Nr. 25 Januar – April 2002/I ISSN 0378-5106 Die BERUF SNr. 25 Januar – April 2002/I ISSN...

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  • ISSN 0378-5106Nr. 25 Januar – April 2002/I

    Die Europäische Zeitschrift Berufsbildungerscheint dreimal jährlich in vier Sprachen (DE, EN,ES, FR). Ein Jahresabonnement umfasst alle im Kalenderjahr(Januar bis Dezember) erscheinenden Ausgaben derEuropäischen Zeitschrift Berufsbildung. Es verlängertsich automatisch um ein Kalenderjahr, falls es nichtbis zum 30. November gekündigt wird. Die Europäische Zeitschrift Berufsbildung wird Ihnenvom Amt für amtliche Veröffentlichungen der EG,Luxemburg, zugesandt. Die Rechnung erhalten Sie von Ihrem zuständigen EU-Vertriebsbüro. Im Preis ist die Mehrwertsteuer nicht enthalten.Zahlen Sie bitte erst nach Erhalt der Rechnung.

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    Europäisches Zentrum für die Förderung der Berufsbildung

    Europäische Zeitschrift Berufsbildung

    Nr. 25 Januar – April 2002/I

    B E R U F S

    B I L D U N GE u r o p ä i s c h e Z e i t s c h r i f t

  • Cedefop

    BERUFSBILDUNG NR. 25 EUROPÄISCHE ZEITSCHRIFT

    CedefopEuropäisches Zentrum

    für die Förderungder Berufsbildung

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    Das Cedefop unterstützt die Euro-päische Kommission dabei, durchden Informationsaustausch undErfahrungsvergleich zu Themenvon gemeinsamem Interesse fürdie Mitgliedstaaten die Berufsbil-dung und die ständige Weiterbil-dung auf Gemeinschaftsebene zufördern und weiterzuentwickeln.

    Es stellt Verbindungen zwischender Berufsbildungsforschung,-politik und -praxis her. Es verhilftden politischen Entscheidungsträ-gern und praktisch Tätigen auf al-len Ebenen der EU zu einem bes-seren Verständnis der Entwicklun-gen im Bereich der Berufsbildung,um ihnen Schlussfolgerungen fürkünftige Tätigkeiten zu erleich-tern. Es bemüht sich ferner dar-um, Wissenschaftler und Forscherzur Ermittlung von Entwicklungs-tendenzen und Zukunftsfragenanzuregen.

    Der Verwaltungsrat des Cedefophat sich für den Zeitraum 2000 bis2003 auf eine Reihe mittelfristigerPrioritäten verständigt. In ihremRahmen konzentrieren sich dieTätigkeiten des Cedefop auf vierHauptthemenbereiche:

    ❏ Förderung der Kompetenzenund des lebensbegleitenden Ler-nens;❏ Förderung neuer Lernformenim gesellschaftlichen Wandel;❏ Förderung von Beschäftigungund Wettbewerbsfähigkeit;❏ Verbesserung des gegenseitigenVerständnisses und der Transpa-renz in Europa.

    Die von den Autoren geäußerten Ansichten decken sich nicht notwendigerwei-se mit der Position des Cedefop. In der Europäischen Zeitschrift für Berufsbil-dung haben die Autoren das Wort, um ihre Analysen und unterschiedlichen,teilweise sogar gegensätzlichen Standpunkte darzulegen. Auf diese Weise willdie Zeitschrift einen Beitrag zur kritischen Diskussion leisten, die für die Zu-kunft der beruflichen Bildung auf europäischer Ebene unerlässlich ist.

    Redaktioneller Beirat:

    VorsitzenderMartin Mulder Wageningen University, Niederlande

    Steve Bainbridge Cedefop, GriechenlandAviana Bulgarelli Isfol, ItalienJuan José Castillo Universitad Complutense de Madrid, SpanienUlrich Hillenkamp Europäische Stiftung für Berufsbildung, ItalienTeresa Oliveira Universidade Nova de Lisboa, PortugalJordi Planas Universitat Autònoma de Barcelona, SpanienLise Skanting Dansk Arbejdsgiverforening, DänemarkHilary Steedman London School of Economics and Political Science,

    Centre for Economic Performance, Vereinigtes KönigreichIvan Svetlik University of Ljubljana, SlovenienManfred Tessaring Cedefop, GriechenlandÉric Verdier Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS),

    LEST/CNRS, Frankreich

    Redaktionssekretariat:

    Erika Ekström Institutet För Arbetsmarknadspolitisk Utvärdering(IFAU), Schweden

    Jean-François Giret CEREQ, FrankreichGisela Schürings Europäische Stiftung für Berufsbildung, Italien

    Chefredakteur:

    Éric Fries Guggenheim Cedefop, Griechenland

    Verantwortlich:Johan van Rens, DirektorStavros Stavrou, stellvertretender Direktor

    Übersetzung: Corinna Frey

    Layout: Zühlke Scholz & PartnerWerbeagentur GmbH, Berlin

    Umschlag: Rudolf J. Schmitt, Berlin

    Technische Produktion mit DTP:Axel Hunstock, Berlin

    Redaktionsschluss: 25.1.2002

    Nachdruck – ausgenommen zu kommerziellenZwecken – mit Quellenangabe gestattet

    Katalognummer: TI-AA-02-025-DE-CPrinted in Belgium, 2002

    Diese Zeitschrift erscheint dreimal jährlich aufDeutsch, Englisch, Französisch und Spanisch.

    Die portugiesische Sprachversionwird veröffentlicht von:CIDESMinistério do Trabalho e da SolidariedadePraça de Londres 2-2°P-1049-056 LisboaTel. (351-21) 843 10 36Fax (351-21) 840 61 71E-mail: [email protected] kann dort direkt bezogen werden.

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    Inhalt

    Hommage

    Ettore Gelpi, Weltbürger, internationaler Erziehungswissenschaftler,Menschenrechtler und moderner Anarchist – eine Dankesschuld ................. 3Norbert Wollschläger

    Neue Paradigmen in Ausbildung und Kommunikation ..................................... 5Ettore Gelpi

    Forschungsbeiträge

    Bildungsdynamik und Bildungssysteme .............................................................. 9Jean VincensEs gibt kein einheitliches Bildungsentwicklungsmodell in Europa. Die Unter-schiede erklären sich aus dem Verhältnis zwischen Bildung und Wirtschaftsent-wicklung.

    Modernisierungsansätze der beruflichen Bildungzwischen Modul- und Berufskonzept .................................................................. 30Matthias PilzTrotz innovativer Ansätze bleiben die jeweiligen nationalen Berufsbildungs-konzepte prägend. Daher ist es nach wie vor problematisch, von einemKonvergenzprozess zu sprechen.

    Brückenschlag zwischen Theorie und Praxisin der Berufsbildung der Niederlande ................................................................ 37Gäby Lutgens, Martin MulderEvaluierung eines Versuchs, Auszubildende mithilfe einer rechnergestütztenkollaborativen Lernumgebung zur Kommunikation in der Ausbildung und zurZusammenarbeit an gemeinsamen Aufgaben anzuregen.

    Analyse der Berufsbildungpolitiken

    Arbeitserfahrung und Curriculum: Beispiele aus Spanien ............................. 43Fernando MarhuendaIn Spanien wird der Stellenwert des Praktikums im Unternehmen nach wie vorunterschätzt. Seine systematische Einbettung in Ausbildungslehrgänge erscheintdringend geboten.

    Die Gestaltung und Evaluation der Ausbildung in Form von Praktika:Profil des Unterstützungsteams ...........................................................................59Miguel Aurelio Alonso GarcíaDas Vorgehen mithilfe eines „Unterstützungsteams“ ist von zentraler Bedeutungfür den Erfolg der Ausbildung in Form von Praktika; es bildet zweifellos denSchlüssel zur Verbesserung der Qualifikation und der beruflichen Eingliederungin Spanien.

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    Bildung unter Modernisierungsdruck - Strukturwandel,veränderte Bildungsambitionen und Internationalisierungals Herausforderungen ..........................................................................................73Arthur SchneebergerIn Österreich erschwert der drastische Rückgang der Lehrstellenzahl den amstärksten benachteiligten Gruppen den üblichen Übergang ins Erwerbsleben –Gründe und Auswege

    Neue Entwicklungen im irischen Berufsbildungssystem:Das „praxisorientierte staatliche Abschlusszeugnis“(Leaving Certificate Applied) ...............................................................................89Jim GleesonIst das Learning Certificate Applied ein trojanisches Pferd – ein Mittel, um einenTeil der jungen Menschen wieder in Qualifizierungsmaßnahmen zu integrieren,oder ein Mittel, um wieder ein Gleichgewicht zwischen Ausbildungsabgängenund –fortsetzungen herzustellen?

    Lektüre zum Thema

    Literaturhinweise ................................................................................................ 107

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    NorbertWollschlägerCedefop

    Ettore GelpiWeltbürger, internationalerErziehungswissenschaftler,Menschenrechtler undmoderner Anarchist –eine Dankesschuld

    Es war Mitte der siebziger Jahre, als sichunsere Wege zum ersten Mal kreuzten.Ettore Gelpi, von Haus aus Verfassungs-rechtler, Erziehungswissenschaftler ausÜberzeugung, bei der UNESCO in Pariszuständig für Lifelong Education, Autorunzähliger Veröffentlichungen, bevorzug-te Sprachen Italienisch, Englisch, Franzö-sisch, Spanisch und Portugiesisch, uner-müdlicher Streiter für gesellschaftliche Re-formen und Gleichheit der Bildungschan-cen. Wir, damals im Cedefop in Berlin,die das Glück hatten, mit ihm zusammenzu arbeiten, empfanden eine besondereArt von Respekt für Ettore. Auf ihn warVerlass. Er half mit seinem wissenschaft-lichen Rat, wann immer er konnte. Nieschlug er eine Einladung zu einer Konfe-renz oder einem Seminar aus. Bat manihn, einen Artikel zu schreiben, sagte erstets zu. Ohne Honorar. Und Abgabeter-mine hielt er ein. Er war nicht nur Fach-kollege. Er war kollegialer Freund. Undwie wir überzeugt von dem politischenund gesellschaftlichen Stellenwert unse-res beruflichen Tuns.

    Irgendwie verloren wir uns dann aus denAugen. Nicht nur wegen des Umzugesnach Thessaloniki. Forschungsthemenwechselten, Prioritäten hatten sich geän-dert, neue Kooperationspartner warengefunden, frühere Kontakte lösten sichauf, Freundschaften wurden vernachläs-sigt. Wie das so ist in internationalen Ein-richtungen. Hin und wieder las manEttores Namen in Teilnehmerlisten wich-tiger Konferenzen, stieß man auf ein neu-es Buch von ihm oder einen neuen Auf-satz.

    Wirklich erinnerte ich mich an ihn abererst auf der Suche nach einem Key notespeaker für die Agora Konferenz im April.Es ging um das Verhältnis von allgemei-ner und beruflicher Bildung, ihrem im-mer noch sehr unterschiedlichen Imagebzw. Stellenwert in der heutigen Gesell-schaft, und welche Veränderungen erfor-derlich seien. Das zentrale bildungspoli-tische Thema schlechthin, Gegenstandheftigster Debatten und Motiv vielfältigsterReformbemühungen im Bildungsreich,überall in Europa. „Die berufliche Bildungder herrschenden Klasse ist ihre Allge-meinbildung; die Allgemeinbildung derbeherrschten Klasse ist ihre Berufsbil-dung.“ So hatte, in Anlehnung an Fried-rich Engels, Ende der sechziger Jahre derVorsitzende der deutschen Lehrergewerk-schaft das Problem zugespitzt formuliert.Und die Frage war, was sich seitdem realverändert hatte.

    Ettores private Adresse fand sich im Pari-ser Telefonbuch. Gleich der erste Versuchklappte. Seine Stimme klang, wie ich siein Erinnerung hatte. Französisch und,nicht zu verleugnen, noch immer der ita-lienische Akzent. Ein kurzes „Norbert …wer? Ach ja, Cedefop. Natürlich. Damals.Wie lange ist das her? Geht’s gut? Wosteckst Du jetzt eigentlich?“ Herzlicheserneutes Zusammentreffen am Telefon.Meine Bitte war schnell vorgebracht. DasThema rasch umschrieben. Die alte Alli-anz sofort wieder hergestellt. Seine Zusa-ge kam prompt. Ja, das Thema interessie-re ihn sehr, wie kaum ein anderes. Erwerde einen Vortrag ausarbeiten. Ciao undbis bald.

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    Ettore hielt Wort. Der Vortrag kam weni-ge Tage später per E-Mail. Seine Sekretä-rin ließ ausrichten, dass ihm an dem Do-kument sehr viel gelegen sei, er selbstaber aus gesundheitlichen Gründen lei-der nicht an der Konferenz teilnehmenkönne. Ich wollte ihm noch vorschlagen,eine Videokonferenz-Schaltung zwischenParis und Thessaloniki einzurichten. Sohätte er zumindest virtuell an der Agorateilnehmen und seine Key note vortragenkönnen. Nur wußte ich nicht, wie krankEttore wirklich war. Seit langem schon.

    Meinen Dank für sein Engagement hat erselbst nicht mehr erhalten. Deshalb an

    dieser Stelle und öffentlich „Un très grandmerci, cher ami, au nom de nous tous etpour tout ton engagement.“

    Ettore Gelpi verstarb am 22. März 2002,im Alter von 69 Jahren, in Paris an denFolgen einer langen, schweren Krankheit.Zwei Tage nachdem er seinen letzten Vor-trag fertiggestellt hatte.

    * * *

    Der Redaktionsbeirat hat sich dafür aus-gesprochen, Ettore Gelpis Gedanken zumVerhältnis von allgemeiner und berufli-cher Bildung hier zu veröffentlichen.

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    Ettore Gelpi1933 – 2002Neue Paradigmen in

    Ausbildung und Kom-munikation

    Die Mächtigen von Athen wurden auf ihreHerrschaft vorbereitet, indem sie in Phi-losophie, Rhetorik und in der Kunst desPlädoyers ausgebildet wurden. Diese Ein-weisung in ihr öffentliches Leben auf demForum war ihre „berufliche Bildung“, zu-gleich aber auch eine vollendete Form all-gemeiner Bildung, die es ihnen erlaubte,die Macht zu ergreifen und zu erhalten.

    Die Erziehung des Volkes erfolgte im Rah-men mehr oder weniger nobler Tätigkei-ten – Heranbildung der Kinder, Handel…– und sicherte im Wesentlichen das Über-leben; diese Ausbildung beinhaltetedurchaus auch allgemeinbildende Kom-ponenten.

    Allgemeine und berufliche Bildung sindalso nicht so eindeutig voneinander zutrennen. Eindeutig sind hingegen Finalitätund Resultate dieser Ausbildungen. Inberuflichen Bildungsgängen ist heute aberleider nur allzu oft weder von Finalitätennoch von Philosophie die Rede, manspricht nur über Modalitäten.

    In Reaktion auf die katastrophalen Krisender Gegenwart, von den „Twin Towers“bis hin zum Anstieg der Arbeitslosigkeit,dem man jahrelang mit zweifelhaften Re-zepten entgegenzuwirken suchte, setztman zur Problemlösung auf die militäri-sche Option, obwohl es um Missständeeiner Tragweite geht, die sich dieser völ-lig entzieht. Situationen in Ländern wieArgentinien, die offensichtlich nicht mehrkontrollierbar sind, tiefgreifende Krisendes Unternehmertums und der Gewerk-schaften werfen auch Zweifel an denBildungssystemen der verschiedenen Län-der auf; auch diese sind ursächlich für diedramatischen Probleme.

    Nun soll zwar die Frage der Bildung nichtfür alles verantwortlich gemacht werden,was auf diesem Planeten offensichtlich

    nicht funktioniert, aber man darf die Rol-le der Bildung auch nicht unterbewerten.Die Europäer begeistern sich immer nochfür Bildungskonzepte, die Anfang der 70erJahre entstanden sind, sie haben aber ver-gessen, dass die wirtschaftliche Euphoriein Europa damals einen Höhepunkt er-reicht hatte, der Theoretikern und Prakti-kern Spielraum gewährte, diverse Verbin-dungen zwischen allgemeiner und beruf-licher Bildung zu knüpfen.

    Am Ursprung des Kurswechsel stehenmeiner Ansicht nach die so genannte Öl-krise, ja der Beginn des unerbittlicheninternationalen Wettbewerbs im Rahmender sich abzeichnenden Globalisierung,eine immer schwächere Stellung der Ge-werkschaften, die kaum noch in der Lagewaren, für die Vermittlung allgemeinerBildung an die Arbeiter einzutreten, diein den so genannten Krisenzeiten als Lu-xus betrachtet wurde, sowie das, was ichhier behandeln werde: die Preisgabe derFrage der Allgemeinbildung durch die Ex-perten.

    Die allgemeine Bildung verschwindet vonder Tagesordnung.

    Ich habe selbst erlebt, wie bestimmteAkteure immer mehr das Interesse verlo-ren und vielmehr darauf bestanden, dieVermittlung allgemeiner Kenntnisse sei fürdie berufliche Bildung von Arbeitern wieFührungskräften unerheblich. Gestützt aufeine unsägliche Literatur, hatte die nach-wachsende Generation von Management-und Ausbildungsspezialisten nur nocheine berufliche Bildung im Blick, die al-lein auf Funktionalität, Effektivität undMobilität der Arbeitskräfte ausgerichtetwar.

    Aus Ausbildern mit einer stark kulturellgeprägten persönlichen Geschichte wur-den passive Weitervermittler einer ihnen

    Eröffnungstext der AGORA-Sitzung „Image und Stellen-wert der beruflichen Bil-dung – welche Veränderun-gen sind erforderlich?“29. und 30. April 2002, Thes-saloniki, Griechenland

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    selbst fremden „Kultur“, welche häufigweder den Interessen der Arbeitskräftenoch den Interessen des Unternehmensentsprach. Und wir, wir beschäftigten unsnur noch unter Genossen bzw. auf reinwissenschaftlicher Ebene mit dieser Fra-ge; wobei wir allerdings stets in engemKontakt nicht etwa mit Ideologen, son-dern mit seriösen Vertretern von Unter-nehmen und Gewerkschaften standen.

    Und die Firmen, die neuartige Ausbil-dungsgänge verkaufen, vermehren sichderweil, ihre Schulungen werden immerteurer, die Ergebnisse immer bescheide-ner.

    Ich möchte diese Veranstaltung zumAnlass nehmen, um Sie mit diesen Fra-gen zu konfrontieren und die Situationnicht weiter schönzureden, was zu nichtsführt. Um die anstehenden Veränderun-gen, die von großer Tragweite sind,bewältigen zu können, sind Behörden undUnternehmen ebenso wie die Gesellschaftinsgesamt heute dringender denn je aufMänner und Frauen angewiesen, die kul-turelle Werte verinnerlicht haben. WelcherStellenwert kommt Wissenschaft undTechnik zu? Sie sind Teil dieser Kultur undmüssen als solcher bestimmte Bedingun-gen erfüllen: Sie dürfen nicht zu Totalita-rismen führen, sie müssen ihre Funktio-nen erfüllen und dürfen nicht mehr Raumbeanspruchen, als ihnen zusteht. Aberdieser historische Kampf ist nicht leichtzu führen, und dies ist der Kern meinerHypothese. Will man erreichen, dass dieAusbildung dazu beiträgt, den gesell-schaftlichen Erfordernissen gerecht zuwerden, so müssen auch Wissenschaftler,Lehrkräfte und Verwalter herangebildetwerden, die in der Lage sind, sich derEinflussnahme und dem Druck einzel-staatlicher und internationaler Macht-strukturen zu widersetzen, welche einetechnische Ausbildung diktieren, die fak-tisch zum Absterben der Bildung führt.

    In diesem Zusammenhang kommt derAusbildung der Männer und Frauen, dieBildungsaufgaben im weitesten Sinneübernehmen, sowie der mit Bildungs-fragen befassten Wissenschaftler elemen-tare Bedeutung zu. Es ist notwendig, sicheiner unterschwelligen Prostitution zuwidersetzen, deren Resultate offensicht-lich sind. Eine Neuordnung der Ausbil-dung kann sicherlich nicht bedeuten, die

    Arbeitskräfte anhand ihrer spezifischenAufgaben nach Beschäftigtengruppen zutrennen. Der Wissenschaftler muss sichebenso wie der leitende Angestellte phi-losophisches Wissen aneignen; der ange-lernte Arbeiter ist auf mathematischeKenntnisse ebenso angewiesen wie derIngenieur.

    Ein solcher Bildungsansatz wird der kri-senhaften Bildungssituation neue Impul-se verleihen, d. h. einer Situation, die fest-gefahren ist, weil man das Augenmerkausschließlich auf Strukturen und gesetz-liche Regelungen richtet.

    Meine Freunde vom Cedefop fordern michnach zwanzigjähriger Unterbrechung zumerneuten Nachdenken auf. Und meineFreunde aus Kameoka verleihen mir ei-nen Preis für mein seit zwanzig Jahrenwährendes Bemühen in Japan zur Ent-wicklung der Bildungskonzepte im Be-reich der ständigen Weiterbildung, die alsetwas aufgefasst wird, das auch den Er-werb kulturellen Wissens sowie selbst-gesteuertes Lernen umfassend einbezieht.

    C. Griffin verweist im Abschnitt EttoreGelpi(1) nachdrücklich auf die Verbindun-gen, die ich zwischen Ausbildung, Bildungund Kultur hergestellt habe. Mit einem Malwird das Gesamtbild deutlich. Die Kriseist umfassend und man versucht, andereQuellen zu untersuchen. Ich habe mei-nen Kampf geführt, einen Kampf, derheute anerkannt ist, weil er niemals inAbgeschiedenheit geführt wurde. Ständighabe ich mich mit offiziellen wie mit un-abhängigen Gruppen auseinandergesetzt,die diese Ideen schon immer geteilt ha-ben, weil sie diesen Ideen entsprechendleben und weil sie dem Druck der unter-schiedlichen Formen von Korruption nichtnachgeben, die seit 30 Jahren auf denBildungsbereich und die Berufsbildungeinwirken. Der im Betrieb tätige Arbei-ter, der zugewanderte Arbeitnehmer, derKenntnisse erwirbt, um in dem neuenLand, in dem er arbeitet, überleben zukönnen, die Frau, die darum kämpft, Ar-beit zu finden und diese zu behalten, derjunge Lehrling, der sich nicht damit zu-frieden gibt, am Ende des Monats einenbescheidenen Lohn zu empfangen, sie allewissen um die Bedeutung, die der allge-meinen Bildung zukommt, wenn es dar-um geht, die eigene Zukunft zu gestaltenund nicht, ausgepresst wie eine Zitrone,

    (1) P. Jarvis, Koord. 20th CenturyThinkers in Adult and ContinuingEducation, 2. Ausgabe, S. 274-288

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    einfach abgeschoben zu werden. Ich ken-ne diese Menschen und ich habe stets denKontakt zu ihnen gesucht. Wir haben ge-meinsam nachgedacht. Häufig sind sie diewahren Forscher, und ich fordere die hierAnwesenden auf, sich ganz ohne Dem-agogie, sondern vielmehr mit Lernbereit-schaft, Wissbegierde und Zuneigung andiese Menschen zu halten.

    Ich befand mich nicht nur in Oppositionzu den Einrichtungen, die unter demEinfluss der Geldgeber bzw. unter demEinfluss derjenigen standen, die sich alsGeldgeber gerierten, sondern manchesMal auch in Opposition zu den Gewerk-schaften, die direkten oder indirektenZwängen seitens einzelstaatlicher oderinternationaler Institutionen unterlagen.Trotz des freundschaftlichen Klimas, indem diese Konflikte ausgetragen wurden,handelte es sich in der Sache um harteAuseinandersetzungen.

    Möglicherweise gehe ich mit meinenBerufskollegen, mit Wissenschaftlern,Lehrkräften und Funktionären so scharfins Gericht, weil sie um die Machtverhält-nisse wissen und früher auch willens wa-ren, für die Verbindung von allgemeinerund beruflicher Bildung, d.␣ h. für demo-kratische Bildungsverhältnisse zu kämp-fen. Oftmals musste ich – und muss nochimmer – Enttäuschungen hinnehmen, aber

    ich glaube, dass ich als Werktätiger, derseit vielen Jahren in der Welt der Bildungunterwegs ist, nicht nur das Recht, son-dern vor allem die Pflicht habe, mich die-sen manipulativen Einflüssen entgegen-zustellen.

    Ich wäre glücklich, wenn ich erlebenkönnte, wie diese Frage von Ausbildungs-firmen, in Zeitschriften und in Seminarengemeinsam mit denjenigen untersucht underörtert wird, die Urheber dieser Bildungsind. Klar ist, dass man nicht über Kulturreden kann, ohne diejenigen einzubezie-hen, die ein Interesse an allgemeiner undkultureller Bildung bekunden. Und eben-so empfinde ich es als anstößig, dass sichimmer mehr Personen zu Fragen der Ar-beit äußern, ohne die Arbeitswelt über-haupt zu kennen.

    Sie haben mich hierher eingeladen, uman einem Neuanfang teilzuhaben: SolltenSie einfach nur jemanden suchen, der Ih-nen eine kritische Analyse aller zum The-ma Weiterbildung erschienenen Texte lie-fert, dann sind Sie an den Falschen gera-ten. Im Lauf von 30 Jahren haben sichdie eifrigen Verfechter der Kultur in Blau-pausen von Managern verwandelt, dieglauben, technische Kenntnisse und dieFähigkeit zum Umgang mit der Techno-logie machten eine Vertiefung der eige-nen kulturellen Kenntnisse überflüssig.

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    Bildungsdynamik undBildungssysteme

    (1) An diesem Projekt arbeiten folgen-de Forschungsteams mit:• Université des Sciences Socialesde Toulouse, Laboratoire Interdiscipli-naire de Recherches sur les Ressour-ces Humaines et l’Emploi (LIRHE)• Universitat autonoma de Barce-lona (UAB) Grup de Recerca Educacioi Treball (GRET)• London School of Economics(LES) Center for Economic Perfor-mance (CEP)• Zentrum für Sozialforschung Hal-le (ZSH)• Centro di Recherche Economichee Sociali (CERES) Roma• Center for Research On Innovati-on and Society (CRIS) Berlin & SantaBarbara

    Dieser Artikel basiert auf einem kollekti-ven Forschungsvorhaben, dem ProjektEDEX (Educational Expansion and LabourMarket)(1), das von der Europäischen Ge-meinschaft finanziell unterstützt wird.

    Das umgreifende Ziel dieses Forschungs-vorhabens bestand darin, die Modalitätenund Konsequenzen der massiven Zunah-me der Zahl der Erwerbstätigen, die übereinen Bildungsabschluss verfügen, zuuntersuchen, und zwar im Laufe der letz-ten 40 Jahre in den fünf folgenden euro-päischen Ländern: Deutschland, Spanien,Frankreich, Italien und im Vereinigten Kö-nigreich.

    Für die Phase 1 des Projekts (WorkPackage 1 = WP1) waren Hilary Steedmanund der Autor dieses Artikels verantwort-lich. Sie wurde im Laufe des Jahres 2000abgeschlossen.

    Dieser Artikel verwendet die im Schluss-bericht (Steedman und Vincens 2000)vorgestellten Ergebnisse, stellt aber kei-ne Zusammenfassung des Schlussberichtsdar. Vielmehr sollen die Überlegungen,die im Bericht dargelegt wurden, mitSchwerpunkt auf den neuesten Ergebnis-sen weitergeführt sowie die Interpretationder Daten, die im Bericht selbst nur an-gedeutet wurde, weiter ausgeführt wer-den.

    Eine der methodischen Besonderheitendes EDEX-Projekts bestand darin, dass einGenerationenansatz zugrunde gelegt wur-de. Durch die vorangehenden Arbeiten,die von denselben Teams dank der finan-ziellen Unterstützung durch das Cedefopdurchgeführt worden waren (Mallet et al.,1997), war nahegelegt worden, dass diemeisten Bildungsabschlüsse von jungen

    Menschen erworben werden, und daherdie Anhebung des Bildungsniveaus derBevölkerung über einen demografischenProzess erfolgt:

    ❏ Das Bildungsniveau, das eine Genera-tion im Alter von 30 Jahren erreicht hat,verändert sich in der Folge sehr wenig.Es gibt zwar Ausnahmen, doch insgesamttrifft diese Aussage zu.

    ❏ Daraus ergibt sich, dass die Anhebungdes allgemeinen Bildungsstands über einFortschreiten in der Altersskala, nämlichüber Generationen mit immer mehr Aus-bildungsabsolventen, erfolgt.

    ❏ Dieses Merkmal des Prozesses des Er-werbs von Abschlüssen ermöglicht es, dieEntwicklung des Bildungsstands nachzu-zeichnen, indem einfach die Abschluss-struktur der verschiedenen Generationen,die zu einem gegebenen Zeitpunkt dieBevölkerung ausmachen, verglichen wird.

    ❏ Dieser Ansatz, der sich auf die Betrach-tung aufeinanderfolgender Generationenstützt, ermöglicht auch eine neuartigeAnalyse der Bildungssysteme: Man ver-folgt eine Generation, die zu einem ge-gebenen Zeitpunkt ins Schul- bzw. Bil-dungssystem eintritt und die Schule durch-läuft, wobei sie sich auf die verschiede-nen Bildungsgänge verteilt, aus denensich das Bildungssystem zu diesem Zeit-punkt zusammensetzt. Eine Veränderungdieser Aufteilung im Laufe der Zeit ist dasErgebnis sowohl einer veränderten Nut-zung unveränderter Bildungsgänge alsauch der Veränderung im Angebot an Bil-dungsgängen. Diese als „Méthode desgraphes des systèmes éducatifs“ bezeich-nete Methode, die von B.␣ Fourcade vonLIRHE ausgearbeitet wurde, hat sich da-

    Indem der Artikel die wichtigs-ten Entwicklungen der Struk-tur der (Aus)bildungsabschlüs-se in fünf Mitgliedstaaten derEuropäischen Union be-schreibt – Deutschland, Spani-en, Frankreich, Italien undVereinigtes Königreich –, zeigter, dass es kein einheitlichesBildungsentwicklungsmodellgibt, und erläutert, dass sichdie Unterschiede aus dem Ver-hältnis zwischen Bildung undWirtschaftsentwicklung herlei-ten. Die Entwicklung der Bil-dung lässt sich in der Tat anzwei Verhältnissen festma-chen: dem zwischen Ausbil-dungsangebot und -nachfrageund dem zwischen Kompe-tenzangebot und –bedarf amArbeitsmarkt. Doch bildet na-türlich auch die Vergangenheiteinen entscheidenden Faktor:denn da jedes Land aus seinenpolitischen Traditionen undArbeitsbeziehungen herauseine andere Antwort auf Pro-bleme gibt, die sich allen stel-len, entwickeln sich die Bil-dungssysteme nach wie vor inungleicher Weise weiter.

    Jean VincensEmeritusUniversität fürSozialwissenschaften,Toulouse

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    bei als sehr fruchtbar erwiesen (Béduwéund Fourcade 2000).

    Der erste Teil dieses Artikels stellt diewichtigsten Züge der Entwicklung derAbschlussstruktur in den fünf Ländern vor.Im zweiten Teil wird versucht, die haupt-sächlichen Gründe für die Bildungs-expansion herauszuarbeiten. Im drittenTeil wird schließlich versucht, die Kon-vergenzen und Divergenzen der Entwick-lung in den fünf Ländern eingehenderdarzustellen.

    Teil 1Die Entwicklung

    1) Die Daten

    In Tabelle I werden die 1940, 1950, 1960und 1970 geborenen Generationen unterVerwendung einer vereinfachten Klassifi-kation, die von Hilary Steedman vorge-schlagen und im EDEX-Bericht verwen-det wurde, verglichen.

    Es handelt sich um folgende Kategorien:

    1a. Ohne Bildungsabschluss: im Verei-nigten Königreich: no qualifications; inFrankreich: sans diplôme; in Italien:Licenza elementare oder senza titolo (diein den Daten nicht getrennt sind); inDeutschland: ohne Bildungsabschluss undohne Antwort; in Spanien sense estudis.

    1b. Abgeschlossene Pflichtschule: inFrankreich: Certificat d’études primaires;in Spanien: Primaris; in Deutschland:Hauptschulabschluss.

    2. Abschluss des Sekundarbereichs␣ I:im Vereinigten Königreich: O Level, CSEund GCSE ; in Frankreich: BEPC ; inDeutschland: Realschule; in Italien: Scuolamedia; in Spanien: Bachillerato elementalund EGB obere Stufe.

    3. Berufsbildende Abschlüsse: im Ver-einigten Königreich: others, Trade Appren-ticeship, City&Guilds, ONC/OND, NVQ 2/3; in Frankreich: CAP/BEP; in Deutsch-land: Lehrlingsabschluss, BFS; in Italien:Abschluss der Scuola professionale; inSpanien: die FP.

    4. Abschluss des allgemeinbildenden,fachlich-/technischen oder berufsbil-

    denden Sekundarbereichs␣ II (Hoch-schulzugangsberechtigung): im Verei-nigten Königreich: A Level; in Deutsch-land: Abitur und Fachhochschulreife; inFrankreich: Baccalauréat; in Italien:Maturità, diploma di Magisterio, diplomadi Scuola Tecnica; in Spanien: Bachil-lerato Superior, BUP und COU.

    5. Hochschulabschlüsse: im VereinigtenKönigreich: degrees , HNC/HND undteaching and nursing; in Frankreich:Licence und darüber sowie AbschlüsseBac+2; Deutschland: Universitätsab-schlüsse, Meister- und Technikerab-schlüsse; Italien: Universitätsabschlüsse;Spanien: kurze und lange Universitäts-studiengänge.

    Wie alle Klassifikationen hat auch dieseihre Unzulänglichkeiten. Vor allem dieKategorie 2, Abschlüsse des Sekundar-bereichs␣ I, hat sich in einigen Ländern imLaufe der Zeit verändert: in Frankreich,im Vereinigten Königreich und in Italiensind diese Abschlüsse zu Abschlüssen derPflichtschule geworden. Wir werden dasim Folgenden berücksichtigen.

    Ausgehend von der jeweils neuesten vor-liegenden Arbeitskräfteerhebung der ein-zelnen Länder ist in Tabelle 1 für vierGenerationen die Struktur der Gesamtbe-völkerung nach Bildungsabschlüssen auf-geführt. Die 1940 geborene Generation istim Jahr 2000 60 Jahre alt und teilweisenicht mehr erwerbstätig. Die 1970 gebo-rene Generation ist 30 Jahre alt und hatgerade im Wesentlichen die Bildungsab-schlüsse erreicht, die ihr Berufsleben prä-gen werden.

    Tabelle 1:❏ Die 1940er Generation war 1960 20Jahre alt und wurde somit im Wesentli-chen im Bildungssystem der 50er Jahreausgebildet. Da die meisten Bildungsab-schlüsse in der Erstausbildung erworbenwerden, stellt die im Jahre 1998 untersuch-te Abschlussstruktur dieser Generation da-her eine gute Annäherung an die „Pro-duktion“ der Bildungssysteme der 50erJahre dar. Entsprechend war die 1950erGeneration im Jahr 1970 20 Jahre alt, ihreAbschlussstruktur spiegelt die Bildungs-produktion der 60er Jahre wider.

    ❏ Wir können davon ausgehen, dass dieStufen 1a, 1b und 2 der Bildung im Rah-men der Schulpflicht entsprechen. Tabel-

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    le 1 zeigt in der Tat sehr deutlich den Ein-schnitt auf den Stufen 1b bzw. 2: wenndie Stufe 1b hohe Werte aufweist, ist dieStufe 2 schwach ausgeprägt oder gar nichtvorhanden und umgekehrt. Die wichtigs-te Ausnahme betrifft Frankreich für dieGenerationen, die 1940 und 1950 gebo-ren wurden: Der Abschluss am Ende desSekundarbereichs␣ I erforderte eine schu-lische Ausbildung, die über die Pflicht-schulzeit hinausging. Später hat dasCertificat d’études primaires (Stufe 1b) anBedeutung verloren, und damit wurde dasBrevet d’études du premier cycle (Stufe 2)der erste Schulabschluss, den man errei-chen konnte. Im Vereinigten Königreichwar ein ähnlicher Verlauf zu beobachten.In Italien ist die Licenza media inferioreeigentlich das Abschlusszeugnis derPflichtschule.

    Daher entsprechen die Stufen 3, 4 und 5der Ausbildung im Anschluss an die Schul-pflicht. Die Bildungsexpansion kam durchzwei Prozesse zustande: (i) durch dieVerlängerung der Schulpflicht und denRückgang des Prozentsatzes derer, die dieSchule ohne Abschluss verlassen, und (ii)die Expansion der Ausbildung im An-schluss an die Schulpflicht. Der zuletztgenannte Vorgang war, wie Tabelle 2zeigt, von großer Bedeutung. Um die Un-terschiede zwischen den Zeiträumen undLändern zu verdeutlichen, gibt diese Ta-belle die kumulierten Prozentsätze derBildungsstufen der verschiedenen Gene-rationen ausgehend von den Hochschul-abschlüssen (Kategorie 5 der Klassifika-tion) an, was eine Einschätzung des Pro-zentsatzes einer Generation ermöglicht,deren Bildungsniveau über das Niveau derabgeschlossenen Pflichtschule hinausgeht.

    Tabelle 2:Die Stufe 4 entspricht einem Abschluss,der den Zugang zum Hochschulwesenermöglicht, die Stufe 3 entspricht „kürze-ren“ beruflichen Bildungsgängen (fürFacharbeiter und Fachangestellte).

    2) Kommentar

    1) Die Ausgangslage: Betrachten wir zu-nächst die Generation der 1940 Gebore-nen. In der Kategorie 5 heben sich dreiLänder (Vereinigtes Königreich, Frank-reich und Deutschland) von den anderenab, die deutlich niedrigere Zahlen aufwei-sen. Bei der Zwischensumme 5+4 schließtItalien zu den drei führenden Ländern auf,

    Spanien bleibt auf einem niedrigeren Ni-veau; bei der Zwischensumme 5+4+3 lie-gen Deutschland und das Vereinigte Kö-nigreich deutlich an der Spitze, gefolgtvon Frankreich.

    Die 1940er Generation ist am Ende deszweiten Weltkriegs in die Schule gekom-men. Die Schulpflicht ging damals in Spa-nien bis zum Alter von 13, in Deutsch-land, Italien und in Frankreich bis zumAlter von 14 und im Vereinigten König-

    Tabelle 1

    Abschlussstruktur einiger Generationen

    1940 Geborene Deutsch- V. König- Frank- Italien Spanienland reich reich

    1a Ohne Bildungs-abschluss ␣ 9 39 28 56 32

    1b AbschlussPflichtschule 24 - 27 - 57

    2 Sek.␣ I ␣ 1 ␣ 9 ␣ 6 23 -3 Berufsbildung 51 34 20 ␣ 3 34 Sek.␣ II - ␣ 3 ␣ 7 12 25 Hochschule 14 16 12 ␣ 5 6

    1950 Geborene Deutsch- V. König- Frank- Italien Spanienland reich reich

    1a ␣ 8 24 18 31 121b 14 - 18 - 632 ␣ 2 12 ␣ 7 34 -3 53 38 30 ␣ 5 54 - ␣ 4 10 20 85 21 22 17 10 13

    1960 Geborene Deutsch- V. König- Frank- Italien Spanienland reich reich

    1a ␣ 9 16 23 10 ␣ 41b 11 - ␣ 4 - 542 ␣ 3 23 ␣ 9 43 -3 56 30 31 ␣ 7 144 - ␣ 7 12 30 125 22 25 21 10 16

    1970 Geborene Deutsch- V. König- Frank- Italien Spanienland reich reich

    1a ␣ 8 11 17 ␣ 6 ␣ 21b ␣ 9 - ␣ 1 - 382 ␣ 3 23 ␣ 4 41 -3 58 31 30 ␣ 7 204 - ␣ 9 16 39 185 20 26 32 ␣ 7 23

    * Arbeitskräfteerhebung 1999, also im Alter von 29 Jahren

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    reich bis zum Alter von 15 Jahren. Weni-ger als 20␣ % dieser Generation absolvier-te eine längere allgemeinbildende Ausbil-dung als Grundlage für eine fachlich-tech-nische Ausbildung auf mittlerer Stufe oderfür ein Hochschulstudium. Ein großer Teildieser Generation sollte Facharbeiter-oder Fachangestelltentätigkeiten ausüben,für die eine formelle Ausbildung mit ei-nem Abschluss oder eine informelle Aus-bildung „on the job“ möglich waren. Ge-nau diese Situation spiegelt sich in denDaten wider.

    Deutschland sorgt dafür, dass zwei Drit-tel dieser Generation eine formale Aus-bildung erhält, die Berufsausbildung wirdbesonders ausgebaut. Das Vereinigte Kö-nigreich weist ebenfalls ein sehr umfang-reiches Berufsbildungswesen auf, auchwenn dieses längst nicht so ausgeprägtist wie in Deutschland. Frankreich nimmtim Hinblick auf die Berufsbildung (Stufe

    3) eine Zwischenposition ein, in Italienund in Spanien ist diese Art der Ausbil-dung kaum entwickelt. Das bedeutet, dassin diesen beiden Ländern und in geringe-rem Maße auch in Frankreich und im Ver-einigten Königreich „training on the job“,das nicht durch einen Abschluss aner-kannt wird, eine wichtige Rolle spielt.

    Deutschland und das Vereinigte König-reich weisen im Jahr 1950 die am weites-ten entwickelten Bildungssysteme auf, inderen Rahmen die Berufsbildung (Stufe3) nicht vom Staat finanziert oder verwal-tet wird, sondern in der Verantwortungder Betriebe (Deutschland) bzw. verschie-denster Organisationen (Vereinigtes Kö-nigreich) liegt. In Frankreich finden kur-ze berufliche Bildungsgänge in den staat-lichen Berufsbildungszentren und in derLehre statt.

    2) Die Entwicklung von der 1940er Ge-neration zur 1970er Generation wird so-wohl durch diese Unterschiede zu Beginnals auch durch die im Verlauf der Periodegetroffenen Entscheidungen beeinflusst.

    Die Gesamtsumme aus 5+4+3 nimmt inallen Ländern von der 1940er Generationzur 1950er Generation stark zu, wobei dieZunahme in Spanien, Frankreich und Ita-lien deutlich höher ausfällt, als in den bei-den anderen Ländern. Die Zahlen für die1960er Generation weisen in Spanien,Frankreich und Italien eine Fortsetzungdieser Zunahme auf, während es inDeutschland und im Vereinigten König-reich zu einer deutlichen Verlangsamungkommt. Die Zahlen der 1970er Generati-on schließlich zeigen in Deutschland eineannähernde Stagnation, im VereinigtenKönigreich eine schwache Zunahme undeine weitere Zunahme in den anderen Län-dern. Im Jahr 1998, als die 1970 geboreneGeneration knapp 30 Jahre alt ist, hat dannder Prozentsatz dieser Generation, der übereinen postobligatorischen Abschluss ver-fügt, in Deutschland und in Frankreichannähernd 80␣ %, im Vereinigten Königreich66␣ %, in Spanien 61␣ % und in Italien 53␣ %erreicht; in Italien wird allerdings der Pro-zentsatz der Absolventen, vor allem imHochschulbereich, auch nach dem Altervon 30 Jahren noch zunehmen.

    Die Struktur dieser postobligatorischenAbschlüsse ist am Anfang unserer Betrach-tung verschieden und hat sich in den ein-

    Tabelle 2

    Abschlüsse nach der Pflichtschulzeit -kumulierte Prozentsätze

    1940 Geborene Deutsch- V. König- Frank- Italien Spanienland reich reich

    5 14 16 12 5 65+4 14 19 19 17 85+4+3 65 53 39 20 11

    1950 Geborene Deutsch- V. König- Frank- Italien Spanienland reich reich

    5 21 22 17 10 135+4 21 26 27 30 215+4+3 74 64 57 35 26

    1960 Geborene Deutsch- V. König- Frank- Italien Spanienland reich reich

    5 22 25 21 10 165+4 25* 32 33 40 285+4+3 78 62 64 47 42

    1970 Geborene Deutsch- V. König- Frank- Italien Spanienland reich reich

    5 20 26 32 7 225+4 27* 35 48 46 415+4+3 78 66 78 53 61

    * Die Summe 4+5 wurde dahingehend korrigiert, dass auch die Abiturienten, die nach Erwerb desAbiturs eine Lehrlingsausbildung abgeschlossen haben, erfasst sind.

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    zelnen Ländern auf je eigene Weise ver-ändert.

    Diese Ausgangslage und die folgendenEntwicklungen können etwas genauererfasst werden, indem der Anteil der Stu-fen 4 und 5 in der Zwischensumme 5+4+3berechnet werden. Tabelle␣ 3 zeigt dieErgebnisse für die vier Kohorten.

    Tabelle 3Je geringer der Koeffizient ist, um so ge-ringer ist der Anteil der Abschlüsse vonlängeren Bildungsgängen im Sekundarbe-reich und von Bildungsgängen im Hoch-schulbereich an der Gesamtheit der post-obligatorischen Abschlüsse. Auf der an-deren Seite zeigt das sehr deutlich dieBedeutung der beruflichen Bildung inDeutschland und im Vereinigten König-reich für die 1940er Generation sowie dasweitgehende Fehlen dieser Art von Aus-bildung (mit einem formellen Abschluss)in Italien und in Spanien sowie dieZwischenposition Frankreichs.

    Der Anteil langer Bildungsgänge imSekundarbereich und von Bildungsgängenim Hochschulbereich nimmt in allen Län-dern von einer Generation zur nächstenzu. Nur Spanien bildet hier eine Ausnah-me, was die Entwicklung der beruflichenBildung in diesem Land widerspiegelt.Italien ist ein Sonderfall: Hier machen be-rufliche Bildungsgänge, auf die ein Ein-tritt in den Arbeitsmarkt folgt, einen grö-ßeren Teil der langen Bildungsgänge imSekundarbereich aus als in den anderenLändern.

    Die Unterschiede in der Ausgangssituati-on (der 1940er Generation) lassen sichrecht einfach durch das sehr geringe Ge-wicht der kurzen beruflichen Ausbildungs-gänge in Spanien, in Italien und in gerin-gerem Maße auch in Frankreich erklären.Alle Länder mit Ausnahme von Spanienweisen vergleichbare Prozentsätze vonAbsolventen der Stufe 5+4 auf, nurDeutschland liegt leicht zurück.

    Zumindest bis zur 1960er Generation ver-läuft die Entwicklung in Frankreich, inItalien und im Vereinigten Königreichanalog. Spanien schließt zu diesen dreiLändern auf, Deutschland weist eine lang-samere Zunahme auf. Der Übergang vonder 1960er Generation zur 1970er Gene-ration zeigt ausgeprägtere Entwicklungs-unterschiede: Frankreich ist das erste

    Tabelle 3

    Anteil der Stufen 4 und 5 am Prozentsatz 5+4+3

    Deutsch- V. König- Frank- Italien Spanienland reich reich

    1940 Geborene 0,22 0,36 0,49 0,85 0,73

    1950 Geborene 0,28 0,41 0,47 0,86 0,81

    1960 Geborene 0,32* 0,52 0,52 0,85 0,67

    1970 Geborene 0,35* 0,53 0,62 0,87 0,78

    *Die Summe 4+5 wurde in der oben angegebenen Weise korrigiert.

    Land, in dem der Anteil der Absolventender Stufe 5+4 annähernd 50␣ % der Gene-ration erreicht – der Generation, die imJahr 2000 30 Jahre alt ist -, Italien liegtnicht weit dahinter. Spanien scheint sichin dieselbe Richtung zu entwickeln, wäh-rend der Prozentsatz im Vereinigten Kö-nigreich 35␣ % nicht überschreitet und inDeutschland 30␣ % nicht erreicht. Die Da-ten bezüglich der 1980er Generation lie-fern uns einige zusätzliche Hinweise: InFrankreich hat der Anteil der Personen,die zumindest einen Abschluss der Stufe4 (baccalauréat - Abitur) erreichen, in den90er Jahren stark zugenommen und beider 1975er Generation und den folgen-den 60␣ % erreicht. Dies ist aber vor allemauf die Abnahme des Prozentsatzes der-jenigen, deren höchster Abschluss einAbschluss der Stufe 3 war, zurückzufüh-ren. Im Vereinigten Königreich ist derAnteil der Jugendlichen, die zumindestden A Level erreichen, nach 1998 starkgestiegen und scheint sich bei knapp 40␣ %der nach 1975 geborenen Generationeneinzupendeln. In Deutschland scheint dieEntwicklung gleichmäßiger zu verlaufen.In der 1975er Generation liegt der Anteilderjenigen, die einen Bildungsabschlussbesitzen, der den Zugang zu einer derFormen der Hochschulbildung ermöglicht,bei ungefähr 37 bis 38␣ %.

    Ganz deutlich zu erkennen ist, dass eskein einheitliches Modell der Bildungs-expansion gegeben hat, durch das Frank-reich und in stärkerem Maße noch Italienund Spanien veranlasst gewesen wären,die beiden im Bildungsbereich fortge-

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    schritteneren Länder zu imitieren unddenselben Weg einzuschlagen.

    Die hauptsächlichen Fragen, die durch dieBildungsexpansion in diesen fünf Ländernaufgeworfen werden, betreffen die Bil-dung im Rahmen der Schulpflicht und instärkerem Maße noch die postobligato-rische Bildung. Warum bestehen derartgroße Unterschiede beim Anteil der Per-sonen, die eine Hochschulzugangsberech-tigung oder einen Hochschulabschlusshaben? Warum sind die kurzen oder mitt-leren Berufsbildungsgänge in den betrach-teten Ländern so verschieden?

    Wenn man diese Fragen stellt, muss mandie Beziehungen zwischen Bildung undWirtschaftsentwicklung befragen.

    3. Bildung und Wirtschaftsentwick-lung

    Eine spezifische Untersuchung dieserBeziehungen geht eindeutig über denRahmen dieser Arbeit hinaus, die – undhier verwenden wir den Titel eines in jün-gerer Zeit erschienenen Artikels (Bils undKlenow 2000) - nicht versucht, auf dieFrage zu antworten: „Does SchoolingCause Growth“?

    Dennoch sind einige Bemerkungen an-gebracht.

    1) Die Länder, deren Wirtschaftsniveau1960 am schwächsten war, sind auch die,deren Bildungsniveau am niedrigsten war.Es handelt sich um die Länder, die dieschnellste wirtschaftliche Entwicklungdurchgemacht und gleichzei t ig dieschnellste Bildungsexpansion erreicht ha-ben. Ein Beispiel: Das Einkommen einesEinwohners in Italien hat sich, ausge-drückt als Prozentsatz des Einkommenseines Einwohners des Vereinigten König-reichs, folgendermaßen verändert:

    1960 1983 199866% 90% 103%

    (Quellen: 1960 und 1983, CERC 1985, S. 38; 1998,OECD 2000, S. 17; für 1960 und 1983: verfügbaresVolkseinkommen, für 1998: BIP)

    2) Die Wirtschaftsentwicklung wird durcheine ganze Reihe von gesellschaftlichenVeränderungen begleitet, wie der Verstäd-terung, der Entstehung von ausgedehnte-ren Arbeitsmärkten und neuen Formen

    der Arbeitsorganisation, durch zunehmen-de gewerkschaftliche Organisation undVerbreitung von Tarifverträgen sowie diewachsende räumliche und beruflicheMobilität. Durch die Wirtschaftsentwick-lung nimmt der Bedarf an Kompetenzen(skills) zu, die gerade genannten Phäno-mene tragen aber dazu bei, dass sich dieArt des Erwerbs der Kompetenzen unddie Art, wie sie ermittelt werden, tiefgrei-fend ändert. Die Unterschiede im post-obligatorischen Bildungsniveau der1940er Generation spiegelt damit die Un-terschiede in der Wirtschaftsentwicklungzu Beginn der 60er Jahre wider. Deutsch-land und das Vereinigte Königreich wei-sen zu diesem Zeitpunkt das höchste Ein-kommen pro Kopf der Bevölkerung auf.Frankreich kommt nur auf 71␣ % des Pro-Kopf-Einkommens des Vereinigten König-reichs (CERC 1985).

    3) Um diese Veränderungen zu erklären,muss zwischen Entwicklung der Kompe-tenzen und Entwicklung des Schulbesuchsunterschieden werden. Die formelle Bil-dung, die in organisierter Weise in Formvon Bildungsgängen erteilt und durchAbschlusszeugnisse „gekrönt“ wird, hat inWirklichkeit im Zeitraum 1950 bis 2000vier verschiedene Rollen gespielt: Sie hatdazu beigetragen, dass die Einzelnen mitden Kompetenzen ausgestattet wurden,die für die Wirtschaftsentwicklung nütz-lich waren; sie ist zum Teil an die Stelleder weniger sichtbaren Ausbildung getre-ten, die in den Industrie- und Handwerks-betrieben oder in den häufig als Famili-enbetrieben geführten landwirtschaftli-chen Betrieben „on the job“ erteilt wur-de; sie hat zu einem Prozess der formel-len Zertifizierung der Kompetenzen bei-getragen, der für das Funktionieren desArbeitsmarkts im Rahmen der neuen Or-ganisationsformen der Gesellschaft immerwichtiger wird, und schließlich hat sie imSelektionsprozess des Arbeitsmarkts eineFilterrolle übernommen, d.␣ h., sie ist zueinem der Mechanismen für die sozialePositionierung des Einzelnen geworden.

    Je nach Niveau der Wirtschaftsentwick-lung zu Beginn der 60er Jahre kam die-sen Rollen in den verschiedenen Ländernunterschiedliche Wichtigkeit zu, was zuden Unterschieden der Bildungssystemebeigetragen hat. Die Bildungssystemespiegelten die Merkmale des Bildungsan-gebots und der Bildungsnachfrage wider,

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    die im wesentlichen auf Erstausbildungausgerichtet waren. Eine vergleichendeStudie der Bildungsexpansion muss sichauf dieses Angebot und diese Nachfragekonzentrieren. Wenn man von Bildungs-angebot und Bildungsnachfrage spricht,so bedeutet das nicht, dass ein Wettbe-werbsmarkt vorhanden wäre. Der zweiteTeil dieses Artikels wird sich darum bemü-hen, genauer zu beschreiben, was diesesAngebot und diese Nachfrage sowie wasihre Entwicklung bestimmt. Beim Verlas-sen des Bildungssystems stellen die jun-gen Absolventen das Angebot an ausge-bildeten Personen dar, das auf die Nach-frage aus den Unternehmen trifft. Die Ar-beitsmärkte spielen eine wichtige Rollebei der Nutzung der Abschlüsse. DieseRolle wirkt natürlich auf das Angebot unddie Nachfrage nach Ausbildung zurück.Aber auf welche Weise? Das ist eine derFragen, auf die wir zu antworten versu-chen.

    Teil 2Bildungsangebot undBildungsnachfrage

    In einer marktbestimmten Umgebung gehtjegliche Produktion aus Initiativen hervor,die entweder durch das Angebot oderdurch die Nachfrage ausgelöst werden. DieAnbieter können neue Güter anbieten, dieNachfrage legitimiert dieses Angebot, in-dem die Güter gekauft werden. Aber auchdie Nachfragenden können ihre Wünscheäußern, indem sie erklären, welchen Be-darf sie haben; die Anbieter setzen danndiese latente Nachfrage in konkrete Güterund Dienstleistungen um. Der Bildungs-bereich funktioniert nur zu einem kleinenTeil nach diesem Schema. Jedes Land ver-fügt über sein Bildungssystem, das eigeneMerkmale aufweist und üblicherweise lang-fristig stabile politische Entscheidungenwiderspiegelt. Unter diesem Gesichtspunktgeht das Angebot der Nachfrage voraus,zuweilen setzt sie sich vollständig gegen-über der Nachfrage durch: Das ist der Fallder Schulpflicht. Aber es gibt auch Spiel-räume. Die verschiedenen Akteure, derStaat und die Gebietskörperschaften, dieFamilien, die Unternehmen, die Gewerk-schaften (vor allem die der Lehrkräfte)spielen beim Aufbau und der Entwicklungder Bildungssysteme eine Rolle und neh-men daher auch auf ihre Ergebnisse Ein-fluss: nämlich auf die Zahl der Absolven-

    ten und auf die Abschlussstruktur jeder Ge-neration.

    1. Die öffentliche Hand

    Die politischen Entscheidungen im Bil-dungsbereich waren in den untersuchtenLändern im wesentlichen unumkehrbar,Veränderungen der politischen Mehrheits-verhältnisse haben zu keinen wesentli-chen Veränderungen in diesem Bereichgeführt. So sind die wesentlichen Zügeder Bildungssysteme der betrachteten Län-der zwischen 1950 und 2000 gleich ge-blieben, außer vielleicht in Spanien, dassein Bildungssystem ausgehend von ei-nem sehr niedrigen Niveau ausgebaut hat.Daher ist es relativ einfach, die Bildungs-expansion in ihren Kontext zu stellen.Schwieriger dagegen ist es, gemeinsameTendenzen zu ermitteln.

    Die Politik aller betrachteten Länder zielteauf einen Ausbau der Bildung ab, und die-ses Ziel war um so ehrgeiziger, je niedri-ger das Ausgangsniveau war. Dieser Poli-tik lagen vier Hauptgedanken zugrunde:

    ❏ Der erste war der Gleichheitsgedanke.Es sollte eine Situation geschaffen wer-den, die allen Kindern gleiche Chanceneinräumte. Doch dies erwies sich sehrbald als recht komplizierte Angelegenheit.Sollten alle eine gemeinsame Mindestaus-bildung durchlaufen? Und wie lange soll-te eine solche Ausbildung dauern? Sollteeine Situation der gleichen Chancen amAusgangspunkt geschaffen werden undein System der Differenzierung nach schu-lischem Erfolg und nicht nach sozialerHerkunft oder nach Familieneinkommeneingerichtet werden? Dieser Erfolg hängtaber auch von der Familiensituation ab,sodass das Problem durch die Entschei-dung für ein auf den Schulerfolg gestütz-tes Kriterium nicht völlig gelöst wird. Aufdiese Fragen konnten in jedem Land an-dere Antworten gegeben werden.

    ❏ Der zweite Gedanke bestand darin, je-dem Kind das Minimum an Wissen zu ver-mitteln, dessen Besitz für das Leben unddie Arbeit in der heutigen Gesellschaft alsnotwendig erachtet wurde; dazu gehörteauch die Verbreitung der Werte, auf de-nen die jeweilige Gesellschaft aufbaut.

    ❏ Der dritte Gedanke hat je nach Landeine unterschiedliche Rolle gespielt. Das

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    war der Gedanke, dass für die Wirtschafts-entwicklung eine Mobilisierung der Be-gabungen und eine Expansion der Bil-dung erforderlich sind. Damit wird dieBildung als eine Bedingung, die Wirt-schaftswachstum ermöglicht, zuweilensogar als seine Ursache betrachtet, alsoals eine unabhängige Variabel im Wachs-tumsprozess.

    ❏ Der vierte Gedanke bestand darin, dieAbsolventen auf den verschiedenen Ni-veaus ihrem wahrscheinlichen Werdeganggegenüberzustellen, d.␣ h. eine vereinfachteDarstellung der Beziehungen zwischen denNiveaus der Abschlüsse und den Arbeits-plätzen, die Berufsanfängern zugänglichsind. Die Länderberichte zeigen gut, wiedieser Gedanke umgesetzt wurde: Bei-spielsweise wurde in Italien bis 1962 fürjede Schülergeneration im Alter von zehnJahren eine Orientierung vorgenommen,in deren Folge ungefähr 45␣ % einer Gene-ration auf einen Eintritt ins Erwerbslebenim Alter von 14 Jahren vorbereitet wurdenund eine praktische Ausbildung zu diesemZweck erhielten; die übrigen durchliefenebenfalls bis zum Alter von 14 Jahren denSekundarbereich␣ I und wechselten an-schließend in den Sekundarbereich␣ II überoder auch in den Arbeitsmarkt, wo sie eherim Dienstleistungssektor arbeiteten als inder Industrie.

    Der Staat hat beim Aufbau des Bildungs-systems in den fünf betrachteten Länderndefinitiv die vorherrschende Rolle ge-spielt: er legte die verschiedenen Bil-dungsgänge und ihre Verbindungen festsowie die allgemeinen Zugangsbedin-gungen und zuweilen sogar die Zahl derPersonen, die in einen bestimmten Bil-dungsgang aufgenommen werden konn-ten. Dies betrifft zumindest den Pflicht-schulbereich, den allgemeinbildendenSekundarbereich, der zum großen Teil dieBedingung für den Zugang zum Hoch-schulbereich darstellt, und schließlichauch den größten Teil des Hochschulbe-reichs selbst. Bezüglich der sogenanntenkürzeren beruflichen Bildungsgänge, diehäufig direkt an das Ende der Pflicht-schulzeit anschließen, ist die Situationkomplizierter.

    2. Die Unternehmen

    Die Unternehmen waren über die Lehr-lingsausbildung immer in der Berufsbil-

    dung präsent. Die Lehrlingsausbildung hatjedoch in den einzelnen Ländern ganz ver-schiedene Formen angenommen. Derhöchste Grad an Institutionalisierung istin Deutschland anzutreffen, wo die Un-ternehmen im dualen System für einenwichtigen Teil der beruflichen Ausbildungder größten Gruppe jeder Generation sor-gen. Wenn die Berufsbildung in erster Li-nie durch staatlich finanzierte Einrichtun-gen erteilt wird, sind die Unternehmendennoch nicht ausgeschlossen, da sie ander Definition der Ausbildungsgänge be-teiligt sind.

    Die Unternehmen nehmen auch durch dieVerwendung der Absolventen, die in denArbeitsmarkt eintreten, auf mittelbareWeise Einfluss. Die Unternehmen benö-tigen Kompetenzen, d.␣ h. Personen, diein der Lage sind, die für die Herstellungvon Gütern und die Erstellung von Dienst-leistungen erforderlichen Aufgaben aus-zuführen. Diese Aufgaben können in ver-schiedenster Weise kombiniert werden, sodass der Inhalt der Arbeitsplätze und dieArbeitsplatzstruktur der Unternehmennicht unbedingt durch die Technik unddie Art des hergestellten Guts bestimmtsind. Daher suchen die Unternehmen vorallem Personen, die ihre Arbeitsplätze ameffizientesten ausfüllen können, am we-nigsten kosten und sehr anpassungsfähigsind. Auch die Unternehmen sind Nutzerdes Bildungssystems und reagieren auf diequalitativen und quantitativen Verände-rungen, die sich im Angebot an Absol-venten ergeben, die wiederum aus derBildungsexpansion herrühren. In be-stimmten Konfigurationen der Beziehun-gen zwischen Ausbildungssystem und denArbeitsmärkten ist das mit einer Strategieder Abstimmung zwischen Ausbildungund Beschäftigung nicht unvereinbar. DerFall reglementierter Berufe, in denen einbestimmter Abschluss die Bedingung fürden Zugang zur betreffenden Berufsaus-übung darstellt, ist das beste Beispiel da-für.

    3. Familien und Jugendliche

    Sie stellen die Nachfrage nach Ausbildungdar. Oft ist zu lesen, dass es sich hierbeium eine „soziale Nachfrage“ handelt, dieautonom ist und eine Grundtendenz derEntwicklung der Gesellschaften darstellt.Kivinen und Ahola (1999) beispielsweiseschreiben: „Facing growing social de-

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    mand, governments are forced to expandeducational provision. At the same time,this feeds ‘educational self-propulsion’which means that the educational levelof the population rises irrespective ofchanges in occupational structures andskills demand“. Diesem Ansatz zufolgewäre die Bildungsexpansion im Wesent-lichen dieser etwas mysteriösen sozialenNachfrage zu verdanken.

    Um die Entwicklung der Bildungssystemeund der Bildungsnachfrage zu verstehen,erscheint es vernünftiger, diese Nachfra-ge nach Bildung als Ergebnis der inZwänge eingebundenen Entscheidungs-prozesse seitens der Einzelpersonen undder Familien zu betrachten. Die Elemen-te, die diesen Entscheidungen zugrundeliegen, sind vielfältig und komplex. Siewerden von der Bildungsökonomie undder Bildungssoziologie untersucht. Die-se Argumentation berücksichtigt die Kos-ten und den erhofften Ertrag in einemKontext unvollständiger Information, indem die Einzelperson lediglich über ihrepersönliche Wahrscheinlichkeit Bescheidweiß, den jeweiligen Abschluss zu errei-chen, wenn sie den betreffenden Bil-dungsgang wählt, und über die Wahr-scheinlichkeit, den mit diesem Abschlussverbundenen mittleren Verdienst zu er-halten. Unter diesen Bedingungen be-rücksichtigt die Einzelperson den Ertrag,der mit verschiedenen Arten von Bil-dungsgängen verbunden ist, die unmit-telbaren Bildungskosten und die Op-portunitätskosten bzw. den Verdienst, derihr durch das Studium oder die Ausbil-dung im Vergleich zu einer Beschäftigungentgeht. Angenommen eine Person hatam Ende der Pflichtschulzeit die Wahlzwischen zwei Möglichkeiten: (i) Beginneines dreijährigen Bildungsgangs mit derWahrscheinlichkeit p, diesen erfolgreichabzuschließen, in dem Wissen, dass die-ser Abschluss ihr eine Beschäftigung E1mit einem mittleren Verdienst W1 (miteiner gegebenen Variationsbreite) ermög-licht; (ii) Eintritt in den Arbeitsmarkt, wosie sofort einen Verdienst W2, der unterW1 liegt, erhalten kann, in dem Wissen,dass sie nach drei Jahren eine Beschäfti-gung E‘2 mit dem Verdienst W‘2 (auchhier mit einer bestimmten Variationsbrei-te) erhalten kann. Nehmen wir weiter an,dass die direkten Bildungskosten gleichNull sind. Die Entscheidung zur Fortset-zung der Ausbildung wird sehr wahr-

    scheinlich dann fallen, wenn die Wahr-scheinlichkeit p zum Erwerb des Ab-schlusses hoch ist, wenn W2 und W‘2deutlich niedriger sind als W1 und wenndie Variationsbreite des Verdiensts in derBeschäftigung E1 geringer ist, als die inder Beschäftigung E‘2. Eine geringeWahrscheinlichkeit p kann jedoch zurEntscheidung zugunsten eines unmittel-baren Eintritts in den Arbeitsmarkt füh-ren.

    Daraus folgt, dass die Bildungsnachfrageder Familien und der Jugendlichen di-rekt durch die Organisationsweise desBildungssystems beeinflusst wird, die dieBedingungen für die Wahrscheinlich-keiten aufstellt, die verschiedenen ange-botenen Bildungsgängen erfolgreich zuabsolvieren, und sich auch auf die Wahr-scheinlichkeit auswirkt, einen Arbeits-platz zu erhalten, der mit einem gegebe-nen mittleren Verdienst verknüpft ist.Eine Selektion anhand von schulischenKriterien zu Beginn eines Bildungsgangsschränkt natürlich die Wahlmöglichkeitenein.

    Die Zunahme der Bildungsnachfrage imLaufe der Zeit erscheint uns letzten En-des als Antwort auf verschiedene Stimuli,die eine Kombination aus den Verände-rungen der Bildungssysteme und den Per-spektiven der Arbeitsmärkte darstellen.Daher ist es möglich, Zeiträume zu fin-den, in denen die Nachfrage aufgrund vonAnreizen zunimmt, die vom Arbeitsmarktausgehen, und diese Nachfrage auf dasBildungssystem dahingehend Druck aus-übt, dass das Bildungsangebot ausgebautwird. Zu anderen Zeitpunkten kann sichdas Bildungsangebot durch staatliche Ent-scheidungen ändern und auf die Nach-frage reagieren; es kann aber auch pas-sieren, dass sich eine solche Veränderungdes Bildungsangebots kaum auf die Nach-frage auswirkt, da sich die Voraussetzun-gen, unter denen die Einzelpersonen ihreWahl treffen, durch die Veränderung desAngebots nicht wesentlich ändern.

    4. Die Bildungsdynamik

    Die Bildungsexpansion im Laufe des letz-ten halben Jahrhunderts ist in unseren fünfLändern in wesentlichen Punkten denstaatlichen Entscheidungen zu verdanken.Diese Entscheidungen lassen aber aucheinige Spielräume offen, vor allem in den

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    häufigen Fällen, in denen der Staat dieInhalte und Zugangsbedingungen zu denBildungsgängen definiert, die Zahl der Plät-ze in den einzelnen Bildungsgängen abernicht genau festlegt. Diese Zahl hängt vonder Nachfrage ab, die sich manifestiert,d.␣ h. von den Entscheidungen der Famili-en. Der Staat entwickelt diesen oder jenenBildungsgang in Abhängigkeit einer ent-sprechenden Nachfrage. In jedem der fünfLänder gibt es eine vielfältige Kombinati-on von offenen Bildungsgängen, in denensich die Zahl der Plätze mit mehr oderweniger Verspätung nach der Nachfragerichtet, und von geschlossenen Bildungs-gängen, in denen die Zahl der Plätze vonpolitischen Entscheidungen oder von öko-nomischen Variabeln abhängt (beispiels-weise wird die Zahl der Plätze der ver-schiedenen Lehrlingsausbildungsgänge imdualen System in Deutschland in ersterLinie von den Unternehmen anhand ihrerEinschätzung der künftigen Wirtschaftsent-wicklung festgelegt).

    Die Entwicklung weist Gemeinsamkeitenzwischen den Ländern auf, aber auchwesentliche Unterschiede, die diesen po-litischen Entscheidungen und ihren Wech-selwirkungen mit der Nachfrage sowiedem Verhalten der Unternehmen geschul-det sind. Wie haben sich die Unterneh-men die Kompetenzen verschafft, die sienachgefragt haben? Die beobachteteBildungsexpansion ist daher das Ergeb-nis von Einflüssen, die zwei Beziehungs-komplexe aufeinander ausüben: die Be-ziehungen, die zwischen Bildungsange-bot und Bildungsnachfrage bestehen, unddie Beziehungen, die zwischen Angebotund Nachfrage nach Kompetenzen aufden Arbeitsmärkten bestehen.

    Die Regulierung des Bildungsangebots inden fünf Ländern ist komplex. Fast über-a l l g ibt es e inen marktbest immtenBildungssektor, in dem die Zahl der Plät-ze von den Preisen abhängt, die die Teil-nehmer zu zahlen bereit sind. Der größteTeil des Angebots unterliegt aber ande-ren Regelungsarten. Die wichtigsten dreisind (i) die staatliche Reaktion auf dieAusbildungsnachfrage, (ii) die Regulie-rung im Rahmen von Haushaltszwängenund (iii) die Regulierung durch die Ein-schätzung der Nachfrage von Seiten derUnternehmen. Schließlich kann es auch,vor allem im Hochschulbereich, zu einernahezu marktbestimmten Regulierungkommen, wenn die Studierenden dieBildungskosten selbst tragen müssen.

    Teil 3VergleichendeUntersuchung

    Von 1960 bis 2000 hat sich die Bildung inden fünf Ländern in unterschiedlichen Ge-schwindigkeiten entwickelt, die vor allemdas 1960 bereits erreichte Niveau wider-spiegeln, wie im ersten Teil gezeigt wur-de. Dennoch wurde die Entwicklung auchdurch politische Entscheidungen geprägt:die beiden Länder, die 1960 den fort-schrittlichsten Stand erreicht hatten,Deutschland und vor allem das Vereinig-te Königreich, waren auch die Länder, indenen diesbezüglich die einschneidenstenpolitischen Entscheidungen getroffenwurden. Im Übrigen haben alle Länderaußer Spanien bei der Entwicklung ihrerBildung die Hauptzüge des vor 1960 be-stehenden Systems beibehalten, wobeijedes Land natürlich bestimmte Bereichestärker betont hat als andere. Spanien hatsich beim Aufbau seines derzeitigen Bil-dungssystems am französischen Modellorientiert. Das war nicht die einzige Mög-lichkeit, die in Frage kam, aber sicherlichdiejenige, die den Gegebenheiten derspanischen Gesellschaft am besten ent-sprach.

    Der Pflichtschulabschnitt ist ein ersterAspekt dieser Expansion. Es ist der Be-reich, in dem die Gemeinsamkeiten amdeutlichsten sind. Darauf folgt die post-obligatorische Bildung: in diesem Bereichsind um einiges stärker ausdifferenzierteBildungslandschaften anzutreffen. Hier

    Tabelle

    13 Jahre 14 Jahre 15 Jahre 16 JahreSpanien X 1964 1990

    Deutschland X 1960(1966)

    Italien X 1999

    Frankreich X 1959(1969)

    VereinigtesKönigreich X 1944 1973

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    finden wir sowohl die allgemeinbilden-den Bildungsgänge des Sekundarbereichs,die um 1950 herum vor allem als Vorbe-reitung auf den Hochschulbereich dien-ten, und die berufsbildenden Bildungs-gänge einschließlich der Lehre, die aufbestimmte Berufe vorbereiteten. Die drit-te Gruppe bilden die Hochschulstudien-gänge, die 1960 in den fünf betrachtetenLändern ähnliche Züge aufwiesen, wobeiFrankreich aufgrund der stark ausge-prägten Trennung zwischen Grandesécoles und Universitäten eine Ausnahmebildete.

    Wir werden auf diese drei Bereiche zu-rückkommen.

    1. Pflichtschule und Mittelschule

    Die folgende Tabelle zeigt die Entwick-lung des Alters, in dem die Schulpflichtendet. Das Zeichen X gibt dieses Endalterim Jahr 1944 an, das Datum zwischenKlammern gibt an, in welchem Jahr eineÄnderung in Kraft trat.

    Tabelle1950 weisen die fünf Länder eine Gemein-samkeit auf: im Alter von 10 oder 11 Jah-ren, nach den ersten vier oder fünf Schul-jahren, stehen die Schülerinnen und Schü-ler vor einer wichtigen Entscheidung überihren weiteren schulischen Weg. InDeutschland verzweigt sich die Schulbil-dung nach der Grundschule in drei weiter-führende Wege, in den anderen Ländernin zwei Wege.

    Der kurze Weg führt mit oder ohne wei-tere berufliche Ausbildung zu einem Ein-tritt ins Erwerbsleben im Alter von 14 Jah-ren. Der lange Weg ist der Bildungswegdes Sekundarbereichs␣ II, der zu einemAbschluss führt, der die Aufnahme einesUniversitätsstudiums ermöglicht (der Ab-schluss ist die notwendige, aber nichtimmer allein ausreichende Bedingungdafür). In Frankreich kann der kurze Bil-dungsgang durch zwei oder drei Schul-jahre im Sekundarbereich␣ I verlängertwerden, über die der Übergang zum lan-gen Bildungsgang (Sekundarbereich␣ II)möglich ist. In Deutschland gibt es einenmittleren Bildungsgang, die Realschule, anderen Ende man im Alter von 16 Jahreneinen Abschluss erhalten kann.

    Im Laufe der 50er und 60er Jahre tritt einewichtige Änderung ein. Die Verzweigung

    der Bildungsgänge im Alter von 10 oder11 Jahren verliert an Bedeutung oder ver-schwindet ganz - außer in Deutschland.Es besteht eine Tendenz zur Vereinheitli-chung der Bildung bis zum Ende derSchulpflicht. Das entspricht dem Gedan-ken der Chancengleichheit: Begabten Kin-dern aus allen gesellschaftlichen Kreisensollte ein weiterführender Schulbesuchermöglicht werden.

    Die Bildungsgänge des Sekundarbereichsbeginnen im Alter von 11 Jahren. DerZeitraum von 11 bis 14 oder 15 Jahren,d.␣ h. praktisch die Zeit bis zum Ende derSchulpflicht, stellt eine Schulstufe undgleichzeitig eine Selektionsphase dar,auch wenn das nicht in allen Ländern of-fiziell eingeräumt wird. In Spanien, in Ita-lien, im Vereinigten Königreich und inFrankreich können die Jugendlichen amEnde dieser Stufe einen Abschluss erwer-ben, der aber je nach Land eine andereBedeutung hat. In Italien ist die Licenzamedia inferiore, die im Prinzip im Altervon 14 Jahren erworben wird, Bedingungfür einen weiterführenden Schulbesuch,wird jedoch von einem großen Teil jederGeneration erworben. In Spanien kommtdem Bachillerato elemental dieselbe Rol-le zu. In Frankreich stellt das Brevetd’études de premier cycle (BEPC) keineBarriere dar. Für die Fortsetzung der schu-lischen und beruflichen Laufbahn stütztman sich auf die Ergebnisse des bisheri-gen Schulbesuchs. Im Übrigen erfolgt eineerste Orientierung nach zwei Schuljahrenim Sekundarbereich, d.␣ h. in einem Min-destalter von 13 Jahren. Jugendliche, diezu diesem Zeitpunkt in kurze beruflicheAusbildungsgänge gelenkt werden, sindjedoch aufgrund ihres schulischen Rück-stands zumeist schon älter. Im Vereinig-ten Königreich ist der O Level nach wievor sehr selektiv: von seinen Ergebnissenhängt ab, ob ein weiterführender, alsozum A Level führender Bildungsgang ein-geschlagen werden kann.

    In Deutschland bleibt die Verzweigung imAlter von 11 Jahren bestehen, aber im-mer mehr junge Menschen wechseln inden mittleren Bildungsgang und in denlängeren Bildungsgang über, der zumAbitur führt.

    Die Entwicklung der folgenden Jahrzehntewird diese Tendenzen lediglich bestäti-gen.

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    Die Verlängerung der Schulpflicht war fürsich genommen bereits ein Faktor derBildungsexpansion. Dadurch hat zunächstschon einmal die Mindestzahl an Schul-jahren, die jeder absolvieren muss, zuge-nommen. Dann wurden zudem Anstren-gungen unternommen, damit ein großerTeil der Schüler und Schülerinnen einengrundlegenden Bildungsabschluss er-reicht, wodurch sich die Zahl der Abgän-ger ohne Abschluss stark verringert hat.In bestimmten Ländern wurden stärkereBemühungen um eine Vereinheitlichungdieses Bildungsgangs unternommen, ins-besondere in Frankreich im Laufe der 70erJahre mit dem Collège unique.

    Durch diese Verlängerung der Schulpflichttrat die Differenzierung, die die Schulemöglicherweise auch unbeabsichtigt be-wirkt, deutlicher zu Tage. Der schulischeErfolg bezieht sich nach wie vor auf aka-demische Kriterien, Entscheidungen überdie weitere schulische Laufbahn beziehensich immer weniger auf soziale Kriterienund zunehmend auf gute schulische Leis-tungen. Die Unterschiede bei den Schul-leistungen, die schon in der Grundschulebei Kindern im Alter zwischen sechs undelf Jahren zu beobachten sind, nehmenin der Regel in den folgenden Jahren nichtab.

    2. Nach der Pflichtschule: verschiede-ne Kombinationen

    Die Tabellen I und II zeigen eine gewis-se konvergierende Entwicklung zwischenden fünf Ländern: es besteht von Gene-ration zu Generation die Tendenz zur ge-genseitigen Annäherung des Prozentsat-zes, der über einen Abschluss eines post-obligatorischen Bildungsgangs verfügt,der bis in die 60er – 70er Jahre in deneinzelnen Ländern noch sehr unter-schiedlich war. Diese Annäherung warganz eindeutig nur durch sehr unter-schiedliche Entwicklungsgeschwindig-keiten möglich, d.␣ h., indem die Ländermit Rückstand schneller aufgeholt haben.Wir haben aber auch feststellen können,dass diese Annäherung auf verschiede-ne Arten eingetreten ist: der Anteil derlangen Bildungsgänge im Sekundarbe-reich und der Hochschulbildungsgängeist in Frankreich, Italien und in Spaniensehr viel schneller gestiegen als inDeutschland oder im Vereinigten König-reich.

    Wie kam es dazu? Um dies zu beantwor-ten, müssen wir den im zweiten Abschnittvorgestellten Analyserahmen benutzen.Das Bildungsangebot und die Beziehun-gen zwischen den Bildungsgängen undBeschäftigungsmöglichkeiten sind vonLand zu Land unterschiedlich; daher un-terscheiden sich auch die Entscheidun-gen der Jugendlichen und der Familien.Die realen Unterschiede zwischen demBildungsangebot der verschiedenen Län-der sind jedoch weniger leicht zu ermit-teln. Überall gibt es lange Bildungsgän-ge im Sekundarbereich und ein durchden Staat finanziertes Hochschulwesen.Hier hört die Analogie aber auch schonauf.

    Die wesentliche Frage ist in allen Länderndie folgende: welche Wege eröffnen sich,wenn die Jugendlichen die Pflichtschuleabgeschlossen haben (bzw. in Deutsch-land aufgrund des dreigliedrigen Bil-dungssystems bereits im Alter von 11 Jah-ren), oder, genauer formuliert, wie las-sen sich die Bildungs- bzw. Berufsbil-dungs-„Sequenzen“ beschreiben, zwi-schen denen sich die Jugendlichen ent-scheiden müssen? Um 1950 herum war dieAntwort nicht schwer: eine kleine Grup-pe der Jugendlichen wechselte in langeBildungsgänge im Sekundarbereich über,deren Hauptzweck in der Vorbereitung aufein Hochschulstudium bestand. Die gro-ße Mehrheit der Jugendlichen trat direktin den Arbeitsmarkt ein oder belegte eineberufsbildende Ausbildung, um einenFacharbeiter- oder Fachangestelltenberufzu ergreifen. Hinter dieser offensichtlichenEinfachheit können sich aber sehr kom-plexe Beziehungen zwischen den Bil-dungsgängen und den Beschäftigungs-möglichkeiten sowie sehr unterschiedli-che Organisationsweisen der Bildungs-systeme verbergen.

    Beginnen wir mit der Situation um 1960herum.

    2.1 Die Situation um 1960

    1) DeutschlandDie schulische Orientierung im Alter von11 Jahren erfolgt auf der Grundlage derschulischen Leistungen und der sozialenHerkunft. Wahrscheinlich haben nichtmehr als 20␣ % der 1940er Generation ei-nen Mittelschulabschluss oder ein Abiturerreicht.

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    Aber das Hauptmerkmal ist das dualeAusbildungssystem, das sich an die dreiallgemeinbildenden Bildungswege an-schließt (1960 vor allem an die beiden kür-zeren). Die Hauptzüge dieses Systemssind wohlbekannt: Die Unternehmen bie-ten Lehrlingsausbildungsplätze an undwählen aus, welche Bewerber sie einstel-len; die Ausbildungsgänge sind standar-disiert; die Wahrscheinlichkeit, denAbschluss zu erreichen, ist normalerwei-se hoch; außer im Handwerk bringt derAbschluss gute Chancen auf einen quali-fizierten Arbeitsplatz mit sich, nur weni-ge Jugendliche sind arbeitslos; nach derLehre gibt es reale Möglichkeiten für ei-nen Aufstieg durch berufsbegleitendeAusbildung (in der 1962er Generationhaben fast 30␣ % der Inhaber eines Hoch-schulabschlusses diesen Weg genommen);und schließlich messen die Unternehmenden allgemeinbildenden Abschlüssenohne Lehre kaum Wert bei.

    2) Vereinigtes KönigreichDie 1940er Generation spiegelt noch dasalte Ausbildungssystem wider: ein hoherProzentsatz der Jugendlichen kommt nichtüber die Pflichtschule hinaus und verlässtdie Schule ohne Abschluss. Kurze beruf-liche Bildungsgänge sind verbreitet, wer-den aber an unterschiedlichsten Einrich-tungen außerhalb des eigentlichen Schul-systems und nach Eintritt ins Erwerbsle-ben besucht.

    In der 1940er Generation können die In-haber eines Abschlusses des Sekundar-bereichs␣ I (zweite Stufe der für Tabelle␣ Iverwendeten Klassifikation) noch zu de-nen gezählt werden, die einen Bildungs-gang absolviert haben, der über die Schul-pflicht hinausgeht. Die Teilsumme 2+3+4macht 46␣ % der Generation aus; dieserWert liegt deutlich über dem in Frankreich(33␣ %).

    3) ItalienIn diesem Land weist das Bildungssystembereits zu Beginn der 60er Jahre die Zügeauf, die es bis zu den allerjüngsten Refor-men beibehalten wird. Nach der Pflicht-schule, die mit der Licenza secondariainferiore abgeschlossen wird, umfasst dasBildungsangebot wenig entwickelte kur-ze berufliche Bildungsgänge und vor al-lem einen s tark ausdi f ferenzier tenSekundarbereich␣ II, der neben philologi-schen und naturwissenschaf t l ichen

    Gymnasialzweigen auch Fachoberschulenund Berufsfachschulen enthält. DiesesSystem existierte bereits im Jahre 1945.Es wurde weiterentwickelt und flexiblergestaltet. Ein Hauptmerkmal des italieni-schen Bildungswesens besteht darin, dassdie Absolventen der Fachoberschulen undBerufsfachschulen bereits 1960 annähernddrei Viertel der Absolventen der Sekun-darbereichs␣ II ausmachten. Dieser Ab-schluss ermöglicht den Zugang zur Uni-versität, wobei Beschränkungen gelten,die 1969 verschwinden werden. Für die1940er Generation macht die Zwischen-summe 4+5 17␣ % der Generation aus, d.␣ h.einen Prozentsatz, der dem im Vereinig-ten Königreich und in Frankreich nahekommt und über dem in Deutschlandliegt. Der niedrige Anteil der kurzenBerufsbildungsgänge bedeutet, dass dieAusbildung häufig „on the job“ erfolgt undnicht zu einem Abschluss führt.

    Die Reformen des Jahres 1998 könntenstarke Auswirkungen zeitigen. Die Schul-pflicht wird bis zum Alter von 15 Jahrenverlängert, die Jugendlichen müssen aberbis zum Alter von 18 Jahren entweder imSchulsystem oder im Rahmen der regio-nalen Berufsbildung oder der Lehre ver-bleiben. Alles wird davon abhängen, wiediese drei Arten der Ausbildung organi-siert werden, die sich wohl auf das be-reits Bestehende stützen müssen.

    4) FrankreichEin Merkmal dieses Landes ist ein Bil-dungsangebot, das gänzlich vom Staatbereitgestellt wird (ein System, in dessenRahmen alle schulische und berufliche Bil-dung im Schulwesen erfolgt). Das Systemsah zu Beginn der 60er Jahre folgenderma-ßen aus: Nach der Grundbildung konn-ten die Jugendlichen unmittelbar auf denArbeitsmarkt gelangen, wo dann Lehr-lingsausbildungsmöglichkeiten bestanden,die zu einem Abschluss führten, oder siekonnten kurze Berufsbildungsgänge imSchulwesen beginnen. Die lange Ausbil-dung im Sekundarbereich führte zum Ab-itur; aber es gab viele, die die Schule vordem Abitur abbrachen. Auch „training onthe job“, das zu einer nicht durch einenAbschluss anerkannten Qualifikation führ-te, war sehr verbreitet. Im Rahmen derReform von 1959 wurde mit der Verein-heitlichung der Bildung im Anschluss andie fünf Grundschuljahre begonnen undes wurde beschlossen, dass alle Jugendli-

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    chen im Alter von elf Jahren die Sekun-darbildung beginnen sollten.

    5) SpanienDie Lage zu Beginn der 60er Jahre wirddurch die Bildungsstruktur der 1940erGeneration ziemlich gut repräsentiert:eine sehr schwache Entwicklung der lan-gen Sekundarbildung und so gut wie kei-ne kurzen Berufsbildungsgänge. Die meis-ten Facharbeiter und Fachangestelltenwerden „on the job“ ausgebildet, nach-dem sie am Ende ihrer Pflichtschulzeit insErwerbsleben eingetreten sind.

    Daher ist die Organisationsweise der kur-zen beruflichen Bildung und ihre Bedeu-tung um 1960 herum je nach Land unter-schiedlich. Deutschland ist das einzigeLand, das eine nicht-schulische und starkinstitutionalisierte Ausbildung eingerich-tet hat, die einer Ausbildung „on the job“ohne Abschluss, aber mit Anerkennungdurch die Unternehmen praktisch keinenPlatz einräumt. Auch im Vereinigten Kö-nigreich gibt es keine kurze beruflicheAusbildung im Schulwesen. Hier wird dieBerufsbildung von einer Vielzahl unter-schiedlicher Organisationen wahrgenom-men, wobei aber auch dem nicht durchAbschlüsse anerkannten „training on thejob“ einige Bedeutung zukommt. Frank-reich kombiniert die Ausbildung im Schul-wesen vor Eintritt ins Erwerbsleben mitLehrl ingsausbi ldung einersei ts und„training on the job“ ohne Abschluss an-dererseits. Italien und Spanien setzen vorallem auf „training on the job“.

    2.2 Die Entwicklung

    1) DeutschlandDie Bildungsexpansion kommt durch dieZunahme des Prozentsatzes der Absolven-ten der Mittelschule und des Gymnasiumsvon Generation zu Generation zustande.Dieser Prozentsatz steigt von 40␣ % in der1962er Generation auf über 60␣ % in der1972er Generation. Daher dient dasAbschlusszeugnis der allgemeinbildendenSchule zunehmend als Selektionsinstru-ment für den Zugang zu den am meistenbegehrten beruflichen Bildungsgängen:zur Zeit nehmen etwa ein Drittel der Ab-iturienten eine Lehre im dualen Systemauf, vor allem im Banken- und Versiche-rungsgewerbe. Somit bauen die verschie-denen Teile des Systems aufeinander auf.Die Beibehaltung des dreigliedrigen all-

    gemeinbildenden Systems hat sicherlichBestrebungen zur Verlängerung dieserBildungsgänge gebremst. Möglich war dasallerdings nur durch die Existenz desLehrlingsausbildungssystems, das attrak-tive Ausbildungs- und Beschäftigungs-möglichkeiten bietet. Für die Familienbedeutet die Entscheidung für den mitt-leren Weg der allgemeinen Bildung (dieRealschule) eine vernünftige Ausrichtung:Sie berücksichtigt die Wahrscheinlichkeitdes schulischen Erfolgs auf dieser Stufe,die Möglichkeiten, danach eine Lehre zubeginnen, und die vorhandenen Beschäfti-gungsperspektiven. Diese „risikoärmere“Sequenz wird der Sequenz der „Fluchtnach vorne“ vorgezogen, die bedeutenwürde, einen möglichst langen schuli-schen bzw. im Anschluss universitärenBildungsgang zu wählen. Die deutlicheZunahme des Prozentsatzes derjenigen,die im Anschluss an das Abitur eine Leh-re beginnen und kein Universtitätsstudiumaufnehmen, läßt mehrere Auslegungen zu:a) Man kann darin angesichts der zuneh-menden Risiken eines Universitätsstudi-ums eine Entscheidung für mehr Sicher-heit sehen; b) man kann aber auch wei-ter ausholen und dies so interpretieren,dass sich die Familien tendenziell immerhäufiger für lange Bildungsgänge imSekundarbereich entscheiden, da sie wis-sen, dass diese nicht nur zur Universität,sondern auch zu den besten Lehrlings-ausbildungsgängen führen. Langfristigwürde sich das in einer Zunahme des Pro-zentsatzes derjenigen niederschlagen, dielange Bildungsgänge im Sekundarbereichdurchlaufen.

    Das deutsche System hat aufgrund seinerKohärenz und der Anpassungsfähigkeitdes dualen Systems im Laufe der betrach-teten Periode dieselbe Gesamtstrukturbewahrt.

    2) Vereinigtes KönigreichDie Bildung im Rahmen der Schulpflichtwurde durch die allgemeine Einführungder Comprehensive schools und die Ver-längerung der Schulpflicht bis zum Altervon 16 Jahren zunehmend einheitlichergestaltet, wodurch eine große Zahl vonJugendlichen einen Schulabschluss erwer-ben konnte und der Prozentsatz derjeni-gen, die die Bedingungen für den Besucheiner weiterführenden Schule erfüllten,stark zugenommen hat. In der 1960erGeneration ging der Prozentsatz derjeni-

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    gen, die nach dem Alter von 16 Jahrendie Schule hätten fortsetzen können, nichtüber 23␣ % hinaus. Dieser Prozentsatz er-reicht bei der 1970er Generation 26␣ % undbei der 1980er Generation 45␣ %. Der Pro-zentsatz derjenigen, die zumindest dreiFächer mit dem A Level abschließen,nimmt im betrachteten Zeitraum ebenfallszu, und zwar von etwa 7␣ % der 18-Jähri-gen des Jahres 1965 auf 23␣ % der 18-Jähri-gen des Jahres 1996.

    Und schließlich hat die Arbeitslosigkeit beiden 18- bis 19-Jährigen, die in den 60erJahren sehr gering war, zugenommen: inden 80er Jahren hat sie 20␣ % erreicht,danach ist sie zurückgegangen.

    In diesem Kontext sind sehr viele Jugend-liche im Alter zwischen 16 und 18 Jahrenlediglich mit einem allgemeinbildendenAbschluss (Stufen 2 und 4 unserer Klassi-fikation) ins Erwerbsleben eingetreten.

    Hier scheinen zwei Faktoren eine wichti-ge Rolle zu spielen:

    ❏ Die Merkmale des Bildungsangebot imSekundarbereich␣ II: der Zugang ist durchden vorherigen Schulerfolg beschränkt,das Anspruchsniveau ist nach wie vor sehrhoch.

    ❏ Das Verhalten der Unternehmen, dieder allgemeinen Bildung entweder als An-zeichen für potenzielle Fähigkeiten oderals Indikator für erworbene Kompeten-zen einen bestimmten Wert zumessen.

    Unter diesen Bedingungen sind die Wahl-möglichkeiten der Familien und der Ju-gendlichen eingeschränkt. Die Zahl derJugendlichen, die im Alter zwischen 16und 18 Jahren ins Erwerbsleben eintre-ten, ist auch daher sehr hoch, da vieleJugendliche dieser Altersgruppe gleichzei-tig arbeiten und ihre Ausbildung fortset-zen. Die Unterrichtsorganisation ermög-licht es den Jugendlichen, schon ab demBeginn des Sekundarbereichs ihre schu-lischen Leistungen und damit auch dieWahrscheinlichkeit ihres schulischen Er-folgs, zunächst am Ende des Pflichtschul-bereichs und sodann im Verlauf der Stu-fe, die zum A Level führt, einzuschätzen.Für einen Teil der Jugendlichen erfolgtdie Entscheidung wahrscheinlich nicht inForm eines klaren Schnitts, d.␣ h. Entschei-dung zwischen Fortsetzung der Schule

    und Aufnahme einer Arbeit, sondern isteher eine allmähliche Entscheidung, diesich aus den schulischen Ergebnissen undden Gelegenheiten, die der Arbeitsmarktbietet, herausschält. Daraus erklärt sichder hohe Anteil der Personen, die ledig-lich über den Abschluss der Pflicht-schulzeit verfügen, unter den 30-Jährigendes Jahres 1998. Die kurzen Berufsbil-dungsgänge haben im Laufe der letzten40 Jahre eher an Bedeutung verloren.

    3) ItalienDer Eintritt in den Sekundarbereich␣ II istrecht einfach. Daher beginnt ein großerProzentsatz jeder Generation diesen Bil-dungsweg, aber viele brechen ihn auchwieder ab. Die Entwicklung zeigt jedoch,dass der Anteil der Jugendlichen, die denAbschluss des Sekundarbereichs␣ II errei-chen, ständig zunimmt: bei den Genera-tionen, die um 1950 herum geboren wur-den, waren es etwa 25␣ %, bei den um 1966herum geborenen Generationen waren es47␣ %.

    Der Übergang ins Erwerbsleben mit demAbschluss Licenza media inferiore undeventuell noch einigen Jahren im Sekun-darbereich␣ II ist häufig. Auch hier bedeu-tet das, dass die Unternehmen Personendieses Bildungsniveaus einstellen undwahrscheinlich recht viele Möglichkeitenzur nicht durch einen Abschluss beschei-nigten Ausbildung „on the job“ bestehen.

    Die Jugendlichen können sich dafür ent-scheiden, die weiterführende Schule zubesuchen, denn im Fall schlechter Ergeb-nisse, die zu einem Abbruch führen, ent-stehen ihnen keine Nachteile: sie hättensich nicht für einen anderen Bildungswegentscheiden können, der ihren Be-dürfnissen besser entsprochen hätte.

    4) FrankreichDie schulische Bildung im Rahmen derSchulpflicht wurde zunehmend verein-heitlicht, die kurze fachlich-technischeAusbildung im Rahmen des berufsbilden-den Schulwesens wurde ausgebaut. Da-mit wurde ein System der Bildung undschulisch-beruflichen Orientierung einge-richtet, das sich an schulischen Kriterienorientierte und an alle Jugendlichen ei-ner Generation richten sollte. Seit der all-gemeinen Einführung des Collège uniqueam Ende der 70er Jahre sollten alle Ju-gendlichen zunächst den Sekundarbe-

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    reich␣ I abschließen (Ende der Classe de3e entspricht etwa der 10. Klasse), bevorsie allgemeinbildende oder fachlich/tech-nische Bildungsgänge, die zum Abitur füh-ren, oder Berufsbildungsgänge aufneh-men. Bis 1985 handelte es sich bei letzte-ren um kurze Bildungsgänge, die zumCertificat d’Aptitudes Professionnelles(CAP) (Berufsbefähigungszeugnis) odervor allem zum Brevet d’Études Profes-sionnelles (BEP) (Berufsbildungszeugnis)führten.

    Die Entscheidung für den einen oder an-deren Bildungsweg erfolgt anhand derschulischen Ergebnisse und der Wünscheder Familie. Das hat in den Augen derFamilien zu einer Entwertung der kurzenBerufsbildungsgänge beigetragen. 1985wurden die Baccalauréats professionnels(berufsorientiertes Abitur) eingerichtet,die auf dem BEP aufbauen und den Zu-gang zum Hochschulwesen eröffnen. Die-se Diversifizierung des Bildungsangebotszielte darauf ab, die Bildung zu entwi-ckeln, und fand ihren Ausdruck in der po-litischen Zielsetzung: „80␣ % jeder Gene-ration sollen das Abitur erreichen“.

    Der Staat hat während des gesamten be-trachteten Zeitraums seinen Willen unterBeweis gestellt, die Ausbildung im Rah-men des „öffentlichen Diensts“, d.h. imSchulwesen im engeren Sinn, zu entwi-ckeln. Eine Öffnung hin auf die alternie-rende Ausbildung und die Erneuerung derLehre erfolgte erst in jüngerer Zeit. DieNachfrage der Familien und Jugendlichenwurde durch das vorhandene Bildungs-angebot im Großen und Ganzen nicht ein-geschränkt. Vielmehr hat das Angebot instarkem Maße zur Steuerung der Nach-frage beigetragen: in einer Volkswirtschaft,in der die Jugendarbeitslosigkeit zunahmund die Unternehmen Jugendlichen ohneAbschluss keine Stellen mehr anboten,erschien es als beste Lösung, so lange wiemöglich den schulischen bzw. universi-tären Bildungsweg zu beschreiten. DerWandel bei der Arbeitsorganisationscheint ebenfalls eine Rolle gespielt zuhaben. Vor allem die schwindenden Mög-lichkeiten einer auf Berufserfahrung auf-bauenden Arbeiterlaufbahn hat die Fami-lien dazu gebracht, auf die Schule zu set-zen (Beaud und Pialoux 2000). DieOpportunitätskosten sind niedrig geblie-ben. Aufgrund der Vielfalt der angebote-nen Bildungswege ist die Wahrscheinlich-

    keit gestiegen, den Abschluss zu errei-chen, da in der Realität die Schüler-lenkung dazu führt, dass die Schüler-population in Gruppen eingeteilt wird, dieseh