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RA Dr. Tobias Hermann Hauptkurs 2015/16 1 Europarecht Pflichtfach Gliederung A. Kernprobleme des Pflichtfachs Europarecht B. Die Europäische Union im Überblick C. Bedeutung des Unionsrechts und Übertragung von Hoheitsrechten D. Entstehungsgeschichte der EG seit 1950 E. Vertrag von Lissabon, Solange, Rettungsschirme und Europäische Zentralbank das Verhältnis des BVerfG zum EuGH F. Das Verhältnis von Unionsrecht und nationalem Recht G. Organe und Institutionen H. Rechtsquellen und Wirkung des Unionsrechts für den Einzelnen I. Die Grundfreiheiten J. Das System des mehrdimensionalen Rechtsschutzes K. Rückabwicklung vertraglich gewährter Beihilfen, die gegen Unionsrecht verstoßen L. Wiederholungs- und Vertiefungsfragen M. Die wichtigsten Normen des Europarechts - Bearbeitungsstand: Februar 2016 - Literaturempfehlungen: 1. Skripten: Hemmer/Wüst/Hutka, EuropaR, 12. Auflage, 2016; EuropaR Basics, 8. Auflage 2014; 2. Lehrbücher: Nowak, EuropaR nach Lissabon, 1. Auflage 2011; Oppermann, EuropaR, 6. Aufl. 2014. 3. Internetquellen: www.europa.eu (z.B. das Glossar), www.cep.eu (Centrum für europäische Politik).

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RA Dr. Tobias Hermann – Hauptkurs 2015/16

1

Europarecht Pflichtfach

Gliederung

A. Kernprobleme des Pflichtfachs Europarecht

B. Die Europäische Union im Überblick

C. Bedeutung des Unionsrechts und Übertragung von Hoheitsrechten

D. Entstehungsgeschichte der EG seit 1950

E. Vertrag von Lissabon, Solange, Rettungsschirme und Europäische Zentralbank –

das Verhältnis des BVerfG zum EuGH

F. Das Verhältnis von Unionsrecht und nationalem Recht

G. Organe und Institutionen

H. Rechtsquellen und Wirkung des Unionsrechts für den Einzelnen

I. Die Grundfreiheiten

J. Das System des mehrdimensionalen Rechtsschutzes

K. Rückabwicklung vertraglich gewährter Beihilfen, die gegen Unionsrecht

verstoßen

L. Wiederholungs- und Vertiefungsfragen

M. Die wichtigsten Normen des Europarechts

- Bearbeitungsstand: Februar 2016 -

Literaturempfehlungen: 1. Skripten: Hemmer/Wüst/Hutka, EuropaR, 12. Auflage, 2016;

EuropaR Basics, 8. Auflage 2014; 2. Lehrbücher: Nowak, EuropaR nach Lissabon, 1.

Auflage 2011; Oppermann, EuropaR, 6. Aufl. 2014. 3. Internetquellen: www.europa.eu

(z.B. das Glossar), www.cep.eu (Centrum für europäische Politik).

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A. Kernprobleme des Pflichtfachs Europarecht, die meistens ihren Ausgangspunkt

im nationalen Recht haben

1. Verhältnis des sekundären Unionsrechts zum nationalen Verfassungsrecht

„Solange“ I + II, Maastricht, Bananenmarkt (Fall 1+2 Hauptkurs), vgl. Art. 23 I GG.

a) BVerfG NJW 1993, 3047: „Dem Bundestag müssen Aufgaben und Befugnisse von

substanziellem Gewicht verbleiben.“

b) BVerfG NJW 2009, 2267 ff. = L&L 2009, 618 ff. - Lissabon:

Zu diesen wesentlichen Bereichen demokratischer Gestaltung gehören die

Staatsbürgerschaft, das zivile und militärische Gewaltmonopol, Einnahmen und Ausgaben,

einschließlich der Kreditaufnahme, Freiheitsentzug in der Strafrechtspflege sowie

kulturelle Fragen (Sprache, Familie, Bildung, Religion, Meinung, Presse, Versammlung).

Begleitgesetz muss Rechte des BT und BR erweitern.1

2. Einfluss des Unionsrechts auf das nationale Verwaltungs- und Verfassungsrecht

a) Einstweiliger Rechtsschutz (Fall 3 Hauptkurs EuropaR)2

Aussetzung des Vollzugs eines auf Unionsrecht beruhenden VA´s durch das VG?

Wiederherstellung bzw. Anordnung notwendig, dringlich, geboten?

b) Aufhebung von europarechtswidrigen VA´s, § 48 VwVfG (Fall 4)

c) Staatshaftung (Fall 5a und 5b Frage 2)

Kommt es auf die Drittbezogenheit der Amtspflicht an? Gibt es eine Haftung für

legislatives Unrecht (dazu MP-Travelline3 und Francovich)?

hinreichend qualifizierter Verstoß bei Nichtumsetzung einer RiLi (+)

3. Unmittelbare Wirkung des Unionsrechts

a) von primärem Unionsrecht (Fall 1 Hauptkurs EuropaR)

arg. ex Art. 288 AEUV a majore ad minus (bereits VO hat unmittelbare Wirkung)

b) von Richtlinien (Fall 5a) und 5b) Frage 1)

Bei diesen Problemen bitte auf das immer wiederkehrende Standardargument achten:

Praktische Wirksamkeit des Unionsrechts, (S) effet utile, Art. 4 III EUV!!!

4. Grundfreiheiten (Fall 6-9 Hauptkurs EuropaR), reine Europarechtsklausur bzw.

Zusatzfrage - Warenverkehrsfreiheit: F. 6 + 7, F. 9 Teil 1, AN-freizügigkeit: F. 9 Teil 2

1 Dazu auch: JuS 2009, 767 ff.

2 Der einstweilige Rechtsschutz unter den genannten speziellen europarechtlichen Voraussetzungen war in 2008 Gegenstand

einer Klausur im 1. Staatsexamen in Niedersachsen! Näher dazu: Schoch, Jura 2007, 837 ff. 3 EuGH NJW 1996, 3141 ff. Siehe dazu auch: Frenz/Götzkes, JA 2009, 759 ff.

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Für die Mündliche: 1. Institutionen der EU (dazu insbes. Fall 4), 2. EU-„Verfassung“

und Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (siehe dazu unten und Artikel im

„Spiegel“, Nr. 42/2010, „Die Superinstanz“, S. 58 ff.), 3. Ultra-Vires-Kontrolle (siehe

unten)

→ für eine schnelle Wiederholung: , JuS 2012, S. 1 ff. (Verhältnis BVerfG – EuGH); JA

2008, 838 ff. (Grundlagen der EU Teil I); JuS 2008, S. 1 ff.; Jura 2011, 187 ff. (Vorrang

des Unionsrechts); Jura 2007, S. 505 ff.; JuS 2008, 403 ff.

B. Die Europäische Union im Überblick

EU der 27 (2007) als „Staatenverbund“4

Supranationale Gemeinschaften (EGV, EAGV) → abgeschafft, vgl. Art. 47 EUV

- Eingliederung der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit (PJZS) -

Intergouvernementale (zwischenstaatliche) Zusammenarbeit (GASP, vgl. Art. 24 I EUV)

Frage für Ausgeschlafene: Was ist der Unterschied zwischen den einzelnen „Säulen“?

C. Bedeutung des Unionsrechts

Umsetzungspflicht für Legislative

Unionsrechtskonforme Auslegung durch Exekutive

Supranationalität des Unionsrechts

- Übertragung von Hoheitsrechten (Art. 23 I 2 GG)

- Verpflichtung der Mitgliedstaaten (Durchgriffswirkung)

- Prinzip der begrenzten Ermächtigung der EU (Art. 5 I EUV)

keine Kompetenz-Kompetenz der EU

Übertragung von Hoheitsrechten ist ein zweistufiger Vorgang:

Kreation und Verzicht, vgl. Art. 23 GG

1. Die BRD schafft zusammen mit anderen Staaten einen neuen Träger von Hoheitsgewalt

2. Zugleich verzichtet die BRD auf die Ausübung eines Teils ihrer Hoheitsgewalt

Frage für Ausgeschlafene: Können Mitgliedstaaten der Währungsunion ihre nationale

Währung wieder einführen, z.B. Griechenland?5

4 Der Staatenverbund ist mehr als ein bloßer Staatenbund und mangels eigener Hoheitsrechte (keine Kompetenz-Kompetenz

der EU) weniger als ein Bundesstaat. 5 Dazu Besprechung im Kurs, siehe noch einmal Art. 23 I 2 GG („Fahrstuhlnorm“).

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D. Entstehungsgeschichte der EG (heute: EU)6

09.05.1950 Der französische Außenminister Robert Schumann schlägt der BRD vor, die

Gegensätze zwischen Frankreich und Dtl. zu überwinden und sich zu einer

Wirtschaftsgemeinschaft zusammenzuschließen (sog. Schuman-Plan)

18.04.1951 Unterzeichnung des Vertrages über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft

für Kohle und Stahl (EGKS bzw. Montanunion, in Kraft am 23.07.1952)

Mitglieder: BRD, Frankreich, Italien, Benelux

Zweck: Kontrolle der K/S – Produktion durch Integration

1953 Arbeitsaufnahme des EGKS – Gerichtshofs

25.03.1957 Unterzeichnung der Römischen Verträge zur Gründung der Europäischen

Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft (EAG)

(in Kraft 01.01.1958)

Mitglieder = EGKS

es entstanden also drei rechtlich selbständige Gemeinschaften

der Gerichtshof war dabei für alle Verträge zuständig

die Versammlung (später: Europäisches Parlament) ebenso

08.04.1965 Fusionsvertrag (= Einsetzung eines gemeinsamen Rates und einer gemeinsamen

Kommission für die de jure weiterexistierenden drei Gemeinschaften)

seit 1979 unmittelbare Wahlen zum Europäischen Parlament

01.01.1986 Beitritt Portugals und Spaniens (sog. Süderweiterung)

17.02.1986 Einheitliche Europäische Akte (setzt Verwirklichung des Binnenmarktes auf den

31.12.1992 fest; verstärkter Übergang zum Mehrheitsprinzip; Institutionalisierung

der Europäischen Politischen Zusammenarbeit; Ausbau der Kompetenzen des

Europäischen Parlaments; Europäische Union als Ziel

07.02.1992 Unterzeichnung des Vertrages von Maastricht zur Schaffung der Europäischen

Union und der Wirtschafts- und Währungsunion bis zum 01.01.1999: Erweiterung

der Union um die Säulen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sowie

der Zusammenarbeit in den Gebieten Justiz und Inneres; Einschränkung der

Kontrollkompetenz des EuGH in diesen Gebieten; Umbenennung der EWG in EG;

Erweiterung ihrer Kompetenzen; Unionsbürgerschaft; Mitentscheidung des

Europäischen Parlaments

01.01.1995 Beitritt Finnlands, Österreichs und Schwedens

02.10.1997 Unterzeichnung des Vertrages von Amsterdam: Teilvergemeinschaftung der Justiz-

und Innenpolitik; Eingliederung der Sozialpolitik; Einbeziehung des Schengener

Abkommens; Erweiterung der Mitentscheidung des EP Zustimmungserfordernis

zur Benennung des Kommissionspräsidenten

01.01.1999 Euro (€) wird europäische Währung (außer DK, UK, S; GR ab 01.01.2001)

11.12.2000 Weichenstellung für die Aufnahme neuer Beitrittskandidaten: Vertragsänderung

von Nizza; wesentliche Inhalte:

Reform des EG-Vertrages Vorbereitung des Beitritts von bis zu 12

Beitrittskandidaten in Osteuropa; Weiterentwicklung der Institutionen

Proklamation einer Grundrechts-Charta, die 54 gemeinsame Grundrechte der

Mitgliedsstaaten zusammenfasst (als unverbindliche Dokumentation)

23.07.2002 Auslaufen des EGKS – Vertrages, Vermögensübergang auf EG

13.12.2002 Erweiterungsbeschluss: Aufnahme von 10 Ländern in die Europäische Union

01.05.2004 Beitritt Estlands, Lettlands, Litauens, Maltas, Polens, Sloweniens, Ungarns,

Zyperns, der Tschechischen Republik sowie der Slowakei (sog. „Osterweiterung“)

2005 Gescheiterte Volksabstimmungen über den Europäischen Verfassungsvertrag in

Frankreich und den Niederlanden7

01.01.2007 Bulgarien und Rumänien treten in die EU ein; Malta und Slowenien führen Euro ein

13.12.2007 Unterzeichnung des Vertrags von Lissabon durch Staats- und Regierungschefs, der

den gescheiterten europäischen Verfassungsvertrag ersetzt

6 Vgl. auch Fall 1 HK und L&L 2009, 633 ff.

7 Zu den rechtlichen Möglichkeiten, falls ein Mitgliedstaat nicht ratifiziert: Hector, Festschrift für Ress, Internationale

Gemeinschaft und Menschenrechte, S. 497-505.

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30.06.2009 BVerfG billigt Vertrag von Lissabon, fordert aber mehr Beteiligungsrechte für

Bundestag und Bundesrat

01.12.2009 Vertrag von Lissabon in Kraft getreten (gemäß Art. 54 II EUV-Lissabon „am

ersten Tag des auf die Hinterlegung der letzten Ratifikationsurkunde folgenden

Monats“). Ursprünglich war Inkrafttreten ab dem 01.01. 2009 vorgesehen. Nach

dem ablehnenden ersten irischen Referendum im Juni 2008 verzögerte sich der

Zeitplan. Beim zweiten irischen Referendum im Oktober 2009 sprach sich eine

deutliche Mehrheit der Bevölkerung für den Vertrag aus. Am 13. November 2009

wurde die tschechische Ratifikationsurkunde als letzte der 27 Urkunden bei der

italienischen Regierung in Rom hinterlegt.

07.-09.05.2010 Nach einer dramatischen Rettungsbeihilfe für Griechenland (110 Mia. Euro)

Gründung eines auf 3 Jahre befristeten Euro-Rettungsschirms auf der Grundlage

von Art. 122 AEUV und rechtliche Fixierung in einer Verordnung. Im November

2010 musste Irland den Rettungsschirm in Anspruch nehmen (85 Mia. Euro), im

April 2011 Portugal (80 Mia. Euro). Der Rettungsschirm soll 2013 durch einen

ständigen Krisenmechanismus (ESM) der EU abgelöst werden.

07.09.2011 Verfassungsbeschwerden gegen Maßnahmen zur Griechenland-Hilfe und zum Euro-

Rettungsschirm (EFSF) bleiben erfolglos. Das BVerfG mahnt bei der Vergabe von

Rettungsbeihilfen jedoch, den Bundestag ausreichend zu beteiligen.

09.12.2011 Beschluss des Ausbaus der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (EWU)

zu einer Fiskalunion, die unter anderem eine Schuldenbremse sowie automatische

Sanktionen für „Haushaltssünder“ vorsieht. Das Vereinigte Königreich

(Großbritannien) und Tschechien wollen als einzige EU-Mitglieder nicht der

Fiskalunion beitreten.

28.06.2012 EU-Gipfel von Brüssel beschliesst „Pakt für Wachstum und Beschäftigung“ und

ändert den ESM dahingehend ab, dass nunmehr auch direkte Zahlungen an Banken

geleistet werden können. Zudem solle eine zentrale Bankenaufsicht eingeführt

werden.

29.06.2012 Bundestag und Bundesrat stimmen mit 2/3-Mehrheit dem ursprünglichen Vertrag

über den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und dem Vertrag über

Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion

(Fiskalpakt) zu. Unmittelbar nach der Verabschiedung reichen u.a. alle

Bundestagsabgeordneten der Linken Verfassungsbeschwerde bzw. die Fraktion der

Linken Organklage ein. Gerügt wird eine Grundrechtsverletzung durch unterlassene

Volksabstimmung sowie eine Verletzung der Abgeordnetenrechte. Außerdem

werden Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt, um zu

verhindern, dass der Bundespräsident die Ratifikationsurkunden unterzeichnet,

bevor das Bundesverfassungsgericht in der Hauptsache entschieden hat.

12.09.2012 Entscheidung des BVerfG über Eilanträge gegen ESM und Fiskalpakt

01.07.2013 Kroatien tritt in die EU ein (EU der 28)

Zukunft??? Vereinigte Staaten von Europa mit zwei Kammern: Europäisches Parlament und

Kammer der Mitgliedstaaten ???

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E. Vertrag von Lissabon, Solange, Rettungsschirme und

Europäische Zentralbank – das Verhältnis des BVerfG zum

EuGH

I. Neuerungen durch den Vertrag von Lissabon8

- Einführung eines EU-Ratspräsidenten für 2,5 Jahre und eines Hohen Repräsentanten für

Außenpolitik („EU-Außenminister“)

- Regelfall der Mehrheitsentscheidungen mit doppelter Mehrheit im Rat ab 2014 (statt

Einstimmigkeit), d.h. 55% der Mitgliedstaaten und 65% der EU-Bevölkerung, insbes. im

Bereich PJZS und der gemeinsamen Verteidigungspolitik, vgl. Art. 16 IV EUV

- Erweiterung der Mitspracherechte des Europäischen Parlaments, insbesondere im

Bereich der PJZS und der illegalen Einwanderung

- Verringerung der Kommissare ab 2014 und Verkleinerung des EP von 785 auf 750 Sitze

- Stärkung der Rolle der nationalen Parlamente, Art. 5 III, 12 EUV, Art. 23 Ia GG

- Verbindlichkeit der Grundrechts-Charta durch Verweis in Art. 6 I EUV, aber nicht

individuell einklagbar (Verhältnis zu europäischen Grundrechten nach Art. 6 III EUV

unklar), Möglichkeit des Beitritts der EU zur EMRK (Art. 6 II EUV, Art. 218 VIII a.E.

AEUV), EMRK muss dafür aber noch geändert werden

- Einführung von Bürgerbegehren: Aufforderung der Kommission zu einem

Gesetzesvorschlag ab 1 Million Stimmen, vgl. Art. 11 EUV, Art. 24 AEUV

- Fixierung des Vorrangs des EU-Rechts in einer Erklärung zum Vertrag und erstmalige

Möglichkeit eines freiwilligen Austritts aus der EU (vgl. Art. 50 EUV)

II. Ausgangpunkt: Das GG ist europa- und völkerrechtsfreundlich, vgl. Präambel und

Art. 23 GG.

Das BVerfG hat im Lissabon-Urteil vom 30.06.2009 mit 8:0 Stimmen entschieden, dass

die Grenzen der europäischen Integration nach Art. 23 I 3, 79 III, 1 und 20 GG durch das

deutsche Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon nicht verletzt sind (L&L 2009,

618 ff.).9 Grenzüberschreitende Probleme wie Terrorismus, Klimawandel und

Weltwirtschaftskrise lassen sich nicht im „nationalen Schneckenhaus“ lösen.10

8 Näher dazu: Jäger, L&L 2010, 128 ff.; Mayer, JuS 2010, 189 ff. Zum EU-Grundrechtsschutz nach Lissabon: Kizil, JA 2011,

277 ff.

9 Zur Vertiefung siehe die Urteilsanmerkungen von: Weber, JZ 2010, 157 ff. (Heft 4); Gärditz/Hillgruber, JZ 2009, 872 ff. und

Classen, JZ 2009, S. 881 ff. 10

So die Formulierung von Frank-Walter Steinmeier bei der Anhörung vor dem BVerfG.

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1. Zulässigkeit der Vb. (Lissabon-Urteil, Rn. 168 ff.)

Problem Beschwerdebefugnis: Ein Bürger kann im Hinblick auf die Legitimations- und

Kontrollfunktion des Wählens mutmaßliche Kompetenzüberschreitungen der EU unter

Berufung auf sein Wahlrecht zum Bundestag aus Art. 38 I GG als grundrechtsgleiches

Recht auf substanzielle Repräsentation durch den Deutschen Bundestag angreifen, vgl.

Art. 93 I Nr. 4a GG.11

2. Begründetheit der Vb.

a) Grenze: Demokratieprinzip (Art. 23 I 1, 3, 79 III, 20 I GG)

- fehlende Legitimation des Ministerrates

- fehlendes Initiativrecht des Europäischen Parlaments (EP), siehe zum deutschen Recht

Art. 76 GG, kein alleiniges Haushaltsrecht des EP, keine Opposition

- Gewichtung der Stimmen im EP spiegelt nicht die Bevölkerungsstärke der

Mitgliedstaaten wieder12

→ Volksabstimmung nach Art. 146 GG nötig, wenn das GG

durch eine europäische Verfassung abgelöst werden soll (ist aber nicht geplant)

Dazu Leitsatz 1 des Lissabon-Urteils:

Art. 23 GG ermächtigt zur Beteiligung und Entwicklung einer als Staatenverbund

konzipierten EU. Der Begriff des Verbundes erfasst eine enge, auf Dauer angelegte

Verbindung souverän bleibender Staaten, die auf vertraglicher Grundlage öffentliche

Gewalt ausübt, deren Grundordnung jedoch allein der Verfügung der Mitgliedstaaten

unterliegt und in der… die staatsangehörigen Bürger der Mitgliedstaaten die Subjekte

demokratischer Legitimation bleiben (Hervorhebungen durch den Verfasser).

→ Damit hat das BVerfG deutlich zum Ausdruck gebracht, dass es sich bei der EU nach

Maßgabe der 3-Elementen-Lehre nicht um einen europäischen Bundesstaat mit einem

eigenen Staatsgebiet, einem homogenen Staatsvolk und einer Staatsgewalt handelt.13

Die Grenze der europäischen Integration ist jedenfalls verletzt, wenn die EU eine

Kompetenz-Kompetenz eingeräumt bekommt und die Mitgliedstaaten nicht mehr Herren

der Verträge sind (sondern die Kommission).

Die pauschale Zustimmung des Bundestages zum Vertrag von Lissabon insgesamt reicht

nicht aus, sondern muss in jedem Einzelfall erteilt werden, z.B. für Auslandseinsätze der

Bundeswehr (siehe dazu ParlBetG und Übersicht oben).14

Die Bundesregierung muss bei europäischen Handlungen künftig nach Maßgabe des

Begleitgesetzes zum Vertrag von Lissabon parlamentarisch mandatiert werden.

11

Herz, Subjektives Recht gegen die europäische Integration? Zur Zulässigkeit einer Klage gegen das Zustimmungsgesetz zum

Vertrag von Lissabon, JA 2009, 573 ff. Ausführlich: Murswiek, Art. 38 GG als Grundlage eines Rechts auf Achtung des

unabänderlichen Verfassungskerns, JZ 2010, 702 ff. 12

Beispiel: In Malta werden ca. 67.000 Einwohner von einem Abgeordneten vertreten, in Deutschland aber etwa 857.000.

Damit sind die kleinen Staaten im Verhältnis zu den großen überrepräsentiert, weil eine Stimme nicht die Bevölkerungsstärke

der Mitgliedstaaten wiederspiegelt und damit nicht dasselbe Gewicht hat. Das BVerfG sieht darin keinen Verstoß gegen Art.

20 GG, weil diese Konzeption der Struktur der EU immanent sei. 13

Kritisch zur europäischen Staatswerdung: Broß, JZ 2008, 277 ff. Siehe auch: Jekewitz, Deutscher Föderalismus –

Fehlentwicklung oder Vorbild in Europa?, Recht und Politik 2003, 89 ff.; di Fabio, Kultur der Freiheit. 14

Zu den Auswirkungen des EuropaR auf das Wehrverfassungsrecht: Wiefelspütz, DÖV 2010, 73 ff. (Heft 2).

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Damit soll insbesondere ausgeschlossen werden, dass die EU über die Flexibilitätsklausel

in allen Politikbereichen (und nicht mehr nur beim Binnenmarkt) Kompetenzen an sich

ziehen kann (vgl. Art. 352 AEUV). Art. 23 I 2 GG ist insofern als strenger

Gesetzesvorbehalt zu verstehen, der Art. 59 II GG vorgeht (zu letzterem siehe Hauptkurs

VerfR Fall 18/Bremen: Fall 12).

Die Beteiligungsrechte des Bundestages und Bundesrates mussten vor der Ratifikation der

BRD im Begleitgesetz zum Vertrag von Lissabon entsprechend gestärkt werden, was

noch in der abgelaufenen 16. Legislaturperiode im IntegrationsverantwortungsG

geschehen ist.

b) Grenze: unabdingbarer Grundrechtsschutz auf europäischer Ebene nach dem

Solange II-Vorbehalt noch gewährleistet. Keine Aushöhlung deutscher Grundrechte,

insbes. der Menschenwürde, vgl. Art. 23 I 3, 79 III GG.

c) Grenze: Restkompetenz des Bundestages von „substanziellem Gewicht“?

Mit der Übertragung von Hoheitsrechten im Rahmen der ersten Säule (siehe Art. 23 I 2

GG) verlieren die nationalen Parlamente zunehmend an Einfluss, dennoch bleiben sie

„Herren der Verträge“ und dürfen nicht auf die Stellung eines „Erfüllungsgehilfen“, der

nur noch Unionsrecht vollziehen darf, reduziert werden (Stichwort:

Entparlamentarisierung bzw. kein nationaler Ausverkauf der Hoheitsrechte).15

Zur Frage, welche Kompetenzen von substantiellem Gewicht sind, siehe bereits S. 2.

Ihr müsst folgende 10 Entscheidungen des BVerfG im Zusammenhang sehen…

1. Solange I: 1974, siehe dazu unter F.

2. Solange II: 1986, siehe dazu unter F.

3. Maastricht: 1993 (BVerfG NJW 1993, 3047)

4. Bananenmarkt: 2001 (dazu Fall 2 EuropaR und L&L 2001, 64 ff.)

5. Lissabon: 2009 („Ja, aber“-Urteil, NJW 2009, 2267 ff. = L&L 2009,

618 ff.)

6. Mangold/Honeywell: 2010 (L&L 2010, 694 ff. = JuS 2011, 540 ff.)

7. Euro-Rettungsschirm I: 2011 (L&L 2011, 897 ff. = NJW 2011, 2946 ff.)

8. Euro-Rettungsschirm II: 2012 (L&L 2012, 818 ff., Eilentscheidung)

9. a) Europäische Zentralbank: 2014 – erstmalige Anwendung der Ultra-Vires-

Kontrolle (L&L 2014, 288 ff., Vorlage des BVerfG an den EuGH), b) EuGH NJW 2015,

2013 ff. mit Anm. Meyer 1999, siehe unten III.-V. (siehe dazu Anm. in JuS 2015, Heft 8)

10. Europäischer Haftbefehl: 2015 – erstmalige Anwendung der Identitätskontrolle

(siehe unten unter VI.)

15

Es wurde von den Klägern vorgetragen, dass 84% der deutschen Gesetzgebung europäisch vorbestimmt sei. Die Gegenseite

ging dagegen nur von 24% aus, siehe http://www.zeit.de/online/2009/07/europa-gesetzgebung-parlament-deutschland.

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A. Ausgangspunkt zum Verhältnis des BVerfG zum EuGH:

I. Das BVerfG hat in der sog. Solange-Rechtsprechung auf eine Kontrolle europäischer

Rechtsakte am Maßstab deutscher Grundrechte verzichtet, solange es auf der EU-Ebene

im wesentlichen vergleichbare Grundrechte gibt, siehe dazu auch Art. 23 I 1 GG a.E.

Dies wird seit dem Solange II-Beschluss 1986 bejaht, (S) Solange II-Vorbehalt.

II. Zwei Prüfungsmöglichkeiten hat sich das BVerfG jedoch offen gehalten, nämlich will

es auch künftig kontrollieren, ob durch Unionsrecht…

- der unantastbare Kerngehalt von Art. 1 und 20 GG verletzt wird, vgl. Art. 23 I 3, 79 III

GG (Identitätskontrolle) und

- ob aus dem Integrationsprogramm „ausbrechende Rechtsakte“ jenseits der Grundlagen

der europäischen Verträge vorliegen (ultra-vires-Kontrolle).

Eine ultra-vires-Kontrolle durch das BVerfG kommt erst dann in Betracht, wenn ein

Kompetenzverstoß der europäischen Organe hinreichend qualifiziert sei. Dies setzt

voraus, dass das Handeln der Union offensichtlich kompetenzwidrig sei und zu einer

strukturell bedeutsamen Verschiebung zulasten der Mitgliedstaaten führe (BVerfG L&L

2010, 694 ff. = JuS 2011, 540 ff. – Mangold/Honeywell, siehe Ziffer 6 der o.g.

Entscheidungen).

Die Herleitung eines Verbots der Altersdiskriminierung stelle keine hinreichend

qualifizierte Verletzung in diesem Sinne dar, weil bereits die

Antidiskriminierungsrichtlinie das Verbot der Altersdiskriminierung enthielt. Der EuGH

habe sich damit keine gesetzgeberischen Befugnisse angemaßt.16

Vor der Annahme eines ultra-vires-Aktes sei dem EuGH im Wege der Vorabentscheidung

nach Art. 267 AEUV zudem die Gelegenheit zur Auslegung der Verträge sowie zur

Entscheidung über die Gültigkeit und die Auslegung der fraglichen Handlung zu geben.

III. BVerfG: OMT-Beschluss der EZB als ultra-vires-Rechtsakt

Einen ausbrechenden europäischen Rechtsakt hat das BVerfG erstmalig in Bezug auf

den Beschluss des Rates der Europäischen Zentralbank (EZB) vom 6. September 2012

über Technical features of Outright Monetary Transactions („OMT-Beschluss“) in

Betracht gezogen und diesen Beschluss dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt

(Beschluss vom 07.02.2014, 2 BvR 1390/12 mit abweichenden Voten der Richterin

Lübbe-Wolff und des Richters Gerhardt, siehe Ziffer 9a) der o.g. Entscheidungen im

Kasten).

16

A.A.: Gerken/Rieble/Roth/Stein/Streinz, „Mangold“ als ausbrechender Rechtsakt, 2009, die von einem Verstoß gegen Art.

23 I 3, 79 III, 20 GG ausgehen. Siehe auch: Pötters, L&L 2010, 485 ff. (Heft 7) und zur Vertiefung: Pötters/Traut,

Europarecht (EurR) 2011, 580 ff.

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Im OMT-Beschluss ist vorgesehen, dass die EZB Staatsanleihen ausgewählter

Mitgliedstaaten in unbegrenzter Höhe (!) ankaufen kann, wenn und solange diese

Mitgliedstaaten zugleich an einem im Rahmen des „Europäischen Rettungsschirms“

vereinbarten Reformprogramm teilnehmen. Der OMT-Beschluss ist bislang nicht

umgesetzt worden.

Damit überschreite die EZB nach Ansicht des Zweiten Senats ihr währungspolitisches

Mandat und betreibe unzulässige Wirtschaftspolitik, die den Mitgliedstaaten vorbehalten

sei. Die EZB dürfe Staatsanleihen nur bei Geschäftsbanken kaufen, d.h. nur am sog.

Sekundärmarkt, aber nicht direkt von den Krisenstaaten.

Überdies sei der angekündigte Aufkauf der staatlichen Anleihen eine verbotene

Umgehung des in den Verträgen festgelegten Verbots der Staatsfinanzierung durch die

EZB (Art. 123 I AEUV).

Ein solcher Verstoß kann im Wege des Organstreits oder der Verfassungsbeschwerde

wegen der Verletzung des Wahlrechts aus Art. 38 I 1 GG geltend gemacht werden.

IV. Kritik (insbes. der abweichenden Richter, siehe Ziffer 9 der o.g.

Entscheidungen):

- Art. 38 I 1 GG wird überdehnt, wenn jeder Bürger eine verfassungsgerichtliche „ultra-

vires“-Kontrolle in Bezug auf Akte von Unionsorganen veranlassen kann

Gegenargument: allerdings haftet Deutschland als Miteigentümer der EZB für die

Ankäufe von Staatsanleihen, ohne dass der Bundestag daran beteiligt wäre!

- Währungs- und Wirtschaftspolitik sind schwer voneinander zu trennen und die von

deutschen Gerichten unabhängige EZB muss geldpolitisch unbegrenzt handeln können

- letztlich handelte es sich lediglich um eine bloße Ankündigung des Ankaufes von

Staatsanleihen von Krisenländern seitens der EZB, die als solche nicht Gegenstand einer

Verfassungsbeschwerde sein kann (das BVerfG stellt auf die Untätigkeit der Bundesregierung

und des Bundestages in Bezug auf den OMT-Beschluss der EZB ab)

- mit der ultra-vires-Kontrolle europäischer Rechtsakte überschreitet das BVerfG selbst seine

eigenen Kompetenzen

V. EuGH: OMT-Beschluss der EZB kein ultra-vires-Rechtsakt

Der EuGH sieht in der Ankündigung der EZB keinen ultra-vires-Rechtsakt, da es sich um

einen Fall zulässiger Währungspolitik handele. Er hat die Sache an das BVerfG

zurückverwiesen (siehe Ziffer 9b) der o.g. Entscheidungen im Kasten). Es ist eher nicht

damit zu rechnen, dass das BVerfG die Ankündigung der EZB nunmehr unter den o.g.

Voraussetzungen als ultra-vires-Rechtsakt für unwirksam erklärt, da der EuGH der EZB

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zahlreiche Vorgaben gemacht hat (so die Einschätzung von Meyer in NJW 2015, 1999,

2003 sowie Hipp in: Der SPIEGEL 26/2015, S. 42: „Gezähmte Banker“).

Im Zusammenhang mit der „ultra-vires“-Kontrolle sollten Sie die für den 16.02.2016

angekündigte Verhandlung des BVerfG zur Verfassungsmäßigkeit der Anleihekäufe der

Europäischen Zentralbank sowie das darauffolgende Urteil verfolgen (siehe dazu: BVerfG

L&L 2014, 288 ff.; EuGH NJW 2015, 2013 ff. mit Anm. Ruffert, JuS 2015, 758 ff.).

VI. Beschluss des BVerfG zum EU-Haftbefehl (siehe oben Ziffer 10 im Kasten)

1. Das Bundesverfassungsgericht hat mit Datum vom 15.12.2015 erstmalig die sog.

Identitätskontrolle aktiviert (2 BvR 2375/14). Dabei ging es um einen Antrag Italiens im

Wege eines europäischen Haftbefehls auf Auslieferung eines verurteilten Straftäters, der

sich mittlerweile in Deutschland aufhielt, zum Zwecke der Vollstreckung der verhängten

Freiheitsstrafe.

Der Verurteilte ist Amerikaner und wurde 1992 von einem italienischen Gericht zu 30

Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Er sei Mitglied einer kriminellen Vereinigung und habe

Drogen besessen und eingeführt. Das Urteil erging in Abwesenheit des Angeklagten, er

wusste nichts davon.

Italien hatte einen Europäischen Haftbefehl ausgestellt, auf dessen Grundlage der

Verurteilte 2004 in Deutschland festgenommen wurde. Das zuständige Oberlandesgericht

Düsseldorf hat das italienische Ersuchen auf Auslieferung für zulässig erklärt. Der

Betroffene hat Verfassungsbeschwerde gegen den Auslieferungsbeschluss eingelegt.

Das BVerfG hält die Verfassungsbeschwerde für zulässig und begründet. Es hat den

Auslieferungsbeschluss daher aufgehoben und die Sache an das OLG Düsseldorf zur

erneuten Prüfung zurückverwiesen.

Die Zulässigkeitsentscheidung des OLG in Bezug auf das Auslieferungsersuchen Italiens

verletze den Beschwerdeführer in seinem Recht auf Achtung des Schuldprinzips und ein

faires Verfahren aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 23 Abs. 1 Satz 3 und Art. 79 Abs. 3 GG.

Demnach setzt eine Strafe bzw. die Strafzumessung stets die Feststellung der individuellen

Schuld voraus, wofür die Anwesenheit des Beschuldigten unabdingbar ist. Der

Schuldgrundsatz ist gefährdet, wenn die Ermittlung des wahren Sachverhaltes vor Ort

nicht sichergestellt ist und der Beschuldigte auf Grund der Verhandlung in seiner

Abwesenheit nicht die Möglichkeit hat, entlastende Umstände vorzutragen. Nach dem EU-

Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl kann die Auslieferung u.a. dann

verweigert werden, wenn dem Betroffenen in dem Land, in das er ausgeliefert werden soll,

kein Rechtsmittel zur Verfügung steht, in dessen Rahmen der Sachverhalt und neue

Beweismittel nochmals geprüft werden können.

Das italienische Prozessrecht eröffnet dem Beschwerdeführer jedoch gerade nicht die

Möglichkeit, eine erneute Beweisaufnahme im Berufungsverfahren zu erwirken. Dazu

heißt es im Leitsatz des Urteils:

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„Die deutsche Hoheitsgewalt darf die Hand nicht zu Verletzungen der

Menschenwürde durch andere Staaten reichen.“

Das BVerfG prüft hier also ausnahmsweise die Zulässigkeit eines europäischen

Rechtsaktes, nämlich des EU-Haftbefehls, am Maßstab des deutschen GG. Eine

Auslieferung auf der Grundlage des EU-Haftbefehls ist ausgeschlossen, wenn ein Verstoß

gegen die nationale Verfassungsidentität, nämlich die Menschenwürde oder

rechtsstaatliche Grundsätze, zu befürchten ist.

2. Fazit und Ausblick

Die Identitätskontrolle wurde hier erstmals vom BVerfG angewandt und kann – genau wie

die „ultra-vires“-Kontrolle - dazu führen, dass Unionsrecht in eng begrenzten

Ausnahmefällen in Deutschland für unanwendbar erklärt werden muss.

Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts findet damit zwei wichtige Einschränkungen,

die sich aus Art. 23 I 2 GG, Art. 5 I, II EUV bzw. Art. 23 I 3, 79 III, Art. 1 und 20 GG

ergeben.

Klausurtipp: In der Klausur ist direkt in der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde bei

der Beschwerdebefugnis darauf einzugehen, ob eine Grundrechtsverletzung im Hinblick

auf den „Solange II“-Vorbehalt überhaupt noch möglich ist.

Dabei ist zwischen „einfachen“ und „qualifizierten“ Grundrechtsverletzungen zu

differenzieren. Für „einfache“ Grundrechtsverletzungen ohne jeglichen Bezug zu Art. 1

und/oder Art. 20 GG bleibt es beim „Solange II“-Vorbehalt – eine Kontrolle durch das

BVerfG findet hier seit 1986 nicht mehr statt.

Demgegenüber müssen Sie bei qualifizierten Grundrechtsverletzungen, die sich aus

einem Verstoß gegen Art. 1 und/oder 20 GG ergeben, eine Identitätskontrolle vornehmen

(siehe dazu Fall 2 Hauptkurs EuropaR).

Unabhängig von der Art der Grundrechtsverletzung ist stets eine „ultra-vires“-Kontrolle

vorzunehmen, wobei sich für die Kompetenzverstöße der EU Anhaltspunkte im

Sachverhalt finden werden.

Der Senatsbeschluss vom 15.12.2015 wird sich mit der offiziellen Bezeichnung „Solange

III“ in die Reihe der o.g. Leitentscheidungen aus den Jahren 1974 und 1986 einreihen.

Das BVerfG hat hier - im Gegensatz zum o.g. EZB-Fall - eine Vorlage an den EuGH nach

Art. 267 AEUV nicht für notwendig gehalten, obwohl dem EuGH das

Auslegungsmonopol für Unionsrecht zusteht. Sofern die Auslegung des Europarechts

jedoch offenkundig sei und für vernünftige Zweifel an der richtigen Auslegung kein Raum

bleibe („acte clair“), sieht sich das BVerfG nicht zur Vorlage an den EuGH verpflichtet.

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B. Rettungsschirm I (siehe Ziffer 7 der o.g. Entscheidungen im Kasten)

Das BVerfG hat im Währungsunion-Finanzstabilitätsgesetz und im Gesetz zur Übernahme

von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus17

(sog.

Euro-Rettungsschirm) weder einen ausbrechenden Rechtsakt (vgl. Art. 122 II als

Ausnahme von der No-bail-out-Klausel des Art. 125 AEUV)18

noch einen Verstoß gegen

Art. 38 I GG gesehen.

Der Bundestag muss jedoch im Hinblick auf seine haushaltspolitische

Gesamtverantwortung bei der Gewährung jeder einzelnen Finanzhilfe (vgl. Art. 115 I

GG) aus dem Gesamtpaket (147,6 Mrd. Euro + 22,4 Mrd. Euro

Gewährleistungsermächtigung für Griechenland) beteiligt werden.

Nicht ausreichend ist eine pauschale Ermächtigung des Bundesfinanzministers durch das

Parlament über die Vergabe der Gewährleistungen in jedem Einzelfall selbst zu

entscheiden oder eine sonstige Verlagerung wesentlicher Entscheidungen auf ein

parlamentarisches Sondergremium (hier: Übertragung von Entscheidungsbefugnissen im

Rahmen des Europäischen Stabilitätsmechanismusses EFSF auf Sondergremium des

Haushaltsausschusses).19

Das BVerfG billigt dem Gesetzgeber im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeit, für

Gewährleistungen einstehen zu müssen, einen Einschätzungsspielraum zu und darf nur

prüfen, ob evidente Verletzungen vorliegen.

C. Rettungsschirm II (siehe Ziffer 8 der o.g. Entscheidungen)

Der Bundestag hat dem ESM und dem Fiskalpakt mit 2/3-Mehrheit zugestimmt (siehe

oben Tabelle zur Entstehungsgeschichte). Der dauerhafte Rettungsfonds ESM gilt nur in

der Eurozone und tritt erst in Kraft, wenn ihn so viele Euro-Mitgliedsstaaten ratifiziert

haben, dass sie mit ihren Anteilen 90 Prozent des Stammkapitals von 700 Milliarden

Euro stellen.

Deutschland kommt allein für 27,1 Prozent auf – also für insgesamt 190 Milliarden

Euro. Die Bundesregierung muss 21,7 Milliarden Euro bar einzahlen und 168,3

Milliarden Euro als Garantien bereitstellen. Hinzukommen Zahlungspflichten aus dem

provisorischen Rettungsschirm EFSF, aus dem Griechenland-Rettungspaket und ggf.

Nachschusspflichten, wenn andere Beteiligte ausfallen.

Nach Ansicht des BVerfG in seiner Eilentscheidung vom 12.09.2012 sind die

Abgeordneten der Linken, Peter Gauweiler und die Vereinigung „Mehr Demokratie“

durch die Errichtung eines dauerhaften Rettungsschirmes (ESM) nicht in ihren

grundrechtsgleichen Rechten bzw. Grundrechten aus Art. 38, 20 I, III, 79 III GG

17

Bestandteile des europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus: europäische VO vom 11.5.2010 zur Einführung eines

europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus und Beschluss der Euro-Staaten vom 7.6.2010 zur Gründung einer

europäischen Zweckgesellschaft (sog. Europäische Finanzstabilisierungsfazilität = EFSF). 18

Zustimmend: Wieland, NVwZ 2011, 340 (341 f.). To bail somebody out = jemandem aus der Klemme helfen. 19

BVerfG NVwZ 2012, 495, das auf einen Gleichbehandlungsanspruch der Abgeordneten aus Art. 38 I 2 GG abstellt.

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verletzt.20

Art. 79 III und Art. 23 I 3 GG setzen der Entäußerung von Kompetenzen durch

das Parlament zwar eine absolute Grenze zum Schutz der Identität der Verfassung, diese

Grenze sei allerdings nicht verletzt (JA).

Es müsse jedoch eine Haftungshöchstgrenze für die BRD geben, die nur mit Zustimmung

des Bundetages erhöht werden könne. Die demokratische Partizipation des Bundestages

im Gouverneursrat sei über den Finanzminister sicherzustellen (ABER).

Auch dieses Urteil des BVerfG wird als „Ja, aber“-Urteil bezeichnet.

F. Das Verhältnis von Unionsrecht und nationalem Recht

(dazu: Fall 1 und 2 HK)

I. Problem: Kollision von Sekundärrecht mit deutschem Verfassungsrecht Solange-

Rspr. des BVerfG von 1974 und 1986, „Kooperationsverhältnis“ zum EuGH ?

Anwendungsvorrang des UnionsR (≠ Geltungsvorrang)

BVerfG beschränkt sich auf „generelle Gewährleistung der unabdingbaren

Grundrechtsstandards“ und nimmt Verfassungsbeschwerden gegen UnionsR ohne nähere

Darlegung zum Absinken dieser Grundrechtsstandards nicht mehr zur Entscheidung an

(L&L 01, 64; Bananenmarkt-Verordnung)

Dabei bitte zwei Fragen unterscheiden:

1. Darf das BVerfG im Hinblick auf den Solange II-Vorbehalt überhaupt noch prüfen, ob

Unionsrecht gegen deutsche Grundrechte verstößt?

2. Wenn ja: Welche Grundrechte?

a) „einfache“ Grundrechtsverstöße

b) „qualifizierte“ Grundrechtsverstöße nach Art. 23 I 3, 79 III, 1, 20 GG, sog.

Identitätskontrolle21

II. Umsetzung von Richtlinien22

Beim Verstoß deutscher Ausführungsgesetze zu Richtlinien gegen das GG ist zu

differenzieren, ob es einen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Umsetzung der

RiLi gibt oder nicht.

20

Herz, Subjektives Recht gegen die europäische Integration? Zur Zulässigkeit einer Klage gegen das Zustimmungsgesetz zum

Vertrag von Lissabon, JA 2009, 573 ff. Ausführlich: Murswiek, Art. 38 GG als Grundlage eines Rechts auf Achtung des

unabänderlichen Verfassungskerns, JZ 2010, 702 ff. 21

Siehe dazu: hemmer/wüst, EuropaR, Rn. 280 ff. Polzin, Das Rangverhältnis von Verfassungs- und Unionsrecht nach der

neuesten Rechtsprechung des BVerfG, JuS 2012, S. 1 ff. Zur Vertiefung: Angela Schwerdtfeger, EuR 2015, 290 ff. (Heft 3). 22

Allgemein zur Wirkung von Richtlinien: Herrmann/Michl, JuS 2009, 1065 ff.

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- Bei Gestaltungsspielraum: volle Bindung an die Grundrechte und Vorlagen nach Art.

100 GG sowie Vb. gegen das Umsetzungsgesetz zulässig

- Bei fehlendem Gestaltungsspielraum (sog. richtliniendeterminierte Bestimmungen) ist

der Gesetzgeber von der Bindung an die Grundrechte nach dem Solange II-Vorbehalt

befreit und eine Vb. ist unzulässig.23

Zur richtlinienkonformen Auslegung (Art. 288 III AEUV i.V.m. Art. 4 III EUV) und

ihren Grenzen siehe Fn. 18 sowie am Beispiel des § 323 I, II Nr. 3 BGB und der VGK-

RiLi ausführlich Fall 5b). Zum Ganzen auch: Pötters, L&L 2010, 485 ff. (Heft 7).

III. Klassiker: Rückforderung europarechtswidriger Beihilfen an Private, die nicht bei der

KOM angemeldet worden sind (Art. 107, 108 AEUV), dazu: Fall 4 HK EuropaR Frage 2

und EuGH JZ 2008, 141 ff. mit Anm. Harratsch + Hensel. Zur Rückabwicklung nur

formell unionsrechtswidriger Beihilfen: Finck/Gurlit, Jura 2011, 87 ff.

gesteigertes öffentliches Rücknahmeinteresse überwiegt Vertrauensschutz des Bürgers

im Rahmen des § 48 II 2, 1 VwVfG, keine Frist nach § 48 IV 1 VwVfG!

Sonderfall: keine Anmeldepflicht bei „de minimis“-Beihilfen bis 100.000,- EUR

innerhalb von 3 Jahren, da der Gesetzgeber solche geringfügigen Beilhilfen für nicht

geeignet hält den gemeinsamen Markt zu beeinflussen.

G. Organe und Institutionen der EU

(vgl. auch Exkurs Fall 4), Art. 13 I EUV

I. Europäischer Rat, Art. 15 EUV, Art. 235 AEUV

= Treffen der Staats- und Regierungschefs 2x im Jahr (+ Präsident des Rats und der

KOM), keine Gesetzgebungsbefugnisse

II. Rat (Ministerrat), Art. 16 EUV, Art. 237 ff. AEUV

= parlamentsähnliche Legislative (Stichwort: Demokratiedefizit, siehe oben)

→ Mehrheiten: einfache, qualifizierte sowie Einstimmigkeit (z.B. bei Abweichung von

Vorschlägen der KOM)

- ab 2014 entscheiden die Mitgliedstaaten im Rat grundsätzlich mit „doppelter Mehrheit“,

d.h. ein Beschluss gilt als angenommen, wenn eine Mehrheit 55% der Mitgliedstaaten und

65% der Bevölkerung der EU ausmacht

23

Zum Prüfungsumfang des BVerfG bei richtlinienumsetzenden Gesetzen siehe auch: hemmer/wüst, EuropaR, Rn. 314 ff.;

Augsberg, DÖV 2010, S. 153 ff.

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III. Kommission, Art. 17 EUV, Art. 244 ff. AEUV („europäische Regierung“)

= Exekutive mit alleinigem Initiativrecht

- Umsetzung der EU-Politik, Verwaltung des Haushalts und Durchsetzung des EU-Rechts

als „Hüterin der Verträge“

- Wahl des Präsidenten auf Vorschlag des Europäischen Rates durch das EP

IV. Europäisches Parlament, Art. 14 EUV, Art. 233 ff. AEUV24

= einziges unmittelbar demokratisch legitimiertes Organ als Vertretung der Unionsbürger

mit 750 Sitzen ab 2009 zzgl. des Präsidenten (minimal 6, maximal 96 pro Mitgliedsstaat)25

- kein echtes Parlament, da in der Regel bloße Mitentscheidung zusammen mit Rat

- demokratische Kontrolle: kann KOM das Misstrauen aussprechen

AKTUELL: Zur Verfassungswidrigkeit der 3%-Sperrklausel nach § 2 VII EuWG bei

der Wahl des Europaparlaments wegen Verstoßes gegen die Walrechtsgleichheit und

Chancengleichheit der politischen Parteien: BVerfG, L&L 2014, 438 ff. (bitte lesen!).

Prüfungsmaßstab ist hier Art. 3 I GG (nicht: Art. 38 I 1 GG, siehe unten!).

Kernargument: Das Europäische Parlament ist (mit derzeit über 160 Parteien) nicht in

gleicher Weise, wie der Deutsche Bundestag auf stabile Mehrheiten für die Wahl einer

handlungsfähigen Regierung angewiesen (beachte aber: Art. 234 II AEUV und Wahl des

Präsidenten der KOM nach Art. 17 VII UA 1 S. 2 EUV).

Bitte den Unterschied zur anerkannten 5%-Sperrklausel in § 6 III BWG beachten, der

bei der Bundestagswahl 2013 sechzehn Prozent der Wählerstimmen zum Opfer fielen (d.h.

sieben Mio. Zweitstimmen). Hier kann bei der Prüfung unmittelbar auf Art. 38 I 1 GG

zurückgegriffen werden, der allerdings nur für die Wahlen des Deutschen Bundestages

gilt. Kurzer und prägnanter Überblick über das deutsche Wahlrecht von Minkoff/Grieger,

L&L 2012, 214 ff., 297 ff.

V. Europäischer Gerichtshof, Art. 19 EUV, Art. 251 AEUV ≠ EGMR

- Gerichtshof (EuGH), Gericht (Europäisches Gericht, früher: EuG erster Instanz),

Fachgerichte (derzeit nur für den öffentlichen Dienst)

- Verwerfungsmonopol zwecks Sicherung und Wahrung des Unionsrechts, 11

Generalanwälte (Art. 252 I 2 AEUV)

- zum geplanten Beitritt der EU zur EMRK nach Art. 6 II EUV i.V.m. Art. 59 II EMRK

siehe: EuGH JuS 2015, 567 ff.

Frage für Ausgeschlafene: Worüber entscheidet der Europäische Gerichtshof für

Menschenrechte (EGMR) in Straßburg und welche Fälle kennen Sie?26

24

Zur Vertiefung: Höreth, Die Selbstautorisierung des Agenten. Der EuGH im Vergleich zum U.S. Supreme Court, 2008. 25

Die Sitzvergabe orientiert sich an der jeweiligen Größe der Bevölkerung. Deutschland hat mit bis zum Ablauf der

Wahlperiode 99 Abgeordneten die meisten Sitze, Malta mit 6 am wenigsten. 26

Siehe dazu unter J.

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H. Rechtsquellen und Wirkung des Unionsrechts für den

Einzelnen

I. Primäres Unionsrecht (EUV, AEUV, Europäische Grundrechtscharta = EuGRC, vgl.

Art. 6 I EUV, Anhänge und Protokolle, GewohnheitsR)27

II. Sekundäres Unionsrecht (Art. 288 AEUV) = von den Organen geschaffenes Recht

1. Verordnungen („Gesetze der Union“) → wirken unmittelbar und bedürfen keines

Umsetzungsaktes, werden aber mitgliedstaatlich vollzogen, vgl. Fall 3 HK EuropaR

2. Richtlinien („Rahmengesetz“) → bedürfen der Umsetzung durch den nationalen

Gesetzgeber, Instrument der Rechtsvereinheitlichung insbes. im Verbraucherschutzrecht,

vgl. §§ 312 ff., 474 ff., 491 ff., 355 ff. BGB

3. Beschlüsse (siehe Fall 4 EuropaR)

Problem 1: Unmittelbare Wirkung von Richtlinien, Art. 288 III AEUV (dazu: Fall 5a)

und Fall 5b) Frage 1 HK)28

a) Vertikale Wirkung: Staat-Bürger

aa) Grundsätzlich: keine unmittelbare Wirkung, da RiLi im Gegensatz zur VO

umsetzungsbedürftig ist (zweistufiges Verfahren) und sich nur an den MS richtet, arg. ex

Art. 288 III AEUV, Bürger hat keinen unmittelbaren Rechtsschutz gegen Richtlinien, vgl.

Art. 263 IV AEUV, siehe dazu jüngst: EuGH L&L 2014, 445 ff. und Grundfall, S. 472 ff.

bb) Ausnahme: unmittelbare Wirkung (+), wenn…

- Umsetzungsfrist abgelaufen,

- RiLi nicht oder nicht ordnungsgemäß umgesetzt,

- RiLi inhaltlich unbedingt und hinreichend bestimmt, d.h. das Recht darf nicht an weitere

Umsetzungsakte geknüpft sein und die Rechte und Pflichten müssen sich unmittelbar aus

der RiLi ergeben

- RiLi enthält subjektives Recht für den Bürger

Arg.: praktische Wirksamkeit der RiLi (Art. 4 III EUV), Sanktionierung der

säumigen Mitgliedstaaten, der sich gegenüber dem Bürger nicht auf eigene

Pflichtverletzung (Nichtumsetzung der RiLi) berufen kann (Fall der unzulässigen

Rechtsausübung), effektiver Rechtsschutz für den Bürger

27

Huber, NJW 2011, 2385 ff. 28

Zum Problem der richtlinienkonformen Auslegung gegen den Wortlaut des nationalen Gesetzes siehe: BGH L&L 2010, 10

ff.; NJW 2009, 412 ff. In dem sog. Quelle-Fall ging es um die Pflicht des Käufers zum Wertersatz für die Nutzung einer

mangelhaften Sache nach §§ 439 IV, 346 I Var. 2, II Nr. 1 BGB. In einer solchen Pflicht sah der EuGH einen Verstoß gegen

die VerbrauchsgüterkaufRiLi. Siehe dazu mittlerweile: § 474 II 1 BGB n.F.: „Auf die in diesem Untertitel geregelten

Kaufverträge ist § 439 IV mit der Maßgabe anzuwenden, dass Nutzungen nicht herauszugeben oder durch ihren Wert

zu ersetzen sind.“ Kritisch zur Entwicklung im Verbraucherkreditrecht von einer Mindest- zu einer Vollharmonisierung siehe:

Gsell/Schellhase, JZ 2009, 20 ff.

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b) Horizontale Wirkung: Bürger-Bürger (-), siehe Fall 5a), b) Frage 1,

Argumente für die vertikale Drittwirkung der RiLi passen jetzt nicht mehr und

Abgrenzung zur VO darf nicht verschwimmen. Vielmehr darf der Bürger darauf vertrauen,

dass ihm nachteilige Wirkungen nur nach Maßgabe der nationalen

Umsetzungsmaßnahmen entstehen können (Rechtssicherheit).

Beachten: Die richtlinienkonforme Auslegung einer nationalen Vorschrift kann dagegen

auch zu einer Belastung privater Dritter führen. Sie bezieht sich sowohl auf

Umsetzungsgesetze als auch auf bereits bei Erlass einer Richtlinie bestehendes

mitgliedstaatliches Recht, vgl. HK Fall 5b) EuropaR und Hemmer/Wüst,

VerbraucherschutzR, 2. Auflage 2009, Rn. 13 ff.; dieselben, EuropaR, Rn. 85 ff.

Problem 2: Richtlinienkonforme Auslegung (siehe dazu: JZ 2011, 387 ff.)

Sonderfall: Richtlinien mit Doppelwirkung, insbes. im Umweltrecht (dort geht es aber

letztlich nicht um eine horizontale Wirkung, sondern um das Verhältnis des Nachbarn zum

Staat, der ein Einschreiten gegen den Anlagenbetreiber verlangt).

Frage: Hat der Bürger einen Anspruch gegen die nationale Behörde auf Aufstellen eines

Aktionsplans gegen Feinstaub?29

I. Die Grundfreiheiten

I. Warenverkehr, Art. 34 AEUV (dazu: Fall 6 und 7 Hauptkurs EuropaR)

1. Mengenmäßige Ein- und Ausfuhrbeschränkungen

2. Maßnahmen gleicher Wirkung wie 1.

a) Jede Handelsregelung der MS, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel

unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern (Dassonville-Formel)

b) Einschränkung durch Keck-Formel: keine Maßnahme gleicher Wirkung bei

vertriebsbezogenen Regelungen (z.B. Ladenschluss oder Werbeverbot, wirkt für alle

gleich kein Verstoß gg. Art. 34)

c) Cassis-Rspr.: Art. 34 AEUV gilt auch für unterschiedslos geltende Maßnahmen, daher

differenzieren zwischen offenen und versteckten Diskriminierungen

3. Rechtfertigungsgründe, Art. 36 und zwingende Gründe des Allgemeinwohls (z.B.

wirksame steuerliche Kontrolle, Schutz der öffentlichen Gesundheit, Lauterkeit des

Handelsverkehrs)30

29

Dazu: EuGH, C-237/07 vom 25.07.2008.

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II. Arbeitnehmerfreizügigkeit, Art. 45 AEUV (dazu Fall 9 Teil 2)

Beispiel: Ausländerbegrenzung im Profisport

Instruktiver Fall: EuGH L&L 2010, S. 840 ff. – Lyon (Ersatz von Ausbildungskosten für

einen Nachwuchsspieler und Vereinbarkeit mit Art. 45 AEUV)

III. Niederlassungsfreiheit, Art. 49 AEUV

Siehe dazu: EuGH L&L 2009, S. 543 ff. – Doc Morris II.

Der EuGH sieht in dem Fremdbesitzerverbot nach dem deutschen ApothekerG

(Erlaubnisnehmer muss Apotheker sein) einen Eingriff in Art. 49, 54 AEUV, der durch

zwingende Gründe des Allgemeinwohls, insbes. den Gesundheitsschutz gerechtfertigt ist.

IV. Dienstleistungsfreiheit, Art. 56 AEUV (Auffangtatbestand, dazu Fall 8)

1. Dienstleistungserbringer begibt sich über die Grenze

2. Dienstleistungsempfänger begibt sich über die Grenze

3. Nur die Leistung selbst überschreitet die Grenze (z.B. Fernsehen)

V. Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 63 ff. AEUV)

Wichtig: Die Mitgliedstaaten sind an die Unionsgrundrechte bei der Beschränkung von

Grundfreiheiten gebunden (siehe dazu: Ogorek, JA 2014, 954 ff. in Bezug auf besondere

Anforderungen an den Betrieb von Glücksspielautomaten in Österreich)

Allgemein zu den Grundfreiheiten: JA 2015, 39-55; JuS 2013, 503 ff. Zur Annäherung

von europäischen Grundrechten und Grundfreiheiten: Frenz, NVwZ 2011, S. 961 ff.

J. Das System des mehrdimensionalen Rechtsschutzes

I. Rechtsschutz vor dem EuGH31

1. Das Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV i.V.m. Art. 19 III EUV

Vorlagepflicht des konkreten letztinstanzlichen nationalen Gerichts (nicht nur der

Bundesgerichte), Art. 267 III AEUV

Jedes AG in Deutschland kann eine Norm des nationalen Rechts unangewendet lassen,

wenn es diese für europarechtswidrig hält (Vorrang des Unionsrechts)

30

Zur Anwendung der Keck-Formel auf Beschränkungen der Warenausfuhr siehe: EuGH JA 2009, 558 ff. sowie Streinz, JuS

2009, 652 ff. 31

Siehe dazu im Einzelnen: Fall 4 Frage 1 sowie Fälle 6-9 EuropaR. Zur Vertiefung zum Individualrechtsschutz im

europäischen Unionsrecht: Böhm, Rechtsschutz im EuropaR, JA 2009, 679 ff.; Ruffert, Die Grundfreiheiten im Recht der EU,

JuS 2009, S. 97 ff.; Lindner, – ein systematischer Überblick, JuS 2008, S. 1 ff.; Ehlers, Jura 2007, S. 505 ff.; Terhechte, JuS

2008, 403 ff. Zum Aufbau der Klagen: Fall 4, 6 und 7 Hauptkurs EurR. Allgemein zum Grundrechtsschutz durch europäische

und nationale Gerichte: Kirchhof, NJW 2011, S. 3681 ff.

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Ab dem Zeitpunkt der Vorlage an den EuGH gibt es keinen Vertrauensschutz mehr in die

Gültigkeit der nationalen Norm.

Konsequenz: direkte Unanwendbarkeit bei Primärrechtsverstoß

2. Das Vertragsverletzungsverfahren, Art. 258 AEUV

vom MS oder der Kommission eingeleitet, Rechtsfolge: Zwangsgeld

3. Die Nichtigkeitsklage, Art. 263 AEUV

vom MS, Rat, der Kommission sowie jeder natürlichen und juristischen Person

Gründe des Art. 263 II AEUV

Verwerfungsmonopol des EuGH bezüglich Rechtsakten der EU

Möglichkeit einstweiliger Anordnungen nach Art. 279 AEUV

Zu den Unterschieden zu Art. 100 GG: Pötters, L&L 2010, 485 ff.

II. Rechtsschutz vor dem EGMR

Häufige Zusatzfrage in der Klausur: Was wäre dem Beschwerdeführer – abgesehen von

dem nationalen Rechtsbehelf – noch zu raten?

Lösungsansatz: Einlegung einer Individualbeschwerde zum EGMR, Art. 34 ff. EMRK.

1. Prüfung der Zulässigkeit einer Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK

I. Zuständigkeit des EGMR

II. Beschwer = gegenwärtige Betroffenheit des Bf., d.h. Opfereigenschaft des Bf. nach Art.

34 EMRK, die noch nicht geheilt wurde

III. Beschwerdegegner: MS des Europarates, Art. 59 I 1 EMRK, z.B. BRD

IV. Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges, Art. 35 I EMRK

V. 6-Monatsfrist nach endgültiger innerstaatlicher Entscheidung (Art. 35 I) gewahrt, keine

sonstigen Unzulässigkeitsgründe (Art. 35 II, III), Schriftform (VerfO EGMR)

2. Verhältnis BVerfG / EGMR32

Entscheidung des EGMR stellt Verletzung der EMRK und damit eine

Menschenrechtsverletzung durch das BVerfG fest (hier: Entscheidungen Nr. 1, 2 und 4!!!)

Beachten: EMRK steht im Range eines einfachen Bundesgesetzes, die Mitgliedstaaten

sind zur völkerrechtskonformen Auslegung ihrer gesamten nationalen Rechtsordnung

verpflichtet, vgl. Art. 46 I EMRK.

Die EU tritt als Rechtssubjekt des Völkerrechts der EMRK nach Art. 6 II EUV i.V.m. Art.

59 II EMRK bei (siehe dazu aber: EuGH JuS 2015, 567 ff. – Heft 6, der u.a. eine bislang

fehlende Abstimmung der Art. 53 EMRK und Art. 53 GrCh sowie eine Beeinträchtigung

des Art. 344 AEUV moniert).

32

Siehe zum EGMR allgemein: Der Spiegel 42/2010, Die Superinstanz, S. 58 ff.

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Ausgewählte Entscheidungen

BVerfG EGMR

1. Caroline von Hannover, siehe dazu

insbes. BVerfGE 97, 125 ff. Caroline I;

E 101, 361 ff. – Caroline II

Privatsphärenschutz in der BRD

menschenrechtswidrig, Art. 8 EMRK

2. von Metzler/Gäfgen: Androhung von

Folter in der Vernehmung in der

Annahme, das Opfer würde noch leben

Verletzung von Art. 3, kein Verstoß

gegen Art. 6 EMRK (Fair-Trial)

3. Kruzifix, vgl. Fall 7 VerfR Verstoß gegen staatliche

Neutralitätspflicht, vgl. JZ 2010, 450 ff.

4. Rückwirkende Verlängerung der

Sicherungsverwahrung, vgl. § 67d III

StGB: Absolutes Rückwirkungsverbot

nach Art. 103 II GG gilt nur für Strafen,

nicht für Maßregeln.

Verstoß gegen Art. 5, 7 EMRK, vgl.

EGMR NJW 2010, 2495 ff.

Zu 1.: Der EGMR hat den Schutz der Privatsphäre in Deutschland im Hinblick auf das

Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art. 8 EMRK für unzureichend

gehalten. Die deutsche Rechtsprechung hat daraufhin die Figur der „absoluten Person“ der

Zeitgeschichte im Rahmen des § 23 I Nr. 1 KUG aufgegeben.

Literatur: Hoffmann-Riem, NJW 2009, S. 20 ff.; T. Hermann, L&L 2010, 334 ff.33

AKTUELL: EGMR, Urteil v. 19.02.2015, Az. 53495/09 – Bohlen und 53649/09 – Ernst

August. In beiden Fällen geht es um die unerlaubte Werbung mit dem Vornamen

Prominenter:

- „Schau mal, lieber Dieter, so einfach schreibt man super Bücher“ mit geschwärzten

Wörtern als Anspielung auf rechtswidrige Passagen in einem Buch von Dieter Bohlen

- Eingedrückte Zigarettenschachtel mit der Frage: „War das Ernst? Oder August?“

Der EGMR hält diese Werbung nach Art. 10 EMRK für zulässig, da

- aktuelles Thema

- Person des öffentlichen Lebens

- Zusammenhang zwischen Thema und Person

- keine Herabwürdigung.

Der BGH spricht in diesen Fällen von einer „satirisch-spöttischen Meinungsäußerung“ des

Werbenden. M.E. sehr fraglich, da Werbung für ein krebserregendes Produkt gegen den

Willen des Betroffenen stets herabwürdigend ist.

33

Bei meinem Aufsatz bitte beachten, dass es auf S. 338 in der linken Spalte unter der Abbildung zweimal „Art. 5 I S. 1“ statt

„Art. 5 I S. 2“ heißen muss. Den Zahlendreher bitte ich zu entschuldigen.

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Ferner beachtet der EGMR nicht hinreichend den Aspekt, dass es hier in erster Linie um

wirtschaftliche Aspekte und nicht um Kommunikation nach Art. 10 EMRK geht.34

Zu 2.: Der EGMR sieht mehrheitlich eine Verletzung von Art. 3 EMRK, der Folter und

unmenschliche Behandlungen verbietet (letztere bejaht die Große Kammer), aber keine

Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 6 EMRK). Da Gäfgens Aussage bei

der Polizei im Strafverfahren gegen ihn nicht verwertet wurde, liegt kein Verstoß gegen

Art. 6 vor, so dass die Verurteilung wegen Mordes und der Feststellung der besonderen

Schwere der Schuld (§ 57a I StGB) rechtens bleibt.

Literatur: Berberich/Heer, L&L 2011, 202 ff.; Grabenwarter, NJW 2010, 3128 ff.;

Schiedermair, JuS 2010, Heft 11; Jäger, JA 2008, 678.

Zu 4.: Im Gegensatz zum BVerfG sieht der EGMR in der Sicherungsverwahrung eine

„Strafe“ i.S.v. Art. 7 sowie einen Eingriff in das Recht auf Freiheit nach Art. 5 EMRK.

Die nachträgliche Verlängerung der Sicherungsverwahrung war eine zusätzliche Strafe auf

Grund eines Gesetzes, das erst nach Begehung der Straftat in Krfat getreten ist.

Literatur: Esser, JA 2011, 727 ff.; Anmerkung von Eschelbach, NJW 2010, 2499 f.;

Berberich, L&L Heft 10/2011

K. Rückabwicklung vertraglich gewährter Beihilfen,

die gegen Europarecht verstoßen

Unterschied zu Fall 4 EuropaR: Dort wurde die Subvention durch VA gewährt. Hier ist

der Rechtsgrund dagegen ein Vertrag, der gegen Unionsrecht verstößt.

Lösungsansatz:

I. Nichtigkeit des Vertrages, der die Beihilfe gewährt

§ 134 BGB i.V.m. Art. 108 III 3 AEUV

II. Rückforderung der gewährten Beihilfe

1. RGL: § 49a VwVfG (-) mangels VA

2. RGL: ö-r. Erstattungsanspruch

Maßgeblich für Rechtsnatur ist der Rechtsgrund

privatrechtlicher Vertrag

Rückforderung daher über §§ 812 ff. BGB

Dennoch ö-r. Natur wegen ö-r. Entscheidung der KOM?

34

Zur Vertiefung: T. Hermann, L&L 2010, 334 ff.; derselbe, Der Werbewert der Prominenz – Vermögensrechtliche

Ansprüche bei werblicher Zwangskommerzialisierung insbesondere von Politikern, insbes. S. 118 ff.

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zweifelhaft, da zweite Stufe zwischen Mitgliedstaat und Subventionsempfänger

privatrechtlich

III. VA-befugnis

1. OVG Berlin-Brandenburg, NJW 2006, 104 = L&L 06, 409ff.: (+)

P: Vorbehalt des Gesetzes, Art. 20 III GG

Art. 14 III Beihilfeverfahrensordnung (BVVO)

„Unbeschadet einer Entscheidung des Gerichtshofes der Europäischen

Gemeinschaften… erfolgt die Rückforderung unverzüglich und nach dem Verfahren

des betroffenen Mitgliedstaates, sofern hierdurch die sofortige und tatsächliche

Vollstreckung der Kommissionsentscheidung ermöglicht wird. Zu diesem Zweck

unternehmen die betroffenen Mitgliedstaaten im Fall eines Verfahrens vor den

nationalen Gerichten unbeschadet des Unionsrechts alle in ihren jeweiligen

Rechtsordnungen verfügbaren erforderlichen Schritte einschließlich vorläufiger

Maßnahmen.“

2. VG Berlin, EuZW 2005, 659: Leistungsklage vor ZivilG

Grundsatz der Waffengleichheit

Dazu: Jura 2007, 612 ff.; Jura 2008, 275 ff. (bitte unbedingt lesen!)

L. Wiederholungs- und Vertiefungsfragen

zur eigenständigen Bearbeitung35

1. Was versteht man unter dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 I EUV)

und dem Subsidiaritätsprinzip (vgl. Art. 5 III EUV)? Siehe dazu Art. 5 II EUV.

2. a) Erläutern Sie das „Drei-Säulen-Modell“. b) Warum wurde der Begriff „EWG“ in der

ersten Säule durch „EG“ abgelöst? c) Was ist mit der dritten Säule (PJZS) im Vertrag von

Lissabon geschehen?

3. a) Welche verschiedenen „Räte“ gibt es auf europäischer Ebene?

b) und sind diese demokratisch legitimiert?

c) Welche weiteren europäischen Organe kennen Sie?

4. Was versteht man unter Primär- und Sekundärrecht? Zählen Grün- und Weißbücher der

Kommission auch dazu? In welchem Rang steht die GR-Charta?

35

Antworten ergeben sich aus der Teilnahme am Hauptkurs sowie der Nacharbeit der Unterlagen. Die Fragen sind

insbesondere für die Mündliche geeignet, um Grundverständnis abzuprüfen. Daher bitte unbedingt durcharbeiten.

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5. Gibt bzw. gab es eine europäische Verfassung mit eigenen Grundrechten?

Wie leitet der EuGH die europäischen Grundrechte her?

6. Erläutern Sie den Mechanismus des Art. 23 I GG und die Grenzen der europäischen

Integration. Was versteht man in diesem Zusammenhang unter dem „Solange II-

Vorbehalt“, der „Identitätskontrolle“ sowie der „ultra-vires“-Kontrolle?

7. Ist die EU ein Staat? Welche Kriterien sind dafür heranzuziehen (Stichwort: 3-

Elemente-Lehre)?

8. Was halten Sie im Hinblick auf Art. 18 AEUV von der Einführung einer Maut in

Deutschland, bei welcher die deutschen Autofahrer die Maut über die Kfz-Steuer erstatten

bekommen?36

M. Abschließend ein Auszug wichtiger Normen des Europarechts,

die Ihr kennen solltet:

Art. 23 GG: „Fahrstuhlnorm”, siehe dazu Besprechung im Kurs,

Art. 4 III EUV: Grundsatz der praktischen Wirksamkeit des EuropaR, (S) effet utile (F. 4),

Art. 5 EUV: Subsidiarität, Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung der EU,

Art. 6 EUV: GrCh als Bestandteil des primären Unionsrechts (in diesem Zusammenhang

bitte auch Art. 51 GrCh beachten) und Beitritt der EU zur EMRK,

Art. 50 EUV: Austritt aus der EU,

Art. 34, 45, 49, 56 AEUV: Grundfreiheiten (vgl. Fall 6-9),

Art. 107 f. AEUV: staatliche Beihilfen (vgl. Fall 4),

Art. 125 AEUV: Nichtbeistandsklausel, (S) No-bail-out-Klausel37

,

Art. 136 III AEUV: Ermächtigung zur Errichtung eines dauerhaften Rettungsschirmes,

Art. 223 ff. AEUV: Organe der Union,

Art. 258, 263, 267 AEUV: Klagearten,

Art. 288 AEUV (sekundäres Unionsrecht).

36

Siehe dazu Klausur in JuS 2014, 812 ff. kombiniert mit POR. 37

Siehe dazu die Darstellung oben unter E. zum Rettungsschirm.