Nordöstlich von Madrid - Bauweltdas Haus in Arbeitsgemeinschaft mit Blanca Lléo aus Madrid...

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Verlässt man das historische Zentrum von Madrid, wird der Stadtplan zum unerlässlichen Vademekum. Flickenteppiche von Wohn- und Gewerbegebieten, durchsetzt mit verödeten Freiflächen, einheitlich bloß in ihrer Gesichts- losigkeit, fressen sich in die weite Landschaft. Auch in Spanien hat die Individualisierung der Gesellschaft, wenn auch später als in Mittel- europa, so doch mit voller Kraft eingesetzt, die klassische Großfamilie löst sich auf in Paare mit höchstens einem Kind oder gar in Single- haushalte. Verbunden mit der im vergangenen Jahrzehnt beschleunigten Landflucht befördert dies einen spekulativen Wohnungsbau, der meist als monofunktionale Blockrandbebau- ung realisiert wird. So auch in Sanchinarro, einem durch breite ausgebaute Straßen bereits in Karrees parzel- lierten Areal im Nordwesten Madrids. In die- sem Umfeld könnte man das Wohnhochhaus von MVRDV und Blanca Lléo mit einem Sta- chel vergleichen, der das gewohnte Stadtbild 34 | Bauwelt 20 2005 Architekten: MVRDV, Rotterdam, und Blanca Lleó, Madrid Bauherr: EMV, Ayuntamiento de Madrid Nordöstlich von Madrid 156 Sozialwohnungen in Sanchinarro aufspießt und als formale Konvention entlarvt. Die Gebäudeform haben die Architekten bild- haft abgeleitet: Der für das Grundstück ur- sprünglich vorgesehene Block wurde auf eine Schmalseite gestellt und erscheint nun als Scheibe mit einer „Loggia“ in der Mitte, die – typologisch folgerichtig – den gemeinschaftli- chen Freiraum bildet, der dem Haus seinen Namen gegeben hat: Mirador (dt. Aussichts- punkt). Die in einer Blockrandbebauung übli- chen unterschiedlichen Hauseinheiten sind neben- und übereinander gestapelt; ihnen zu- geordnet ist jeweils ein bestimmter Wohnungs- typ sowie eine eigene Fassadenverblendung als „Anschrift“. Der konzeptionelle Teil des Entwurfs trägt un- verkennbar die Handschrift von MVRDV, die das Haus in Arbeitsgemeinschaft mit Blanca Lléo aus Madrid realisierten. Dieser Koopera- tion liegt ein Programm der spanischen Regie- rung zugrunde, das die Zusammenarbeit ein- heimischer Planer mit internationalen Kolle- gen fördern will. Lléo, die den Auftrag erhalten Bauwelt 20 2005 | 35 Der einzige öffentliche Wohnungsbau zwischen Quadratkilometern von spe- kulativen Eigentumswohnungen setzt den Begriff „Leuchtturmprojekt“ aus- gesprochen wörtlich um. Die Architek- ten interpretieren den 20-Geschosser als einen in die Senkrechte aufgerich- teten Block. Ähnlich wie beim Silodam- Gebäude von MVRDV in Amsterdam wurde eine Vielzahl von Wohntypolo- gien gestapelt. Unterschiedliche Fas- sadenmaterialien (Beton, Naturstein, Fliesen) kennzeichnen die verschiede- nen „Nachbarschaften“. Lageplan im Maßstab 1 : 2500

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Verlässt man das historische Zentrum von Madrid, wird der Stadtplan zum unerlässlichenVademekum. Flickenteppiche von Wohn- undGewerbegebieten, durchsetzt mit verödetenFreiflächen, einheitlich bloß in ihrer Gesichts-losigkeit, fressen sich in die weite Landschaft.Auch in Spanien hat die Individualisierung derGesellschaft, wenn auch später als in Mittel-europa, so doch mit voller Kraft eingesetzt, dieklassische Großfamilie löst sich auf in Paaremit höchstens einem Kind oder gar in Single-haushalte. Verbunden mit der im vergangenenJahrzehnt beschleunigten Landflucht befördertdies einen spekulativen Wohnungsbau, dermeist als monofunktionale Blockrandbebau-ung realisiert wird.So auch in Sanchinarro, einem durch breiteausgebaute Straßen bereits in Karrees parzel-lierten Areal im Nordwesten Madrids. In die-sem Umfeld könnte man das Wohnhochhausvon MVRDV und Blanca Lléo mit einem Sta-chel vergleichen, der das gewohnte Stadtbild

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Architekten:

MVRDV, Rotterdam, und Blanca Lleó,

Madrid

Bauherr:

EMV, Ayuntamiento de Madrid

Nordöstlich von Madrid156 Sozialwohnungen in Sanchinarro

4. Sanchinarro-imp_ok 11.05.2005 12:10 Uhr Seite 34

aufspießt und als formale Konvention entlarvt.Die Gebäudeform haben die Architekten bild-haft abgeleitet: Der für das Grundstück ur-sprünglich vorgesehene Block wurde auf eineSchmalseite gestellt und erscheint nun alsScheibe mit einer „Loggia“ in der Mitte, die –typologisch folgerichtig – den gemeinschaftli-chen Freiraum bildet, der dem Haus seinenNamen gegeben hat: Mirador (dt. Aussichts-punkt). Die in einer Blockrandbebauung übli-chen unterschiedlichen Hauseinheiten sindneben- und übereinander gestapelt; ihnen zu-geordnet ist jeweils ein bestimmter Wohnungs-typ sowie eine eigene Fassadenverblendungals „Anschrift“.Der konzeptionelle Teil des Entwurfs trägt un-verkennbar die Handschrift von MVRDV, diedas Haus in Arbeitsgemeinschaft mit BlancaLléo aus Madrid realisierten. Dieser Koopera-tion liegt ein Programm der spanischen Regie-rung zugrunde, das die Zusammenarbeit ein-heimischer Planer mit internationalen Kolle-gen fördern will. Lléo, die den Auftrag erhalten

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Der einzige öffentliche Wohnungsbauzwischen Quadratkilometern von spe-kulativen Eigentumswohnungen setztden Begriff „Leuchtturmprojekt“ aus-gesprochen wörtlich um. Die Architek-ten interpretieren den 20-Geschosserals einen in die Senkrechte aufgerich-teten Block. Ähnlich wie beim Silodam-Gebäude von MVRDV in Amsterdamwurde eine Vielzahl von Wohntypolo-gien gestapelt. Unterschiedliche Fas-sadenmaterialien (Beton, Naturstein,Fliesen) kennzeichnen die verschiede-nen „Nachbarschaften“.

Lageplan im Maßstab 1 : 2500

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Jede der 156 Wohnungen besitzt ei-nen privaten Freiraum in Form einerLoggia oder eines Balkons. Privilegiertsind die Maisonetten in den beidenobersten Geschossen – ihnen wurdenkleine Dachterrassen zugeordnet, dieals Stege über dem offenen Korridorliegen. Der gemeinschaftlich nutzbareFreiraum, der vier Geschosse hohe Ausschnitt aus der Wohnscheibe, istmit einem Fahrstuhl direkt vom Erdge-schoss zu erreichen. Der Boden wurdemit grauem Kunstrasen belegt – eineSonderanfertigung: Kunstrasen ist nor-malerweise grün oder blau.

Längsschnitt und Grundrisse 4., 9., 12. und 20. Obergeschoss im Maßstab1 : 750Fotos: Roland Halbe, Stuttgart

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kleine Terrassen auf dem Dach zugeordnet. Die Mehrzahl der Wohnungen ist jedoch einge-schossig, ihre Grundrisse sind teilweise offen,teilweise konventionell zugeschnitten. Eine Be-sonderheit sind z.B. die Bäder, die in einigender Wohnungen in der Fassade liegen. Äußer-lich prägend sind freilich die in grellem Orangegestrichenen doppelten Fluchttreppenhäuserauf jeder Seite des Gebäudes, bei denen sichjeweils ein offener und ein geschlossener Trep-penlauf umeinander winden. Ab der Höhe, diefür die Feuerwehrleitern unerreichbar ist, ver-springen die Treppen auf die Stirnseite undmarkieren den Scheitel des Hauses.Keines der Nachbargebäude kehrt sein Inneresderartig kleinteilig nach außen, so als wolle es sich als wahrer Exponent von Urbanität immenschlichen Maßstab brüsten. Leider wirddieser soziale Wohnungsbau entsprechend derWarteliste gefüllt. Weder kann man sich direktfür eine Wohnung bewerben, noch sich wirk-sam dagegen wehren, dort einquartiert zu wer-den. Ob die künftigen Bewohner die Loggia alsFreiraum annehmen oder als Abstellplatz miss-brauchen, ob die großzügigen Verkehrsflächenzum Kommunizieren anregen oder zum Sta-peln von Müll – hierin wird sich offenbaren,ob das „Mirador“ als ein Stich im Stadtteil emp-funden wird oder als ein geistreiches Piken.

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und sich für das bekannte niederländische Büro als Partner entschieden hatte, steht fürdas Selbstbewusstsein, mit dem hierzulandeArchitektur im europäischen Kontext zur Dis-kussion gestellt wird.Das Ergebnis der binationalen Kooperation istnicht nur ein ungewöhnliches Beispiel für denVersuch, vom Einerlei der Wohnblöcke abzu-weichen. Es zeigt auch das fruchtbare Zusam-menspiel zwischen den Absolventen der Delf-ter Schule, die dem funktionellen Expressionis-mus eines Jaap Bakema verpflichtet sind, unddem bis heute vom schmückenden Ornamentgeprägten Äußeren spanischer Baukunst: DieFassaden, bei den Bauten von MVRDV üblicher-weise ausgesprochen ruppig ausgeführt, wur-den hier ästhetisch verfeinert durch die deut-lich voneinander unterschiedenen, aber harmo-nisch abgestimmten Verkleidungen.Die Bildung kleiner Nachbarschaften, gekenn-zeichnet durch die Fassade und durch eigeneGrundrissdispositionen, soll die Anonymitätdes Hochhauses aufbrechen. Der gemeinsameFreiraum in der Mitte wird zeigen, ob sich dasVersprechen der Moderne einlösen lässt, dieüberbaute Fläche gleichsam in den Lüften zu-rückzugeben. Was hier im Übrigen gleich dop-pelt versucht wird, werden doch den Maisonet-tes in den beiden obersten Geschossen jeweils

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