Nun hat der Krieg ein Ende. Erinnerungen aus Hohenschönhausen.

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6 Einführung Wie leben Menschen in Zeiten des Krieges, was tun sie, wenn die Welt um sie herum unterzugehen droht? Was zählt? Der Kampf ums Überleben. Das sichere Versteck. Sie leiden und sind verzweifelt. Sie beklagen die Toten. Und doch, das alltägliche Leben geht wei- ter. Sie essen, trinken und schlafen, sie lieben sich, sie schreiben Briefe an ihre nächsten Freunde und Verwandten. Und da sind eini- ge, die Tagebuch führen. Auf kleinen Notizzetteln oder in ein eigens dafür vorgesehenes Heft schreiben sie hastig alles auf, was um sie und mit ihnen geschieht. Sie beschreiben den Alltag, ihre Gedanken und Gefühle, die Sehnsucht nach Frieden »Der große Tag: Frieden! Der erlösende Moment, auf den wir fünf und dreiviertel Jahre gewartet haben. Deutschland hat bedingungs- los kapituliert. Nun hat das Blutvergießen ein Ende.«: notierte Kurt Wafner am 9. Mai 1945 in sein Tagebuch. Gerda Lohausen fühlte beim Anblick der Russen die Ohnmacht des deutschen Volkes. In ihren Erinnerungen schreibt sie: »Im Keller haben wir uns damit abgefunden, daß wir das Schrecklichste, den Russen, über uns erge- hen lassen müssen.« Für Liselotte Millis überwog am 8. Mai das Gefühl der Befreiung von Angst und Krieg. Im Umfeld von Hilde- gard Goerlich wollten die Menschen lieber trocken Brot, als weiter- hin diesen Krieg. Horst Kern kam in Kriegsgefangenschaft und be- gann, über den Krieg nachzudenken. Hermann Wegener mußte sein Abitur abbrechen und auf dem Bauernhof seines Vaters, der die so- wjetischen Internierungslager nicht überlebte, mithelfen, die Fami- lie zu ernähren. Clemens Napieraj, Sohn des Friedhofinspektors, wurde als 9jähriger zum Leichenbestatter. Hildegard Müller konnte sich nach der Befreiung ihren Berufswunsch, Lehrerin zu werden, erfüllen. Lisel Jacoby hat lange auf den Tag gewartet, endlich wie- der ein Mensch zu sein, ohne Registriernummer, ohne Kennkarte mit dem aufgedruckten »J«, ohne Angst der Verfolgung und Ent-

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Autor: Thomas Friedrich / Monika Hansch | Datum: 1945 | Buch über die Befreiung Berlins, Erlebnisse in der NS-Zeit, Wiederaufbau. Mit vielen persönlichen Eindrücken.

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Einführung

Wie leben Menschen in Zeiten des Krieges, was tun sie, wenn dieWelt um sie herum unterzugehen droht? Was zählt? Der Kampf umsÜberleben. Das sichere Versteck. Sie leiden und sind verzweifelt.Sie beklagen die Toten. Und doch, das alltägliche Leben geht wei-ter. Sie essen, trinken und schlafen, sie lieben sich, sie schreibenBriefe an ihre nächsten Freunde und Verwandten. Und da sind eini-ge, die Tagebuch führen. Auf kleinen Notizzetteln oder in ein eigensdafür vorgesehenes Heft schreiben sie hastig alles auf, was um sieund mit ihnen geschieht. Sie beschreiben den Alltag, ihre Gedankenund Gefühle, die Sehnsucht nach Frieden

»Der große Tag: Frieden! Der erlösende Moment, auf den wir fünfund dreiviertel Jahre gewartet haben. Deutschland hat bedingungs-los kapituliert. Nun hat das Blutvergießen ein Ende.«: notierte KurtWafner am 9. Mai 1945 in sein Tagebuch. Gerda Lohausen fühltebeim Anblick der Russen die Ohnmacht des deutschen Volkes. Inihren Erinnerungen schreibt sie: »Im Keller haben wir uns damitabgefunden, daß wir das Schrecklichste, den Russen, über uns erge-hen lassen müssen.« Für Liselotte Millis überwog am 8. Mai dasGefühl der Befreiung von Angst und Krieg. Im Umfeld von Hilde-gard Goerlich wollten die Menschen lieber trocken Brot, als weiter-hin diesen Krieg. Horst Kern kam in Kriegsgefangenschaft und be-gann, über den Krieg nachzudenken. Hermann Wegener mußte seinAbitur abbrechen und auf dem Bauernhof seines Vaters, der die so-wjetischen Internierungslager nicht überlebte, mithelfen, die Fami-lie zu ernähren. Clemens Napieraj, Sohn des Friedhofinspektors,wurde als 9jähriger zum Leichenbestatter. Hildegard Müller konntesich nach der Befreiung ihren Berufswunsch, Lehrerin zu werden,erfüllen. Lisel Jacoby hat lange auf den Tag gewartet, endlich wie-der ein Mensch zu sein, ohne Registriernummer, ohne Kennkartemit dem aufgedruckten »J«, ohne Angst der Verfolgung und Ent-

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würdigung. Ingrid Mattern hatte große Angst vor dem Einmarschder Russen. Der Keksfabrikantin Martha Heinzmann wurde dasLetzte abverlangt, um ihren Betrieb aufrechtzuerhalten. Doch am 7.Mai fehlte ihr die Kraft zum Weiterleben.

Es sind die ganz persönlichen Schicksale von Menschen aus Ho-henschönhausen, erlebt in den letzten Wochen des Krieges und inden ersten Monaten nach dem Einmarsch der Roten Armee, die imnachfolgenden Buch aufgezeichnet werden. Dabei bleibt es oft nichtaus, daß ihre Reflexionen bis in die 50er Jahre reichen.

Der Krieg und sein Ende hat ihre Lebensläufe, so wie die der mei-sten Deutschen, einschneidend verändert. Sie waren noch jung, alsder von Deutschland entfachte Krieg mit seiner ganzen Wucht indas Ursprungsland zurückkehrte. Fliegeralarm und Bombennächtebestimmten den Rhythmus des Alltags. Deutsche Städte fielen inSchutt und Asche. Deutschland selbst wurde zum Schlachtfeld.Flüchtlingstrecks zogen von Pommern, Schlesien und Ostpreußennach Westen. Artillerie und Panzer kündigten das Nahen der Siegeran. Was werden die Russen tun? Werden sie Vergeltung üben? Ban-ge Fragen über das, was nach dem Ende kommt, bewegten jeden.

Die hier vorliegenden Erinnerungen an das Jahr 1945, Tagebuch-aufzeichnungen und Briefe sowie die Gespräche, die 50 Jahre spä-ter geführt wurden, sind einige Mosaiksteine, die das Bild über dieEreignisse der letzten Kriegsmonate in Hohenschönhausen, das da-mals zum Bezirk Weißensee gehörte, ergänzen. Das facettenreichePorträt ist unvollkommen, denn noch längst nicht sind alle Quellenüber diese Zeit gänzlich ausgeschöpft, bleiben viele Zeitzeugen un-gefragt oder möchten ihre schmerzlichen Erinnerungen nicht der Öf-fentlichkeit preisgeben. So erhebt die vorliegende Zusammenstel-lung nicht den Anspruch, repräsentativ für alle Hohenschönhause-ner zu sein und eine umfassende historische Darstellung zu erset-zen.

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Die Autoren lassen auf den folgenden Seiten alle Zeitzeugen zu Wortkommen, die sich in Vorbereitung auf die Ausstellung »Als die Be-freier kamen - Hohenschönhausen vor 50 Jahren« gemeldet haben.

Zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte Hohenschönhausenshaben Zeugen der Vergangenheit frei von ideologischen Leitbildernund sehr offen über die Ereignisse vor 50 Jahren berichtet, so, wiedas Geschehen von ihnen in unterschiedlichster Weise erfahren undwahrgenommen wurde. Dabei sollte die Leserinnen und Leser be-rücksichtigen, daß subjektiv geprägte Erinnerungen wiedergegebenwerden, die auch widersprüchliche Aussagen enthalten. Manchesbleibt unausgesprochen oder ungenau, weil sich die Erinnerung inder Vergangenheit zu verlieren scheint.

Die uns freundlicherweise überlassenen Tagebuchaufzeichnungenund Briefe sind wörtlich übernommen, die nachträglich geführtenTonbandprotokolle wurden mit Genehmigung der Gesprächspart-ner behutsam stilistisch redigiert.

Das im vorliegenden Buch verarbeitete Material war Bestandteil deranläßlich der 50. Wiederkehr des Endes des Zweiten Weltkrieges imHeimatmuseum von Hohenschönhausen gezeigten Ausstellung »Alsdie Befreier kamen - Hohenschönhausen vor 50 Jahren«. Sie gabvielen Besuchern Anregung, über das Jahr 1945 nachzudenken. Umdiesen sehr persönlichen Zeugnissen auch über die Dauer der Aus-stellung hinaus einen achtbaren Platz einzuräumen, ist die Idee zudiesem Buch entstanden. Ein Großteil des Fotomaterials und zahl-reiche Dokumente, die sich in erster Linie auf den Standort Hohen-schönhausen beziehen, wurden aus der Ausstellung übernommen.

In ganz Europa war der Zweite Weltkrieg mit dem 8. Mai beendet.Vielen Menschen brachte dieser Tag Frieden, die Befreiung von Na-tionalsozialismus und Barbarei. Das Nachdenken über das Ende desKrieges erfordert, seine Ursachen zu erkennen, den 30. Januar 1933und die folgenden zwölf Jahre des »Tausendjährigen Reiches«, das

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Denken, Handeln und Fühlen der Menschen in dieser Zeit zu reflek-tieren.

Fast sechs Jahre hatte der Krieg gedauert. Nahezu 80 Prozent derErdbevölkerung und 22 Millionen Quadratmeter unseres Planetenwurden vom ihm erfaßt. 1945 waren es über 60 Staaten, die gegenDeutschland Krieg führten. Er forderte mindestens 62 Millionen Toteunter der Zivilbevölkerung und den Soldaten. Allein 27 MillionenMenschenleben hatte die UdSSR zu beklagen, Deutschland über fünfMillionen. Nie zuvor war in einem Krieg das deutsche Hinterland ineinem solchen Maße als Kampfgebiet einbezogen. Bombenangriffeauf die Zivilbevölkerung waren ein fester Bestandteil der Kriegs-führung.

Die Ursachen des Krieges sind sehr komplex, wobei viele Histori-ker sie in der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg sehen.Die Forderungen der Sieger an das besiegte Deutschland, festge-schrieben im Vertrag von Versailles, schürten bei vielen DeutschenExistenzangst. Hinzu kam für große Teile der Gesellschaft dasSchreckgespenst der bolschewistischen Revolution, die auf das ei-gene Land überzugreifen drohte. Und schließlich hatte die 1929 ein-setzende Weltwirtschaftskrise Deutschland besonders hart getrof-fen. Soziale und politische Spannungen, die es schon in der Weima-rer Republik gab, verschärften sich. Aufgrund der Massenarbeitslo-sigkeit und wirtschaftlichen Depression sowie des Versagens deragierenden Parteien rückten viele Menschen von der Republik abund wandten sich links- und rechtsradikalen Positionen zu. DieRechtsopposition sammelte sich in der National-Sozialistischen Par-tei Deutschlands, in der NSDAP. Ihr Programm setzte sich aus älte-ren ideologischen Bestandteilen zusammen, wie Rassismus, Anti-kommunismus, Antisemitismus, Antikapitalismus und übersteiger-tem Nationalismus sowie einer »Volksgemeinschafts«-Ideologie, diebesondere Anziehungskraft unter den Wählern fand.

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Der Krieg war im politischen Konzept der Nationalsozialisten vonvornherein enthalten. Schon 1925 legte Hitler in seinem Buch »MeinKampf« politische Ziele fest, die in mancher Hinsicht an extremeKriegsziele des Ersten Weltkrieges anknüpften. Das außenpolitischeProgramm sah als zentrales Ziel die Vernichtung des jüdischen »Tod-feindes« und die Eroberung von »Lebensraum im Osten« vor. Ineiner ersten Etappe nach der Machtergreifung sollte in Deutschlandder »Krebsschaden der Demokratie« beseitigt werden und Juden,Bolschewisten und Marxisten aus der nationalen Gemeinschaft aus-gestoßen werden. Nach der Konsolidierung des nationalsozialisti-schen Reiches im Innern war vorgesehen, die deutsche Position inZentraleuropa zu festigen und zu erweitern. Anschließend sollteDeutschland als »Großgermanisches Reich deutscher Nation« zurWeltmachtstellung geführt werden.

Die Mehrheit des konservativen und national eingestellten Bürger-tums sowie Teile der Arbeiter billigten, verführt von sozialpoliti-schen Versprechungen der Nationalsozialisten, die MachtergreifungHitlers, weil sie sich von ihr ein Ende der wirtschaftlichen Not ver-sprachen. Zwar sank die Zahl der Arbeitslosen, zwar schien Ord-nung und Ruhe in der Gesellschaft Einzug zu halten, doch die Ab-wendung von der Republik führte nicht zu der erhofften »konserva-tiven Erneuerung«, sondern vielmehr im Ergebnis zum totalitärenFührerstaat, der nationalsozialistischen Diktatur. Mit dem Reichs-tagsbrand vom 28. Februar 1933 lieferten die Nazis den Vorwand,durch eine Notverordnung die wichtigsten Grundrechte der Weima-rer Verfassung außer Kraft zu setzen. Es war der Beginn der Verfol-gung, Verhaftung und der physischen Vernichtung politischer Geg-ner, die vor allem im linken Lager standen.

Durch die Zerschlagung aller anderen Parteien und der Gewerkschaf-ten konnte die NSDAP im Sommer 1933 das Monopol der politi-schen Macht in Deutschland erobern. Das neue Regime gewann jeneTeile der Wirtschaft, die Hitler bislang nicht unterstützt hatten, mit

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seinen Aufrüstungsplänen sowie durch die Ausschaltung der Ge-werkschaften und die Beseitigung der Tarifautonomie. Durch kre-ditfinanzierte Staatshaushalte wurde die Wirtschaftstätigkeit belebtund die Arbeitslosigkeit allmählich abgebaut. 1936 waren die Vor-aussetzungen zur Kriegsführung gegeben.

Mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, dem Aufbau derWehrmacht, einschließlich einer Luftwaffe sowie dem Einmarschin das entmilitarisierte Rheinland, dem »Anschluß« Österreichs undder Annexion der Sudetengebiete wurde der Versailler Vertrag von1918 gewaltsam revidiert. Im März 1939 folgte die von den West-mächten gebilligte Zerschlagung der Tschechoslowakei.

Mit dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 be-gann der Zweite Weltkrieg. Eine rigorose Umsiedlungspolitik ver-trieb die polnische Bevölkerung aus den westlichen polnischen Ge-bieten, die als »Warthegau« und »Reichsgau Danzig-Westpreußen«an das Reich angeschlossen wurden. Sogenannte «Volksdeutsche«wurden angesiedelt. Einsatzgruppen der SS, Gestapo, des Sicher-heitsdienstes (SD) und der Polizei unternahmen im »Generalgou-vernement« Polen Terror- und Vernichtungsaktionen - vor allem ge-gen die jüdische Bevölkerung. »Blitzkriege« gegen Dänemark undNorwegen im April 1940 leiteten den deutschen Angriff im Westenein. Die neutralen Staaten Belgien, Luxemburg und die Niederlandewurden überfallen und am 14. Juni 1940 kam es zur kampflosenBesetzung von Paris. Unter Bruch des Deutsch-Sowjetischen Nicht-angriffspaktes begann am 22. Juni 1941 der deutsche Überfall aufdie Sowjetunion in dessen Folge vor allem die Bevölkerung einemgrausamen Terror ausgesetzt war.

Die nationalsozialistische Herrschaft in Deutschland und den be-setzten Ländern war von einem bis dahin nicht gekannten Schrek-kensregime begleitet. In zahllosen Konzentrationslagern wurdenMillionen Menschen industriemäßig liquidiert, sie wurden erschla-gen, ertränkt, vergast und verbrannt. Allein der Holocaust am jüdi-

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schen Volk forderte sechs Millionen Opfer. Überall in Deutschland,auch in Hohenschönhausen, wurden Menschen aus den besetztenLändern zur Arbeit gepreßt, mußten unter unzumutbaren Bedingun-gen Zwangsarbeit für Deutschland leisten.

Die Niederlage der deutschen Wehrmacht bei Stalingrad Anfang 1943veränderte das Kräfteverhältnis im Krieg und leitete die Wende ein,die durch militärische Operationen der Westmächte begünstigt wur-de. Die Rote Armee begann ihren Vormarsch nach Westen, befreitedas Territorium der UdSSR und war nun bemüht, den Aggressor inseinem eigenen Land zu vernichten.

Der amerikanisch-britische Bombenkrieg gegen Deutschland, derim Mai 1942 seinen Anfang nahm, erreichte im November 1943Berlin. Es begann die systematische Bombardierung der Reichshaupt-stadt. Der wohl schwerste Bombenangriff am 3. Februar 1945 for-derte 2.600 Tote und 100.000 Obdachlose. Verglichen mit anderenBezirken hatte man in Hohenschönhausen und den Ortsteilen Mal-chow, Wartenberg und Falkenberg relativ wenig Verluste durch denLuftkrieg zu beklagen. Dennoch gab es auch hier eine Reihe vonZerstörungen. Am 16. Januar 1943 traf die erste Bombe in Hohen-schönhausen die Siedlung Gartenstadt.

Anfang 1944 hatten die Alliierten die Luftherrschaft über Deutsch-land errungen. Nach der alliierten Invasion in der Normandie imJuni 1944 wurden die deutschen Truppen von Osten, Süden undWesten auf die Reichsgrenzen zurückgedrängt. Als sich die Regie-rungschefs der drei Hauptalliierten USA, Großbritannien und So-wjetunion zur Konferenz auf der Krim im Februar 1945 trafen, stan-den die alliierten Armeen bereits innerhalb der Grenzen Deutsch-lands. Der Krieg war endgültig auf den Boden Deutschlands zu-rückgekehrt. Doch bis zur Unterzeichnung der Kapitulation wurdenoch viel Blut vergossen werden. Hunderttausende Armeeangehö-rige und Zivilisten verloren ihr Leben, weil die politische und mili-tärische Führung des Nazireiches nicht bereit war, den aussichtslo-

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sen Kampf zu beenden. Man verstärkte dagegen die antibolschewi-stische Propaganda und verschärfte den Terror gegen jene deutschenSoldaten und Zivilisten, die nicht mehr an den »Endsieg« glaubten.

Allein die »Schlacht um Berlin«, die vom 16. April bis 2. Mai dau-erte, war eine der größten und verlustreichsten des Zweiten Welt-kriegs. Ein Drittel der sowjetischen Streitkräfte war dabei im Ein-satz. Nach ihren eigenen Angaben verlor sie rund 200.000 Mann,davon 100.000 im Kampf um die Seelower Höhen. Auf deutscherSeite waren für die Verteidigung Berlins nur etwa 100.000 mangel-haft ausgebildete Soldaten, ergänzt durch Volkssturm- und Arbeits-diensteinheiten, Polizei- und Feuerwehrkräfte, eingesetzt.

Am 16. April 1945 begann die letzte große Offensive der RotenArmee an der Oder. Geführt wurde sie von der 1. Belorussischenund der 1. Ukrainischen Front. Vier Tage später schlossen sich dieTruppen der 2. Belorussischen Front dem Angriff an. In dreitätigenKämpfen durchbrachen die Truppen unter Marshall G. K. Shukowdie deutschen Verteidigungsstellungen auf den Seelower Höhen undzerschlugen die zu Gegenangriffen übergegangenen Reserven derHeeresgruppe Weichsel. Schon Tage zuvor, am 12. April, wurde inWartenberg und Hohenschönhausen sowie in den anderen Dörfernder Umgebung ständiger Fliegeralarm ausgelöst, ein unerbittlichesZeichen für die heranrückende Front.

In Hohenschönhausen führte der Schuhmachermeister Franz Gröp-ler als »Luftschutzwart« von 1941 bis 1945 das Luftschutzwach-buch der Evangelischen Kirche Hohenschönhausens, dessen Ein-tragungen am 17. April 1945 enden. Allein von Januar bis März1945 sind darin 93 Alarme verzeichnet. Die höchstgelegene Sirenevom Bezirk Weißensee zur Bekanntgabe des Luftschutzsignals be-fand sich in Hohenschönhausen auf dem Wasserturm am Obersee.Die letzte Schadensmeldung der Luftschutzstelle Weißensee ist aufden 18. April 1945 datiert. Die Meldungen der Luftschutzstelle vonDezember 1943 bis April 1945 über Personen- und Sachschäden

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sind meist nüchterne Statistiken. Hinter ihnen verbarg sich das Leidund Elend vieler Menschen und ganzer Familien, deren Leben durchdie Bomben ausgelöscht wurde. Beim Angriff vom 20. Januar 1944wurde neben anderen auch das Wohnhaus Quitzowstraße 46 (heuteSimon-Bolivar-Straße) in Hohenschönhausen getroffen. Die Scha-densmeldung gibt dazu an: 22 Vermißte, 3 Häuser total, 4 schwer, 6mittelschwer, 80 leicht beschädigt. Bei den Aufräumungsarbeitenkonnten anhand der geborgenen Knochenreste und Bekleidungsge-genstände die letzten Todesopfer identifiziert werden. Zu den Totendieses Hauses gehörten zumeist Mütter mit kleinen Kindern und äl-tere Ehepaare. Beim Angriff vom 18. März 1945 wurden mehrereHohenschönhausener Betriebe, die in der Berliner und den umlie-genden Straßen gelegen waren, schwer beschädigt. Darunter die Ma-schinenfabriken Heike, Groß & Graf und Max Uhlendorf. Teile desASID-Seruminstituts, die Seifenfabrik Dr. med. Singer & Co unddas Tobis-Filmlager wurden zerstört.

Überall im Nordosten Berlins mußten Zwangsarbeiter und Dorfbe-wohner bis zur letzten Stunde bei andauernden Bodenkämpfen, imDonnergrollen der nahenden Front und bei Fliegerangriffen, Pan-zersperren und Hindernisse errichten. Militärische Stellungen, Bun-ker und befestigte Feuerpunkte wurden zum Teil mit schweren Waf-fen bestückt.

Der Verwaltungsbezirk Weißensee mit Hohenschönhausen gehörtezum äußeren Verteidigungsring, der sich bis Alt-Landsberg hinzog.Die Stadtranddörfer wie Wartenberg, Falkenberg, Malchow und Ho-henschönhausen waren damit in das Schlachtfeld einbezogen. Am17. April wurde die Flakbatterie in Klarahöhe, nördlich der Sied-lung Wartenberg, unmittelbar an der Stadtgrenze zu Lindenberg, fürden »Endkampf« umformiert.

Noch kurz vor Ende der Kampfhandlungen, am Morgen des 21. April,wurden die alten Dorfkirchen in Wartenberg, Malchow und Falken-berg gesprengt, vermutlich aufgrund des Nero-Befehls Hitlers vom

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19. März 1945, nach dem alle zivilen und industriellen Anlagen zer-stört werden sollten, die sich der Gegner nutzbar machen könnte.Auf diese Weise sollte der sowjetischen Artillerie die Zielorientie-rung genommen werden. In den umliegenden Bunkern wurde ge-flüstert: »Wenn im Dorf die Kirche in die Luft geht, sind die Russenda«. Wenige Stunden später kamen sie von Ahrensfelde und stießenin Richtung Falkenberg und Wartenberg vor. Landsberg wurde ge-nommen, Hönow und Malchow erreicht. Die angreifenden Truppender Roten Armee konnten sich hier nur auf der Dorfstraße bewegenund waren den gegnerischen Panzerfäusten frei ausgesetzt. Hinzukam Flakbeschuß aus Wartenberg. Ein russischer Kommandant derSFL (Selbstfahrlafetten) meldete über Funk: »In Malchow geht’sheiß her. Ich bin kaum 300 Meter von der Barrikade weg ...Wir schie-ßen mit allem, was wir haben. Wenn die Panzerfaustschützen an unsherankommen, dann gute Nacht. Jetzt ist es passiert.« (Mironow,Die stählerne Garde, Berlin 1986, S. 156) Nach längeren erbitter-ten Feuergefechten wurden die Hindernisse niedergewalzt.

Noch am Vormittag des 21. April hißten sowjetische Aufklärer der219. Panzerbrigade des 1. Mechanisierten Korps der 5. Stoßarmeeauf einem Bunker am Dorfrand von Wartenberg eine rote Fahne.Panzer rollten auf der Lindenberger Straße in Wartenberg weiter nachHohenschönhausen und am Abend des 21. April erreichten die rus-sischen Soldaten den Ort. Aus einigen Häusern Hohenschönhau-sens hingen weiße Fahnen. In der Berliner Straße (heute Konrad-Wolf-Straße) brachten die sowjetischen Truppen »Katjuschas«, auch»Stalinorgeln« genannt, in Stellung, um Ziele im Berliner Zentrumzu beschießen.

Es gab wohl kaum einen Berliner, der sich nicht bewußt war, daßjetzt die letzten Tage des Krieges gekommen waren. Die Gewißheitüber Niederlage und Zusammenbruch Hitlerdeutschlands nahm auchunter der Hohenschönhausener Bevölkerung mehr und mehr zu. Undmit dieser Gewißheit wuchs die Angst vor den Siegern, in erster

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Linie vor den »Russen«. Werden sie sich rächen für das, was ihnenDeutsche in ihrem Land angetan haben? Werden sie Vergeltung üben?Diese wohl nicht unberechtigten Fragen waren eng verknüpft miteiner jahrelangen Propaganda über den »bolschewistischen Unter-menschen«. Mancher wollte nicht wahrhaben, daß der Krieg verlo-ren war, andere verhielten sich passiv; doch nicht wenige begannennachzudenken, darüber, was sie nach dem Krieg erwarten könnte.Und dann dieser Tag: Zum letzten Mal gingen Frauen, Kinder undalte Menschen in Hohenschönhausen am 20. April in die Bunkerund Luftschutzkeller, die sie für viele Stunden, oftmals sogar Tage,nicht mehr verlassen sollten.

Für die Bewohner von Weißensee und den Ortschaften Hohenschön-hausen, Wartenberg, Malchow und Falkenberg endete der Krieg am22. April 1945 und damit früher als in anderen Bezirken der Reichs-hauptstadt. Bis zuletzt wurde versucht, alle männlichen EinwohnerHohenschönhausens für die »Verteidigung« Berlins zu mobilisie-ren. Tausende starben noch in letzter Minute einen sinnlosen Tod. Ineinigen Fällen gelang es beherzten Bürgern, die Soldaten und Volks-sturmleute zur Abgabe ihrer Waffen und Uniformen zu bewegen.

Ein Teil der Dorfbewohner Hohenschönhausens erwartete das Endeim Luftschutzkeller des evangelischen Pfarrhauses in der Dorfstra-ße 39, wo der Dorfschmied Bruno Wegener und der Schuhmacher-meister Franz Gröpler nach einigem Zögern doch noch die weißeFahne hißten.

Auch Robert Sachs befand sich dort. Welch Aufatmen für ihn andiesem Tag. Seit Dezember 1943 wurde er zusammen mit anderenjüdischen Leidensgefährten im Siedlungshaus Nr. 9 der Straße 156von dem Ehepaar, den Sozialdemokraten Hedwig und Otto Schröd-ter, versteckt.

Und dann trug sich auch dies zu: Der Ortsbauernführer WilhelmHuckwitz aus Hohenschönhausen, der polnische Zwangsarbeiter

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jahrelang schikaniert hatte, überlebte den Einmarsch der Roten Ar-mee am 22. April nicht. Er wurde von sowjetischen Soldaten imLuftschutzkeller in der Dorfstraße 39 erschossen.

Und dann auch das: Aus Furcht vor »den Russen», geboren aus blin-dem Fanatismus, und Angst vor dem, was nun kommen wird, setz-ten Bewohner Hohenschönhausens ihrem Leben selbst ein Ende,wie beispielsweise die Freundin von Frau Mattern.

So viele Schicksale. So viel Unbegreifliches, Unfaßbares. Wievielvon dieser Zeit lebt in der heutigen Erinnerung? Die Zeugen jenerZeit sind nicht mehr zahlreich anzutreffen. Fünf Jahrzehnte liegenzwischen dem Heute und dem damaligen Kriegsende, das sowohlBefreiung wie auch Niederlage war. Ihr Blick zurück ist oft nur einDetail, ist das, was jeden unmittelbar betraf. Gesellschaftliche Ver-änderungen jener Zeit bleiben in den Erinnerungen der hier vorge-stellten Zeitzeugen weitgehend unerwähnt.

Während im Zentrum Berlins noch heftig gekämpft wurde, begannnach dem 22. April 1945 in den Ortsteilen von Weißensee, in Ho-henschönhausen, Wartenberg, Malchow und Falkenberg, schon derNachkriegsalltag. Die sowjetische Besatzungsmacht brachte Hoff-nung, doch zugleich auch Furcht. Erste Begegnungen, erste Erfah-rungen mit den neuen Machthabern, den Siegern, waren sehr unter-schiedlicher Couleur. Da war der freundliche Soldat, der Suppe undBrot, für die Kinder gar Schokolade, verteilte. Doch lösten nichtselten Plünderungen, Diebstähle, Vergewaltigungen, Überfälle der»Befreier« sowie das in der Genslerstraße 66 existierende Internie-rungslager Angst und Schrecken unter den Bewohnern aus.

Zu den ersten Schritten der sowjetischen Kommandanten gehörtedie Bildung arbeitsfähiger Verwaltungen und die Versorgung der Be-völkerung. Antifaschisten, Mitglieder der KPD und SPD standenihnen zur Seite und halfen mit, das Leben in Hohenschönhausen zunormalisieren. Wichtigste Aufgabe war die Sicherung der Lebens-

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mittelversorgung, denn der Hunger war allenthalben groß. Straßenmußten von Trümmern beseitigt, die Toten bestattet werden, Pan-zer- und Laufgräben eingeebnet, Bombentrichter zugeschüttet wer-den. Für diese Aufräumungsarbeiten wurden in erster Linie ehema-lige NSDAP-Mitglieder angefordert.

Zu den Problemen der ersten Nachkriegsmonate gehörte auch in Ho-henschönhausen die Wohnungsnot. Zwar waren die Kriegsschädenhier nicht annähernd so groß wie im Zentrum waren, dennoch hat-ten auch in diesem Teil Berlins zahlreiche Familien ihre Wohnun-gen während der Bombardierungen verloren. Hinzu kam der Stromder Flüchtlinge, die notdürftig versorgt werden mußten. Die Be-schlagnahmung von Wohnungen durch die Rote Armee löste somitheftige Diskussionen und Unmut aus. Das Gebiet um den Oberseemußte von seinen Bewohnern binnen kürzester Frist verlassen wer-den und wurde zum militärischen Sperrbezirk erklärt. Dort lebtenbis Anfang der fünfziger Jahre sowjetische Offiziere mit ihren Fa-milien

Die Menschen, die nunmehr zu Wort kommen, sind Zeugen einerZeit, die unser Jahrhundert wie kaum eine andere geprägt hat. DieErinnerung daran nicht verblassen zu lassen, ist Anliegen diesesBuches. Und daß Geschichte etwas sehr Konkretes ist, belegt dasErlebte dieser Zeitzeugen. Bewohner von Hohenschönhausen, diesomit zu einem Teil der umfassenden Geschichte Deutschlands wur-den, denn was ihnen widerfuhr, erlebten ungezählte andere Deut-sche auch.

Die Autoren danken all jenen, die mit ihren Aussagen und persönli-chen Dokumenten geholfen haben, diese Geschichte für die heuteLebenden wieder erfahrbar zu machen. Daß die Robert-Bosch-Stif-tung das Zustandekommen des Buches finanziell ermöglicht hat,soll besondere Erwähnung finden. Hilfreiche Unterstützung erhiel-ten wir darüber hinaus vom Kunstverein am Obersee e.V., vom Lan-desarchiv Berlin, der Landesbildstelle Berlin, der Stiftung Archiv

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der Parteien und Massenorganisation der DDR im Bundesarchiv,der Staatsbibliothek Preußischer Besitz, der Stiftung PreußischerKulturbesitz, dem Schulmuseum Berlin, dem Ullstein Bilderdienstund der Friedhofsverwaltung der St. Pius- und St. Hedwigsgemein-de. Unser Dank gilt Frau Ute Schiller für die Bildredaktion, FrauDr. Ines Meinicke für das Zusammenstellen der Chronik und FrauBärbel Ruben für ihre kritischen Hinweise.

Thomas Friedrich, Monika Hansch

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Kurt Wafner: Tagebuch 1945

Kurt Wafner, geb. 29.11.1918 inBerlin; Besuch der WeltlichenSchule Weißensee und der Neuköll-ner Karl-Marx-Schule; gehörte derAnarchistischen Vereinigung Wei-ßensee, dem Kreis um Erich Müh-sam an; Mitglied der anarchosyn-dikalistischen Freien Arbeiter-Ju-gend, die sich auch nach 1933 anti-faschistisch betätigte; während desKrieges u.a. Soldat einer Land-schützen-Einheit im besetztenWeißrußland (Minsk); 1943 entlas-sen und bis zum Kriegsende Phy-siklaborant im Elektrobetrieb Sie-mens Plania (Lichtenberg); seit Juli1934 wohnhaft in der Große-Lee-ge-Str. 63 a (zusammen mit seinerMutter und seiner späteren FrauBarbara); 2.6.1945 heiratet W. Bar-bara Marcuse; 1954 wurde die Ehegeschieden; 1945 KPD, Austritt aus

der SED am 17.1.1950; Juni 1945 bis Juni 1947 Meldestellenleiter im Hohen-schönhausener Polizeirevier; anschließend dreijähriges Studium an der BerlinerBüchereischule und bis Dezember 1949 Leiter der Stadtbibliothek Weißensee;nach 1950 Lektor; u.a. Chefredakteur der »Roman-Zeitung«; 1965 bis 1983Kulturredakteur der »FF dabei«; 1989/90 Vertreter der Vereinigten Linken amRunden Tisch von Hohenschönhausen und verantwortlicher Redakteur der »Oran-kepost«; heute lebt Kurt Wafner als Rentner in Hohenschönhausen.

Kurt Wafner führte vom 1. Januar 1945 bis zum Kriegsende Tagebuch , welchesim folgenden erstmalig veröffentlicht wird.

Kurt Wafner, 1995

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1. Januar 1945

Nun ist das neue Jahr erschienen. Ein Jahr des Friedens? Wer kanndas sagen? Ach, wenn man es doch fühlen könnte: Aber zu oft sinddie Hoffnungen schon zunichte gemacht worden, als daß sie nocheine starke Macht hätten, wie am Anfang des Krieges. Es ist manch-mal schwer, an die gute Sache noch zu glauben, die einmal kom-men soll und nicht zu verzweifeln an der menschlichen Dummheit,die man täglich vor Augen hat. Doch, wozu leben wir denn sonst?Denn was jetzt geschieht, ist ja kein Leben. Immer und überall spürtman die grausame Knute des Krieges.

Ach, wie herrlich ist es, daß ich so glücklich lieben darf. Hier binich frei und wahrhaft froh. Noch haben wir unsere Liebe für uns undder Krieg hat noch nicht hineingegriffen. Nein, unsere Herzen darfer nicht gewinnen! Die gehören uns nur allein.

Manchmal habe ich ein bitteres Ge-fühl dabei, wenn ich an unsere Zu-kunft denke. Wird alles so bleiben,so schön und rein, oder wird auchuns die grausame Kriegsmaschinenoch in ihre Krallen nehmen? Wirwollen doch beide unser Glück nichtverlieren - es soll doch erst richtigbeginnen.

3. Januar 1945

Gestern war es sehr schön! Bärbelblieb zu Hause und erwartete mich,als ich vom Luftschutzdienst nachHause kam. Und ich war ja so frohdarüber, daß ich nicht alleine war,nach diesem langen monotonen Tagim Betrieb. Nun hatten wir noch ei-

Kurt Wafners Frau Bärbel Macuse.

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nige köstliche Stunden vor uns - waren allein ... und glücklich ...auch etwas ausgehungert.

Bärbel erfüllt mich, füllt mein Geistes- und Triebleben vollständigaus. Mit Mühe nur mach ich mich los, um an mir zu bilden und denGeist auf irgendeine Sache zu konzentrieren, die mir wichtig er-scheint und die ich nicht missen möchte. Dabei ist das noch allesviel zu wenig und ich könnte meinen Egoismus verdammen, dermich so ganz und gar diesem süßen Genuß verschreibt, aber ichkann und will mich nicht befreien, von dieser einzigen Freude, diemir bleibt. Ist es vielleicht Selbsttäuschung? Und wenn schon, ichwerde mich schon nicht verlieren, auch in der Liebe nicht. Ich brau-che sie, um daran zu wachsen. Also liebe ich doch aus Egoismus.

Ständig habe ich Bärbels Bild vor Augen, wenn ich so viele Stun-den am Tage allein bin. Ich sehe sie in all ihren Bewegungen undFormen und fühle dann nur noch stärker, wie sehr wir zusammenge-hören. Wir ergänzen uns so gut. Bärbel hat viel Erfrischendes, Jun-ges. Wie schön, daß ich immer an sie denken muß und um sie ban-ge, in dieser schrecklichen Zeit.

Mir ist warm in ihrer Nähe.

9. Januar 1945

Bärbel hat schlecht geträumt. Sie zuckt im Schlaf zusammen undspricht manchmal unverständliche Worte. Ich weckte sie zart; dasarme Mädchen muß sich doch gequält haben. - Sie wollen Dichimmer wegholen, sagte sie, sie sollen Dich nicht fortnehmen, ichbrauche Dich doch! Dann schlief sie wieder ein.

Ja, Du brauchst mich, Bärbel - nein, wir brauchen uns!

Wir sollten uns beide nicht so viele Sorgen um unsere Zukunft ma-chen, aber wer kann denn das? Noch bleibt das Denken, wenn auchder Körper in den Rhythmus des Krieges gepreßt wird. Manchmalbeneide ich die, die nicht denken können, sondern stumpf und frei

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von geistigen Sorgen dahinleben. Man sieht, wie schädlich Intellektund Kultur werden können, wenn uns das aufgezwungene Lebendieselben versagt - besser die Ausnutzung derselben. Was drinnenist, das bleibt, das frißt und bohrt, sucht sich zu betätigen und darf esnicht.

Heute habe ich die Tolstoi-Biographie von Löwenthal ausgelesen.Tolstoi wollte ja diesen einfachen, naturnahen Menschen, er haßtealles Kultivierte, das in seinen Augen die Wurzel der sittlichen Ver-derbtheit war. Nein, diese Ansicht teile ich nicht. Er wollte das Volkzurückziehen zur Natur. Ich glaube an den großen Fortschritt, den T.ablehnt und an das Aufwärtsstreben des arbeitenden Volkes zurKultur. Ich sage, nicht die Kultur an sich ist schädlich und unsitt-lich, sondern ihre falsche Anwendung zum Nachteil der Mensch-heit. Wenn eine Reihe von Wissenschaftlern hervorragende techni-sche oder chemische Produkte entdecken, ist das ohne Zweifel eineKulturleistung. Wenn dieselben Produkte aber zum Kampf gegenMenschen, zur Ausbeutung von Menschen angewandt werden,schlägt die Kultur in das Gegenteil um: in Barbarei unter der Maskeder Kultur. Die Kultur von dieser Unsittlichkeit zu befreien, das istdie Aufgabe, der man sich stellen muß. Der Ruf aber, zurück zurNatur, ist Rückschritt und wenn er noch so edlen Grundlagen ent-spricht. Bei Rousseau hatte er gewiß noch seine Berechtigung alsGegenüberstellung zu einer verfeinerten, durch Nichtstun verseuch-ten Adelskaste, aber heute, wo Wissenschaft und Technik die Arbeitdes Menschen und überhaupt sein ganzes Leben erleichtern könn-ten, müßte man sagen: Vorwärts Mensch, bilde Dich, denn der Wegzur Bildung führt zur Kultur und damit zur Freiheit!

Ob man sich als einzelner Mensch, als Individualist unter den gege-benen, unkultivierten Verhältnissen auf das Land oder in den Ur-wald vergräbt und dort der Natur so nahe kommt, daß man keineStadt oder sonstige Kulturerscheinung mehr sehen möchte, ist fürdie Allgemeinheit nicht möglich. Freiheit des Individuums, aber auch

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hier wie überall Abhängigkeit von der Gesellschaft, von der ver-pönten Macht.

B.* war ja in der letzten Zeit für diese, individuelle Befreiung durchden Weg in die Natur. Möge er ihn in Argentinien gefunden haben.Vielleicht stehe ich auch noch mal an dieser Pforte; vielleicht lerneich auch einmal den Unwert der Kultur einsehen und versuche, freivon sozialer Bindung mein Ich in der Wildnis zu behaupten.

12. Januar 1945

Ach, daß ich so unbeherrscht sein kann, meine Nerven nicht im Zughalten kann! Und noch dazu wegen einer solchen läppischen Klei-nigkeit, die bestimmt nicht eines Streites wert ist. Aber das empfin-det man erst hinterher, wenn man sich wieder beruhigt hat.

Wir gingen zusammen nach Hause. Bärbel erzählte mir, daß sie vor-hin etwas verloren habe und es nicht wiedergefunden hätte. Michreizte das so, daß ich begann, ihr Vorwürfe zu machen, um meinemÄrger Luft zu verschaffen. Nun war ein trüber Schatten zwischenuns, der immer mehr wuchs, trotz unseres Vorsatzes, daß der Abendschön werden müsse. Beide waren wir erregt und sagten uns keineschönen Worte. Ich war so häßlich zu ihr, kränkte sie aus einemgrenzenlosen Gefühl der Erbitterung heraus, unbeherrscht und bru-tal. Es war wie ein harter Schlag, der auf sie herunterfiel. Bärbel warplötzlich ganz ruhig, machte kehrt und wollte fortgehen. Ich kamwieder zu mir, sah mit einem Mal klar die verhängnisvolle Häßlich-keit meiner Worte, die unüberlegt aus mir herausströmten, gereiztdurch ihre störrische Hartnäckigkeit. Nun war das bittere Gefühlvorbei, in mir wurde es ruhiger und klarer. Ich nahm Bärbel in mei-nen Arm und zog sie mit mir fort.

* Bernard (1901-1958), mein Onkel, Lebensgefährte meiner Mutter von 1927 bis 1934.

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14. Januar 1945

Heute hatten wir dreimal Fliegeralarm. Herrliche Sonntagsfreude!Beim ersten Mal waren wir gerade mit dem Baden fertig, gegenMittag, als die Sirene losging unduns in den Bunker jagte. Lange stan-den wir in dem engen, mit Men-schen vollgepreßten Gang. Später,am Abend, begann der Spaß neuer-dings. Erst die Jagd über den dunk-len, glatt gefrorenen Laubenweg imTrippelschritt, dann wieder das bar-barische Gedränge in erdrückenderLuft. Ganz in der Nähe zwei Ein-schläge. Dröhnen, Zittern undSchwanken des Bunkers, Auf-schreien einiger Frauen, dann wie-der Ruhe. Am Wasserwerk gingendie Brocken runter.

Die englischen Flieger flogen sehr verstreut über Berlin und warfendie Bomben nur auf vereinzelte Ziele.

Ein Blindgänger war in der Nähe gefallen, wir mußten uns vorse-hen.

Nachts um 23 Uhr, wir lagen gerade im Bett, konnten wir wiederunsere Sachen zusammenpacken und den glatten Weg entlangstol-pern.

Ich muß staunen, was die Menschen aushalten. Dabei ist Berlin nochnicht einmal so gefährdet im Augenblick, verglichen mit den westli-chen Gebieten. Doch was kann noch alles kommen, die Großangrif-fe vom vorigen Jahr liegen mir noch in den Knochen.

Kurt Wafners Mutter Li

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Li* tut mir leid, sie leidet sehr unter diesem blödsinnigen Leben.

17. Januar 1945

Die große Winteroffensive der Russen ist im besten Fluß. Wie derWehrmachtsbericht heute bekannt gibt, sind sie schon bis in denRaum von Krakau, Tschenstochow und Modlin vorgedrungen. Nunwird auch Oberschlesien unmittelbar bedroht. Man muß staunen,mit was für einem ungeheuren Material die Russen noch aufzuwar-ten haben.

In Ostpreußen geht es ebenfalls tüchtig los. Schönberg ist schon ein-genommen. Nun tobt die Schlacht in dem Gebiet, das mir nur allzuvertraut ist, in dem ich so manchen bitteren Schweißtropfen auf demExerzierplatz in Sodargen vergossen hatte. Und bei der Sklavenar-beit an der Rauschwe. Oh - der R.A.D.[Reichsarbeitsdienst - d.Hrsg.], der Schinder meiner Jugend, ich werde ihn nie vergessen,aber mit keinem einzigen freundlichen Gedanken an ihn denken.Was wohl aus dem Lager geworden sein mag? Sicher wohnen inunseren alten Barackenstuben nur russische Rotarmisten und stär-ken sich zum neuen Einsatz. Oder alles ist längst dem Erdbodengleich gemacht worden.

Ich lese jetzt ein wundervolles Buch, das gerade in dem augenblick-lichen Kriegsgeschehen sehr aktuell ist: »Der stille Don« von Mi-chail Scholochow. Dieser Roman schildert das Leben einiger Don-Kosaken während des Weltkrieges und der Revolution in sehr an-schaulicher Weise. Lebensecht und farbenprächtig ziehen die Ge-stalten an mir vorüber, mit all ihren Vorzügen, Lastern und Leiden-schaften. Und der blutige Krieg der Jahre 14-17 ist die schaurigeBühne. Dann die Revolution mit dem Auftakt zu menschenwürdi-gem Los, Erhoffen der Befreiung von der alten russischen Knute.

* Li (Luise), meine Mutter (1891-1974).

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18. Januar 1945

Wie eine Bombe platzte die Nachricht herein, daß nun auch War-schau gefallen sei und die Russen in ungeheuren Vorstößen bis inden Raum von £odz vorgestoßen seien. In so kurzer Zeit diese ge-waltigen Geländegewinne und noch immer kein Aufenthalt. Näherund näher rückt die Lawine dem Reiche zu, der Osten brennt underzittert in gigantischer Bewegung. Erzittern tut auch so manchervon den Menschen, denen diese Ereignisse wie gewaltige Schlägeauf den Nacken prasseln. Mit fahlen Gesichtern und nur mühsamverhaltener Erregung laufen sie herum und versuchen noch in allemetwas Positives zu sehen. Aber bei vielen ist die Flamme schonmerklich kleiner geworden und der Heldenmut der Heimatstrategenin unverkennbare Angst ausgelaufen. Wie eine Fata Morgana zucktdas Gerücht von den neuen Waffen durch die Luft, ein Strohhalmdes Ertrinkenden. Und wenn, was werden das für Waffen sein? Viel-leicht Gas? Ich mag schon nicht daran denken, was daraus entstehenwürde. Es wäre ein grausames, gewaltsames Morden, wie es schlim-mer nicht vorzustellen wäre.

Und die deutschen Soldaten, wie lange werden sie dieser Wuchtnoch standhalten? Wie wird sich das alles auf ihre Moral auswir-ken? An ein Ende von dieser Seite glaube ich nun auch nicht mehr,ebensowenig wie von der Heimat.

Viele sagen: Kriegsende, ja sofort, aber wenn die Bolschewistenkommen, was dann ... Nein, das darf niemals geschehen und trottenweiter im schleimigen Sumpf herum. Was wissen die schon von denBolschewiken? Viele würden sich den Amerikanern oder Briten gerneergeben, aber den Bolschewisten, nein. Was für Vorurteile die Men-schen mit sich herumschleppen. Vor allen Dingen: Sie tragen ihreNation wie eine Zentnerlast auf dem Buckel und sind darunter ganzklein und unscheinbar. Ihr angekränkeltes Herz läuft über vor Hei-matliebe und all der seichten Sentimentalität.

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23. Januar 1945

Bärbel ist krank, liegt mit einer Grippe zu Hause und klagt überSchmerzen in Brust und Rücken. Das Fieber ist nicht so sehr hoch,Gott sei Dank! Ach, wenn ich doch den ganzen Tag bei ihr bleibenkönnte, sie pflegen und lieb zu ihr sein. Dann würde sie viel schnel-ler gesund werden. Nun liegt sie so alleine und sehnt sich nach mirund es vergehen viele lange Stunden, ehe ich nach Hause komme.Hoffentlich haben ihre Kopfschmerzen nachgelassen.

Alles ist gespannt und erwartungsvoll auf die künftigen, nahen Er-eignisse an der Ostfront. Man sieht die Russen schon in Berlin ein-rücken und debattiert Verhaltensmaßregeln. Jeder operiert dabei nachseinen Gesichtspunkten. Kein Wunder, die Sowjets sind bis Posenvorgerückt, tief in Oberschlesien und Ostpreußen eingedrungen.Wenn nun kein Halt mehr geboten wird, können sie bald in Berlinsein. Deutschland wehrt sich mit seinen letzten Kräften. Die Indu-strie wird schon teilweise stillgelegt, weil Kohlenmangel herrscht.Ab heute darf in den Haushalten kein Gas mehr verbraucht werden,wir müssen nun die paar Kohlen auch noch zur Herdfeuerung neh-men. Das sind wahrhaft goldige Aussichten!

Viele Tausende von Menschen werden evakuiert aus den bedrohtenGebieten, Ostpreußen und Schlesien und dem Wartheland. Wo willman nur mit den vielen Menschen hin? Es ist ein Jammer unter wel-chen Umständen die Flucht aus dem Heim angetreten werden muß.Wie rasende Bestien stürzen sich die angstgepeitschten Menschenauf die wenigen Züge, um dann eine Fahrt ins Ungewisse anzutre-ten. An ein Mitnehmen von Koffern ist meistens nicht zu denken.

Ich mache mir Sorgen um die Graudenzer* . Wo werden die jetztstecken? Ob mein Brief noch ankommen wird?

* Die Verwandten meines 1923 verstorbenen Vaters stammten aus Polen und leb-ten in Graudenz (Westpreußen), heute Grudziadz.

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An Jenny* , meine bisher noch unbekannte Cousine, schrieb ich ge-stern. Sie will mich gern kennenlernen und ich sie natürlich auch.Was wird das für ein Mensch sein? Komisch, daß sich erst nach solangen Jahren derartige Gedanken bemerkbar machen. Bisher habeich nie etwas von ihr gehört, mich auch nie darum gekümmert. Ver-ständlich - jeder hatte zu viel mit sich zu tun. Die Zeit, die der Kriegs-rummel noch übrig läßt, bleibt gerade für die internsten persönli-chen Freuden. Aber ich bin nie abgeneigt, neue Bekanntschaftenanzuknüpfen, natürlich nur mit Menschen, die ich als wertvoll be-zeichne oder mit denen mich ein gemeinsam ertragenes Schicksalverbindet.

Momentan lebe ich ziemlich abgesondert (wie das bei der unruhi-gen Zeit auch kaum anders möglich wäre) mit meiner kleinen Frau.Wir sind noch beide so von uns ausgefüllt, daß wir uns nicht sehrnach Zerstreuung von außen sehnen. Nur zu T.’s gehen wir hin undwieder. Fabelhafte Menschen - klar, nüchtern und geistvoll.

Den »Stillen Don« las ich aus. Ich bin sonst eigentlich nicht fürsolche großangelegten Milieu-Schilderungen, wo das einzelne Indi-viduum in der Masse aufgeht. Der psychologische Roman, die Bio-graphie lockt mich mehr, aber hierbei vermisse ich das Fehlen derPersönlichkeit nicht. Hier ist ein ganzes Gebiet, ein ganzer Zeitab-schnitt Träger der Handlung und die Einzelschicksale sind kraftvollhineingeschleudert in diesen Rahmen. Die Rolle des Grigorij istüberraschend untendenziös. Mich hat dies befremdet. Aber auf deranderen Seite ist die Schilderung echt, denn die Schwerfälligkeit,mit der die Kosaken sich zum Sozialismus durchgerungen haben,kommt dabei zum Ausdruck. Wie stark wird das konservative Ele-ment erst in Deutschland sein? Soll denn wirklich nur noch die Knutehelfen? Ja, wenn die eigene Einsicht in solch einer naiven Kindlich-keit stecken geblieben ist, gibt es wohl keine andere Möglichkeit.

* Tochter des Bruders meines Vaters, lebt in Frankreich.

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Nur muß man auch den Zeitpunkt finden, wo damit Schluß zu ma-chen ist. Eine freie Entfaltung darf nicht verhindert werden.

Mir kommen manchmal Zweifel an so vielen Dingen. Ich versuchetheoretisch bis zur letzten Klarheit vorzudringen und schaffe es nicht,weil immer wieder ein Gegengewicht da ist, das ein scharfes Sehenverhindert. Die Praxis wird vieles erleuchten, was noch unklar istund ich werde den richtigen Weg finden. Und immer wieder werdeich mir bewußt, wie wenig Bildung ich habe. Lernen, lernen, noch-mals lernen, dies muß zum Prinzip werden.

1. Februar 1945

Heute früh um halb fünf Uhr machten wir uns auf den Weg nachSeelow, um von den Sachen noch, was irgend möglich, zurückzu-holen. Die übliche Fahrt verlief ohne besondere Ereignisse. Men-schen standen auf den Bahnhöfen, mit leeren Koffern, um die letz-ten Habseligkeiten aus den gefährdeten Gebieten zu retten - gleichuns. Was man im vorigen Jahr mit Mühe hinausgeschleppt hatte,geht nun den gleichen Weg zurück, in ein ebenfalls unbestimmtesSchicksal.

Das kleine unscheinbare Seelow wird von einem Hasten und Trei-ben beherrscht, wie auf einem kleinstädtischen Jahrmarkt. Hundertevon Flüchtlingen mit einfachen Bauernwagen und armseligen Pfer-den rasten nach entbehrungsvollem Zug über die Landstraßen desOstens. Die letzte Habe liegt verloren auf Wagen, die nur gewohntwaren, das Korn von den Feldern auf den Hof zu fahren. Wagen undGegenstände, alles was verwachsen war mit dem heimatlichen Hof,schwirrt losgerissen über vereiste oder vermatschte Straßen in un-gewisse Ferne. Ich muß bei diesem Heerlager des Elends an die rus-sischen und polnischen Flüchtlinge denken, wie sie 1942 in langenTrecks aus den Kampfgebieten herauszogen. Nun hat sich das Blattgewendet, Deutschland ist Kriegsschauplatz geworden. Was mankrampfhaft zu verhindern suchte, ist zur Wirklichkeit geworden, mag

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auch manchen der Hosenboden noch so sehr brennen, - sie werdenihrem Schicksal nicht entgehen!

Nicht weit weg ist schon die Front. Sie schreit uns mit lautem Knal-len und dumpfem Donnern in die Ohren. Über uns schwirren deut-sche Flugzeuge sehr tief. Dieses blutrünstige Geschrei des Kampfesvermischt sich mit dem aufgeregten Lärm in der Stadt. Hier brülltjemand eine Anweisung, dort heult ein Kind oder man hört erregtesZanken. Wir stapfen durch den Matsch, beeilen uns, denn Li sollmit dem Zug wieder zurückfahren. Ob und wann nachdem noch ei-ner fährt, ist ungewiß. Aber wir müssen es wagen, denn in einerknappen Stunde werden wir mit dem Packen nicht fertig.

Li hat sich ihren Mantel und einen Karton mit Kleidern gegriffenund ist wieder fort. Ich bin froh, denn wer weiß, was uns noch fürStrapazen bevorstehen. Wir räumten das Wichtigste in die Kofferund Rucksäcke und doch mußte viel zurückbleiben. Fast meine gan-zen Bücher mußte ich zurücklassen. An Mittag war nicht mehr zudenken, es gab nichts in den Gasthäusern: Alles beschlagnahmt fürFlüchtlinge und Militär.

Um 14 Uhr waren wir auf dem Bahnhof, kein Mensch wußte, wannein Zug kommen sollte. Volkssturmmänner sprachen von der nahenFront. Krank und hungrig schimpften sie auf ihre unwürdige Be-handlung, hatten nur den Wunsch, nach Hause zu gehen. FußkrankeSoldaten schleppten sich hin, wollten weiterfahren zum Lazarett.Alle diese Menschen haben den Krieg satt. Einige fressen die Wutin sich hinein, andere äußern sie laut. Aber an allen zerren die schreck-lichen 5 ½ Jahre und die letzten Ereignisse im Osten. Eine Frau, dieaus Landsberg flüchtete, dort alles verloren hatte, fluchte laut ohneHemmung auf die Bonzen, die die Leute aufforderten, bis zum Letz-ten auszuharren, dann aber die ersten waren, die in ihren Autos vorden anstürmenden Russen davoneilten.

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Überall Grollen, Murren. Ob die Bombe bald platzt? Die Gescheh-nisse reißen an den Nerven, werden sie auch den Kessel zum Über-laufen bringen?

Endlich um 17.30 Uhr kam der Zug in Richtung Fürstenwalde. Wirwaren rasend froh und spürten den Hunger nicht so sehr. Als wir inFangschleuse waren, gab es Alarm. Flakgeschütze bellten, Bombenließen den Wagen erzittern. Beherrscht ruhig saßen wir eng gepreßt;um uns stockdunkle Nacht. Die Bomben fielen nicht in der Nähe,aber der Schall trug weit.

Nach endlosem Warten in Erkner und Ostkreuz fuhren wir bis Bahn-hof Landsberger Allee. Noch ein Marsch gegen den anbrausendenSturm, dann winkte die warme Wohnung und das behagliche Bett ...

Es sollte noch nichts aus der Ruhe werden, wie wir hofften. Manwollte mich heute früh zum Volkssturm holen. Ein Glück, daß ichnicht zu Hause war. Nun mußte ich mich noch unsichtbar machen,bis sich meine Lage geklärt hat. Wie eine Flucht war der Gang durchdie Nacht. Vergessen waren Hunger und Müdigkeit. Ich preßte Bär-bels Arm, wurde von allen möglichen Gefühlen bewegt. Wo wäreich jetzt, wenn ich heute morgen noch zu Hause gewesen wäre undwie lange dauert der Aufschub?

Bärbel ist ein so lieber Kamerad, sie möchte nicht von meiner Seitegehen, will mich festhalten ... und doch kann ich sie nicht mitneh-men, wenn sie mich holen. Und sie? Sicher krampft sich ihr Herzzusammen, ängstlich wagt sie keinen schreckhaften Gedanken. Ichweiß, sie würde mich an ihre Brust drücken und vor jedem Unheilbewahren wollen.

2. Februar 1945

Meine Lage hat sich geklärt: Ich bin im Rüstungsbetrieb, gehörezum Zweiten Aufgebot, brauche noch nicht fort.

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3. Februar 1945

Die Hölle tobte in Berlin. 1900 Flugzeuge setzten die Innenstadt,Osten, Südosten in ein Meer von Flammen und Schutt. Bärbel standneben mir im Bunker und sah mir immerfort ins Gesicht. Ich hieltihre Hand. Das Mädel ist so tapfer. Sie lächelt immer ein wenig undschmiegt sich an mich. Der Bunker bebte und erzitterte von dennahen Einschlägen. Das Schwanken hielt noch lange an, bis eineneue Detonation ertönte.

Neben dem kleinen Bunker ein Trichter. Arme Li, sie wird gezitterthaben. Unsere Scheiben sind wieder raus. Bei G’s ist die Zwischen-wand eingestürzt, der Kleiderschrank umgefallen. Was gilt diesschon, wo Hunderte obdachlos sind?

Verheerend sollen die Schäden in der Innenstadt sein.

11. Februar 1945

H. ist zum Volkssturm eingezogen, muß Barrikaden bauen. Er kannwenigstens noch zu Hause schlafen. Sie müssen aber damit rech-nen, daß sie kaserniert werden.

Die Russen sind von ihrem Brückenkopf bei Steinau bis in den RaumLiegnitz, bis zum Bober vorgedrungen. Liegnitz ist gefallen. In Pom-mern stehen sie dicht bei Stettin. Ich glaube, sie versuchen Berlin zuumgehen und dann einzukesseln. Es wird auch davon gesprochen,daß Hohenschönhausen Verteidigungszone werden soll und geräumtwerden muß. Natürlich nur von Frauen und Kindern. Was für einenSinn soll das nur alles haben? Sieht denn das Volk immer nochnicht ein, daß der Krieg für die Deutschen verloren ist? Der Staatwill alle zu Helden machen. Jämmerliches Heldentum, für solch eineverratene Sache. Wenn sie schon anfangen, sich gegenseitig umzu-bringen, wie die Oberhäupter von Breslau, Bromberg, Posen, mitwelchem Terror behandeln sie erst das Volk, dem der Krieg schonzum Halse heraushängt. Und doch der preußische Kommiß-Geist

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ist nicht herauszukriegen. Wie kann ein Volk mit einer immerhinhohen Kultur auf der anderen Seite so barbarisch sein? Der Hangzum Gehorsam, zu einer entsetzlichen Spießerhaftigkeit bilden dendeutschen Geist schon seit Generationen. Wie eine Fessel liegt erauf den freiheitlichen Regungen, die erst eine solche blutrünstigeDiktatur mit Gewalt hervortreiben lassen.

15. Februar 1945

Morgen soll unser freier Tag sein, weil wir ja am Montag arbeitenmüssen. Man hat uns in erbärmlicher Weise einen Strich durch dieRechnung gemacht: Die männliche Belegschaft muß zum Schippennach Biesdorf, natürlich zwangsweise. Freiwillig würde wohl kaumeiner hingehen - zu diesem »Kriegsverlängerungsdienst«. Und auchdas noch, ich habe mich umsonst auf den freien Tag gefreut. Wiederein Nagel mehr, der ins Fleisch getrieben wird. Und noch immerschreit man nicht auf, man knirscht mit den Zähnen und wartet. Sowie mir geht es bestimmt vielen. Alle möchten sie hinausbrüllen,was in ihnen bohrt und tun es doch nicht. Es sind noch zu viele da,die über Geist und Gedanken keine Herrschaft haben, noch nie ge-habt haben. Jede freie Regung ist erstorben, ist in stupiden Sklaven-geist aufgegangen, verbrämt mit allerlei hohlen Phrasen. Je stärkerdie Peitsche knallt, desto krummer beugen sie den Rücken. Von denKulis ist natürlich nichts zu erwarten. Sie sind keinen Schuß Pulverwert, diese jämmerliche Brut, ... nur, daß ein so großer Teil des Vol-kes ihr angehört.

Die Stromsperren werden immer ekelhafter. Kaum bin ich zu Hau-se, geht das Licht aus. Man sitzt dann wie verloren bei der Kerzeund kann nichts beginnen. Wenn es endlich nach zwei Stunden wie-der Licht gibt, gibt es auch meistens Alarm und der schauderhafteWeg zum Bunker wird angetreten. Und dazu dauernd Hunger!

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16. Februar 1945

Bis um 13.30 Uhr dauerte das Schippen. Zickzack laufende Lauf-gräben wurden ausgehoben, die teilweise durch die Gärten der Siedlerverliefen und ihnen die Hoffnung auf eine kleine, karge Ernte raub-ten. Aber wo wird schon im Krieg Rücksicht genommen, noch dazu,wenn das Messer am Halse steht.

Fast alle hatten wir eingesehen, wie zwecklos eigentlich diese Ar-beit ist und gingen mit einem entsprechenden Gefühl heran. Es wur-de nicht viel mehr getan, als nötig war, um warme Glieder zu be-kommen. Und je näher der Feierabend rückte, desto weniger arbei-teten wir.

Merkwürdig, wo die Menschen noch diesen traurigen Mut zumOptimismus hernehmen, wie z.B. die beiden Volkssturmmänner, mitdenen ich sprach. Soldat waren sie alle beide nicht, hatten nie eineFront oder etwas ähnliches gesehen. Der eine stieß aber gewaltig insHorn, als er von Soldaten berichtete, die, da sie die Nutzlosigkeiteines Widerstandes einsahen, einfach die Beine in die Hand nahmenoder sich versteckt hielten bis der Russe kam, um sich dann zu erge-ben. Diese Leute sind schnell dabei mit »Aufhängen« oder »Erschie-ßen« dieser »Verräter«, nur weil die keinen Selbstmord begehen woll-ten. Und wenn es auch für sie Ernst wird, wie werden sie sich dannverhalten?

Der andere war gemäßigter, aber - wie so viele - arg durchdrungenvon Greuelgeschichten und sah auch im Widerstand die letzte Ret-tung, weil er meint, die Regierung habe noch ein Mittel bereit, aufwelches man hoffen dürfe.

Nein, den Glauben, daß vom Volk eine Entscheidung käme, habeich nicht mehr. Damals glaubte ich daran, als ich in Rußland warund die Urlauber erzählten, wie die Berliner zu murren begannen.Oh je, es kam uns damals schon unheimlich vor, wenn ein paar Leu-te den Mund auftaten, weil man doch früher auch das kaum erleben

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konnte. Und beim Murren bleibt es eben ... bis heute. Was fehlt sindFührung und Organisation. Es muß ein Aufschwung da sein - einFanal! Aus eigener Brust erwächst dem Proleten nichts. Ihm fehltdie Klarheit, noch ist er blind wie ein Säugling.

21. Februar 1945

An einen freien Freitag brauchen wir nicht zu denken, der gehörtdem Staat. Und wir werden schippen, um den Russen aufzuhaltenoder werden es Gräber für Volkssturm-Sklaven?

In der freien Zeit nehme ich jetzt die Geschichte der Philosophiedurch. Natürlich nur in Grundzügen, schnell, in der Art einer Repor-tage. Gewiß verleitet mich oft vieles zum Verweilen, aber es gehtnicht. Ich muß so viel Versäumtes nachholen. Dabei gehört das nurzu den Grundbegriffen einer Allgemeinbildung und ich merke, wievieles mir daran noch fehlt. Ob ein Menschenleben ausreicht, um alldas Vielseitige in der Welt nur einigermaßen zu erfassen und syste-matisch zu ordnen? Daß der Mensch nie auslerne, hat B. oft gesagt -ich habe mir diesen Satz angeeignet - aber einen »Streifzug« durchalle Gebiete zu machen, die mich nicht nur besonders interessieren,sondern auch bildend sind, hat etwas für sich. Vielleicht verleitet eszur Oberflächlichkeit - allein, ich kann nur dort länger bleiben, wo-hin mich meine Neigung besonders treibt. Und das wäre: Literatur,Kultur- und Sozialgeschichte. Dabei ist auch Ökonomie so wichtigund ich habe nichts dafür übrig.

24. Februar 1945

Wir fuhren nach Seelow. Ich wollte wenigstens die wertvollstenmeiner Bücher mitbringen. Bärbel hatte auch noch allerlei Wäscheund Kleidung draußen und Friedel* packte gleich zwei große Säk-ke voll.

* Bärbels Mutter.

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Reges Leben herrscht dort. Tanker, LKW’s und andere Wagen rat-tern durch die Straßen, zur Front oder von dort her. Der Flüchtlings-strom von ehedem ist fort und die Seelower sitzen bereit zum Ab-transport. Denn man rechnet wohl damit, daß der Russe bald vor-stößt. Dann geht es bestimmt Hals über Kopf. Sonst macht das gan-ze Gebiet einen kriegsmäßigen Eindruck. Tiefflieger tauchen auf,mit einer Schnelligkeit, daß man meint, der Himmel müsse bersten.Dann tackern die MG-Garben durch die Luft. Ehe deutsche Flakeinsetzen kann, sind sie meist schon fort. Auch das Haus, in demBärbel so lange Zeit wohnte, wurde beschossen. Durch die Fensterfegten ein paar Geschosse und wären beinahe der dort wohnendenFrau in den Kopf gegangen.

Heute früh hat man standrechtlich vier deutsche Soldaten an Tele-graphenmasten aufgehangen, nicht weit vom Ort, an der Chaussee.Jedes Fahrzeug mußte halten und die Leute sich diese Schmach an-sehen. Wie Puppen schaukelten sie im Winde, mit Schildern um denLeib: »Feigheit vor dem Feind«. Weil sie nicht feige genug waren,wie all die anderen, weiterhin in diesen sinnlosen Massenmord zugehen. Sie starben als Märtyrer, als Revolutionäre, diese Männer,die vielleicht schon seit 1939 Soldaten waren. Das sind die erstenOpfer, wie sie jede Umwälzung erfordert. Und der zurückschlug insGegenteil und was abschreckend und gerecht erscheinen sollte, wurdezum bohrenden Stachel im Herzen. Zur harten Erkenntnis eines blu-tigen barbarischen Terrors einer irrsinnig geordneten Kriegsmaschi-nerie, die in Todeszuckungen liegt. Ich habe erfahren, mit welchenGefühlen der Kamerad, der andere »Sklave« diese Schandtat auf-genommen hat. Ich habe gesehen, wie ihm die Hände zitterten, dieStimme sich in Wut krallte, als er davon sprach, wie ihm, dem aufstiefste Erschütterten, die Tränen nahe waren. Und dieser Mann warkein Sozialist. Er war ganz und gar Soldat, der seine Feinde sterbensehen konnte, ohne mit der Wimper zu zucken, dem auch der Freundvor den Augen fiel, ohne daß sein Leben daran zerborsten wäre.Doch was er hier gezwungen war zu sehen, gab ihm den Rest. Das

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Volkssturm, Soldbuch

rüttelte ihn auf, er sah ja so deutlich, für wen er täglich im vorder-sten Dreck einen hundertfachen Tod starb, für wen seine Familie littund darbte. Er sah die gewissenlose Bestie hinter dem süßlichenGefasel von Sieg und Heldenmut. - Am Nachmittag mußte er wie-der losziehen ... zur Front.

Frauen erzählen, wie deutsche Soldaten in den verlassenen Woh-nungen gehaust hatten. Ohne Achtung vor den Habseligkeiten dergeflüchteten Leute wurde geplündert und zerstört, was nur zu errei-chen war. Nur, um den Russen nichts in die Hände fallen zu lassen.Und dies geschah nicht im weiten Rußland oder dunkelsten Polen,sondern in deutschen Ortschaften an der Oder.

26. Februar 1945

Heute war wieder Großkampftag der ame-rikanischen Luftwaffe über Berlin. DerBerliner Osten brennt, so weit man sehenkann, ist alles in dicken, grauen Qualm ge-hüllt. An einzelnen Stellen sieht man bluti-ge Flammen hochzüngeln. Die zwei Stun-den waren endlos in dem notdürftig zumUnterstand eingerichteten Gang des Erd-geschosses unseres Gebäudes. Welle aufWelle kam herüber. Hagel von Bombenknallten in der Nähe herunter, das Haus

schwankte, der Boden bebte und der Luftzug der sausenden Grana-ten pustete durch Fenster und Türen. Und immer noch kein Ende.Dabei die Sorge um Bärbel und Li.

Als alles vorbei war, ging ich mit Bärbel durch die brennenden Stra-ßen. Wir blieben diesmal noch verschont und wollten nach Friedelschauen. Wir liefen über Trümmer, hochgeschleuderte Pflasterstei-ne an brennenden Häusern vorbei. Stellenweise drang uns der bren-nende Rauch in Mund und Nase, wir mußten wieder umkehren, ei-

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nen anderen Weg versuchen. In Richtung Bahnhof konnten wir nicht,dort explodierte ein Munitionszug, ... stückweise. Das Knallen dröhn-te laut, ließ die Luft erzittern. An einer Stelle war ein Blindgängermitten auf der Straße, wir konnten nicht vorbei. Weiter, noch weiternach Osten, obwohl wir nach Westen wollten. Im großen Bogenwollten wir über Neu-Lichtenberg laufen. Auch dort alles in Flam-men. Unmöglich war es, an den feuerspeienden Häusern vorbeizu-kommen. Hitze und Qualm nahmen uns den Atem, die Funken sprüh-ten um die Ohren und der Wind blies in die Brunst hinein. Strömevon Menschen stürzten, gleich uns, ihrer vielleicht nicht mehr vor-handenen Wohnstätte zu. Andere standen an ungefährdeten Eckenbei ihren letzten geretteten Habseligkeiten. Mit Augen voller Wutoder grenzenlosem Leid sahen sie in die Flammen, die dort tobten,wo sie noch vor ein paar Stunden am Herd standen. Sicher erst lang-sam konnten sie fassen, daß sie nun alles verloren hatten. Oh, wieunbeschwert steht der Mensch in der Welt, der nichts hat, um das ersich sorgen müßte. Und doch sind wir so bürgerliche Naturen, anjedem Stück Eigentum zu hängen. Wir sind förmlich verwachsendamit, reißen uns nur unter Schmerzen los von dem Gegenstand,der uns gehört, uns Nutzen bringt oder Kultur bedeutet.

Bärbel lief tapfer mit. Ihre Augen schmerzten, die Füße waren wundgelaufen, doch noch versuchten wir einen Weg zu finden, bis wirsahen, daß es erfolglos war.

28. Februar 1945

Es wird immer schlimmer mit den Luftangriffen, wenn auch nichtan Ausmaß, so doch an Zahl der Angriffe, die jetzt jeden Abend,manchmal zweimal über uns kommen. Sicher ist alles nur Aufschubfür uns, einmal kommen auch wir noch dran. Man muß viel Mutzum Leben haben, in dieser Zeit nur Hoffnung an eine bessere Zu-kunft. Ich habe beides, immer noch, dazu eine unbändige Liebe zumeiner kleinen Frau. Um ihretwillen muß ich schon stark sein. Wenn

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wir nur am Leben bleiben, bis dieses verfluchte Volk sich zum Frie-den bequemt und die verbrecherischen Lumpen zum Teufel jagt,haben wir schon gewonnen. Hungern werden wir noch ... aber auchdas vergeht.

12. März 1945

Die Menschen sind so hin und her gerissen von den sich widerspre-chenden Nachrichten über angebliche Greueltaten der Russen anFrauen und Kindern. Ständig stehen die Zeitungen voll davon, Ra-dios schreien es hinaus, dazu kommen noch (meist über mehrerePersonen hinweg verbreitete) Aussagen von Flüchtlingen und Sol-daten. Viele Menschen fressen gleich alles, was sie lesen oder hörenunverdaut, andere schwanken zwischen dem, was sie glauben sol-len. Gewiß, es wird nicht überall fein hergehen, vielleicht auch grau-sam und brutal, leider auch an Unschuldigen. Aber wer ist unschul-dig? Die große Masse des Volkes bestimmt nicht, denn sie wärestark genug gewesen, Krieg, Grauen und Hunger zu vermeiden, wäresie nicht so bodenlos dumm und gutgläubig. Aber auch Dummheitist eine Schuld, wenn auch eine traurige, denn sie hatte Tausendevon Klugen geopfert. Diese Klugen und Wissenden, die leider nochzu schwach sind, um die stupide Masse mitzureißen. Und sie wer-den immer schwach bleiben, dem äußeren Zwang gegenüber, wennsie die Masse nicht hinter sich bringen können - vor allem, wenn siejene nicht bilden können. Die Wurzel des Übels liegt tiefer als manglaubt, nämlich im jahrtausendealtem Geist des Nationalismus, Ah-nentums und Duldsamkeit gegenüber Staat und Kirche. Das Resul-tat ist der Spießer; ob er nun Prolet oder Kleinbürger ist, er stecktvoll mit seichtem Spießertum. Eine grundlegende Änderung diesesTypus kann erfolgen nur durch: Bildung, Zertrümmerung bisherbestehender Moralbegriffe und angestaubter Traditionen, Selbstbe-wußtsein.

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Jetzt liegt aber der Gegensatz klar auf der Hand: Wer noch nichterkannt hat, was gespielt wird, ist ein armseliger Tropf, den manbedauern müßte, wenn er harmlos wäre, den man aber hassen undausrotten muß, weil er den Krieg verlängern hilft und durch seinDasein anderen das Leben nimmt. Wenn diese Ansicht auch sehrunmoralisch erscheint, sie hat ihre Berechtigung. Wir müssen unseben von einer falschen, rührseligen Nächstenliebe befreien, die sichwie eine schleimige Qualle an unser ehrbares Gemüt hängt, uns da-bei den Blick total vernebelt. Hier muß es eben heißen: Willst Dunicht begreifen, dann hole Dich der Teufel, dann mußt Du krepie-ren, denn Du hinderst uns, die wir uns befreien wollen! Ja, sovielEgoismus muß ich als Mensch in mir haben, denn mein Leben istnoch immer das wichtigste. Wenn ich sterben will für eine Idee, einMärtyrer sein will - gut, so ist das meine Sache, wenn ich aber lebenwill, so soll mir das auch niemand verwehren.

16. März 1945

Heute hat uns O. besucht. Ein feiner Junge. Typ: intellektueller Ar-beiter, wie man sie leider noch zu wenig trifft. Er ist auch, wie ich,Autodidakt, Prolet aus kleinstem Milieu mit intensivem Bildungs-drang. Er ist ruhig, macht einen selbstbewußten Eindruck, was mirsehr sympathisch ist. Wir haben viel Gemeinsames, weltanschau-lich, nur ist er bewegter, aktiver als ich. Darum könnte ich ihn be-neiden.

Wir sprachen über Erziehung des einzelnen Menschen und der ge-samten Arbeiterschaft. Bärbel ist darin noch sehr skeptisch, sie glaubtnicht sehr an die enorme Macht der Erziehung und der Umwelt zurFörderung des menschlichen Charakters, seiner Vorteile und Schwä-chen. Sie läßt sich vom ausgeprägten Vererbungsgedanken nichtabbringen, dem ich aber nur zweitgradige Bedeutung bewillige.Bärbel ist jedoch aufmerksam bemüht, in diese Welt des »Materia-lismus« einzudringen, der ja nur der einzig naturgemäße Maßstab

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zur Erkenntnis geschichtlicher und menschlicher Zusammenhängeist. Ich kann weltanschaulich nur materialistisch denken, neige aberethisch zum Individualismus, den ich mit dem Sozialismus verbin-den will. Warum soll das auch nicht möglich sein? Wenn Freiheitder Produktionsweise die ökonomische Voraussetzung zu einer frei-heitlichen Gesellschaftsordnung ist, muß die Freiheit der Persön-lichkeit eine ethische Bedingung dazu sein. Doch ist die ökonomi-sche Befreiung am wichtigsten, weil erst auf ihrem Boden die indi-viduelle Befreiung wachsen kann. Natürlich muß auch schon vor-her, wenn eine Befreiung noch nicht vollzogen ist und das Volk sichim Kampf befindet, der Wert der Persönlichkeit gepflegt werden.Dies ist leider bisher nicht genug beachtet worden. Die Arbeiterpar-teien, die als Lehrkörper dafür in Frage kamen, legten mehr Wertdarauf, Massen und Stimmaterial zu bekommen und bei diesenMassen das Massen-Bewußtsein und proletarische Niveau aufrechtzu erhalten, als einer weniger großen Menge, die dafür aber auser-sehen ist, zu einer geistigen und individuellen Bildung zu verhelfen.Dies tritt dem nicht entgegen, daß das erste und wichtigste Momentder Kampf um ökonomische und politische Freiheit ist, ein Kampf,der nur von der Masse durchgeführt werden kann. Um aber dieseMasse zum Kampf um ihr eigenes Recht zu ermuntern, muß manihr weniger Phrasen, dafür aber mehr persönliche und wissenschaft-liche Schulung zuteil werden lassen, denn sonst fehlt die innere Stärkeund das Verständnis für den Sinn und Zweck der Sache, für die derEinzelne kämpft. Wer dabei nicht mitkommt, wer keinen Wissens-drang verspürt und aus seinem geistigen Milieu nicht heraus will,kann höchstens nur ein Mitläufer, ein persönlichkeitsloser Nachred-ner gehörter Phrasen sein, und der Gesellschaft oder der Revolutionnicht von Nutzen sein. Denn eine sozialistische Partei sollte sichnicht der Masse anpassen, sondern sie zu sich hinaufziehen. Derintellektuelle Individualist darf nicht hinabsteigen zum ungenügen-den Bildungsgrad des Proletariats, sondern muß durch seine Per-

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sönlichkeit und sein Wissen alles tun, dort Unwissenheit und Her-dentum zu beseitigen.

Praktisch sieht es natürlich so aus, daß eine Bildung zu freien Per-sönlichkeiten aus der Masse heraus länger dauern wird, währendaber das Bedürfnis, aus dem drückenden materiellen Elend heraus-zukommen bei der Masse viel stärker sein kann und zu erhöhterAktivität anspornen wird. Dann muß man alle Kraft daransetzen,die Masse zum entscheidenden Kampf zu veranlassen. Man muß ihrvoraus sein und sie mitreißen.

Wenn nach siegreich vollendeter Revolution die ökonomische Be-freiung durchgeführt worden ist, muß auch schon die geistige Bil-dung der Persönlichkeit im Fluß sein. Noch wird Zwang des Wis-senden, Geschulten gegenüber der unwissenden Masse nötig sein,um sie zu so selbständigen denkenden Persönlichkeiten zu erziehen.

Ich bekam wieder eine Aufforderung vom Volkssturm für den Don-nerstag zur Unterführer-Ausbildung zu erscheinen und wurde Grup-penführer. Weil ich mal Soldat war, hielt man mich wohl dazu fürgeeignet, auf eine weltanschauliche Eignung hat man mich jeden-falls nicht geprüft. So wird einem die Zeit gestohlen: Donnerstagsund Sonnabends je zwei Stunden. So ganz ohne Vorteil ist die Sachejedenfalls nicht. Man lernt neue Menschen kennen und Gott sei Dankauch ganz vernünftige.

Li hat sich eine Gesichtsrose zugezogen. Vollständig aufgequollenund unkenntlich sah sie im Gesicht aus, doch nun ist es schon bes-ser, auch das Fieber hat aufgehört. Ich bin mächtig froh, daß es ihrwieder besser geht.

30. März 1945

Jetzt kommt auch die Front im Westen ganz anständig ins Rollen:Die Amerikaner sind bis Gießen, Marburg, Grünberg, Lohr vorge-stoßen und stehen außerdem schon im Ruhrgebiet. Dafür geht es im

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Osten momentan nicht vorwärts. Pause vor dem Ansturm auf Ber-lin. Die Luftangriffe sind auch noch immer intensiv.

Die »Geschichte der Philosophie« bin ich durch. War sehr gut alsUmriß. Aber zum korrekten Durcharbeiten fehlt mir jetzt die Ener-gie. Ich werde nächstens die »Ethik« von Kropotkin, und Engels»Anti-Dühring« noch mal lesen, evtl. auch Stirners »Einzigen«. Mitdem russischen Roman von Gladkow »Zement« bin ich sehr zufrie-den. Zwar tendenziös, aber kritisch, zumindestens stilistisch sehrnett. Na, ich werde weiter sehen.

Li ist wieder auf dem Posten, aber noch ganz schwach. Bärbel hatein paar Taschen genäht und Nährmittel und Kartoffeln dafür be-kommen. Nun futtern wir jeden Tag Griespudding, füllen unserenMagen damit, weil wir mit Brot und Kartoffeln mächtig sparen müs-sen. Für eine Tasche hat Bärbel Zigaretten eingetauscht. Dem Mä-del macht es eine zu große Freude, für mich etwas Gutes zu tun, wasmich glücklich macht. Und ich könnte jubeln. Mein Frauchen hatein Talent, immer dann noch etwas zu organisieren, wenn ich amVerschmachten bin.

7. April 1945

Gestern fuhr ich mit Bärbel aufs Land, zum Organisieren. Wir sindam Ende mit Kartoffeln, Brot - überhaupt mit allem. Was bleibt,man muß hamstern gehen, muß versuchen, den hartleibigen Bauerndie Kartoffeln pfundweise herauszuziehen, muß auch Mitleid erwek-ken können und sich ebenfalls triefende Klagen mit anhören. Bärbelversteht das ganz gut. Sie hat auch meist Erfolg. Wir pilgerten vonOrt zu Ort in Richtung Frankfurt/Oder, ein Stück mit einem raschenPferdewagen, dann per Auto bis Falkenhagen. Erst hier, im schönenhügeligen Land, gab es Erfolg. Zwei nette lachende Russenmäd-chen luden uns die kostbaren Kartoffeln gleich von der Miete aus indie Säcke. Sie waren überhaupt so froh und lachend, vielleicht weil18 Kilometer weiter ihre Landsleute auf den Moment zum Losschla-

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gen warteten. Wir hatten jedenfalls unsere Kartoffeln, soviel wiewir nur tragen konnten und waren selig. Auch der Schnaps gingüber Bord: Er brachte vier Kommißbrote, vier Eier, Speck und eineBüchse Käse. Lange kam kein Auto. Endlich hatten wir Glück undkamen zum Bahnhof Fürstenwalde. Dort ein wüstes Treiben, Flu-chen von Frauen. Es kamen verschiedene Menschen von der »Tour«mit prallen oder weniger prallen Säcken. Ein Heer der Hungernden,das nicht mehr Wäsche und Betten auf der Bahn herumtranspor-tiert, sondern Kartoffeln ... in allen Verpackungsarten. Ein ankom-mendes Auto wurde angehalten, kontrolliert, den Frauen die Kar-toffeln fortgenommen, auch Brote. Die Menschen, die nach langenMühen kurz vor dem Ziel standen, sahen sich enttäuscht und grau-samer Haß stieg in ihnen hoch, gegen diese gemeine Schikane, ge-gen diese gemeinen Peiniger und Unterdrücker. Sie kamen sich ge-peitscht und zertreten vor, weinten und fluchten und in ihrem Innernzerriß eine neue Faser, die sie noch mit dem Bestehenden verband.Krasser noch wurde der Abgrund, größer die Frage: »Warum?«

12. April 1945

Große Aufregung im Werk: Alliierte Truppen in Magdeburg. DieseSchnelligkeit kam unerwartet und brachte die Geister in Aufregung.Was wird nun kommen, wie sich unser Schicksal in den nächstenTagen gestalten? Das waren Fragen, die uns jetzt alle bewegten. Dazuder Wunsch, recht schnell Ruhe zu haben. Fast alle wünschen einerasche, kampflose Besetzung. Nur noch ein paar unverbesserlicheIdioten glauben an Sieg und faseln von Kampf bis zur Selbstaufop-ferung. Doch auch die meisten der »kleinen Kriegsverbrecher« ha-ben die Hosen voll, sind klein und still geworden und in einem Win-kel ihres verschrumpelten Gehirns dämmert leise der Hauch einerErkenntnis, daß sie betrogen wurden. Sie fühlen sich nun einsam,im Stich gelassen. Der Boden unter ihnen fängt gewaltig an zuschwanken und irgendwie ahnen sie, daß die Zeit, so sie zu Fallkommen, ganz nahe ist.

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Beim Volkssturm zur Unterführer-Ausbildung werden Gruppen, For-mationen geübt. Wir pauken »Reihe«, »Schützenkette« und lautesKommando. Und der Amerikaner steht in Magdeburg. Daran den-ken wir mehr als an den blöden Kram, den man mit uns durchexer-ziert. Ich schaue mir die Männer an, stelle die Frage: »Wie werdensie sich verhalten, wenn es hart kommt?« Es sind meist ältere Leutemit abgearbeiteten Gesichtern, Arbeiter. Ich glaube, sie werden ver-nünftig sein, man merkt ihre Unlust an allem, man merkt den Zwang,der dahinter steht, dessen blutige Fratze höhnisch grinst. Mit diesenMännern wollt ihr siegen, wollt zurückholen, was verloren ist, vonAachen bis Magdeburg, von Königsberg bis Küstrin? Die ganze Weltlacht darüber schallend laut. Ich lache auch, aber in mir krümmtsich etwas wie toll, wälzt sich gemartert im Sumpf. Verfluchtes Le-ben, welch hohen Tribut verlangst Du noch? Wo sind die Grenzendessen, was ein Mensch ertragen kann? Es gibt wohl keine! »Kre-piere du Aas, wenn du das Leben nicht erträgst, philosophiere nicht;hilf, die festgefahrene Karre aus dem Dreck zu ziehen, verblute,damit wir noch ein paar Wochen länger am Leben bleiben«. So schätztman uns ein: Die Ware Mensch, deren Wert täglich sinkt.

Vielleicht überlebe ich diese Hölle, vielleicht darf ich später meinenKindern von diesem Irrsinn, dessen der geistige Höhepunkt der Na-tur, der vernunftbegabte Mensch fähig ist, berichten.

Vielleicht darf ich mein Leben behalten, darf wirken und an einemgesunden Aufbau helfen, der mir, wie allen anderen zugute kommt.Ohne Pläne und festgelegte abstrakte Konstruktionen, die vom Gangder Geschehnisse wie ein Kartenhaus umgepustet werden, nur mitdem Willen zum Gestalten. Der Augenblick wird zeigen, was not-wendig ist. Dann wird der Weg frei sein, und Du, kleine Bärbel wirstfest und hoffnungsvoll mit mir im gleichen Schritt gehen. Dann wirdes sich gelohnt haben, auszuhalten, auch im Schlimmsten. Wenn ichDich bei mir habe, so wie bisher, ist eine tausendfältige Kraft da, dieuns vorwärtstreibt. Gemeinsame Freude - gemeinsames Glück. Un-

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sere Zukunft, wir werden sie finden, begraben unter dem ganzenSchutt dieser erbärmlichen Zeit. Und müssen schaufeln mit schwie-ligen Händen, bis wir sie bloßlegen. Du hast keine Furcht davor,Bärbel ... ?

14. April 1945

Volkssturm - Vereidigung. Die lächerlichste Phrase, die ich je erleb-te. Ein Bataillon alter Knochen, grauhaariger Greise. AbgehärmteProleten, die schon 1914/18 im Dreck lagen und nun wieder brauch-bar sind zum Kanonenfutter? Oh, Schande, ihr alten Väter, womithab ihr das verdient? Doch auch ihr bildet die Masse, die stumpfe,gedankenlose Herde: Habt ihr etwa keine Schuld? Habt ihr nicht amBiertisch gesessen, als die braune Meute durch die Straßen zog, mitverschränkten Armen zugesehen, wie eure Jungens dabei waren, wiesie dann mit Mörderorden geschmückt in den Krieg zogen und »Hur-ra« und »Vaterland« brüllten? Habt ihr denn nicht verhindern kön-nen, daß dies aus ihnen wird, daß sie anstatt der »Nation« den Ge-danken »Menschsein« in ihrem jungen Schädel tragen sollen, konn-tet ihr sie dazu nicht erziehen? Nun ist der Weg schwer zu gehen.

Wir ließen Reden über uns ergehen, strotzend von Sieg und Glau-ben. Dann - die Vereidigungsformel versickerte in lautlosem Ge-murmel. Nur wenige Münder bewegten sich. Ein paar Führer schriensie über den Platz hin, die meisten schwiegen. Auch bei der Hymneblieb es erschreckend ruhig. Erstes Anzeichen beginnender Aktivi-tät. Passive Resistenz. Ich glaube nicht, daß diese Männer sich lan-ge verteidigen.

16. April 1945

Heute früh ist der Russe an der Oder zum Großangriff angetreten.Mörderisches Trommelfeuer grollte bis zu uns hin. Nun kann es nurnoch wenige Tage dauern. Die letzte Runde für Berlin hat begon-

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nen. Jetzt sagt schon jeder: »Je schneller, desto besser«, »Wenn sienur erst hier wären«.

Abends. Russische Bomber in Richtung Berlin. Als es Alarm gab,war schon ostwärts der Himmel rot von Leuchttrauben. Frauen, Kin-der, auf dem Wege zum Bunker, rasten in die Keller zurück. Aberbis zu uns kamen die Flugzeuge nicht, in mehreren Verbänden grif-fen sie die Räume Fürstenwalde, Eberswalde, Freienwalde an. Gleichnach Entwarnung gab es neuen Alarm: Englische Moskitos flogenaus dem Westen ein. Diesmal bebte die Erde, der Luftdruck ließ dieTüren erzittern und wir hielten den Atem an. Bombe auf Bombe,aber weiter weg.

20. April 1945

Die russischen Flieger machen uns die Hölle heiß. Außerdem dieMoskitos. Wenn es Alarm gibt, bleibt meistens keine Zeit mehr, zumBunker zu laufen. Wir sitzen im Keller des gegenüberliegendenHauses, das etwas besser gebaut ist. Wir sitzen und verfolgen durchden Drahtfunk eine Welle nach der anderen, die in Berlin einfliegen- erst Russen, dann Briten - in regelmäßigen Abständen. Fünf Stun-den lang, dann endlich gab es Ruhe.

21. April 1945

Jetzt kommen ereignisreiche Tage: Die Russen sind dicht bei Ber-lin, bald wird es hier losgehen. Wenn es doch bloß soweit wäre undwir alles hinter uns hätten. Heute früh die ersten Artillerieinschlägebei uns und dann ohne große Unterbrechung Dröhnen und Ballernauf beiden Seiten. Wenn das schwere Geschütz in unserer Nähe los-legt, zittern unsere Fenster. Dann wieder ein helles Pfeifen in derLuft, darauf ein knallender Aufschlag, immer ziemlich dicht bei uns.Wir wagen uns nur noch kurze Zeit in der Wohnung aufzuhalten.Meist sitzen wir im Keller in banger Unruhe, daß uns das Haus über

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dem Kopf in Brand geschossen werden könne und hören das Getöseder abfeuernden Geschosse und einschlagenden Granaten.

22. April 1945

An ergiebigen Schlaf war in dem engen Luftschutzkeller nicht zudenken. Dazu ununterbrochen Beschuß. Wir erfahren, daß die Rus-sen schon in Ahrensfelde, Wartenberg sind, etwas später in Weißen-see. Züge von Soldaten in Kraftwagen und Panzern flüchten in Rich-tung Stadt. Flüchtlinge mit ihrer kleinen Habe ebenfalls. Ein wahresHeerlager, ein nicht abreißendes Band. Wir wagen uns nur rennendüber die Straßen, weil die Einschläge ziemlich dicht liegen. Aberwir müssen an Lebensmittel denken. Die Geschäfte verkaufen ihreRestbestände. Doch Brot ist nirgends mehr zu haben, was noch inden Läden war, wurde schon gestern verkauft. Wir stehen in langerReihe bei einem Lebensmittelgeschäft im Hausflur. Ich bin vorneauf der Straße, während sich Bärbel einpacken läßt, was abgegebenwird. Von Weißensee her wird geschossen. Wir sind gerade fertig,da kommen andere aus unserem Hause, stellen sich hinten an. Nichtlange, wir sind schon zu Hause, kommen sie ganz verstört zurück,mit Schrecken in den Gesichtern. Dicht bei dem Geschäft, genauvor dem Hausflur ist eine Granate explodiert. Ein paar Männer wa-ren gleich tot, Frauen wälzten sich auf der Erde, schreiend, stöh-nend. Sie selbst standen hinten, welch Glück, bekamen nichts mehrab. Nur Herr G. einen Splitter in die Hand. Bärbel wurde weiß, mirstockte der Atem. Li konnte sich auch kaum fassen und drückte unsgleich an sich. Fünf Minuten früher und von mir wäre sicher nichtviel übrig geblieben. Heute soll uns niemand mehr rausbringen. DerRusse kommt näher und näher.

23. April 1945

Heute früh erste Bekanntschaft mit russischen Soldaten. Drei Mannkamen herein, fragten nach deutschen Soldaten und nahmen uns dannunsere Taschenuhren ab. Schöne Begrüßung! Na, trotzdem waren

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wir alle viel zu froh darüber, daß nun für uns alles vorbei war, alsdaß wir uns dadurch erschüttern ließen. Noch pfiffen Granaten, undkamen deutsche Flieger und warfen Bomben. Ruhe war keineswegs,aber es wurde hier kein großer Widerstand geleistet und die Russenkonnten ungehindert einziehen. Wir gingen auf die Straße, unter-hielten uns mit den Russen, fragten nach allem möglichen, ließenuns Tabak und für die Kinder Schokolade geben. Endlich wiederLuft, welche Wohltat.

Von der großen Zuckerwarenfabrik Lembke kamen Leute mit Ei-mern voll Marmelade, Sirup, und anderen süßen Dingen. Wir holtenuns auch verschiedene Eimer voll.

Die ersten Enttäuschungen von den Befreiern: Frau G. wurde imKeller vergewaltigt, dann in ihrer Wohnung noch ein paar Mal. Ichwar wie vor den Kopf geschlagen. Sollten sich diese grauenhaftenGerüchte teilweise bewahrheiten, sollten russische Soldaten, Trägerder Idee der Weltrevolution und des Sozialismus wirklich ihre Wutan uns auslassen und alles begangene Übel entgelten?

25. April 1945

Wir hausen noch immer (23 Menschen) in dem engen Luftschutz-keller, die Wohnungen haben die Russen belegt. Wüst, unbeschreib-lich sieht es dort aus. Alles ist durcheinandergeworfen, verschmutzt,zertreten. Viele Gegenstände sind gestohlen. Wir haben keine Ruhe.Immerzu gehen Soldaten aus und ein. Die Frauen müssen sich inacht nehmen. Sie sind alle mächtig ängstlich. Es sind schon vielevergewaltigt worden, wie man dauernd zu hören bekommt. Heutenacht ist Li herausgeholt worden, von einem Offizier. Sie kam aberbald, sehr erschüttert, weinend. Die Kinder haben es gut, erhaltenSüßigkeiten, Brot, Essen; auf der anderen Seite sind die Soldatenfreigiebig und freundlich.

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Bärbel hat Angst, werde ich sie schützen können? Sie will ein Kindvon mir ... wenn sie vielleicht dran glauben muß, dann ist es schonbesser so ...

Wir haben es getan; nun ist sie ruhiger, zuversichtlicher.

Berlin hat noch immer nicht kapituliert. Die großen Bunker am Fried-richshain, Humboldthain und Zoo leisten erbitterten Widerstand.Viele Flüchtlinge aus diesen Gegenden ziehen her. Die Kämpfe to-ben erbittert. Diese Tollköpfe lassen die ganze Stadt in Brand schie-ßen. Und die Russen plündern unsere Keller aus. Wenn sie doch nurerst wieder von hier abrücken würden.

26. April 1945

Ich habe es gewagt, mit Bärbel zu Friedel zu gehen. Es war auchgerade kein Beschuß, kleine Feuerpause, sonst hämmert die Artille-rie ununterbrochen auf die Widerstandsnester. Ein trauriges Bild aufden Straßen: Noch mehr Trümmer und Ruinen, als ohnehin schonwaren, tote Pferde, aufgedunsen, mit vorquellenden Därmen stin-ken in der Sonne, Leichen von Männern, Frauen, teilweise ganz zer-fetzt. An einem zerschossenen Lastwagen liegt ein Mann, seine Beinehängen zerrissen, blutig oben an der Bremsvorrichtung.

Überall dasselbe Elend. Auch bei Friedel wurde so gehaust, mit denFrauen und Sachen.

Im Hause kochen wir gemeinschaftlich. Die Lebensmittel wurdenzur allgemeinen Benutzung herausgegeben und werden gemeinsamverbraucht. Brot haben wir nur noch sehr wenig. Hin und wiederkleine Reibereien, doch sonst geht alles gut.

2. Mai 1945

Gestern 1. Mai, Tag des internationalen Proletariats. In Rußland wirddieser Tag festlich begangen, auch die Soldaten hier haben gefeiertAber wir, deutsche Proletarier, besiegte Proletarier, müssen die letz-

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* Erdmann Meyer, kommunist. Funktionär, Widerstandskämpfer, war mit uns befreundet.

te Wäsche und unsere Frauen hergeben für die Sieger, die Heldendes großen russischen Vaterlands, für die russischen Proletarier. VonInternationalität, von Verbrüderung keine Spur. Wir sind die Besieg

ten, an uns muß sich der Haß austoben, ... den wir geschürt haben.Oh, Terror unter Hitler - und nun Terror unter der roten Fahne. DieIdee des Kommunismus nach sowjetischer Grundlage hat es nunsehr schwer, sich durchzusetzen. Bei vielen war Hoffnung, doch nunist alles zerbrochen. Nun muß man erst beweisen, daß diese Solda-ten nicht die Idee verkörpern, für die wir gekämpft haben und nochkämpfen werden. »Proletarier aller Länder vereinigt euch« ist diealte Parole und sie ist noch immer neu.

Heute hat der Beschuß aufgehört. Berlin hat kapituliert, endlich! Ichwar in Weißensee und Heinersdorf. Dort tobt noch die Widerstands-bewegung. Hirnlose Volksverbrecher knallen aus den Lauben undHäusern. Die Häuser, aus denen geschossen wird, werden kurzer-hand in Brand gesteckt.

Eine große Enttäuschung: E.* ist einen Tag vor Weihnachten abge-holt worden und kam in ein KZ in der Nähe von Bayreuth. Hoffent-lich ist er noch am Leben. Schade, nun kann er die Befreiung vomNazijoch in Berlin nicht mehr miterleben. Und gerade darauf hatteer sich so gefreut.

5. Mai 1945

Ich bin Blockobmann geworden und habe Verbindung mit den Ge-nossen der sozialistischen Richtung. Endlich kann ich wieder arbei-ten, wenn auch zuerst im kleinen Rahmen. Von einer kommunisti-schen Zelle bei uns ist noch nichts zu hören. Noch muß alles ausdem Schlaf geweckt werden. Wir fangen an, die Brotversorgung zuorganisieren.

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9. Mai 1945

Der große Tag: Frieden! Der erlösende Moment, auf den wir 5 ¾Jahre gewartet haben. Deutschland hat bedingungslos kapituliert.Nun hat das Blutvergießen ein Ende. Die Russen feiern den Siegund wir flaggen auch rot. Bei vielen ist es auch nur aus Zwang undein bißchen Theater, aber ein freudiger Anblick, aus allen Häusernrote Fahnen. Wenn nur der Geist so wäre wie die Fahnen, so rot undrevolutionär, wie die roten Fahnen des Proletariats. Ich will helfen,ihn zu schaffen. Jetzt kann und darf ich nicht untätig sein..

Gespräch mit Kurt WafnerFRAGE: Sie erwähnten in ihrem Tagebuch, daß Sie zum Volks-sturm eingezogen wurden. Wie ging das vor sich und wann konntenSie sich dem Einsatz entziehen?

ANTWORT: Ich war im Sommer 1943 u.k. (unabkömmlich) ge-stellt worden, da ich in einem Rüstungsbetrieb (in der Elektrokohle-Fabrik Siemens-Plania in Lichtenberg) als Physik-Laborant beschäf-tigt war. So wurde ich also aus der Wehrmacht entlassen, konntevon einem Tag zum anderen meinen Standort in Minsk (Weißruß-land) verlassen und nach Berlin fahren. Kurze Zeit Entlassungsla-ger in Strausberg, dann konnte ich die verhaßte Uniform abgebenund wurde wieder Zivilist.

Eines Tages erhielt ich die Aufforderung, mich beim Volkssturm zumelden, in der Gottfriedstraße, in der Gartenstadt, in einer kleinenVilla war wohl die Kommandostelle. Die erste Reaktion war: Ab-hauen! Weg von hier! Nicht noch einmal eine Waffe in die Handnehmen! Ich fuhr also Hals über Kopf mit meiner damaligen Le-bensgefährtin Bärbel* nach Seelow - dort hatte sie 1944 vor den

* Da B. Halbjüdin war, war eine Heirat wegen der nazistischen Rassengesetze nicht möglich.Wir schlossen die Ehe am 2. Juni 1945. Sie währte bis zur Scheidung im Sommer 1954.

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Bomben in Berlin Unterschlupf gefunden und unseren Jungen zurWelt gebracht. Zwei Tage hielt ich mich dort auf, dann dachte ich:Hat ja keinen Zweck; die finden dich ja doch. Die Greifkommandosder Feldgendarmerie waren ja ständig im Einsatz. Türmen hatte alsokeinen Zweck. So fuhren wir nach Berlin zurück. Im Betrieb konnteich mein Fehlen mit Unpäßlichkeit erklären. Ich folgte nun der Vor-ladung. Ich erklärte dem Mann, daß ich ja bereits im Betrieb zu denLuftalarm-Wachen eingeteilt sei und zu anderen auch nächtlichen-Arbeiten und daher keinen Volkssturm-Dienst machen könne. Ichwurde aber dennoch eingezogen - allerdings mit dem Hinweis aufnotwendige Freistellungen.

Da ich bei der Wehrmacht einen kleinen Dienstgrad hatte - ich warGefreiter -, machte man mich zum Zugführer in der Hohenschön-hausener Volkssturm-Einheit. Erst wurden Unterführer-Instruktio-nen durchgeführt - in der Schule in der Roedernstraße - und dannsetzte man mich als Ausbilder ein. Mit einer kleinen Gruppe meistalter Männer oder der ganz jungen - Hitlers letztes Aufgebot - übteich Kampfeinsätze mit der Panzerfaust, Marschformationen, Schüt-zenkette, Schützenlinie usw. Diese Gefechtsübungen kannte ich janoch aus meiner Rekrutenzeit. Sie fanden hauptsächlich in der da-maligen Kurt-Eckert-Straße (heute Berkenbrücker Steig) statt. Undich dachte: Mit diesen Mätzchen soll nun Berlin verteidigt werden!

Im letzten Kriegsjahr wurden die Bombenangriffe auf Berlin immerdramatischer und mein Wachdienst bei Siemens-Plania immer in-tensiver. Außerdem mußte ich oft nachts Tests an Flugzeug-Aggre-gaten vornehmen. Das waren Festigkeits- und Kältetests. Alle zweiStunden notierte ich die Werte. Ich durfte dann am Vormittag aus-schlafen - wenn nicht gerade Alarm war und ich als Beobachtungs-posten auf dem Dach einer der Fabrikhallen zubringen mußte. Unddie Russen kamen immer näher! In diesen aufregenden Tagen waran Volkssturmdienst kaum noch zu denken. Kurz vor dem Einmarschder Roten Armee wollte man mich bei Siemens noch zur Verteidi-

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gung des Werkes heranziehen und mich nicht mehr nach Hause las-sen Da machte ich den Leuten klar, daß ich als Unterführer beimVolkssturm Dienst zu machen habe und ja nicht gleichzeitig an zweiStellen meine Pflicht tun könne. Beim Volkssturm schob ich die drin-genden Kampfeinsätze im Werk vor. So ist es mir gelungen, michan den entscheidenden letzten Tagen vor dem Einmarsch der RotenArmee von beiden Stellen fernzuhalten. Ich habe mich in unseremHaus-Luftschutzkeller verkrochen und auf das Ende der Kampfhand-lungen gewartet. Wäre ich von den Kettenhunden (so nannte mandie Feldgendarme) geschnappt worden, hätten sie mich als Deser-teur aufgehängt - wie das damals häufig der Fall war.

Ich hatte Glück, daß keine der Wehrmachts- oder SS-Streife unsereKeller nach Kampftauglichen oder Deserteuren durchkämmten, undso blieb ich unbehelligt. Einmal allerdings wäre es mir schlimm er-gangen - aber durch sowjetische Granaten. Die Russen beschossenHohenschönhausen fast pausenlos. Wir mußten ja aber mal raus ausunseren Kellern, um Lebensmittel zu besorgen. Wir gingen zumKaufmann Gontscherowski an der Ecke Lüderitzstraße/KüstrinerStraße und kauften noch die letzten Waren ein. Während sich Bärtelim Laden einpacken ließ, was noch zu haben war - nach Markenwurde nun nicht mehr gefragt -, stand ich draußen vor der Torein-fahrt. Mit einigen Männern zusammen. Wir waren dann gerade wie-der zu Hause, da kamen unsere Nachbarn aufgeregt angestürzt. Dort,wo ich gestanden hatte, war eine Granate eingeschlagen. Die Män-ner, mit denen ich eben noch gesprochen hatte, waren getötet wor-den. Das war ein schreckliches Ergebnis! Am 22. April kamen dieersten Soldaten der Roten Armee in unseren Keller - und damitSchrecken anderer Art, die hauptsächlich unsere Frauen und Mäd-chen betrafen. Aber wie auch immer wir heute über ihre Taten urtei-len, in jedem Fall befreiten sie uns von dem schlimmeren Übel: vomKrieg und Faschismus.

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Als wir noch in unseren Kellern hausten - die Rotarmisten hattendie Wohnungen mit Beschlag belegt -, traf uns eine weitere Schrek-kensmeldung: Einer der Volkssturmführer, ein fanatischer Nazi undsein Sohn hatten vom Dach des Wohnblocks Kurt-Eckert-Straße,Berliner Straße auf russische Soldaten geschossen. Meine Volks-sturm-Einheit war somit noch aktiv. Als Vergeltung setzten die Rus-sen den ganzen Block in Schutt und Asche. Er ist dann in den fünf-ziger Jahren wieder aufgebaut worden.

FRAGE: Am 5. Mai 1945 haben Sie in Ihr Tagebuch geschrieben,daß sie Blockobmann wurden. Wer hat Sie dafür eingesetzt?

ANTWORT: Es gab ein paar Leute in unseren Wohnblocks, die mirschon vorher aufgefallen waren, weil sie in Gesprächen aus ihrerantinazistischen Gesinnung kein Hehl machten. Einer von ihnen,ein gewisser Helmut Kratz, hatte immer lauf von seinem Balkonherabgerufen, wenn amerikanische oder britische Kampfverbändeim Anflug auf Berlin waren - für all jene, die kein Radio besaßenoder nicht hören konnten, wenn es keinen Strom gab. Er hatte wohleinen Batterie-Empfänger. Ja, anfangs mußten wir oft bei Kerzen-licht sitzen - als die Russen raus waren, auch wieder in unserenWohnungen - und Wasser gab es auch nicht. Das mußten wir in Ei-mern und Kesseln mit Handwagen vom Wasserwerk in der Lands-berger Chaussee holen.

Es war erstaunlich, wie schnell die Menschen in den ersten Nach-kriegstagen zueinander fanden. Man konnte nun offen miteinanderreden und ich erfuhr so von manchen Schicksalen, von Gefährdun-gen und Leiden, die sich ganz in der Nähe abgespielt hatten. In derWohnung neben unserem Balkon zum Beispiel wohnte die FamilieManthei, die die jüdische Mutter im Kleiderschrank versteckt hatte;ein paar Aufgänge weiter, Große-Leege-Straße 61, glaube ich, wohn-te die Mutter des hingerichteten Widerstandskämpfers Anton Saef-kow. Die erste Gelegenheit zum Gedankenaustausch bot sich beieinem Arbeitseinsatz. Wir Mieter aus unserem Wohnblock gegen-

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Polizeiausweis von Kurt Wafner in deutscher und russischerAusfertigung

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über der Verdener Gasse beseitigten den Schutt eines zerbombtenEckhauses. Und während des Schippens erfuhr ich von eben diesemHelmut Kratz, daß das neugegründete Bezirksamt Antinazis als Stra-ßen- und Blockobleute einsetzen wolle. Das geschah, wie ich spätererfuhr, auf Weisung der sowjetischen Kommandantur, die in einemHaus in der Hauptstraße untergebracht war. Diese Einrichtung derObleute war so etwas wie der verlängerte Arm der nun von denSowjets eingerichteten deutschen Verwaltung. Mitzuhelfen wiederein normales Leben zu führen, war ja in meinem Sinne und so mel-dete ich mich und wurde Obmann für etwa zehn Aufgänge unseresWohnblocks am Ende der Große-Leege-Straße.

Meine Haupttätigkeiten bestanden im Registrieren und Verteilen derLebensmittelkarten und diverser Zuteilungen. Ich erinnere mich, daßich mich einmal als Fleischer betätigen mußte und große Rinder-und Schweinehälften in gleiche Teile zerlegte, wohl darauf bedacht,daß jede Familie den gleichen Anteil bekam. Aber es gab auch un-angenehme Tätigkeiten; so zum Beispiel, wenn ich bei den Bewoh-nern Radiogeräte eintreiben mußte, die in der Kommandantur abzu-geben waren oder für entlassene KZ-Häftlinge Wohnraum beschaf-fen sollte. Das hatte dann so zu geschehen, daß man bekannte Nazi-führer kurzerhand aus ihren Wohnungen warf. Ich muß gestehen:Wenn es jemanden traf, der mitgeholfen hatte, Menschen ins Un-glück zu stürzen, hatte ich keine Skrupel. Aber mitunter war es schwerzu entscheiden, wer Täter und wer Mitläufer war. Von der Sowjet-Kommandantur bekamen wir Obleute auch mal die Anweisung, dieFahrräder der Bewohner einzuziehen. Diese und ähnliche Aktionenmachten uns bei den Mietern nicht gerade beliebt. Auch die Zuwei-sung der Lebensmittelkarten war unsere Aufgabe. Wir mußten kon-trollieren, wer berechtigt war, die Karten A oder B zu erhalten oderwer sich mit der Hungerkarte zufrieden geben mußte. Die Karten-stelle war im Raum der heutigen Sparkasse, Suermondt-, Ecke Kon-rad-Wolf-Straße (ehemals Berliner Straße) eingerichtet.

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FRAGE: Sie sind dann auch bald zur Polizei gegangen?

ANTWORT: Ja. Es gab einen Aufruf an ehemalige Antifaschisten,sich bei der neuen Polizei zu bewerben. Ich meldete mich - am 19.Mai; die Stelle war, ich glaube im ehemaligen Karl-Liebknecht-Hausam heutigen Rosa-Luxemburg-Platz. Die neue Polizei war wohldamals schon gut durchorganisiert - eine der ersten und als vordring-lich erachteten Aufgaben der sowjetischen Militärverwaltung.

Das Einstellungsgespräch verlief reibungslos. Ich wurde für den Poi-zeidienst angenommen - als Leiter der Meldestelle auf dem Hohen-schönhausener Revier 287. Die Meldekartei war von den Nazis imGarten der Dienststelle in der Schöneicher Straße vergraben wor-den, damit sie der Roten Armee nicht in die Hände fallen sollte.Unsere Aufgabe war es nun, sie wieder in Ordnung zu bringen. Einegroße Aktion war dann die Ausstellung der Behelfsmäßigen Perso-nalausweise mit Lichtbild und Daumenabdruck. Es gab schon dasEinwohner-Meldeamt im Sowjetsektor und so funktionierte das Mel-dewesen bereits schon in den ersten Tagen ganz gut. Für viele Ho-henschönhausener Heimkehrer aus der Kriegsgefangenschaft wa-ren wir die erste Anlaufstelle. Es gab auch tragische Momente: Wennein Heimkehrer seine Angehörigen suchte, die in einem Haus ge-wohnt hatten, das es nicht mehr gab.

Ich bekam dann noch eine zweite Aufgabe. Aufgrund meiner Schul-bildung wurde ich als Lehrer für den Breitenunterricht eingesetzt.Auch im Revier in Weißensee. Manche Polizeianwärter hatten nurgeringe Schulkenntnisse, und ich gab ihnen nun Unterricht in Deutschund Geschichte. Der Polizist war ja zur Eintragung ins Tätigkeits-buch verpflichtet, und die sollte ja möglichst in einwandfreier Or-thographie geschehen. Die Stunden gab ich immer vor Dienstbe-ginn. Später unterrichtete ich auch im Fach Polizeirecht. Doch dasmußte ich mir selbst erst aneignen - so zum Beispiel auf einem Stu-dienlehrgang auf der Polizeischule in Schöneweide. Das war dort

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ein richtiges Internat. Wir büffelten - und hungerten; es gab meistnur Kekssuppe...

FRAGE: Sie sagten Polizeirecht. Welches Recht wurde zur Grund-lage genommen? Es mußte ja erst ein neues geschaffen werden. Odergalt noch das Bürgerliche Recht?

ANTWORT: Wir orientierten uns nach dem Bürgerlichen Gesetz-buch (BGB) und den Polizeiverordnungen der Weimarer Republik.Die Zusatzparagraphen aus dem Hitlerreich galten natürlich nichtmehr. Ich paukte nun die Paragraphen, die Mord und Totschlag, Kör-perverletzung, Notwehr und natürlich insbesondere die Aufgabender Polizei betrafen. Ich erfuhr, was eine hilflose Person ist und wieman mit Tatverdächtigen umzugehen hatte - vor allem dann, wennes sich um eine weibliche Person handelt

Wenn Not am Mann war, wurde ich auch mal im Außendienst ein-gesetzt. So zum Beispiel bei Razzien in Lokalen - ich erinnere mich,wie wir im Café »Mazurka« dreizehn- und vierzehnjährige Mäd-chen herausholten und dem Gesundheitsamt zur Untersuchung aufGeschlechtskrankheiten zuführten. Die wurden im Hohenschönhau-sener Schloß durchgeführt. Auch an Verkehrsaktionen und Suchennach geflohenen Bandenmitgliedern und Schlichtungsversuchen sichprügelnder Eheleute nahm ich teil.

FRAGE: Sind Sie während Ihrer Tätigkeit bei der Polizei mit demInternierungslager konfrontiert worden?

ANTWORT: Wir erfuhren nur wenig darüber. Als eines Tages dieFreienwalder und die Genslerstraße gesperrt wurden, wußten wir,daß die Sowjets dort ein Straflager einrichten wollten. Alles wurdeabgesperrt; auch wir Polizisten durften dort nicht hinein. Man hieltauch uns gegenüber alles geheim. Es hieß nur, daß im Lager führen-de Nazis und Kriegsverbrecher untergebracht waren. Daß es auchUnschuldige getroffen hat, also Menschen, die irgendwie gegenWillkürakte der Russen protestierten und daß damals bereits die

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Unrechttaten begannen und später von der Stasi weitergeführt wur-den, erfuhren wir erst später. Überhaupt war die Kommunikationzwischen uns Polizisten und den Rotarmisten sehr schwach. Im Grun-de waren wir Erfüllungsgehifen der Militäradministration. Und wehe,wir führten erhaltene Befehle nicht gewissenhaft durch! So kam malein Offizier in die Meldestelle hereingepoltert und befahl, auf sämt-lichen Karteikarten der Betroffenen die Zugehörigkeit zur NSDAPzu vermerken. Hinweise, daß das in so kurzer Zeit nicht möglichsei, galten nicht.

Schlimm war es, wenn sich vergewaltigte Frauen oder deren Ange-hörige hilfesuchend an die Polizei wandten. Unsere diesbezüglichenMeldungen an die Kommandantur verliefen meist im Sande. Mirsind Fälle bekannt - aus anderen Bezirken -, wo Polizeiangehörige,die einer Frau zu Hilfe kommen wollten, von betrunkenen Russenerschossen wurden. Wir erhielten dann auch die Instruktionen, daßwir uns in Fälle einer Vergewaltigung nicht einzumischen hätten,sonder sie der Militärpolizei melden müßten. Eine direkte Zusam-menarbeit zwischen uns und den Russen auf unterer Ebene hat eswohl, soweit ich mich erinnere, in den Weißenseer Revieren nichtgegeben. Eine Ausnahme war wohl der Wachdienst rund um dieUhr vor der Villa eines hohen Generals in der Oberseestraße. Aufder Straße war ein kleines Schilderhaus errichtet worden; darin standder Posten und hatte aufzupassen, daß nichts passierte. Auch ichmußte dort ein paarmal einspringen.

FRAGE: Gibt es ein besonderes Erlebnis aus der Zeit Ihrer Tätig-keit bei der Polizei?

ANTWORT: Nun ja, Erlebnisse ... Im Grunde geschah immer et-was in dieser aufregenden Zeit. Am bedrückendsten empfand ich,daß wir bedrängten Frauen und Mädchen nicht helfen konnten undimmer deutlich zu spüren bekamen, wer die Herren waren.

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Ein Erlebnis ist mir in Erinnerung: Wir hatten einen jungen Kolle-gen auf dem Revier, der kam öfter in die Meldestelle und scharwen-zelte um die eine meiner Mitarbeiterinnen herum. Aber es ging ihmnicht um einen Flirt, wie wir später erfuhren. Er klaute Formulare,Vordrucke mit Stempeln usw. und benutzte sie, um sich damit vonLadenbesitzern und Firmen Gelder zu erpressen oder sich Warenanzueignen. Er gehörte zu einer der Banden, die in jenen Jahren inBerlin ihr Unwesen trieben und auch vor Mord nicht zurückschreck-ten. Es gelang dann unseren Kollegen, ihn zu überführen. Sie sperr-ten ihn in die kleine Arrestzelle auf unserem Revier. Ich glaube, ertrug da sogar noch die Uniform. Als er dann verlangte, aufs Klo zugehen, ließ man ihn heraus, und es gelang ihm, durch das offeneFenster zu entkommen. An der großen Suchaktion - mit unseremeinzigen Auto, eine, alten Adler, - über Feld- und Wiesenwege derRieselfelder und in den umliegenden Ortschaften, habe ich teilge-nommen. Sie verlief ohne Erfolg.

Nun, es gab auch in den Reihen der Polizei schwarze Schafe. Sogelang es mitunter ehemaligen KZ-Häftlingen, die man dort als Kri-minelle geführt hatte, sich als Polizisten auszugeben und in einfluß-reiche Positionen zu kommen. Aber Hunger und Entbehrungen injener Zeit führten auch manch einen anderen zu unrechten Handlun-gen. Ich erinnere mich, wie es bei mir und auch bei meinen Kolle-gen aus der Meldestelle und der Wachstube immer zu kribbeln be-gann, wenn der Duft amerikanischer Zigaretten aus dem Oberge-schoß zu uns drang. Oben saßen die Leute von der Kripo. Es bliebdann auch nicht lange verborgen, woher sie sich diese damals kaumerreichbaren Genüsse verschaffen konnten. Sie ließen sich von Ge-werbetreibenden dafür bezahlen, daß sie wegschauten, wenn jenean den Verordnungen vorbeimanipulierten. Der Leiter der Kripowurde darauf abgesetzt. Bestechungen, Schiebungen und auch dasVerheimlichen ehemals nazistischer Verbrechen - davon war wohlkeine damalige Dienststelle oder Behörde frei.

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FRAGE: In der Zeit nach dem Krieg waren Sie doch immer nochAnarchist und haben diese Ideen weiterhin verfolgt. Stand dies nichtim Widerspruch zu Ihrem Eintritt in die Polizei - und in die KPDund damit insgesamt zu Ihrem Engagement für eine neue Diktatur?

ANTWORT: Mit diesem Widerspruch mußte ich leben. Das habenmir manche Leute oft zum Vorwurf gemacht - und ich meine Heute:mit Recht. Ich würde heute, mit meinen heutigen Erkenntnissen nichtmehr so handeln. Das sei vorausgeschickt. Aber wie war die Situa-tion damals?

Für meine Entscheidung damals gab es ein paar Motivationen. Mei-ne als Jugendlicher entwickelte Neigung zu den Ideen des Anar-chismus blieb auch während der Nazizeit bestehen. Es gab dann al-lerdings einen Sondierungs - und Analyseprozeß, als ich in Minskwährend der Bewachung u.a. einer großen Bibliothek Zugang zuWerken von Marx, Engels. Lenin hatte. Ich versuchte nun aus derenThesen und den mir bekannten Theorien Bakunins, Kropotkins,Landauers u.a. die für mich gültige Weltanschauung herauszukri-stallisieren. Ja, mir schwebte kurze Zeit mal eine Art Verbindungvon beiden Systemen vor und da war ich bereit, sogar die Diktaturdes Proletariats als revolutionäres Mittel in Kauf zu nehmen. Ichfolgte damit dem Weg Erich Mühsams - eines meiner Vorbilder -,der sich jedoch als ein Irrweg erwies. Ich hatte also keine Berüh-rungsängste mit marxistischen Ideen und auch nicht mit deren Trä-gern. Ich hatte mit Kommunisten Seite an Seite gestanden, um ge-gen faschistischen Ungeist anzugehen; trotz mitunter heftiger poli-tischer Auseinandersetzungen - immer unter der Erkenntnis: Haupt-feind ist das Hitler-Regime! Kommunisten waren auch meine Ver-bündeten in der Wachmannschaft im Lager sowjetischer Kriegsge-fangener, wo wir versuchten, das Leid dieser Menschen zu lindernund die Verbrechen an ihnen ans Licht der Öffentlichkeit zu brin-gen. Ich jener Zeit hatten weltanschauliche Differenzen zurückzu-stehen. So bitter und für junge Leute heute unverständlich dies auch

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war - so zum Beispiel, als ich von den Verbrechen Stalins in denJahren 1936-1938 und später von der verderblichen Kumpanei zwi-schen Stalin und Hitler bei der Unterdrückung Polens erfahren hat-te. Es war schon erschütternd für mich, damals als Arbeitsdienstlei-ter und Bausoldat beim Einmarsch in Polen, mit ansehen zu müs-sen, wie sowjetische Flugzeuge Bomben auf polnische Zivilistenabwarfen!

Dieser Schulterschluß mit Kommunisten - auch von Erich Mühsamals legitimes Kampfmittel gegen reaktionäre Verbrechen proklamiert- haftete mir noch an, als der Krieg zu Ende war. Und wo waren dieAnarchisten? Meine ehemaligen Genossen waren in alle Winde zer-stoben; nur mit zweien hatte ich noch Kontakt. Zwar lebte die anar-chistische Weltanschauung, aber die anarchistische Bewegung wartot - in jenen Tagen, als zwar die Waffen schwiegen, aber die Trüm-mer noch rauchten. So kam es bei uns zu einer gewissen Orientie-rungslosigkeit: Der eine befaßte sich mit Auswanderungsplänen, derandere zog sich in sein Innenleben zurück. Und ich? Ich fühlte mich,nachdem die ersten nach Hohenschönhausen stürmenden Rotarmi-sten auch in unsere Keller gestürmt waren, nicht nur von meinerUhr befreit. Der Nazi-Spuk war vorbei; endlich wieder frei durchat-men. Das war meine erste Reaktion. Die Freude darüber, die welt-geschichtliche Katastrophe überlebt zu haben, verdeckte erst malalles andere, auch die Untaten der Befreier. Der nächste Gedankewar: Um mich herum ist alles kaputt. Wenn ich nicht verhungernwill, muß ich etwas tun. Und da soziales Denken bereits in meineKinderstube Einzug gehalten hatte, übertrug ich diese Gedanken auchauf meine Nebenmenschen. Ich mußte mithelfen, den Schutt zu be-seitigen - auch den ideologischen in den Köpfen so mancher Leute,die durch die Nazi-Schulen gegangen sind. Ich dachte: Selbst unterder Stalin-Diktatur wird es möglich sein, etwas Neues aufzubauen.Und da sah ich in der nun wieder zugelassenen KPD den einzigenfür mich in Frage kommenden Partner. Politisches Denken und Han-deln war ja Teil meiner Jugend gewesen. Und meiner Erziehung im

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Elternhaus und Schule und in der libertären Jugendgruppe.* Daßich nun also wieder mitmachen wollte, war ja nur folgerichtig.

Diesen Motiven entsprang auch der Entschluß, in die Polizei einzu-treten. Gewiß, ein Widerspruch, sich als Pazifist und antiautoritärerDenkender einer halbmilitärischen Institution unterzuordnen. Abermir schien diese Polizei damals ein Garant zu sein für eine Ordnungzum Wohle der Menschen. Und für die gerechte Bestrafung derer,die damals so viel Unheil über ihre Mitbürger gebracht hatten undsich nun in ihren Schlupfwinkeln verbargen.

Noch ein persönlicher Faktor war maßgebend: Ich war, als der Kriegzu Ende war, auch beruflich ziemlich orientierungslos. Aus der Karl-Marx-Schule* * war ich 1933 rausgeflogen, hatte also kein Abitur,der zweite Anlauf, ein Elektroingenieur-Studium, wurde durch mei-ne Einberufung zum Arbeitsdienst vereitelt; statt dessen bestand dannmeine Ausbildung im Bedienen von Geschützen, Gewehren undFunkgeräten, in Gefechtsübungen und Kilometermärschen. Seit 1943bis Kriegsende hatte ich dann zwar weiter im Physiklabor von Sie-mens-Plania gearbeitet, aber an ein Studium war in diesen Zeitennicht zu denken. Ich mußte also wie bisher mein Wissen mit autodi-daktischen Studien zu bereichern versuchen. In dieser Situation sahich also in der Polizei so eine Art Basis zum beruflichen Start. Lie-ber wäre mir schon damals eine Funktion im Verlags- oder Presse-wesen gewesen, aber ich fand dort keinen Zugang. Ich versuchte esauch nicht, weil ich meine Fähigkeiten nicht einschätzen konnte.Mit waren meine Mängel, verursacht durch die abgebrochene Schul-

** Karl-Marx-Schule, eine von dem sozialdemokratischen Schulreformer FritzKarsen in Berlin-Neukölln gegründete Schule, in der nach relativ freiheitlichenMethoden gelehrt wurde. In angegliederten Aufbauklassen konnte das Abitur er-worben werden. Mit Anbruch der Nazi-Herrschaft wurde die Schule gleichge-schaltet.

* Damit meint Herr Wafner die von der anarchosyndikalistischen »Freien Arbei-ter-Union Deutschlands« (FAUD) betreute »Freie Arbeiter-Jugend« (FAJ).

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bildung, bewußt. Allerdings sah ich im Polizeidienst schon bald nureine Übergangssituation, und mir war klar, daß ich mich - nun schonfast dreißig Jahre, noch einmal auf die Schulbank setzen mußte. Ichstudierte dann drei Jahre an der Büchereischule Berlin, wurde Bi-bliothekar und später Leiter der Volksbücherei Weißensee.

FRAGE: Sie sind nach der Vereinigung von KPD und SPD auchMitglied der SED geworden. Wie lange konnten Sie als Anarchistdort bleiben?

ANTWORT: Ja, ich wurde mehr oder weniger übernommen; aller-dings war ein neuer Antrag nötig. Das geschah, als ich gerade diePolizeischule beendete - ich glaube im Sommer 1946. Zu dieser Zeithatte meine Aversion gegen die verschiedenen Spielarten der Stalin-Diktatur zumindest keine neue Nahrung bekommen, und ichschwamm also weiter in dem recht trüben Gewässer der sowjeti-schen Kolonialisierungs-Politik, vom Gatter der Parteidisziplin amAbbiegen in Seitenwege gehindert. Im Januar 1946 war ich von derPolizei zu einem Lehrgang an der KPD-Parteischule in Karolinen-hof delegiert worden. Zu den Dozenten gehörte auch Wolfgang Le-onhard, der mit der Ulbricht-Gruppe aus der Sowjetunion gekom-men war. Auf Seminaren sprach er noch sehr überzeugend von ei-nem Sozialismus auf deutschem Boden. Interessant ist, daß dieserMensch, der dann später als Abtrünniger von ehemaligen Genossenverfemt wurde, ähnliche Denk- und Tätigkeitsprozesse durchmach-te wie ich. Ein sehr anschauliches Bild über die politische Situationder ersten Nachkriegsjahre vermittelt Leonhard in seinem Bestseller»Die Revolution entläßt ihre Kinder«.

Ich entfernte mich dann immer weiter von meinem Grundsatz derKompromißbereitschaft. Das geschah vor allem während der Studi-enzeit 1947 bis 1949, als die Ausführungen Stalins und seiner Nach-beter zum Gesetz erhoben wurden, als Kritik an den Thesen vonMarx und Engels einem Verbrechen gleich kam und als die Ein-schätzung von Literatur innerhalb dieses inquisitorischen Rahmens

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zu geschehen hatte. Wohltuend war dann immer, wenn ich in derBeurteilung sozialkritischer oder antifaschistischer Bücher die glei-chen Worte fand wie die vom Stalinismus infizierten Lehrer undLehrerinnen. Besondere erdrückend war dann der Ton der Dozentennach der Gründung der DDR, mit der die Spaltung auch der Büche-reischule einherging. Nun wurde mit allen Andersdenkenden, Ab-weichlern und Klassenfeinden besonders hart ins Gericht gegangen.Ich bekam das zu spüren, als man meine Diplomarbeit kritisierte,weil ich es wagte, gegen militaristische Attitüden sowjetischer Päd-agogen Stellung zu beziehen und statt dessen den anarchistischenSchulreformer Francesco Ferrer* zur Lektüre empfahl.

Der Bruch mit dem Befehlsempfängern der ZK-Funktionäre weite-te sich immer mehr aus, je mehr Gängelei und Bevormundung Zu-nahmen. Darunter litt ich besonders als Leiter der VolksbibliothekWeißensee. Ich war dem Amt für Büchereiwesen innerhalb des Ra-tes des Stadtbezirkes unterstellt. Von dort aus gab es verschiedeneBevormundungen literarischer Art. So hatte ich einmal heftige Aus-einandersetzungen mit der Amtsleiterin, weil ich Bücher des vonmir sehr geschätzten amerikanischen Autors Upton Sinclair* * fürden Bestand einkaufte. Dieser Mann wäre ja zum Klassenfeind über-gelaufen, und ich sei ja wohl auch insgeheim ein Abtrünniger, einRevisionist, wenn ich solche Literatur unter die ehrliche Arbeiter-schaft bringen wolle. Noch verteidigte ich mich mit dem Hinweis,nicht Dogmatismus, sondern Weltoffenheit sei eine Wesensart kom-munistischer Gesinnung, und man müsse den Lesern zugestehen,sich eine eigene Meinung zu bilden ....

* Francisco Ferrer (1859-1909) spanischer anarchistischer Pädagoge; trat für einefreiheitliche antiautoritäre und antireligiöse Erziehung ein. Wurde hingerichtet.Sein Hauptwerk: »Die moderne Schule«, Verlag Der Syndikalist, 1923

** Upton Sinclair (1878-1968) amerikanischer Schriftsteller, dessen Werke in-folge der Formalismus-Debatte von der SED ab 1948 als antikommunistisch undpornografisch verunglimpft wurden.

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Es gab in dieser Zeit in der SED mehrere Abweichler, Menschen,die sich dem Druck der Parteidisziplin, des Dogmatismus nicht län-ger beugen wollten und dieses Feld verließen. Einige gingen in denWesten und schworen der libertären Idee gänzlich ab, andere blie-ben in der DDR, zogen sich entweder gänzlich von der politischenArbeit zurück oder versuchten, Fesseln zu sprengen, den starren Par-teiapparat zu demokratisieren, zu liberalisieren. Ich gehörte zu denwenigen, die die Partei verließen und dennoch im Osten blieben.Das Faß meiner Duldsamkeit war im Grunde schon voll, aber einTropfen brachte es zum Überlaufen:

Ich gehörte noch der SED an, hatte aber wieder Kontakt aufgenom-men zu einer kleinen Gruppe alter Anarchisten, die in einem Schön-eberger Lokal tagte. Einige dieser Genossen kannte ich von früherund so waren diese Begegnungen für mich erfrischend und bele-bend. In diesem Kreis bekam ich die »Die Freie Gesellschaft« in dieHände, eine in der Bundesrepublik erscheinende anarchistische Zeit-schrift und Publikationen des gleichnamigen Verlages. Eine gab mirbesonderen Anstoß, aus der Partei auszutreten: Die Broschüre desmir von früher bekannten Rudolf Rocker »Der Leidensweg vonZensel Mühsam«. Erstmalig erfuhr ich darin, wie grausam unmensch-lich die Stalin-Machthaber dieser Frau, der Witwe des auch in derDDR verehrten Revolutionärs, mitgespielt hatten. Diesem Menschen,der in der Sowjetunion vor den Nazis Schutz gesucht hatte und derdann selbst in sibirischen Straflagern eingepfercht wurde und umein Haar der Auslieferung an die Gestapo entgangen ist. Einer Par-tei, die das schweigend duldete, wollte ich nicht länger angehören.Am 17. Januar 1950 erklärte ich meinen Austritt. Da ein Austrittüberheblicherweise nicht anerkannt wurde, wurde ich »wegen Ver-stoßes gegen die Parteidisziplin« aus der SED ausgeschlossen.

FRAGE: Welche Folgen hatte dieser Ausschluß für Sie?

ANTWORT: Natürlich war es erstmal mit meiner beruflichen Ent-wicklung vorbei. Ich bin dann ja aus meiner Arbeitsstelle - Bezirks-

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amt Weißensse - wie man so sagt: »gegangen worden«. Bemühun-gen um eine andere Arbeit - ich versuchte es in verschiedenen Ver-lagen und Redaktionen - waren erfolglos. Drei Monate lang bestraf-te man mich damit, daß man mir einen Arbeitsplatz verweigerte -und das in einer Zeit, als man überall Kräfte suchte. Oft geschah es,daß man bei meiner persönlichen Bewerbung ganz freudig reagierteund mir sogar schon einen Arbeitsplatz zuwies. Wollte ich dann amnächsten Tag beginnen, hieß es: »Leider mußten wir uns anders ent-scheiden. Die Stelle ist schon besetzt.« Im April 1950 hielt man michseitens der Parteileitung offenbar für genug bestraft. Der VerlagKultur und Fortschritt stellte mich als Chef vom Dienst der Zeit-schrift »Sowjetwissenschaft« ein. Da es mir aber dort und späterauch in anderen Verlagen und Redaktionen schwer fiel, mich derdogmatischen Kulturpolitik des SED-Regimes anzupassen, gerietich oft in eine ähnliche Lage, die »eine positive berufliche Weiter-entwicklung« verhinderte.

FRAGE: Haben Sie nie daran gedacht, in den Westen zu gehen?

ANTWORT: Gedacht habe ich daran öfter. So zum Beispiel 1958,als man mich im Verlag Volk und Wissen als Chef der »Romanzei-tung« wegen »politischer Fehlentscheidungen« abgesetzt hatte. Darieten mir gutwillige Kollegen, mich beim Westberliner Springer-Verlag zu melden, der gerade im Aufbau begriffen war. Ich tat esnicht. Ich blieb im Osten. In einem Land, in dem man ehemaligenNazi-Bonzen und Kriegsverbrechern zu Amt und Würden verhalf,in dem man in Schulen die Untaten der Deutschen verharmloste undganz offiziell revanchistische Töne anschlug, wollte ich nicht arbei-ten.

Es war schwer, zu den Unangepaßten zu gehören, zu den Querden-kern - zum Schwimmen gegen den Strom gehören Kraft und Aus-dauer -, aber ich bereue es nicht.

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Befehl zur Schaffung der Polizei