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SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE __________________________________________________________________________________
SWR2 LITERATUR
REISE UNTER DIE GEHIRNSCHALE
EINES RIESEN
SIEBEN ABSCHWEIFUNGEN ZU JEAN PAUL
VON HOLGER NOLTZE
SENDUNG /// 18.06.2013 /// 22.03 UHR
Produktion WDR
Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2
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Reise unter die Gehirnschale eines Riesen.
Musik Haydn, The Creation (Representation of Chaos)
JP „Vor Sonnenaufgang am ersten Junius (unten wars Abend) kniete
der Genius schweigend hin und betete mit den Augen und
stummzitternden Lippen ein Gebet für Gustav, das über sein ganzes
gewagtes Leben die Flügel ausbreitete. Eine Flöte hob oben ein
inniges liebendes Rufen an, und der Genius sagte, selber
überwältigt: ‚Es ruft uns heraus aus der Erde, hinauf gen Himmel;
geh mit mir, mein Gustav.' Der Kleine bebte vor Freude und Angst.“
AU Eine Auferstehung. Sie geschieht im fünften Sektor von Jean
Pauls frühem Roman „Die unsichtbare Loge“, erschienen 1793.
Folgendermaßen war es dazu gekommen: Der Rittmeister von
Falkenberg hatte Ernestine, die Tochter des Obristforstmeisters von
Knör, heiraten dürfen unter der Bedingung, dass er erstens sie im
Schachspiel schlagen könne, zweitens aber zustimmte, deren erstes
Kind, das ist hier der kleine Gustav,
JP „acht Jahre unter der Erde zu erziehen und zu verbergen, um
dasselbe nicht gegen die Schönheiten der Natur und die
Verzerrungen der Menschen zugleich abzuhärten.“
AU Uns kommt das wohl grausam vor, ein Kind in einem
unterirdischen Gelass aufwachsen zu lassen, nur begleitet von
einem sanften Jüngling, der hier Genius heißt, und der dem Knaben
jetzt einen schönen Tod verspricht, der in Wahrheit ein zur Welt
kommen ist.
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JP „Die Flöte tönet fort – sie gehen den Nachtgang der Himmelleiter
hinauf – zwei ängstliche Herzen zerbrechen mit ihren Schlägen
beinahe die Brust – der Genius stößet die Pforte auf, hinter der die
Welt steht – und hebt sein Kind in die Erde und unter den Himmel
hinaus … Nun schlagen die hohen Wogen des lebendigen Meers
über Gustav zusammen – mit stockendem Atem, mit erdrücktem
Auge, mit überschütteter Seele steht er vor dem unübersehlichen
Angesicht der Natur und hält sich zitternd fester an seinen Genius…“
AU Und dann stürzen Natur, Welt, wimmelndes Leben auf Gustav,
und auf den Leser ein Ungetüm von einem Satz, wie er in der
deutschen Literatur bis dahin nicht zu lesen gewesen war:
JP „Als er aber nach dem ersten Erstarren seinen Geist
aufgeschlossen, aufgerissen hatte für diese Ströme – als er die
tausend Arme fühlte, womit ihn die hohe Seele des Weltall an sich
drückte – als er zu sehen vermochte das grüne taumelnde
Blumenleben um sich und die nickenden Lilien, die lebendiger ihm
erschienen als seine, und als er die zitternde Blume tot zu treten
fürchtete – als sein wieder aufwärts geworfnes Auge in dem tiefen
Himmel, der Öffnung der Unendlichkeit, versank – und als er sich
scheuete vor dem Herunterbrechen der herumziehenden
schwarzroten Wolkengebirge und der über seinem Haupt
schwimmenden Länder – als er die Berge wie neue Erden auf
unserer liegen sah – und als ihn umrang das unendliche Leben, das
gefiederte neben der Wolke fliegende Leben, das summende Leben
zu seinen Füßen, das goldne kriechende Leben auf allen Blättern,
die lebendigen, auf ihn winkenden Arme und Häupter der
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Riesenbäume – und als der Morgenwind ihm der große Atem eines
kommenden Genius schien und als die flatternde Laube sprach und
der Apfelbaum seine Wange mit einem kalten Blatt bewarf – als
endlich sein belastet-gehendes Auge sich auf den weißen Flügeln
eines Sommervogels tragen ließ, der ungehört und einsam über
bunte Blumen wogte und ans breite grüne Blatt sich wie eine
Ohrrose versilbernd hing … So fing der Himmel an zu brennen, der
entflohenen Nacht loderte der nachschleifende Saum ihres Mantels
weg, und auf dem Rand der Erde lag, wie eine vom göttlichen
Throne niedergesunkene Krone Gottes, die Sonne. Gustav rief: ‚Gott
steht dort' und stürzte mit geblendetem Auge und Geiste und mit
dem größten Gebet, das noch ein kindlicher zehnjähriger Busen
fasste, auf die Blumen hin…“
AU Gustav fällt auf die reizend geblümte Welt, überwältigt, und wir
fast mit ihm, so maßlos geht hier ein Dichter mit Sprache um, mit
Worten und Rhythmus, mit Bildern und Farben und einem Turm von
Satz, der immer noch ein Stückchen höher will als es der gemäßigte
gute Geschmack erwartet.
HP „Er ist rührend, und das war auch sein Erfolgsrezept und zu
seiner Zeit war er ja ein Autor, der nicht zuletzt die Frauen
angesprochen hat, der vor allem weibliche Verehrerinnen hatte...“
AU Helmut Pfotenhauer, in seinem Büro an der Universität
Würzburg, vor einem Stahlschrank mit Jean Paul-Wertsachen.
Gerade hat er ihn aufgeschlossen. Er spricht über Rührung, den
Erfolgsautor Jean Paul, und über Musik.
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HP „Wegen dieser Fähigkeit zu rühren. So wie Musik rührt. Man hat
von seiner Prosa ja auch als musikalischer Prosa gesprochen, weil
sie zwar unanschaulich ist, aber eben klingt. Dieses Klingen geht
unmittelbar ans Nervensystem, das überwältigt einen, und dieses
Moment der Überwältigung, das hat Jean Paul, da ist er wirklich
ganz groß.“
Musik Haydn, The Creation (Representation of Chaos)
AU Dieser Autor will an unser Nervensystem, und das mit allen
Mitteln. Auch wenn er dafür grausam mit dem Kind Gustav verfahren
muss, ihn jahrelang in unterirdischer Dunkelheit hält, so wie er uns
Leser lange, lange durch dunkel verschlungene Erzählwege führt,
um einen dann zu blenden mit Licht und überwältigender Natur, als
hätte man acht Jahre die Sonne nicht gesehen. Ja der ganze krude
Versuchsaufbau hat wohl diesen einen Sinn: Blumen, Sonne, die
Welt für diesen Moment mit des kleinen Gustavs Augen ansehen zu
können, wie sensationell neu.
SP Reise unter die Gehirnschale eines Riesen.
Sieben Abschweifungen zu Jean Paul,
von Holger Noltze.
Erste Abschweifung, über Abschweifungen.
JP „Der ganze Familienzirkel zerfiel nun in drei erschrockene und in
drei erfreuete Gesichter.“
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AU Hesperus, der zweite große Roman, fast eine Überschreibung
des früheren, der „Unsichtbaren Loge“, erschienen 1795 in drei
Heftlein. Darin empfängt ein gewisser Jean Paul, „Berg-Hauptmann“
angeblich, auf einer kleinen Insel nahe dem Äquator, in den
ostindischen Meeren alle paar Tage Post von einem schwimmenden
Hund namens Spitzius Hofmann, der ihm den Auftrag und das
Material zu einer fortlaufenden Lebensbeschreibung des englischen
Jung-Lords und Augendoktors Viktor bringt. Weshalb die Kapitel des
so aus eleganter Ferne mitgeschriebenen Lebens nicht Kapitel
heißen, sondern „Hundposttage“. Die Geschichte geht nun so los,
dass in dem kleinen Badeort St. Lüne der Familienzirkel des
Hofkaplans Eymann, mit Sohn Flamin und Tochter Agathe, sich die
baldige Ankunft des Viktor ausmalt.
Musik Luigi Nono, Fragmente (Stille, An Diotima)
JP „Wir wollen uns bloß unter die frohen setzen und zuhorchen, wie
sie den Nachmittag als Gesichtmaler, als Gewändermaler, als
Galerieaufseher am Gemälde des geliebten Briten arbeiten. – Alle
Erinnerungen werden zu Hoffnungen gemacht, und Viktor soll nichts
geändert mitbringen als die Statur. Flamin, wild wie ein englischer
Garten, aber fruchttragender, erquickte sich und andere mit der
Schilderung von Viktors sanfter Treue und Redlichkeit und von
seinem Kopf und pries sogar sein Dichterfeuer, das er sonst nicht
hochschätzte. Agathe erinnerte an seine humoristischen
Rösselsprünge, wie er einmal mit der Trommel eines
durchpassierenden Zahndoktors das Dorf vergeblich vor sein
Theater zusammengetrommelt habe, weil er vorher die ganze
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fahrende Apotheke dieses redlich wahren Freund Heins ausgekauft
hatte – wie er oft nach einer Kindtaufe sich auf die Kanzel postieret
und da ein paar andächtige Zuschauer in der Werkeltag-Schwarte so
angeprediget habe, dass sie mehr lachten als weinten – und
anderen Spaß, womit er niemand lächerlich machen wollte als sich,
und niemand lachend als andere. Weiber billigen es aber nie
(sondern nur Männer), wenn einer wie Viktor zur britischen
Ordenzunge der Humoristen gehöret – denn bei ihnen und Höflingen
ist schon Witz Laune – das billigen sie nicht, daß Viktor (wie z.B.
Swift und viele Briten) gern zu Fuhrleuten, Hanswürsten und
Matrosen herunterstieg, indes ein Franzose lieber zu Leuten von Ton
hinaufkriecht.“
AU Moment, wie war das in diesem Hundposttag Nummer 1? Noch
einmal: Agathe und Flamin erwarten Viktor, Sohn des Lords Horion,
und was Agathe als dessen Gabe zu humoristischen
Rösselsprüngen fasziniert, das führt uns ein Verfasser in diesem
stark drehenden Gedankenstrom vor, der wie unser Autor Jean Paul
heißt, aber nicht wie dieser bei der Mutter im fränkischen,
langweiligen Kaff Hof, sondern auf einer ostindischen Insel lebt, die
wunderbarerweise aber zugleich –
JP „ganz vom Fürstentum Scheerau umgeben“
AU – liegt. Und diese Rösselsprünge führen jetzt vor unser, nun
schon schwer gefordertes, Leserhirn, was besagter Viktor sich
einmal geleistet hat, merkwürdige improvisierte Theateraktionen als
verkehrter Arzt, dann als falscher, weil lustiger Kanzelprediger.
Sodann eine Einlassung über die unter Frauen und Männern
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verschieden verteilten Gaben, sich an britischem Humor zu erfreuen,
und über die Verschiedenheit des englischen und des französischen
Stils. Überhaupt und in der Tat,
JP „in der Tat, da die Deutschen Ironie selten fassen und selten
schreiben: so ist man gezwungen, vielen ernsthaften Büchern und
Rezensionen boshafte Ironie anzudichten, um nur etwas zu haben.“
AU Der Leser, mit anderen Worten, ist aufgefordert, wie ungeübt
auch immer in Ironie, den Rösselsprüngen des Humors und
überhaupt dem Prinzip der Abschweifung zu folgen. Derlei
erzählerische Verwegenheit konnte man an Laurence Sternes
epochalem, von Jean Paul aus gesehen gerade einmal dreißig
Jahre alten „Tristram Shandy, Gentleman“ kennengelernt haben
(eines seiner Leib- und Magenbücher): ein Roman, der im Grunde
und in voller Absicht eine einzige Abschweifung ist. Aber die
deutschen Leser, es waren vor allem Leserinnen, mussten und
sollten sich da durchaus auf die geistigen Füße machen, um bei
diesem Erzähler wenigstens ungefähr mitzuhalten.
HP „Ja, bei ihm ist es eine Art des Schreibens, die für die damalige
Zeit eher ungewöhnlich war.“
AU Professor Pfotenhauer, vor seinem Jean-Paul-Schatzschrank:
HP „Im Roman galt das Modell des linearen Schreibens von A nach
B, Anfang bis Ende. Jean Paul schreibt nie so. Die Geschichte, das
Kontinuierliche, das Finale ist ihm immer nebensächlich. Es geht ihm
um das Zusammenmontieren verschiedener Textsorten,
verschiedener Elemente, worin der Schriftsteller seine Kreativität,
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seinen Geist, seinen Witz zeigen kann. Das macht Jean Paul heute
so interessant, weil vieles bei ihm an das, was wir heute
Postmoderne nennen, erinnert: diese Verlinkung von verschiedenen
Textsorten, dieses nicht-lineare Erzählen, auch ständig auf die
eigenen Erzählsituationen reflektieren, das ist bei Jean Paul
geradezu exzessiv, manchmal auch nervtötend finde ich, aber das
zeigt an, wie Kreativität bei ihm funktioniert und wie das auch in die
literarische Zukunft führt.“
SP Zweite Abschweifung, über Kreativität.
Musik Brice Pauset, Huit canons No. 2
NK „Der ist gar nicht so komisch in dem Sinne, wie man ihn so
vermittelt bekommt – kauzig und skurril...“
AU sagt Navid Kermani, schwer erkältet, an seinem Schriftsteller-
Schreibtisch. Zuletzt hat er einen dicken Roman geschrieben, und
eine Poetikvorlesung darüber gehalten, wie ihm beim eigenen
Schreiben Jean Paul begegnete:
NK „Natürlich ist das spinnert, aber er ist auch sehr düster und
heutig, makaber und sehr reell. Es ist verrückt, wie die Wirklichkeit,
und so verrückt ist Jean Paul.“
AU In seinem Kopf unternahm der Dichter Jean Paul weitläufige
Abschweifungen um die Welt. Realbiographisch war es ein
überschaubares Terrain. Geboren 1763 im fränkischen Wunsiedel
als Sohn des dortigen Tertius, des dritten Schullehrers, Kantors und
Organisten. Jean Paul war Gymnasiast in Hof, Student der
Theologie und Philosophie in Leipzig, Satiriker, Elementarschullehrer
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in Schwarzenbach, zwischenzeitlich Erfolgsautor in Weimar, über
Meiningen, Coburg, seit 1804 und bis zum Ende 1825 in Bayreuth.
Aus dem mittleren Kleindeutschland ist er nie herausgekommen, als
wirklicher Horizont reichte ihm das geliebte Fichtelgebirge, aber
JP „Mein Schreibpult ist neun Millionen Quadratmeilen breit, nämlich
die Erde.“
AU Von da kommt er, unter seiner Hirnschale, denn doch weit herum
und sogar aus der Welt heraus. Sein Schreibzimmer ist eine Arche
Noah, darin wohnen zwischenzeitlich Vögel, nämlich etwa eine
tintentrunksüchtige Dohle, Hunde, ein Eichhörnchen, das ihn auch
auf Spaziergänge begleitet, eine kleine Familie von Laub- und
Wetterfröschen und zu deren Unterhalt wiederum eine Fliegenzucht.
Er interessiert sich für die Wettervorhersage und klimatische
Erscheinungen. Vor allem aber schafft er sich, auch unter Einsatz
spezieller Stimulanzien, selbst ein der Ausbrütung von eigenartigen
Gedanken speziell zuträgliches Mikro-Klima. Wenn einmal das Haus
brennen sollte, so wies er seine Frau an, sollten übrigens nicht
zuerst Tiere, Menschen oder Möbel vor den Flammen gerettet
werden, sondern seine Kisten mit Exzerpten: Auszüge aus anderen
Büchern, Protokolle von Einfällen, Buch-Bausteine, Geistesblitze,
Gedankensplitter.
Musik Georg Friedrich Haas, ...Und...
SP „Bausteinchen 3 gamma. Januar 1814. Überschrift ‚Lange
Geschichten‘.“
JP „ Nummer 36: Zersprengung der Erde in verschiedne, kleine
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Erdchen, wie die des Planeten zwischen Jupiter und Mars in Vesta
Ceres Juno Pallas – 37: Einfälle am längsten Tag – am kürzesten –
Frühlingsanfang – 38: Ein Gemälde des Meers, des Schiffbruchs zu
liefern – 39: Der zweite Ehestand von Siebenkäs setze 2 ganz neue
Personen… Statt Siebenkäs einen Staatsmann, der sich aus großer
Tiefe heraufgeschwungen; statt Natalie eine Vornehme mit allen
geistigen Reizen – 40: Unart, am Morgen die Gelehrten zu besuchen
…“
HP „Jean Paul hat schon angefangen als 15-Jähriger zu
exzerpieren, zunächst nur große theologische Traktate, aber dann
fing er an, Kuriositäten aus den Schriften herauszuziehen, und das
hat ihm dann als Material seiner witzigen Vergleiche und
Bemerkungen in seinen späteren Werken gedient, die hat er immer
wieder zu Rate gezogen, hat Register gemacht und Register der
Register, und hat ständig darauf zugegriffen, sein ganzes Leben
lang.“
JP „Register dessen, was ich zu thun habe: 1. Dieses Register zu
machen. 2. Aus der ‚Geschichte‘ ein Register. 3. Aus den
‚Gedanken‘ eins. 4. Das erste durchzulesen und 5. das andere. 6.
Das Wörterbuch vermehren. 7. Es lesen. 8. Die ‚Geschichte‘ lesen
… „
HP „Zunächst mal sammelt er Kuriositäten, dann guckt er wie er die
in seinen Texten unterbringen kann, meist in Form des witzigen
Vergleiches, es musste immer besonders entlegen sein. Also
Geisteskraft, das Heterogene zusammenzubringen. Also das ist ein
Modell des Schöpferischen bei Jean Paul, dieser Umgang mit
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Exzerpten. Nicht nur Literatur, auch Naturwissenschaft, Theologie,
alles, einfach alles. Er ist ein Vielleser.“
AU Einfach alles. Neben 11.000 Seiten Gesamtausgabe haben wir
40.000 Seiten Nachlass. – Haben wir: das heißt: wir haben das
neuerdings, weil Professor Pfotenhauer und seine Mitarbeiter der
Würzburger Jean-Paul-Forschungsstelle das inzwischen entziffert
und sortiert und sogar ins Internet gestellt haben. Das Internet,
dürfen wir annehmen, hätte Jean Paul sehr gefallen.
SP „Er arbeitete mit der Gelehrtenmethode der Zettel und
Zettelkästen“
AU notiert der Gelehrte Walter Höllerer, und zwar so: „wie spielend,
im ‚quer durcheinander Hinbauen‘“:
SP „Besucher berichten von seinen ‚nummerierten Fächern‘, aber
nicht, um die Erscheinungen der Welt zu spezialisieren, sondern sie,
im Gegenteil, aus der Spezialisierung der ‚entlegenen
Wissenschaften‘ zu erlösen, auf Grund von vorhandenen und
erfundenen Ähnlichkeiten.“
AU Zwischen den vorhandenen und erfundenen Ähnlichkeiten des
scheinbar Entlegenen steht dann bei Jean Paul oft der
Gedankenstrich. Es ist die kleine Pause, in der etwas im Hirn des
Schreibenden geschah – und im Leserhirn geschehen könnte: die
Bildung eines Zusammenhangs:
JP „In einem solchen Entwurf halt‘ ich die unähnlichsten und
feindlichsten Dinge bloß durch Gedankenstriche auseinander“,
AU schreibt er in einer der vielen Vorreden zum „Hesperus“, aber
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eigentlich hält er das ja nicht auseinander, sondern gerade
zusammen. Das schiefe, mit Absicht gebrochene Bild ist kein
schriftstellerischer Betriebsunfall, sondern kreatives Prinzip,
„Katachresen“ (so heißen diese Bildbrüche) „sprengen die
Metaphernkette und schaffen das Gegenteil von festem Besitz,
nämlich beweglichen“, schreibt Höllerer.
SP: Klammer auf: Abschweifung in der zweiten Abschweifung: Die
Exzerptkisten.
Musik Elliott Carter, String Quartet No.3
AU Dass sich diese vierzigtausend Seiten Material, Rohstoff für
noch zu schreibende Romane erhalten haben, ist ein schönes
Wunder. Aus der Familie kamen die Schatzkisten zuerst an das
Germanische Museum in Nürnberg, das sie aber wegen
Platzmangel wieder loswerden wollte. Auch die Bayerische
Staatsbibliothek lehnte nach Prüfung ab, und sie soll sich darüber
gerne bis heute schwarz ärgern. 1888 schlägt dann die Preußische
Staatsbibliothek für 1000 Taler zu. In Berlin also machte sich Eduard
Berend, Jean Pauls erster historisch-kritischer Herausgeber, an die
Bergungsarbeit, zwischen 1929 und 1936 erschienen fünf
Nachlassbände in der II. Abteilung der „Sämtlichen Werke“, die
damit noch sämtlicher waren als die früheren Ausgaben. 1938
musste Berend vor den Nazis fliehen, die Exzerpte wurden
ausgelagert und galten nach dem Krieg als verschollen. Sie waren
aber in Moskau und wurden 1958 von da an die Berliner
Staatsbibliothek in Ostberlin restituiert. Seit 1980 wurden die Blätter
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gesichtet, gewendet, geordnet, jetzt kommen gelegentlich Bände auf
die Welt, die in schönem Durcheinander neue Texte von vor 200
Jahren bringen.
SP Klammer zu.
Musik Brice Pauset, In Nomine
AU Damit tut sich eine erstaunliche Perspektive auf: Reiseangebote
unter die Gehirnschale eines Riesen
JP „ Erfindung der Musik. Wir waren vorher bei Geistern auf
musikalischen Inseln, darum erinnern wir uns daran; oder wir
kommen künftig hin, die klingende 2te Welt geht an uns vorüber.“
„Fremde Ideen sind die Insekten, die den Samenstaub von einem
Gedanken in uns zum andern tragen und dadurch befruchten.“
„Ieder Gedankenstrich ein Legestachel.“
„Gedankenstrich Nabelschnur iedes Gedankens.“
„Mancher witzige Einfall sticht gleich den Bienen nur einmal.“
HP „Man kann dann nachweisen, wo er was verwendet hat. Im
Manuskript gibt es dann eine sogenannte Verwendungsstreichung,
ein vertikaler Strich, da zeigt er sich an, das hast du schon
verwendet, das kannst du nicht noch mal verwenden. So hat er
gearbeitet. Man kann oft die Entstehung von Werken von den
Exzerpten über die Bausteine, Gedankensplitter bis zu den fertigen
Werken verfolgen. Das kann man heute, das hat man früher nicht
gekonnt.“
JP „Nachttisch: Schwambüchsen, Flakons, Seifenkugel,
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Taschenspiegel, Bürsten, Breloques, verschlungne Namen, beim
Frisiren den Spiegel in der Hand, Essig und Wasser zur Magerkeit –
Handschuhe im Bet – maust Schnupftücher prahlt damit; giebt’s nur
für Küsse wieder – Öle aus Paris, Bänder, Ringe, Etui, Kalender,
Filet, Pillen, Nadelkissen, Zibet, Kräutertee.“
SP Dritte Abschweifung, über Buchstaben.
JP „ Ich weiß kaum, was ich aus mir machen soll als Bücher.“
Musik Monty Adkins, Entangled Symmetries
AU Waren Jean Pauls Lehrer, darunter der eigene Vater, gute
Pädagogen? Wohl kaum im heutigen Sinn, es wurde durchgepaukt
von A bis Z. Doch für den Knaben aus den begrenzten Verhältnissen
der fränkischen Provinz wird das ABC-Buch zum Schlüssel zur Welt.
JP „Noch erinnere ich mich der Winterabendlust, als ich aus der
Stadt endlich das mit einem Griffel als Zeilenweiser versehene ABC-
Buch in die Hand bekam, auf dessen Deckel schon mit wahren
goldnen Buchstaben (und nicht ohne Recht) der Inhalt der ersten
Seite geschrieben war, der aus wechselnden roten und schwarzen
bestand; ein Spieler gewinnt bei Gold und rouge et noir weniger an
Entzücken als ich bei dem Buche.“
SP „Der Affe gar possierlich ist / Zumal wenn er vom Apfel frist.“
JP „Jeder neue Schreibbuchstabe vom Schulmeister erquickte mich
wie andere ein Gemälde; und um das Aufsagen der Lektion
beneidete ich andere, da ich gern wie die Seligkeit des
Zusammensingens auch die des Zusammenbuchstabierens
genossen hätte.“
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AU Die Welt, die sich dem jungen Johann Paul Friedrich Richter da
erschließt, ist aber nicht die Normalwelt der Umgebung, sondern
eine neue, „magisch-verheißungsvolle“, schreibt Jean Pauls
Biograph Pfotenhauer. Die Zeichen sind ihm Zauberzeichen; er
muss eine lateinische Grammatik des Griechischen lernen, ohne zu
wissen, worum es geht, und was passiert? – „Mutmaßungen und
Sehnsüchte müssen die verborgenen Inhalte ersetzen“, sagt
Pfotenhauer, „und so blüht ungewollt doch die Phantasie in dieser
geistigen Saharawüste der Sinnaustrocknung.“ Der junge Jean Paul
denkt sich halt sein Teil, und entdeckt das Spiel mit Buchstaben als
einen Weg aus der Wüste. Und er bastelt sich Bücher, noch bevor er
sie sich selber schreiben kann.
SP „Das Zählbrett hält der Ziegenbock.“
AU So endet das Leselernbuch seiner Zeit, die „Bienrodische Fibel“,
nach einem Schulmann dieses Namens benannt. Dass ein
Ziegenbock ein Zählbrett hält, was man da auch abgebildet sehen
kann, muss ein Hirn wie das Jean Pauls elektrisiert haben: Denn
Ziegenböcke zählen nicht und halten Zählbretter doch nur aus dem
einen Grund in den Hufen, dass sie mit dem Ding den
Anfangsbuchstaben gemeinsam haben. Das Z stiftet einen
Zusammenhang, auf den das sogenannte wirkliche Leben gar nicht
kommen würde. – Viele Jahre später stattet er dieser ABC-
Wundermaschine seinen Dank ab, indem er als wahren Verfasser
der Fibel statt des Bienrod einen Mann namens Fibel erfindet und
dem „Leben Fibels“ 1808 seine angesichts hoher Verdienste
unbegreiflich überfällige Biographie widmet.
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JP „Wahrlich in diesem steht nichts – einige wenige harmlose,
schuldlose, lichtlose, glanzlose Leute mit ähnlichen Schicksalen
durchleben darin ihr Oktavbändchen – das Ganze ist ein stillendes
Still-Leben – eine Wiege erwachsener Leser zum Farniente – ein
leises graues laues Abendregnen, unter welchem statt der Blumen
etwa die unscheinbare Erde ausduftet, wozu höchstens noch ein
Fingerbreit Abendrot und drei Strahlen Abendstern kommen
möchten. Weiter gibt´s nichts darin, im Buch.“
Musik Carl Philipp Emanuel Bach, Empfindungen
JP „ Komme nur endlich herein ins Leben, lieber Fibel, so winzig und
anonym du auch noch bist! Du wirst schon mit der Zeit fünfte- oder
sechst-halbe Fuß hoch und bekannt und benannt genug, wie ja wir
alle! Der neugeborne Zwerg bleibt stets die erste Kapsel des
unsichtbaren Riesen, der später mit Bergen nach Himmel und Hölle
wirft. – Mein Anruf an den ungebornen Schriftsteller, dass er endlich
in die Geburt und Welt trete, kommt nur den Lesern unnütz vor, die
alle nicht wissen, dass er vor dem zehnten Monate noch gar nicht
geboren war. Endlich eines Tages stand sein Vater, ein armer
Vogelsteller und Invalide, eben hinter einem Finkenkloben, den er
zum Fenster hinaushielt, und lauerte auf den anhüpfenden Finken,
um ihn an der Fanggabel hereinzuziehen, als ihm die Wehmutter
aus der Klage-Kammer die frohe Botschaft brachte, es komme ein
lebendiges Kind; dies veranlasste ihn, den Kopf langsam
umzudrehen und leise zu sagen. ‚Still!'“
SP „Ein Pferd dem Reuter stehet an, / Das Peil gebraucht der
Zimmermann.“
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AU Aus dem Ur-Buch, der ABC-Fibel, macht der Schriftsteller Jean
Paul ein anderes, indem er sich einen Fibel-Autor namens Gotthilf
Fibel ausdenkt, diesem ein mehr als 125-jähriges Leben andichtet
und dabei die biographische Methode auf höchst verschlungenen
Wegen ins Absurde treibt. Am „Leben Fibels“ kann man erkennen,
warum er den späten Versuch einer Autobiographie nach nicht
einmal hundert Seiten im Januar 1819 wieder abbricht: Wer so
radikal dem Entwurf folgt, das Leben in Schrift zu übersetzen und
das Leben überhaupt im und aus dem Schreiben vollzieht, der muss
sich mit der Abschilderung des eigenen Lebens als Schriftsteller
schwer tun. So legt der Professor der „Selberlebensbeschreibung“
nach der dritten Vorlesung die Feder nieder, kurz nach gerührter
Rückerinnerung an die erste Verliebtheit in die reizende
blatternnarbige Katharina Bärin und an den ersten und auch gleich
letzten Kuss.
Musik Carl Philipp Emanuel Bach, Empfindungen
JP „An einem Winterabende, wo ich meine Prinzessinsteuer von
Süßigkeiten schon vorrätig hatte, der gewöhnlich nur die
Einnehmerin fehlte, beredete der Pfarrsohn, der unter allen meinen
Schulkameraden der schlechteste war, mich zum verbotenen
Wagstücke, während ein Besuch des Kaplans meinen Vater
beschäftigte, im Finstern das Pfarrhaus zu verlassen, die Brücke zu
passieren und geradezu (was ich noch nie gewagt) in das Haus, wo
die Geliebte mit ihrer armen Mutter oben in einem Eckzimmerchen
wohnte, zu marschieren und unten in eine Art von Schenkstube
einzudringen. Ob Katharina aber zufällig da war und wieder
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hinaufging, oder ob sie der Schelm mit seiner Bedientenanlage unter
einem Vorwande herunterlockte, auf die Mitte der Treppe; oder kurz
wie es dahinkam, daß ich sie auf der Mitte fand: dies ist mir alles nur
zu einer träumerischen Erinnerung auseinandergeronnen; denn eine
plötzlich aufblitzende Gegenwart verdunkelt dem Erinnern alles was
hinter ihr ging. So stürmisch wie ein Räuber war ich zuerst der
Geber meiner Essgeschenke, und dann drückt' ich – der ich in Joditz
nie in den Himmel des ersten Kusses kommen konnte, und der nie
die geliebte Hand berühren durfte – zum ersten Male ein lange
geliebtes Wesen an Brust und Mund. Weiter wüßt' ich auch nichts zu
sagen, es war eine Einzigperle von Minute, etwas, das nie da war,
nie wiederkam; eine ganze sehnsüchtige Vergangenheit und
Zukunft-Traum war in einen Augenblick zusammen eingepresst; –
und im Finstern hinter den geschlossnen Augen entfaltete sich das
Feuerwerk des Lebens für einen Blick und war dahin. Aber ich hab'
es doch nicht vergessen, das Unvergessliche.“
SP Vierte Abschweifung, über den Tod.
Musik Monty Adkins, Sendai Threnody
AU Warum das alles? Warum der Rückzug aus der großen Welt, die
er 1798 in Weimar kennengelernt hatte, wo er mit Goethe, Schiller,
Wieland, Herder verkehren durfte, ein zwischenzeitlicher
Erfolgsautor aus der Provinz, von Leserinnen umworben, von
Verlegern mit beträchtlichen Vorschüssen gepflegt? Für seinen
Riesenroman „Titan“ bekam er mehr als Goethe selbst für seinen
„Wilhelm Meister“. Und dann zieht er, seit 1801 und nach vier
Verlobungen verheiratet mit der Obertribunalratstochter Caroline
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Mayer, die ihn beim Dichten und Träumen nicht stört, nach Bayreuth
und will wohl kein Mann von Welt mehr sein, bloß noch Romane
schreiben und Einfallsmaterial sammeln für künftige und
nachkünftige Romane, die bald schon keine Erfolgsgeschichten
mehr waren. Jean Paul aber schreibt weiter, er kann nicht aufhören.
HP „Das liegt daran, dass er an dem fertigen Werk nicht interessiert
war, es musste immer weitergehen mit dem Schreiben. Also auch
wenn er seine Bücher abgeschlossen hatte, (der „Titan“ war eines
der wenigen Werke, die er abgeschlossenen hatte), dann hat er
immer noch daran herumgeschrieben, sofort eine Neuauflage
geplant mit Vorwörtern, Nachwörtern, Extrablättern usw., es musste
also immer neu geschrieben werden. Der Prozess des Schreibens
war für ihn das Entscheidende, nicht das fertige Werk.“
AU So sehr, dass der Vielschreiber und Vielleser Jean Paul beinah
keine Bücher besaß, nicht mal die eigenen, die musste er sich dann
bei Bedarf ausleihen. Wichtig waren die Zettelkästen, das Saatgut
kommender Einfalls-Ernten. Warum aber musste er immer
weiterschreiben?
HP „Das Leben ist für ihn Schreiben, und er schreibt gegen den Tod,
von Anfang an. Es muss ein unendliches Schreiben sein. Sein
Projekt – im Spätwerk kann man das feststellen – ist eine
Zusammenstellung von möglichst vielen Materialien, so dass auch
seine Nachfahren und spätere Generationen aus seinen Werken
noch neue Bücher machen können, also über seinen Tod hinaus
weiterschreiben können.“
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Musik Monty Adkins, Sendai Threnody
AU Der Tod war ihm schon früh nah, er schlug neben ihm ein, und
den 15. November 1790 hält er fest als
JP „Wichtigster Abend meines Lebens: denn ich empfand den
Gedanken des Todes, dass es schlechterdings kein Unterschied ist,
ob ich morgen oder in 30 Jahren sterbe, dass alle Plane und alles
mir davon schwindet und dass ich die armen Menschen lieben sol,
die sobald mit ihrem bisgen Leben niedersinken.“
AU Damit ist die Gewalt des Todes aber nicht gebannt: Hier lebt
einer im Bewusstsein, dass der Tod immer in das Leben hineinragt.
HP „ Das kann man bei Jean Paul auch sehr gut rekonstruieren,
ganz gut nachvollziehen. Sein Vater war ja Pfarrer, ein recht
unflexibler protestantischer Geistlicher, und Jean Paul muss sich
dann im Lauf seiner Kindheit und Jugend dagegen zur Wehr setzen:
gibt es eine Todsünde, gibt es eine Hölle und dergleichen, und er
muss sich davon emanzipieren und er merkt dann: diese
theologisch-metaphysischen Garantien von Unsterblichkeit, die sein
Vater noch vertritt, die kann er sich nicht mehr zu eigen machen.“
Musik Monty Adkins, Sendai Threnody
AU Wenn aber die alten Gewissheiten nicht mehr gelten, was dann?
Gegen das Verschwinden hilft nur, was er am besten kann, und was
er konsequent betreibt, Tag für Tag.
HP „Er muss sich auf eigene Faust diese Unsterblichkeit
erschreiben. Das ist sein lebenslanges Projekt.“
AU Erschreibung von Unsterblichkeit – darauf zielt wohl manches
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Schriftstellerleben, nicht nur das von Jean Paul. Auch Goethe
arbeitete wohl an seiner Verewigung, doch im Fall des Geheimrats
zielte alles Schreiben auf das Erfassen des Lebens in seiner
Vielgestaltigkeit und Fülle. Bei Jean Paul scheint es andersherum zu
sein: alles Leben zielt aufs Schreiben. Und –
HP „Da steckt auch Angst dahinter. Angst macht ja schöpferisch.
Einige der größten Texte haben mit dieser Angst zu tun, also die
Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott
sei, der leere Himmel, das leere Universum, und dann tritt Christus
auf , der sagt: es gibt keinen Gott. Diese Angst wird immer
ausphantasiert. Daraus schöpft er seine großen Bilder, was uns
heute noch fasziniert. Diese ungeheuren Visionen sind zum großen
Teil, was er „Vernicht-Visionen“ nennt.“
JP „Oben am Kirchengewölbe stand das Zifferblatt der Ewigkeit, auf
dem keine Zahl erschien und das sein eigner Zeiger war; nur ein
schwarzer Finger zeigte darauf, und die Toten wollten die Zeit darauf
sehen. Jetzo sank eine hohe edle Gestalt mit einem
unvergänglichen Schmerz aus der Höhe auf den Altar hernieder, und
alle Toten riefen: ‚Christus! ist kein Gott?' Er antwortete: ‚Es ist
keiner.'
SP „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein
Gott sei“, aus „Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand,
Tod und Hochzeit des Armenadvokaten Siebenkäs“:
JP „Der ganze Schatten jedes Toten erbebte, nicht bloß die Brust
allein, und einer um den andern wurde durch das Zittern zertrennt.
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Christus fuhr fort: ‚Ich ging durch die Welten, ich stieg in die Sonnen
und flog mit den Milchstraßen durch die Wüsten des Himmels; aber
es ist kein Gott. Ich stieg herab, soweit das Sein seine Schatten
wirft, und schauete in den Abgrund und rief: ›Vater, wo bist du?‹ aber
ich hörte nur den ewigen Sturm, den niemand regiert, und der
schimmernde Regenbogen aus Wesen stand ohne eine Sonne, die
ihn schuf, über dem Abgrunde und tropfte hinunter. Und als ich
aufblickte zur unermeßlichen Welt nach dem göttlichen Auge, starrte
sie mich mit einer leeren bodenlosen Augenhöhle an; und die
Ewigkeit lag auf dem Chaos und zernagte es und wiederkäuete sich.
– Schreiet fort, Mißtöne, zerschreiet die Schatten; denn Er ist nicht!'
Die entfärbten Schatten zerflatterten, wie weißer Dunst, den der
Frost gestaltet, im warmen Hauche zerrinnt; und alles wurde leer. Da
kamen, schrecklich für das Herz, die gestorbenen Kinder, die im
Gottesacker erwacht waren, in den Tempel und warfen sich vor die
hohe Gestalt am Altare und sagten: ‚Jesus! haben wir keinen Vater?'
– Und er antwortete mit strömenden Tränen: ‚Wir sind alle Waisen,
ich und ihr, wir sind ohne Vater.' Da kreischten die Misstöne heftiger
– die zitternden Tempelmauern rückten auseinander – und der
Tempel und die Kinder sanken unter – und die ganze Erde und die
Sonne sanken nach – und das ganze Weltgebäude sank mit seiner
Unermesslichkeit vor uns vorbei – und oben am Gipfel der
unermesslichen Natur stand Christus und schauete in das mit
tausend Sonnen durchbrochne Weltgebäude herab, gleichsam in
das in die ewige Nacht gewühlte Bergwerk, in dem die Sonnen wie
Grubenlichter und die Milchstraßen wie Silberadern gehen.“
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SP Fünfte Abschweifung, über Bier.
Musik Coh, Soii noir / Elliott Carter, Night Fantasies
AU In Bayreuth verkaufen sie jetzt ein „Jean-Paul-Bier“. Das macht
insofern keinen Unsinn, als Alkohol und vor allem Bier für diesen
Dichter eine Bedeutung im kreativen Prozess hatte. Er tauft es
zärtlich Heilmittel, „Herbsttrost“, „Magen-Balsam“, „Gehirnkitzel“ oder
„vorletzte Ölung“. Der Versorgung und Bevorratung mit gutem Bier
gilt eine beständige Sorge, dokumentiert etwa in Briefen an seinen
Freund Emanuel Osmund, der ihm hier behilflich sein muss. Die
Standortwahl Bayreuth scheint sich auch des für ihn zuträglichen
Biers zu verdanken. Es schmeckt ihm schon als Frühstück; im Laufe
des Tages fließt dann eine Art Cocktail in die Blutbahn des Dichters
HP „Es war sicher so, dass er von morgens an trinkt, er macht sich
da genaue Pläne, was er trinkt. Er trinkt nicht einfach irgendwas, es
müssen Wein und Bier zu bestimmten Zeiten sein, Wein macht eher
kreativ, er verwendet auch bestimmte Liköre und auch Opiate,
Laudanum beispielsweise. Das sind alles Strategien für das Arbeiten
in bestimmten Phasen des Tages.“
AU Gerade das Bier wirkt also nicht vor allem zur Befeuerung,
sondern im Gegenteil, als Sedativ sozusagen überschießend
kreativer Wort- und Bilderfluten. Unter der Hirnschale dieses
schöpferischen Riesen scheint es zu regelrechten
Synapsengewittern gekommen zu sein, da musste wohldosiert
gelöscht werden. Der Nachwelt aber war der biertrinkende Jean
Paul dann wieder der Kauz, dem man das durchaus Unbürgerliche
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seiner bürgerlichen Existenz großzügig nachsehen konnte: denn
wenigstens im Biersaufen durfte man sich ihm verwandt fühlen. Nur
einmal in Coburg wird er wegen unbotmäßigen öffentlichen
Wasserabschlagens zur Strafzahlung einer Piss-Steuer verklagt.
SP Sechste Abschweifung, über das Lesen
Musik Elliott Carter, Night Fantasies
AU Wie also soll man ihn heute lesen? – Langsam, jedenfalls.
NK „Man muss schon Geduld haben, sich da reinfallen lassen, ohne
zielorientiert zu sein. Ich glaube, Jean Paul hätte in der heutigen
Literaturkritik keine Chance. Der würde nicht mal behandelt, der
würde überhaupt nicht vorkommen.“
AU Navid Kermani, der Kollege. Und Professor Pfotenhauer, der
Philologe benutzt das gleiche Wort: Geduld.
HP „Man muss geduldig lesen und man muss sich Zeit nehmen.
Jean Paul ist eigentlich nicht spannend, er ist kompliziert, und er
möchte in dieser Kompliziertheit verstanden werden, und je mehr
Zeit man sich nimmt, desto mehr hat man auch davon, und das hat
die damaligen Zeitgenossen schon teilweise überfordert und
überfordert uns heute aufgrund unserer Lesegewohnheiten
wahrscheinlich noch mehr.“
AU Er überfordert uns, er macht es einem schwer, wie schön,
möchte man sagen, wo uns auch als Lesern am liebsten alles
abgenommen wird und Literatur erfolgreich sein will, indem sie ein
bisschen wie Fernsehen ist. Jean Paul ist nicht wie Fernsehen, er ist
eher wie Internet, aber ein Internet Dreipunktnull. Es braucht Geduld
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und Geistesgegenwart, diesem Autor nachzusteigen, und
Gelassenheit, nennen wir es Komplexitätstoleranz. Heißt: das
Unverständliche aushalten zu können. Schafft man das, dann
geschieht etwas im eigenen, im Leserhirn.
JP Flegeljahre, 39: „Sein Gesicht war voll Morgenluft, und ein Orient
der Phantasie war in seinen Blicken gemalt. Sein sämtliches
Münzkabinett oder Studentengut hat' er eingesteckt, als Surplus-
und Operationskasse, um an dieser Geld-Katze einen Schwimm-
Gürtel für alle Höllen- und Paradieses-Flüsse zugleich zu haben. Er
bewegte sich durch das widerstrebende Leben so frei wie der
Schmetterling über ihm, der nichts braucht als eine Blume und einen
zweiten Schmetterling …“
Musik Monty Adkins, Entangled Symmetries
SP Letzte Abschweifung, Landschaften, Blick ins Fre ie.
JP „Still gingen sie in der seltnen Nacht und Gegend. Auf einmal
blieb sie auf einer Höhe stehen, um welche der Brautschatz der
Natur nach allen Seiten in Bergen aufgehäufet war.“
HP „Landschaften von Jean Paul kann man sich im Kopf nicht
vorstellen. Er hat einmal zu Varnhagen von Ense gesagt: Man kann
nur Landschaften beschreiben, die man nicht gesehen hat. Es sind
Visionen von Landschaften, aber auch von
Freundschaftsbeziehungen, zwischenmenschlichen Verhältnissen.
Daraus entsteht eine sprachliche Freiheit, eine Fähigkeit, Unerhörtes
zu sagen, was noch nie da war. Bilder, die einen frappieren, weil
man sie noch nie gehört hat.“
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AU Immer wieder diese Blicke ins Freie, in den Himmel, in
Landschaften. Wie wenn, nach allem Trubel und Trara, das die
Menschen miteinander veranstalten, ihren Intrigen und
Verwicklungen und verwegenen Ideen und all dem bizarren
Marottenwesen und pompöser Hohlheit ein Fenster aufgeht und
man alle Verrücktheiten wie aus der Ferne ansehen darf, als
ameisenhaftes Getriebe im Summen und Brummen einer Welt, die
viel größer ist als der Unsinn, den wir in ihr treiben. Natürlich sind
das keine echten Landschaften, sondern ausgedachte. Dieser Autor
arbeitete, ein Bayreuther Bier neben sich, nicht vor der Natur,
sondern am Schreibtisch, und seine Landschaften sind Aussichten
ins Offene, wie sie sich wohl nur dem inneren Auge auftun.
Professor Pfotenhauer, den Stahlschrank mit den Jean-Paul-
Kostbarkeiten sachte schließend:
HP „…die großen Naturvisionen, z.B. im Titan, Linda und Albano vor
dem Vesuv: das sind keine Landschaftsbeschreibungen, sondern
Sprachexplosionen… Wenn ich diese Bilder lese, auch in
Vorlesungen, da ging's mir immer so, wenn diese ganz großen
Stellen kommen, ich Mühe hatte, nicht in Tränen auszubrechen...“
Musik Haydn, The Creation (In rosy mantle)
JP Titan, 28, Ende: „Sie blickten im Glanze umher, der Schwan des
Himmels, der Mond, wogte fern vom Vesuve im hohen Äther – die
Riesenschlange der Erde, das Meer, schlief fest in ihrem von Pol zu
Pol reichenden Bette – die Küsten und Vorgebirge dämmerten nur
wie Mitternachtsträume – Klüfte von Baumblüten flossen über von
ätherischem Tau aus Licht, und unten in Tälern standen finstere
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Rauchsäulen auf heißen Quellen und verwallten oben in Glanz –
hoch lagen überall erleuchtete Kapellen und tief um das Ufer dunkle
Städte, die Winde standen still, die Rosendüfte und Myrtendüfte
zogen allein – weich und lau umfloss die blaue Nacht die entzückte
Erde, um den warmen Mond wich der Äther aus, und er sank
liebestrunken mitten aus dem Himmel immer größer auf den süßen
Erdenfrühling herein – der Vesuv stand jetzt ohne Flamme und ohne
Donner, weiß von Sand oder Schnee, im Morgen – im dunklern Blau
waren die Goldkörner der feurigen Sterne weit auseinandergesäet. –
Es war die seltene Zeit, wo das Leben den Durchgang durch eine
überirdische Sonne hat. Albano und Linda begegneten sich mit
heiligen Augen, und die Blicke löseten sich wieder sanft
auseinander; sie schaueten in die Welt und in das Herz und
sprachen nichts aus.“
Musik RM74, Fen Fire
SP Reise unter die Gehirnschale eines Riesen.
Sieben Abschweifungen zu Jean Paul,
von Holger Noltze.
Mit Heiner Stadelmann, Mandana Mansouri, Holger Noltze.
Technische Realisation Henning Schmitz, Regieassistenz Stefan
Cordes, Regie Detlef Meissner, Redaktion Imke Wallefeld.
Eine Produktion des Westdeutschen Rundfunks 2013.