Nikolas Jaspert Die Reconquista Christen und Muslime auf ......einkunft mit dem westgotischen...

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2019. 128 S., mit 2 Karten ISBN 978-3-406-74007-7 Weitere Informationen finden Sie hier: https://www.chbeck.de/27671846 Unverkäufliche Leseprobe © Verlag C.H.Beck oHG, München Nikolas Jaspert Die Reconquista Christen und Muslime auf der Iberischen Halbinsel 711-1492

Transcript of Nikolas Jaspert Die Reconquista Christen und Muslime auf ......einkunft mit dem westgotischen...

  • 2019. 128 S., mit 2 Karten ISBN 978-3-406-74007-7

    Weitere Informationen finden Sie hier: https://www.chbeck.de/27671846

    Unverkäufliche Leseprobe

    © Verlag C.H.Beck oHG, München

    Nikolas Jaspert Die Reconquista Christen und Muslime auf der Iberischen Halbinsel 711-1492

    https://www.chbeck.de/27671846

  • «Reconquista» ist ein schillernder Begriff. Er beschwört zu-nächst eine fast 700-jährige Geschichte von blutigen Kämpfenzwischen Christen und Muslimen auf der Iberischen Halbinselherauf, die 1492 in der Eroberung des muslimischen König-reichs Granada durch die «Katholischen Könige» kulminierten.Nikolas Jaspert zeigt jedoch in dem vorliegenden Band, dasseine solche Sichtweise auf die Vorgänge zwischen 711 und 1492zu einer unangemessenen Vereinfachung führt – das Signumdieser Zeitspanne war weit mehr als nur religiöse Feindschaft.

    Ausgehend vom Ende des Westgotenreichs im Jahr 711 bietetder Autor nicht nur einen ebenso fundierten wie spannendenÜberblick über die wichtigsten Königreiche und ihr wechseln-des Kriegsglück, sondern lässt die «Reconquista» gleichsam alsEpoche kulturellen Austauschs lebendig werden. So erzählt ervon der ethnisch-religiösen Vielfalt in al-Andalus, christlich-muslimischen Bündnissen, interreligiöser Heiratspolitik, diplo-matischen Beziehungen und Gefangenenfreikauf. Er geht inseiner durchwegs gut lesbaren Darstellung, die auch noch diejüngste Forschung berücksichtigt, Fragen nach, deren aktuelleBezüge unübersehbar sind: Wie lebten Juden, Christen undMuslime unter der Herrschaft Andersgläubiger? War die «Re-conquista» ein iberischer Kreuzzug? Gab es auch eine islami-sche «Reconquista»? Indem Nikolas Jaspert das spätere Fort-leben dieses Kampfbegriffs als wirkmächtiges Narrativ in denamerikanischen Kolonien und im rhetorischen Arsenal neuerRechtsextremer verfolgt, schlägt er den Bogen bis in unsereZeit.

    Nikolas Jaspert lehrt als Professor für Mittelalterliche Geschich-te an der Universität Heidelberg. Ihn zeichnet vor allem seineExpertise im mediterranen und insbesondere iberischen Raumaus, wie seine zahlreichen Publikationen zu Themen wie denKreuzzügen, Ritterorden, transkulturellen Beziehungen, See-raub und dem Meer als Kommunikationsraum belegen.

  • Nikolas Jaspert

    DIE RECONQUISTA

    Christen und Muslime auf derIberischen Halbinsel

    711–1492

    C.H.Beck

  • Mit 2 Karten(© Peter Palm, Berlin)

    Originalausgabe© Verlag C.H.Beck oHG, München 2019

    www.chbeck.deSatz: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

    Druck und Bindung: Druckerei C.H.Beck, NördlingenReihengestaltung Umschlag: Uwe Göbel (Original 1995, mit Logo),

    Marion Blomeyer (Überarbeitung 2018)Umschlagabbildung: Miniatur aus Cantigas de Santa Maria

    (‹Lieder für die heilige Maria›), Lied CLXXXVII, 13. Jahrhundert,© Patrimonio Nacional, Madrid

    Printed in Germanyisbn 978 3 406 74007 7

    klimaneutral produziertwww.chbeck.de/nachhaltig

  • Inhalt

    1. al-Andalus: Die Iberische Halbinsel kommt untermuslimische Herrschaft (711–1031) 7Vom Ğabal Ṭāriq (Gibraltar) bis zu den Pyrenäen . . 7Ethnische und religiöse Vielfalt . . . . . . . . . . . 9

    2. Im Zeichen der Restauration (ca. 722–ca. 1035) 14Reizbegriff «Reconquista» . . . . . . . . . . . . . . 14Das Königreich Asturien: «Neogotismus» undder Vorstoß in die Meseta . . . . . . . . . . . . . . 17Die Reiche des Nordens . . . . . . . . . . . . . . . 20Diplomatie und interreligiöse Heiratspolitik . . . . 22

    3. Die Taifenreiche und ihre christlichen Nachbarn(1031–1085) 26Tribute und Bündnisse . . . . . . . . . . . . . . . . 26Religiöse Aufladung . . . . . . . . . . . . . . . . . 29Der Einfluss der Kirche und der «Proto-Kreuzzug»gegen Barbastro . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

    4. «Reconquista» und Kreuzzug: Narrative und Praktiken 36Die Iberische Halbinsel, ein neues Heiliges Land? . . 36Pragmatik und religiöse Deutung . . . . . . . . . . 41

    5. Wechselndes Kriegsglück (1085–1199) 46Aufstieg und Fall der Almoraviden . . . . . . . . . 46Die Bewegung der Almohaden. . . . . . . . . . . . 51

    6. Die Zeit der großen christlichen Eroberungen(1199–1260) 54Der Sprung nach Süden . . . . . . . . . . . . . . . 54Gab es eine islamische «Reconquista»? . . . . . . . 59

  • 7. Grenzkriege und Grenzgesellschaften (ca. 1260–1480) 62Die Nasriden und ihre erfolgreiche Schaukelpolitik 62Zwietracht unter den Christen . . . . . . . . . . . 67«Heiße Grenze» oder Zone des Austauschs? . . . . 69Gefangenenloskauf . . . . . . . . . . . . . . . . . 75

    8. Mehr als der Cid: Akteure und Pragmatismus 81Monarchen und Adel . . . . . . . . . . . . . . . . 81Päpste, Bischöfe und Ritterorden . . . . . . . . . . 84Festungen und Krieger . . . . . . . . . . . . . . . . 88Seitenwechsel und Verträge . . . . . . . . . . . . . 91

    9. Das Leben unter der Herrschaft Andersgläubiger 96Im Zeichen des Halbmonds . . . . . . . . . . . . . 96Unter dem Kreuz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97Abgrenzungsbemühungen . . . . . . . . . . . . . . 101Emigration – Immigration . . . . . . . . . . . . . . 103

    10. Iberisches Ende und amerikanische Anfänge(1481–ca. 1550) 107Krieg um Granada . . . . . . . . . . . . . . . . . 107Erinnerungsgeschichte und Fortlebender «Reconquista»-Ideologie . . . . . . . . . . . . 110

    Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126

  • 1. al-Andalus: Die Iberische Halbinsel kommtunter muslimische Herrschaft (711–1031)

    Vom Ğabal Ṭāriq (Gibraltar) bis zu den Pyrenäen

    Im April 711 überquerte ein muslimischer, wahrscheinlich ber-berischer Heerführer namens Ṭāriq ibn Ziyād (gest. ca. 720) zu-sammen mit einer Streitmacht von einigen Tausend Reitern undFußsoldaten die Meerenge, die Nordafrika von der IberischenHalbinsel trennt. Damit griff er das Reich der Westgoten an. DerOrt, an dem Ṭāriq ibn Ziyād an Land ging, trägt noch heuteseinen Namen, Gibraltar oder «Berg des Tariq» (arab. ĞabalṬāriq). Kurze Zeit später wurde seine Armee von der Streitmachtdes westgotischen Königs Roderich gestellt. In der Schlacht, diezwischen dem 19. und 23. Juli 711 am Fluss Guadalete (arab.Wādī Lakku) ausgefochten wurde, fiel König Roderich, und seinHeer erlitt eine vernichtende Niederlage. Das Westgotenreich,das seit dem Beginn des 6. Jahrhunderts die Iberische Halbinselbeherrscht und nachhaltig geprägt hatte, war besiegt.Ṭāriq ibn Ziyād handelte nicht in eigener Sache. Er war von

    Mūsā ibn Nuṣayr (gest. 715) entsandt worden, der im Dienstder in Damaskus residierenden Kalifen aus dem Geschlecht derUmayyaden stand. Mūsā, als Gouverneur für die nordafrikani-schen Gebiete zuständig, überquerte 712 persönlich zusammenmit seinen Söhnen und weiteren Kämpfern die Meerenge vonGibraltar. In den folgenden etwa acht Jahren unterwarf das ver-einigte Heer alle christlichen Territorien der Iberischen Halb-insel bis an den Rand der Pyrenäen. Weitere umayyadische Heer-führer konnten das islamische Herrschaftsgebiet sogar nachSüdfrankreich ausdehnen, wurden jedoch in den Dreißigerjah-ren des 8. Jahrhunderts von den Franken über die Pyrenäen zu-rückgedrängt. Dieses Gebirge markierte fortan die Grenze zwi-schen dem christlichen, dem römisch-päpstlichen Kirchenritusfolgenden «Lateineuropa» und den islamisch beherrschten Ge-

  • 1. Die Iberische Halbinsel kommt unter muslimische Herrschaft8

    bieten der Iberischen Halbinsel. Von den Muslimen wurde dasihnen unterstehende Territorium – vielleicht in Anlehnung andie Vandalen, die zu Beginn des 5. Jahrhunderts Südspanien be-herrscht hatten – als «al-Andalus» bezeichnet.

    Der fulminante Sieg der nordafrikanischen Invasoren imFrühjahr 711 und der rasche Zusammenbruch der westgoti-schen Herrschaft haben in der Geschichtswissenschaft immerwieder Fragen aufgeworfen: Wie konnte eine vergleichsweisekleine Streitmacht über das Heer des Westgotenreichs siegen?War dieses geschwächt, und wenn ja: wodurch?

    Lateinische Quellen des 8. und arabische Texte des 9. Jahr-hunderts, die von den Ereignissen berichten, liefern wenige Hin-tergrundinformationen. Im 13. Jahrhundert hingegen wussteein christlicher Autor, Lucas von Tuy (gest. 1249), die vermeint-lichen Schuldigen zu benennen: Juden seien es gewesen, welcheden Eindringlingen in verräterischer Absicht die KönigsstadtToledo in die Hände gegeben hätten. Zwar wurden die jüdischenGemeinden des Westgotenreichs in der Tat in den Jahren vor dermuslimischen Eroberung massiv unterdrückt, doch liegen keinezeitgenössischen Hinweise vor, die auf eine Kollaboration deu-ten könnten, so verständlich diese auch gewesen sein möge. Eineandere Erklärung ist plausibler: Schon der anonyme Autor dersogenannten «Mozarabischen Chronik von 754» berichtet voninneren Streitigkeiten in der Führungsschicht des Westgoten-reichs. Im Jahre 710 war König Witiza gestorben. Aus den Strei-tigkeiten um dessen Nachfolge ging der erwähnte Roderich alsSieger hervor, doch gab es auch eine Fraktion, welche die jungenSöhne des verstorbenen Königs favorisierte und aus diesemGrund von den Muslimen Nordafrikas Militärhilfe erbat. Ara-bische Quellen nennen auch einen geheimnisvollen, angeblichbyzantinischen Grafen Julian, der die Verhandlungen mit Ṭāriqibn Ziyād geführt und ihn zur Invasion eingeladen haben soll.

    Die jüngere Geschichtsforschung hat eine Reihe weitererGründe für den muslimischen Erfolg ausgemacht: etwa denSchlachtentod König Roderichs, der das Reich führungslos zu-rückließ, oder die Inbesitznahme des Reichsschatzes durch dieMuslime bei der Einnahme Toledos. Außerdem gingen die Erobe-

  • Ethnische und religiöse Vielfalt 9

    rer geschickt vor: Sie sicherten lediglich vereinzelte städtischeVorposten militärisch und arrangierten sich gezielt mit lokalenMachthabern. Mit einigen Territorialherren schlossen sie Ver-träge, welche deren Herrschaft weitgehend intakt ließen, so-lange die muslimische Oberhoheit anerkannt wurde. Die Über-einkunft mit dem westgotischen Adeligen Theudemir (gest.ca. 743), der über ein ausgedehntes Gebiet an der südlichenLevanteküste um Orihuela gebot, illustriert dieses Vorgehen.Auf der Grundlage solcher Verträge konnten einzelne Familieninsbesondere in den Städten ihre soziale Stellung behalten. Man-che von ihnen konvertierten zum neuen Glauben und nahmenauch unter muslimischer Herrschaft Führungspositionen ein.Andere christliche Adelige zogen sich auf das Land zurück undgelangten erst nach mehreren Jahrzehnten zu einer Einigung mitden neuen Machthabern. Aus ihnen gingen teils einflussreiche,nunmehr islamisierte Geschlechter hervor wie etwa die wohlnach einem westgotischen Grafen Cassius benannten «Söhne desQasī» (arab. Banū Qasī) im Nordosten der Iberischen Halbinsel.

    Für die spätere, mittelalterliche Begründung der muslimi-schen Eroberung des 8. Jahrhunderts sollten sich indes nichtdiese Verträge mit den Einheimischen als wirkmächtig erweisen,sondern vielmehr die Geschichten von Witiza und den jüdischenVerrätern. Sie wurden von Chronisten des hohen und spätenMittelalters aufgegriffen und dienten als Warnung davor, wieschnell sich das Glück wenden und ein Reich untergehen kann,wenn seine Einwohner uneins sind und sich versündigen. Aller-dings dienten diese Narrative aber auch jenen christlichen Auto-ren des späteren Mittelalters als Argument, welche die Loyalitätunterworfener Juden und Muslime infrage stellen sollten.

    Ethnische und religiöse Vielfalt

    Heutzutage wird der beispiellose Siegeszug des Islam im 7.und 8. Jahrhundert häufig unter dem Begriff der «islamischenExpansion» oder der «arabischen Expansion» gefasst. Doch istdas zutreffend? Wer genau waren die Männer, die 711 in derSchlacht am Guadalete kämpften und in der Folge die Iberische

  • 1. Die Iberische Halbinsel kommt unter muslimische Herrschaft10

    Halbinsel unter islamische Herrschaft brachten? Bei genaueremHinsehen wird deutlich, dass es sich weder um eine ethnischnoch religiös kohärente Streitmacht handelte und daher die ver-einfachende Bezeichnung arabisch bzw. islamisch zumindest irre-führend ist. Zum einen bildeten die sogenannten «Araber»– imengeren Sinne die Bewohner der arabischen Halbinsel, die wie-derum zwischen Nord- und Südarabern zu scheiden sind – garnicht die Mehrheit in der Armee der Invasoren, bestand dochdas Aufgebot größtenteils aus unterworfenen und erst kurzzuvor zum Islam konvertierten Berbern, bei denen wiederumunterschiedliche Stämme zu unterscheiden sind (vor allem Ṣan-hāğa- und Zanāta-Berber). Zum anderen dürften keineswegsalle Krieger Muslime gewesen sein. Dazu war die Islamisierungdes Maghreb zu Beginn des 8. Jahrhunderts noch nicht hinrei-chend fortgeschritten, und die neuen Herren zeigten ohnehinkein besonderes Interesse, die Unterworfenen zu missionieren.Dass die Eroberung aber von Beginn an im Zeichen des Islamerfolgte, belegen nicht nur die geschriebenen Texte, sondernauch die ersten Münzprägungen der Sieger.

    Vor allem die ethnische Heterogenität der Eroberer, die nochanstieg, als zur Mitte des 8. Jahrhunderts infolge innerer Un-ruhen weitere muslimische Truppen aus Syrien nach al-Andaluskamen, sollte Folgen zeitigen. Zu dieser Vielfalt trugen außer-dem die islamisierten Sklaven aus Mittel- und Ostmitteleuropabei, die vor allem im 9. und 10. Jahrhundert in großen Mengengekauft und ins Land gebracht wurden. Manche von ihnen wur-den bei Hofe eingesetzt und erscheinen als sogenannte Ṣaqāliba(Slawen) in den arabischen Quellen.

    Aus nord- und südarabischen, berberischen, syrischen undslawischen Muslimen sowie aus ehemaligen Christen und Judensetzte sich also die islamische Bevölkerung in al-Andalus zu-sammen. Die zum Islam übergetretenen Christen werden in denarabischen Quellen als muwalladūn (span. muladíes) bezeich-net. Mit der Zeit dürften diese Konvertierten und ihre Nach-fahren die Mehrheit der muslimischen Gesellschaft ausgemachthaben.

    Die Gründe für ihren Religionswechsel sind im Einzelfall

  • Ethnische und religiöse Vielfalt 11

    kaum zu greifen und ohnehin selten auf einen Faktor zu redu-zieren. Neben denen, die aus religiöser Überzeugung den neuenGlauben annahmen, gab es andere, die sich Vorteile aus diesemSchritt versprachen. Im Islam genießen die nichtmuslimischenAngehörigen der Buchreligionen (arab. ahl al-kitāb) als soge-nannte Dhimmis (arab. ahl aḏ-ḏimma) gewisse verbriefte Rechte.Diese wurden zwar oft situativ niedergelegt und angepasst, dochlassen sich einerseits einige grundlegende Privilegien benennen,welche Christen unter muslimischer Herrschaft beanspruchenkonnten, andererseits aber auch Pflichten, denen sie nachkom-men mussten, sowie Einschränkungen, denen sie unterlagen.Dazu gehörte etwa, dass es Dhimmis nicht gestattet war, ohneErlaubnis Gotteshäuser zu bauen; sie hatten sich im öffentlichenRaum unauffällig zu benehmen und durften keinen Lärm ver-ursachen – vor allem keine Geräusche, die auf ihre Religionhinwiesen. Sie waren zur Abgabe einer Kopfsteuer (arab. ğizya)verpflichtet und mussten Muslimen gegenüber ihre Ehrerbietungerweisen. Im Gegenzug waren sie als Religionsgemeinschaftgeduldet und es war ihnen erlaubt, ihren Glauben – allerdingsdiskret – auszuüben. Insofern genossen die Christen, aber auchdie Juden, in al-Andalus eine eingeschränkte Religionsfreiheitinnerhalb einer den Islam privilegierenden Religionshierarchie.Zugleich waren sie aber in sozialer Hinsicht diskriminiert unddamit einer Form staatlichen und gesellschaftlichen Drucks un-terworfen, die man als strukturelle Gewalt bezeichnen kann.Der wachsende Einfluss des mālikitischen Rechts und damit einegewisse Normensystematisierung sind ebenfalls in Rechnungzu stellen. Anziehung und Zwang (sog. Pull- und Pushfaktoren)waren also gleichermaßen ursächlich dafür, dass mit der Zeitimmer weniger Christen in al-Andalus lebten.

    Allerdings blieben beachtliche jüdische und christliche Gruppenüber Jahrhunderte hinweg ihrem Glauben treu. Sie übernahmennicht die muslimische Religion, sehr wohl aber die arabischeSprache. Sie wurden also arabisiert, nicht jedoch islamisiert,und entwickelten damit kulturelle Eigenheiten, die sie von ihrenGlaubensgenossen in christlich beherrschten Gebieten unter-schieden. Die Christen unter muslimischer Herrschaft – die

  • 1. Die Iberische Halbinsel kommt unter muslimische Herrschaft12

    sogenannten Mozaraber (vom arab. mustaʿrib = Arabisierter) –entwickelten liturgische Besonderheiten und verfügten über ei-gene Bischöfe sowie eine eigene Kirchenstruktur, deren sichtba-rer Kopf der Erzbischof von Toledo war.

    Gegen ihre Arabisierung regte sich allerdings vereinzelt auchWiderstand. So kritisierten islamische Gelehrte die allzu großeNähe zwischen Christen und Muslimen, und christliche Kleri-ker wiederum mahnten ihre Glaubensgenossen zur Orthodoxie.In der Mitte des 9. Jahrhunderts entstand eine christliche Bewe-gung, die islamische Autoritäten bewusst provozierte und damitRepressionen herausforderte, die bis zur Hinrichtung einzelnerChristen reichten. Diese in christlichen hagiographischen Tex-ten als Märtyrer (von Córdoba) gefeierten Männer und Frauenwollten vermutlich ihren andalusischen Glaubensgenossen alsVorbilder dienen und diese von einer vollständigen Assimilie-rung an ihr muslimisches Umfeld abbringen. Oft aus höherensozialen Schichten stammend, versuchten sie erfolglos, sicheiner letztlich unaufhaltsamen Entwicklung entgegenzustellen.Andere wiederum wählten den Weg der Migration und zogen inden christlichen Norden.

    Trotz dieser Beispiele für Gewalt und Unterdrückung seitensder Machthaber – auch die ersten antijüdischen Pogrome Euro-pas im muslimischen Granada des Jahres 1066 ließen sich an-führen – wies al-Andalus bis weit ins 12. Jahrhundert hinein einebeachtliche ethnische und religiöse Vielfalt auf. Denn neben denverschiedenen muslimischen Gruppen verblieben auch jüdischeund christliche Gemeinden im Land. Mehr noch: Vor allem dieJuden hatten ihr Auskommen und Möglichkeiten aufzusteigen,die ihnen anderswo in Europa verwehrt waren. Diese Jahrhun-derte jüdischen Lebens auf der Iberischen Halbinsel unter mus-limischer Herrschaft sind daher mit gewissem Recht als «golde-nes Zeitalter» des iberischen Judentums bezeichnet worden.

    Die wesentlichen konfliktträchtigen Spannungslinien im al-Andalus der Umayyadenzeit scheinen denn auch nicht zwischenden Religionsgemeinschaften, sondern zwischen ethnischenGruppen verlaufen zu sein. Schon in den Dreißigerjahren des8. Jahrhunderts brachen Streitigkeiten zwischen arabischen und

  • Ethnische und religiöse Vielfalt 13

    berberischen Gruppen aus. Immer wieder sollte das Reich in derFolge durch bürgerkriegsähnliche Unruhen (arab. fitna, Plur.fitan) erschüttert werden, von den vielen kleineren Rebellionenganz zu schweigen. Zwar entwickelte sich Córdoba im Verlaufdes 9. und vor allem während des 10. Jahrhunderts zu einerschillernden Metropole und zur bevölkerungsreichsten StadtEuropas. Im Jahre 929 sagte sich der Emir von Córdoba sogarvon der Zentralgewalt des sunnitischen Islam in Bagdad los undrief ein eigenes Kalifat aus, womit er in Konkurrenz zum Abba-sidenkalifat in Bagdad und zum Fatimidenkalifat in Kairo denAnspruch erhob, das Oberhaupt der gesamten muslimischenGemeinschaft (arab. umma) zu sein. Unter seiner und seinerNachfolger Herrschaft stellte das Umayyadenkalifat von Cór-doba im 10. Jahrhundert unzweifelhaft das herausragende kul-turelle und politische Zentrum des westlichen Mittelmeerraumsdar. Und dennoch war auch dieses Kalifat stets von zentrifuga-len Kräften gekennzeichnet, welche die Herrschaft der Umayya-den immer wieder – etwa während der großen fitan in den letz-ten Jahrzehnten des 9. Jahrhunderts oder von 1009 bis 1031 – zudestabilisieren drohten.

    Diese internen Konflikte schwächten die Macht der Emiredes 9. und der Kalifen des 10. Jahrhunderts insbesondere an denGrenzen des Reiches und eröffneten an der Peripherie die Mög-lichkeit zur Bildung eigenständiger Herrschaften. Dies galt auchfür die besonders abgelegenen Gebiete im äußersten Norden derHalbinsel, wo die Zentralgewalt in Córdoba nicht über die Mit-tel oder den Willen verfügte, ihre Herrschaft mit aller Konse-quenz durchzusetzen. Dort, in den gebirgigen Randzonen desReichs, lebten Christengemeinschaften, welche die muslimischeOberherrschaft entweder nie akzeptiert oder sehr schnell wie-der abgeworfen hatten. Sie nutzten den Schutz der Berge, dieEntfernung zur Machtzentrale und deren Schwächephasen dazuaus, Eroberungszüge zu unternehmen. In der historischen Rück-schau sind diese militärischen Unternehmungen als Beginn einesProzesses angesehen worden, der mit dem umstrittenen Begriffder «Reconquista» belegt wird.

  • 2. Im Zeichen der Restauration (ca. 722–ca. 1035)

    Reizbegriff «Reconquista»

    Während in Deutschland die «Reconquista» als geschichtswis-senschaftlicher Fachbegriff weitgehend wertneutral verwendetwird, ist er in der spanischsprachigen Welt mit vielen, oftmalsnegativen Bedeutungen aufgeladen. Vor allem in Spanien selbst –in geringerem Maße auch in Portugal – hat er in den letzten200 Jahren verschiedentlich dazu gedient, aktuelle politischeAnsprüche historisch zu legitimieren. «Reconquista» ist keinmittelalterlicher Begriff, sondern fand erstmals Ende des 18. Jahr-hunderts Verwendung. Wirkmächtigkeit begann er zu Beginndes 19. Jahrhunderts nach der napoleonischen Invasion Spa-niens zu entfalten. Die Erfahrung der Unterdrückung durch diefranzösischen Invasoren und der erfolgreiche Freiheitskampfbildeten das zeitgenössische Fundament für eine neue Interpre-tation mittelalterlicher Kriege als Befreiungskriege.

    Am folgenreichsten für die Wirkungsgeschichte des Begriffs«Reconquista» war der zwischen 1936 und 1939 blutig ge-führte, noch heute tief im kollektiven Bewusstsein verankerteSpanische Bürgerkrieg. Denn die Nationalisten unter GeneralFrancisco Franco Bahamonde (gest. 1975) erklärten ihren Auf-stand zu einer christlichen Wiedereroberung Spaniens aus derHand des Kommunismus, des Freimaurertums und des Juden-tums. Um ihren Putsch zu legitimieren, stellten sie ihn als einenKreuzzug dar. Franco ließ sich dezidiert als Wiedereroberer(span. reconquistador) eines «heidnischen» Spanien feiern. DieseInanspruchnahme war ein Grund dafür, dass sich die postfrankis-tische spanische, aber auch die portugiesische Forschung mitdiesem Begriff, der so stark politisch aufgeladen und mit einertraumatischen Erfahrung der jüngeren Geschichte verknüpftwar, schwertat.

    Selbst in jüngsten politischen Debatten wird noch auf das

  • Reizbegriff «Reconquista» 15

    Konzept zurückgegriffen, um die jeweilige Position zu stärken.Die stets virulente, zu Beginn des 21. Jahrhunderts wieder auf-geflammte Diskussion um die Einheit Spaniens, die katalanischeUnabhängigkeitsbewegung und der allenthalben feststellbareAufschwung des Nationalgedankens in Europa werfen Fragenauf: Waren alle Teile Spaniens in gleichem Maße von der mittel-alterlichen «Reconquista» geprägt? Sollte das moderne Katalo-nien wieder in einen straff zentralistisch organisierten National-staat eingegliedert oder gar «zurückerobert» werden? Auch imradikalen islamischen Fundamentalismus wird das Konzept der«Reconquista», allerdings unter Vermeidung des Begriffs, auf-gegriffen: Die Wortführer rufen unumwunden zu einer gewalt-samen Wiederherstellung des untergegangenen islamischen Ka-lifats auf spanischem Boden auf.

    Diese neuen Instrumentalisierungen mehren nur ältere Vor-behalte gegen die Nutzung eines derart aufgeladenen Begriffs.Schon früh wurde angemerkt, es handele sich bei dem Terminus«Reconquista» um ein modernes Konzept, das den mittelalterli-chen Menschen fremd gewesen sei. Im Übrigen suggeriere er ei-nen dauerhaften Kriegszustand, obwohl es doch lange Periodendes Friedens oder sogar der Bündnisse zwischen Christen undMuslimen auf der Iberischen Halbinsel gab, wie noch gezeigtwerden soll. Der spanische Philosoph José Ortega y Gasset (gest.1955) formulierte diesbezüglich einprägsam: «Wie kann man et-was als Rückeroberung bezeichnen, was acht Jahrhunderte an-gedauert hat?» Ein weiterer Vorwurf lautete und lautet, mit demTerminus «Reconquista» greife man zwar keinen mittelalter-lichen Begriff auf, aber man benutze sehr wohl unreflektiert einideologisches, religiöses Konzept des Mittelalters. Kritische His-toriker forderten deshalb einen Perspektivenwechsel von denSiegern zu den Besiegten und schlugen vor, lieber schlicht vonEroberung oder sogar von Aggression zu sprechen als den letzt-lich legitimierenden Begriff der Rückeroberung zu verwenden.

    Es kommt hinzu, dass auch in der mediävistischen Geschichts-forschung die Nutzung des Begriffs «Reconquista» unscharf ist,kennzeichnet er doch gleich vier Sachverhalte: Erstens wird erdazu verwendet, eine aus der historischen Rückschau konstru-

  • 2. Im Zeichen der Restauration (ca. 722–ca. 1035)16

    ierte Periode – den Zeitraum von der Schlacht von Covadongaca. 722 bis zur Eroberung Granadas 1492 – zu umschreiben;zweitens bezeichnet er die militärischen Auseinandersetzungenzwischen Christen und Muslimen auf der Iberischen Halbinselüberhaupt; drittens benennt er die konkrete «Rückeroberung»einzelner Befestigungen oder Städte durch die Christen; seinevierte Verwendung in der Forschung ist schließlich am weitestengefasst, wird doch damit die Wiederherstellung politischer,kirchlicher oder territorialer Ordnung durch mittelalterlicheChristen bezeichnet.

    Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, ob man den Begriff der«Reconquista» überhaupt noch benutzen sollte. Trotz aller Vor-behalte wird er aber in diesem Buch verwendet. Zum einen des-halb, weil – wie wir noch sehen werden – zwar nicht der Begriff,wohl aber die Vorstellung einer Wiederherstellung christlicherHerrschaft über die Iberische Halbinsel auch im Mittelalterwirksam war. Zum anderen sind alternative Begrifflichkeitennoch weniger überzeugend. Der Terminus «Eroberung» (Con-quista) zum Beispiel ist im Wissenschaftsdiskurs mittlerweilefest zur Kennzeichnung der europäischen Expansion in Süd-amerika eingeführt und damit besetzt. Außerdem würde derBegriff der Eroberung die Spezifika der iberischen Situation imeuropäischen Vergleich zu wenig zum Ausdruck bringen, dieIdeologisierung des Krieges in diesem Raum verschweigen undeine Rückwirkung dieses Konzepts auf die zeitgenössischenHandlungsträger negieren. Auch der als Alternativvorschlagvorgebrachte Terminus der «Restauration» kann letztlich nichtüberzeugen, versperrt er doch den Blick auf ein wesentlichesAnliegen nicht weniger Akteure: eben jene blanke Eroberung.Schließlich haben sich weite Teile der Geschichtswissenschafttrotz aller Vorbehalte in Ermangelung einer überzeugenden Al-ternative mit dem komplizierten Terminus «Reconquista» abge-funden. Daher wird er auch in diesem Buch benutzt – allerdingsstets in Anführungszeichen gesetzt, um seine Vielschichtigkeitund Umstrittenheit zum Ausdruck zu bringen.

    Trotz dieser Einschränkung ist der Vorwurf nach wie vor nichtausgeräumt, mit der Verwendung des Begriffs «Reconquista»

  • Das Königreich Asturien 17

    die Sprache der Sieger zu sprechen. Nicht zuletzt aus diesemGrund soll im Folgenden ein besonderes Augenmerk auf Aus-tauschprozesse zwischen Christen und Muslimen gelegt und die«Reconquista» auch als ein «transkulturelles» Phänomen begrif-fen werden. Transkulturelle Studien beschäftigen sich mit Ver-flechtungs- und Austauschprozessen, die sie nicht als Ausnahme-situation, sondern als Grundlage menschlicher Gesellschaftenverstehen. Sie behandeln allerdings selten kriegerische Ausein-andersetzungen, obwohl auch diese eine Form der Verflechtungzwischen Gesellschaften und Gruppen darstellen. Denn selbstdie Konstruktion von Feindbildern gründet häufig auf Kennt-nissen über ein zum Widersacher erklärtes Gegenüber und damitauf Wissensaustausch. In diesem Buch soll es daher nicht nurum Gewalt zwischen Christen und Muslimen, sondern auch umfriedliche Formen des Austauschs zwischen ihnen gehen, wenn-gleich eine Darstellung über die «Reconquista» insbesondere dieSpannungslagen und ihre Folgen in den Blick zu nehmen hat.

    Das Königreich Asturien: «Neogotismus»und der Vorstoß in die Meseta

    Wie der Auftakt zur muslimischen Eroberung der IberischenHalbinsel wird auch der Beginn der «Reconquista» nach landläu-figer Vorstellung durch eine Schlacht markiert: Ein christlichesAufgebot unter einem Heerführer namens Pelayo (gest. 737) be-siegte um das Jahre 722 eine muslimische Armee. Die kriegerischeAuseinandersetzung wurde in Covadonga ausgetragen, in demheute als Picos de Europa bekannten Teil des KantabrischenGebirges im Norden Spaniens. Es handelte sich um die zweiteNiederlage eines muslimischen Heeres seit der Vernichtung desWestgotenreichs (721 hatte bereits Eudo, Herzog von Aquita-nien – gest. 735, einen Sieg über eine muslimische Armee errun-gen). Weder auf christlicher noch auf muslimischer Seite findensich ausführlichere zeitgenössische Berichte über dieses Ereignis.Erst spätere, zu Beginn des 10. Jahrhunderts im nordspanischenAsturien am dortigen Königshof entstandene Chroniken schil-dern das Geschehen detailliert. Diese Texte stilisieren das Ge-

  • 2. Im Zeichen der Restauration (ca. 722–ca. 1035)18

    fecht – es dürfte sich um das Aufeinandertreffen zweier kleinererKontingente gehandelt haben – aus der historischen Rückschauzu einem epochalen, göttlich gefügten Großereignis, bei dem an-geblich 187000 Menschen auf dem Schlachtfeld oder auf derFlucht starben. Der Kampf habe sich in der Nähe eines Marien-heiligtums zugetragen, und Gott selbst habe dafür gesorgt, dassdie Christen gegen ihre Feinde die Oberhand behielten.

    Hier und in anderen Werken der asturischen Hofchronistikjener Zeit wurden ältere, nur ansatzweise erkennbare Deutungs-muster des 8. und 9. Jahrhunderts aufgegriffen und wegweisendfortentwickelt. Zum einen handelte es sich um die Vorstellung,die Christen hätten in ihrem Kampf gegen die Muslime die Wie-derherstellung des untergegangenen Westgotenreichs zum Zielgehabt. Dieses Konzept wird in der Forschung als «Neogotis-mus» bezeichnet. Nachdem die christlichen Westgoten aus ihrerangestammten Heimat vertrieben worden seien, hätten sich ihreNachkommen darum bemüht, dieses Land wiederzuerlangen.Daher wurden diese Christen, zum anderen, mit dem Volk Israeldes Alten Testaments gleichgesetzt. Auch dieses musste seineHeimat aufgeben, erhielt sie aber schließlich dank göttlicherFügung zurück – weil es von Gott so und nicht anders vorher-bestimmt war. Es ist unmöglich zu bestimmen, wie stark diesebeiden, wahrscheinlich von Klerikern entwickelten Vorstellun-gen tatsächlich auf zeitgenössische Akteure einwirkten. Aberunzweifelhaft erwies sich dieses um das Jahr 900 voll ausge-prägte Geschichtsbild für die spätere Geschichte der westlicheniberischen Reiche – aber keineswegs für alle christlichen Herr-schaften – als außerordentlich wirkungsvoll. Denn durch den«Neogotismus» wurde aus Gebietseroberung Wiedereingliede-rung, aus Expansion Rekuperation.

    Als zu Beginn des 10. Jahrhunderts in der Chronik König Al-fons’ III. von Asturien (gest. 910) über die Schlacht von Cova-donga berichtet wurde, hatte sich die Situation der asturischenChristen im Vergleich zu der des 8. Jahrhunderts bereits starkverändert. So war nicht nur ein selbstbewusstes Königtum ent-standen, das Kontakte zu anderen Höfen im christlichen Europaunterhielt, Klöster stiftete und in direkter Fortsetzung westgo-

  • Das Königreich Asturien 19

    tischer Traditionen Paläste errichtete (vor allem in der seit demBeginn des 9. Jahrhunderts ausgebauten Königsstadt Oviedo).Darüber hinaus hatte dieses Königreich Schwächeperioden desmuslimischen Emirats von Córdoba zu seinen Gunsten zu nut-zen verstanden. In der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts ge-lang es den Asturern, die westlich und östlich angrenzendenTerritorien von Galicien und Kantabrien einzunehmen. Rundein Jahrhundert später wurde ihnen durch Rebellionen musli-mischer Herrschaftsträger gegen die Zentralgewalt die Mög-lichkeit eröffnet, nach Süden vorzustoßen. Beutezüge nachal-Andalus hatten schon früher und über die Jahrhunderte im-mer wieder stattgefunden – 798 war sogar Lissabon von denTruppen Alfons II. (gest. 842) angegriffen worden. Doch nunwurden die eingenommenen Vorposten gehalten und damit sys-tematisch erobert. In einer Reihe von militärischen Unterneh-mungen gelang es namentlich Alfons III., sein Herrschaftsgebietin die Hochebene südlich des Duero auszudehnen. Die Erobe-rungen bzw. Wiederbesiedlungen von städtischen Siedlungen –León (ca. 853/6), Porto (868), Zamora (893), Simancas (899),Toro (900) u.a.m. – markieren diesen Prozess. Damit verwan-delte sich das asturische Reich grundlegend: Es war nun nichtmehr nur ein Bergreich, das durch das Kantabrische Scheide-gebirge vom zentraliberischen Hochland, der Meseta, getrenntwar, sondern erstreckte sich zu beiden Seiten des Gebirges undöffnete sich dem Süden. Eine Reihe von Burgen sicherten dasTal des Duero und die östliche Grenze. Besonders folgenreichwar die Einnahme der alten römischen Stadt Legio (benanntnach der römischen Legio VII Gemina), des heutigen León.Seit 914 verlagerten die asturischen Könige ihren Regierungs-schwerpunkt zunehmend dorthin und nannten ihr Reich baldKönigreich León.

    Während des 10. Jahrhunderts, der Blütezeit des Kalifats vonCórdoba, zeigte sich das Kriegsglück der Christen durchauswechselhaft. Schwere Niederlagen leonesischer und navarresi-scher Truppen gegen die Muslime des Südens wie etwa das De-bakel von Valdejunquera des Jahres 920 standen neben Siegenwie dem von Simancas im Jahre 939. Zwar gelang es christli-

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    chen Truppen im Verlauf des 10. Jahrhunderts, über den Duerovorzustoßen und jenseits des Flusses (lat. estrema Durii, span.Extremadura) vereinzelte Städte wie Salamanca oder Sepúlvedazu gründen. Doch waren diese Orte als Außenposten starkgefährdet. Sie wurden entweder von Personen besiedelt, die ausdem christlichen Norden kamen, oder von Mozarabern, diewieder unter christlicher Herrschaft leben, damit der privile-gierten Religion angehören und ihre Religion frei ausüben woll-ten. Die Neuankömmlinge werden auch durch die wirtschaft-lichen Möglichkeiten angezogen worden sein, die das wenigbewohnte Grenzgebiet Siedlern eröffnete.

    Die Reiche des Nordens

    Zur Mitte des 10. Jahrhunderts war das asturisch-leonesischeReich jedoch schon lange nicht mehr das einzige christlicheKönigreich auf der Iberischen Halbinsel. Insgesamt müssen fürdiese Zeit fünf christliche Reiche differenziert werden, die oben-drein Prozesse der Abspaltung und Vereinigung durchmachten,was die Geschichte der Iberischen Halbinsel im Mittelalter zu-weilen unübersichtlich macht. Im Folgenden sollen diese Herr-schaften knapp (von Westen nach Osten) skizziert werden.

    An der Südostflanke des Königreichs León löste sich zu dieserZeit durch geschickte Anlehnung an andere Mächte, aber auchaufgrund militärischer Erfolge gegen die Muslime im Süden dieGrafschaft Kastilien allmählich aus der Verfügungsgewalt derleonesischen Könige. Zur Mitte des 11. Jahrhunderts sollte siesich endgültig als selbständiges Königreich Kastilien etablierthaben. Dabei schwankte das Verhältnis zu den muslimischenNachbarn im Süden, aber auch zu den christlichen Nachbarnim Westen (León) und Osten (Navarra) zwischen Konkurrenzund Kooperation.

    Östlich von Kastilien war bereits im Verlauf des 9. Jahrhun-derts aus dem Zusammenspiel zwischen führenden christlichenFamilien und örtlichen muslimischen bzw. islamisierten Macht-habern eine Herrschaft entstanden, die zuerst als KönigreichPamplona bzw. Königreich von Nájera, bald aber als Königreich

  • Die Reiche des Nordens 21

    von Navarra bezeichnet werden sollte. Die Namensänderungenkennzeichnen nicht zuletzt die militärische Expansion diesesKönigreichs, das sich 921 den bedeutenden Ort Nájera einver-leibte. Der wesentliche Gegner auf muslimischer Seite war in denJahrzehnten vor diesem Sieg nicht so sehr der entfernte Kalifvon Córdoba als vielmehr das konkurrierende, zwischenzeitlichimmer wieder mit den Navarreser Herrschern verbündete Ge-schlecht der Banū Qasī bzw. Banū Mūsā. Auf eine vom Chris-tentum zum Islam konvertierte Adelsfamilie zurückgehend, be-herrschte es an der Wende zum 10. Jahrhundert in nominellerAbhängigkeit von den Umayyadenherrschern in Córdoba einbeträchtliches Territorium im Osten der Iberischen Halbinsel,das in den arabischen Quellen als ṯagr al-ʿAlā («Obere Mark»)bezeichnet wurde. Dessen bedeutendste Herrschaftszentren wa-ren die Städte Tudela und Zaragoza. Die Banū Qasī bzw. BanūMūsā sind ein typisches Beispiel für halbautonome Herrschaft-sträger an den Außengrenzen des Umayyadenreiches: Die Herr-scher aus diesem Geschlecht betrieben eine geschickte Schaukel-politik zwischen ihren christlichen Nachbarn einerseits, mitdenen sie sich mal verbündeten oder verheirateten, mal im Krieglagen, und der Zentralgewalt in Córdoba andererseits, der siemal Tribute zahlten und mal die Treue aufkündigten.

    Der Niedergang der Banū Qasī in der ersten Hälfte des10. Jahrhunderts bedeutete den endgültigen Aufstieg des navar-resischen Königtums. In dieser Zeit wurden die Rioja und auchGebiete jenseits des Ebros wie Nájera oder Calahorra den Mus-limen abgenommen und die Oberherrschaft über die karolingi-sche Grafschaft Aragon erlangt. Den Höhepunkt seiner Machterlebte das Königreich unter König Sancho III., dem Großen(gest. 1035). Diesem gelang es, durch geschickte Heiratspolitikund gezielte Militärschläge die Grafschaft Kastilien und das Kö-nigreich León in sein Herrschaftsgefüge einzubinden. Damitentstand das erste christliche Großreich nach dem Ende derWestgotenzeit. Es umfasste sogar einige östlich an Navarra an-grenzende Pyrenäengrafschaften.

    Zwei der den Nordosten der Halbinsel prägenden Grafschaf-ten – das Königreich Aragon und die Grafschaft Barcelona –

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    entwickelten sich im Laufe des 11. Jahrhunderts allmählich zuHegemonialmächten. Ähnlich dem Königreich Asturien entstan-den sie im Schutz eines Gebirges, in diesem Fall der Pyrenäen.Die Grafschaft Aragon befand sich lange in Abhängigkeit vomKönigreich Navarra, doch nach dem Tod König Sanchos III. imJahre 1035 etablierte sie sich als selbstständiges Königreich, das1068 vom Papst anerkannt wurde und dessen Herrscher sichab 1069 «von Gottes Gnaden König von Aragon» nannte.

    Im äußersten Nordosten der Iberischen Halbinsel wiederum,im heutigen Katalonien, entstand zu Beginn des 9. Jahrhundertseine ganze Reihe von Grafschaften, welche die südlichste Grenzedes Karolingerreichs bildeten. Sie waren infolge einer Expe-dition des Jahres 801 unter Führung Ludwigs (gest. 840), desSohns Karls des Großen (gest. 814), eingerichtet worden und si-cherten das Pyrenäengebirge als eine der Reichsgrenzen. WenigeKilometer südlich von Barcelona befand sich die nach Westenparallel zu den Pyrenäen verlaufende Grenze zwischen den ka-rolingischen Grafschaften und dem muslimisch beherrschtenal-Andalus – oder der Hispania, wie es christliche Quellen jenerZeit nannten. Dies sollte bis zur Jahrtausendwende so bleiben,wobei beide Seiten gelegentlich Vorstöße unternahmen. In denJahren 856 und 987 zum Beispiel wurde Barcelona von musli-mischen Truppen geplündert. Die Franken unternahmen ihrer-seits militärische Expeditionen gegen die muslimischen StädteṬurṭūxa und Tarraqūna (Tortosa und Tarragona) oder sogar bisin das Kerngebiet des Kalifats wie beispielsweise eine gemein-sam von den Grafen von Barcelona, Urgell und Besalú, sowieörtlichen Bischöfen durchgeführte Expedition gegen Córdobaim Jahr 1010.

    Diplomatie und interreligiöse Heiratspolitik

    Auch wenn die christlich beherrschten Territorien von der Mittedes 7. bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts in der Tendenz expan-dierten, kann keineswegs von einer generellen Rückeroberungs-politik gesprochen werden. Einige dieser Gebilde waren nominellohnehin von anderen abhängig: die katalanischen Grafschaften

  • Diplomatie und interreligiöse Heiratspolitik 23

    zum Beispiel vom Karolingerreich, die Grafschaften Kastilienund Aragon zwischenzeitlich vom Königreich León bzw. Na-varra. Außerdem waren die christlichen Reiche keineswegs voll-ständig unabhängig von muslimischen Mächten. Aufschluss-reich sind in diesem Zusammenhang Berichte über Besuche, dieder umayyadische Kalif in Córdoba von seinen christlichenNachbarn erhielt. So erschienen während jener Zeit regelmäßigGesandte der christlichen Herrschaften auf der Iberischen Halb-insel als Bittsteller oder Tributpflichtige an seinem Hof. Denndie meisten christlichen Herrschaften der Iberischen Halbinselbefanden sich während jener Zeit immer wieder und für langePerioden in einem untergeordneten Verhältnis zum Umayyaden-Emirat bzw. -Kalifat von Córdoba. Diese Stellung wurde nichtnur durch Tributzahlungen zum Ausdruck gebracht, wie siezwischenzeitlich auch das Königreich Asturien entrichtete, son-dern auch dadurch, dass christliche Herrscher ihre Kinder alsGeiseln nach al-Andalus schickten oder ihre Töchter mit demEmir bzw. Kalifen verheirateten.

    Der berühmte asturische König Alfons III. zum Beispielschickte seinen Sohn an den Hof der Banū Qasī, der erste Königvon Pamplona entsandte seinen Sprössling an den Umayyaden-hof, und dieser Prinz sollte später wiederum seine Tochter dort-hin verheiraten. Solche nach al-Andalus geschickten Prinzessin-nen wurden Teil des Harems, und manche von ihnen erlangteneinflussreiche Positionen bei Hof und gebaren sogar Thronfol-ger. ʿAbd ar-Raḥmān III. (gest. 961), der erste Kalif der andalu-sischen Umayyaden, entstammte in zweiter Generation einersolchen transreligiösen Verbindung, und sein Nachfolger al-Ḥa-kam II. (gest. 976) war der Sohn einer Christin. Subḥ, die Mut-ter von Hishām, der auf al-Ḥakam folgte, stammte aus Navarraoder dem Baskenland und war darüber hinaus wesentlich fürdie Karriere des bedeutendsten Generals in der Geschichte vonal-Andalus, Almansor (gest. 1002), verantwortlich.

    Abū ʿĀmir Muḥammad ibn ʿAbd Allāh b. Abī ʿĀmir, besserbekannt als Almanzur oder Almansor, stieg in Subḥs Dienstzum Beschützer des Prinzen und späteren Kalifen Hishām II.(gest. 1013) auf und war faktisch von 978 bis zu seinem Tod im

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    Jahre 1002 Alleinherrscher des Umayyadenreiches. Seine Regie-rungszeit ist für die Geschichte christlich-muslimischer Kon-flikte auf der Iberischen Halbinsel besonders relevant, weil erseit 977 mindestens 50 militärische Expeditionen gegen unter-schiedliche christliche Reiche des Nordens unternahm. Die al-lermeisten dieser Kriegszüge waren aus muslimischer Sicht er-folgreich, weshalb er als «Geißel der Christen» in die Geschichteeingegangen ist. Keine Stadt, keine Region war vor den Angrif-fen seiner ganz wesentlich aus berberischen Söldnern bestehen-den Heere sicher. Die Attacken richteten sich sowohl gegen Ga-licien, León und Kastilien als auch gegen Navarra und diekatalanischen Grafschaften. Die Städte Astorga, Zamora undPamplona wurden viermal angegriffen, León sogar fünfmal. Be-sonders berühmt und folgenreich waren seine Razzien gegenBarcelona im Jahr 985 und gegen Santiago de Compostela imJahr 997: Die Niederlage des Grafen von Barcelona und vor al-lem die Enttäuschung über die mangelnde Unterstützung deswestfränkischen Königs sollten die Loslösung der katalanischenGrafschaften aus dem fränkischen Reichsverband beschleuni-gen. Als ein beachtlicher Propagandacoup wiederum kann diePlünderung der Apostelkirche von Compostela bezeichnet wer-den. Der siegreiche Almansor ließ nämlich besiegte Christen öf-fentlichkeitswirksam die Glocken des Gotteshauses von San-tiago bis nach Córdoba tragen.

    So sehr der General die Macht des Kalifats stabilisierte undes gegenüber den christlichen Territorien sicherte, so sehr stürztesein Verscheiden im August 1002 – er starb eines natürlichenTodes – das Reich in eine tiefe Krise. Seinem Sohn und Nachfol-ger (auch dieser Spross einer Verbindung mit einer christlichenPrinzessin aus Navarra) gelang es nicht, die Herrschaft dauer-haft zu sichern. Das Reich wurde von Nachfolgekämpfen er-schüttert, die sich über drei Jahrzehnte hinzogen. Nur vor demHintergrund dieses Machtvakuums nach dem Tod Almansorsist der oben beschriebene zeitgleiche Aufstieg Sanchos III. vonNavarra und die Vereinigung christlicher Territorien unter seinerHerrschaft zu verstehen.

    Aus dem einst mächtigen Umayyadenreich gingen nun über

  • Diplomatie und interreligiöse Heiratspolitik 25

    30 kleinere Herrschaften, die sogenannten Taifenreiche hervor(von arab. ṭāʾifa = Partei). Einige von ihnen wie beispielsweisedie Taifen (arab. ṭawāʾif) von Zaragoza, Toledo, Badajoz, Sevillaoder Granada entwickelten sich zu bedeutenden Wirtschafts-und Kulturzentren, auch wenn ihre militärische Macht begrenztwar und sie oft miteinander im Streit lagen. Erst in jüngerer Zeithat die Forschung begonnen, diese Kleinherrschaften nicht mehrals defizitäre Übergangserscheinungen zwischen dem Ende desKalifats und dem Aufstieg neuer Großreiche anzusehen.

    Es kann als ein Zufall angesehen werden, dass fast zeitgleichmit der endgültigen Auflösung des Kalifats im Jahre 1031 auchim christlichen Norden die hegemoniale Herrschaft Sanchos III.zerbrach. Nach dem Tod des Königs im Jahre 1035 wurdesein Herrschaftsgebiet unter seinen Söhnen aufgeteilt. Dadurchrückten León, Navarra und Aragon wieder zu eigenständigenReichen auf, die von Königen regiert wurden und sich unterein-ander phasenweise – den Taifenreichen im Grunde nicht unähn-lich – auf das Heftigste bekämpften.

    Im 12. Jahrhundert schlossen sich einige dieser christlichenReiche zusammen, womit neue, eigenständige Territorien ent-standen: Die Königreiche León und Kastilien waren in dieserZeit mal vereinigt, mal getrennt, bis sie im Jahr 1230 endgül-tig unter Wahrung ihrer angestammten Rechte geeint wurden.Das Königreich Aragon und die Grafschaft Barcelona wiede-rum gingen eine Konföderation ein, die als «Krone Aragon» be-zeichnet wird und sukzessive die verbliebenen Pyrenäen-Graf-schaften integrierte. Im äußersten Westen schließlich sagte sichdie Grafschaft Portugal vom Königreich León los und entwi-ckelte sich zur Mitte des 12. Jahrhunderts zu einem selbständi-gen, 1179 von den Päpsten anerkannten Königreich. Fortansollten diese vier Mächte – Portugal, Kastilien-León, Navarraund die Krone Aragon – mal in Kooperation, mal im Konfliktmiteinander das Herrschaftsgefüge im christlichen Norden be-stimmen.

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