NIETZSCHE UND PLATON

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Enrico Müller NIETZSCHE UND PLATON 1. Annamaria Lossi, Nietzsche und Platon. Begegnung auf dem Weg der Um- drehung des Platonismus (Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schrif- ten, Reihe Philosophie, Bd. 421), Würzburg (Königshausen & Neumann) 2006, 220 S., ISBN 3-8260-3403. 2. Laurence D. Cooper, Eros in Plato, Rousseau, and Nietzsche. The Politics of Infinity, University Park Pennsylvania (Pennsylvania State University Press) 2008, XIV + 357 S., ISBN 978-0-271-03330. 3. Seán Burke, The Ethics of Writing. Authorship and Legacy in Plato and Nietzsche, Edinburgh (Edinburgh University Press) 2008, XII + 243 S., ISBN 978-0-7486-1830-9. Nietzsches Denken war als „Umsetzung des Dionysischen in ein philosophisches Pathos“ (EH, GT 3, KSA 6.312) von Beginn an ein Andenken gegen die Begriffe der Lo- gos-Philosophie. Denn in Gestalt des begrifflichen Denkens verbleibt das Philosophie- ren der Moderne zunächst notwendig in einem von den Griechen abgesteckten und weitgehend ausgemessenen Raum. Die Genese dieser Begriffe selbst, die Erfindung der Vernunft, wenn man so will, ist die einmalige unwiederholbare Leistung – sie entspringt einer uns nicht mehr zu erschließenden Erfahrung. Die philosophischen Grundunter- scheidungen der Griechen waren noch Entscheidungen, und als solche Entscheidungen konnten sie noch so oder anders getroffen werden. Es ist dieses Wissen um die unwie- derholbare Anfänglichkeit eines ersten theoretischen Zugriffs, aus dem sich sowohl Nietzsches Bewunderung für als auch seine Aggressivität gegen die griechische Philoso- phie speisen. Sein kritischer Umgang mit der Logos-Philosophie hat die Form einer lebenslangen Auseinandersetzung mit den Protagonisten dieser Philosophie. Das zwischen Faszina- tion und Destruktion oszillierende Verhältnis zu Sokrates und Platon ist von Nietzsche im Hinblick auf die eigenen philosophischen Ambitionen schon früh zum Ausdruck gebracht worden. In einem berühmten Notat von 1870/71 wird das eigene Denken via negationis als „umgedrehter Platonismus“ charakterisiert. 1 Und in einem ebenso be- rühmten Bekenntnis des Jahres 1875 heißt es: „S o c r a t e s, um es nur zu bekennen, steht mir so nahe, dass ich fast immer einen Kampf mit ihm kämpfe.“ (Nachlass 1875, 6[3], KSA 8.97). Für die drei nachfolgend zu besprechenden Monographien sind diese Zitate 1 Zur hinlänglich bekannten Formulierung sei hier noch der Kontext nachgereicht: „Meine Phi- losophie umgedrehter Platonismus: je weiter ab vom wahrhaft Seienden, um so reiner schöner besser ist es. Das Leben im Schein als Ziel.“ (Nachlass 1870/71, 7[156], KSA 7.199). Brought to you by | New York University Authenticated | 216.165.126.139 Download Date | 9/27/13 4:56 PM

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Enrico Müller

NIETZSCHE UND PLATON

1. Annamaria Lossi, Nietzsche und Platon. Begegnung auf dem Weg der Um-drehung des Platonismus (Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schrif-ten, Reihe Philosophie, Bd. 421), Würzburg (Königshausen & Neumann)2006, 220 S., ISBN 3-8260-3403.

2. Laurence D. Cooper, Eros in Plato, Rousseau, and Nietzsche. The Politics ofInfinity, University Park Pennsylvania (Pennsylvania State University Press)2008, XIV + 357 S., ISBN 978-0-271-03330.

3. Seán Burke, The Ethics of Writing. Authorship and Legacy in Plato andNietzsche, Edinburgh (Edinburgh University Press) 2008, XII + 243 S.,ISBN 978-0-7486-1830-9.

Nietzsches Denken war als „Umsetzung des Dionysischen in ein philosophischesPathos“ (EH, GT 3, KSA 6.312) von Beginn an ein Andenken gegen die Begriffe der Lo-gos-Philosophie. Denn in Gestalt des begrifflichen Denkens verbleibt das Philosophie-ren der Moderne zunächst notwendig in einem von den Griechen abgesteckten undweitgehend ausgemessenen Raum. Die Genese dieser Begriffe selbst, die Erfindung derVernunft, wenn man so will, ist die einmalige unwiederholbare Leistung – sie entspringteiner uns nicht mehr zu erschließenden Erfahrung. Die philosophischen Grundunter-scheidungen der Griechen waren noch Entscheidungen, und als solche Entscheidungenkonnten sie noch so oder anders getroffen werden. Es ist dieses Wissen um die unwie-derholbare Anfänglichkeit eines ersten theoretischen Zugriffs, aus dem sich sowohlNietzsches Bewunderung für als auch seine Aggressivität gegen die griechische Philoso-phie speisen.

Sein kritischer Umgang mit der Logos-Philosophie hat die Form einer lebenslangenAuseinandersetzung mit den Protagonisten dieser Philosophie. Das zwischen Faszina-tion und Destruktion oszillierende Verhältnis zu Sokrates und Platon ist von Nietzscheim Hinblick auf die eigenen philosophischen Ambitionen schon früh zum Ausdruckgebracht worden. In einem berühmten Notat von 1870/71 wird das eigene Denken vianegationis als „umgedrehter P la tonismus“ charakterisiert.1 Und in einem ebenso be-rühmten Bekenntnis des Jahres 1875 heißt es: „Socrates, um es nur zu bekennen, stehtmir so nahe, dass ich fast immer einen Kampf mit ihm kämpfe.“ (Nachlass 1875, 6[3],KSA 8.97). Für die drei nachfolgend zu besprechenden Monographien sind diese Zitate

1 Zur hinlänglich bekannten Formulierung sei hier noch der Kontext nachgereicht: „Meine Phi-losophie umgedrehter P la tonismus : je weiter ab vom wahrhaft Seienden, um so reinerschöner besser ist es. Das Leben im Schein als Ziel.“ (Nachlass 1870/71, 7[156], KSA 7.199).

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programmatisch und gewissermaßen verpflichtend. In ihnen herrscht weitgehend Einig-keit darüber, dass das Verhältnis Nietzsches zu Platon nicht als einseitig-eindimensionaleKritik oder negative Abgrenzung zu bestimmen ist. Vielmehr bewegt sich Nietzscheim fortgesetzten Ringen um Abgrenzung angesichts unübersehbarer Ähnlichkeiten nochimmer in einem denkerischen Spielraum, den die sokratisch-platonische Dialektik undKulturkritik überhaupt erst eröffnet hat. Mit den Begriffen des ‚Platonismus‘ und des‚Sokratismus‘ kritisierte Nietzsche stets ein bestimmtes System metaphysischer Leitdiffe-renzen. Die Kritik der Personen Sokrates und Platon vollzieht sich dagegen ‚genealo-gisch‘ und ‚psychologisch‘ – in Form einer provozierenden Rekonstruktion der kulturel-len und individuellen Bedingungen, von denen ihr Denken ausging. Offenkundigerklären sich gerade die heftigsten Angriffe Nietzsches aus dem Grad seiner Nähe zumGegenstand: je größer diese Nähe, desto schärfer urteilend kann und muss er sich vonihm abgrenzen. Nietzsches „Kampf“ mit den beiden Athenern ist der groß angelegteVersuch, die im Werk Platons etablierten philosophischen Werte unter den Bedingungender Moderne umzuwerten. Erst in diesem Umwertungsprojekt entdeckt er jedoch mehrund mehr auch die individuellen Umwertungsprojekte jenseits der dogmatischen Logos-Philosophie: den Sokrates jenseits des „Sokratismus“ und den Platon jenseits des „Plato-nismus“.2

1. Annamaria Lossi deutet das von Nietzsche früh entworfene Programm eines um-gedrehten Platonismus als „phänomenologische Umdrehung“ des Philosophierensselbst – Umdrehung steht hierbei für eine „Umwendung auf etwas“ –, die ihrerseitsnur dann verständlich werde, wenn Platon in sie einbezogen und somit stets mitge-dacht werde (10f.). Dieser Ausgangspunkt überzeugt, zumal der Begriff der Umwendung(metastrofé) seinerseits schon für das platonische Philosophieverständnis leitend war:Platon hat seinen Protagonisten Sokrates im VII. Buch der Politeia diese neue, ideen-orientierte Ausrichtung des Denkens emphatisch als Eintritt in ein neues Leben kenn-zeichnen lassen: Die denkende „Umwendung (metastrofé) vom Werden zur Wahrheit undzum Sein“ sei als „Befreiung (lysis) von den Ketten“ zugleich eine „Umwendung von denSchatten hin zu den Formen und zum Licht und ein Aufstieg vom unterirdischen Ort zurSonne hin.“3

Nietzsches Bezogenheit auf das Werk Platons sichtet Frau Lossi in vier Hauptteilen.Angestrebt ist dabei keine textnahe Interpretation der direkten Bezüge Nietzsches aufPlaton als vielmehr die spekulative Nachzeichnung der Verwandtschaft ihrer Philoso-phien. Eine Diskussion der zahlreichen pointierten und in sich ebenso divergenten wiedifferenzierten Kritiken Nietzsches an Platon und Sokrates wären für eine Konturierungder Arbeit sicher hilfreich gewesen, schon um der Gefahr zu schneller Harmonisierungbeider Philosophien zu entgehen. Gleichwohl ist die Auseinandersetzung mit Nietzschesdirekter Platonkritik für den eher systematischen als rezeptionsgeschichtlichen Anspruchder Arbeit, „die philosophische Einstellung Nietzsches nicht gegen Platon, wie öftersversucht, sondern mit Platon darzustellen“ (S. 203), nicht unbedingt erforderlich.

Im ersten Hauptteil („Auf den Spuren der Griechen“, S. 17–60) steht Nietzsches An-tikebezug mit seinen kulturkritischen Implikationen in Frage. Dabei wird schnell deut-

2 Zur Unterscheidung von metaphysikkritischer Makro- und genealogischer Mikroperspektiveund zum Verhältnis Nietzsches zu Sokrates und Platon im Ganzen vgl. Enrico Müller, Die Grie-chen im Denken Nietzsches (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 50), Ber-lin / New York 2005.

3 Platon, Politeia VII, 525c.

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lich, dass nicht rückwärtsgewandte Vergangenheitsbewältigung, sondern Selbstvergewis-serung und Kritik des Projekts der Moderne im Zentrum von Nietzsches Wieder-aneignung der Antike stehen. Im zweiten Teil („Sterne im Denken“, S. 61–102) wird beiden kosmologischen Aspekten beider Philosophien angesetzt und aus der Entfaltung vonUnterscheidungen wie Kosmos und Chaos oder Sein und Werden Nietzsches physiolo-gische Deutung der Begriffe des Lebens und der Wahrheit als Umdrehung der metaphy-sischen Vereinseitigung des Platonismus sichtbar. Der ästhetischen Dimension des Werksbeider Philosophen gilt das dritte Hauptstück („Philosophische Poiesis“, S. 103–162),das den eher existentiellen und prozessorientierten Begriff des Schaffens in den Mittel-punkt stellt und nach den Hinsichten einer originären Kreativität („plastische Kraft“)einerseits und abbildender Darstellungskunst andererseits („Mimesis“) charakterisiert.Das Platon und Nietzsche gemeinsame Wissen um die Sprachbedingtheit des Denkensund den metaphorischen Ursprung der Begriffe und die Umsetzung dieses Wissens fürdas eigene, teils rhetorisch, teils dialektisch organisierte Philosophieren sind Thema desvierten und letzten Hauptstücks („Sprachgestaltungen: Dialektik und Rhetorik“,S. 163–202). Der hermeneutisch gehaltene, an den großen Themen der Platon- undNietzscheforschung orientierte Ansatz hilft, die Komplementarität Nietzsches und Pla-tons hinsichtlich der kardinalen Begriffe der europäischen Philosophie zu veranschau-lichen. Die Umkehrung wird dabei plausibel gemacht als Rückkehr zu den grundlegendenspekulativen Fragestellungen, die Platon in seiner Auseinandersetzung mit den Sophistennaturgemäß noch anders beantworten musste als Nietzsche in seinem Kampf gegen diePhilister und den metaphysischen Logozentrismus. Die Denkprojekte werden als kom-plementäre dargestellt – sie verhandeln die gleichen Verhältnisse aufgrund nahezu gegen-sätzlicher geistesgeschichtlicher Ausgangspositionen folgerichtig auch aus verschiede-nen, ja divergierenden Perspektiven.

Der Preis für diese Wiedergewinnung gemeinsamer Fragestellungen ist zum einenein ausgesprochen selektiver und methodisch kaum motivierter Textzugriff der Verfas-serin auf die Werke Platons und Nietzsches, obwohl doch der Zusammenhang vonForm und Inhalt, wie in der Arbeit mit Recht oft angemerkt, konstitutiv für das Schaffenbeider Denker ist. Andererseits bleibt die Darstellung der spekulativen BegegnungNietzsches mit Platon in weiten Teilen auffällig vage. Die Arbeit ist immer wieder durch-zogen von unterbestimmt bilanzierenden Sätzen wie dem folgenden: „Sein und Werdenlassen sich durch den Charakter der Umdrehung genauer fokussieren und so im Rahmeneiner weiteren Bewegung verstehen. Was immer bleibt, ist nicht das Sein, sondern dieBewegung selbst, gemeint als werdendes Sein und seiendes Werden.“ (S. 204) Da kannman schwerlich widersprechen, vermisst aber die angestrebte phänomenale Konkretionund diskursive Differenzierung. Dem entspricht nicht zufällig der Umstand, dass zwargelegentlich auf maßgebliche Nietzschedeutungen der Tradition (Heidegger, Granier,Fink, Müller-Lauter, Montinari) verwiesen, das eigene Projekt in der gegenwärtigenNietzscheforschung – und hierin besteht ein ernsthafter Mangel der Arbeit – kaum ver-ortet wird. Dies irritiert um so mehr, als den Themenfeldern „Nietzsche und die Grie-chen“ bzw. „Nietzsche und Platon“ in jüngerer Vergangenheit hohe Aufmerksamkeitzugekommen ist. Großangelegte Arbeiten und Sammelbände zum Zusammenhang vonGriechenbild und philosophischer Kulturkritik bei Nietzsche etwa von Tracy B. Strong(1989), Drew E. Griffin (1992), Manfred Riedel (1999), James Porter (2000), Paul Bi-shop (2004) oder Enrico Müller (2005) werden ebenso wenig in die Diskussion einbe-zogen oder auch nur genannt wie Forschungspositionen zu Nietzsches Platonismusbzw. Antiplatonismus etwa von Stanley Rosen (1987), Victorino Tejera (1987), ReinerWiehl (1990), Catherine Zuckert (1996), Laurence Lampert (2004) oder Thomas Brobjer

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(2004).4 Mag die interpretatorische Stoßrichtung von Frau Lossis Arbeit zu begrüßensein, darf doch die bereits geleistete Forschung nicht ausgeblendet werden.

2. Laurence D. Cooper entwirft in seiner Studie Eros in Plato, Rousseau, and Nietzscheeine Philosophie des Begehrens in Form einer Begegnung dreier psychologischer Kon-zeptionen, denen nach dem Verständnis des Autors ein gemeinsamer Zugang zur Seeleinnewohnt. Coopers Buch ist damit weniger als Beitrag zur Nietzscheforschung anzuse-hen denn als komparatives geistesgeschichtliches Vorhaben mit systematischem Schwer-punkt. Die methodischen Vorannahmen des Projekts sind außerordentlich stark: Platons„Eros“, Rousseaus „Verlangen, unser Sein zu erweitern“ und Nietzsches „Wille zurMacht“ werden als psycho-politische Generalkonzepte auf eine gemeinsame „drivingforce“ der Seele hin ausgelegt – die angeführten Begriffe meinen in Coopers Lesart ledig-lich „different perspectives from which the three philosophers reflect the same thing“(S. 2). Die dynamische Verfasstheit der Seele, ihre strukturelle Unruhe und das damit ein-hergehende Bedürfnis, Widerstände, Grenzen und Endlichkeit zu überwinden, charakte-risieren den gemeinsamen existentiellen Ausgangspunkt. Die philosophische Reflexionder zunächst individuell ansetzenden Psychologien ist von politischer Signifikanz. EinImpetus, den „ambition, aspiration, longing, and the spririted willingness to risk life“(S. 5) auszuzeichnen, bedarf der Sorge und der Kultivierung: An diesem Punkt vollziehtsich für Cooper der Übergang von der philosophischen Psychologie zur philosophischenPolitik. Das sokratische Konzept der „Sorge um die Seele“ und des „Mit-Sich-Selbst-Übereinstimmens“, Rousseaus Auslotungen des Verhältnisses von „amour de soi“ und„amour propre“ sowie Nietzsches Tugendethik des „souveränen Individuums“ seien we-niger apolitisch als vielmehr präpolitisch und wiesen eben damit ins Zentrum des Politi-schen. Nietzsche und Platon, die bis heute gern des politischen Autoritarismus verdäch-tigt würden, seien beide dem Grundgedanken verbunden, Politik stehe letztlich im Dienstaußerpolitischer, dem individuellen oder allgemeinen Guten verpflichteter Ziele. Eben-darin stünden sie eher dem Liberalismus und damit Grundüberzeugungen der Gegen-wart nahe. Andererseits nimmt Cooper die platonisch-sokratische Utopie der Politeia unddes Philosophenkönigtums ebenso beim Wort wie Nietzsches Charakterisierung des Phi-losophen als Gesetzgeber. So wie Cooper die erst identifizierten, dann parallelisierten„psychischen Kräfte“ als „natürliche“ bzw. anthropologische „Fakten“ geltend machenwill, so sei von diesen Gegebenheiten aus bei allen drei Denkern auch eine korrespondie-rende politische Ontologie entwickelt – jeder von ihnen „articulates a coherent politicalphilosophy based on a monistic depth psychology“ (S. 6). Dem essentialistischen An-spruch entspricht ein texthermeneutischer Zugriff, der die Ergebnisse vorzugsweisepostmoderner, aber auch kontinentaler Forschung gezielt in Frage stellt, um anstelle kri-tischer Interpretationsphilosophie für Nietzsche „a coherent and constructive teachingabout the soul and about politics“ (S. 13) geltend zu machen. Bezeichnend für Coopersdirekten Umgang mit Nietzsches Aphorismen ist etwa der Umstand, dass in der aufge-fundenen Formulierung vom „ewigen Grundtext homo natura“ (JGB 230, KSA 5.169)bereits der Beweis für eine unveränderliche psychologische Grundgegebenheit gesehenwird – der Aphorismus als Ganzes ist freilich (unter anderem) eine Konterkarikatur eben-

4 Forschungsbibliographien zum Thema bieten etwa Babette Babich, Nietzsche – Ancient Philo-logy, Ancient Philosophy, and the Classical Tradition, in: New Nietzsche Studies 4 (2000),S. 171–191, und zuvor Rudolf Rehn / Daniel W. Conway (Hg.), Nietzsche und die antike Philo-sophie, Trier 1992, S. 225–258. Zu einer Skizze des Forschungsstands Müller, Die Griechen imDenken Nietzsches, S. 17–28; die oben genannten Arbeiten werden dort diskutiert.

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solcher ontologischer Annahmen. Nicht nur, dass Nietzsches Eingangsformulierung„Grundwillen des Geistes“ bereits in Anführungszeichen erscheint – ebenso wie imzweiten Satz der „Geist“ selbst und wenig später die „Aussenwelt“ und die „Erfahrun-gen“ –, vor allem sind es die Momente der Interpretativität der jeweils auslegenden unddamit eben nicht festlegbaren „Kraft“, die im Aphorismus zur Disposition stehen (ebd.,KSA 5.167). Cooper nimmt es hinsichtlich seiner Lektüre von JGB, die den Hauptteil sei-ner Nietzscheinterpretation ausmacht, freimütig vorweg: „Critics will find my Nietzschetoo ‚orthodox‘“, bzw.: „from the standpoint of Nietzsche’s postmodern legacy, my Nietz-sche is indeed too orthodox“ (S. 12f.).

Sein Platonverständnis legt Cooper auf der Basis einer gemeinsamen, supplementärorganisierten Interpretation von Politeia und Symposion dar. Kapitel 1 bis 4 entwickeln suk-zessive, wie sich die Politisierung und die Erotisierung des Psychischen zueinander ver-halten und einander erhellen. Detaillierte und textnahe Deutungen, etwa die Freilegungeiner erotischen Typologie des Politischen anhand der Figurendarstellung des Symposion,entschädigen dabei für das zugrunde gelegte normative Korsett. Unter dem Gesichts-punkt der Formen philosophischer Schriftstellerei ist auch die Ausgangsthese vonCoopers Nietzscheinterpretation bedenkenswert: JGB sei sowohl hinsichtlich seiner for-malen Gestaltung als auch seiner inhaltlichen Anlage Nietzsches teils rivalisierende, teilsüberbietende Antwort auf Platons Politeia. Im Kapitel 7 („Nietzsche’s Politeia, I“) werdendie Parallelen und Korrespondenzen in Form genereller Leitlinien exponiert, im Kapitel 8(„Nietzsche’s Politeia, II“) dem Kapitelaufriss von JGB folgend weitergeführt, im Kapi-tel 9 („Will to Power versus Eros, or a Battle of Eternities“) werden schließlich die essen-tiellen psychischen Antriebskräfte bei Nietzsche und Platon aufeinander abgebildet. DiePlatonisierung Nietzsches, die Cooper mit seiner Rekonstruktion einer positiven politi-schen Lehre von JGB anstrebt, soll einen humaneren bzw. humanistischeren Nietzschenachweisen, als man ihn bisher vermutete. Wie die Weisheit bei Platon ist es bei Nietzschedie Vornehmheit, die als philosophische, am Guten orientierte Kardinaltugend auch denpolitischen Kosmos strukturiert. Die Grundkräfte des Eros bzw. des Willens zur Machterweisen sich nach Cooper durch ihre philosophische Inanspruchnahme und Kultivie-rung als Anfangs- und Endpunkte einer Platon und Nietzsche einenden psycho-politi-schen Moralphilosophie.

3. Auch Seán Burke geht es nicht primär um Nietzsches Platon-Verständnis. Statt-dessen setzt er Nietzsche und Platon innerhalb seines auf zwei Bände ausgelegten Pro-jekts einer „ethics of writing“ zueinander ins Verhältnis. Der Folgeband soll sich demVerhältnis von „authorship und responsibility“ bei Levinas und Derrida widmen; hierinteressiert nur der erste. Schon die vorhergehenden Arbeiten Burkes kreisten um dasProblem der Autorschaft, die auktoriale Intention von Texten einerseits und ihrer Wir-kungsmacht im Rezeptionsprozess andererseits.5 Es geht ihm um die Verantwortung desSchriftstellers für seine Schriftproduktion, ist der Akt der Veröffentlichung doch nolensvolens ein soziales und ethisches Engagement: „the writer, like any ethical agent, impli-citly signs a contract with society“ (S. 21). Jeder Schriftsteller nimmt damit die Möglich-keiten sowohl des Verstanden- als auch des Nicht-Verstanden-Werdens in Kauf und zeigtdurch die Art und Weise, wie er sich im Werk zu dessen möglichen Rezeptionsformen im-

5 Vgl. Seán Burke, Authorship: From Plato to the Postmodern – A Reader, Edinburgh 1995. Zeit-gleich zur hier rezensierten Arbeit erschien: The Death and Return of the Author: Criticism andSubjectivity in Barthes, Foucault, and Derrida, Edinburgh 2008.

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plizit oder explizit positioniert, seine Verantwortlichkeit. Thema ist also die textimma-nente Etablierung eines Schriftsteller-Leser-Kontrakts, durch den ein ethischer Spielraumdes Diskurses eröffnet, aber auch abgesteckt wird, ein Spielraum, der Interpretationsviel-falt zulässt, aber auch bestimmte Formen des Missbrauchs ausschließen soll.

Warum eine solche Ethik nötig sei, glaubt Burke – leider – durch eine der Einleitungvorhergehende fiktive Erzählung veranschaulichen zu müssen („Prologue: FriedrichNietzsche in Auschwitz, or the Posthumous Return of the Author“, S. 1–18). Die Ge-schichte selbst – Nietzsche, verschlagwortet mit den erwartbaren Passagen, figuriert alsunfreiwilliger Stichwortgeber für die nationalsozialistische Ideologie irgendwo zwischenAlfred Rosenberg, Josef Mengele und einem Erschießungskommando in Auschwitz – isteine einzige Zumutung und soll das vermutlich auch sein. Die Moral der Geschichte lau-tet wie folgt: Als Autor habe Nietzsche ein „Schicksal“ und „Dynamit“ sein wollen, dasLeben auch in seinen harten und entsetzlichen Aspekten als „große Politik“ rückhaltlosbejaht und ferner seine Verantwortlichkeit für jedwede Lektüre seines Werks betont undvon vornherein übernommen. Warum er Nietzsche nach Auschwitz geführt habe, fragtsich der Autor rhetorisch und gibt die Antwort: „He bids us do so“ (S. 15). Ob Burke aufderart brachiale Weise für sein zweifellos berechtigtes Anliegen sensibilisiert, mag jederfür sich entscheiden.

Eine „ethics of writing“ bedarf des personalen Autors und muss diesen darum in Tei-len auch als Konzept reanimieren. Das über den russischen Formalismus in die Postmo-derne hineinreichende Theorem einer nichtautorativen Autorschaft hat bekanntlich zurDekonstruktion des traditionellen personal-orientierten Autorbegriffs geführt, der sichzwischen den Polen eines imaginierenden, konzipierenden und schreibenden Subjektseinerseits und ‚seinem‘ geschaffenen Werk andererseits bewegte. Burke nimmt daran An-stoß, dass seit den Arbeiten Michel Foucaults und Jacques Lacans der ‚Tod des Autors‘ inbestimmten Diskurstraditionen nahezu selbstverständlich geworden ist. Zwar leugnet ernicht die produktiven semiotischen, linguistischen und intertextualitätstheoretischenMomente eines anonymisierten Textbegriffs, kritisiert jedoch dessen ethische Konse-quenzen: „the writer is beyond ethical recall“. Dem Unbehagen darüber, dass die Frage,wer da eigentlich spreche oder schreibe, als „misleading and redundant“ (S. 21) angesehenwerde, setzt er entgegen, dass Anonymität „not a value in itself“ sein könne. Drastischwerden Risiko und Verantwortlichkeit im Schreiben anhand zweier Autoren verdeutlicht:Rushdies Satanische Verse hätten beinahe den physischen Tod des Autors zur Folge gehabtund demonstrierten so das Problem von „risk und unintended outcomes“ im Schreiben,und im Agendacharakter von Hitlers Mein Kampf manifestiere sich das Problem direkterVerantwortlichkeit nur zu deutlich.

Die Frage nach dem Autor führt für Burke als Grundfrage der Literaturkritik notwen-dig zurück zu jenem intervenierenden Sokrates, der als erster von den Dichtern persön-liche Rechtfertigung für ihre ästhetischen Produktionen einforderte und dabei nach eige-nen Angaben immer wieder enttäuscht wurde. Durch die Zuweisung eines Werks an einIndividuum erzwingt Sokrates einerseits Verantwortlichkeiten, um andererseits die Mög-lichkeit von Kritik zu eröffnen. Mit der Etablierung der Schrift in Athen gerät diese ge-rade eröffnete Möglichkeit sofort wieder in Gefahr. Innerhalb der Forschungen zur Ar-chäologie des Verhältnisses von mündlicher und schriftlicher Kommunikation ist manseit Ernst Havelocks Preface to Plato gewohnt, Platon als die paradigmatische Übergangs-figur von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit zu thematisieren. Burkes erstes und um-fangreichstes Kapitel („The Ethical Opening“, S. 46–104) ist zu weiten Teilen produktiveund kritische Auseinandersetzung mit Havelocks Platondeutung. Dass Platon hierbei alsderjenige in Erscheinung tritt, der diesen Übergang nicht nur kritisch mitvollzieht, son-

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dern auch philosophisch reflektiert und ihm zudem durch seine anonyme schriftstelle-rische Inszenierung von Oralität in den Dialogen auch noch performativ Rechnung trägt,wird treffend herausgearbeitet, dürfte aber Platon-Kenner nicht mehr überraschen. Ha-velocks zu stark auf die Ausgrenzungsoperationen der Politeia fokussierter Deutung stelltBurke immer wieder die selbstreflexiven Schrift- und Mitteilungsanalysen des Phaidros ge-genüber. Nietzsche wiederum, der die sokratische Logos-Praxis als Verfallssymptom undden kulturellen Wandel Athens zunächst als Niedergang rekonstruiert hat, konterkariertdie performativen Absichten Platons in seiner eigenen schriftstellerischen Praxis. Erschafft durch die Selbsteinschreibung ins Dionysische eine Form vorsokratischer dunklerOralität, welche die Trennung zwischen Subjekt und Objekt, Autor, Text und Leser ver-unmögliche und die Haltung kritischer Distanz durch das Gefühl ritueller gemeinschaft-licher Praxis ersetze. Die folgenden Kapitel explizieren diese Differenz: Von Beginn sei-nes Projekts an lässt Burke keinen Zweifel daran, dass in der Schriftkritik des Phaidros diebis heute weitreichendste Analyse des Problems der Autorschaft vorliegt, deren Stärkevor allem sei, die Paradoxien des Problems als Angelegenheit der Ethik zu verhandeln:„discursive circulation is here specified as an ethical theme“ (S. 138). Die Angst vor demunkontrollierbaren Zirkulieren des geschriebenen Worts gebe dem corpus Platonicum nichtals einer Wissenschaft, sondern als einem Œuvre, das halbliterarisch und halbphiloso-phisch sein soll und will, seine eigentümliche Gestalt. Die platonische Einschreibung indie sokratische Existenz (gefasst als lebenslange Inspiration durch bzw. schlussendlicheBefreiung von Sokrates) sowie die Etablierung von Frage- und Antwortverhältnissen wei-sen auf jenen Rahmen, in dem eine Ethik der Schrift bei Platon immer schon zu finden ist.

Die monströse posthume Wirkung Nietzsches macht für Burke die Notwendigkeiteiner werkimmanenten Ethik des Schreibens manifest. Nietzsche selbst habe auf die Sin-gularität seiner Signatur insistiert und die Isolation seines Schreibens und denkerischenExistierens gezielt zur Maßgabe seiner Rezeption gemacht – eben darin agiert er fürBurke jene Aporien der Autorschaft paradigmatisch aus, die in der Schriftkritik des Phai-dros exponiert werden. Im Mittelpunkt von Burkes Interpretation („The Textual Estate:Nietzsche and Authorial Responsibility“, S. 192–221) steht nunmehr EH, das „more aprospect than retrospect, an exercise in selfpromotion rather than a clarification or criti-que“ sei (S. 193). Dass Nietzsche keine „intrinsischen Kriterien“ angeben könne, nachdenen eine „korrekte“ von einer „inkorrekten“ Lektüre seines Werks zu unterscheidensei, liege letztlich in der Natur dieses Werks selbst begründet: sei dieses doch eher eineCounter-Philosophy, die mehr von ihrer mutigen dekonstruktiven Radikalität lebe als vonder Plausibilität ihrer „constructive doctrines“. Platon und Nietzsche zählen als Begrün-der und Zerstörer der Logosphilosophie zu jenen „catastrophic philosophers“, in denensich die Diskurse vermischen und neue Formationen bilden, weil bestehende Grenzendes Denkens nicht anerkannt werden. Ihnen stellt Burke die Denker des Wiener Kreises,Quine oder Strawson als „rigorous philosophers“ gegenüber, die bestimmte bestehendeGenres akzeptieren und ihren eigenen Diskurs und dessen Rezeptionsmöglichkeitengleichsam vorprogrammieren. Aber auch Platon, Marx und Freud haben als katastrophi-sche Denker ihr in sich vieldeutiges Werk veröffentlicht, institutionell vergemeinschaftetund somit versachlicht (Burke nennt hier beispielhaft die Akademie und die Psycho-analytische Gesellschaft), um auf diese Weise dem Problem ihrer Autorschaft und derenIntentionen Rechnung zu tragen. Sie haben einerseits Rezeptionsformen nahegelegt, an-derseits interpretative und kanonisierende Institutionen gleichsam um sich und ihr Werkherum organisiert und sich damit auch innerhalb einer ethics of writing bewegt, ohneeine solche auszuformulieren. Nietzsche dagegen verweigere den „generic contract be-tween text and reader“, er wolle ebenso sehr verstanden wie nicht verstanden werden,

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er wolle zwar Lehrstühle zur Auslegung des Za, nicht aber deren Lehren verantwortenund übernehme letztlich aggressiv nur dafür die Verantwortung, schicksalhaft in jedwe-der möglichen Hinsicht zu sein: „Nietzsche’s signature is heroic in the tragic sense of ma-king an ethically responsible acknowlegdement of an ethically irresponsible act.“ (S. 210)An letztgenannter Feststellung ist vieles richtig. Dass sich aber unter solchen Vorausset-zungen der Begriff der Verantwortung selbst maßgeblich verschiebt, scheint Burke trotzseiner immer wieder auf Derridas Nietzschelektüren zurückgreifenden Deutung nichtmehr zu sehen. Überhaupt verbleibt der Autor in seiner mitunter klischeehaft werdendenDarstellung dionysischer Sprachgewalt und Denkpraxis fortwährend im Reich von Un-terscheidungen, die durch Nietzsche problematisch geworden sind (Kritik – Imagination,Rationalität – Emotionalität, Wissenschaft – Literatur, Ethik – Ästhetik), um eben Nietz-sche für das fortwährende Unterlaufen derselben in die Verantwortung nehmen zu kön-nen. Auch Nietzsches Mitteilungstechniken werden zwar immer wieder angeführt, nichtaber als schriftstellerische Option einer neuen philosophischen Ausgangslage reflektiert,sondern als literarisch-strategisches Spiel mit dem Leser betrachtet.

Im Schlusswort („Conclusion: Creativity versus Containment: The Aesthetic De-fence“, S. 222–232) macht Burke noch einmal die grundlegende Stellung Platons für dasProblem der Autorschaft deutlich und verweist auf den zweiten Band seines Projekts zueiner „authorial ethics of writing“: Plädiert werden soll darin für eine diskursive Ethik inder Art der Dekonstruktion Derridas, die, radikal kritisch, dennoch den spekulativenGeist der Tradition erhält, ihn dabei aber zugleich auch gegen politische Ideologisierungund praktischen Missbrauch zu schützen vermag. Nietzsche ist nun kein Thema mehr.Das Schweigen des Verfassers macht sein Urteil umso deutlicher: Nietzsche philoso-phierte voraussetzungslos und ungeschützt, bekannte sich dazu und war seiner Rezeptiondarum schutzlos ausgeliefert – also ist er für jede Inanspruchnahme auch zur Verantwor-tung zu ziehen. Schon in der Einleitung hatte Burke die moralische Stoßrichtung seinerArbeit freimütig hervorgehoben: „Indeed a theoretically informed rewriting of Popper’sThe Open Society and its Enemies from a Derridean perspective was the original intention ofthis work“ (S. 35). Für den Fall Platons ist dies sicher gelungen. Im Fall Nietzsches freilichhat Popper hier allzu schnell über Derrida gesiegt.

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