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Eva Sixt - Peter Morsbach " Oder wachsen Ihn en die Knöpf e über den Kopf? " (Ilse Aichinger) Zur Ne ue inr ichtung des D eutschen Kn op fmu seums in Bä rna u "Sehen Sie, man muss ihn ja haben, den Kragenknopf, man ist ja dir ekt darauf ange wiesen, auf den Kragen- knopf! Wenn man bedenkt, was an einem Kragen- knopf alles dranhängt: der Kragen, die H emdbrust, die Krawatte usw. Bitte, stellen Sie sich mal einen Mann ohne Kragenknopf vor, wie der daherkommt! Was nützt da ein feiner Zylinder, wenn man k ein en Kragenknopf hat? Rutscht ja alles herunter!" Kar! Valentin, Kragenknopf und Uhren z eiger Meistens erntet man erst einmal einen verständnis- losen Blick, wenn die Rede auf Bärnau kommt, ehe- dem eines der großen Zentren der deutschen Knopf- herste llung, eine Stadt, aus der im Laufe der Jahre Milliarden von Knöpfen ihren Weg an Blusen, Hem- den, Mäntel, Hosen oder sonstige Kleidungsstücke in aller Herren Länder fanden. Die meisten - sogar Oberpfälzer - verwec hseln Bärna u mit Bernau in Brandenburg oder Bernau am Chiemsee, seltener jedoch (dies ist allerdings kein großer Trost) mit Bernau im Schwarzwald. Un d wenn man dann noch zugibt, in Bärnau das Deutsche Knopfmuseum neu eingerichtet zu haben, schmunzelt der Gegenüber. Warum eigentlich? Was ist so amüsant an einem Knopf? Ist es nicht ein Gegenstand, der uns unser ganzes Leben begleitet, wör tlich von der Wiege bis zur Bahre? Ist es nicht der Gegenstand, dessen Fehlen, wenn er einmal abgerissen ist, schrecklich pein lich ist, weil sein Verlust aus der nob len un d ele- ganten Erscheinung eines Menschen etwas ausgespro- chen Nach lässiges macht? Dies gilt noch immer, auch im Zeitalter des Reißverschlusses und des Klett- band es, zweier praktischer, aber ganz und gar unan- - sehnlicher Erfindungen zum Kleidungsverschluss, die !liemals Zier sein können, wie dies der Kno pf scho n Immer war. Der Knopf spielte im Laufe seiner Jahrtausende alten Entwicklung eine wichtige Rolle in der Kultur des Menschen. Seine Blütezeit setzte bei uns im ausgehenden 13. Jahrhundert ein, als er infolge der Kreuzzüge wieder nach Europa kam. Als Beute brach- ten die Kreuzritter Gewänder mit neuen Schnittrech- niken, die die gesamte europäische Mode erneuerten: Der körpergerechte Kleiderschnitt löste gewickelte Stoffbahn ab, was gegenüber Fibel, N adel un d Agraffe eine neue Verschlusslösung erforderte. Mit der Er- findung des Knopflochs im 14.Jahrhundert brach eine regelrechte Knopfmanie aus. Der Adel und das gehobene Bürgertum trugen Knöpfe aus Edelmetal- len und Edelsteinen in großer Zahl dicht an dicht gereiht als kostbaren Besat z, der die Verschnü- rung - zumindest bei der Frauenkleidung - aber kei- neswegs ent behrlich machte. Manche Gewänder waren mit fünf bis sechs Schock Knöpfen ausgestattet (ein Schock entspricht 60 Knöpfen). Mit Kleiderord- nungen versuchte die Obrigkeit aus sittlich-morali- schen und religiösen Grü nden dieser Art von Luxus Einhalt zu gebieten. Mit den graphischen Druck techniken (Ho lz- schnitt, Kupferstich, Buchdruck) entwickelten sich im 15. Jahrhundert Arbeitsverfahren zur serienmäßi- gen Pro duktion von Schmuckgegenständen. Eine bescheidene Spezia lisierung der Handwer ker ging damit einher; vor allem der Metallknopfmacher (Gürtler) bediente sich immer fortgeschrittenerer Techniken. Er k onnt e seinen Werkstoff schmieden, 221

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Eva Sixt - Peter Morsbach

" Oder wachsen Ihnen die Knöpfe über den Kopf? "(Ilse Aichinger)

Zur Neue inrichtu ng des D eutsch en Knop fmuseums in Bärnau

"Sehen Sie, man muss ihn ja haben, den Kragenknopf,man ist ja direkt darauf angewiesen, auf den Kragen­knopf! Wenn man bedenkt, was an einem Kragen ­knopf alles dran hängt: der Kragen, die H emdbrust,die Krawatte usw. Bitte, stellen Sie sich ma l einenMann ohn e Kragenknopf v or, w ie der daherkommt!Was nützt da ein feiner Zylinder, w enn man k einenKragenknopf hat? Rutscht ja alles herunter!"

Kar! Valentin, Kragenknopf und Uhren zeiger

Meistens erntet man erst einmal einen verständnis­losen Blick, wenn die Rede auf Bärnau kommt, ehe­dem eines der große n Zentre n der deutschen Knopf­herste llung, eine Stadt, aus der im Laufe der JahreMilliarden von Knöpfen ihren Weg an Blusen, Hem­den, Mäntel, Hosen oder sonstige Kleidungsstücke inaller Herren Länder fanden . Die meisten - sogarOberpfälzer - verwechseln Bärnau mit Bernau inBrandenburg oder Bernau am Chiemsee, seltenerjedoch (dies ist allerdings kein großer Tros t) mitBernau im Schwarzwald. Und wenn man dann nochzugibt, in Bärnau das Deutsche Knopfmuseum neueingerichtet zu haben, schmunzelt der Gegenüber.Warum eigentlich? Was ist so amüsant an einemKnopf? Ist es nicht ein Gegenstand, der uns unserganzes Leben begleitet, wörtlich von der Wiege biszur Bahre? Ist es nicht der Gege nstand, dessenFehlen, wenn er einmal abgerissen ist, schreck lichpein lich ist, weil sein Verlust aus der nob len und ele­ganten Erscheinung eines Menschen etwas ausgespro­chen Nachlässiges macht? Dies gilt noch immer,auch im Zeitalter des Reißverschlusses und des Klett ­band es, zweier praktischer, aber ganz und gar un an-

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sehnlicher Erfindungen zum Kleidungsverschluss, die!liemals Zier sein können, wie dies der Kno pf scho nImmer war.

Der Knopf spiel te im Laufe seiner Jahrtausendealten Entwicklung eine wichtige Rolle in der Kulturdes Mensc hen. Seine Blütezeit setzte bei uns imausgehenden 13. Jahrhundert ein, als er info lge derKreuzzüge wieder nach Europa kam. Als Beute brach­ten die Kreuzritter Gewä nder mit neuen Schni ttrech ­niken, die die gesamte europäische Mode erneuerten:Der körpergerecht e Kleiderschnitt löste gewickelteStoffbahn ab, was gegenüber Fibel, N adel und Agraffeeine neue Verschlusslösung erforderte. Mit der Er­findung des Knopflochs im 14. Jahrhundert bracheine regelrechte Knopfmanie aus. Der Ade l und dasgehobene Bürgertum trugen Knöpfe aus Edelmetal­len und Edelsteinen in großer Zah l dich t an dichtgerei ht als kos tbaren Besat z, der die Verschnü­rung - zumindest bei der Frauenkleidung - aber kei­neswegs ent behrlich machte. Manche Gewänderwaren mit fünf bis sechs Schock Knöpfen ausgestattet(ein Schock entspricht 60 Knöpfen). Mit Kleiderord­nungen versuchte die Obrigkeit aus sittlich-morali­schen und religiösen Gründen dieser Art von LuxusEinhalt zu gebieten.

Mit den graphisc hen Drucktechniken (Holz­schnitt, Kupferstich, Buchdruck) entwickelten sichim 15. Jahrhundert Ar beitsverfahren zur serienmäßi­gen Produk tion von Schmuckgegenständen . Einebescheidene Spezia lisierung der Handwerker gingdamit einher; vor allem der Metallknopfmacher(Gürtler) bediente sich immer fortgeschrittenererTechniken. Er konnte seinen Werkstoff schmieden,

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D eutsches Knopfmuseum Bärnau - Schauraum im O bergeschoss vor der N eugestaltung

gießen, treiben und ziselieren. Weil die Steinschneide­kunst erst einige wenige Schliffsorten beherrschte ­abgesehen vom Gemmen- oder Kameenschnitt ­wurde der Fassung der Steine mehr Mühe undAufmerksamkeit geschenkt als den Edelsteinen selbst.Neben dem Gürtler und dem Steinschneider obla gdie Herstellung von Knöpfen auch dem Posarnen­tierer, dem Seidenknopfmacher, der die Holzrohlinge,

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die er vom Formenknopfmacher bezog, mit Stoffenbespannte und verzierte.

Nach einer gewissen Verbürgerlichung im 15.Jahr­hundert wurde der Knopf in der Renaissance wie­der zum Statussymbol für Reichtum und Ans ehendes Trägers. Kostümgeschichtliche Abhandlungenberichten von Knöpfen aus Diamanten, Rubinen undPerlen. Das Aufkommen der sogenannten Hackmode

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im 16.Jahrhundert (Ärmel wie Hosen wurden längsaufgeschlitzt und mit anderen Stoffen unterlegt; dieseSchlitze schloss man durch Heftlein oder Knöpfe)förderte den Einsatz von Knöpfen. Wenn im16.Jahrhundert Spanien nach der Entdeckung Ame­rikas und der Errichtung eines Kolonialreichs zueiner politischen Großmacht aufgestiegen, die auchauf dem Gebiet der Mode in Europa die Führungübernahm, so wurde ein Jahrhundert später zu ZeitenLudwigs XlV. (1661- 1715) die französische Mode zurWeltmode. Mode bedeutete ja zumeist nichts anderesals die am Hofe getragene Kleidung. Der sogenannte"Juste-au-corps", ein eng anliegender Rock, aus demUniformrock des Soldaten entstanden, und die dar­unter getragene "Weste" erforderten viele Knöpfe.Während der Adel und die höheren Stände ihrenReichtum solcherart zur Schau stellten, war bei denniederen Ständen das Tragen von Silber- und Gold­schmuck noch immer unter Strafe gestellt. DerBarock als rauschendes theatralisches Kostümfest wareine höfische Epoche. Der einfache Mann konnteund durfte sich solchen Luxus nicht erlauben. Dasstädtische Großbürgertum hatte sich den Adel alsmodisches Vorbild genommen, der Bauern- undHandwerkerstand hingegen besann sich auf dieEntwicklung seiner eigenen Tracht, die zwar aus dervorgeschriebenen Kleiderordnung entstanden war,nichtsdestoweniger aber Ausdruck eines gewissenSelbst- und Standesbewusstseins war. Der Antrieb,eine eigene Kleidung zu schaffen, entsprang zumeinen dem wachsenden Bedürfnis, eine traditionellewie berufsmäßige Zusammengehörigkeit zu doku­mentieren, zum anderen wurde man damit demWunsch gerecht, der kostbaren Kleidung der oberenStände etwas Eigenes, Wertvolles entgegenzusetzen.Fehlende Qualität wurde mit Quantität kompensiert,Kristallknöpfe und Glasperlen ersetzten Diamanten,Kupfer-, Zinn- und Messingknöpfe zierten stattGoldknöpfen das Sonntagsgewand. Mit Materialienwie Holz, Horn und Bein, aber auch gepresstem Glasversuchte das einfache Volk Wertvolleres wiePerlmutt, Schildpatt, Porzellan, Elfenbein undEmaille zu imitieren.

Speziell an der Tracht bevorzugte man kugeligebzw. halbkugelige Knopfformen, sowie Scheiben­knöpfe, die mit einer sogenannten Grabstichel mitZeichen und Symbolen wie Sterne und Blumen oderZunftabzeichen wie Hammer und Kelle von Handgraviert wurden. Mit Erfindung der Metallbohr­maschine um 1720 konnte die Oberflächengestaltungwesentlich zeitsparender und präziser erfolgen, undder technische Fortschritt ließ auch ärmere Be­völkerungsschichten am Knopfboom des 18. Jahr­hunderts teilhaben. So waren auch Schildbuckel-,Münz- und Talerknöpfe, Filigranknöpfe sowie diesogenannten "Sautitten" Varianten des Trachten­knopfes, die durchaus als Kapitalanlage galten und impekuniären Notfall versetzt wurden.

Das 18.Jahrhundert sah die Blütezeit des Knopfes,weil es keine Gestaltungstechnik und kein Materialgab, die nicht zur Knopfherstellung herangezogenworden wären. Um 1750 stellte der StraßburgerGeorges Frederic Stras eine Diamantimitation her,die nach seinem Erfinder "Strassstein" genannt wirdund prompt und vergeblich versuchte Kaiserin MariaTheresia mit einem Erlass seine Produktion zu ver­bieten. Die Strassknöpfe traten ihren Siegeszug durchganz Europa an. Aus England stammte die Kunstdes polierten und brillantartig geschliffenen Stahl­schmucks, besonders der "Stahlpointknöpfe", die inganz Europa Verbreitung fanden. Jeder Stil, jedesMaterial - so kostbar es auch sein mochte - "demo­kratisierte" sich über kurz oder lang, ob in der Formdes Imitats oder mit Hilfe neuer industrieller Ver­vielfältigungstechniken, gleichsam als "gesunkenesKulturgut" .

Als der Knopf im 19. Jahrhundert in das Zeitalterder technischen Reproduzierbarkeit trat, verlor ervielleicht seine erlesene Aura, doch eignete er sichimmer noch als Erkennungsmerkmal: Die Her­stellung bzw. Weiterentwicklung des Metallknopfesstand in direktem Zusammenhang mit der großenNachfrage nach Militär-, Beamten- und Livree­knöpfen; was wer war und in wessen Diensten erstand, war spätestens seit der Französischen Revo­lution am Knopf erkennbar.

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Solche Metallknöpfe - auch als Niello- oderStahlpointknöpfe - waren neben Elfenbein-, Emaille­oder Porzellanknöpfen bis weit über die Mitte desJahrhunderts hinaus zumeist den Männern vorbehal­ten, die Damenmode wurde nach wie vor mit Haken,Ösen und Bändern geschneidert und nur sparsam mitKnöpfen verziert. Mit dem Aufkommen des Straßen­anzugs verschwand der schmückende Modeknopfin der Herrenbekleidung. Die Repräsentation desBesitzstandes ging von den Männern auf die Frauenüber, so dass sich die Männer- und die Frauenmodeimmer weiter auseinander entwickelten. Während dieBürger auf zeitraubende Moden verzichteten, wurdendie Kleider ihrer Frauen bis zum Ende des Jahr­hunderts immer exklusiver. Zu dieser Zeit entstandbezeichnenderweise die "Haute Couture" , die wie­derum großen Einfluss auf die Textilmassenproduk­tion gewinnen konnte, ebenso wie die "Reformbewe­gung", die Widerstand gegen die offizielle Mode zeig­te, z. B. im Kampf gegen das Korsett.

Und der Knopf? Mit Erfindung der Nähmaschineum 1850 setzte sich endgültig die Konfektions­kleidung durch. Als dann den Journalen der 1880erJahre regelmäßig Schnittmusterbögen beigelegt wur­den, entstand ein regelrechter Selbstschneider-Boom.Die Knopfindustrie erlebte wieder einmal eine Blüte­zeit. Auf der Suche nach neuen Rohstoffen besannman sich auf den Hornknopf, der bereits im 18.Jahr­hundert hergestellt worden war, nun aber ideal zurDezenz des dunklen Herrenanzugs passte. Mit Er­findung des Hartgummis 1851 durch Charles Good­year war auch der Gummiknopf geboren; äußerlichdem schwarzen Hornknopf ähnlich, wurden Hart­gummiknöpfe von den amerikanischen Soldaten wäh­rend des Bürgerkriegs (1861-65) den sonst üblichenblankpolierten Metallknöpfen vorgezogen, da sieunauffälliger waren. In Europa hingegen waren siewegen ihres Geruches weniger beliebt. Aus Englandstammten die sogenannten "Jetknöpfe", ebenfallsschwarze Knöpfe aus Gagat (fossiles Holz), die vonQueen Victoria nach dem Tod ihres Mannes Albertvon Sachsen-Coburg im Jahr 1861 als "Trauer­knöpfe" eingeführt und prompt modisch wurden. Als

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Imitation aus schwarzem Glas wurden sie vor allemim böhmischen Gablonz (jablonec) gefertigt.

Der Glasknopf war gegen Ende des Jahrhundertsin den verschiedensten Variationen beliebt. Im Laufedes 19.Jahrhunderts erlangte auch die Perlmutter­knopfherstellung größere Bedeutung. Obwohl schonseit dem 16.Jahrhundert bekannt, und im 18.Jahr­hundert durch die Aufnahme der Handelsbezie­hungen zum asiatischen Raum attraktiv geworden,konnte erst durch den Einsatz hölzerner Bohr­maschinen, die Erfindung des Kronbohrers und desPolierverfahrens mit Salzsäure die massenhafte Ver­arbeitung dieses Materials vorangetrieben werden.Hauptsitz der Perlmutter verarbeitenden Industriewaren Wien und Prag; von dort aus verbreitete siesich bis nach Deutschland, wo sie sich vor allem inBärnau etablierte.

Der Perlmutterknopf bekam bereits im letztenDrittel des 19.Jahrhunderts durch die Entwicklungdes ersten Kunststoffs Konkurrenz. Auf der Suchenach billigeren und vom Importhandel unabhängi­geren Materialien erfanden die amerikanischen Brü ­der Hyatt das Celluloid, dessen Bearbeitbarkeit undVerfügbarkeit Naturprodukte wie Elfenbein, Horn,Perlmutter, Holz oder Glas zu übertreffen schien.Doch erwies sich die chemische Produktion wegender Feuergefährlichkeit des Materials als nachteilig;zudem war die Beschaffung von Kampfer, das demCellulose-Nitrat zugesetzt wurde, in Kriegszeitenschwierig. Dennoch fahndete man weiter nachbrauchbaren Surrogaten. 1890 wurde das "Galalith"("Milchstein" genannt, da seine Grundsubstanz Lab­kasein aus Magermilch gewonnen wurde) entdeckt,ein Jahr später daraus das Kasein entwickelt, das sichdurch seine gute Färbbarkeit auszeichnete. Danebenkam 1900 ein dem Glas ähnliches, synthetischesMaterial namens Bakelit (nach dem belgischenChemiker Leo Baekeland) auf den Markt, das dieNaturmaterialien nach und nach in den Hintergrunddrängte.

Doch noch einmal besann sich die Knopfindustrieauf natürliche Rohstoffe. Zum einen ließen sich Posa­mentierarbeiten nun maschinell herstellen, was die

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Verbreitun g des Po sament ierknopfes förderte. MitSamt und Seide überzogene Knöpfe waren vor allemin Komb ination mit Metall sehr gefragt. Zum ande ­ren stieß man Mitte des 19. Jahrhunderts zufälli g aufeinen Rohstoff, der sich hervorragend für die Knopf­herst ellun g eignete: die Steinn uss, den Kern einerPalmenart, die in den südamerikanischen Tro penbeheimatet ist. Ursprünglich als Ballast für die fracht­losen Schiffe von Amerika nach Deutschland gelangtund do rt als unbrauchbares Abfallprodukt verschleu­dert , entdeckte ein Berliner Holzimporteur ihreTauglichkeit für das Drechslergewerbe.

In Zeiten von Rohstoffknappheit, also in Kriegs­und N achkriegszeiten, kam auch der Holzknopfwieder vermehrt in Einsatz, der vormals lediglich alsKorpus für die Posamenten- und Steinknopfmacherdient e. Wie bei der Bearbeitung anderer Materialien,führte der technische Fortschritt zu einer Vervoll­kommnung der H olzknopfherstellung. Die Zeit nachdem Ersten Weltkrieg wurde durch deren besondersph antasievolle Gestaltung zur Blütezeit des Holz­kn opfes .

Ein üb erraschendes N ebenphänomen des im19. Jahrhundert sich entwickelnden Tourismus wardie zu nehmende Popularität des Hirschhornknopfes,der, zuerst auf Region (Gebirge) und Berufssparte(Forstbeamter) beschränkt, sich zum kostspieligenMod eartikel mauserte. Der Massenproduktion warnatürliche G renzen gesetzt, was die Nachfrage bzw.ihren Wert erhöhte.

Ausschlaggebend für die Material- und Stilvielfaltzu Beginn des 20.Jahrhunderts war die Hebung desallgemeinen Lebensstandards (auch der Arbeiter­schaft). Landflucht, Großstädte und neue Berufe, wiedie des An gestellten, veränderten die Sozialstrukturenund Lebensformen. Die fortschreitende Berufstätig­keit der Frauen ebenso wie ihre sportlichen Aktivi­tät en erforderten eine körpergerechte, zweckmäßigeKleidung. Bis sich jedoch das lose herabhängende"Reformkleid" durchsetzen konnte, musste zuerst dieBluse salonfähig gemacht werden. Sie kam den Be­dürfnissen und dem Geschmack aller Schichten ent ­gegen. Da die Bluse bequemer und vielseitiger zu ver-

wenden war als ganzteilige Kleider, wurde sie zumbevorzugten Kleidungsstück berufstätiger Frauenund sie bildete eine ideale Ergänzung zum Kostüm,das inzwischen zum unentbehrlichen Bestandteilder Frauengarderobe gehörte. Und je mehr die Frauam öffentlichen Leb en teilnahm, umso meh r gewannauch der Mantel bzw. die Jacke modisch an Be­deutung. Viel Stoff für neue Knöpfe!

Ab Mitte der 1930er Jahre waren in der Knopf­industrie größte D efizite zu verzeichnen: Der Knopfhatte durch die Erfindung des Reißverschlusses(Patent 1914) Konkurrenz bekommen und es gab, wieimmer in Kriegs zeiten, Engpässe in der Rohstoff­beschaffung. Allein die Produktion von Uniform­knöpfen nahm an Bedeutung zu und wurde für dieKnopfindustrie zur überlebensnotwendigen Ein­nahmequelle. D ie Bevölkerung musste sich ohnehinnach Behelfslösun gen umsehen: In den 1940er Jahrenbastelte man Kn öpfe aus Telefondräht en, Zahn ­bürstenstielen, Zigarett enschachteln oder aus Plexi­glaskuppeln abgestürzter Flug zeuge. Recycling pur!Mit dem Wirtschaftsaufschwung seit den 1950erJahren ent stand noch einmal ein Markt für Mode­knöpfe. Naturmateriali en wie Bast, Kork, Stroh,Leder oder Bambus wur den favori siert . Knöpfe spiel­ten als Gestaltungselement wieder eine große Rolle,in den Pariser Couturierhäusern wurden eigene Kol­lektionen kreiert ("C hanelkno pf"). Di e Schnell­lebigkeit der Mode, sowie der Importhandel mit billi­geren Knöpfen stellten die heimische Kn opfindustrievor neu e Herausford erungen. Gerade in einer globa­lisierten Wirt schaft wurde die Pflege regionaler undnationaler Traditionen imm er wichtiger.

Die Entwicklunge n seit dem späten 19.Jahr­hundert sp iegeln sich in der Geschichte der BärnauerKnopfindustrie, wodurch dem Deutschen Kn opf­museum der Rang eines üb erregional bedeutsamenkulturgeschichtlichen Museums zukommt.

Als der Unternehmer Johann Müller im Jahr 1894den ersten Perlmutterknopfbetrieb in Bärnau eröffne­te, hatte er bereits einen fehlgeschlagenen Versuch imVogtland hinter sich. Dort lag durch eine fortge­schrittene Industrialisierung das Lohnniveau weit

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Schauraum imObergeschossdes DeutschenKnopfmuseums Bärnaunach der Neugestaltung

höher als in der abgelegenen Oberpfalz, wo einekleinbäuerlich-handwerkliche Struktur vorherrschte.Zwar zeigten sich die Bärnauer dem neuen Metiergegenüber voreingenommen, doch der gelernteKnopfmachermeister aus Wien konnte nach anfäng­lichen Schwierigkeiten, was die Rohstoffversorgung(lange Importwege) und die Absatzregelung (feh­lende Textilindustrie in der Oberpfalz) betraf, baldGewinne verzeichnen. Nach kurzer Zeit erfolgtenweitere Betriebsgründungen durch bisherige Mit­arbeiter, die kurzerhand Wohnräume, Scheunen oderWaschküchen zu kleinen Werkräumen umfunktio­nierten und sich mit den billig ZU erwerbenden

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Arbeitsgeräten, wie Fußtrittbohrmaschinen, Polier­geräten und kleinerem Werkzeug ausstatteten. 1909bestanden in Bärnau bereits acht Betriebe, daruntervier größere Unternehmen, die vereinzelt auchBenzinmotoren oder Dampfmaschinen einsetztenoder die Wasserkraft benutzten. Daneben gab es zweikleine Familienbetriebe und zwei Filialbetriebe ausdem benachbarten Böhmen, wo auch Müller desgünstigeren Zolls wegen Knöpfe vorarbeiten ließ (z. B.in Paulusbrunn). Trotzdem rekrutierte sich nur eingeringer Teil der Knopfarbeiter aus Bärnauern; derGroßteil waren Grenzgänger aus den nahe gelegenendeutsch-böhmischen Dörfern, was mehrere Gründe

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hatte: Die Tätigkeit in dauernd gebückter Haltung anden Maschinen, der bei der Arbeit anfallende mehligeStaub, der sich auf Kleider, Gesicht und Hände legteund die niedrigen Löhne machten eine Anstellungin der Knopffabrik alles andere als attraktiv; das"Knopfern" war bei den Einheimischen wenig ange­sehen. Bedenkt man aber, dass die Löhne derBärnauer Knopfindustrie immerhin um rund 25 %über den durchschnittlichen böhmischen Arbeits­verdiensten lagen, während die Lebenshaltungs­kosten dort um ein Drittel bis um die Hälfte niedrigerwaren, so ist es nicht verwunderlich, dass die sudeten­deutschen Pendler auch tägliche lange Fußmärschein Kauf nahmen, um in Bärnau ihr Brot zu verdienen.1909 kamen 100 von 140 Fabrikarbeitern aus demAusland.

Ein Arbeitstag dauerte von 7 Uhr morgens bis7 Uhr abends, einschließlich einer Stunde Mittags­pause und einer jeweils halbstündigen Pause am Vor­und Nachmittag. Die Frauen erledigten leichtereArbeiten, wie das Aussortieren und Annähen vonKnöpfen, die Männer standen an den Maschinen beim"Knopfdrechseln". Die Mehrzahl der in der Perl­mutterindustrie Beschäftigten waren jedoch Heim­arbeiter, davon die meisten Kinder und Frauen. ImJahr 1911 berichtet eine Erhebung des bayerischenLandesgewerbearztes von den katastrophalenWohnverhältnissen der Heimarbeiter und Heim­arbeiterinnen, bei denen in der Regel im seiben Raumgearbeitet, gekocht, gewohnt und geschlafen wurde.Ihre Einkommensverhältnisse waren schlichtwegmiserabel, und nur durch überlange Arbeitszeitenund die Mitarbeit sämtlicher Familienmitgliederkonnte das Existenzminimum gesichert werden.Zwar durften Kinder unter 12 Jahren nach demReichsgesetz von 1872 nicht mehr regelmäßig, Kinderzwischen 12 und 14 nur noch sechs Stunden täglichund Jugendliche von 14 bis 15 Jahren höchstens zehnStunden in der Zeit von halb sechs morgens bis halbneun Uhr abends beschäftigt werden, doch dieseVorschriften stießen sowohl bei der Handels- undGewerbekammer der Oberpfalz als auch bei denEltern auf Widerstand. Da die Firmenbesitzer sich

wegen dieser Schutzbestimmungen, deren Einhaltungvon Fabrikinspektoren überprüft wurde, weigerten,Kinder mit 13 Jahren in ihre Fabriken aufzunehmen,siedelte sich die Kinderarbeit im Heimgewerbe an.Die Heimarbeiter und Heimarbeiterinnen warenzumeist mit dem Lochen und Aufnähen der Knöpfebeschäftigt, wobei Ersteres entweder auf der Bankmit Fußantrieb oder auf der Maschine mit automati­scher Einstellung geschah. Die Maschinen gehörten inder Regel dem Fabrikanten, der bis zum gesetzlichenVerbot 1908 dafür auch Gebühren einzog. Ein Gros(= 144 Stück) auf der Bank gelochter Knöpfe brach­ten drei Pfennig, maschinell gelocht zwei Pfennig ein,was bei einer täglichen Leistung von ca. 35 bis40 Gros, bzw. 60 bis 70 Gros 1,05 bis 1,20 Mark, bzw.1,20 bis 1,40 Mark eintrug. Das Aufnähen der Knöpfeerfolgte auf blauen Karten bei einfacher Ware, aufSilberkarten bei hochwertiger Ware, wobei letzteremit einem halben Pfennig pro Gros besser bezahltwurden. Bei einem Tagespensum von 20 Gros (= 2880Stückl) konnte eine Aufnäherin also durchschnittlich90 Pfennig (blaue Karten), bzw. 1 Mark (Silberkarten)verdienen. In seltenen Fällen wurde auch das Drehen,Sortieren und Verpacken von Knöpfen in Heimarbeitausgeführt. Nur auf den ersten Blick ist es erstaunlich,dass es trotz dieser Verhältnisse nie zu einer gewerk­schaftlichen Organisierung der Heimarbeiterschaftkam. Die Gründe hierfür erschließen sich rasch: DieKnopfer waren völlig vom sogenannten "Zwischen­meister" (dem Bindeglied zwischen Firma und Heim­arbeiter) abhängig, zwischen den Heimarbeiternbestand eine starke Konkurrenzsituation und dieräumliche Isolierung voneinander verhinderte Ab­sprachen.

1900 betrugen die Ernährungskosten einer acht­köpfigen Familie 3,93 Mark pro Tag, dazu kamenAusgaben für Kleidung, Schuhe, Hausrat u. ä. Beidurchschnittlichen Tageslöhnen von 1,60 Mark fürMänner und 1,14 Mark für Frauen zeigt es sich, dasszwar Ledige mit ihrem Lohn zurechtgekommen seindürften, wohingegen Verheiratete auf zusätzlicheFamilienheimarbeit angewiesen waren. Ersparnissekonnten kaum angelegt werden. Der häufig schwan-

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kende Geschäftsgang bedingte darüber hinaus desöfteren Kurzarb eit und Entlassunge n. Zei tweis ekonnten die Lö hne nur mit großer Verspätung aus­bezahlt werden. Krankheit, Unfall oder Tod desH aupternährers einer Fa milie galten als ständigeBedrohung, da die gesetzliche Krankenunterstützungerst vom vierte n Tag an galt und nur in Höhe des orts­übli chen Tageslohns gewährt wurde. Zwar hatte sichdu rch die Bismarcksche Sozialgesetzgebung (1883Kra nkenversicherung, 1884 Unfallvers icherung, 1889Alte rs- und Invalidenversicherung) die Lage de rArbeitersc haft insgesa mt verbessert, doc h bedingtdurch mangelhafte Ernä hr ung, erschö pfende Arbeitund fehl end e H ygiene waren die Ster blichkeitsratenaußergewö hnlich hoch.

In den Jahresbericht en der oberpfä lzischen Be­zirksä rz te wird um die Jahrhundertwende immerwieder Tuberkulose als häufigste Todesursache undals Fo lge der miserablen Arbeitsbedingungen ge­nannt. In w ieweit der bei der Perlmutterknopf­herstellung anfallende Staub, dem die Arbeiter tagtäg­lich ausgeliefert waren, zur Tbc-E rkrankung beit rug,kann nu r ver mutet wer den; anzune hmen ist einehöhere T bc -A nfä llig kei t durch den chronische nReizzus tand der Lunge. Schlimmer wogen vielleichtdie of t auft retenden Rü cken- und Wirbelsäulen­schmerzen der Arbeiter, die durc h eine einse itigeBelastu ng des Gele nk- und Muskelapparats beimimmer gleichen Ausführen de rselben Handgriffe, wiedem Ausbohren der Rondelle, begünstigt wurden.Als weitere gesund heitsbeeinträchtigende Faktorengalten der überm äßige Bier- und Zigarettenkonsum .Es gibt zeitgenössische Schätzungen, wonach etwaein Vierte l des Arb eiterlohns für Bier ausgege benwurde, das nicht nu r Rauschmittel, sondern auchNahrungs- und Stärkungsmitt el wa r. De r Tabak­konsum entzog den geringen Haushaltsbudgets wei­tere finanzielle Mittel, die anderweitig dringendbenötigt worden wären.

Staatl ich e G eset zgebungswerke, kommunale,kirchliche und gew erkschaftlic he sozialpolitis cheMaßnahmen versuchten diese Misss tände zu beheben.D ie wichtigste Einrichtung war das Kassenwesen.

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D aneben ste llte vor allem die staatlic he Fabrik­inspektion ein teilwei se effizient es Kon trollo rgan dar.Mit der anvisiert en Verbesseru ng der Arbeitsbedin­gungen versuchte die Regierung sowohl der gefürch­teten politischen Radik alisierung der Arbeiterschaftentgegenzuwirken als auch ihre Produktivkraft ausökonomischen Gründen zu erhalten bzw. zu steigern .Die strikte Einhaltung der Gebote zur Arbeitsp latz­verbesserung kann jedoch bezweifelt werden, denn inden folgenden Jahren wiederholten sich Beansta n­dungen übe r mangelnden Luftraum, fehlende Staub­sauganlagen, unzulängliche san itäre Einrichtu ngenund defizit äre Hygiene. Die Reakti on en seitens derU nte rne hmer waren unterschiedlich; eine Vergröße­rung der Arbeitsrä ume konnten oder wo llten sie oftfinanzie ll nicht bewerk stelligen, kleinere Investitio­nen, wie die Bere itstellung von Waschvorrichtu ngenund Toiletten, versch ließbaren Kleidersc hränken undStaubabsauggeräten wurden in der Regel getätigt,Arbeitsbücher, die über Arbeitszei ten Aus kunftgaben, wurden angelegt. Die Konkurrenzs ituationunt er den Fab rikanten ließ sie das Inspektio nswesenaber auch gelegen tlich ausnutzen: im Zweifelsfalldenunziert e man den benachbarten Untern ehm er.

1920 trat die Gemeinde Bärnau dem "Verein zurBekämpfung der Tub erkulose" bei, der in Donaustaufbei Regensbu rg eine Heilstätte für Lungenkrankeerr ichten ließ. In den Fabriken wurde verstärkt Auf­kläru ngsarbeit über die En tstehung von Tbc geleistet,die Arbeiter wurden ange halte n, ihre Freizeit an derfrischen Luft zu verbr ingen, reichlich Wasser zu trin­ken un d ein solides Leben zu führen. Das wei tgehendunter kirc hlichem Protekto rat stehende Vereinswesenbekam Ko nkurrenz durch eine organisato risch eigen­ständige Arbeiterkultur. Die zahlreichen Aktivitätender Turn-, Rad- und Gesangsvereine zeugen von einervitalen Kulturszene im Amtsbezirk Tirschenr eut h.Au ch Versamm lungen der Sozialdemokratischen Par­tei fanden in Bärnau und Umgebung große Resonanz.

Trot z alledem änderte n sich die wirtschaftlichenVerhältnisse in Bärnau bis 1939 we nig: Seit der Jahr­hundert wende nahm die Bevö lkeru ngszahl lediglichum 200 zu, die Geburten ko nnt en die Abwande-

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rungen kaum ausgleichen. Auch der Anschluss an dasEisenbahnnetz im Jahr 1903 hatte nicht den erhofftenAufschwung zur Folge. Zwar kamen einige Knopf­erzeuger zu Haus- und Grundbesitz, was dieSonderstellung der Knopfindustrie innerhalb Bärnausunterstreicht, doch kein einziger Knopfarbeitererlangte Wohlstand. Die negativen Auswirkungen derGrenzlage betrafen auch umliegende Ortschaften, wiePlößberg, Waidhaus oder Pleystein.

Den entscheidenden Wandel der Verhältnisse inBärnau brachten die Folgen des Zweiten Weltkriegs .Der plötzliche Zustrom einiger hundert Flüchtlinge(ein Viertel der damaligen Bevölkerung) und vorallem die totale Abriegelung des Ostblocks beein­flussten seine Entwicklung nachhaltig. Durch daszwangsläufige Verebben des Grenzgängerstromes ausdem ehemaligen Böhmen und durch die allgemeinsich verändernde Wirtschaftslage erlangte die Knopf­industrie in Bärnau enorme Bedeutung.

Bereits im Sommer 1945 wurde die Knopfproduk­tion wieder aufgenommen. In Ermangelung vonPerlmutter griff man auf Holz, Horn, Plexiglas,Bakelit oder sogar heimische Flussmuscheln zurück.Als 1949 Devisen für die Rohstoffbeschaffung bereitstanden, fanden die Perlmutterknöpfe reißendenAbsatz. Diese auch durch Einfuhrbeschränkungenerwirkte Hochkonjunktur löste eine Welle vonBetriebsneugründungen aus, war doch der technischeund räumliche Aufwand hierfür immer noch gering:Ein Startkapital von einigen hundert DM ermög­lichte es bereits, selbständiger Unternehmer zu wer­den. Die Nachfrage nach Arbeitskräften dehnte dasPendlereinzugsgebiet auf den gesamten Landkreisaus, wo in Folge auch eigene Knopfbetriebe, vorallem in Tirschenreuth, entstanden.

Den Höchststand erreichte die Zahl der BärnauerKnopfbetriebe im Jahr 1954, in dem allein in der Stadt45 Fertigungsstätten, im übrigen Kreisgebiet wei­tere 31 Unternehmen ansässig waren. Zwar gab esdrei Jahre zuvor durch Devisenknappheit bedingteRohstoffbeschaffungsschwierigkeiten, doch gelang esimmer wieder, größere Knopfimporte zu verhindernund Schutzbestimmungen für die Knopfindustrie

durchzusetzen. 1955 wurde in Bärnau durch MarcelHermann eine Fachschule gegründet, unter anderemfinanziert von 17 heimischen Großbetrieben. Gleich­zeitig fand in Bärnau alljährlich die InternationaleMesse der Knopfbranche (IKNOFA) statt, was diekleine Knopfmacherstadt stark ins Zentrum rückte.

Mit der fortschreitenden Liberalisierung desHandels nahm der Druck durch die billigere auslän­dische Konkurrenz zu. Man reagierte mit Speziali­sierung auf Modeknöpfe (statt .der herkömmlichen"Stapelware"), die allerdings auch erhöhte Anfor­derungen an Material, Geschick und technischesGerät stellte. Die Entwicklung des Polyesterkunst­harzes, das durchaus perlmutterartige Eigenschaftenbesaß, ermöglichte die Vollautornation der meistenArbeitsgänge. In diesem Zusammenhang verändertesich sowohl die Betriebs- als auch die Beschäftigungs­struktur: Nur ein geringer Teil der Unternehmenkonnte die hohen Investitionskosten einer solchentechnischen U mrüsrung aufbringen. ZahlreicheFamilien- und Kleinbetriebe mussten ihre Arbeiteinstellen. Zugleich änderte sich das Verhältnis vonMänner- und Frauenarbeit; waren vor dem Kriegrund zwei Drittel der Belegschaft männlich, so über­wogen 1958 die Frauen im gleichen Verhältnis.Bislang hauptsächlich von Männern ausführbareArbeitsgänge wurden erleichtert, typische Frauen­arbeiten wie das Sortieren und Aufnähen von fertigenKnöpfen nahmen bei wachsenden Produktionszahlenzu. Darüber hinaus sank die Zahl der Betriebsarbeiterin Folge der Automatisierung vieler Arbeitsgänge.Stagnierende Umsätze bei gleichzeitiger Produk­tionssteigerung dokumentierten einen erheblichenPreisverfall der Erzeugnisse.

Die Krise der Bärnauer Knopfindustrie war auchmit der eigenen Herstellung von Kunststoff und derSpezialisierung auf Galvanisierungsverfahren nichtaufzuhalten. Als Zulieferindustrie der Textilfabrikenund des Groß- und Einzelhandels war man extremmodeabhängig. Die permanent erforderliche Anpas­sung an den schnelllebigen Markt verhinderte sowohleine effiziente Lagerhaltung als auch die kontinuier­liche Auslastung der Betriebskapazitäten. Andererseits

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war die einheimische Industrie gegenüber der Aus­landskonkurrenz in der Lage - bei genauer Beo­bachtung der Marktsituation - schnell und zuverläs­sig georderte Ware zu liefern, was sich allerdingsauf den Preis niederschlug. 1975 wurde im Zuge derGebietsreform die Bärnauer Knopffachschule ge­schlossen, die IKNOFA wechselte ihren Standort.Bärnau geriet wieder ins Ab seits.

Nach dem Mauerfall und dem damit sukzessivenWegfall der Förderungsmaßnahmen für die Grenz­landindustrie im Jahr 1990 suchte man nach neuenWegen; einem Bärnauer Betrieb zum Beispiel gelanges, in die östlichen Bundesländ er (Schmölln) zu ex­pandieren. Heute gibt es noch ungefähr zehn knopf­erzeugende bzw. -vertreibende Betriebe in Bärnau,weitere 20 in der Oberpfalz. Die Entstehung desDeutschen Knopfmuseums im Jahr 1975 belegt, wiewichtig die Tradierung von Geschichte gerade inZeiten der Umorientierung geworden ist.

Die Knopffachschule und die IKNOFA hattenBärnau als Zentrum der Knopfherstellun g weltweitbekannt gemacht. Noch im Jahr ihrer Schließungwurde in den Räumlichkeiten der Fachschule mitbescheidenen Anfängen das Deutsche Knopfmuseumeingerichtet, dessen knopfgeschichtliche Schau- undStudiensammlung sich weit über die Grenzen derOberpfalz hinaus einen ausgezeichneten Ruf erwarb.Der erste Leiter war Marcel Hermann, der Gründerder Knopffachschule. 1988 übernahm Willy Zandt dieLeitung.

Die thematischen Schwerpunkte des Museumsbilden die technische Entwicklung der Knopfher­stellung und die Kulturgeschichte des Knopfes. Wennauch die Zeugnisse der Bärnauer Knopfindustrie denGrundstock für die Sammlung legten, ist der Blick aufden deutschen Sprachraum gerichtet.

1998 zog das Museum in das sanierte ehemaligeKommunbrauhaus um. Die Neuaufstellung undNeuordnung der Sammlungen wurde im Jahr 2001durch die Stadt Bärnau mit finanzieller U nter­stützung durch den Verband der Knopfindustr ie e.V.Bärnau, die Landesstelle für die nichtstaatlichenMuseen, München, den Landkreis Tirschenreuth, den

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Bezirk Oberpfalz, den Bayerischen Kulturfonds unddie Euregio Egrensis ermöglicht.

Die Transferierung des alten Museums in das neueGebäude hatte in der Aufstellung zu einer fürAußenstehende extremen Unübersichtlichkeit ge­führt; es waren wohl Zehntausende von Knöpfen undihr Drumherum zwar thematisch zusammengestellt,aber dennoch ohne erkennbare Ordnung präsentiert.Hierdurch wurde eine Besichtigung nicht nurerschwert, die bedeutendsten Schätze gingen auchvöllig in der Masse unter. Ein Rahmen- oder Grob­konzept für das Museum war schon 1996 durch dieVolkskundlerin Anita Zwicknagel und die Planungs­gruppe Meiller, Dittmann und Partner, Amberg, er­arbeitet worden. Die völlige Neukonzeption undstrikt ko stenreduzierte Neueinrichtung wurden derFa. Artinum KG Service für Museum und Ausstel­lung, Regensburg, als Generalunternehmer übertra­gen. Aufgabe war, nicht nur ein neu es bzw. verbesser­tes Konzept zu erstellen, sondern auch die gesamteEinrichtung zu planen und zu realisieren. Hierbeientschied man sich für schlichte, auf der Grundformdes Quadrates basierende und somit dem Grun drissder Haupträume entsprechende Möblierung, derenFarbgebung in dunklem Eisenglimmergrau durch dieEisenkonstruktionsteile des Brauhauses vorgegebenwar. So entstand ein zurückhaltender, dennoch ele­ganter Eindruck, der die Formen- und Farbenvielfaltder Knöpfe und die Wirkung der historischen Räumezur Geltung bringt. Für die ständige fachliche Un­terstützung und wohlwollende Begleitung ist derStadtverwaltung Bärnau, der Museumsleitung unddem eigens gegründeten Arbeitskreis Museum mitausgewiesenen Experten besonderer Dank auszuspre­chen.

Die beiden großen Themen, die Herstellung vonKnöpfen und die Kulturgeschichte des Knopfes, sinddurch die Beschränkung der Ausstellung auf zweigroße Schauräume und einen kleinen Schauraum be­dingt. Im Erdgeschoss wurde das Foyer mit demKassenbereich und dem Museumsshop neu eingerich­tet, um eine besucherfreundliche Empfangsatmo­sphäre zu schaffen. Der Besucher erhält im Medien-

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Deutsches KnopfmuseumBärnau -Maschinenraumnach der Neugestaltung

raum auf Wunsch eine Einführung in das Thema an­hand von aufschlussreichen Videofilmen. Der Rund­gang führt zunächst in den "Maschinenraum", wo einTeil der bedeutenden Sammlung des Museums vonalten Maschinen zur Knopfherstellung Aufstellungfand. Hier ist die Verarbeitung des Rohmaterialsvon der Anlieferung durch sämtliche Schritte derKnopffabrikation bis zur Heimarbeit dokumentiert,insgesamt dreizehn Arbeitsvorgänge von der Anliefe­rung über das Sortieren, Ausbohren, Wiegen, Stärkesortieren, Schruppen, Faconnieren, Ornamentieren,Lochen, Schleifen, Bleichen, Polieren, Beizen undFärben bis hin zum Aufnähen der Knöpfe auf Karten

in Heimarbeit. Bei der Präsentation wurde großerWert auf die möglichst nah am Vorbild der Knopf­fabriken orientierte Aufstellung auf Werkbänkengelegt. Großformatige Reproduktionen historischerFotografien unterstützen den Eindruck der Authen­tizität. Neben dem Perlmutter, der klassischen Do­mäne der Bärnauer Knopfindustrie, werden auchandere Techniken wie Glas, Steinnuss, Kunststoff undSpritzguss dokumentiert.

Großen Anklang finden bei Besuchern jedenAlters zwei Wände mit Klappen, unter denen sichKnopfsprichworte und Zeugnisse des Knopfes imVolksglauben verbergen. Im Treppenhaus, in dem das

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Wort Knopf den Besucher in vielen Sprac hen nachobe n beglei tet, soll eine kno pfgefüllte große Plexi­glasröhre über einer sogenannten Mördermuscheleine Tagesproduktion veranschau lichen. Im Ober­geschoss sieht sich der Besuche r zunächst demberühmtem Bärnauer Knopfpaar gegenüber, daseinen Anzug un d ein Kleid mit 18.500 Knöpfen undVersch lüssen trägt (1966 genäht).

Ein kleiner Raum wurde "Schatz-, Kunst- undWun derkammer", die dem Thema Perlmutter als demedelsten Rohstoff der Knopfverarbeitung gewidmetist. Hier werden in geheimnisvollem Halbd unkel inRundum- un d Wandvitrinen besonders bemerkens­werte Artefakte aus Perlmutter präsentiert, danebenauch.. Perlmutterabfall und seine Weiterverwertung,ein U berblick über die verschiedenen Knopfformenim Laufe ihrer Entwicklung gegeben und auch dieeine oder andere Kuriosität ausgestellt, wie die sen­sationell wiederaufgefundenen Knöpfe von des Kaisersneuen Kleidern, historische Knopflöcher, zu denendie Knöpfe verloren gingen, die unter Samm­lern besonders begehrten Knopflochfehlbohrungenund eine einzigartige "Perlfamilie" aus Perlvater,Perlmutter und Perlkind.

Den großen Ausstellungsraum des Ober­geschosses nimmt das Thema "K ulturgeschichte desKnopfes" ein, wo einerseits der Charakter des Mas­senprodukts Knopf mit herausragenden und beson­ders wertvollen Einzelexemplaren kombiniert wird,sowohl in großen Knopfreihen als auch in Einzel­vitrinen. Schubladenschränke..ermöglichen selbsttä­tige Knopfsuche, verschaffen Uberblick über interna­tionale Knoptproduktion, große bunte Knopfreihenverführen den Besucher zum Auf- und Zuknöpfen.Großformatige Reproduktionen aus historischenModemagazinen illustrieren die Themen, unter de­nen hier Knöpfe ausgestellt werden, wie "Curiosaund Exotica", "Der durchsichtige Knopf", "Glaube,Hoffnung, Liebe", "Krieg der Knöpfe", "Zeig mir

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deinen Knopf" usw. Ein anderer Themenbereichbeschäftigt sich mit verschiedenen Materialien derKnopfherstellung wie Metall oder Hirschhorn.

Das Dachgeschoss des Museums, das hauptsäch­lich als Depot für Millionen von Knöpfen, die mei­sten fein säuberlich auf Musterkarten aufgenäht,dient, soll nur zu Sonderausstellungen geöffnet wer­den; hier ist auch eine "Museumswerkstatt" unterge­bracht, die für kleinere museumspädagogische Aktio­nen verwendet wird. Ein ausführliches Konzept zurMuse umskommunikation und -pädagogik wurdebeglei tend erarbeitet.

Nahezu die gesamte Beschriftung ist in Deutschun d Tschech isch geschehen, was seine natürlichenGrenzen bei Sprichwörtern findet, aber die engehisto rische Verbindung und Verbundenheit mit dennur wenige Kilometer entfernten tschechischenNachbarn und hier besonders mit dem Museum inTachau-Tachov belegt.

Literatur:

Klaus ARBTER, Sozia lgeographische Studien im nordest­bayerischen Grenzgebiet. Bärnau als Beispiel einer mono­ind us triell geprägten Kleinstadt, München 1973 (= WGI­Berichte zur Regionalforschung, H eft 10).

Gerhard MÜLLER, Arbeiterleben und Arbeiterbewegung inder Oberpfa lz 1848-1919, Theuern 1988 (= Schriftenreihedes Bergbau- und Industriemu seums Ostbayern. Band 15).

Eva SIXT und Peter MORSBACH, Deutsches KnopfmuseumBärnau. Museumsführer und Lehrerhandreichung (2002) .

Erika THIEL, Gesc hichte des Kostüms, Berlin 1985.

Annette WILZBACH und Martina WILZBACH-WALD, KnopfDesign, Frankfurt am Main 1990.

Anita ZWICKNAGEL, Die Bärnauer Knopfindustrie, in:Heimat Landkreis Tirschenreuth, Band 5, 1993.