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Medikamentöse Behandlung von Aufmerksam- keitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) und komorbiden Störungen Georg Wiesegger 1, 2 , Christian Kienbacher 2 , Elisabeth Pellegrini 2 , Hans Scheidinger 2 , Christine Vesely 2 , Waltraud Bangerl 2 und Max Friedrich 2 1 Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Klinische Abteilung für Biologische Psychiatrie, Medizinische Universität Wien 2 Universitätsklinik für Psychiatrie des Kindes- und Jugendalters, Medizinische Universität Wien Neuropsychiatrie, Band 21, Nr. 3/2007, S. 187–206 Übersicht Review Schlüsselwörter: ADHS – Komorbidität – Pharmakotherapie Algorithmus – Methylphenidat – Atomoxetin Key words: ADHD – comorbidity – pharmacotherapy – algorithm – Methylphenidate – Atomoxe- tine Medikamentöse Behandlung von Aufmerksamkeitsdefizit-Hyper- aktivitätssyndrom (ADHS) und komorbiden Störungen Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyper- aktivitätsstörung (ADHS) ist eine der am häufigsten gestellten Diagnosen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. PatientInnen mit ADHS weisen ein erhöhtes Risiko für komorbide psy- chische Störungen, v. a. affektive Stö- rungen, Angststörungen, Tic-Störun- gen und Störungen des Sozialverhal- tens auf. Ziel vorliegender Arbeit ist es, jeweils einen möglichen Behand- lungsalgorithmus des ADHS bei komorbid vorhandener psychiatri- scher Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen nach Kriterien und Methoden der Evidence-based Medi- cine zu präsentieren. Dieser Algorith- mus soll die aktuelle Datenlage zusammenfassen und ÄrztInnen, die diese psychischen Störungen diagno- stizieren und behandeln, als Richtli- nie unterstützen. Stimulanzien sind in der medikamen- tösen Behandlung von ADHS ohne komorbide Störung Therapie der ersten Wahl. Bei gleichzeitigem Vor- handensein von Aggression, Depres- sion und Tic-Störung ist zunächst ebenfalls eine Therapie mit Stimulan- zien einzuleiten und nur bei unverän- dertem Persistieren der komorbiden Symptomatik spezifische pharmako- logische Therapie in Kombination einzusetzen. Bei gleichzeitig vorhan- dener Angststörung ist Atomoxetin als Medikation erster Wahl zu erwä- gen. Pharmacotherapy of Attention- Deficit/Hyperactivity Disorder (ADHD) and Comorbid Disor- ders Attention-Deficit/Hyperactivity Dis- order (ADHD) is one of the most commonly diagnosed disorders in child and adolescent psychiatry. Patients with ADHD show increased risk for comorbid psychiatric disor- ders such as mood disorders, anxiety disorders, tic disorders and disruptive behavior disorders. Using criteria and methods of evidence-based medicine, in this paper possible algorithms for ADHD and comorbid disorders are presented. In conclusion, these algo- rithms aim to support health care pro- fessionals and can serve as guideline in decision making in pharmacother- apy. Stimulants are first-line medica- tion treatment of ADHD without comorbid disorder. In co-existing aggression, major depressive disorder and tic disorder treatment with stimu- lants should be initialised at first. Only in case of unchanged persist- ence of comorbid symptoms specific pharmacological therapy should be combined. In comorbid anxiety disor- ders atomoxetine can be used as first- line treatment. 1. Einleitung Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyper- aktivitätsstörung (ADHS) ist eine der am häufigsten gestellten Diagnosen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Die Prävalenz beträgt 5-10% [10]. Die Leitsymptome – Mangel an kog- nitiver Ausdauer und Hyperaktivität sowie Impulsivität – haben beträchtli- che Auswirkungen sowohl auf den unmittelbaren Leidensdruck wie auch auf die schulische und soziale Ent- wicklung der betroffenen PatientIn- nen. Weiters weisen PatientInnen mit © 2007 Dustri-Verlag Dr. Karl Feistle ISSN 0948-6259

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Medikamentöse Behandlung von Aufmerksam-keitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) undkomorbiden Störungen

Georg Wiesegger1, 2, Christian Kienbacher2, Elisabeth Pellegrini2,

Hans Scheidinger2, Christine Vesely2, Waltraud Bangerl2 und Max Friedrich2

1 Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Klinische Abteilung für

Biologische Psychiatrie, Medizinische Universität Wien2 Universitätsklinik für Psychiatrie des Kindes- und Jugendalters,

Medizinische Universität Wien

Neuropsychiatrie, Band 21, Nr. 3/2007, S. 187–206ÜbersichtReview

Schlüsselwörter:ADHS – Komorbidität – Pharmakotherapie

– Algorithmus – Methylphenidat –

Atomoxetin

Key words:ADHD – comorbidity – pharmacotherapy –

algorithm – Methylphenidate – Atomoxe-

tine

Medikamentöse Behandlung vonAufmerksamkeitsdefizit-Hyper-aktivitätssyndrom (ADHS) undkomorbiden StörungenDie Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyper-aktivitätsstörung (ADHS) ist eine deram häufigsten gestellten Diagnosenin der Kinder- und Jugendpsychiatrie.PatientInnen mit ADHS weisen einerhöhtes Risiko für komorbide psy-chische Störungen, v. a. affektive Stö-rungen, Angststörungen, Tic-Störun-gen und Störungen des Sozialverhal-tens auf. Ziel vorliegender Arbeit istes, jeweils einen möglichen Behand-lungsalgorithmus des ADHS beikomorbid vorhandener psychiatri-scher Erkrankungen bei Kindern undJugendlichen nach Kriterien undMethoden der Evidence-based Medi-

cine zu präsentieren. Dieser Algorith-mus soll die aktuelle Datenlagezusammenfassen und ÄrztInnen, diediese psychischen Störungen diagno-stizieren und behandeln, als Richtli-nie unterstützen. Stimulanzien sind in der medikamen-tösen Behandlung von ADHS ohnekomorbide Störung Therapie derersten Wahl. Bei gleichzeitigem Vor-handensein von Aggression, Depres-sion und Tic-Störung ist zunächstebenfalls eine Therapie mit Stimulan-zien einzuleiten und nur bei unverän-dertem Persistieren der komorbidenSymptomatik spezifische pharmako-logische Therapie in Kombinationeinzusetzen. Bei gleichzeitig vorhan-dener Angststörung ist Atomoxetinals Medikation erster Wahl zu erwä-gen.

Pharmacotherapy of Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder(ADHD) and Comorbid Disor-dersAttention-Deficit/Hyperactivity Dis-order (ADHD) is one of the mostcommonly diagnosed disorders inchild and adolescent psychiatry.Patients with ADHD show increasedrisk for comorbid psychiatric disor-ders such as mood disorders, anxietydisorders, tic disorders and disruptivebehavior disorders. Using criteria and

methods of evidence-based medicine,in this paper possible algorithms forADHD and comorbid disorders arepresented. In conclusion, these algo-rithms aim to support health care pro-fessionals and can serve as guidelinein decision making in pharmacother-apy. Stimulants are first-line medica-tion treatment of ADHD withoutcomorbid disorder. In co-existingaggression, major depressive disorderand tic disorder treatment with stimu-lants should be initialised at first.Only in case of unchanged persist-ence of comorbid symptoms specificpharmacological therapy should becombined. In comorbid anxiety disor-ders atomoxetine can be used as first-line treatment.

1. Einleitung

Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyper-aktivitätsstörung (ADHS) ist eine deram häufigsten gestellten Diagnosenin der Kinder- und Jugendpsychiatrie.Die Prävalenz beträgt 5-10% [10].Die Leitsymptome – Mangel an kog-nitiver Ausdauer und Hyperaktivitätsowie Impulsivität – haben beträchtli-che Auswirkungen sowohl auf denunmittelbaren Leidensdruck wie auchauf die schulische und soziale Ent-wicklung der betroffenen PatientIn-nen. Weiters weisen PatientInnen mit

© 2007Dustri-Verlag Dr. Karl FeistleISSN 0948-6259

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ADHS ein erhöhtes Risiko für ko-morbide psychische Störungen, v. a.affektive Störungen, Angststörungen,Tic-Störungen und Störungen desSozialverhaltens auf [17]. Eine ratio-nal gut begründbare Vorgangsweisein der Therapie ist daher dringlichindiziert. Trotz dieser Bedeutung exi-stieren bislang nur in wenigen Län-dern Leitlinien für die Symptomer-fassung, Diagnose und die Therapieder ADHS mit komorbider Störung. Ziel dieser Arbeit ist es, einen mög-lichen Behandlungsalgorithmus nachKriterien der Evidence-based-Medi-cine (EBM) nach erfolgter Diagnoseeines Aufmerksamkeitsdefizit-Hy-peraktivitätssyndroms (ADHS) beigleichzeitig komorbid vorhandenerpsychiatrischer Diagnose für Kinderund Jugendliche zu präsentieren. Die-ser Algorithmus soll die aktuelle Da-tenlage zusammenfassen und ÄrztIn-nen, die diese psychischen Störungendiagnostizieren und behandeln, unter-stützen. Wie bei allen medizinischenVorgangsweisen können Abweichun-gen von den präsentierten Modellenin individuellen Fällen erforderlichund erfolgreich sein. Wir sehen vor-liegende Arbeit als klinisch und wis-senschaftlich orientierten Beitrag zurmedikamentösen Behandlung vonADHS bei komorbider psychiatri-scher Erkrankung nach aktuellemWissensstand.

2. Methodik

Der vorliegende Übersichtsartikelwurde durch Zusammenarbeit derAutorInnen in persönlicher Diskus-sion und durch schriftlichen Aus-tausch erarbeitet. Die Therapieemp-fehlungen entstanden weiters durchSynopsis publizierter Therapiestu-dien (Suche in Medline 1980 – 2006mit den einzelnen Wirkstoffen undden Suchbegriffen „ADHD“ bzw.„ADHS“ und „Therapy“ oder „Phar-macotherapy“ bzw. „Therapie“ oder„Pharmakotherapie“) und durchOrientierung an international publi-

zierten Leitlinien [1], [2], [3], [4], [8],[14], [16], [29], [35], [38], [39], [44].Für die Bezeichnung „Therapie ersterWahl“ war zumindest eine publizierterandomisierte und/oder doppelblindeStudie und konsensuelle Meinung inder Arbeitsgruppe erforderlich. Trotzder in den letzten Jahren rasant stei-genden Anzahl von Publikationenzum Thema ADHS konnte nichtdurchgängig ein systematisiertesAuswahlverfahren gewählt werden:Da insgesamt die Datenlage beiADHS und komorbider Störung alsäußerst dürftig zu bezeichnen ist,konnte ausschließlich für den Algo-rithmus des ADHS ohne komorbideStörung sehr gute empirische Evi-denz erarbeitet werden. Die vorlie-gende Arbeit besteht aus einer narra-tiven und einer graphischen Darstel-lung der Algorithmen.

3. Allgemeines zur Diag-noseerstellung

ADHS stellt ausschließlich eine „kli-nische Diagnose“ nach den Diagno-sesystemen ICD-10 [55] bzw. DSM-IV-TR [43] dar. Ein adäquater Dia-gnoseprozess bei Verdacht auf ADHSist daher obligater Bestandteil. DieDiagnose soll daher streng, wie indiesen Manualen und diversen Leitli-nien [1], [2], [3], [4], [14], [35] vor-gesehen, im Rahmen eines Interviewsmit dem/der PatientIn und seinen/ihren Eltern und des darin erhobenenaktuellen psychopathologischen Be-fundes und des Verlaufs seit demAuftreten erster Symptome erstelltwerden. Testpsychologische Unter-suchungen sowie Informationen ausund Beobachtung in anderen sozialenKontexten (z. B. Schule, Sportverein,etc.) des/der PatientIn erhöhen diediagnostische Sicherheit (methodi-sche Hinweise diesbezüglich siehe[2], [3], [14] und Tabelle 1) und sindin der alltäglichen Praxis oft unver-zichtbar. Analog dazu ist die Diagno-se der komorbiden Störung ebenfallsnicht ausschließlich durch Explora-

tion des/der PatientIn zu erstellen. Esist an dieser Stelle festzuhalten, dassfür die Beurteilung der Exekutivfunk-tionen bei Kindern unter dem achtenLebensjahr zurzeit keine den Testgü-tekriterien entsprechende Instrumen-te vorliegen. Dies ist von großer kli-nischer Relevanz, da Kinder mitADHS insbesondere in den erstenzwei Schuljahren erstmals an ihre(sozialen) Grenzen gelangen. Einefrühzeitige Diagnostik und Interven-tion könnte dies und eventuellesekundäre Folgen wie z. B. komorbi-de Störungen verhindern. Es ist daherbei Diagnostik des ADHS vor demachten Lebensjahr auf eine besondersumsichtige Vorgangsweise zu achten.Computer-unterstützte Diagnosein-strumente könnten Teilbereich diesertestdiagnostischen Lücke der Papier-Bleistift-Tests schließen: In den letz-ten Jahren fand das T.O.V.A.®-Test-system (Test of Variables of Atten-tion; The TOVA Company, Inc.,USA) zur Überprüfung der Aufmerk-samkeit international Verwendung.Dieses Testsystem kann laut Herstel-lerangaben zum Screening von Auf-merksamkeitsstörungen vom 4. bis80. Lebensjahr eingesetzt werden. Daes ausschließlich Aufmerksamkeitprüft, ist es unserer Ansicht als allei-niges Diagnoseinstrument ungeeig-net. Ebenso ist sein Stellenwert imRahmen des Therapiemonitoringseinzuschätzen. Ein weiterer Einwandsind unklare Angaben zu den Testgü-tekriterien. Von der Anwendung als„do-it-yourself“-Test muss abgeratenwerden, sein Einsatz in Ergänzungeiner größeren Testbatterie im Rah-men einer umfassenden professio-nellen Abklärung ist zu befürworten.

Wir wenden im Weiteren bei Erfas-sung der Diagnose und der komorbi-den Störung die im ICD-10 [55] vor-gegebenen Kriterien an. Die Untertei-lung in Subtypen des ADHS wie im DSM-IV-TR (Überwiegen vonHyperaktivitäts- oder von Aufmerk-samkeitsdefizit-Symptomen) findetdaher keine Berücksichtigung. Dasdiagnostische Merkmal „Impulsi-

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Tabelle 1: Auswahl an Psychologischen Instrumenten bei ADHS und komorbiden Störungen.

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vität“ findet in den beiden Diagno-semanualen unterschiedliche Berük-ksichtigung: Während das ICD-10Mangel an kognitiver Ausdauer undHyperaktivität als Kardinalsymptomebenennt und Impulsivität als „Be-gleitmerkmal“ nicht zwingend not-wendig für die Diagnose „einfacheAktivitäts- und Aufmerksamkeitsstö-rung“ (F90.0) ist, stellt im DSM-IV-TR Impulsivität einen Teil der Triasmit Aufmerksamkeitsstörung und

Hyperaktivität dar. Eine Übersichtzur Klassifikation in beiden Manua-len findet sich in der Tabelle 2a. Eine Aufmerksamkeitsstörung ohneHyperaktivität wird nach ICD-10unter F98.8 klassifiziert. Auf sie wirdim Rahmen dieser Arbeit nicht einge-gangen. Die bei der Diagnoseerstellung inBetracht kommenden Differenzialdi-agnosen für ADHS (ICD-10: F90.0)sind in Tabelle 3 zusammengefasst.

Eine Beeinträchtigung der kogniti-ven, motorischen, emotionalen odersprachlichen Entwicklung ist bei derDiagnosestellung zu berücksichtigen.Insbesondere bei Intelligenzminde-rung (ICD-10 F7) sind differenzialdi-agnostische Überlegungen mittelsTestpsychologie genauestens zu bele-gen und die Indikation von Medika-tion zur Behandlung von ADHSstreng zu stellen.

Tabelle 2a: Gegenüberstellung der Diagnosen der Hyperkinetischen Syndrome in ICD-10 und DSM-IV-TR

Tabelle 2b: Gegenüberstellung der Diagnosen des oppositionellen Verhaltens in ICD-10 und DSM-IV-TR

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4. Pathogenese und neu-robiologische Grundlagen

Die Anzahl an Publikationen zumThema ADHS nahm in den letztenJahren durch die Anwendung neuerwissenschaftlicher Methoden (insbe-sondere Genetik, Neuroimaging)deutlich zu. Dies hat zu einer Fokus-sierung auf die neuro(patho)physiolo-gischen Veränderungen in den unter-schiedlichen cerebralen Assoziations-bahnen zur Erklärung des Phänomens„ADHS“ geführt. Wir verweisen hierexemplarisch auf die im Literaturver-zeichnis angeführten Übersichtsarbei-ten [10], [17], [37], [40], [45], [47],[49]. Darüber hinaus existieren zahl-reiche Hypothesen über nicht-biologi-sche Faktoren bei der Entstehung vonADHS. Deren Bedeutung ist zumgegenwärtigen Zeitpunkt ungeklärt.Die in der Literatur beschriebenenpsychosozialen Indikatoren scheinenwenig spezifisch für das Auftretenvon ADHS, sondern allgemein Prä-diktoren des so genannten „Adaptive

Functioning“ und der emotionalenGesundheit von Kindern und Jugend-lichen zu sein [17].

5. ADHS ohne komorbideSymptomatik

Bevor medikamentöse Behandlunginitiiert wird, ist es unerlässlich, eineausführliche Diagnostik (Allgemei-nes siehe oben, zu PsychologischenInstrumenten siehe Tabelle 1, zur Dif-ferenzialdiagnose siehe Tabelle 3)durchzuführen. Danach sind je nachSymptomkonstellation unterschiedli-che psychosoziale Maßnahmen (sie-he Tabelle 4) einzuleiten. Diese Inter-ventionen sind nicht nur vor Beginneiner medikamentösen Behandlungindiziert, sondern stellen integrativenBestandteil eines langfristigen Ge-samtbehandlungsplanes des/der In-dexpatientIn und seines/ihres sozia-len Systems dar. Nicht nur bei Vorlie-gen komorbider Störungen, sondern

auch bei „einfacher ADHS“ gibt eserste Hinweise, dass eine Kombina-tionstherapie aus medikamentösenund psychosozialen Interventioneneiner Therapie aus ausschließlicheiner der beiden genannten Interven-tionen überlegen sein könnte [25].Insbesondere bei Vorhandensein vonTeilleistungsstörungen können darü-ber hinaus Ergotherapie und Physio-therapie als Bestandteil eines umfas-senden Behandlungskonzeptes indi-ziert sein.Für folgende Therapieverfahren lie-gen zur Zeit keine wissenschaftlicheÜberprüfungen nach Kriterien derEBM vor: Festhaltetherapie nach Pre-kop, Diäten (z. B. zuckerfreie Ernäh-rung) und Nahrungsergänzungsmittel(Calcium, Ω-3-Fettsäuren, Algen),Bachblüten, Homöopathie, Prismen-brille, Cranio-Sacral-Therapie, Kine-siologie, Audio-Psycho-Phonologienach A. Tomatis („Mozart-Thera-pie“). Eine Anwendung kann daheraus unserer Sicht nicht empfohlenwerden.

Tabelle 3: Differenzialdiagnosen des ADHS

1 Paediatric autoimmune neuropsychiatric disorder associated with streptococcal infection.

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Tabelle 4: Psychosoziale Interventionen bei ADHS.

1 adaptiert nach Lehmkuhl (2004) [31]* Wirksamkeit nicht validiert, keine oder wenig empirische Daten verfügbar. Positive klinische Erfahrungen bei Anwendung.+ unmittelbare Effekte empirisch belegt. +/- möglicherweise erfolgreich nach Datenlage.- weniger erfolgreich nach Datenlage.

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Primäre Pharmakotherapie ist indi-ziert, wenn stark ausgeprägte, inmehreren sozialen Situationen auftre-tende Hyperaktivität mit massiverBelastung der sozialen Interaktionendes/der PatientIn vorliegt. Diese soll-te nicht vor dem 6. Lebensjahr ver-ordnet werden. Bei weniger akutenSymptomkonstellationen und beiBetonung der Aufmerksamkeitsstö-rung sollen nicht-medikamentöseInterventionen zur Anwendung kom-men [3], [14], (Tabelle 4). Die Erhe-bung sowie die Verlaufskontrolle derSymptome erfolgt durch Befragungdes/der PatientIn und der Elternsowie - wenn möglich - zumindest

einer weiteren Person aus einemanderen sozialen System des/derPatientIn. Für die Indikationsstellungsind eine Einschätzung des Schwere-grades der Symptomatik und derBeeinträchtigung der/der PatientInim Kontext seiner/ihrer angemesse-nen Entwicklungsstufe erforderlich.Vor Beginn der medikamentösenBehandlung sind ausführliche Infor-mationsgespräche über die medika-mentöse Therapie insbesondere mitden Eltern obligat. Weiters ist für dieEvaluation des Therapieerfolges einInformationsaustausch mit Personenaus anderen sozialen Systemendes/der PatientIn, in denen Sympto-

matik beobachtbar ist, - insbesondereder Schule - notwendig. Darüber hin-aus ist eine somatische Abklärung mitEKG, Vitalparametern, Leberfunk-tionsparametern, Blutbild, Schilddrü-senwerten, Blutchemie – Metaboli-ten, Elektrolyten sowie Messung derGröße und des Gewichts indiziert(Tabelle 5a und 5b).

Wirkstoff der 1. Wahl - Methylphe-nidatWirkstoff der 1. Wahl ist Methylphe-nidat1 (MPH) (Graphik 1). MPHblockiert die Wiederaufnahme vonDopamin und Norepinephrin, erhöht

Tabelle 5a: Körperliche Untersuchungen bei Einstellung auf Stimulanzien.

* nach Erreichung der Zieldosis

Tabelle 5b: Körperliche Untersuchungen bei Einstellung auf ATX.

* nach Erreichung der Zieldosis

1 In Österreich ist zur Zeit noch ein weiterer Wirkstoff aus der Gruppe der Stimulanzien in der Indikation ADHS zugelassen: D-L-Amphetamin istals Racemat in einer wasserlöslichen Zubereitungsform (zumeist als Sirup) verschreibbar. Aufgrund der ungenauen und umständlichen Handhabungder Verabreichung (PatientIn oder Eltern müssen die genaue Dosis pipettieren) sehen wir die Anwendung nur in Ausnahmefällen als indiziert. DieTagesdosis beträgt 0,1 – 0,5mg/kg Körpergewicht aufgeteilt auf 1-3 Einzelgaben. Die Maximaldosis sollte 30mg/d nicht überschreiten. Internatio-nal stellt D-L-Amphetamin aufgrund einer verfügbaren Zubereitung als Tablette (Adderall® retardiert (XR) und immediate-release (IR)) eine zuMPH gleichwertige Option in der Behandlung dar. In den USA ist weiters u.a. d-Methylphenidat in retardierter Form (Focalin® XR) erhältlich.

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dadurch Dopamin im synaptischenSpalt und beeinflusst so das für dieSymptomatik vermutlich hauptver-antwortliche Netzwerk zwischen prä-frontalem Cortex (PFC) – Striatum –Thalamus. Es bestehen keine absoluten Kontra-indikationen gegen eine Behandlungmit Stimulanzien. Als relative Kon-traindikationen sind Epilepsie, Tic-Störung, Tachycardie und bekannteHerzrhythmus-Störungen, sowieDrogen-Abusus in Betracht zu ziehen(Tabelle 6).Im ambulanten Setting empfehlen wir– wenn möglich – eine Probedosisvon 5mg als Einmalgabe am Vormit-tag und anschließende Verhaltensbe-obachtung im Wartezimmer (max.Konzentration im Striatum nicht vor60min [53]). Der therapeutischeEffekt verläuft parallel zur Serum-Konzentration mit einer maximalenReduktion der ADHS-Symptomatiknach 1,5 – 2h nach Gabe einer nicht-retardierten Zubereitung. Eine neuer-liche Gabe von MPH ist nach ca. 4herforderlich [52]. Die optimale Do-sierung liegt zwischen 0,5 – 1 mg/kgKörpergewicht, aufgrund der großenUnterschiede in der therapeutischenWirkung ist eine Bandbreite von 5 –20mg pro Gabe (zumeist 3x täglich)anzugeben. Die große Variabilität

(Ansprechrate, quantitativer Erfolg inSymptomreduktion, Pharmakokine-tik u. v. m.) ist mit Parametern wieAlter, Gewicht, Absorption des Wirk-stoffs u. ä. nicht ausreichend zu erklä-ren. Es werden aktuell unter anderemUnterschiede in der Aktivität desDopamin-Transporter und der Dopa-min-Rezeptor-Sensitivität postuliert[52]. Meist ist eine schrittweise Auf-dosierung auf eine Tagesdosis von30mg (verteilt auf drei Einzeldosenvon 10mg im Abstand von 3-4h) not-wendig. Eine Dosierung von 60mg/dsollte nur bei höherem Körperge-wicht überschritten werden. Laufen-de Kontrollen von Puls und Blut-druck sowie zu Beginn engmaschiges(wöchentliches) Monitoring vonBegleitwirkungen (u. a. Inappetenz,Insomnie, Apathie, Tics) sind erfor-derlich. Zur Vermeidung von Appetit-losigkeit ist eine Gabe zu oder kurznach den Mahlzeiten empfehlens-wert.Medikationspausen (z. B. an Woche-nenden, Ferien, nachmittags) sindindiziert, wenn das Ausmaß derHyperaktivität und Aufmerksam-keitsstörung in den sozialen Kontex-ten des/der PatientIn keine deutlicheEinschränkung des (sozialen) Lebensdes/der PatientIn zu diesem Zeitpunktdarstellen. Insbesondere bei Über-

wiegen einer Aufmerksamkeitsstö-rung scheint die Gabe ausschließlichwährend der Schulzeit indiziert. Dar-über hinaus zeigen einige Kinder Stö-rungen der Aufmerksamkeit oderSymptome des ADHS ausschließlicham Nachmittag (z. B. im Rahmeneiner Hortbetreuung). Die Verord-nung der Medikation ist dementspre-chend anzupassen. Bei Therapieer-folg ist die Dosis für ein Jahr beizu-behalten. Zur Reevaluation vonDiagnose und Therapie sind Absetz-versuche zweimal pro Jahr angezeigt.Aus praktischen und diagnostischenGründen sollten diese idealerweisezwei Wochen vor Beginn der Schul-ferien stattfinden. Diese Auslassver-suche sollen nur dann unterlassenwerden, wenn starke Nebenwirkun-gen (gastrointestinal, Cephalea, etc.)beim Ab- oder Ansetzen der Medika-tion auftreten oder die Grundsympto-matik massiv in das Leben des/derPatientIn eingreift.Die Verwendung einer retardiertenZubereitung von MPH (in Österreichals einziges Präparat zugelassen:Concerta®, Retardierungstechnolo-gie: OROS®; im Folgenden „MPHretard“ genannt) ist insbesondere beiSchwierigkeiten in der Kontinuitätder mehrmals täglichen Einnahme (z.B. Verabreichung in der Schule) indi-ziert. Bezüglich des Wirkungs- undNebenwirkungsprofils (z. B. Übel-keit, Kopfschmerz) scheinen nurgeringe und klinisch nicht relevanteUnterschiede zur nicht-retardiertenForm zu bestehen [18], [22], [48]. Esist klinischer Konsens, dass keinerleiUnterschied in Ansprechraten zwi-schen den Zubereitungsformen be-steht (siehe auch [52]), jedoch im nie-drigen Dosierungsbereich und in derEinstellungsphase die Anwendungvon nicht-retardiertem MPH auspraktischen Gründen durchgeführtwird. Die Höhe der Tagesdosis ist fürdie nicht-retardierte und für die retar-dierte Form gleich. Eine Kombina-tion der beiden Zubereitungsformenist zur genaueren Behandlung derSymptome oft erfolgreich (z. B. 1Kapsel MPH retard und 1/2 Tablette

Tabelle 6: Kontraindikationen bei Einstellung auf Stimulanzien

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der nicht-retardierten Form mor-gens). Ein Wechsel von einer zu eineranderen Zubereitungsform von MPHstellt keinen weiteren Schritt imAlgorithmus dar. Zu anderen Zubereitungsformen vonMPH, die in den USA und TeilenEuropas zugelassen sind, liegen zumaktuellen Zeitpunkt in Österreichnoch keine Erfahrungen vor. Dieseunterscheiden sich aufgrund derunterschiedlichen Retardierungstech-nologien bezüglich der Wirkdauerund des sofort verfügbaren Anteilesder Gesamtdosis.

Wirkstoff der 2. Wahl - AtomoxetinWirkstoff der 2. Wahl ist Atomoxetin(ATX). Die Umstellung auf ATX istdann indiziert, wenn Non-Responseoder deutliche Nebenwirkungen(Gewichtsabnahme, Einschlafstörun-gen, affektive Störungen, Agitation,Tics) unter MPH auftreten. Weitersstellt ATX eine wichtige Alternativedar, falls Einwände gegen eine Thera-pie mit Stimulanzien bestehen. ATX ist ein Noradrenalin-Wiederauf-nahmehemmer (NARI) und hemmtselektiv den präsynaptischen Nora-drenalin-Transporter im präfrontalenCortex, nicht aber im Nucleus accum-bens oder im Striatum [11]. Ein Ein-tritt der Wirkung ist wie bei Antide-pressiva nicht vor zwei Wochen zuerwarten, Responder zeigen Verbes-serung nach vier Wochen. Die volleWirkung ist vermutlich nach 6-8Wochen Zieldosis zu beobachten [6]. Die Effektgröße (ε)2 der Wirksamkeitbetrug bei einer Metaanalyse für ATX0,62, für MPH 0,91, und für MPHretard 0,95 [18]. Die number-needed-to-treat3 (NNT) von ATX liegt bei NNT = 4,2, bei MPH: NNT = 2,9 –4,8 und bei MPH retard (Concerta®):NNT = 1,9 (für Concerta® lag keinedoppel-blind-randomisierte Untersu-chung zur Berechnung der NNT vor)

[6]. Zum Vergleich: die Behandlungvon moderatem arteriellem Hyperto-nus zur Schlaganfallprävention hateine NNT von 13 [30].Bei der Verordnung sind Vorsichts-maßnahmen (bei arterieller Hyper-tension, Tachycardie, Harnverhalten)und Kontraindikationen (Engwinkel-glaukom, zeitlicher Abstand von zweiWochen zur letzten Gabe von MAO-Inhibitoren) ähnlich wie bei Trizykli-schen Antidepressiva (TCA) zu be-achten. Das Nebenwirkungsprofilentspricht anderen NARI, mit im Ver-gleich zu Stimulanzien höherer Wahr-scheinlichkeit für Nausea und Sedie-rung [28]. Die Startdosis beträgt in der Regel 0,5 mg/kg Körpergewicht und kanninnerhalb von drei Wochen auf eineZieldosis von ca. 1,2mg/kg gesteigertwerden, jeweils in einmaliger Gabe.Die Maximaldosis für Kinder undJugendliche liegt bei 1,8mg/kg Kör-pergewicht bzw. bei 100mg/d undsollte keinesfalls überschritten wer-den. Aufgrund des verzögerten Wir-kungseintritts empfiehlt es sich,höhere Dosierungen nicht vor demAblauf von 6-8 Wochen Behandlungmit ATX einzusetzen. Die Wahr-scheinlichkeit gastrointestinaler Ne-benwirkungen (Dyspepsie, Nausea,Erbrechen, verminderter Appetit)kann durch ein besonders langsamesAufdosierungsschema verringertwerden. Im Falle einer Umstellungvon MPH auf ATX empfehlen wireine überlappende Gabe für zumin-dest zwei Wochen in der Auftitrie-rungsphase von ATX. Bei Therapieer-folg ist die Dosis für ein Jahr beizu-behalten und die Diagnose und Therapie nach einem Jahr zu reeva-luieren.Medikationspausen sind aufgrund derPharmakodynamik des Wirkstoffsnicht indiziert, ein Auslassversuch z.B. in den Sommerferien ist aufgrunddes verzögerten Wirkungseintritts gut

vorauszuplanen. Es empfiehlt sich,bei kurz dauernden Schulferien ATXnicht abzusetzen.In den Warnhinweisen zur Verord-nung wurden in den USA von derFood and Drug Administration(FDA) [19] und in Großbritannienvon der MHRA (Medicines andHealthcare Products RegulatoryAgency) [33] wichtige Empfehlun-gen veröffentlicht: Unter Behandlungmit ATX bestehen erhöhte Risiken für Auftreten von Suizidgedanken, Verlängerung des QT-Intervalls,Krampfanfällen und Erhöhung derLeberenzyme bis zu schwerem Le-berschaden. Bei einer dieser Neben-wirkungen ist die Indikation streng zuüberprüfen und ggf. ATX unverzüg-lich abzusetzen. Zur Kontrolle der erhöhten Wahr-scheinlichkeit des vermehrten Auftre-tens von Suizidgedanken empfiehltdie FDA ein wöchentliches Monito-ring in den ersten vier Wochen derBehandlung, danach zwei-wöchent-lich und monatlich. Gegebenenfallsist laut FDA der Einsatz von Medika-tion (SSRI; Alprazolam oder Loraze-pam vorübergehend) zu erwägen. Wirweisen an dieser Stelle auf die erhöh-te Wahrscheinlichkeit des vermehrtenAuftretens von Suizidgedanken auchunter SSRIs in einigen empirischenUntersuchungen hin: Es ist daherwidersprüchlich, diese in dieser Indi-kation zu empfehlen. Aus unserer kli-nischen Erfahrung ist die Anwendungvon SSRI bei Vorliegen von depressi-ver Symptomatik im Sinne einer Risi-ko-Nutzen-Abwägungen unter in Ta-belle 7 beschriebenen Anwendungs-bedingungen möglich. Die somatischen Untersuchungen imRahmen der Routine ohne Auftretenspezifischer Nebenwirkungen orien-tieren sich an den bei Stimulanzienempfohlenen Intervallen (Tabelle5b). Bei Auftreten oder einer Zunah-me von Krämpfen ist zu erwägen,

2 ε ist die relative Größe der Mittelwertsdifferenz zwischen zwei Populationen bezüglich eines (Outcome-)Messwertes; hier Conners’ Global IndexScale im Vergleich Wirkstoff zu Placebo.

3 statistische Anzahl der PatientInnen, die mit einem Wirkstoff behandelt werden müssen, um fast zur Gänze symptomfrei zu sein, im Vergleich zuPlacebo.

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ATX sofort abzusetzen. Leberenzym-erhöhungen sind unter Psychophar-maka zu erwarten, Routine-Labor-Tests sind analog zur Verordnung vonStimulanzien empfehlenswert, abernicht zwingend. Wir empfehlen so-fortige Kontrolle der Leberfunktions-parameter bei Auftreten erster Symp-tome von Leberdysfunktion (z. B.Ikterus, dunkler Urin, Juckreiz, grip-peähnliche Symptome, Spannungs-schmerz im rechten Oberbauch). Beiangeborenem oder erworbenem ver-längerten QT-Intervall oder beiKenntnis von familiär verlängertemQT sollte ATX mit besonderer Vor-sicht angewendet werden, insbeson-dere wenn gleichzeitig Substanzen,die den Elektrolyt-Haushalt beein-flussen, oder Cytochrom CYP P450-2D6-Inihibitoren (z. B. Fluoxetin,Paroxetin, Tricyklische Antidepressi-va, Cimetidin) eingesetzt werden.Darüber hinaus empfehlen wir vorBeginn der Medikation eine ausführ-liche Information der Eltern überNutzen und Risiko dieser medika-mentösen Therapie [39]. Diese Auf-klärung sollte auch in der Behand-lungsdokumentation vermerkt wer-den. Neben dem engmaschigenMonitoring wie oben beschriebensollte mit Eltern und PatientIn die

Vorgangsweise bei Auftreten vonSuizidgedanken festgelegt werden(Tabelle 7). Die Beurteilung vonunerwünschten Langzeitereignissenkann noch nicht vorgenommen wer-den.Es ist an dieser Stelle festzuhalten,dass zum Zeitpunkt der Einführungder Stimulanzien ein weit wenigergenaues Therapie- und Begleitwir-kungs-Monitoring zur Anwendunggelangte. Wir halten daher aus heuti-ger Sicht eine besondere Wachsam-keit im Hinblick auf psychische undphysische Nebenwirkungen auch beider Behandlung mit Stimulanzien fürerforderlich.

Medikation der 3. WahlTrotz fehlender doppelblinder place-bo-kontrollierter Studien lässt sichaus klinischer Praxis bei weiteremNon-Response MPH (morgens) inKombination mit niedrig dosiertemATX (nachmittags/abends, zwischen0,5 - 1,0 mg/kg Körpergewicht) emp-fehlen. Diese Kombination sollte nurzur Anwendung gelangen, wenn zweiMonotherapien in ausreichenderDosierung und Dauer durchgeführtwurden und keine ausreichende Ver-besserung der Symptome erreicht

werden konnte. Weiters sind keinesystematisiert erhobenen Daten zumNebenwirkungsprofil dieser Kombi-nationstherapie publiziert. Wir sehenjedoch die Kombination von ATX mitMPH indiziert, wenn z. B. ATX in derSchule bzw. morgens nicht ausrei-chend Symptome verringerte oderMPH abendliche Symptome nichtbehandeln konnte. Neben besonderer Aufmerksamkeitfür das Auftreten von arteriellerHypertension empfehlen wir engma-schige Beobachtung des Therapieer-folges: Beide Substanzen sind Sub-strate von CYP P450-2D6, Dosisan-passungen können erforderlich sein.

Wirkstoff der 4. Wahl - NortryptilinTricyklische Antidepressiva (TCA)sind in der Behandlung von ADHSuntersucht, sollten jedoch begrün-deten Ausnahmefällen vorbehaltenbleiben. Wirkstoff der 4. Wahl istNortryptilin. Eine EKG-Kontrollevor Beginn und bei stabiler Dosie-rung ist obligat. Die Dosierung solltelangsam auf 2 mg/kg Körpergewichtpro Tag titriert werden. Dosierungenüber 3,5mg/kg Körpergewicht proTag sind keinesfalls zu überschreiten. Empirische Daten liegen auch fürDesipramin (Dosis ca. 150mg/d) vor,allerdings wurden 2 ungeklärteTodesfälle unter der Behandlung mitDesipramin beobachtet, äußersteZurückhaltung bei der Verordnung istdaher angebracht. Clomipramin weist(vermutlich aufgrund der starkenserotonergen Wirkung) keine ausrei-chende Wirksamkeit in der Behand-lung von ADHS auf [3], [7].

Weitere WirkstoffeIn anderen Behandlungsrichtlinienfinden Clonidin (α2-Agonist; langsa-me Titration auf 3 - 5µg/kg/d, Gabemorgens und abends) und Modafinil(zentralwirksames Sympathomimeti-kum, in Österreich zugelassen fürNarkolepsie; Dosis ca. 350mg fürKinder bis zum 12. Lebensjahr)Erwähnung [6], [39]. Wir weisen an

Tabelle 7: Empfehlungen bezüglich der Möglichkeit des Auftretens vonSuizidgedanken bei Verordnung von SSRIs oder ATX (adaptiertnach Klier, 2006 [27]).

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dieser Stelle auf die noch nicht abge-schlossene Einschätzung des Nutzen-Risiko-Profils hin. Darüber hinausliegt zum aktuellen Zeitpunkt nurwenig klinische Erfahrung in der off-label-Verordnung dieser Wirkstoffevor.

6. ADHS und Aggression

Ein Problem von beträchtlicher klini-scher Relevanz ist das gleichzeitigeAuftreten von Aggression, im Rah-men von ADHS klinisch zumeist alsoppositionelle Störung (F91.3) dia-gnostiziert (siehe auch Tabelle 2b).

Die Prävalenz der komorbiden oppo-sitionellen Störung liegt bei 60%[10]. Bei Vorhandensein beider Dia-gnosen ist gemäß ICD-10 die Dia-gnose „Hyperkinetische Störung desSozialverhaltens“ (F90.1) zu verge-ben. Die AutorInnen der MTA-Studieweisen darauf hin, dass Impulsivitätzu Fehldiagnosen, insbesondere zueiner zu häufig gestellten Diagnose„ADHS“ führen kann [36].Aggression ist ein komplexes psy-chosoziales Geschehen, eine eindi-mensionale Vorgangsweise ist daherkontraindiziert. Im Folgenden wirdauf die pharmakologische Behand-lung chronischer Aggression einge-gangen, das Management von akuter

Aggression findet hier keine Berück-sichtigung.

Wirkstoff der 1. Wahl - Methylphe-nidatDer erste Behandlungsschritt ist diesuffiziente Therapie des ADHS (Gra-phik 2). Es ist insbesondere darauf zuachten, dass die Therapie des ADHSmöglichst große Teile des Tagesabdeckt [29]. Eine Metaanalyse zeig-te für Stimulanzien ähnliche Effekt-größen in der Behandlung der Hyper-aktivität und Aufmerksamkeitsstö-rung wie auch des aggressionsassozi-ierten Verhaltens [6].

Medikation der 2. Wahl zusätzlichzu MPH - RisperidonDer Einsatz von Antipsychotika (AP)ist indiziert, wenn erstens keine Ver-besserung des aggressiven Verhaltensunter der ADHS-Medikation undgleichzeitigen psychosozialen Inter-ventionen erreicht wurde, oder zwei-tens unmittelbare Gefahr für oderdurch den/die PatientIn besteht.Als Medikation der 2. Wahl solltenausschließlich Antipsychotika der 2.Generation (atypische AP; SecondGeneration Antipsychotics (SGAP))zusätzlich zu MPH zur Anwendunggelangen [32], [38], [44]. Trotz sehrguter klinischer Erfahrung ist daswirksame pharmakologische Prinzipdieser Kombinationstherapie unklar.Eine Übersicht zur Pharmakologievon Antipsychotika findet sich u. a.bei Miyamoto et al. (2005) [34]. DieBeurteilung der SGAP bezüglichLangzeitnebenwirkungen wie Ge-wichtszunahme, Typ II Diabetes mel-litus, möglichem – im Vergleich zutypischen Antipsychotika – verrin-gerten Auftreten von Tardiven Dyski-nesien etc. ist insbesondere für Kin-der und Jugendliche aufgrund fehlen-der Langzeitdaten zum aktuellenZeitpunkt noch nicht möglich. Es istjedoch davon auszugehen, dass diebereits existierenden Daten vonErwachsenen auch auf Kinder undJugendliche umzulegen sind. Eine

Graphik 1: Algorithmus ADHS ohne komorbide Störung

1 Methylphenidat in sofort verfügbarer (Ritalin®) oder retardierter Zubereitung (Concerta®) nach im Text beschriebenen Anwendungsrichtlinien.

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strenge Indikationsstellung ist insbe-sondere aufgrund der potenziellenmetabolischen Auswirkungen einigerSGAP erforderlich. Allgemein ist andieser Stelle zu bemerken, dass dieDosierungen von SGAP in dieserIndikation niedriger zu wählen sindals in der Behandlung von Störungenaus dem psychotischen Formenkreis. In der klinischen Praxis und empiri-schen Untersuchungen zeigen sichRisperidon und Clozapin in derBehandlung von aggressivem oderimpulshaftem Verhalten anderenSGAP überlegen [29]. Dies deckt sichmit den wenigen vorhandenen empi-rischen Daten. Risperidon sollte indieser Indikation langsam beginnendmit 0,25 – 0,5mg titriert und bei Kin-dern bis max. 2mg/d, bei Jugend-lichen bis max. 4mg/d dosiert werden(Tabelle 8).

Aufgrund der besonderen Anwen-dungsbedingungen ist Clozapin alsSGAP der 4. Wahl anzusehen und zudiesem Zeitpunkt im Algorithmusnicht einzusetzen (Graphik 2). Beider gleichzeitigen Anwendung vonATX oder MPH mit einem SGAP istzu beachten, dass einige SGAP eben-falls Substrate von CYP P450 2D6sind: Risperidon wird zum größtenTeil, Clozapin teilweise von CYPP450 2D6 metabolisiert. Der Abbau-

weg von Amisulprid ist ungeklärt[16], die Ausscheidung erfolgt größ-tenteils renal. Amisulprid (in der Indi-kation Positiv- und Negativ-Sympto-matik bei Psychosen) und Risperidon(bei impulshaftem und aggressivemVerhalten) sind in Österreich die ein-zigen in der Kinder- und Jugendpsy-chiatrie zugelassenen SGAP.

Medikation der 3. WahlAls Medikation der 3. Wahl sehen wirdrei verschiedene Wirkstoffe alsgleichwertige Optionen in Kombina-tion mit MPH: Valproinsäure, Quetia-pin, Amisulprid.Es existieren kaum empirische Datenzum antiaggressiven Effekt von Val-proinsäure bei Kindern und Jugend-lichen. Donovan et al. (2000) [15]konnten in einer kleinen doppelblin-den Untersuchung (n=20) gute Er-gebnisse bei PatientInnen mit Oppo-sitioneller Störung oder Verhaltens-störung (Alter: 10-18. Lebensjahr)mit Dosierungen zwischen 750– 1500 mg/d erzielen. ADHS war indieser Untersuchung ein Ausschluss-grund. Aus klinischer Erfahrung istfestzuhalten, dass eine Tagesdosisvon 2000mg bei Jugendlichen keines-falls zu überschreiten ist. Begleitendsind in regelmäßigen AbständenLeberfunktionsparameter und Blut-

bild zu erheben. Aufgrund der Meta-bolisierung auf getrennten Abbau-wegen (Valproinsäure: CYP P4502C9 und 3A4) sind keine Interaktio-nen mit MPH oder ATX zu erwarten.Cave bei systemischer Anwendungvon 3A4 Inhibitoren z. B. Makrolid-Antibiotika, Antimykotika, Metroni-dazol. Für Quetiapin gibt es Hinweise hin-sichtlich der Wirksamkeit bei Aggres-sion und Autoaggression sowohl ausder Erwachsenpsychiatrie wie auch inder Kinder- und Jugendpsychiatrie[9], [12], [32]. Die Dosierung liegt indieser Indikation bei Jugendlichenvermutlich um 300 - 400mg/d.Für Amisulprid bestehen Hinweisefür gute Wirksamkeit in dieser Indi-kation aus der klinischen Tätigkeitder AutorInnen. Die Dosierung wirdbei Psychosen für „Inhibitionssymp-tome“ mit 2mg/kg und für „produkti-ve Psychosen“ mit 6-10mg/kg Kör-pergewicht angegeben. UnsererAnsicht nach sollte die Tagesdosis800mg nicht überschreiten, zumeistsind 50 – 200 mg/d, bei Jugendlichenbis zu 400 mg/d erfolgreich. DieAnwendung erfolgt „off-label“.Es muss festgestellt werden, dass esinsgesamt für keine Substanzklassegute Hinweise für antiaggressiveWirksamkeit gibt: Schwache Evidenzließ sich bei Erwachsenen für Anti-psychotika und Anticonvulsiva (Val-proinsäure, Carbamazepin) belegen,wobei sich SGAP den typischen Anti-psychotika überlegen zeigten [24].

Weitere Wirkstoffe zusätzlich zuMPHDer Einsatz von Clozapin sollte auf-grund des Nebenwirkungsprofils(Agranulozytose, Gewichtszunahme,Hypersalivation, Sedierung, etc.) nurin ausgewählten Fällen erwogen wer-den. Sein Einsatz in der Kinder- undJugendpsychiatrie ist aufgrund derlangjährigen Erfahrung klinisch gutdokumentiert. Trotzdem sollte Cloza-pin äußerst zurückhaltend, im Rah-men einer Kombinationstherapie mitbesonders genauer und engmaschiger

Tabelle 8: Wirkstoffe zur Behandlung chronischer Aggression.Die Dosierungen orientieren sich an den von Pappadopoulos etal. (2003) [38] für Kinder und Jugendliche publizierten Richt-linien.

* Maximaldosis bezeichnet die in der Behandlung von Psychosen bzw. Manien üblichen Maximaldosierungen.** Keine ausreichenden empirischen Daten verfügbar.*** Äußerste Zurückhaltung für Indikationsstellung.

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Kontrolle der potentiellen soma-tischen Nebenwirkungen und beiKindern mit der Maximaldosis von 300 mg/d verordnet werden.Weiters existieren empirische Datenzur antiaggressiven Wirkung vonLithium. Aufgrund der kompliziertenHandhabung und der engen therapeu-tischen Breite ist trotz der besserenempirischen Daten (eine doppel-blind-placebo-kontrollierte Studie;[39]) sein Stellenwert in der Kinder-und Jugendpsychiatrie gering einzu-schätzen. Die Dosis sollte vermutlicheinen Lithium-Spiegel im Blut von

0,6-1,0 mmol/l erreichen, genaueAngaben liegen für diese Indikationin der Kinder- und Jugendpsychiatrienicht vor. Bei systemischer Anwen-dung von Antibiotika, Carbamazepin,Oxcarbazepin, Metronidazol, NSAR,Histamin-H1-Blocker kann es zuerhöhtem Lithium-Spiegel kommen.Eine Verordnung von Lithium kannaus unserer Sicht in dieser Indikationnicht empfohlen werden.Ebenso sollte Haloperidol aufgrundder großen Wahrscheinlichkeit vonextrapyramidalen Nebenwirkungentrotz der Zulassung zur „psychomoto-

rischen Dämpfung“ keinesfalls zumEinsatz kommen.

7. ADHS und Depression

Über ein Viertel der Kinder undJugendlichen, die an ADHS leiden,weisen gleichzeitig Symptome einerAffektiven Störung, zumeist einedepressive Episode, auf [10]. DieBehandlung von depressiven Störun-gen im Kindes- und Jugendalter standzuletzt durch die Warnungen derFood and Drug Administration(FDA) [20], [21] in Diskussion, daempirische Untersuchungen ein ver-mehrtes Auftreten von Suizidgedan-ken, nicht jedoch von erfolgten Suizi-den, unter der Behandlung mit Anti-depressiva zeigten [21], [26], [46].Selektive Serotonin-Re-Uptake-Inhi-bitoren (SSRI) stellen in dieser Indi-kation sowohl bei Erwachsenen alsauch bei Kindern und Jugendlichendie Medikation der 1. Wahl dar undsind deshalb in der Behandlungdepressiver Symptomatik weit ver-breitet. Dies führte in den USA aufallen erhältlichen Antidepressiva zuverpflichtenden Warnhinweisen, dieüber ein erhöhtes Risiko für Suizid-gedanken bei Einnahme informieren.Die von der FDA veröffentlichenEmpfehlungen für die Verordnungvon SSRI und anderen Antidepres-siva beinhalten engmaschige Kon-trollen des Ausmaßes der depressivenSymptomatik, insbesondere der Sui-zidalität, bei Beginn der Behandlungoder bei jeder Dosisveränderung. InAnlehnung an diese Kriterien emp-fehlen wir die in Tabelle 7 zusam-mengefasste Vorgangsweise.

Wirkstoff der 1. Wahl - Methylphe-nidatAnalog zur Behandlung von Aggres-sion bei ADHS empfehlen wir, zuerstmit der Behandlung der ADHS-Symptomatik gemäß dem ADHS-Algorithmus zu beginnen (Graphik3). Vor Beginn der ADHS-Therapie

Graphik 2: Algorithmus ADHS und komorbide Aggression

MPH …Methylphenidat (retard oder sofort verfügbare Zubereitung), ATX … Atomoxetin,Ris … Risperidon, Val … Valproinsäure, Quet … Quetiapin, Ami … Amisulprid

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ist das Ausmaß der depressivenSymptomatik (z. B. FragebogenDIKJ) zu messen. Desweiteren sindpsychosoziale Interventionen einzu-leiten. Die Behandlung mit einemAntidepressivum ist indiziert, wenndie depressive Symptomatik bei suf-fizienter Stimulanzien-Therapie un-verändert bleibt oder sich verschlech-tert.ATX ist nach aktueller Einschätzungtrotz den Antidepressiva ähnlicherpharmakodynamischer Eigenschaf-ten keine direkte antidepressive Wir-kung zuzuschreiben. Die Verbesse-rung der depressiven Symptomatikbei Behandlung von ADHS mit ATXist (ähnlich wie bei der Behandlungkomorbider Aggression durch Stimu-lanzien) indirekt und durch die Ver-

besserung der Grundsymptomatik zuerklären [6]. Aufgrund der größerenEffektstärken für ADHS bevorzugenwir in der klinischen Praxis die Kom-binationstherapie von MPH + SSRIgegenüber einer Kombinationsthera-pie von ATX + SSRI (Graphik 3).Ausschließlich bei Überwiegen derdepressiven Symptomatik ist zu-nächst den SSRIs der Vorzug gegenü-ber einer Behandlung der ADHS-Symptomatik zu geben und erst ineinem zweiten Schritt eine suffizienteBehandlung des ADHS zu initialisie-ren. ATX als Monotherapie vonADHS und komorbider Depressionscheint aus aktueller Sicht klinischund empirisch nicht ausreichendbelegt.

Medikation der 2. Wahl zusätzlichzu MPH - SSRIAllgemein ist zur Verordnung vonSSRI im Kindes- und Jugendalterfestzuhalten, dass nur wenige place-bo-kontrollierte, doppelblinde, ran-domisierte Untersuchungen vorlie-gen. Medikation der 2. Wahl sindtrotz dieser weniger empirischerDaten auch bei Kombinationsthera-pie SSRI zusätzlich zu MPH [1], [13],[14], [26], [39], [46], [56].Vor Beginn und während der ADHS-Therapie ist das Ausmaß der depres-siven Symptomatik gemäß den FDA-Empfehlungen zu quantifizieren. DieBewertung der Wirksamkeit und desNebenwirkungsprofils der einzelnenWirkstoffe ist strittig [13], [23], [35].Wie in den NICE-Gudelines [35]

Tabelle 9: Dosierung von Antidepressiva in der Behandlung Depressiver Episoden.

* Die Dosierungen orientieren sich an den für Erwachsene publizierten Schemata [8].** für Kinder und Jugendliche kaum empirische Evidenz verfügbar, Maximaldosis orientiert sich an

der für Erwachsene empfohlenen Dosieung in der Indikation Depression.*** Anwendung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie kann nicht empfohlen werden.

Substr, Inhib … Substrat bzw. Inhibitor des genannten CYP P450 Enzyms.

1 geringgradige Inhibition von 2D6

SSRI ... Selektiver Serotonin-Re-Uptake-Inhibitor. NaSSA ... Noadrenalin und Serotonin Spezifisches Antidepressivum.SNRI ... Serotonin-Noadrenalin-Re-Uptake-Inhibitor. TCA ... Tricyklisches Antidepressivum

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zusammengefasst, ist bezüglich Nut-zen-Risiko-Abwägung die Datenlagefür Fluoxetin am überzeugensten: Ammeisten (und positive) empirischenDaten liegen für Fluoxetin in der(Mono)Therapie von depressivenStörungen ohne komorbide Störungvor. Sein Einsatz in der Kombina-tionstherapie scheint somit ausrei-chend abgesichert, Dosisanpassun-gen können erforderlich sein. FürCitalopram (in der Altersgruppe 7-18a), Escitalopram (Altersgruppe 6-17a) [54] und Sertralin (Altersgruppe6-17a) gibt es Hinweise für Verbesse-rung der depressiven Symptomatik.Für die Verordnung von Paroxetinliegt nur wenig bzw. fragliche Evi-denz für Wirkung (Altersgruppe (12-17a) vor, eine Verordnung ist lautAustria-Codex kontraindiziert. FürFluvoxamin liegen Hinweise für Wir-kung (Altersgruppe ab 8a) vor, aller-dings scheinen die Blutplasmaspiegelbei Kinder (6-11a) doppelt so hoch zusein wie bei Jugendlichen (12-18a)und Erwachsenen. (Dosierungensiehe Tabelle 9).

Aufgrund der geringen Wahrschein-lichkeit für Wechselwirkungen gebenwir in der alltäglichen Praxis in derKombinationstherapie Escitaloprambzw. Citalopram und Sertralin gegen-über anderen SSRI den Vorzug.

Medikation der 3. Wahl zusätzlichzu MPH - duale AntidepressivaIn Anlehnung an für Erwachsenepublizierte Richtlinien zur Behand-lung depressiver Störungen (u. a. [8])kommen Serotonin-Noadrenalin-Re-Uptake-Inhibitoren (SNRI) als Medi-kamente der 3. Wahl zusätzlich zuMPH in Betracht. Es liegen zumaktuellen Zeitpunkt kaum kontrollier-te empirische Untersuchungen überden Einsatz von Venlafaxin oderMirtazapin (Noadrenalin und Seroto-nin Spezifisches Antidepressivum;NaSSA) bei depressiven Störungenim Kindes- oder Jugendalter vor [13],[23].

Venlafaxin ist laut Austria-Codexnicht kontraindiziert, jedoch wirdempfohlen Venlafaxin in der Alters-gruppe unter 18a nicht anzuwenden,da – wie unter SSRIs und Mirtazapin– in klinischen Prüfungen die Inzi-denz von Suizidgedanken erhöht war.Darüberhinaus traten unter Venlafa-xin und Mirtazapin in diesen Unter-suchungen auch erhöhte Feindselig-keit (Aggression, oppositionellesVerhalten) auf. Wir sehen daher keineabsolute Kontraindikation für dieVerordnung von Venlafaxin zusätz-lich zu MPH, empfehlen jedochZurückhaltung für die Indikations-

stellung und engmaschige Evaluationder Wirkung und Nebenwirkungen.Eine Medline-Suche (durchgeführtim August 2006) ergab keine Sucher-gebnisse für den Einsatz von Milnaci-pran im Kindes- oder Jugendalter. Ebenso kann die Verordnung vonDuloxetin bei Kindern und Jugend-lichen (in Österreich zugelassen ab1.9.2006 für Erwachsene in der Indi-kation Depression) zur Zeit nichtdurch empirische Ergebnisse gestütztwerden.Bupropion (Noadrenalin-Dopamin-Re-Uptake-Inhibitor (NDRI)) ist seit1.9.2007 bei Erwachsenen in der

Graphik 3: Algorithmus ADHS und komorbide Depression

MPH … Methylphenidat (retard oder sofort verfügbare Zubereitung), ATX … Atomoxetin, SSRI … Serotonin-Re-Uptake-Inhibitoren,

SNRI … Serotonin-Noadrenalin-Re-Uptake-Inhibitoren

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Indikation Depression in Österreichzugelassen. Die empirischen Ergeb-nisse sprechen für eine deutlichgeringere Effektstärke als Stimulan-zien in der Behandlung von ADHS,die antidepressive Wirksamkeit beiKindern und Jugendlichen ist zur Zeitnoch nicht ausreichend belegt [7].Der Einsatz von SNRI und Mirtaza-pin sollte unter den auch für SSRIgeltenden Sicherheitsbedingungenstattfinden (Tabelle 7). Für eineMonotherapie des ADHS mit oderohne komorbider depressiver Störungmit dualen Antidrepressiva (SNRI,NaSSA, NDRI) existieren insgesamttrotz des vermuteten günstigen phar-makologischen Prinzips keine ausrei-chenden empirischen Daten [7].

Weitere WirkstoffeBezüglich TCA ist festzustellen, dasssowohl Inzidenz und Art der Neben-wirkungen als auch der fehlendeempirische Wirkungsnachweis trotzder langjährigen Erfahrung gegen dieVerordnung sprechen [1], [35]:Ungünstig erweisen sich auch dieMetabolisierung über und Inhibie-rung von CYP P450-2D6. Bei An-wendung trotz dieses negativen Nut-zen-Risiko-Profiles sind regelmäßigeKontroll-EKGs obligat. Zur Kombi-nationstherapie MPH oder ATX plusTCA liegen weder empirische Datennoch klinische Erfahrungen vor.

8. ADHS und Angst

Epidemiologische Untersuchungenbeschreiben eine fast 30%ige Präva-lenz von Angststörungen (ICD 10:F41, F93) bei ADHS [1] . Diese Zahlliegt damit geringgradig höher als diefür affektive Störungen berichtetenDaten.

Medikation der 1. Wahl – MPHoder ATXMedikation der 1. Wahl waren bis-lang trotz mangelhafter empirischer

Evidenz SSRI zusätzlich zu MPH[14], [39]. Eine rezente Untersuchungberichtet jedoch von signifikanterSymptomreduktion von ADHS undAngst durch Monotherapie mit ATX(Effektgröße für Reduktion der Angst0,5) [39]. Bei einer anderen Untersu-chung zeigte sich die Symptomreduk-tion von Fluvoxamin+MPH im Ver-gleich mit Placebo+MPH als nichtsignifikant [5]. Da der Monotherapieaus klinischer Sicht der Vorzuggegenüber einer Kombinationsthera-pie zu geben ist, betrachten wir ATXtrotz schlechterer Datenlage einerKombinationstherapie von MPH mitSSRI in dieser Indikation gleichwer-tig (Graphik 4). Darüber hinaus sindpsychosoziale (insbesondere verhal-

tenstherapeutische) Interventionenessenzieller Bestandteil der Therapie(siehe auch Tabelle 4). Bei Anspre-chen sowohl der Angst- wie auchADHS-Symptomatik ist die Mono-therapie mit ATX oder MPH fortzu-führen.

Medikation der 2. WahlBei Nichtansprechen der Angst-Symptomatik trotz erfolgter beglei-tender psychosozialer Interventionenist der nächste Schritt indiziert (Gra-phik 4): Wenn die Therapie mit ATXbegonnen wurde und kein Therapi-eerfolg (weder Angst noch ADHS)vorliegt, ist auf MPH umzustellen.Wenn mit MPH begonnen wurde und

Graphik 4: Algorithmus ADHS und komorbide Angststörung

MPH … Methylphenidat (retard oder sofort verfügbare Zubereitung), ATX … Atomoxetin, SSRI … Serotonin-Re-Uptake-Inhibitoren,

SNRI … Serotonin-Noadrenalin-Re-Uptake-Inhibitoren

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kein Therapieerfolg (weder Angstnoch ADHS) vorliegt, ist auf ATXumzustellen. Bei Ansprechen derADHS-Symptomatik und gleichblei-bender Angstsymptomatik unterMPH empfehlen wir die Kombina-tionstherapie mit SSRI unter obenge-nannten Anwendungsrichtlinien (Ta-belle 7). Wie bei der Behandlung vonkomorbider Depression scheint ausDaten in der Behandlung von Ang-sterkrankung ohne ADHS die An-wendung von Fluoxetin als SSRI der1. Wahl angezeigt. Dosisanpassungsowohl von MPH als auch von ATXkönnen aufgrund der Metabolisie-rung und Inhibierung von Fluoxetinüber CYP P450 2D6 erforderlichsein. Aus diesem Grund könnte auchhier in der KombinationstherapieEscitalopram bzw. Citalopram undSertralin eingesetzt werden. Zur Zeitliegt kein Nachweis vor, dass ein spe-zifischer SSRI wirksamer als einanderer in der Behandlung von Ang-sterkrankungen sein könnte [4].

Medikation der 3. WahlZu weiteren Anwendungsschritten(SNRIs, TCA) bei ADHS existierenzur Zeit weder klinische Erfahrungennoch empirische Daten. Nach sorgfäl-tiger Prüfung könnte jedoch analogwie bei der Behandlung komorbiderDepression vorgegangen werden. DerEinsatz von TCA kann wie bei ADHSund komorbider Depression nichtempfohlen werden [4]. Für Venlafaxin (in retardierter Form)liegen aus jüngster Zeit Hinweise fürWirksamkeit aus zwei Untersuchun-gen bei Generalisierter Angststörungvor [42]. Wie oben beschrieben emp-fehlen wir Zurückhaltung für die Ver-ordnung von Venlafaxin im Kindes-und Jugendalter.

Weitere WirkstoffeBenzodiazepine als Monotherapiesind kontraindiziert, in Kombinationmit ATX oder MPH empfehlen wiräußerste Zurückhaltung in der Ver-ordnung. Ein hochselektiver Einsatz(z. B. Alprazolam oder Lorazepam

am ersten Schultag) scheint uns prag-matisch zielführend.Buspiron ist für die Verordnung beiKindern und Jugendlichen lautAustria-Codex kontraindiziert.Aktuelle Leitlinien [4], [14] hingegensehen den Einsatz von Buspiron alsMedikament der 2. oder 3. Wahl beigeneralisierten Angststörungen indi-ziert. Da keine Daten über gleichzei-tige Verordnung mit MPH oder ATXbei komorbider Angststörung vorlie-gen, sei an dieser Stelle lediglich aufpositive Erfahrungen der AutorInnenin einzelnen Kasuistiken hingewie-sen. Die Dosierung erfolgt einschlei-chend mit 5mg/d, Zieldosis liegt bei

0,2 - 0,6mg/kg Körpergewicht proTag, zumeist 20-30mg/d. Aufgrundder langen Dauer des Wirkungsein-tritts scheint dieser Wirkstoff unge-eignet für den Einsatz bei akuten undschweren Angststörungen [57].

9. ADHS und Tics

In einer aktuellen Übersichtsarbeit[41] werden unterschiedliche Zahlenfür das gemeinsame Auftreten vonADHS und Tics berichtet. Die relativgroßen Unterschiede kommenzustande, da diese Daten zumeist aus

Graphik 5: Algorithmus ADHS und komorbide Ticstörung

MPH … Methylphenidat (retard oder sofort verfügbare Zubereitung), ATX … Atomoxetin, Ris … Risperidon, Clon … Clonidin

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Medikamentöse Behandlung von ADHS und komborbiden Störungen 204204

epidemiologischen Untersuchungenstammen, in denen die Prävalenz fürTics bzw. Tic-Störungen erhobenwurde und ADHS als komorbideErkrankung dokumentiert wurde. DiePrävalenz für Ticstörungen wird mitca. 1%, für isolierte Tics mit 3,4 –24,4% jeweils für Schulkinder zwi-schen dem 6. und 17. Lebensjahrangegeben. 12% der PatientInnen mitTicstörung wiesen keinerlei komorbi-de Erkrankung auf, ca. 60% warengleichzeitig an ADHS erkrankt. Inanderen Untersuchungen weisen 11%der ADHS-Erkrankten Tics auf [50]

Wirkstoff der 1. Wahl - MPHWirkstoff erster Wahl ist MPH [6],[39], [41], obwohl erstens Hinweisein der Literatur bestehen, dass Ticsunter Therapie mit Stimulanzienzunehmen können und zweitens Ticsunter Therapie mit Stimulanzien neuauftreten können [6]. Die Behand-lung sollte also mit MPH nach übli-chem obengenannten Procedere initi-alisiert werden (Graphik 5). Darüberhinaus sind psychosoziale Interven-tionen einzuleiten (siehe Tabelle 4).

Wirkstoff der 2. WahlWirkstoff der 2. Wahl ist ATX. ATXsollte dann eingesetzt werden, wennTics sich unter Anwendung von MPHverschlechtern. Mit der Umstellungkann jedoch bis zu zwei Wochenzugewartet werden, da aus klinischerBeobachtung neue Tics wie auch dieZunahme des Schweregrades bereitsbestehender Tics oft vorübergehendsind. Eine Beurteilung von Hinwei-sen, dass unter ATX Tics zunehmenkönnten, lässt sich zum aktuellenZeitpunkt noch nicht vornehmen[39].

Medikation der 3. Wahl

Bei Non-Response der Tics auf MPHund auf ATX ist eine Kombinations-therapie indiziert:

Für Risperidon liegen aus klinischerAnwendung und Übersichtsarbeitengute Erfolge in der Anwendung beiTic-Störung vor [32]. Die Verord-nung in der Indikation bei komorbi-der Tic-Störung kann somit ebenfallsin Betracht gezogen werden. DieDosis sollte bei Kindern 2mg/d, beiJugendlichen 4mg/d nicht überschrei-ten. In einer doppel-blinden Untersu-chung zeigte sich Clonidin in Kombi-nation mit MPH erfolgreich in derBehandlung beider Erkrankungen[51]: Die Dosierung von Clonidinsollte 0,6mg/d nicht überschreiten.Eine langsame Auftitrierung wieoben beschrieben ist für beide Wirk-stoffe obligat.

Weitere WirkstoffeAus geringen Fallzahlen sind Erfolgemit Quetiapin (bis zu 100mg/d) undZiprasidon (bis zu 80mg/d) in derBehandlung von Tic-Störungenbeschrieben, für Olanzapin und Clo-zapin liegen keine positiven Berichtevor [32]. Die Anwendung von Pimozid (bis zu4mg/d) sehen wir nur in äußerstenAusnahmefällen und nach Anwen-dung mehrerer SGAP indiziert. AufHaloperidol (bis zu 4mg/d) sollte zurGänze verzichtet werden.

Zusammenfassung

Stimulanzien sind in der medikamen-tösen Behandlung von ADHS ohnekomorbider Störung Therapie 1.Wahl. In Österreich sind drei Wirk-stoffe (MPH, ATX, D-L-Ampheta-min) zur Behandlung von ADHSzugelassen: Zur Anwendung in derPraxis gelangen zumeist MPH undATX (Strattera®), neben der seit lan-ger Zeit erhältlichen sofort verfügba-ren Form von MPH (Ritalin®) ist eineretardierte Zubereitungsform (Con-certa®) zugelassen.

Bei gleichzeitigem Vorhandenseinvon Aggression, Depression und Ticsist zunächst ebenfalls eine Therapiemit Stimulanzien einzuleiten und nurbei unverändertem Persistieren derkomorbiden Symptomatik spezifi-sche pharmakologische Therapie inKombination einzusetzen. Bei ko-morbider Angst ist ATX als Monothe-rapie zu erwägen. Die Anwendungdieser Medikamente sollte mit Zurük-khaltung und nicht ohne gleichzeitigepsychosoziale Interventionen erfol-gen. Bei Verordnung ist größtmögli-che Wachsamkeit und Sorgfalt bezüg-lich möglicher physischer und psy-chischer Begleitwirkung geboten.Allgemein ist der Monotherapie stetsder Vorzug gegenüber einer Kombi-nationstherapie zu geben. Der Einsatzvon Antipsychotika sollte äußerstzurückhaltend erfolgen: wenn jedocherforderlich, sollte auf typische Anti-psychotika völlig verzichtet werdenund atypische Antipsychotika verord-net werden. Der Einsatz von Antide-pressiva folgt aufgrund des potenz-tiellen Auftretens von vermehrtenSuizidgedanken unter besonderenAnwendungsbedingungen. Der Ein-satz von drei Wirkstoffen ist mög-lichst zu vermeiden. International stehen vier verschiede-ne Stimulanzien in ca. 15 verschiede-nen Zubereitungsformen (retardiertoder nicht-retardiert, racemisch odereinzelne Enantiomere) und ATX zurVerfügung. Kontrollierte Studien vonADHS und komorbiden Störungensind erforderlich, um aktuelle Algo-rithmen auf eine breite empirischeBasis zu stellen. Intensive Befor-schung und die Diversifikation derWirkstoffe könnten in der Zukunftexaktere Indikationen und somit ein-fachere und spezifischere Behandlun-gen z. B. bei der Behandlung vonADHS-Subtypen oder komorbidenStörungen ermöglichen.

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Wiesegger, Kienbacher, Pellegrini, Scheidinger, Vesely, Bangerl, Friedrich 205205

Financial Disclosure

Der korrespondierende Autor versi-chert, dass er keine Verbindungen zueiner Firma, deren Produkt in vorlie-gendem Artikel genannt ist, odereiner Firma, die ein Konkurrenzpro-dukt vertreibt, unterhält. Die Erstel-lung dieser Arbeit wurde durch kei-nerlei öffentliche oder private Gelderunterstützt.

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Dr. Georg WieseggerUniversitätsklinik für Psychiatrie desKindes- und Jugendalters, Medizinische Universität [email protected]