes zu machen,strafbewehrt sein" (Urteil vom 28.05.93, Grunde DV2c).

Mit einer damals noch fiktiven genetischen Stö-rung, genetisch bedingtem Übergewicht, versuch-ten Nippert/Horst in der TAB-Studie zu klaren, in-wieweit eine pränatal diagnostizierte Veranlagungzu Übergewicht noch tolerabel bzw. ein Grund zurAbtreibung sein könnte. 18,9% der befragten 1157Frauen gab an, selbst bei einem solchen - ver-gleichsweise harmlosen - Befund abtreiben zuwollen, weitere 36,0% wurden zwar persönlichdeswegen nicht abtreiben, finden aber, daß in die-sen Fällen Abtreibung möglich sein sollte. Somitsieht eine Mehrheit von 54,9% in Übergewichteinen "akzeptablen Grund" zu eugenischer Abtrei-bung (Nippert,I.; Horst.J. a.a.O.; hier S. 105). Dasfür eine Veranlagung zu Übergewicht verantwortli-che Gen wurde mittlerweile identifiziert (dpa-Mel-dung vom 04.06.1996).

Diese Beispiele zeigen, daß jedenfalls eine latenteBereitschaft zu pränataler Selektion durch Abtrei-bung sowohl in der Durchschnittsbevölkerung alsauch in Fachkreisen durchaus vorhanden ist. Diesmuß der Gesetzgeber zur Kenntnis nehmen undMaßnahmen ergreifen, um einer um sich greifen-den Eugenik rechtzeitig vorzubeugen. Das bedeu-tet, daß ein Katalog zu erstellen ist, welche Be-funde über das ungeborene Kind überhauptpränataldiagnostisch erhoben und weitergegebenwerden dürfen, zumal die Verletzung des"informationellen Selbstbestimmungsrechts" desKindes zu seinem Tode führen kann.

Kosten-Nutzen-Abwägungen zumLebensrecht von Menschen mitBehinderungenDer Bundesregierung sind die Arbeiten von Stac-kelberg (Dissertation 1980) und Passarge (1979),die Kosten-Nutzen-Analysen anstellen und dabeiden Aufwendungen für rechtzeitige pränataldia-gnostische Erfassung und nachfolgende Abtrei-bung behinderter Kinder die Kosten für Betreuung,Therapie und Rehabilitation gegenüberstellen, un-

bekannt. Zudem seien sie schon 16 bis 17 Jahrealt (Antwort zu Frage 19).

Passarge und Rüdiger befürworten einen konse-quenten Einsatz von Pränataldiagnostik zur"Prävention" von Kindern mit Down-Syndrom, denn"durch primäre Pränataldiagnostik bei allen Müt-tern ab 38 Jahren würden in der gesamten Bun-desrepublik Deutschland die Kosten dieser Unter-suchung nur etwa 1/4 der erforderlichen Aufwen-dungen zur Pflege der Kinder mit Trisomie 21 be-tragen. In absoluten Zahlen standen Aufwendun-gen für die Pflege der Kinder von jährlich rund DM61,6 Mill. den Aufwendungen für ihre Prävention inHöhe von rund DM 13,5 Mill. gegenüber. Dieswurde bei einer Kosten/Nutzen-Relation von 0,25jährlich eine Einsparung von rund DM 48 Mill. be-deuten" (Passarge,E. und Rüdiger,W.: GenetischePränataldiagnostik als Aufgabe der Präventivmedi-zin. Eine Kosten/Nutzen-Analyse, Enke-Verlag1979, S. 23). Diese Kosten/Nutzen-Bewertung vonMenschen mit Behinderung ist keineswegs einekrasse Außenseitermeinung, die weitgehend un-beachtet geblieben wäre. Die Arbeit von Passargeund Rüdiger wurde vielmehr mit dem Hufeland-Preis der Colonia-Versicherung ausgezeichnet.Professor Eberhard Passarge ist seit 1976 Leiterdes Instituts für Humangenetik der Universität Es-sen, und er war bis vor einem Jahr Präsident derDeutschen Gesellschaft für Humangenetik.

Stackeiberg stellt in seiner Dissertation ähnlicheÜberlegungen an: "In einer Zeit der knapper wer-denden öffentlichen Mittel muß überlegt werden,ob es nicht billiger ist, das Leben behinderter Kin-der zu verhindern... Der öffentliche wie auch derprivate Wohlstand steigt, wenn es keine behinder-ten Kinder mehr gibt" (Hans Heinrich Freiherr vonStackeiberg: Probleme der Erfolgskontrolle prä-ventivmedizinischer Programme - dargestellt amBeispiel einer Effektivitäts- und Effizienzanalysegenetischer Beratung, Inaugural-Dissertation zurErlangung der wirtschaftswisenschaftlichen Dok-torwürde, Marburg 1980). Auch diese Arbeit bliebnicht unbeachtet. Stackeiberg erhielt am 25. No-vember 1981 den vom Bundesheitsminister für Ar-beit und Sozialordnung ausgeschriebenen Ge-sundheitsökonomiepreis, die Laudatio hielt diedamalige Parlamentarische Staatssekretärin AnkeFuchs (SPD) (Sozialpolitische Informationen, hrsg.vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialord-nung, 04.12.1981; sowie: Marburger Dissertationerrang 1. Preis. Arbeit eines Volkswirtschaftlersüber genetische Beratung ausgezeichnet, in: Mar-burger Universitäts-Zeitung 10.12.1981).

Ähnliches diskutierte 1985 ein Beitrag in einer re-nommierten gynäkologischen Fachzeitschrift: "Esist evident, daß die Versorgung eines auf Dauernicht lebensfähigen, schwer mißgebildeten Kindessomatisch und psychisch, pflegerisch und finanzielleinen unvergleichlich höheren Kostenaufwand er-fordert, als diese intensive Diagnostik und der dar-aus eventuell resultierende frühzeitige Schwanger-schaftsabbruch" (Schneider, J.: Kosten-Nutzen-Qualität; in: Archives of Gynecology and Obstetrics(1985) 507-515; zit. n. Katrin Meise: PränataleDiagnostik und die Nichtbehandlung schwerstbe-hinderter Neugeborener in ihren Auswirkungen aufdas Lebensrecht behinderter Kinder. Eine biblio-

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graphische Übersicht über medizinische Fachzeit-schriften und in Ausnahmefällen einschlägigeFachbücher von 1981-1991, exemplarisch darge-stellt an der BRD, Großbritannien und den USA.Schriftliche Hausarbeit, 21.04.1992, vorgelegt imRahmen der Ersten Staatsprüfung für das Lehramtfür Sonderpädagogik; Seminar für Sondererzie-hung und Rehabilitation der Körperbehinderten,Heilpädapogische Fakultät der Universität zuKöln).

An der Universitätskinderklinik Greifswald in derehemaligen DDR wurde in Bezug auf Spina bifidadiskutiert, wenn man "die schwerwiegenden Fol-gen für die Entwicklung von Kindern mit Meningo-myeozelen, den erheblichen Aufwand für die Re-habilitation dieser Patienten einschließlich der Be-lastung für die betroffenen Familien" bedenke, sogewinne die Prävention durch pränatale Erfassungund "Intervention durch Abbruch der Schwanger-schaft" an Bedeutung (Jahrig,K.; Wuchner.U.: In-zidentz der Spina bifida occulta bei Angehörigenvon Kindern mit Myelodisplasie; in: Zentralbl. Gy-näkolog.107 (1985) 821-826; zit. n. Katrin Meise,a.a.O.)

Es ist zu begrüßen, daß derartige Überlegungendie Entscheidungen der Bundesregierung nichtbeeinflussen (Antwort zu Frage 19). Dennoch istdas Kosten-Nutzen-Denken in Bezug auf Behinde-rungen nicht aus der Welt. Das zeigt deutlich derFall der Osteroder AOK, die vor einem Jahr eineKlage vor dem Landgericht Göttingen gegen einenGynäkologen angestrengt hatte, weil dieser eineBehinderung eines Ungeborenen so spät diagno-stiziert hatte, daß die Frist von 22 Wochen für diedamals noch geltende eugenische Indikation über-schritten war. Eine Abtreibung war daher nichtmehr möglich.

Die AOK wollte den Arzt für ihren Schaden haftbarmachen, der durch die lebenslange Betreuung desKindes entstehe und durch rechtzeitige Abtreibungvermeidbar gewesen wäre (vgl. Fritsch.U.; Muhl-haus.K.: Pränataldiagnostik und Regreß. Spiegelunseres Menschenbildes, in: NiedersächsischesÄrzteblatt 9/1995). Offenbar existiert ein Gedan-kengut, das in der Vermeidung Nicht-Gesunder einlegitimes Anliegen einer "Gesundheitskasse" sieht.

Solche Befürchtungen werden auch gestützt durchdie Aussage von Medizinern der Würzburger Uni-versitäts-Frauenklinik, die in einer aktuellen Fach-publikation über 95 Abtreibungen im zweiten unddritten Schwangerschaftsdrittel (15. bis 31.Schwangerschaftswoche) berichten, die "zumeistaufgrund einer embryopathischen Indikation" er-folgten; "Die Anzahl an vorzeitigen Schwanger-schaftsbeendigungen nach dem ersten Trimenondurfte aufgrund der Intensivierung der Pränataldia-gnostik in Zukunft weiter zunehmen." (Müller,T.;;Backe, J.; Rempen.A.: Vorzeitige Schwanger-schaftsbeendigung im II. und III. Trimenon; in: Ge-burtshilfe und Frauenheilkunde 56 (1996), Mai1996, S. 234-238)

Abtreibungsmethoden bei spätenSchwangerschaftsabbrüchen undÜberleben des KindesBesonders wertvoll und erfreulich ist die Klarstel-lung durch die Bundesregierung, das "Ziel der Be-handlung" bei vorzeitiger Schwangerschaftsbeen-digung "darf jedoch nicht die Tötung des Kindessein" (Antwort zu Frage 21).

Einer solchen Klarstellung bedarf es umso mehr,als auch in Fachpublikationen von renommiertenExperten die gegenteilige Auffassung verbreitetwird. So stellt Professor Fritz K. Beller, seinerzeitgeschäftsführender Direktor des Zentrums fürFrauenheilkunde der Westfälischen Wilhelms-Uni-versität Münster, im Standardwerk "Pränatale Me-dizin" (hrsg. von Wolfgang Holzgreve, Springer-Verlag 1987) unter Berufung auf eine Entschei-dung des Bundesgerichtshofes die Tötung desKindes als Ziel des Eingriffes dar: "Danach ist dieErmöglichung des Überlebens eines Fetus nacheinem versuchten Abbruch als rechtswidrig be-zeichnet worden.... Wenn diese Überlegungen desBundesgerichtshofes auf die 15. Schwanger-schaftswoche und darüber hinaus übertragen wer-den - und es besteht kein ersichtlicher Grund, dasnicht zu tun -, dann kann sich der unterbrechendeArzt nicht mehr auf die abtötende Kraft der Wehenverlassen, die mitunter versagt, denn das Überle-ben des Kindes nach induziertem Abort, z.T. ab-hängig von der verwandten Methode, im 2. Trime-non ist in etwa 1 % zu erwarten. Damit wird derFetocid verlangt, d.h. das Abtöten des Fetus vorder Einleitung" (Fritz K. Beller: Rechtliche und ethi-sche Aspekte der pränatalen Diagnostik, in Wolf-gang Holzgreve [Hrsg.]: Pränatale Medizin, Sprin-ger-Verlag 1987, S. 141-149).

Abtreibung mit demDesinfektionsmittel RivanolDerartige Erwägungen haben offenbar auch dazubeigetragen, daß im Zentrum für Frauenheilkundeder Westfälischen Wilhelms-Universität Münstermit dem Desinfektionsmittel "Rivanol" (vgl. Antwortzu Frage 22) abgetrieben wird, dem als besonde-rer Vorzug das "sichere Sterben des Feten" zuge-schrieben wird. Dort tätige Mediziner "favorisierendie intraamniale Instillation von 10 ml Ethacridin-säure (Handelsname Rivanol) als 1% Lösung. Ri-vanol stößt die Prostaglandinsynthese im Uterusan und weicht den Muttermund von innen auf, be-vor schmerzhafte Wehentätigkeit beginnt. Der Fetstirbt sicher ab, bevor er zur Welt kommt"(Westendorp, A. und Holzgreve, W.: Abortinduktionmit Rivanol im 2. Schwangerschaftstrimenon, inGyne, 1.1.89, S. 8-10; zit. n. Josefine Lorenzen:Konkretisierung des Kindsverlustes beim Schwan-gerschaftsabbruch aus kindlicher Indikation, Dis-sertation Münster 1993, S. 105). Über wesentlichmehr Erfahrungen mit Rivanol "verfügt man inChina, wo Rivanol wegen der geringeren Kompli-kationsrate, dem sicheren Sterben des Feten undder kürzeren Belastung für die Frau bevorzugtwird" (Westendorp..., zit. n. Lorenzen, a.a.O.). Eine1983 veröffentlichte chinesische Arbeit hatte dieMünsteraner angeregt, diese Methode anzuwen-

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den (Beller, F.K.; Zimmermann, R.E.; Winkler,U.H.; Seitzer, D.; Holzgreve, W.: Lack of Coagula-tion Defects After the Intraamniotic Instillation ofEthacridine (Rivanol) for Second Trimester Abor-tion; in: Archives of Gynecology and Obstetrics(1988)243:1-4).

Nach Auskunft des Bundesinstituts für Arzneimittelund Medizinprodukte in Berlin dringt Rivanol durchdie ungeschützte, besonders empfindliche Hautdes ungeborenen Kindes ein und zerstört die Zel-len, u.a. durch Ausflockung von Eiweißen. DasKind stirbt besonders qualvoll und wird nach "36-44 Stunden" (Antwort zu Frage 22), andere Anga-ben lauten "im Mittel 49,5 Stunden (5-175)"(Westendorp..., zit. n. Lorenzen, a.a.O.) ausgesto-ßen. Bis Juli 1987 wurden bereits mindestens 100Abtreibungen mit Rivanol im Zentrum für Frauen-heilkunde der Westfälischen Wilhelms-UniversitätMünster durchgeführt (Beller, F.K.; Zimmermann...a.a.O.). Weitere 52 Rivanol-Abtreibungen wurdenallein im Zeitraum zwischen Juli 1990 und Juli1991 in Münster durchgeführt (Lorenzen, a.a.O.).Bei 9 von 10 Patientinnen, die zwischen 18 und 24Wochen - im Mittel 22 Wochen - schwanger waren,habe Rivanol Wehen ausgelöst, und "ein toter Fe-tus wurde ausgestoßen" (Beller, F.K.; Zimmer-mann ..., a.a.O.).

Die Bundesregierung spricht in Bezug auf Abtrei-bungen im dritten Schwangerschaftstrimenon da-von, diese erfolgten "in der Regel durch Induktioneiner Wehentätigkeit". Methoden wie Rivanol je-doch zielen auch ausweislich der zitierten Äuße-rungen der Münsteraner Rivanol-Anwender vonvornherein auf die Tötung des Kindes noch imMutterleib ab. Nicht die Beendigung der Schwan-gerschaft, sondern die Lebensbeendigung desKindes steht hier also im Vordergrund. Daher istvon der Bundesregierung, die sagt "Ziel der Be-handlung .. darf jedoch nicht die Tötung des Kin-des sein" (Antwort zu Frage 21), zu fordern, daßsie diese Rechtsauffassung auch in den entspre-chenden Fachkreisen auf geeignete Weise durch-setzt. Die Rivanol-Abtreibung muß verboten wer-den.

"Liegenlassen"Dankenswerterweise stellt die Bundesregierungklar, daß ein die Abtreibung überlebendes KindAnspruch auf lebenserhaltende Maßnahmen hat,verneint aber einen gesetzgeberischen Handungs-bedarf (Antwort zu Frage 23).

Dennoch existieren Berichte wie beispielsweiseder von Hiersche aus dem Jahre 1990, daß immerhäufiger Fälle auftreten, in denen infolge einerspäten Abtreibung ein lebendes Frühgeboreneszur Welt kommt. Dies hinge damit zusammen, daß"großzügig die Indikation auch für einen Späte-stabbruch aus sogenannter kindlicher Indikationgestellt und dieser dann ohne weiteres durchge-führt" werde. Es trete dann die Frage in den Vor-dergrund, ob das Kind aktiv am Leben erhaltenoder unter "Basisversorgung" liegengelassen wer-den solle; diese Frage unterliege jedoch keinerumfassenden rechtlichen Regelung und könne da-her nur im Einzelfall entschieden werden(Hiersche, H.-D.: Perinatologie und Geburtshilfe

unter medizinisch-rechtlichen Gesichtspunkten; in:Das Medizinrecht 6(1990), 309-313; zit. n. Meise,a.a.O.).

Meise zitiert einen authentischen Bericht, der auchwegen seiner Begründung für das "Liegenlassen"erschrecken muß, folgendermaßen: Hepp (1983)berichtet von einem Fall, der den engen Zusam-menhang von Abtreibung und Nichtbehandlungverdeutlicht: Am Ende der 21. Schwangerschafts-woche wurde bei einer Schwangeren der Abbruchaus kindlicher Indikation eingeleitet - das Kindwurde lebend geboren (Frauenklinik Homburg).Hepp schildert folgendes Vorgehen: "Im Sinne ei-ner passiven Sterbehilfe bzw. Tötung durch Un-terlassen, indem wir auf jegliche Reanimations-maßnahmen verzichteten, beobachteten wir dasKind, bis es nach einer Stunde und 20 Minutenkeine Atmung und keinen Herzschlag mehr hatte"(S. 135). Als Begründung führt Hepp an, ein Über-leben des Kindes wäre auch bei aktiven Maßnah-men unwahrscheinlich gewesen; außerdem habeeine Lebensrettung "im Gegensatz zur primärenelterlichen und ärztlichen Intention gestanden".(Hepp, H.: Schwangerschaftsabbruch aus kindli-cher Indikation. Aus der Sicht eines Frauenarztes;in: Geburtsh. Frauenheilkd. 43(1983), S. 131-137;zit. n. Meise, a.a.O.).

Solche Beispielfälle verdeutlichen die Nähe zwi-schen Abtreibung aus letztlich eugenischer Moti-vation und Früheuthanasie. Die Bundesregierungweist einen "Vergleich der medizinischen Indikationmit einer Früheuthanasie" zurück (Antwort zuFrage 25). Allerdings wurden mit dem Inkrafttretendes SFHÄndG die Voraussetzungen der medizini-schen Indikation gegenüber der seit 1992 gültigenFassung wieder erweitert, und zwar um die Worte"unter Berücksichtigung der gegenwärtigen undzukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren"- denn so konnten "diese Fallkonstellationen auf-gefangen werden" (Beschlußempfehlung und Be-richt des Ausschusses für Familie, Senioren,Frauen und Jugend vom 28.06.1995, Drucksache13/1850, S. 26; sowie Begründung des SFHÄndGzu § 218 a Abs 2 und 3).

Der Pränataldiagnostiker Beller bringt"Früheuthanasie" und pränatale Diagnostik ineinen weiteren erschreckenden Zusammenhang,wenn er es als nicht überraschend bezeichnet,"daß im Zusammenhang mit dem Kostenfaktor be-reits die Forderung nach einem Gesetz erhobenwurde, das im Interesse der Gesellschaft einenAbbruch erzwingt, auch gegen den Wunsch oderdas Recht der Eltern. Derartige Diskussionen er-fordern den Begriff des 'lebensunwerten' Lebensim Zusammenhang mit dem Begriff'Früheuthanasie'.... Damit wird die Dimension derethischen Spannweite klar, welche die pränataleDiagnostik aufgeworfen hat" (Fritz K. Beller:Rechtliche und ethische Aspekte der pränatalenDiagnostik, in Wolfgang Holzgreve [Hrsg.]: Präna-tale Medizin, Springer-Verlag 1987, S. 141-149).

In ihrer Antwort auf die Frage, worin nach Auffas-sung der Bundesregierung - abgesehen von derunterschiedlichen formaljuristischen Einordnung -der wesentliche ethische Unterschied zwischen dergezielten Tötung eines lebensfähigen Kindes im

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Mutterleib vor der eigentlichen Abtreibung und derTötung eines zunächst überlebenden Kindes direktnach der Abtreibung bestehe, wird deutlich, daßdieser Unterschied letztlich nur formaljuristisch ist.Denn, so die Bundesregierung, es "ist eine Beant-wortung der Frage unter Außerachtlassung der ju-ristischen Einordnung bzw. Notwendigkeiten nichtmöglich" (Antwort zu Frage 24).

Typisierung und Diskriminierungbestimmter Anlagen oderBehinderungenDie Bundesregierung lehnt eine mancherorts dis-kutierte "Negativliste" solcher Befunde ab, die"automatisch" zur Abtreibung des Kindes führen(Antwort zu Frage 31). Dies ist ausdrücklich be-grüßenswert.

Allerdings darf der Gesetzgeber nicht übersehen,daß eine Typisierung bestimmter Behinderungs-formen und eine damit einhergehende Diskriminie-rung von Menschen mit solchen Behinderungenschon weit unterhalb der Schwelle einer formellen"Negativliste" einsetzen. Das mehrfach zitierteHintergrundpapier von Nippert/Horst im Auftragdes Büros für Technikfolgen-Abschätzung beimDeutschen Bundestag liefert auf über 200 Seiteneine Fülle von Belegen dafür. Dies betrifft auchsolche erbliche Veranlagungen, an denen das un-geborene Kind erst in ferner Zukunft möglicher-weise erkranken wird und die pränatal festgestelltwerden können.

In Frage 30 waren als Beispiele für diese"fernwirkenden" Veranlagungen Chorea Hunting-ton, Diabetes und Mamma-Carcinom aufgeführt.Den in der Antwort behaupteten Zusammenhangmit einer medizinischen Indikation enthält dieFrage 30 nicht. Dennoch liegt in der Herstellungdieses Zusammenhangs durch die Bundesregie-rung das eigentliche Problem: denn gerade erstdurch die Mitteilung des Befundes durch den Arztkonnte sich eine solche Situation ergeben, in derdie Voraussetzungen einer medizinischen Indika-tion (wie in den Antworten zu Fragen 21, 25, 26und 31) erwogen werden konnten. Deshalb ist dieMitteilung solcher Befunde zu untersagen.

Zusammenfassende Bewertung derAntwort auf die Kleine AnfrageDie Beantwortung der Kleinen Anfrage durch dieBundesregierung zeigt auf, daß ein besserer Le-bensschutz für ungeborene Kinder, wie im Eini-gungsvertrag (Art. 31 Abs. 4) gefordert, zumindestnicht belegbar ist. Insbesondere werden gravie-rende Mängel im verfügbaren Instrumentarium zurErfüllung der Beobachtungspflicht des Gesetzge-bers deutlich. Deren unverzügliche Beseitigung istBedingung für weitere Ansätze zur Erfüllung derNachbesserungspflicht.

Verwertbare Erfahrungen aus der Beratungspraxisliegen dem Gesetzgeber nicht vor, und es ist über-haupt fraglich, ob alle Landesregierungen tatsäch-lich gewillt sind, diese zu sammeln. Die Meldungenfür die Bundesstatistik sind offensichtlich unvoll-

ständig, die derzeit meist fehlende Zulassungs-pflicht für Abtreibungseinrichtungen läßt kaumverläßliche Daten erwarten. Daher wäre ein Rück-gang der dem Statistischen Bundesamt zur Kennt-nis gelangenden Abtreibungszahlen kein glaub-würdiger Anhaltspunkt für eine Bewertung derWirksamkeit des Lebensschutzes. Im Gegenteillassen die aufgezeigten Mängel der Bundesstati-stik die Befürchtung aufkommen, daß hier geradedas Geschehen beschönigt und Spuren verwischtwerden.

Insbesondere bei der Abtreibung behinderter Kin-der zeigt sich, daß das Geschehen für den Ge-setzgeber derart verschleiert ist, daß er seiner Be-obachtungspflicht nicht nachkommen kann. Demsteht nur die vom Wegfall der embryopathischenIndikation erhoffte "Klarstellung" gegenüber, be-hinderte Ungeborene genossen "grundsätzlich"nicht weniger an Lebenschutz. Angesichts in derVergangenheit erhobener empirischer Daten überEinstellungen zu pränataler Diagnostik und Abtrei-bung muß geklärt werden, ob diese "Klarstellung"in Fachkreisen und Bevölkerung aufgenommenwurde. Anderenfalls bestünde dringender Hand-lungsbedarf - und dies auch wegen der Fernwir-kung auf das Lebensrecht geborener Menschenmit Behinderung, Sterbender, Komapatienten undalter Menschen.

Die Initiativgruppe "Schutz des menschlichen Le-bens" innerhalb der CDU/CSU-Fraktion wird aufdie Schließung der mit der Kleinen Anfrage aus-geleuchteten gesetzlichen Lücken hinarbeiten undggf. entsprechende Gesetzesinitiativen vorberei-ten.

Die Kleine Anfrage zeigt auch, daß das Lebens-recht behinderter wie nicht-behinderter Menschenvor der Geburt mit dem Lebensrecht behinderterund nicht-behinderter Menschen nach der Geburtverknüpft ist. Den Gesetzgeber trifft letzten Endesdie Verantwortung, doch sind alle Bürgerinnen undBürger guten Willens aufgerufen, die Mauern desNichtwissens, die Mauern des Wegschauens unddes Beschweigens einzureißen. Diese Mauernmüssen fallen.

Bonn, den 13. August 1996

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Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen, JugendDer Staatssekretär

An die Präsidentin des Deutschen BundestagesParlamentssekretariatSaemischstraße 553113 Bonn

Bonn, den 19. Juli 1996Kleine Anfrage der Abgeordneten Hubert Hüppe, Monika Brudlewsky, Norbert Geis, Heinz-Günter Bargf-rede, Dr. Wolf Bauer, Dr. Joseph-Theodor Blank, Wolfgang Bosbach, Klaus Brähmig, Rudolf Braun, GeorgBrunnhuber, Klaus Bühler, Manfred Carstens, Hubert Deittert, Albert Deß, Wolfgang Engelmann, Dr. Karl H.Fell, Erich G. Fritz, Peter Götz, Dr.WoIfgang Götzer, Kurt-Dieter Grill, Manfred Grund, Otto Hauser, ErnstHinsken, Josef Hollerith, Siegfried Hornung, Helmut Jawurek, Dr. Dionys Jobst, Volker Kauder, Peter Keller,Norbert Königshofen, Karl-Josef Laumann, Werner Lensing, Heinrich Lummer, Dr. Michael Luther, RudolfMeinl, Hans Michelbach, Dr. Gerd Müller, Engelbert Nelle, Friedhelm Ost, Dr. Peter Paziorek, Hans-WilhelmPesch, Helmut Rauber, Peter Rauen, Otto Regenspurger, Klaus Dieter Reichardt, Erika Reinhardt, RolandRichter, Dr. Norbert Rieder, Klaus Riegert, Franz-Xaver Romer, Wilhelm Ronsöhr, Dr. Klaus Rose, Kurt J.Rossmanith, Roland Sauer, Hartmut Schauerte, Heinz Schemken, Dr. Andreas Schockenhoff, Wilhelm JosefSebastian, Heinz-Georg Seiffert, Johannes Seile, Jürgen Sikora, Johannes Singhammer, Freiherr Dr. Wolf-gang von Stetten, Andreas Storm, Matthäus Strebl, Dr. Klaus-Dieter Uelhoff, Wolfgang Vogt, Alois Graf vonWaldburg-Zeil, Kersten Wetzel, Hans- Otto Wilhelm, Elke Wülfing, Benno Zierer, Wolfgang ZöllerBT-Drs. 13/5248

Tötung ungeborener Kinder, staatliches Schutzkonzept,Beobachtungs-und Nachbesserungspflicht

Mit der Einführung der sogenannten "Beratungs-regelung", verknüpft mit einer medizinischen undeiner kriminologischen Indikation (Schwangeren-und Familienhilfeänderungsgesetz - SFHÄndG -vom 21. August 1995), trifft den Gesetzgeber, wiedas Bundesverfassungsgericht in seinem Urteilvom 28. Mai 1993 klargestellt hat, die Verpflich-tung, "die Auswirkungen seines neuen Schutzkon-zeptes im Auge zu behalten (Beobachtungs- undNachbesserungspflicht)" (BVerfGE 88, 259). Beierkannten Mängeln ist der Gesetzgeber verpflich-tet, auf deren Beseitigung sowie die "Sicherstel-lung eines dem Untermaßverbot genügendenSchutzes hinzuwirken (Korrektur- oder Nachbesse-rungspflicht)" (BVerfGE 88, 309).Einen Wechsel im Schutzkonzept hat der Gesetz-geber auch bei der bisherigen eugenischen/em-bryopathischen Indikation vollzogen, für die biszum Inkrafttreten des SFHÄndG eine Frist von 22Wochen gegolten hatte, und deren Fallkon-stellationen nunmehr in der zeitlich unbefristetenmedizinischen Indikation aufgefangen werden. Hiergilt daher gleichermaßen - insbesondere auch un-ter Berücksichtigung des im Grundgesetz veran-kerten Verbotes einer Diskriminierung von Men-schen mit Behinderung - eine Beobachtungs- undNachbesserungspflicht.Im Namen der Bundesregierung teile ich zu derKleinen Anfrage mit:

1. Welche Bundes- und Landesbehörden, Körper-schaften des öffentlichen Rechts oder ggf. andereInstitutionen nehmen an der Erhebung der Datenund anderer Erkenntnisse teil, die für die Erfüllungder Beobachtungs-, Korrektur- und Nachbesse-rungspflicht des Gesetzgebers ausschlaggebendsind? Welches sind die gesetzlichen Grundlagenhierfür?

AntwortZur Erfüllung der Beobachtungs-, Korrektur- undNachbesserungspflicht des Gesetzgebers ist esvor allem erforderlich, Erkenntnisse aus dem Be-reich der Schwangerschaftskonfliktberatung undErkenntnisse über die vorgenommenen Schwan-gerschaftsabbrüche zu erlangen.Gem. § 10 Abs. 1 Schwangerschaftskonfliktgesetz(SchKG) sind die Beratungsstellen verpflichtet, dieihrer Beratungstätigkeit zugrundeliegenden Maß-stäbe und die dabei gesammelten Erfahrungenjährlich in einem schriftlichen Bericht niederzule-gen. Als Grundlage für diesen schriftlichen Berichthat die Person, die eine Schwangerschaftskonflikt-beratung durchführt, gem. § 10 Abs. 2 SchKG überjedes Beratungsgespräch eine Aufzeichnung zufertigen.Erkenntnisse über die vorgenommenen Schwan-gerschaftsabbrüche werden aufgrund der Bundes-statistik gewonnen, die gem. § 15 SchKG über dieunter den Voraussetzungen des § 218 a Abs. 1 bis3 Strafgesetzbuch (StGB ) vorgenommenenSchwangerschaftsabbrüche geführt wird. Die Stati-stik wird vom Statistischen Bundesamt erhobenund aufbereitet. Über das SchKG hinaus ist auchdas Bundesstatistikgesetz als gesetzliche Grund-lage einschlägig.Auf Landesebene sammeln die jeweils zuständi-gen Landesministerien die einschlägigen Erkennt-nisse.Erkenntnisse aus der Beratung werden durchAuswertung der Angaben aus der Schwanger-schaftskonfliktberatung (i.S.d. §10 SchKG) gewon-nen.

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Familienstand und Alter der Schwangeren, Zahl ih-rer Kinder, Alter des abgetriebenen Kindes, mit In-dikationen bzw. innerhalb 12-Wochen-Frist nachBeratung, Vornahme in Arztpraxis oder Kranken-haus)?

AntwortNach dem Inkrafttreten des Schwangeren - undFamilienhilfeänderungsgesetzes (SFHÄndG) am 1.Oktober 1995 (die Bestimmungen, die die Bundes-statistik über die Schwangerschaftsabbrüche be-treffen, sind erst am 1. Januar 1996 in Kraft ge-treten) sind im vierten Quartal 1995 25.561Schwangerschaftsabbrüche gemeldet. Dieseschlüsseln sich wie folgt auf:

Schwangerschaftsabbrücheinsgesamt: 25.561

Familienstand:ledig 10.203verheiratet 13.408verwitwet 119geschieden 1.727unbekannt 104

Alter der Schwangeren:unter 15 5615 bis 18 78818 bis 25 6.04725 bis 30 6.50030 bis 35 6.33735 bis 40 3.99840 bis 45 1.53645 und mehr 151unbekannt 148

Vorangegangene Lebendgeburten:keine 9.3901 6.3032 6.7913 2.1354 6335 und mehr 309

Dauer der abgebrochenen Schwangerschaft:unter 6 Wochen 2.3356 bis 8 Wochen 8.3158 bis 10 Wochen 9.10610 bis 13 Wochen 5.53213 bis 23 Wochen 26023 und mehr Wochen 6unbekannt 7

Begründung des Abbruchs:allgemein-medizinische Indikation 1.279psychiatrisch-medizinische Indikation 85eugenische Indikation1 174kriminologische Indikation 18Beratungsregelung 23.941unbekannt 64

Ort des Eingriffs:Krankenhaus 9.011gynäkologische Praxis 16.550

1 Seit 01.10.1995 ist die eugenische Indikationentfallen. Es handelt sich offensichtlich um zeitlichverzögerte Meldungen aus vorhergehendenQuartalen.

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Zuständige Ministerien in den Ländern

Baden-Württemberg Sozialministerium

Bayern Bayerisches Staatsministe-rium für Arbeit und Sozial-ordnung, Familie, Frauenund Gesundheit

Berlin Senatsverwaltung für Ge-sundheit und Soziales

Brandenburg Ministerium für Arbeit, So-ziales, Gesundheit undFrauen

Bremen Senator für Frauen, Ge-sundheit, Jugend, Sozialesund Umweltschutz

Hamburg Behörde für Arbeit, Gesund-heit und Soziales der Freienund Hansestadt Hamburg

Hessen Hessisches Ministerium fürUmwelt, Energie, Jugend,Familie und Gesundheit

Mecklenburg-Vorpommern Sozialministerium

Niedersachsen Niedersächsisches Frauen-ministerium

Nordrhein-Westfalen Ministerium für Arbeit Ge-sundheit und Soziales

Rheinland-Pfalz Ministerium für Arbeit, So-ziales und Gesundheit

Saarland Ministerium für Frauen, Ar-beit, Gesundheit und So-ziales

Sachsen Sächsisches Staatsmi-nisterium für Soziales, Ge-sundheit und Familie

Sachsen-Anhalt Ministerium für Arbeit, So-ziales und Gesundheit

Schleswig-Holstein Ministerium für Arbeit, Ge-sundheit und Soziales

Thüringen Ministerium für Soziales undGesundheit

Zu Schwangerschaftsabbrüchen verfügen einigeLänder neben Erkenntnissen aus der Bundesstati-stik über eigene statistische Erhebungen. Außer-dem werden Erkenntnisse durch die Wahrneh-mung der Aufgabe als oberste Landesgesund-heitsbehörde gesammelt. Hierbei werden auch Er-kenntnisse der Landesärztekammern und Kran-kenkassen berücksichtigt.Grundlagen für die Erkenntnisgewinnung der Län-der sind zunächst die o.g. bundesgesetzlichenVorgaben. Diese werden, je nach Bundesland, er-gänzt durch Ausführungsgesetze, -Verordnungenoder -richtlinien.Im übrigen verfügen auch die zentralen Bera-tungsträger teilweise über einschlägige Erkennt-nisse.

2. Wie viele Abtreibungen wurden seit Inkrafttretendes SFHÄndG gemeldet (aufgeschlüsselt nach

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Aufgrund der Umstellung der Bundesstatistik überSchwangerschaftsabbrüche auf die neue gesetzli-che Grundlage nach §§ 15 bis 18 SchKG, die eineReihe an klärenden Rückfragen und eine erhebli-che Anzahl von Erinnerungen der Einrichtungen andie Meldepflicht erforderlich gemacht hat, liegendie Daten für das erste Quartal 1996 noch nichtvor. Die ersten Ergebnisse werden im viertenQuartal 1996 bereitstehen.

3. Besteht weiterhin die Problematik des"Meldedefizits", auf die das Statistische Bundes-amt in seinen zurückliegenden Erhebungen zurAbtreibung stets hingewiesen und als Ursacheauch unterschiedliche "Auskunftsbereitschaft" be-nannt hatte, und inwieweit kann sie quantifiziertwerden?

Antwort:Mit den seit 1. Januar 1996 geltenden Regelungenzur Bundesstatistik über Schwangerschaftsabbrü-che - §§ 15 bis 18 SchKG - sind auf der Grundlagedes Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom28. Mai 1993 zur Erfüllung der Beobachtungspflichtdes Gesetzgebers Verbesserungen zum Nachweisder durchgeführten Abbrüche vorgenommen wor-den. Insbesondere die in § 17 SchKG enthaltenenHilfsmerkmale ermöglichen es dem StatistischenBundesamt, bei fehlenden oder unklaren Angabenbei den Auskunftspflichtigen zurückzutragen unddie Vollständigkeit der eingehenden Meldungen zukontrollieren sowie die Einrichtungen, die keineMeldungen abgegeben haben, an ihre Auskunfts-pflicht zu erinnern.Das Statistische Bundesamt hat im Dezember1995 begonnen, die im SchKG geforderten neuenRegelungen zur Bundesstatistik über Schwanger-schaftsabbrüche umzusetzen, zu organisieren unddurchzuführen. Die Erhebungen laufen noch, sodaß zur Zeit Einschätzungen über die Vollständig-keit der Erfassung nicht möglich sind.

4. Ist der Bundesregierung bekannt, worauf die"Erkenntnisse" der Landesärztekammern bzw. derzuständigen Gesundheitsbehörden basieren, wennsie dem Statistischen Bundesamt nach §18 desSchwangerschaftskonfliktgesetzes (SchKG) An-schriften von Ärzten bzw. von Krankenhäusernübermitteln, wo "nach ihren ErkenntnissenSchwangerschaftsabbrüche vorgenommen wordensind oder vorgenommen werden sollen"?

5. Wie ist sichergestellt, daß die Ländesärztekam-mern bzw. die Gesundheitsbehörden tatsächlichKenntnis von allen einschlägigen Einrichtungenerlangen, oder besteht hier ggf. noch gesetzgebe-rischer Handlungsbedarf?

Antwort:Hinsichtlich der Krankenhäuser besteht grundsätz-lich ein guter Überblick, so daß die Gewinnung vonErkenntnissen bezüglich der Krankenhäuser alsvollständig angesehen werden kann. Soweit ent-sprechende Erkenntnisse nicht von vornherein vor-liegen, kommt eine direkte Befragung der Kran-kenhäuser in Betracht.Hinsichtlich der weiteren Einrichtungen können dieFragen nicht bundeseinheitlich beantwortet wer-den.Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden,

daß die erforderlichen Erkenntnisse gesammeltwerden können.Die Landesärztekammern erhalten in einigen Län-dern (z.B. im Rahmen von Richtlinien zum ambu-lanten Operieren über ihren Auftrag zur Qualitäts-sicherung) die entsprechenden Anschriften.Darüber hinaus besteht teilweise eine Zulassungs-pflicht für Einrichtungen, in denen Schwanger-schaftsabbrüche vorgenommen werden sollen -bzw. soll eine Zulassungspflicht eingeführt werden.Über die zugelassenen Einrichtungen werden dortVerzeichnisse geführt.In Einzelfällen beruhen die Erkenntnisse der Lan-desärztekammern bzw. der zuständigen Gesund-heitsbehörden zum Teil auch auf Mitteilungen derKassenärztlichen Vereinigungen.Die Frage, ob gesetzgeberischer Handlungsbedarfbesteht, wird in den Ländern, je nach spezifischerSituation des Landes, unterschiedlich beurteilt. Soist es z.B. in Bayern vorgesehen, eine Zulas-sungspflicht, verbunden mit einer Pflicht zur Wei-tergabe der Information u.a. an die Landesärzte-kammer gesetzlich zu normieren.

6. Hält es die Bundesregierung für möglich, daß esauch solche Einrichtungen gibt, die nicht erfaßtwerden, wenn ja, welche Maßnahmen hat dieBundesregierung ergriffen, um eine vollständigeErfassung sicherzustellen?

Antwort:Über Einrichtungen, die nicht erfaßt worden sind,liegen der Bundesregierung derzeit noch keine Er-kenntnisse vor. Darüber hinaus wird auf die Ant-wort zur Frage 3 verwiesen.

7. Ist es zutreffend, daß das Statistische Bundes-amt mangels hinreichender anderer "Erkenntnisse"die Ärztekammern um die Anschriften sämtlicherGynäkologen ersucht hat, wie es der sächsischeDatenschutzbeauftragte in der Presse (FAZ vom29.04.1996) dargestellt hat? Wurden hierbei auchAnschriften weiterer Ärzte übermittelt, die zwarkeine Fachärzte für Gynäkologie sind, aber den-noch Abtreibungen durchführen?

Antwort:Im Rahmen der Vorbereitung und Durchführungder Erhebung hat das Statistische Bundesamt ge-mäß § 18 Abs. 3 Nr. 1 SchKG die Landesärzte-kammern und die zuständigen Gesundheitsbehör-den in den Ländern aufgefordert, die entsprechen-den Anschriften der Auskunftspflichtigen zu über-mitteln. Über die Fachrichtung der in Frage kom-menden Ärzte hat das Statistische Bundesamtkeine Informationen erhalten.Durch den Artikel des Sächsischen Datenschutz-beauftragten ist auch der Bundesregierung be-kannt, daß sich die Sächsische Landesärztekam-mer nicht in der Lage sieht, die entsprechendenAnschriften zu übermitteln. Das Statistische Bun-desamt hat von seinem Recht Gebrauch gemacht,gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Bundesstatistikge-setz zur Vorbereitung und Durchführung der Bun-desstatistik über Schwangerschaftsabbrüche nachdem SchKG Angaben zur Klärung des Kreises derzu Befragenden zu erheben.

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8. Wurde anhand der anonymisierten Aufzeich-nungen über jedes Beratungsgespräch, zu derenAnfertigung die Beratungsstellen nach § 10 SchKGverpflichtet sind, die Zahl der Beratungen erhoben,und wie viele Beratungsgespräche wurden dem-nach seit Inkrafttreten des SFHÄndG durchge-führt?

Antwort:Nach den Erkenntnissen der Bundesregierung wirddie Anzahl der Beratungsgespräche in den Län-dern erfaßt.Eine Beantwortung der Frage bezüglich der Anzahlder Beratungsgespräche seit Inkrafttreten des SF-HÄndG ist nicht möglich. Zum Teil sind die ent-sprechenden Erhebungen der Anzahl der Bera-tungsgespräche für das Jahr 1995 noch nicht ab-geschlossen. Zu berücksichtigen ist darüber hin-aus, daß die Erhebungen sich in der Regel nur aufJahreszeiträume und nicht auf Monatszeiträumebeziehen bzw. nicht nach den Zeiträumen vor undnach dem 01.10.1995 differenzieren.Überwiegend wird von einem Anstieg der Bera-tungsfälle seit dem Urteil des BVerfG vom 28. Mai1993 berichtet.In einigen Fällen liegen auch bei zentralen Bera-tungsträgern Angaben zur Anzahl der geführtenBeratungsgespräche vor. Allerdings liegt auch indiesen Fällen keine Aufschlüsselung vor, nach dereine Auskunft zu dem in Frage stehenden Zeit-raum möglich wäre.

9. Wie viele Abtreibungen innerhalb der 12-Wo-chen-Frist wurden nach Kenntnis der Bundesregie-rung seit Inkrafttreten des SFHÄndG über Kran-kenkassen abgerechnet und diesen wiederum ausLandesmitteln gemäß dem Gesetz zur Hilfe fürFrauen bei Schwangerschaftsabbrüchen in beson-deren Fällen erstattet?

Antwort:Die Abwicklung der Kostenübernahme bei nicht in-dizierten Schwangerschaftsabbrüchen nach demGesetz zur Hilfe für Frauen bei Schwanger-schaftsabbrüchen in besonderen Fällen über dieKrankenkassen kommt seit dem 01.01.1996 in Be-tracht.Infolge der sich aus dem Abrechnungsverfahrenzwischen Krankenkassen und Ländern er-gebenden zeitlichen Verzögerungen liegen denLändern überwiegend noch keine oder noch keinevollständigen Angaben vor.Eine Erfassung über die Ausgaben der GKV imRahmen der Finanzstatistik erfolgt nicht.

10. Wie viele Abtreibungen mit einer Indikation(aufgeschlüsselt nach medizinischer und krimino-logischer Indikation) wurden nach Kenntnis derBundesregierung seit Inkrafttreten des SFHÄndGvon den Krankenkassen finanziert?

Antwort:Im Rahmen der Finanzstatistik der gesetzlichenKrankenversicherung werden Angaben über dieAusgaben der GKV für Schwangerschaftsabbrüchenicht gesondert erfaßt.

11. Welche Möglichkeiten zur Beobachtung undÜberprüfung der tatsächlichen Schutzwirkung fürungeborene Behinderte bestehen außerhalb der

Erhebung als Bundesstatistik unter Berücksichti-gung des Umstands, daß von einer embryopathi-schen Indikation, für die bisher eine Frist von 22Wochen gegolten hatte, im SFHÄndG abgesehenwurde?

Antwort:Hinsichtlich der Möglichkeiten zur Beobachtungund Überprüfung der tatsächlichen Schutzwirkungist zunächst auf die Möglichkeiten der grundsätzli-chen Erkenntnisgewinnung - vgl. insofern Antwortzu Frage 1. - zu verweisen. Darüber hinaus ist ge-rade bei ungeborenen Behinderten zu beachten,daß für sie hinsichtlich eines möglichen Schwan-gerschaftsabbruchs keine Sonderregelungen be-stehen, sondern daß der Wegfall der embryopathi-schen Indikation gerade der Klarstellung diente,daß das ungeborene behinderte Leben im Ver-gleich zum ungeborenen unbehinderten Lebenkeinem Sonderstatus unterworfen ist.Zur Beobachtung, inwieweit die Schutzwirkung derstrafgesetzlichen Regelungen greift, dient letztend-lich auch die Dokumentationspflicht des Arztesüber die in Ausübung seines Berufes gemachtenFeststellungen und getroffenen Maßnahmen, aufdie das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteilvom 28. Mai 1993 (S. 122 der Urteilsfassung) hin-weist. Erkenntnisse aus diesen Aufzeichnungenkönnen z.B. berufsständische Vereinigungen, ins-besondere Landesärztekammern, aber gegebe-nenfalls auch die Strafverfolgungsbehörden ge-winnen.

12. Für wieviele der seit Inkrafttreten des SF-HÄndG durchgeführten Abtreibungen war eine Be-hinderung oder vorgeburtliche Schädigung desKindes ursächlich für die Stellung einer medizini-schen Indikation (aufgeschlüsselt nach dem Alterdes abgetriebenen Kindes) ?

Antwort:Im Rahmen des § 16 Abs. 1 Nr. 2 SchKG werdenSchwangerschaftsabbrüche unter dem Erhe-bungskriterium "rechtliche Voraussetzung desSchwangerschaftsabbruchs" erfaßt. Die statisti-sche Erfassung einer Behinderung oder vorgeburt-lichen Schädigung des Kindes im Rahmen derBundesstatistik über Schwangerschaftsabbrücheist aufgrund des Wegfalls der entsprechenden In-dikation nicht mehr möglich.

13. Wäre es nach Auffassung der Bundesregie-rung durch die gesetzlichen Vorschriften gedeckt,daß seit Inkrafttreten des SFHÄndG zunehmendschon vergleichsweise leichte oder einfach beheb-bare Behinderungen (wie etwa eine Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte) Anlaß für Abtreibungen waren,wie betroffene Ärzte in der Presse und den Medien(z.B. "Mona Lisa" vom 11.02.1996, Die Welt vom16.02.1996) berichtet haben, und welche Möglich-keiten stehen dem Gesetzgeber zur Verfügung,das Geschehen in diesem Bereich pflichtgemäß zubeobachten?

Antwort:Der Bundesregierung liegen keine Erkenntnissevor, daß vergleichsweise leichte oder einfach be-hebbare Behinderungen Anlaß von Abtreibungenwaren. Erst recht liegen keine Erkenntnisse dar-über vor, daß dies zunehmend der Fall sei.

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Die Bundesregierung ist der Ansicht, daß die me-dizinische Indikation zu einem Schwanger-schaftsabbruch insbesondere in einem spätenStadium (nach der 24. Woche) äußerst streng ge-stellt und auf Fälle beschränkt werden soll, indenen das Leben der Mutter in Gefahr ist. Daß dieärztliche Praxis bisher so verfährt, läßt sich aus derBundesstatistik über Schwangerschaftsabbrücheschließen. Danach entfielen 1994 von insgesamt103.586 Abbrüchen (1995 von 97.937) - davon5.986 gemäß medizinischer Indikation (1995 -4.545) - nur jeweils 26 auf die 23. Schwanger-schaftswoche oder später.Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß aufgrundder ärztlichen Dokumentationspflicht eine Über-prüfung der ärztlichen Tätigkeit möglich ist.

14. Wie viele Einrichtungen führen in Deutschlandpränatale Diagnostik durch, und wieviele schwan-gere Frauen wurden dort im vergangenen Jahr be-raten? In welcher Höhe wurden hierfür öffentlicheMittel bzw. Mittel der Krankenkassen aufgewandt?

Antwort:Zur pränatalen Diagnostik gehört u.a. der Ultra-schall, die Cardiotokographie (Herzton-Wehen-schreiber - CTG), die Amniozentese (Fruchtwas-serpunktion), die Chorionzottenbiopsie und diePunktion fetaler Gefäße und fetaler Organe.Ultraschalldiagnostik und Cardiotokographie sindBestandteil der Schwangerschaftsvorsorgeunter-suchungen gemäß den Mutterschaftsrichtlinien.Demnach sind alle Einrichtungen, die Schwanger-schaftsvorsorgeuntersuchungen durchführen, mitder pränatalen Diagnostik befaßt.Die von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung1995 dazu herausgegebene Dokumentation überdie Mutterschaftsvorsorge und Entbindungen 1991bezieht sich auf insgesamt 670.000 Mutterschafts-vorsorgefälle. Damit wurden über 90 % der Mut-terschaftsvorsorgefälle erfaßt. Neuere Zahlen lie-gen der Bundesregierung nicht vor. Die Zahl derEinrichtungen, die Mutterschaftsvorsorge durchfüh-ren, ist nicht bekannt. Der Bundesregierung liegenkeine Erkenntnisse darüber vor, wie viele Einrich-tungen Verfahren der invasiven pränatalen Dia-gnostik (Amniozentese, Chorionzottenbiopsie unddie Punktion fetaler Gefäße und fetaler Organe)durchführen und wieviele schwangere Frauen dortin den vergangenen Jahren beraten worden sind.Im Rahmen der Finanzstatistik der gesetzlichenKrankenversicherung werden Angaben über dieAusgaben der GKV für pränatale Diagnostik nichtgesondert erfaßt.

15. Welche gesundheitlichen und/oder altersbe-dingten Faktoren führen nach Kenntnis der Bun-desregierung zu einer Überweisung an eine Insti-tution zur Pränataldiagnostik, wie ist danach derBegriff "Risikoschwangerschaft" definiert, und wel-che Behinderungen oder Krankheitsbilder des un-geborenen Kindes werden damit erfaßt?

Antwort:Institute für Humangenetik führen invasive Verfah-ren der pränatalen Diagnostik wie z.B. die Amnio-zentese, Chorionzottenbiopsie und Placentabiop-sie durch. Indikationen zu einer Überweisung kön-nen sein: Mütterliches Alter, Medikamentenein-nahme in der Schwangerschaft, Strahlenbelastung

oder Infektionen in der Schwangerschaft, vorange-gangenes Kind mit Neuralrohrdefekt oder Chromo-somenstörung, Chromosomenstörung in der Fami-lie, genetisch mitbedingte Leiden in der Familie,Fehlgeburten mit Auffälligkeiten, auffälliger Ultra-schallbefund, psychologische Indikation.Nach den Richtlinien des Bundesausschusses derÄrzte und Krankenkassen über die ärztliche Be-treuung während der Schwangerschaft und nachder Entbindung (Mutterschaftsrichtlinien) sind Risi-koschwangerschaften und Risikogeburten beson-ders zu überwachen. Risikoschwangerschaftensind Schwangerschaften, bei denen aufgrund derVorgeschichte oder erhobenen Befunden mit ei-nem erhöhten Risiko für Leben und Gesundheitvon Mutter und Kind zu rechnen ist.

Dazu zählen insbesondere

schwere Allgemeinerkrankungen der Mutter,Zustand nach Sterilitätsbehandlung, wieder-holten Aborten oder Frühgeburten,totgeborenes oder geschädigtes Kind,vorausgegangene Mehrlingsschwanger-schaften,Komplikationen bei vorangegangenen Entbin-dungen,Erstgebärende unter 18 Jahre oder über 35Jahre,Mehrgebärende über 40 Jahre,EPH-Gestose (hoher Blutdruck, Eiweißaus-scheidung im Urin, Ödeme), Anämie,Diabetes mellitus,uterine Blutung,Diskrepanz zwischen Gebärmutter- bzw.Kindsgröße und Schwangerschaftsdauer,vorzeitige Wehen, Mehrlinge; pathologischeKindslagen undÜberschreitung des Geburtstermins.

16. Welches sind die zehn am häufigsten pränataldiagnostizierten Fehlbildungen/ Behinderungen(mit Angabe der Zahlen), und wie hoch ist dafürjeweils die diagnostische Sicherheit?

Antwort:Die der Bundesregierung vorliegenden statisti-schen Angaben sind nicht ausreichend, entspre-chende Aussagen zu machen.Es liegen der Bundesregierung aber Studien vor,wonach im Rahmen der pränatalen Diagnostik inder Bundesrepublik Deutschland zur Zeit ca.50.000 Chromosomenanalysen im Jahr durchge-führt werden, daneben 2.500 bis 3.000 Corionzot-tenbiopsien. Durch Chromosomenanalysen kön-nen ca. 40 % der chromosomalen Erbleiden dia-gnostiziert werden. Die häufigsten so diagnosti-zierten chromosomalen Erbleiden sind:

• Down-Syndrom (Trisomie 21);Häufigkeit 1:600 Neugeborene,

• Trisomie 18;Häufigkeit 1:10.000 Neugeborene,

• Trisomie 13;Häufigkeit 1:10.000 Neugeborene,

• Klinefelter-Syndrom;Häufigkeit 1:1.000 bei männlichen Neugebo-renen,

• XXX-Syndrom;Häufigkeit 1:1.000 bei weiblichen Neugebore-

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nen,• Turner-Syndrom;

Häufigkeit 1:10.000 bei weiblichen Neugebo-renen.

17. Wie viele Kinder mit spina bifida bzw. mit Tur-ner-Syndrom wurden, jeweils sowohl in absolutenZahlen als auch bezogen auf die Gesamtzahl derLebendgeburten, seit Inkrafttreten des SFHÄndG,im Jahre 1990 und zum Vergleich in den Jahren1970, 1975, 1980 und 1985 geboren?

Antwort:

Im Rahmen der Statistik der bei der Geburt er-kennbaren Fehlbildungen werden seit 1973 dieGeborenen mit erkennbaren Fehlbildungen nachArt der Fehlbildung gemäß der InternationalenKlassifikation der Krankheiten und Todesursachen(ICD) nachgewiesen.Die entsprechenden Ergebnisse der Jahre 1973,1975, 1980, 1985 und 1990 sind nachstehend fürdas frühere Bundesgebiet aufgeführt. Zahlen fürdas Jahr 1995 liegen noch nicht vor und damitauch keine für die Zeit nach dem Inkrafttreten desSFHÄndG am 1. Oktober 1995.

Es ist darauf hinzuweisen, daß es eine erheblicheUntererfassung der Anzahl der Fehlbildungen gibt.Aufgrund der geringen Anzahl von vorliegendenMeldungen zur Statistik der erkennbaren Fehlbil-dungen sind keine fundierten Bewertungen desDatenmaterials möglich. Unter anderem aus die-sem Grunde ist im Rahmen der vom Bundeska-binett beschlossenen Statistikänderungs - Verord-nung vorgesehen, diese Erhebung einzustellen.Als Ersatz werden im Rahmen der neuen Kran-kenhausdiagnosestatistik alle im Geburtsmonatwegen Fehlbildungen vollstationär behandeltenKrankenhausentlassungen tabelliert. Darüber wer-den in Zukunft bessere Aussagen über die zeitlicheEntwicklung des Vorkommens von erkennbarenFehlbildungen zu treffen sein.

18. Wie viele Kinder mit Trisomie 21 (Down-Syn-drom), einer der häufigsten Behinderungen, wur-den, jeweils sowohl in absoluten Zahlen als auchbezogen auf die Gesamtzahl der Lebendgeburten,seit Inkrafttreten des SFHÄndG, im Jahre 1990und zum Vergleich in den Jahren 1970, 1975, 1980und 1985 geboren? Falls im Verlauf der letzten 25Jahre eine Abnahme der lebendgeborenen Kindermit Trisomie 21, bezogen auf die Gesamtzahl derLebendgeburten, festzustellen ist, kann hieraus derSchluß bezogen werden, daß eine pränatal dia-gnostizierte Trisomie 21 regelmäßig zu einer Indi-kationsstellung zum Abbruch der SchwangerschaftAnlaß gibt und inwiefern stünde dies in Überein-stimmung mit der vom Gesetzgeber bei der Neu-regelung vom 21. August 1995 verfolgten Absichtder Klarstellung, daß behinderte Kinder grundsätz-lich den gleichen Schutz wie nicht-behinderte Kin-der genießen?

Antwort:Zunächst wird auf die Anmerkungen zu Frage 17verwiesen. Die entsprechenden Zahlen enthält dienachfolgende Tabelle:

Tabelle: Lebendgeborene mit ausgewählten Fehl-bildungen:

Quelle: Statistisches Bundesamt, Juli 1996

Aus den vorliegenden statistischen Angaben kannnicht der Schluß gezogen werden, daß einepränatal diagnostizierte Trisomie 21 regelmäßig zueinem Abbruch der Schwangerschaft Anlaß gibt.Hinsichtlich der Wirksamkeit der mit dem SF-HÄndG vom 21. August 1995 verfolgten Klarstel-lung, daß behinderte Kinder grundsätzlich dengleichen Schutz wie nichtbehinderte Kinder genie-ßen, können Aussagen nicht gemacht werden.

19. Sind der Bundesregierung die Arbeiten vonStackeiberg (Dissertation 1980), und von Passarge(1979) bekannt, die eine Kosten-Nutzen-Analyseanstellen, wobei den Aufwendungen für rechtzei-tige pränataldiagnostische Erfassung (Screening)und nachfolgende Abtreibung behinderter Kinderdie Kosten für Betreuung, Therapie und Rehabili-tation gegenübergestellt werden, und welche Fol-gerungen zieht die Bundesregierung aus derarti-gen Überlegungen?

Antwort :Die zitierten Arbeiten von Stackeiberg und vonPassarge sind der Bundesregierung nicht bekannt.Sie haben damit auch zu keinem Zeitpunkt Einflußauf Entscheidungen der Bundesregierung gehabt.

MEDIZIN & IDEOLOGIE Dezember 96 41

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Im übrigen ergibt sich schon aus der Frage, daß essich offensichtlich um Arbeiten handelt, die inzwi-schen 16 bis 17 Jahre alt sind.Kosten - Nutzen - Analysen wurden und werdenvon der Bundesregierung nicht herangezogen,wenn es um die gesetzlichen Regelungen zumSchwangerschaftsabbruch und die Ausgestaltungder Hilfen für Schwangere und ihre Familien geht.

20. Welche Abtreibungsmethoden werden nachErkenntnissen der Bundesregierung im zweitenund im letzten Drittel der Schwangerschaft ange-wandt, und inwiefern wird bei Abtreibungen in die-sen Schwangerschaftsstadien die Schmerzemp-findlichkeit des ungeborenen Kindes berücksich-tigt?

Antwort:Der Schwangerschaftsabbruch erfolgt nach denInformationen, die der Bundesregierung vorliegen,in der Regel durch die Induktion einer Wehentätig-keit durch Prostaglandin oder Oxytoxin. Danachwird das Ausstoßen des Kindes abgewartet. Beidiesem Vorgehen wird die Schmerzempfindlichkeitdes ungeborenen Kindes berücksichtigt, denndiese Methode entspricht dem normalen Geburts-verlauf eines Frühgeborenen.

21. Werden nach Erkenntnissen der Bundesregie-rung aufgrund der im dritten Schwangerschaftstri-menon regelmäßig anzunehmenden extrauterinenLebensfähigkeit des ungeborenen Kindes bei Ab-treibungen solche Methoden angewandt, die aufeine Tötung des Kindes noch im Mutterleib abzie-len, bevor es zur Welt kommt?

Antwort:Nach dem Wortlaut des § 218 a StGB ist der mitEinwilligung der Schwangeren von einem Arzt vor-genommene Schwangerschaftsabbruch nichtrechtswidrig, wenn der Abbruch der Schwanger-schaft unter Berücksichtigung der gegenwärtigenund zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwan-geren nach ärztlicher Erkenntnis angezeigt ist, umeine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einerschwerwiegenden Beeinträchtigung des körperli-chen oder seelischen Gesundheitszustandes derSchwangeren abzuwenden, und die Gefahr nichtauf eine andere für sie zumutbare Weise abge-wendet werden kann. Ziel der Behandlung istdemnach die Beendigung der Schwangerschaftaus den genannten Gründen, darf jedoch nicht dieTötung des Kindes sein. Der Schwanger-schaftsabbruch erfolgt in der Regel durch die In-duktion einer Wehentätigkeit.

22. Ist der Bundesregierung bekannt, daß beispäten eugenischen Abtreibungen z. T. das Desin-fektionsmittel "Rivanol" (Ethacridinsäure) ange-wandt wird (Josefine Lorenzen, Dissertation Mün-ster 1993, "Konkretisierung des Kindsverlustes, beiSchwangerschaftsabbruch aus kindlicher Indika-tion), wobei das Kind über mehrere Stunden hin-weg abstirbt und dann nach zusätzlicher Einleitungeines Wehenmittels gelbverfärbt ausgestoßenwird, und wird diese Abtreibungsmethode nach Er-kenntnissen der Bundesregierung weiterhin ange-wandt, wenn ja, wo?

Antwort:Nach Informationen der zuständigen Fachgesell-schaft ist der Wirkungsmechanismus des Rivanolauf den Abbruch der Schwangerschaft nicht genaubekannt. Rivanol soll nach bisher bekannt gewor-dener Information zu langsamer Wehentätigkeit mitAusstoßung der Frucht nach 36 - 44 Stunden füh-ren. Rivanol wird in seltenen Fällen eingesetzt bei

1. Patientinnen, die auf Prostaglandine nicht an-sprechen,

2. Patientinnen, bei denen eine Kontraindikationin der Anwendung von Prostaglandinen be-steht (z.B. nach Herzinfarkt),

3. Patientinnen, bei denen eine relativeKontraindikation in der Anwendung vonProstaglandinen besteht (z.B. nach vorange-gangener Sektio).

Eine Übersicht über Einrichtungen, die Rivanol inseltenen Fällen einsetzen, liegt nicht vor.

23. In welchen Fallkonstellationen ist es nach Auf-fassung der Bundesregierung zulässig, ein nicht"zum Leben bestimmtes Kind" (vgl. Hans-BernhardWuermeling, "Unwort des Jahres", FAZ vom 20.11. 1995), das die Abtreibung überlebt hat, unver-sorgt dem Tode zu überlassen ("liegen lassen"),und sieht die Bundesregierung hier ggf. gesetzge-berischen Handlungsbedarf?

Antwort:Ein Kind, welches nach einer auf einen Schwan-gerschaftsabbruch gerichteten Handlung lebendzur Welt gekommen ist, unterliegt ebenso wie je-des andere dem Schutz der Rechtsordnung. Ihmgegenüber bestehen deshalb die gleichen Pflichtenwie gegenüber jedem Neugeborenen, das sich inder Obhut des Arztes befindet. Der Arzt ist grund-sätzlich verpflichtet, das zur Erhaltung des LebensErforderliche zu tun. Dies gilt, auch für den Arzt,dessen auf einen Schwangerschaftsabbruch zie-lende Maßnahme zur Lebendgeburt des Kindesführte. Bei einer Lebendgeburt muß das Kind nachdem geltenden medizinischen Standard versorgtwerden; dies folgt auch aus der berufsrechtlichenPflicht des Arztes zur Lebenserhaltung, wie es in §1 Abs. 2 der Musterberufsordnung für die deut-schen Ärzte von 1996 niedergelegt ist. Der Um-stand, daß eine medizinische Indikation für einenSchwangerschaftsabbruch im Spätstadium derSchwangerschaft gegeben war, vermag es kei-nesfalls zu rechtfertigen, auf lebenserhaltendeMaßnahmen für das Kind zu verzichten. Verletztder Arzt seine Verpflichtung, so kann er sich damiteines Unterlassungsdelikts, d.h. im Einzelfall auchwegen eines vorsätzlichen Tötungsdelikts strafbarmachen. Einen gesetzgeberischen Handlungsbe-darf für diesen Bereich sieht die Bundesregierungnicht.

24. Worin besteht - einmal abgesehen von derunterschiedlichen formaljuristischen Einordnung -nach Auffassung der Bundesregierung der wesent-liche ethische Unterschied zwischen der gezieltenTötung eines lebensfähigen Kindes im Mutterleibvor der eigentlichen Abtreibung einerseits und an-dererseits der Tötung eines die Abtreibung selbstzunächst überlebenden Kindes direkt nach derAbtreibung?

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Antwort:Wie auch das Bundesverfassungsgericht in seinemUrteil vom 28. Mai 1993 nochmals ausdrücklichklargestellt ist, handelt es sich bei ungeborenemLeben um Leben von Anfang an, das als solchesunter dem Schutz der Verfassung steht, ebensowie das Leben des geborenen Menschen. Hierausfolgt, daß der Staat Maßnahmen zu ergreifen hat,die dem Schutz des menschlichen Lebens sowohlvor wie auch nach der Geburt dienen. Da dieseMaßnahmen grundsätzlich strafrechtlicher Natursind, ist eine Beantwortung der Frage unter Au-ßerachtlassung der juristischen Einordnung bzw.Notwendigkeiten nicht möglich.

25. Wenn für eine späte Abtreibung aufgrund dermedizinischen Indikation eine voraussichtliche Be-hinderung des Kindes ausschlaggebend ist, worinbesteht dann der Unterschied zur Früheuthanasie?Wie ist gewährleistet, daß im allgemeinen Bewußt-sein ein solcher Unterschied nicht verwischt wirdund welche Anstrengungen unternimmt die Bun-desregierung in dieser Hinsicht?

Antwort:Die embryopathische Indikation ist mit Inkrafttretendes SFHÄndG entfallen. Mit dem Wegfall der ern-bryopathischen Indikation ist keine Änderung derVoraussetzungen der medizinischen Indikation imVergleich zu der vor dem Inkrafttreten desSchwangeren- und Familienhilfegesetzes gelten-den Fassung erfolgt. Wie auch in der Antwort zuFrage 11. ist darauf hinzuweisen, daß der Wegfallder embryopathischen Indikation gerade der Klar-stellung diente, daß das ungeborene behinderteLeben im Vergleich zum ungeborenen unbehin-derten Leben in der Frage der Schwanger-schaftsabbrüche keinem Sonderstatus unterworfenist.Nach § 218 a Abs. 2 StGB ist eine medizinischeIndikation nur dann zu bejahen, wenn derSchwangerschaftsabbruch unter Berücksichtigungder gegenwärtigen und zukünftigen Lebensver-hältnisse der Schwangeren angezeigt ist, um eineLebens- oder schwere Gesundheitsgefahr von ihrabzuwenden und diese Gefahr nicht auf andere fürsie zumutbare Weise abgewendet werden kann.Ein Vergleich der medizinischen Indikation mit ei-ner Früheuthanasie kann nicht gezogen werden.

26. Ist in jedem Falle die gezielte Tötung des Kin-des bei späten Abtreibungen unter den Vorausset-zungen der medizinischen Indikation durch die Be-stimmungen des § 218 a gedeckt, auch dann,wenn ohne höhere oder sogar unter geringererGesundheitsbelastung und -risiken für die Muttereine Methode in Betracht käme, die dem Kind diegrößtmöglichen Chancen auf Überleben und Ge-sundheit gewährleistet, und sieht die Bundesregie-rung hier gesetzgeberischen Handlungsbedarf?

Antwort:Nach § 218 a Abs. 2 StGB ist eine medizinischeIndikation nur dann zu bejahen, wenn derSchwangerschaftsabbruch unter Berücksichtigungder gegenwärtigen und zukünftigen Lebensver-hältnisse der Schwangeren angezeigt ist, um eineLebens- oder schwere Gesundheitsgefahr von ihrabzuwenden und diese Gefahr nicht auf andere für

sie zumutbare Weise abgewendet werden kann.Für die Beurteilung, ob die Voraussetzungen vor-liegen, kommt es maßgeblich auf die Erkenntnisdes abbrechenden Arztes im konkreten Einzelfallan. Gleiches gilt für die Beurteilung, welche Me-thode im Einzelfall anzuwenden ist. Hierfür sindder Stand der ärztlichen Kunst und die Erkenntnisdes Arztes im Einzelfall ausschlaggebend. DieBundesregierung sieht in dieser Frage keinen ge-setzgeberischen Handlungsbedarf.

27. Werden in der Literatur geschilderte Methodenspäter Abtreibungen, bei denen das Kind im Mut-terleib durch Abschneiden des Kopfes(Dekapitation), Perforieren des Kopfes, Exentera-tion, Dissectio foetus getötet wird, nach Erkennt-nissen der Bundesregierung in Deutschland nochangewandt, und wenn ja, finden sie außerhalb dervitalen medizinischen Indikation (Lebensgefahr fürdie Mutter) Anwendung?

Antwort:Bei einem späten Schwangerschaftsabbruch auf-grund der medizinischen Indikation erfolgt der Ab-bruch nach dem Stand der medizinischen Wissen-schaft durch die Induktion einer Wehentätigkeit. Obdarüber hinaus die in der Frage geschilderten Me-thoden Anwendung finden, entzieht sich derKenntnis der Bundesregierung. Grundsätzlich fest-zustellen bleibt aber, daß jeweils die Methode an-zuwenden ist, die im konkreten Einzelfall nach denErkenntnissen der ärztlichen Kunst angezeigt ist.

28. Wie wird nach der Abtreibung bei kindlicherFehlbildung überprüft (etwa durch regelmäßigeAutopsie in jedem Einzelfall), ob der pränataldia-gnostische Befund zutraf, werden hierüber Auf-zeichnungen angefertigt, welche gesetzlichen Be-stimmungen sind hierfür ausschlaggebend, undbesteht ggf. gesetzgeberischer Handlungsbedarf?

Antwort:Nach Nummer 9 der Empfehlungen des Wissen-schaftlichen Beirats der Bundesärztekammer zurpränatalen Diagnostik sollte nach erfolgtemSchwangerschaftsabbruch "die Richtigkeit derpränatalen Diagnose durch eine pathologisch -anatomische und ggf. genetische Untersuchungder Foeten bestätigt werden. Die pathologisch -anatomische Untersuchung erfordert speziellenSachverstand, wie er in der Regel nur bei entspre-chend weitergebildeten Pathologen - Pädopatholo-gen - vorauszusetzen ist. Sinnvollerweise müssendie Ergebnisse allen an der Diagnostik und ärztli-chen Betreuung der Schwangeren beteiligten Ärz-ten zugeleitet werden." Die klinische Sektion dientdabei u.a. der Überprüfung der Diagnosestellung.Sie wird nicht durchgeführt, wenn die nächstenAngehörigen einer beabsichtigten Sektion wider-sprechen. Das Sektionswesen wird durch Landes-gesetze geregelt. Gesetzgeberischer Handlungs-bedarf ist für die Bundesregierung nicht gegeben.

29. Trifft den Arzt, der eine vorgeburtliche Schädi-gung oder Behinderung des Kindes diagnostiziert,in jedem Falle eine Pflicht, die Eltern auf die Mög-lichkeit einer Abtreibung unter den Voraussetzun-gen der medizinischen Indikation hinzuweisen,auch dann, wenn er aufgrund des Alters des Kin-des von dessen extrauteriner Lebensfähigkeit aus-

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gehen muß, welche gesetzlichen, ggf. standes-rechtlichen, Vorschriften regeln diesen Bereich,und besteht hier gesetzgeberischer Handlungsbe-darf?

Antwort:Die Feststellung einer vorgeburtlichen Schädigungoder Behinderung des Kindes steht nicht in einemzwingenden Zusammenhang mit einer medizini-schen Indikation. Insoweit trifft den Arzt keine Ver-pflichtung entsprechende Hinweise zu geben.Es gibt keine gesonderten gesetzlichen und stan-desrechtlichen Bestimmungen über eine Aufklä-rung bei einem (späten) Schwangerschaftsab-bruch. Die Art der Aufklärung ergibt sich jedochaus der allgemeinen Aufklärungspflicht des Arztes,wie sie bei anderen Eingriffen besteht und durchdie Rechtsprechung der Gerichte konkretisiertworden ist. Hierzu hat der Arzt insbesondere zweiberufsständische Empfehlungen zu beachten, dierechtlich zwar nicht Bestandteil seiner Berufsord-nung sind, aber den Rechtsrahmen der Aufklä-rungspflicht vor dem Hintergrund der obergerichtli-chen Rechtsprechung beschreiben. Dies sind ne-ben den allgemeinen "Empfehlungen zur Patien-tenaufklärung" des Vorstandes der Bundesärzte-kammer von 1990, insbesondere die Empfehlun-gen des Wissenschaftlichen Beirates der Bun-desärztekammer zur pränatalen Diagnostik von1987, die einen Schwangerschaftsabbruch derMutter als mögliche Folge der Diagnostik im Blick-feld haben. Darin ist u.a. festgehalten, daß bei derBeratung der Eltern nicht der Eindruck hervorge-rufen werden darf, daß bei bestimmten Befunden,z.B. Trisomie 21, der Schwangerschaftsabbruchdie einzige, sich automatisch ergebende Lösungdes Problems sei. Ziel der Beratung ist es, mit derSchwangeren zu einer umfassenden Abklärungder Situation zu kommen. Der Arzt hat dabei im-mer § 6 Satz 1 der Musterberufsordnung für diedeutschen Ärzte von 1996, der in die jeweils ein-schlägigen Landesrechte übernommen worden ist,zu beachten, wonach er grundsätzlich verpflichtetist, das ungeborene Leben zu erhalten.Bei einem Schwangerschaftsabbruch nach der 24.Woche gehört, wie aus einer Stellungnahme derDeutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Ge-burtshilfe hervorgeht, zu der gebotenen ärztlichenAufklärung auch die Aufklärung über das möglicheÜberleben des Kindes, wenn pränatal keine Er-krankungen diagnostiziert werden, die ein Überle-ben des Kindes nicht erwarten lassen. Zu dieserAufklärung über die mögliche Geburt eines leben-den Kindes bei einem späten Schwanger-schaftsabbruch aus medizinischen Gründen gehörtes auch, daß die Qualität des weiteren Lebens ei-nes solchen Frühgeborenen sowohl durch denEingriff des Schwangerschaftsabbruchs, als auchdurch die vorzeitige Beendigung der Schwanger-schaft zusätzlich beeinflußt werden kann. Darüberhinaus muß die Patientin darüber informiert wer-den, daß für den Arzt bei einem lebensfähigenNeugeborenen eine Behandlungspflicht besteht.

30. Ist nach Auffassung der Bundesregierung derArzt auch in solchen Fällen zur Mitteilung einespränataldiagnostisch erhobenen Befundes ver-pflichtet, wenn dieser eine erbliche Anlage oderKrankheit beinhaltet, die erst später im Leben zum

Tragen kommt, wie z.B. Chorea Huntington, Dia-betes oder Mamma-Carcinom, auch im Bewußt-sein, daß daraus eine Abtreibung des Kindes re-sultieren kann, und sieht die Bundesregierung hierggf. die Notwendigkeit einer gesetzlichen Be-schränkung?

Antwort:Die Bundesregierung sieht den in der Frage her-gestellten Zusammenhang zwischen einer mögli-chen späteren Schädigung des Kindes und einermedizinischen Indikation nicht.Jede Aufklärung durch den Arzt muß so umfas-send sein, daß Art, Umfang und Tragweite desGeschehens und die damit verbundenen gesund-heitlichen Risiken zu ermessen sind.

31. Wie bewertet die Bundesregierung das Abtrei-bungsgeschehen bei vorgeburtlich diagnostizierenBehinderungen sowie die Gefahr einer Typisierungbestimmter erblicher Anlagen oder Behinderungen,die in der Regel zur Abtreibung des Kindes führen,in Hinsicht auf die gesellschaftliche Einstellung undSolidaritätsbereitschaft gegenüber Menschen mitBehinderungen (vgl. auch TAB HintergrundpapierNr. 2: Die Anwendungsproblematik der pränatalenDiagnose aus der Sicht von Beratenen und Bera-tern unter besonderer Berücksichtigung der der-zeitigen und zukünftig möglichen Nutzung geneti-scher Tests, Gutachten im Auftrag des Büros fürTechnikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bun-destag, Januar 1994)?

Antwort:Der Schutz des ungeborenen Lebens gilt glei-chermaßen für ein zu erwartendes behindertes wienicht behindertes Kind. Die ärztliche Indikations-stellung zum Schwangerschaftsabbruch hat aus-schließlich die Abwehr schwerwiegender körperli-cher und seelischer Gefahren für die Gesundheitder Schwangeren zum Ziel. Aus diesem Grundelehnt die Bundesregierung eine immer wieder indie Diskussion gebrachte sogenannte Negativlisteab, die die Befunde auflistet, die, pränatal erhoben,straffrei zum Schwangerschaftsabbruch führendürfen. Hierdurch wird der Gefahr begegnet, daßSchwangerschaften, in denen Krankheiten festge-stellt werden, die in einer solchen Liste aufgeführtwürden, "automatisch" beendet werden.Die Akzeptanz und Solidaritätsbereitschaft der Ge-sellschaft gegenüber Menschen mit Behinderungwird von der Bundesregierung im Rahmen ihrerverfassungsmäßigen Aufgaben auf vielfältigeWeise gefördert, u.a. durch die Betonung des un-eingeschränkten Lebensrechts der ungeborenenKinder mit Fehlbildungen, durch die Unterstützungvon Verbänden und Selbsthilfeorganisationen derBehindertenarbeit sowie von Projekten und Maß-nahmen, die die Integration behinderter Menschenin der Gesellschaft zum Ziel haben.

Dr. Willi Hausmann

Je hilfloser ein Geschöpf ist, umso Anspruch hates, vom Menschen vor der Grausamkeit des Men-schen geschützt zu werden.

Mahatma Ghandi

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Dokumentation:

Bioethik- Konvention Council of Europe, Strasbourg, 6. Juni 1996Rohübersetzung (nur zur Information)

Entwurf eines Übereinkommens zum Schutz der Menschenrechte und derMenschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin:

PräambelDie Mitgliedstaaten des Europarates, die ande-en Staaten und die Signatarstaaten der Europäi-schen Gemeinschaft -

Eingedenk der von der Generalversammlungder Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948verkündeten Allgemeinen Erklärung der Men-schenrechte,Eingedenk der Konvention zum Schutze derMenschenrechte und der Grundfreiheiten vom4. November 1950,Eingedenk der Europäischen Sozialcharta vom18. Oktober 1961,Eingedenk des Internationalen Paktes überbürgerliche und politische Rechte und desInternationalen Paktes über wirtschaftliche, so-ziale und kulturelle Rechte vom 16. Dezember1966,Eingedenk des Übereinkommens zum Schutzedes Menschen bei der automatischen Bearbei-tung personenbezogener Daten vom 28. Januar1981,Eingedenk auch der Konvention zum Schutzeder Rechte des Kindes vom 20. November1989,In der Erwägung, daß das Ziel des Europa-rates in der Erlangung einer größeren Einheitzwischen seinen Mitgliedern besteht und daßeine der Methoden, mit der dieses Ziel verfolgtwerden soll, die Erhaltung und Weiterentwick-lung der Menschenrechte und Grundfreiheitenist,In dem Bewusstsein der sich beschleunigen-den Entwicklungen in Biologie und Medizin,Überzeugt von der Notwendigkeit der Achtungdes Menschen sowohl als Individuum als auchals Mitglied der menschlichen Spezies und inder Erkenntnis der Bedeutung der Wahrung derMenschenwürde,In dem Bewusstsein dessen, daß der Miß-brauch von Biologie und Medizin zu Handlun-gen führen kann, die die Menschenwürde ge-fährden,Bekräftigend, daß die Fortschritte in Biologieund Medizin zum Nutzen der heutigen und dernachfolgenden Generationen angewendet wer-den sollen,In Bekräftigung der Notwendigkeit einer in-ternationalen Zusammenarbeit mit dem Ziel,daß die gesamte Menschheit in den Genuß derErgebnisse von Biologie und Medizin kommenkann,In Anerkennung der Bedeutung, die der För-derung einer öffentlichen Debatte über diedurch die Anwendung von Biologie und Medizinaufgeworfenen Fragen und die darauf zu ge-benden Antworten zukommt,In dem Wunsch, alle Mitglieder der Gesell-schaft an ihre Rechte und ihre Verantwortung

zu erinnern,Unter Berücksichtigung der Arbeit der Parla-mentarischen Versammlung auf diesem Gebiet,einschließlich der Empfehlung 1160 (1991)über die Ausarbeitung einer Konvention zurBioethik,Entschlossen, die Maßnahmen zu ergreifen,die zum Schutz der Menschenwürde und derGrundrechte des Individuums im Hinblick aufdie Anwendung von Biologie und Medizin erfor-derlich sind,

haben folgendes Vereinbart.

Kapitel IAllgemeine Bestimmungen

Artikel 1 (Zielsetzung und Gegenstand)Die Vertragsstaaten dieser Konvention schützendie Würde und die Identität aller Menschen und ga-rantieren jedermann - ohne Unterschied - die Wah-rung seiner Integrität und anderer Rechte undGrundfreiheiten im Hinblick auf die Anwendungvon Biologie und Medizin.

Artikel 2 (Vorrang des Menschen)Die Interessen und das Wohlergehen des Men-schen haben Vorrang vor dem alleinigen Interessevon Gesellschaft und Wissenschaft.

Artikel 3 (Gerechter Zugang zur medizinischenVersorgung)Die Vertragsstaaten treffen unter Berücksichtigungder medizinischen Erfordernisse und der verfügba-ren Ressourcen geeignete Maßnahmen, die daraufabzielen, jedermann innerhalb ihres Rechtssy-stems einen gerechten Zugang zu Gesundheitslei-stungen von angemessener Qualität zu eröffnen.

Artikel 4 (Normen der Berufsausübung)Medizinische Eingriffe, einschließlich der medizini-schen Forschung, haben in Übereinstimmung mitden einschlägigen Pflichten und Normen der Be-rufsausübung zu erfolgen.

Kapitel lIEinwilligung

Artikel 5 (Allgemeine Regel)Medizinische Eingriffe im Bereich der Gesundheitsind nur nach der vorherigen freiwilligen und infor-mierten Einwilligung der betroffenen Person er-laubt.Der betroffenen Person sind vor dem Eingriff ge-eignete Informationen über den Zweck und die Artdes Eingriffs sowie über seine Folgen und Risikenzugänglich zu machen.Die betroffene Person kann ihre Einwilligung jeder-zeit nach Belieben zurückziehen.

Artikel 6 (Schutz von nicht-einwilligungsfähigenPersonen)1. Vorbehaltlich der Regelungen von Artikel 17 und

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20 dürfen an nicht-einwilligungsfähigen PersonenEingriffe nur zu ihrem unmittelbaren Nutzen vorge-nommen werden.2. Medizinische Eingriffe an einer minderjährigenPerson, die nach Maßgabe der Rechtsvorschriftennicht einwilligungsfähig ist, dürfen nur mit Einwilli-gung ihres Vertreters oder einer gesetzlich be-stellten Behörde oder Person oder Gremium vor-genommen werden.Die Meinung des Minderjährigen ist entsprechendseines Alters und seiner Reife als zunehmendausschlaggebender Faktor zu berücksichtigen.3. Medizinische Eingriffe an einer erwachsenenPerson, die nach Maßgabe der Rechtsvorschriftenaufgrund einer geistigen Behinderung, einerKrankheit oder aus einem ähnlichen Grunde nichteinwilligungsfähig ist, dürfen nur mit Einwilligungihres Vertreters oder einer gesetzlich bestelltenBehörde oder Person oder Gremium vorgenom-men werden.Die Person, bei der der Eingriff vorgenommenwerden soll, ist soweit wie möglich in das Einwilli-gungsverfahren einzubeziehen.4. Den in den vorstehenden Ziff. 2 und 3 genann-ten Vertretern, Behörden, Personen oder Gremiensind die in Artikel 5 genannten Informationen unterden gleichen Bedingungen zugänglich zu machen.5. Die in den vorstehenden Ziff. 2 und 3 genannteEinwilligung kann jederzeit im besten Interesse derbetroffenen Person zurückgezogen werden.

Artikel 7 (Schutz von Personen mit einer Gei-steskrankheit)Personen, die an einer schweren Geisteskrankheitleiden, dürfen ohne ihre Einwilligung nach Maß-gabe der gesetzlichen Schutzvorschriften einschl.Aufsichts-, Kontroll- und Widerspruchsverfahreneinem Eingriff unterzogen werden, der auf eineBehandlung ihrer Geisteskrankheit gerichtet ist,wenn ohne Behandlung mit einer schwerwiegen-den Gesundheitsschädigung zu rechnen ist.

Artikel 8 (Notfälle)Kann die entsprechende Einwilligung aufgrund ei-ner Notfallsituation nicht eingeholt werden, ist jedermedizinisch notwendige Eingriff im Interesse derGesundheit des Betroffenen ohne Aufschub er-laubt.

Artikel 9 (Zu einem früheren Zeitpunkt geäußerterWille)Bei einem Patient, der zum Zeitpunkt eines medi-zinischen Eingriffs nicht in der Lage ist, seinenWillen zu bekunden, sind seine zu einem früherenZeitpunkt im Hinblick auf einen medizinischen Ein-griff geäußerten Wünsche zu berücksichtigen.

Kapitel IIIPrivatsphäre und Recht auf Information

Artikel 10 (Privatsphäre und Recht auf Informa-tionen)1. Jedermann hat das Recht auf Wahrung seinerPrivatsphäre im Hinblick auf Informationen überseine Gesundheit.2. Jedermann hat das Recht, sämtliche Informatio-nen zu kennen, die über seinen Gesundheitszu-stand gesammelt worden sind. Der Wunsch einerPerson, nicht informiert zu werden, ist jedoch zubeachten.3. In Ausnahmefällen kann die Ausübung der in

der vorstehenden Ziff. 2 enthaltenen Rechte imInteresse des Patienten durch Gesetz einge-schränkt werden.

Kapitel IVDas menschliche Genom

Artikel 11 (Diskriminierungsverbot)Jede Form der Diskriminierung einer Person auf-grund ihrer genetischen Eigenschaften ist verbo-ten.

Artikel 12 (Prädiktive Gentests)Gentests zur Prognose von Erbkrankheiten oderGentests, die entweder der Identifizierung vonTrägern eines Gens, das für eine Krankheit ver-antwortlich ist, oder der Erkennung einer geneti-schen Prädisposition oder Anfälligkeit für eineKrankheit dienen, dürfen nur zu gesundheitlichenZwecken oder zur wissenschaftlichen Forschungim Zusammenhang mit gesundheitlichen Zweckenund vorbehaltlich einer geeigneten humangeneti-schen Beratung durchgeführt werden.

Artikel 13 (Eingriffe in das menschliche Genom)Ein Eingriff, der auf eine Veränderung des men-schlichen Genoms abzielt, darf nur zu präventiven,therapeutischen oder diagnostischen Zwecken undnur insoweit vorgenommen werden, als er nichtdas Ziel einer Veränderung des Genoms derNachkommenschaft hat.

Artikel 14 (Verbot der Geschlechtswahl)Der Einsatz reproduktionsmedizinischer Verfahrenzum Zweck der Wahl des Geschlechtes eines Kin-des ist nicht erlaubt, es sei denn in Ausnahmefäl-len zur Verhinderung einer schwerwiegenden ge-schlechtsgebundenen Erbkrankheit.

Kapitel VWissenschaftliche Forschung

Artikel 15 (Allgemeine Regel)Vorbehaltlich der Bestimmungen dieser Konven-tion und der anderen Rechtsvorschriften zumSchutz des Menschen soll im Bereich Biologie undMedizin frei und ungehindert geforscht werden.

Artikel 16 (Schutz von in die Forschung einbe-zogenen Personen)Die Forschung an einer Person ist nur erlaubt,wenn alle nachstehenden Voraussetzungen erfülltsind:

i) Es gibt zur Forschung am Menschen keineAlternative von vergleichbarer Wirksamkeit;

ii) Die Risiken für die Versuchsperson stehenin einem angemessenen Verhältnis zumpotentiellen Nutzen der Forschung;

iii) Das Forschungsprojekt ist von einemkompetenten Gremium nach einer unabhän-gigen Prüfung des wissenschaftlichen Nut-zens, einschl. der Wichtigkeit des For-schungszieles und der ethischen Vertretbar-keit genehmigt worden;

iv) Die in die Forschung einbezogenen Proban-den sind über ihre Rechte und die zu ihremSchutz vorgeschriebenen gesetzlichen Be-stimmungen aufgeklärt worden;

v) Die nach Artikel 5 erforderliche Einwilligungist ausdrücklich und spezifisch erteilt und

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dokumentiert worden. Diese Einwilligungkann jederzeit nach Belieben widerrufenwerden.

Artikel 17 (Schutz von nicht-einwilligungsfähigenPersonen in der Forschung)

1. Forschung an einer Person, die nicht in derLage ist, eine Einwilligung nach Artikel 5 zugeben, ist nur erlaubt, wenn die nachfolgen-den Voraussetzungen sämtlich erfüllt sind:

i) Die in lit. (i) bis (iv) des Artikels 16 ge-nannten Bedingungen sind erfüllt;ii) Die Ergebnisse der Forschung haben dasPotential eines direkten Nutzens für die Ge-sundheit des Probanden;iii) Eine gleichermaßen wirksame Forschungkann an einwilligungsfähigen Personen nichtdurchgeführt werden;iv) Die nach Artikel 6 erforderliche Einwilli-gung ist ausdrücklich und schriftlich erteiltworden;v) Die Versuchsperson erhebt keine Ein-wände.

2. In Ausnahmefällen und entsprechend dengesetzlich vorgesehenen Schutzbestimmun-gen kann auch Forschung, die nicht dasPotential eines direkten Nutzens für die Ge-sundheit des Probanden hat, vorbehaltlichder in der vorstehenden Ziff. 1, lit. (i), (iii),(iv) und (v) niedergelegten Bedingungen undder nachstehenden zusätzlichen Bedin-gungen erlaubt werden:i) Die Forschung hat zum Ziel, durch be-trächtliche Verbesserung des wissenschaft-lichen Verständnisses über den Zustand, dieKrankheit oder die Störung des Probandenzur schließlichen Erreichung von Ergebnis-sen beizutragen, die in der Lage sind, derbetroffenen Person, oder anderen Personenin der gleichen Alterskategorie, oder die vonder gleichen Krankheit oder Störung betrof-fen oder in dem gleichen Zustand sind,einen Nutzen zu bescheren:*)ii) Das Risiko und die Belastung für denProbanden durch die Forschung sind nurminimal.

Artikel 18 (Forschung an Embryonen in vitro)1. Sofern die Forschung an in-vitro-Embryonen

gesetzlich erlaubt ist, ist ein ausreichenderSchutz des Embryos sicherzustellen.

2. Die Erzeugung menschlicher Embryonen fürForschungszwecke ist verboten.

Kapitel VIOrgan- und Gewebeentnahme von Lebendspen-

dern für Transplantationszwecke

Artikel 19 (Allgemeine Regel)1. Die Entnahme von Organen oder Gewebe

von einer lebenden Person zum Zweck derTransplantation darf nur erfolgen, wenn siedem therapeutischen Nutzen des Empfän-gers dient und wenn kein geeignetes Organoder Gewebe von einer verstorbenen Per-son und keine andere therapeutische Me-thode vergleichbarer Wirksamkeit zur Verfü-gung steht.

2. Die nach Artikel 5 erforderliche Einwilligung

Kapitel VIIVerbot der Erzielung von finanziellem Gewinn undWeiterverwertung von menschlichen Körperstük-

ken

Artikel 21 (Verbot der Erzielung von finanziellemGewinn)Der menschliche Körper und seine Teile dürfen alssolche nicht zur Erzielung eines finanziellen Ge-winns verwendet werden.

Artikel 22 (Weiterverwendung entnommener men-schlicher Körperstücke)Körperstücke, die im Verlauf eines Eingriffs ent-nommen werden, können nur dann gelagert undfür einen anderen Zweck als den bei der Entnahmevorgesehenen verwendet werden, wenn dabei dieentsprechenden Aufklärungs- und Einwilligungs-verfahren eingehalten werden.

Kapitel VIIIVerletzung der Bestimmungen der Konvention

Artikel 23 (Verletzung von Rechten oder Grund-sätzen)Die Vertragsstaaten sehen einen geeignetenrechtlichen Schutz vor, um eine widerrechtlicheVerletzung der in dieser Konvention enthaltenenRechte und Grundsätze kurzfristig zu verhindernoder zu beenden.

Artikel 24 (Ersatz für unbillige Schäden)Eine Person, die infolge eines Eingriffs einen unbil-ligen Schaden erlitten hat, hat Anspruch auf eineangemessene Entschädigung entsprechend dengesetzlich vorgeschriebenen Bedingungen.

*) Anm.d. Übers.: Die deutsche Übersetzung hältsich hier sehr eng an die engl. Formulierung, diefür sich spricht.

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muß ausdrücklich und spezifisch entwederin schriftlicher Form erteilt oder vor einemoffiziellen Gremium erklärt worden sein.

Artikel 20 (Schutz von Personen, die nicht in eineOrganentnahme einwilligen können)

1. Die Entnahme von Organen oder Gewebevon einer nicht-einwilligungsfähigen Personim Sinne des Artikels 5 ist nicht erlaubt.

2. In Ausnahmefällen und nach Maßgabe dergesetzlichen Schutzbestimmungen kann dieEntnahme von regenerierbarem Gewebe beieiner nicht-einwilligungsfähigen Person er-laubt werden, wenn die nachfolgenden Be-dingungen erfüllt sind:

i. Es steht kein passender Spender zur Ver-fügung, der einwilligungsfahig ist;ii. Der Empfänger ist ein Bruder oder eineSchwester des Spenders;iii. Die Spende muß für den Empfänger einlebensrettendes Potential haben;iv. Die in Artikel 6, Ziff.. 2 und 3 vorgese-hene Einwilligung ist ausdrücklich und inschriftlicher Form, wie gesetzlich vorge-schrieben, erteilt worden;v. Der potentielle Spender erhebt keine Ein-wände.

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Artikel 25 (Sanktionen)Die Vertragsstaaten sehen geeignete Sanktionenvor, die im Falle eines Verstoßes gegen die Be-stimmungen dieser Konvention zur Anwendungkommen.

Kapitel IXVerhältnis zwischen dieser Konvention und ande-

ren Bestimmungen

Artikel 26 (Einschränkung der Ausübung vonRechten)

1. Eine Einschränkung der Ausübung der indieser Konvention enthaltenen Rechte undSchutzbestimmungen ist nur statthaft, inso-weit diese Einschränkung gesetzlich vorge-sehen ist und eine Maßnahme darstellt, diein einer demokratischen Gesellschaft für dieöffentliche Sicherheit, zur Verhinderung vonstrafbaren Handlungen, zum Schutz der öf-fentlichen Gesundheit oder zum Schutz derRechte und Freiheiten Dritter erforderlich ist.

2. Die in der vorstehenden Ziff. 1 vorgese-henen Einschränkungen von Rechten undSchutzbestimmungen dürfen nicht auf dieArtikel 11, 13, 14, 16, 17, 19, 20 und 21 an-gewandt werden.

Artikel 27 (Weiterreichender Schutz)Keine der Bestimmungen dieser Konvention istdahingehend auszulegen, daß sie die Möglichkeiteiner Vertragspartei zur Gewährung eines über dieBestimmungen dieser Konvention hinausreichen-den Schutzes im Hinblick auf die Anwendung vonBiologie und Medizin einschränkt oder anderweitigpräjudiziert.

Kapitel XÖffentliche Diskussion

Artikel 28 (Öffentliche Diskussion)Die Vertragsstaaten werden dafür sorgen, daß diesich durch die Entwicklungen in Biologie und Medi-zin ergebenden fundamentalen Fragen, insbeson-dere unter Berücksichtigung der relevanten medi-zinischen, gesellschaftlichen, ökonomischen, ethi-schen und rechtlichen Implikationen, zum Gegen-stand einer angemessenen öffentlichen Diskussiongemacht und daß ihre mögliche praktische An-wendung zum Gegenstand geeigneter Beratungengemacht werden.

Kapitel XIAuslegung und Überwachung der Konvention

Artikel 29 (Auslegung der Konvention)Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechtekann jederzeit auf Anrufung durch- die Regierung eines Vertragsstaates, nachdem

diese die anderen Vertragsstaaten informierthat;

- den nach Artikel 32 dieser Konvention einzuset-zenden Ausschuß auf Beschluß einerZwei/Drittel-Mehrheit, wobei die Mitgliedschaftim Ausschuß auf die Vertreter der Ver-tragsparteien dieser Konvention beschränkt ist;

ohne direkten Bezug auf ein bei einem Gericht an-hängiges spezielles Verfahren Rechtsgutachten imZusammenhang mit rechtlichen Fragen der Ausle-gung dieser Konvention abgeben

Artikel 30 (Berichte über die Anwendung dieserKonvention)Auf Aufforderung durch den Generalsekretär desEuroparates werden die Vertragsstaaten Berichterstatten, in welcher Weise die Anwendung der indieser Konvention vorgesehenen Regelungendurch ihr innerstaatliches Recht sichergestellt wird.

Kapitel XIIProtokolle

Artikel 31 (Protokolle)Entsprechend Artikel 32 können zur Weiterent-wicklung der in dieser Konvention enthaltenenGrundsätze für spezifische Bereiche Protokolle ge-schlossen werden.Diese Protokolle stehen den Signatarstaaten derKonvention zur Unterzeichnung offen. Sie bedürfender Ratifizierung, Annahme oder Billigung. Ein Si-gnatarstaat kann die Protokolle nicht ratifizieren,annehmen oder billigen, ohne vorher oder gleich-zeitig die Konvention ratifizieren, angenommenoder gebilligt zu haben.

Kapitel XIIIÄnderungen

Artikel 32 (Änderungen)1. Die dem "Ausschuß" in diesem Artikel 32

und in Artikel 29 zugewiesenen Aufgabenwerden vom Lenkungsausschuß für Bioethik(CDBI) oder von einem anderen, vom Mini-sterkomitee zu diesem Zweck benanntenAusschuß wahrgenommen.

2. Unbeschadet der entsprechendenBestimmungen von Artikel 29, kann jedesMitglied des Europarates und jede Ver-tragspartei dieser Konvention, die kein Mit-glied des Europarates ist, in diesem Aus-schuß vertreten sein und mit einem Stimm-recht von 1 Stimme über die dem Ausschußzugewiesenen Aufgaben mitentscheiden.

3. Die in Artikel 33 genannten Staaten oderentsprechend Artikel 34 zum Beitrag zu die-ser Konvention aufgeforderte Staaten, diekein Vertragsstaat sind, können in dem Aus-schuß durch einen Beobachter vertretenwerden. Wenn die Europäische Wirtschafts-gemeinschaft keine Vertragspartei ist, kannsie im Ausschuß durch einen Beobachtervertreten werden.

4. Zur Verfolgung der wissenschaftlichenEntwicklungen, wird die vorliegende Kon-vention spätestens 5 Jahre nach ihrem In-krafttreten und danach in Abständen, die derAusschuß für angemessen hält, überprüft.

5. Änderungsvorschläge zu dieser Konventionsowie Vorschläge zur Erstellung oder Ände-rung eines Protokolls, die von einem Ver-tragsstaat, dem Ausschuß oder dem Mini-sterkomitee eingebracht werden, sind demGeneralsekretär des Europarates mitzuteilenund von diesem an die Mitgliedstaaten desEuroparates, die Europäische Wirt-schaftsgemeinschaft, die Signatarstaatenund alle nach Artikel 33 zur Unterzeichnungder Konvention aufgeforderten Staaten so-wie alle nach Artikel 34 zum Beitritt auf-geforderten Staaten weiterzuleiten.

6. Der Ausschuß prüft den Änderungsvor-schlag frühestens zwei Monate, nachdem

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kraft.

Artikel 35 (Hoheitsgebiete)1. Jeder Unterzeichner kann bei Unterzeich-

nung oder Hinterlegung der Ratifizierungs-,Annahme- oder Billigungssurkunde das Ter-ritorium oder die Territorien angeben, für dasbzw. die diese Konvention gelten soll. Jederandere Beitrittsstaat kann bei Hinterlegungseiner Beitrittsurkunde die gleiche Erklärungabgeben.

2. Jeder Vertragsstaat kann den Geltungsbe-reich dieser Konvention jederzeit zu einemspäteren Zeitpunkt durch eine an den Gene-ralsekretär des Europarates gerichtete Er-klärung auf ein anderes, in der Erklärunggenanntes, Territorium ausweiten, für des-sen internationale Beziehungen er verant-wortlich oder in dessen Namen er Ver-pflichtungen einzugehen berechtigt ist. Fürdieses Territorium tritt die Konvention nachAblauf einer Frist von drei Monaten nachEingang der Notifikation beim Ge-neralsekretär am ersten Tag des darauffol-genden Monats inkraft.

3. Nach Ziff. 1) und 2) abgegebene Erklärun-gen können hinsichtlich der darin angege-benen Territorien durch Mitteilung an denGeneralsekretär widerrufen werden. Der Wi-derruf tritt nach einer Frist von drei Monatennach Eingang der Notifikation beim General-sekretär am ersten Tag des darauffolgendenMonats inkraft.

Artikel 36 (Vorbehalte)1. Jeder Vertragsstaat und die Europäische

Wirtschaftsgemeinschaft kann bei Unter-zeichnung der Konvention oder bei Hinterle-gung der Ratifizierungsurkunde im Hinblickauf jede Bestimmung der Konvention inso-weit einen Vorbehalt machen, als ein in sei-nem Hoheitsgebiet geltendes Gesetz denBestimmungen der Konvention widerspricht.Vorbehalte allgemeiner Art sind nach die-sem Artikel nicht erlaubt.

2. Jeder nach diesem Artikel geltend gemachteVorbehalt muß eine kurze Angabe desentsprechenden Gesetzes enthalten.

3. Ein Vertragsstaat, der den Geltungsbereichdieser Konvention auf ein in der Erklärungnach Artikel 35, Ziff. 2 genanntes Territoriumausdehnt, kann für dieses Territorium einenVorbehalt nach den vorstehenden Ziff. 1 und2 machen.

4. Jeder Vertragsstaat, der einen Vorbehaltentsprechend dieses Artikels 36 gemachthat, kann diesen jederzeit durch eine an denGeneralsekretär des Europarates gerichteteErklärung widerrufen. Der Widerruf tritt nacheiner Frist von einem Monat nach Eingangdes Widerrufs beim Generalsekretär am er-sten Tag des darauffolgenden Monats in-kraft.

Artikel 37 (Kündigung)1. Diese Konvention kann von jedem Vertrags-

staat durch eine an den Generalsekretär desEuroparates gerichtete Notifikation jederzeitgekündigt werden.

2. Die Kündigung wird nach Ablauf einer Frist

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der Generalsekretär den Änderungsvor-schlag gem. Ziff. 5 übermittelt hat. Der Aus-schuß leitet den mit zwei Dritteln der abge-gebenen Stimmen angenommenen Wortlautzur Billigung an das Ministerkomitee weiter,welches ihn nach Billigung den Vertrags-staaten zur Ratifizierung, Annahme oder Bil-ligung zuleitet.

7. Für Vertragsstaaten, die eine Änderungangenommen haben, tritt diese nach Ablaufeiner Frist von einem Monat ab Datum, andem fünf Staaten, davon mindestes vier Mit-glieder des Europarates, dem Generalse-kretär Mitteilung über ihre Annahme ge-macht haben, am ersten Tag des dar-auffolgenden Monats inkraft.Für eine Vertragspartei, die eine Änderungnachträglich annimmt, tritt diese nach Ablaufeiner Frist von einem Monat ab Datum, andem die Vertragspartei dem GeneralsekretärMitteilung über ihre Annahme macht, am er-sten Tag des darauffolgenden Monats in-kraft.

Kapitel XIVSchlußklauseln

Artikel 33 (Unterzeichnung, Ratifizierung und In-krafttreten)

1. Die Konvention liegt für alle Mitgliedstaatendes Europarates, alle Nicht-Mitgliedstaaten,die an der Erstellung beteiligt waren und fürdie Europäische Wirtschaftsgemeinschaftzur Unterzeichnung auf.

2. Die Konvention bedarf der Ratifizierung, An-nahme oder Billigung. Die Ratifizierungs-,Annahme- oder Billigungurkunden sind beimGeneralsekretär des Europarates zu hinter-legen.

3. Die Konvention tritt nach Ablauf einer Fristvon drei Monaten ab Datum, an dem sichfünf Staaten, davon mindestens vier Mit-gliedstaaten des Europarates, nach Artikel33, Ziff. 2 an die Konvention gebunden er-klären, am ersten Tag des darauffolgendenMonats inkraft.

4. Die Konvention tritt für Unterzeichner, diesich nachträglich an sie gebunden erklären,nach Ablauf einer Frist von drei Monaten abDatum der Hinterlegung ihrer Ratifizierungs-,Annahme- oder Billigungssurkunden am er-sten Tag des darauffolgenden Monats in-kraft.

Artikel 34 (Nicht-Mitgliedstaaten)1. Das Ministerkomitee des Europarates kann

nach Inkrafttreten der Konvention nach Kon-sultation mit den Vertragsstaaten jedenNicht-Mitgliedsstaat des Europarates durchMehrheitsbeschluß nach Artikel 20, lit. d)des Europa-Rat-Statuts und auf einstim-migen Beschluß der Vertreter der Vertrags-staaten, die ein Recht auf einen Sitz im Mi-nisterkomitee haben, auffordern, der Kon-vention beizutreten.

2. Die Konvention tritt für Beitrittsstaaten nachAblauf einer Frist von drei Monaten ab Da-tum der Hinterlegung ihrer Beitrittsurkundebeim Generalsekretär des Europarates amersten Tag des darauffolgenden Monats in-

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von drei Monaten nach Eingang der Notifi-kation beim Generalsekretär am ersten Tagdes darauffolgenden Monats rechtswirksam.

Artikel 38 (Mitteilungen)Der Generalsekretär des Europarates notifiziertden Mitgliedstaaten des Europarates, der Europäi-schen Wirtschaftsgemeinschaft, den Signatar-staaten, den Vertragsstaaten und allen Staaten,die zum Beitritt zu dieser Konvention aufgefordertwurdena jede Unterzeichnung;b jede Hinterlegung einer Ratifzierungs-, An-

nahme- oder Billigungsurkunde;c die Daten des Inkrafttretens dieser Konvention

gem. Artikel 33 oder 34;d jede Änderung und jedes Protokoll, das

entsprechend Artikel 32 angenommen wurdesowie das Datum ihres Inkrafttretens;

e jede nach Artikel 35 abgegebene Erklärung;

f jeden Vorbehalt, der nach Artikel 36 geltend ge-macht oder widerrufen wurde;

g alle sonstigen Akte, Notifikationen oderMitteilungen in Bezug auf diese Konvention.

Zu Urkund dessen haben die hierzu gehörig be-fugten Unterzeichneten diese Konvention unter-schrieben.

Geschehen zu am in englischer undfranzösischer Sprache, wobei jeder Wortlaut glei-chermaßen verbindlich ist, in einer Urschrift, die imArchiv des Europarates hinterlegt wird. Der Gene-ralsekretär des Europarates übermittelt allen Mit-gliedstaaten des Europarates, der EuropäischenWirtschaftsgemeinschaft, den an der Ausarbeitungdieses Übereinkommen beteiligten Nicht-Mitglied-staaten, und jedem Staat, der zum Beitritt zu die-sem Übereinkommen aufgefordert wurde, beglau-bigte Abschriften.

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