Offene Tore: Jahrbuch 2000

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OFFENE TORE BEITRÄGE ZU EINEM NEUEN CHRISTLICHEN ZEITALTER Jahrbuch 2000 Das Weinwunder in Kana (Joh 2,1-11) von Thomas Noack Unsere Erzählung beginnt mit einer Zeitangabe: "Am dritten Tag war eine Hochzeit in Kana in Galiläa" (Joh 2,1). Schon das erste Kapitel war durch Tageszählungen gekenn- zeichnet (Joh 1,29.35.43), die die geschilderten Ereignisse auf vier Tage verteilen. 1 Das alles geschieht noch vor der Gefangennahme Johannes des Täufers (siehe Joh 3,24). Die Synoptiker hingegen lassen die öffentliche Wirksamkeit Jesu erst nach der Gefangen- nahme des Täufers beginnen (Mt 4,12; Mk 1,14; evtl. auch Lk 3,20). Das JohEv ist dem- nach nicht nur dasjenige Evangelium, das die Abschiedsreden und -handlungen am aus- führlichsten schildert, sondern zugleich auch dasjenige, das die bei den Synoptikern fehlenden Anfangsereignisse nachträgt. Diese Beobachtung deckt sich mit einer Bemer- kung, die wir bei Eusebius von Caesarea (gest. 339/340) finden: "Nachdem die zuerst geschriebenen drei Evangelien bereits allen und auch dem Johannes zur Kenntnis ge- kommen waren, nahm dieser sie … an und bestätigte ihre Wahrheit und erklärte, es feh- le den Schriften nur noch eine Darstellung dessen, was Jesus zunächst, zu Beginn sei- ner Lehrtätigkeit, getan habe." (HE 3,24,7). Das JohEv ist so gesehen das Evangelium der Anfänge des öffentlichen Wirkens Jesu. John A. T. Robinson erwägt in seinem Buch "Johannes, das Evangelium der Ursprünge" 2 den Gedanken, "daß die ersten Tage einer neuen Lebensform, vor allem nach einer Bekehrung, dahin tendieren, als besonders be- 1 Die vier Tage des ersten Kapitels in Verbindung mit dem dritten Tag der Hochzeit ergeben sieben oder sechs Tage. Die Kommentare sind in dieser Frage uneins. Auf jeden Fall scheint mir hier ein Anklang an den Schöpfungsbericht Genesis 1 (sechs Tage) bzw. Genesis 1 und 2 (sieben Tage) vor- zuliegen, zumal schon der Prolog Joh 1,1-18 deutlich an Genesis 1 anknüpft. Demnach würde das Jo- hEv Jesus und seine Wirksamkeit als neue Schöpfung verstehen. Dies wäre ferner ein Hinweis dar- auf, dass auch die Apokalypse, die ja ebenfalls auf eine neue Schöpfung zuläuft, von demselben Ver- fasser wie auch das Evangelium stammt. 2 Es erschien 1985 unter dem englischen Originaltitel "The Priority of John". Erst 1999 kam die deut- sche Übersetzung interessanterweise auf Betreiben eines Professors für Ostkirchenkunde auf den Markt. Die griechischsprachige Kirche nennt Johannes seit dem 4. Jahrhundert "den Theologen" schlechthin.

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OFFENE TOREBEITRÄGE ZU EINEM NEUEN CHRISTLICHEN ZEITALTER

Jahrbuch 2000

Das Weinwunder in Kana (Joh 2,1-11)von Thomas Noack

Unsere Erzählung beginnt mit einer Zeitangabe: "Am dritten Tag war eine Hochzeit inKana in Galiläa" (Joh 2,1). Schon das erste Kapitel war durch Tageszählungen gekenn-zeichnet (Joh 1,29.35.43), die die geschilderten Ereignisse auf vier Tage verteilen.1 Dasalles geschieht noch vor der Gefangennahme Johannes des Täufers (siehe Joh 3,24). DieSynoptiker hingegen lassen die öffentliche Wirksamkeit Jesu erst nach der Gefangen-nahme des Täufers beginnen (Mt 4,12; Mk 1,14; evtl. auch Lk 3,20). Das JohEv ist dem-nach nicht nur dasjenige Evangelium, das die Abschiedsreden und -handlungen am aus-führlichsten schildert, sondern zugleich auch dasjenige, das die bei den Synoptikernfehlenden Anfangsereignisse nachträgt. Diese Beobachtung deckt sich mit einer Bemer-kung, die wir bei Eusebius von Caesarea (gest. 339/340) finden: "Nachdem die zuerstgeschriebenen drei Evangelien bereits allen und auch dem Johannes zur Kenntnis ge-kommen waren, nahm dieser sie … an und bestätigte ihre Wahrheit und erklärte, es feh-le den Schriften nur noch eine Darstellung dessen, was Jesus zunächst, zu Beginn sei-ner Lehrtätigkeit, getan habe." (HE 3,24,7). Das JohEv ist so gesehen das Evangeliumder Anfänge des öffentlichen Wirkens Jesu. John A. T. Robinson erwägt in seinem Buch"Johannes, das Evangelium der Ursprünge"2 den Gedanken, "daß die ersten Tage einerneuen Lebensform, vor allem nach einer Bekehrung, dahin tendieren, als besonders be-

1 Die vier Tage des ersten Kapitels in Verbindung mit dem dritten Tag der Hochzeit ergeben sieben

oder sechs Tage. Die Kommentare sind in dieser Frage uneins. Auf jeden Fall scheint mir hier einAnklang an den Schöpfungsbericht Genesis 1 (sechs Tage) bzw. Genesis 1 und 2 (sieben Tage) vor-zuliegen, zumal schon der Prolog Joh 1,1-18 deutlich an Genesis 1 anknüpft. Demnach würde das Jo-hEv Jesus und seine Wirksamkeit als neue Schöpfung verstehen. Dies wäre ferner ein Hinweis dar-auf, dass auch die Apokalypse, die ja ebenfalls auf eine neue Schöpfung zuläuft, von demselben Ver-fasser wie auch das Evangelium stammt.

2 Es erschien 1985 unter dem englischen Originaltitel "The Priority of John". Erst 1999 kam die deut-sche Übersetzung interessanterweise auf Betreiben eines Professors für Ostkirchenkunde auf denMarkt. Die griechischsprachige Kirche nennt Johannes seit dem 4. Jahrhundert "den Theologen"schlechthin.

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deutsam erinnert zu werden."3 Der tagebuchartige Stil zu Beginn des JohEv könnte alsoein Indiz dafür sein, dass sich hier ein Augenzeuge (siehe Joh 21,24) daran erinnert, wiealles begann. Auch das Weinwunder in Kana gehört noch in diese früheste Zeit; es istder "Anfang der Zeichen" (Joh 2,11).

Das Weinwunder geschah wie die Auferstehung am dritten Tag. Das zeigt: Das ersteZeichen blickt bereits auf das letzte voraus. Die Auferstehung geschah am dritten Tagnach der Versuchung am Kreuz. Ähnlich die Hochzeit. Auch sie geschah nach einerVersuchung, denn der dritte Tag bezieht sich hier auf die Rückkehr Jesu aus der Wüstebei Bethanien (siehe Joh 1,23.28). Diesen Wüstenaufenthalt füllen die Synoptiker mitden bekannten vierzigtägigen Versuchungen Jesu. In beiden Fällen, am Anfang und amEnde der Wirksamkeit Jesu, handelt es sich also um eine große Freude nach schwererBedrängnis.

Es gibt weitere Hinweise darauf, dass das Weinwunder die Auferstehung anzeigen soll-te. So sagt Jesus: "Meine Stunde ist noch nicht da." (Joh 2,4). Historisch ist damit ge-meint, dass sich Jesus als Gast auf dieser Hochzeit um den Wein zumindest vorerstnicht kümmern musste. Doch darüber hinaus bezeichnet die Stunde im JohEv die Ver-herrlichung durch die Erhöhung am Kreuz (Joh 12,27; 17,1). Daher ist Jesu Wort, dassseine Stunde noch nicht da sei, typisch johanneisch vieldeutig. Wer nur den Wortsinnhört, verfehlt den Geistsinn. Ferner ist darauf zu achten, dass Jesus durch die Wandlungdes Wassers in Wein seine Herrlichkeit offenbarte (Joh 2,11); auch hier ist an die letztegroße Wandlung im Leben Jesu zu denken; an seine Verherrlichung, sprich Vergöttli-chung. So ist das erste Zeichen Alpha und Omega in einem. Noch war Jesu Mission denJuden, die immerhin die Ankunft eines Messias erwarteten, mehr oder weniger verbor-gen. Der Täufer hatte Verheißungsvolles von diesem in der Gegend bekannten Jesus ausNazareth gesagt (siehe Joh 1). Man lud ihn zu einer Hochzeit ein, - und dort enthüllte er,was die Anwesenden freilich nicht verstanden, sein künftiges, welterlösendes Schicksal.Er offenbarte in diesem Zeichen seine Herrlichkeit.

Der Evangelist nennt es den "Anfang der Zeichen" (Joh 2,11); dabei verwendet er das-selbe Wort, mit dem er auch seine Frohbotschaft als Ganze beginnen läßt: "Im Anfangwar das Wort usw." Gemeint ist jeweils nicht bloß der zeitliche Anfang, sondern dasPrinzip, die Grundlage, die Ursache. Das Weinwunder ist daher nicht nur, wie meistübersetzt wird, "das erste Zeichen". Es ist der Inbegriff des gesamten Wirkens und allerZeichen Jesu. Es zeigt die große Vergeistigungswirksamkeit Jesu an.

Dass die Wandlung von Wasser in Wein etwas Prinzipielles des Wirkens Jesu anzeigt,mag auch daraus ersehen werden, dass das Wasser im JohEv häufig eine Rolle spielt. Er-

3 John A. T. Robinson, Johannes - Das Evangelium der Ursprünge, Wuppertal 1999, 174.

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innert sei an die folgenden Sachverhalte der Kapitel 1 bis 7: Der Täufer und Fischer alsJünger (Joh 1), das Weinwunder in Kana (Joh 2), die Wiedergeburt aus Wasser und Geist(Joh 3), das Gespräch am Jakobsbrunnen mit dem Motiv des lebendigen Wassers (Joh 4),die Heilung am Teich Bethesda (Joh 5), Jesu Gang auf dem Wasser (Joh 6) und das Was-serwort anläßlich des Laubhüttenfestes (Joh 7). Und in den Abschiedsreden nennt sichJesus den wahren Weinstock. Damit schließt das Evangelium gewissermaßen so wie esbeginnt: mit der Wandlung von Wasser in Wein. Denn die Aufgabe des Weinstocks istdie Veredelung des Wassers.

Wein ist im inneren Sinn der Einfluß des Geistigen. Für diese Deutung gibt es einigeAnhaltspunkte im Text des JohEv: Die Stunde (Joh 2,4) ist die, in der Jesus zum Vatergeht, von wo er den Geist der Wahrheit (Joh 15,26) sendet. Nach Joh 2,9 weiß der Spei-semeister nicht, woher der Wein ist. Gleiches gilt nach Joh 3,8 für den Geist: "DerGeist/Wind bläst, wo er will; du hörst seine Stimme/sein Sausen, aber du weißt nicht,woher er kommt und wohin er geht." Echte Spiritualität ist unergründlich; ihr göttlichesWoher bleibt unerkannt. Wer im Wein die Gabe des Geistes erkennen kann, dem zeigtsich ein Zusammenhang der Kapitel 1 bis 3: Zuerst weist der Wassertäufer auf denGeistträger (Joh 1,29-34), dann offenbart dieser seine Herrlichkeit als Geistspender, in-dem er das Wasser der Taufe in den Wein des Abend- oder Hochzeitsmahls wandelt (Joh2,1-11) und schließlich spricht er von der Wirkung des Geistes, das heißt von der Wie-dergeburt aus Wasser und Geist (Joh 3). Das Weinwunder besagt: Aus Wissen sollWeisheit werden; aus Glaubenswissen Lebensweisheit, echte Spiritualität. Oder mitSwedenborgs Worten gesagt: "Der Herr machte Wasser zu Wein. Das bedeutet, er mach-te das Wahre der äußeren Kirche zum Wahren der inneren Kirche, indem er das Innere,das im Äußeren verborgen war, aufschloss." (AE 376).

Das Geistwirken Jesu zielt auf das innere Verstehen der äußeren Begriffe und Rituale.Diese Vorformen oder Gefäße des Geistigen wurden durch die "sechs steinernen Was-serkrüge für die Reinigung der Juden" (Joh 2,6) angedeutet. Sie stehen zunächst für dieäußeren Reinigungspraktiken zur Zeit Jesu; dann aber auch für unsere Begriffsbildun-gen, mit denen wir glauben, den inneren Läuterungsprozeß zu erfassen. Jesu Wandlungdes Wassers in Wein knüpft an die vorhandenen Krüge an. Sie sind also nicht nutzlos;so sind auch unsere Vorstellungen, die wir uns vom Wiedergeburtsgeschehen bildennicht nutzlos, obgleich sie das Geheimnis nur sehr vorläufig darstellen können. Jesusknüpft an diese Krüge und dieses Wasser der Reinigung an. Indem er aus genau diesemWasser Wein macht, sagt er: Dieser Wein ist eure Reinigung. Denn in der Tat: Die Ver-geistigung der Begriffsbilder ist nicht nur ein Erkenntnisgewinn. Wo das mehr oder we-niger kühle Glaubenswasser zu Wein wird, da hüpft das Herz, da jubelt die Seele, dakehrt Freude in das Haus ein. Da geschieht das wahre Abendmahl, denn die reinigendeKraft des Weines bewirkt die Vergebung der Sünden (Mt 26,28).

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Die Mutter Jesu ist die Kirche. Swedenborg hat sehr schön beobachtet, dass Jesus Marianie seine Mutter nannte (LH 35). Gleichwohl nennt sie der Evangelist so (Joh 2,1). DieKirche kann den göttlichen Geist nicht gebären. Vielmehr gilt: Aus der Wirksamkeit desgöttlichen Geistes ersteht die Kirche in uns. Dennoch hat es den Anschein als sei dieKirche die Mutter Jesu. Sie hat eine hinweisende Funktion, indem sie sagt: "Was immerer euch sagt, das tut." (Joh 2,5). Schenken wir diesem Ruf der Kirche Gehör; dann wirdaus Seelenwasser Geistwein.

Jakobs Frauen und KinderAspekte der Kirche im Menschen

von Thomas Noack

Wer ist Jakob in uns?

Jakob entspricht "dem Wahren auf der Ebene des Göttlich Natürlichen"4 (3279)5. Washeißt das? Im Denken Swedenborgs hängen das Gute und Wahre eng zusammen (vgl.beispielsweise NJ 11ff). Das Wahre wird als die Form oder Gestalt des Guten verstanden(forma boni: 668). Das hat zahlreiche Implikationen; zum Beispiel, daß das bloße (Ge-dächtnis)wissen nicht wahr sein kann, solange es nicht Ausdruck (forma) der Wärmeoder Güte des Herzens ist. In den Offenbarungstexten durch Jakob Lorber (1800 - 1864)begegnet uns dieser Sachverhalt als das Herzdenken und die damit verbundene Gehirn-lehre (vgl. GEJ II,62,1-5). Das Wahre ohne das Gute ist ein Unding (eine Lüge). Gleich-wohl können die bloßen Formen (Engramme) - Swedenborg nennt sie die Wissensdinge(scientifica) - eine Zeitlang ohne das Wesen des Guten existieren (das ist die formaleoder intellektuelle Bildung). Doch im Prozeß der Neugeburt der Geisteskräfte (regenera-tio) muß sich das Wahre des Bewußtseins früher oder später der Macht des von innenher einfließenden Guten beugen (dargestellt in Genesis 33). Jakobs Biographie versinn-bildlicht den zeitweiligen Vorrang des Wahrheitsbewußtseins gegenüber den viel subti-leren und lange Zeit unbewußt bleibenden Beeinflussungen durch das Gute des innerenGeisteslebens. Soweit einige Erläuterungen zum Wahren.

Nicht minder klärungsbedürftig ist der Begriff des Göttlich Natürlichen (Divinum Natu-rale). Hier muß ich sofort eine ganz grundsätzliche Einschränkung machen; meine Aus-legung der Geburtenfolge der Jakobssöhne wird sich auf die Wiedergeburt des Men-schen beschränken müssen, wobei ich mich (auch das eine Einschränkung) im Horizont 4 Divinum Naturale … quoad verum.5 Zahlen ohne Buchstabenkürzel beziehen sich auf die "Himmlischen Geheimnisse".

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einer kirchlich gebundenen Sprache bewegen werde. Man soll aber wissen, daß dasgöttliche Wort, die Heilige Schrift oder Bibel, im innersten Grunde nichts anderes ist alsder göttliche Logos (Johannesprolog), der im Anfang aller Dinge schon gesprochen (Ge-nesis 1) und in der großen Zeit der Zeiten als das fleischgewordene Wort das UrwesenGottes ausgelegt hat (Joh 1,18). Daher zielt die höchste Interpretationsstufe der HeiligenSchrift auf die Verherrlichung des Herrn (glorificatio Domini); diese Sinnebene berühreich im folgenden jedoch nicht.

Deswegen wird das Göttlich Natürliche nicht als die eigentliche Gottnatur vorgestellt,sondern auf die Erfahrbarkeit des göttlichen Einflusses in der menschlichen Natur re-duziert. Die drei Erzväter, also Abraham, Isaak und Jakob, bezeichnen dann die stufen-weise Bewußtwerdung der Gotteskraft (Abraham) vermittelt durch die Ratio (Isaak) inder menschlichen Erfahrungswelt (Jakob und Esau). Dort ist erkennbar, sofern man sichvon der Vernunft6 leiten lassen will, daß das Gute und Wahre die natürlichen Ausläufereiner transzendenten Wirklichkeit sind; andernfalls wären sie der Willkür, Beliebigkeitund Definitionsmacht der Menschenwelt unterstellt und ausgeliefert. Man kann ahnen,daß das Gute und Wahre ewige Werte sind, wenngleich ihr konkreter Inhalt immer wie-der neu bestimmt werden muß; als ewige Forderung an uns Menschen können sie ihrenUrsprung nicht in der Zeitlichkeit haben. Das Göttlich Natürliche ist also in der alleMenschheitsepochen durchziehenden Frage und Suche nach dem Guten und Wahrengreifbar.

Wieso bezeichnet ausgerechnet Jakob, der Betrüger, das Wahre? Wäre es nicht ange-messener, wenn er für das Falsche stünde? Diese Alternative ist keine wirkliche, dennjeder Mensch hält sein Falsches für wahr. Vor Gott sind Wahrheit und Falschheit ewigunvereinbar; in der Menschenwelt aber wird diese Wahlmöglichkeit oft nur unzurei-chend und verschwommen wahrgenommen. Man nimmt es mit der Wahrheit nicht sogenau, so daß die größten Irrtümer zur allgemein anerkannten Überzeugung einer Zeitgehören können; auch im individuellen Leben können Selbstbetrug und Phantasiewel-ten einen ganzen Lebenslauf beherrschen, ohne daß die betreffende Person es merkt.

Zudem zeigt ein Blick in die Jakobserzählungen, daß er keineswegs nur als Betrügerdargestellt wird. Gewiß, Esaus Entsetzen nach dem Segensbetrug hat Jakobs Namen füralle Zeiten mit der Anfrage verbunden: "Heißt er etwa deswegen Jakob, weil er michnun schon zweimal hintergangen hat?" (Gen 27,36). Nomen est omen! Jakob und dashebr. Verb für hintergehen, betrügen usw.7 lauten gleich. Aber Jakob ist nicht nur der

6 Vernunft kommt von vernehmen. Sie ist die Fähigkeit das Wahre höherer Welten wie von ferne zu

vernehmen.7 Der Name Jakob wird in Genesis 25,26 von "Ferse" und in Genesis 27,36 von "hintergehen / jmd.

ein Bein stellen" (Swe.: supplantare von planta = Fußsohle) abgeleitet. In beiden Fällen spielt der

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Betrüger; es heißt auch: "Jakob war ein sittenreiner Mann (Swe.: vir integer), der in Zel-ten wohnte" (Gen 25,27). Das hier mit "sittenrein" übersetzte hebr. Wort dient auch zurCharakterisierung des frommen Hiob (Hiob 1,1.8; 2,3) und in leicht veränderter Form8

zur Charakterisierung des untadeligen Noah (Gen 6,9) und des rechtschaffenen Abram(Gen 17,1). Den interessierten Leser verweise ich auf Swedenborgs Ausführungen überdieses Wort in 612, 1994 und 3311. Aufhorchen läßt auch, daß Jakob in Zelten wohnte;Zelte bezeichnen das Heilige der Liebe und des Gottesdienstes (3312). Jakob versinn-bildlicht also den in der ethischen Wahrheit wohnenden und lebenden Menschen.

Diese makellose Persönlichkeit hat jedoch ihre Schattenseiten. Aufschlußreich ist Ja-kobs Selbstcharakterisierung: "Ich bin ein glatter Mann (Swe.: vir levis)" (Gen 27,11).Ein Mann ohne Ecken und Kanten. Vor solchen anständigen Leuten sollte man sich inAcht nehmen! Ganz ähnlich wie im Deutschen hat nämlich auch im Hebräischen dasWort glatt die Nebenbedeutung "einschmeichelnd", beispielsweise im Psalter: "IhreKehle ist ein offenes Grab, (aal)glatt ist ihre Zunge." (Ps 5,10). Jakob ist also eine ambi-valente Gestalt; doch gerade in dieser Doppelwertigkeit ein guter Spiegel, um sich derBrüche, die durch die eigene Existenz gehen und gerade auch bei religiösen Menschenzu finden sind, bewußt zu werden.

Rachel und Lea

Rachel ist die große Liebe Jakobs. Der sonst so intellektuelle, auf seinen Vorteil bedach-te Jakob wird beim Anblick der schönen Rachel von seinen Gefühlen überwältigt: "Jakobküsste Rachel und erhob seine Stimme und weinte." (Gen 29,11). Zuvor hatte er denBrunnen geöffnet; nun öffnete er ihr den Quellgrund seines Herzens. Zuvor hatte er dasKleinvieh Labans getränkt; nun tränkte er Rachel mit den Küssen seiner Liebe. Tränkenund küssen klingen im Hebräischen ähnlich. Sieben Jahre diente er um Rachel: "Und siewaren in seinen Augen wie wenige Tage; so sehr liebte er sie." (Gen 29,20). Doch als diesieben Jahre erfüllt waren, wurde ihm die häßliche Lea untergeschoben9. Die geliebteund die verhaßte Braut sind Sinnbilder der schönen Seelenbraut und der häßlichen

Fußbereich eine Rolle, der auch sonst in den Jakobserzählungen immer wieder in den Blick genom-men wird; diese schon im Namen angelegte Beziehung zum Fußbereich macht Jakob zum Sinnbilddes Natürlichen (so Swedenborgs Terminologie) bzw. des Fortschrittes in Auseinandersetzung mitdem Irdischen (Erdverhaftung des Fußbereiches). Dabei ist der (unbewußte) Irrtum und der (bewuß-te) Betrug allgegenwärtig, denn die Außen- oder Sinnenwelt ist der Ursprung aller Falschheiten;hierzu ist vor allem Swedenborgs Interpretation der Schlange von Genesis 3 heranzuziehen. Auchdie Schlange ist hautnah mit dem Erdbereich verbunden.

8 Jakob und Hiob werden als hebr. "tam", Noah und Abram als hebr. "tamim" (nicht Plural von "tam"!)bezeichnet. Mit M.Kahir, Das verlorene Wort, 1960, könnte man die Konsonantenverbindung TM als"Vollendung der Form" (formale Vollendung) deuten.

9 Das Motiv der untergeschobenen Braut ist in den Märchen weit verbreitet; siehe: W.Golther, Die un-tergeschobene Braut, in: Handwörterbuch des deutschen Märchens I (1930/33) 307 - 311.

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Welt, mit der wir nolens volens viele Kinder zeugen, obwohl doch unsere ganze Liebeder himmlisch schönen Rachel gilt.10

Den inneren Sinn von Rachel und Lea können wir aus Genesis 29,16f ersehen, denndort werden die ungleichen Töchter Labans charakterisiert: "Laban hatte zwei Töchter:der Name der älteren war Lea; der Name der jüngeren war Rachel. Die Augen Leas wa-ren schwach; während Rachel von schöner Gestalt und schönem Aussehen war." Es istleicht einzusehen, daß die Augen des Körpers auf der seelisch-geistigen Ebene demVerstand entsprechen. Leas Vermögen zu verstehen war schwach ausgebildet. Sweden-borg übersetzt das hebr. Wort mit debilis = geschwächt, entkräftet, gebrechlich, ge-lähmt, verkrüppelt usw. Die Grundbedeutung scheint schwach oder kraftlos zu sein. DieKraft und Stärke des Verstandes sollte die Fähigkeit sein, Wahrheiten klar und deutlichzu erfassen. Diese Fähigkeit ist bei Lea nur schwach entwickelt. Leas Augen bezeichnendaher das vom Weltlicht getrübte und somit geschwächte und beschränkte Verständnisdes Wahren. Swedenborg sieht in Lea ein Sinnbild der "äußeren Kirche" (409) bzw. der"Neigung (affectio) zum äußeren Wahren" (3782). Die äußere Kirche schöpft ihr ganzesWissen aus Überlieferungen, konkret aus Texten, besonders aus den kanonischen Tex-ten der Bibel. Die schwachen, matten und erloschenen Augen Leas deuten auf die beivielen Exegeten kaum noch vorhandene Fähigkeit hin, den Lebenssinn der heiligenÜberlieferungen wahrzunehmen und auszulegen. Das hebr. Wort für Auge bedeutet üb-rigens auch Quelle. Leas Quelle ist die Heilige Schrift; schwach ist sie, solange man nurihren historischen Sinngehalt ausschöpfen, ihren Geistsinn aber nicht sehen will. In deräußeren Kirche herrscht das Interesse an der äußeren Wahrheit (affectio veri exterioris,3782), sei es in der historischen Forschung11, sei es bei den Fundamentalisten; diesesInteresse bezeichnet Lea.

Rachel ist von schöner Gestalt und schönem Aussehen. Die hebr. Worte für Gestalt undAussehen sind vom Verb sehen abgeleitet. Wiederum wird unsere Aufmerksamkeit aufdie Wahrheitserfassung gerichtet; diesmal jedoch nicht auf die Augen als das Organ desSehens, sondern auf die Wahrnehmungen als solche. Rachels Wesen pflanzt sich näm-lich in Josef, der intuitiven Wahrheitserfassung, fort; er wird mit genau denselben Wor-ten wie seine Mutter beschrieben: "Josef war von schöner Gestalt und schönem Ausse-hen." (Gen 39,6). Die schöne Gestalt und das schöne Aussehen beschreiben die aus dem 10 In einem Jenseitswerk Jakob Lorbers sagt Jakob: "Vierzehn Jahre diente ich um die himmlische Ra-

chel, und siehe, Du [Herr] gabst mir die welthäßliche Lea." (RB I,79,21). Rachel bezeichnet hier alsoden Himmel und Lea die Welt.

11 Ich bin freilich nicht der Meinung, daß die historische Forschung wertlos ist. Sie ist Grundlagenfor-schung, auf die die geistige Exegese aufbauen kann. Man sollte also nicht eine Einseitigkeit (die Fi-xierung auf den historischen Sinn) durch eine andere (die Fixierung auf den geistigen Sinn) erset-zen; das Ergebnis könnte wilde Allegorese sein. Die Berechtigung der historischen Forschung be-steht darin, daß der wehrlose Text gegenüber seinem Ausleger stark gemacht wird.

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inneren Gottesgeist aufsteigenden Gedankenformen. Die Gestalt (Swe.: forma) beziehtsich auf die innere Wesensform; das Aussehen (Swe.: aspectus) hingegen auf die äußereErscheinungsform.12 Schönheit ist die Wohlgeformtheit der im inneren Geisteslicht er-schauten Formen; oder mit Swedenborgs Worten gesagt: "Schönheit ist die Form desWahren aus dem Guten" (10540). Rachel und ihr Sohn (Wahres) sind schön, weil sie ih-re Gestalt und Ausstrahlung aus dem inneren Lebensguten der Liebe empfangen. Dahererblickt Swedenborg in Rachel das Urbild der inneren Geisteskirche (ecclesia interna:409) und die Lebensausrichtung auf das innere Wahre (affectio veri interioris: 3782).

An dieser Stelle sind einige Worte zum swedenborgschen Terminus affectio13 (meist mitNeigung übersetzt) notwendig, denn dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangensein, daß die Mütter Israels (der Kirche) für affectiones stehen. Was also versteht Swe-denborg unter affectio? Sie ist das continuum amoris (3938), das heißt: das mit der (Le-bens)liebe14 ununterbrochen Zusammenhängende und unablässig Zusammenwirkende.Betrachtet man den Menschen als einen Baum (eine in der Heiligen Schrift verbreiteteMetapher für den Menschen), dann ist die Lebensliebe der Stamm und die Neigungensind die Verästelungen unseres Lebensbaumes. Die Liebe als die in der Seele verborge-ne Lebensenergie fächert den ihr innewohnenden Reichtum in den Neigungen, die be-wußtseinsnäher sind, aus; dazu Swedenborg: "Wenn die Liebe des Willens in die Weis-heit des Verstandes übergeht, dann wird sie zuerst zur affectio (zur bewußten Ab-zweigung aus der Liebe)" (GLW 364). Die affectio ist also die Gestaltung der Liebe imVerstand (Bewußtsein); dort, in der Sphäre des Lichtes, kann die Liebe ihren Reichtumerschauen, eben in Form der Neigungen oder Lebensinteressen. Da die affectiones mitder Liebe zusammenhängen (continuum amoris), sind sie "das eigentliche Leben bzw.die Seele des Denkens (anima cogitationis)." (9550). Sie animieren (beleben) unserDenken.

Die historischen Gestalten der Mütter Israels sind also Urbilder und korrespondierendaher mit dem Interesse (dem erkenntnisleitenden Interesse), das allen Zeugungen undErzeugnissen des Geistes als Mutterschoß zugrunde liegt. Mit diesen Müttern zeugt Ja-kob seine Söhne.

Daß Lea die ältere ist will sagen, daß das Interesse an den äußeren Wahrheiten früherda ist als das Angeregtsein aus dem eigenen, inneren Geistesgrund (3819). Jeder bauteben sein Haus viel lieber auf Sand als auf Stein.

12 Nach 4985 bezieht sich die Gestalt auf das Wesen (essentia), also die innere Form, während sich das

Aussehen auf das Dasein (existentia), also die Erscheinungsform, bezieht.13 Affectio ist aus ad und facere zusammengesetzt; es meint daher für mein Empfinden das Angetan-

oder Angeregtsein des Geistes aus der Lebensliebe. Die folgende Deutung geht in diese Richtung.14 Siehe GLW 1: "Die Liebe ist das Leben des Menschen."

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Die Genesis: Das Buch der Geburten

Da im folgenden von Geburten die Rede sein wird, weise ich darauf hin, daß die gesam-te Genesis als ein Buch der Geburten angesehen werden kann, denn die Geburtenformel(die Toledotformel) bildet das Gerüst des Buches. Alle Erzählabschnitte werden durchdiese Formel eingeleitet. Zuerst in Genesis 2,4, wo es heißt: "Dies sind die Geburten15

des Himmels und der Erde, als sie geschaffen wurden." Diese Überschrift16 leitet die"Bildungen (formationes) des himmlischen Menschen" (89) oder, wie Swedenborg auchsagen kann, der "Urkirche (Ecclesia Antiquissima)" (1330) ein, also den Erzählkomplexbis Genesis 4. Dann in Genesis 5,1 heißt es: "Dies ist das Buch der Geburten des Men-schen (hebr. Adam)." In zehn Generationen wird der Übergang von Adam (Urkirche) bisNoah (Alte Kirche) vollzogen. In Genesis 6,9 heißt es: "Dies sind die Geburten Noahs."Diese Überschrift leitet die Sintflut- bzw. Noaherzählungen ein, die von der Bildung(formatio) einer (damals) neuen Kirche handeln (605); Swedenborg nennt sie in der Re-gel die Alte Kirche. Es folgt, Genesis 10, die Völkertafel; auch dort die Toledotformel(Gen 10,1.32). Ab Genesis 11,10, nach der Turmbauerzählung, wird - ebenfalls in zehnGenerationen! - die Semitenlinie bis Abram ausgezogen, womit der Übergang von denUrgeschichten (Genesis 1 - 11) zu den Erzvätererzählungen gegeben ist; einleitend wie-derum die Toledotformel: "Dies sind die Geburten Sems." (Gen 11,10). Die Erzählungenüber Abraham beginnen mit: "Dies sind die Geburten Terachs." (Gen 11,27). Man kannsich fragen, ob die Abrahamerzählungen deswegen nicht besser Teracherzählungenheißen sollten. Der Seitenzweig Ismael wird mit der Toledotformel in Genesis 25,12eingeleitet; der Hauptzweig Isaak dann mit der Formel in Genesis 25,19: "Dies sind dieGeburten Isaaks." Es folgen die sog. Jakobserzählungen (besser Isaakserzählungen?).Der Seitenzweig Esau (die Edomiter) wird in Genesis 36 summarisch dargestellt (dieFormel in Gen 36,1.9). Der letzte große Erzählabschnitt der Genesis, die sog. Josefsno-velle, beginnt mit der Formel: "Dies sind die Geburten Jakobs." (Gen 37,2).

15 In den meisten Übersetzungen wird das hebr. Wort hier leider nicht mit Geburt übersetzt. Meist fin-

det der Leser "Entstehungsgeschichte" oder ähnliche Ausdrücke. Das Studium der altorientalischenBildsymbolik zeigt jedoch, daß man sich das Verhältnis von Himmel und Erde als ein geschlechtli-ches vorstellte. Siehe Othmar Keel, Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testa-ment, 1996, 25. Auch in den folgenden Stellen kann der Bibelleser sehr verschiedene Ausdrückevorfinden. In der Übersetzung von Hermann Menge beispielsweise findet man: Entstehungsge-schichte, Geschlechtstafel, Geschichte, Stammbaum, Abstammung und Nachkommen. Man sei sichalso der Tücke von Übersetzungen bewußt! Eine gewisse Abhilfe bietet die gleichzeitige Lektüremehrerer Übersetzungen.

16 Swedenborg versteht diese erste Toledotformel als Überschrift (siehe 89). In den meisten Kommen-taren wird sie jedoch als Unterschrift des sog. ersten Schöpfungsberichtes Genesis 1,1-2,4a verstan-den. Problematisch ist diese Sicht jedoch allein schon deswegen, weil die Toledotformel sonst immerÜberschrift ist. Da jedoch das göttlische Schaffen von Genesis 1,1 in diese ersten Toledotformel auf-genommen ist, scheint mir die Schöpfung des geistigen Menschen die Grundlage der Geburten deshimmlischen Menschen zu sein.

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Diese Übersicht zeigt, daß es berechtigt ist, die Genesis als das Buch der Geburten zubezeichnen; von daher bekommen nun die Geburten der Mütter Israels in Genesis 29,31bis 30,24 ein besonderes Gewicht. Daher einige Bemerkungen zum spirituellen Sinnvon "geboren werden". Aus der Traumforschung ist bekannt, daß ein neuer Lebensab-schnitt durch einen Geburtstraum angekündigt werden kann. Durch die Geburt wird einneues Leben ins Dasein entlassen. Die Heilige Schrift handelt vom Leben und der Ein-hauchung des Lebens in die noch toten Formen: "Jehovah Gott formte (töpferte) denMenschen aus Lehm vom Boden und blies seiner Nase den Lebensodem ein; so wurdeder Mensch zur lebendigen Seele." (Gen 2,7). Mit diesen Worten beginnt die Geschichtedes Adam; doch auch seine Tragik: die Todverfallenheit. Deswegen mußte Jesus in dietote Welt kommen, um ihr das neue Leben einzuhauchen: "Nachdem er (Jesus) das ge-sagt hatte, hauchte er sie an und sprach zu ihnen: Empfanget den Heiligen Geist!" (Joh20,22; vgl. ergänzend Joh 6,63). Das Leben ist das große Thema der Heiligen Schrift;daher ist es angemessen unter der biologischen Geburt die geistige zu verstehen, dieNeugeburt (von neuem geboren werden: Joh 3,3). Die Neuoffenbarung bevorzugt diesenAusdruck; während der sonst übliche juristische, nämlich die Rechtfertigung (iustifica-tio), praktisch bedeutungslos ist. Swedenborg kann sogar schreiben: "Die Kirchenchri-sten wissen heutzutage so wenig über die Wiedergeburt, weil so viel von die Sünden-vergebung und Rechtfertigung gesprochen wird." (5398). Lassen wir uns also vom Buchder Geburten leiten; lassen wir uns die Augen dafür öffnen, daß es um die Gestaltwer-dung des neuen Lebens aus Gott geht. Diese Gestaltwerdung ist das Thema des nun zubehandelnden Textabschnittes Genesis 29,31 bis 30,24.

Aus der Strukturanalyse (siehe Abbildung) ist ersichtlich, daß die Geburten einem rela-tiv festen Schema folgen: 1.) die formelhafte Erwähnung der Empfängnis und Geburt, 2.)der Namenssatz und 3.) die Namensgebung (übrigens immer durch die Mutter)17. Wennman dies als das Normalschema ansieht, dann fallen Unregelmäßigkeiten bei Ruben(erst Namensgebung, dann Namenssatz), bei Gad und Ascher (die Empfängnisformelfehlt), bei Dina (der Namenssatz fehlt) und bei Josef (zwei Namenssätze) auf. In derStrukturübersicht sind auch die Zwischenteile (rechte Spalte) zu sehen. In der folgen-den Auslegung werden ich mich auf die Namenssätze konzentrieren; dennoch sollenauch einige der Unregelmäßigkeiten und Zwischenteile in den Blick genommen werden.Ausführlichkeit ist jedoch schon aus Platzgründen nicht möglich.

17 Die Namensgebung durch die Mutter erfolgt im AT 26 mal. Außer im vorliegenden Textabschnitt

noch in Gen 4,25 durch Eva, in Gen 16,11 durch Hagar, in Gen 19,37f durch die beiden Töchter No-ahs, in Gen 35,18 durch Rachel, in Gen 38,3.4.5 durch Schua, in Ex 2,10 durch die Tochter des Pha-raos, in Ri 13,24 durch die Frau Manoachs, in 1.Sam 4,21 durch die Frau Pinchas, in Jes 7,14 durchdie Jungfrau oder junge Frau, in 1.Chr 4,9 durch eine unbekannte Mutter und in 1.Chr 7,16 durchMaacha.

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Die ersten vier Leageburten

Im folgenden soll die Bedeutung der Jakobssöhne aus ihren Namenssätzen abgeleitetwerden. In diesen Sätzen werden die Namen mit lautverwandten Worten (meist Verben)in Verbindung gebracht; diese Bezugsworte werde ich durch Kursivschrift hervorheben(auch Bibelübersetzungen informieren darüber). Darüber hinaus dient aber nicht nurdas Bezugswort, sondern der ganze Namenssatz zur Erkenntnis des geistigen Sinnes.

Allgemein bezeichnen die Jakobssöhne "die Universalien oder hauptsächlichen Gege-benheiten der Kirche" (Ecclesiae universalia: 3861). Denn aus den Jakobssöhnen wur-den die Stämme des Gottesvolkes; und später wählte Jesus in Anlehnung an den Zwölf-stämmeverband zwölf Jünger18 aus, um anzudeuten, daß sich das neue Gottesvolk umihn sammeln wird.

Der Namenssatz für Ruben lautet: "Denn Jehovah hat mein Elend gesehen, denn nunwird mein Mann mich lieben." (Gen 29,32). Ruben wird von "sehen" abgeleitet.19 Dasgeistige Sehen besteht in der Überzeugung vom Wahrheitsgehalt bestimmter Thesen,theologisch gesprochen im Glauben, genauer im intellektuellen Glauben (fides intellec-tu: 3863); dieser etwas mißverständliche Ausdruck meint den Glauben, insofern er Sa-che des Verstandes ist, insofern er das Für-wahr-halten von etwas ist. Die katholischeKirche unterscheidet zwischen dem Glauben im objektiven Sinne (fides quae creditur)20

und im subjektiven Sinne (fides qua creditur)21. Der erstgenannte Glaube ist derjenigean vorgegebene Lehrsätze; der zweite ist das Vertrauen. Der erstgenannte ist Ruben(die Erstgeburt der äußeren Kirche); der zweite Simeon.

Ruben ist "das Wahre des Glaubens" (verum fidei: 3860). Mit dem Akt oder der Fähig-keit, an etwas (z. B. die neuen Offenbarungen) zu glauben, beginnt die neue Geburt ausWasser (dem Glaubenswahren) und Geist (der inneren Bekräftigung); draußen stehenjene, die von sich sagen müssen: "Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glau-be." (Dr. Faust). Das ist das Leiden der Doktoren. Ohne Beweise wollen sie nicht glau-ben; und da es Beweise nicht gibt, können sie nicht glauben. Daher ist Ruben (der Glau-be an etwas) der unverzichtbare Anfang der Wiedergeburt (3860).

Das Elend Leas besteht darin, daß sie vom Wissen zum Wollen des Guten durchdringenwill (3864). Das geschieht durch Versuchungen, weswegen Swedenborg das hebr. Wort

18 Es wäre interessant, die zwölf Jakobssöhne mit den zwölf Jüngern zu vergleichen. Dazu existiert eine

Arbeit von J. E. Elliott, die in den Neukirchenblättern von 1965 bis 1967 veröffentlicht worden ist.19 In Ruben ist auch das hebr. Wort für Sohn enthalten. Daher vermutet Claus Westermann, die ur-

sprüngliche Bedeutung sei "sehet, ein Sohn!" (BK I/2 577). Swedenborg schreibt in Adversaria 691:"Ruben est filius visionis (Sohn des Sehens)".

20 Der Glaube, der geglaubt wird.21 Der Glaube, durch den geglaubt wird.

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hier mit afflictio (Anfechtung) übersetzt. Auf der Buchstabenebene bezieht sich dasElend oder die Trübsal Leas darauf, daß sie von ihrem Mann nicht geliebt wird. Dementspricht auf der geistigen Ebene die relative Wertlosigkeit oder Minderwertigkeit desnur Äußerlichen. Durch ihre Geburten will Lea diesen Mangel ausgleichen; die sehn-lichst herbeigewünschte Überwindung des Verhaßtseins (Gen 29,31) durchzieht ihreGeburten: "Nun wird mein Mann mich lieben" (Gen 29,32 nach der Geburt Rubens);"Jehovah hat gehört, daß ich verhaßt bin" (Gen 29,33 nach der Geburt Simeons); "Nunendlich wird mein Mann mir anhänglich sein" (Gen 29,34 nach der Geburt Levis). In derLiebesäpfelepisode schreit Lea ihr ganzes Leid hinaus: "Ist es nicht genug, daß du (Ra-chel) mir meinen Mann genommen hast?" (Gen 30,15). Und dann die letzte Geburt Leas.Bringt sie endlich die Erfüllung ihrer unerfüllten Liebe? Lea hofft: "Diesmal wird meinMann mir beiwohnen" (Gen 30,20 nach der Geburt Sebulons).

Leas Leid wird mit Jehovahs Erbarmen beantwortet. Es fällt nämlich auf, daß die Leage-burten Ruben, Simeon und Juda mit Jehovah verbunden sind, von dem dann erst wiederim zweiten Namenssatz für Josef die Rede sein wird. Dazu muß man wissen, daß derhebr. Gottesname Jehovah, vom Verb sein abgeleitet, das Sein (Esse) und die Seinsquali-tät oder das Wesen (Essentia) Gottes (3910) bezeichnet; das Sein Gottes aber ist das Le-ben (840) und dessen Pulsschlag in Ewigkeit ist die sich erbarmende Liebe (2253), diesich gerade der Verachteten annimmt. Es war der Leastamm Juda, der nach dem baby-lonischen Exil die Geschichte des Gottesvolkes weiterführen (daher spricht man von"Juden") und den Erlöser aller Menschen hervorbringen sollte.

Simeon Namenssatz: "Denn Jehovah hat gehört, daß ich verhaßt bin, und gab mir auchdiesen" (Gen 29,33), läßt uns den zweiten Sohn Leas als die Gestaltung des Hörens er-kennen. Schon in der Alltagssprache hat hören die Bedeutung von gehorchen (von: hor-chen); so in der Wendung: "auf jemanden hören", oder im Sprichwort: "Wer nicht hörenwill, muß fühlen"; ebenso in "Gehorsam" und in "gehören" (= dem Willen angehören).Die Entsprechung liegt daher auf der Hand: Simeon bezeichnet den Glaubensgehorsam(fides voluntate: 3871), der der Glaubenseinsicht (Ruben) folgt.

Zu beachten ist, wie sehr die ersten beiden Namenssätze aufeinander bezogen sind;worin sich die Zusammengehörigkeit von Sehen und Hören ausdrückt. Beide beginnenmit "Denn gesehen/gehört hat Jehovah". Es folgt jeweils ein Hinweis auf Leas erbärmli-chen Zustand ("mein Elend" / "daß ich verhaßt bin"). Der Schluß des Simeonsatzesweist durch die Partikel "auch" ("und gab mir auch diesen") auf den Rubensatz zurück.Der (intellektuelle) Glaube muß Zustimmung im Willen finden; sonst ist er kein Glaube.Erst dieses Geschwisterpaar macht uns vor Gott zu Priestern; Levi kann geboren wer-den:

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"Diesmal nun wird mein Mann mir anhangen, denn ich habe ihm drei Söhne geboren."(Gen 29,34). Anhangen ist ein Ausdruck der Liebe, freilich nicht der kräftigste; daherbezeichnet Levi nur die Nächstenliebe (charitas). Die Zahl drei deutet dennoch eine ge-wisse Vollendung an, denn im tätigen Liebesdienst kommt der Mensch der äußeren Kir-che an sein vorläufiges Ziel und wird fähig, die in seinem Leben wirksam gewordeneGotteskraft der Liebe zu preisen; das ist Juda: "Diesmal will ich Jehovah preisen / beken-nen." (Gen 29,35).

Die ersten vier Leageburten stellen eine Steigerung dar: vom "Wissen des Wahren"(Ruben: 3882) über das "Wollen des Wahren" (Simeon: 3882) zur tätigen Liebe (Levi)und dem darin empfundenen Gefühl der Liebe zum Herrn (Juda). Dieses Aufsteigen istfür Jakob eine Erfüllung seines Traumes von der Himmelstreppe, auf der Engel Gottesauf- und niederstiegen (Gen 28,12). Auf diesen Zusammenhang weist Swedenborg indi-rekt in 3882 hin.

Man sollte meinen, daß mit Juda (der Liebe zum Herrn) die höchste Vollendung erreichtist. Doch bisher sahen wir nur Leas Söhne; noch immer ist Rachel wie tot in uns (Gen30,1).

Die Geburten der Mägde

Die Mägde sind die von Seiten des inneren (Rachel) und äußeren Menschen (Lea) einge-setzten Mittel, um der Wiedergeburt neue Impulse zu geben. Da die Beschaffenheit derMittel aus dem ersichtlich wird, was sie bewirken, wende ich mich sogleich den Söhnender Mägde zu.

Durch Bilha kommt Rachel zu Dan und Naftali. Der Namenssatz für Dan lautet: "Gotthat mir Recht gesprochen und auch meine Stimme erhört und mir einen Sohn gegeben."(Gen 30,6). Im äußeren Sinn bezieht sich dieser Ausspruch auf die Rivalität zwischenden ungleichen Schwestern (eifersüchtig sein in Gen 30,1); und da nichts so überzeu-gend ist wie der Erfolg, scheint die gebärfreudige Lea die bessere Frau zu sein. Dochdurch Dan wird Rachel ins Recht gesetzt; das heißt im inneren Sinn, daß alle Heiligungim Glaubensleben (sanctum fidei) von Gott kommt; der Mensch kann sie sich nicht er-wirtschaften. Zwar bedarf es der guten Werke (charitatis opera); aber sie sind nicht dieUrsache der Heiligung, sondern nur das (allerdings notwendige) Milieu, in dem sich dieerlösende Kraft des lebendigen Gottes auswirken kann. Dan ist die Anerkennung diesesGottes jenseits der eigenen Intentionalität; diese Anerkennung schafft erstmals Lebens-raum für Rachel. Er weitet sich durch Naftali; denn sein Namenssatz lautet: "Ring-kämpfe Gottes habe ich gerungen mit meiner Schwester, habe mich auch als stark er-wiesen." (Gen 30,8). Die innere Kirche kann sich gegenüber den Widerständen von Sei-

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ten des natürlichen Menschen nur durch Versuchungen durchsetzen, in denen sie sichals stark erweisen muß.

Von diesen Geschehnissen profitiert nun auch Lea und kann den Stillstand im Gebären(vgl. Gen 29,35b mit 30,9) überwinden. Durch Silpa kommt sie zu Gad und Ascher. DerNamenssatz für Gad lautet: "Es kommt ein Haufe (Venit turma)." (Gen 30,11). Das hiermit turma (ein Haufen, Schwarm) übersetzte hebr. Wort wird heute mit "Glück" wieder-gegeben, so daß man üblicherweise "Glück auf!" oder ähnliches lesen kann. WelcheGründe könnten demgegenüber für Swedenborgs Verständnis sprechen? In Genesis 49(Jakobs Sprüche über seine Söhne) ist Gad mit hebr. gedud (Heerschar) verbunden (Gen49,19). Das hebr. Verb g-d-d bedeutet abschneiden und angreifen; von daher eröffnetsich sowohl ein Zusammenhang zur Heerschar als auch zum Glück als dem Beschiede-nen (von abschneiden). Möglicherweise sieht Swedenborg auch einen Zusammenhangzwischen Gad und hebr. gadol (groß). Es könnten also sprachliche Verbindungslinienzwischen Schar und Glück bestehen. Außerdem scheinen innere Beziehungen zu exi-stieren. Immerhin interpretiert Swedenborg Gad im höchsten Sinn als die Allmacht dergöttlichen Liebe und die Allwissenheit der göttlichen Weisheit (3934). Liebe und Weis-heit herrschen aber als Göttliche Vorsehung (GV 1), die wir Menschen als Glück (oderUnglück) erleben. Nach Swedenborg ist das Glück "die Vorsehung im Äußersten derOrdnung" (6493). In Jesaja 65,11 bezeichnet Gad offensichtlich die Glücksgottheit.Wenn Swedenborg in Gad die Werke sieht (3934), dann darf man nicht vergessen, daß(ebenfalls nach Swedenborg) bis in alle Einzelheiten der Werke hinein die Vorsehung(Glücksgottheit) wirksam ist (GV 251). Aus dem Gesagten folgt, daß Gad die Werke desgeglückten Tages bezeichnet. Dieses Glück kann sich im Leben einfinden, wenn wir un-sere Werke nicht mehr in der Selbstbegrenzung verrichten. Daher bezeichnet Gad auchdas sinnvolle Tun (usus), vgl. AR 352; denn in der Öffnung für einen Lebenssinn, denwir uns nicht selber ausdenken können, öffnen wir uns der Lebensmacht des Guten undWahren, so daß sich die Werke des geglückten Tages durch uns verwirklichen können.

Die Folge ist Glückseligkeit, die Geburt Aschers; sein Namenssatz lautet: "In meinerGlückseligkeit, denn glücklich preisen werden mich die Töchter." (Gen 30,13). WelcheTöchter? Jakobs Frauen haben bisher nur Söhne zur Welt gebracht. Man kann antwor-ten: Die Töchter des Landes; oder sich auf den inneren Sinn besinnen, wonach die Töch-ter Emotionen (seelische Bewegungen) darstellen (daher übrigens auch die altorientali-sche Institution der Klageweiber).

Vielleicht liegt hierin auch der tiefere Grund, warum bei den Geburten von Gad undAscher die Empfängnisformel fehlt. Das unverhoffte Glück als Ereignis (Gad) und alsGefühl (Ascher) kann eben nicht wirklich empfangen und festgehalten werden, sondern

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sich nur durch uns verwirklichen (geboren werden). Das Glück vermittelt dem äußerenMenschen erstmals das Gefühl der Abhängigkeit von einer höheren Macht.

Leas Vollendung

Halten wir den bisherigen Stand der Entwicklung fest! Lea empfindet den Lustreiz desinneren Lebens (Überwindung der Selbstbegrenzung) und Rachel setzt sich in denRingkämpfen (Versuchungen) mit ihrer Schwester allmählich durch. In dieser Situationstößt Ruben (das Glaubensbewußtsein) in den Tagen der Weizenernte (beim Einholenseiner Gedanken- oder Glaubensaussaat) auf Liebesäpfel (das Mittel zur Förderung derehelichen Liebe). Die Verbindung mit Jakob (natürliche Erstreckung des göttlichen Ein-flusses) soll nun intensiviert werden. Rachel hat an den Liebesäpfeln ebenso großes In-teresse wie Lea. Es kommt zum Ausgleich: Lea darf bei Jakob liegen; doch Rachel erhältdie Kraft zur unio mystica22. Lea wird vollendet; Rachel aber wird auferstehen.

Nach der Liebesäpfelepisode wird Gott als der Erhörende bezeichnet (Gen 30,17a und22), denn, wie oben gesagt, hören bezieht sich auf den Willen und dieser auf die Liebe.Lea empfängt Issaschar und ruft aus: "Gott hat meinen Lohn gegeben, weil ich meinemManne meine Magd gegeben habe." (Gen 30,18). Issaschar ist der Lohn. Das Lohn- oderVerdienstdenken ist der äußeren Kirche offenbar nicht völlig auszutreiben. Man beachteim Namenssatz das zweimalige Vorkommen von "geben" (Prinzip: do ut des): Gott hatgegeben, weil (aufgrund der Tatsache, daß) ich gegeben habe. Lea hat ihre Magd gege-ben und nimmt jetzt ihren Lohn entgegen. Wir sahen, daß die Silpageburten die Werkedes geglückten Tages und das dementsprechende Glücksgefühl darstellen, weswegender Lohn hier nicht das selbsterarbeitete Heil sein kann. Vielmehr meint Issaschar dieEinheit von Wollen und Denken, die sich einstellt, wenn wir Gott walten lassen. Das istder Lohn des Selbstverzichtes; Leas fünfter Sohn. Die Zahl fünf ist seit jeher eine mysti-sche Zahl (das Seelenpentagramm); es ist die Seelenvollendung, die Lea erreicht. Das istwenig23 im Vergleich zur vollständigen Verwandlung Rachels (ihr Tod bei der GeburtBenjamins).

Durch die Geburt Sebulons kommt Lea zur Vollendung. Der Namenssatz lautet: "Be-schenkt hat mich Gott, mich mit gutem Geschenk. Diesmal wird mein Mann mir bei-wohnen, denn ich habe ihm sechs Söhne geboren." (Gen 30,20). Sebulon bezeichnet die

22 In 3942 bringt Swedenborg die Liebesäpfel mit der ehelichen Liebe in Verbindung. Dieser ungemein

bedeutungsreiche Ausdruck impliziert auch die unio mystica. Swedenborg schreibt: "Die wahre ehe-liche Liebe ist die Einheit (unio) zweier Gemüter, die eine spirituelle Einheit (unio spiritualis) ist."(10168). In 1013 schreibt er, daß die unio mystica (dort verwendet er diesen Ausdruck) allein durchLiebe geschieht. Das Urbild der unio mystica ist die Einheit des Vaters und des Sohnes (unio mysticain 2004).

23 Nach Swedenborg bezeichnet die Fünf als Hälfte der Vollzahl Zehn "etwas bzw. wenig" (649).

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Beiwohnung des Seelenbräutigams. Beiwohnen ist ein bildlicher Ausdruck für die eheli-che Verbindung (3960: vgl. auch den deutschen Sprachgebrauch); zugleich ist angedeu-tet, daß Lea nun zur Wohnung des Herrn geworden ist. Denn das hebr. Wort sebul kannden Himmel als die Wohnung Gottes (Jes 63,15) und den Tempel (beth sebul: 1 Kön8,13) bezeichnen. Zu beachten ist auch, daß nicht einfach vom einem Geschenk, son-dern vom guten Geschenk gesprochen wird; es ist also das Geschenk der Verbindungmit dem Guten der Liebe. Swedenborg übersetzt das in der gesamten Heiligen Schriftnur hier vorkommende Wort säbäd (ebenfalls ein Anklang an Sebulon?) mit dos, dasauch Mitgift, Brautschatz usw. bedeutet; also ein weiterer Hinweis auf die Heirat. DieZahl Sechs (die Hälfte der Vollzahl Zwölf) bezeichnet die Vollendung der äußeren Kir-che; also die halbe Vollendung der Gesamtkirche aus Rachel und Lea.

Dina ist die einzige Tocher. Daher bezeichnet sie die Kirche als Zusammenfassung derbisherigen zehn (Vollzahl) Geburten. Zugleich ist sie die siebente Geburt Leas; auch die-se Zählung verleiht ihr die Qualität der gottesdienstlichen Heiligung (der siebente Tagist der Tag des Herrn). Ihr Name bringt sie, wie schon ihren Bruder Dan, mit der Vor-stellung von Recht und Gericht in Verbindung. Was hat das mit Kirche zu tun? Sehrviel, wenn man sich Begriffe wie Thora (das Mosegesetz), Sünde, Rechtfertigung (iustifi-catio), Jüngstes Gericht, Kirchenrecht usw. in Erinnerung ruft.

Rachels Auferstehung

Nun endlich öffnet Gott Rachels Mutterleib (Gen 30,22). Die Formel "den Mutterleib öff-nen" steht in der gesamten Heiligen Schrift nur hier bei Rachels Erstgeburt und in Ge-nesis 29,31 bei Leas Erstgeburt.24 Das hebr. Wort für Mutterleib ist von einem Verb ab-geleitet, das zärtlich lieben und erbarmen bedeutet. Mutterschoß bedeutet im Hebräi-schen die Eingeweide als Sitz des zarten Mitgefühls. Daher entspricht er "dem Gutender himmlischen Liebe" (AE 865). Swedenborg erläutert das mit den Worten: "Daß derMutterleib das innerste Gute der Liebe bedeutet, beruht darauf, daß alle Zeugungsorga-ne sowohl beim männlichen, als auch beim weiblichen Geschlecht, die eheliche Liebebedeuten, und der Mutterleib ihr Innerstes, weil hier die Leibesfrucht empfangen wirdund fortwächst, bis sie geboren wird; er ist auch wirklich das Innerste der Zeugungs-glieder; von daher stammt auch die mütterliche Liebe, die Zärtlichkeit genannt wird."(AE 710). Der Mutterleib bezeichnet also die Liebe, die uns empfänglich macht (schwan-ger werden läßt); daher ist er auch ein Bild für die Kirche (4918).

24 Das gilt selbstverständlich nur für den hebräischen Grundtext. Dort findet sich tatsächlich nur hier

rächäm (Mutterleib) mit patach (öffnen) verbunden. Es gibt freilich eine ähnliche Formulierung,nämlich rächem mit päthär (Durchbruch) = "Durchbruch des Mutterleibes", die Swedenborg in Ex13,2.15; 34,19 mit "apertura uteri" (Eröffnung des Mutterleibes) übersetzt.

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Aus diesem Schoß der sanften Geistesliebe erleuchtet uns Rachels Frucht. "Gott hatmeine Schmach eingesammelt" (Gen 30,23), sagt sie; von der Unfruchtbarkeit des Todes(siehe Gen 30,1) hat er mich erlöst. "Weil die Mutter (in alten Zeiten) die Kirche be-zeichnete und die Söhne und Töchter ihr Wahres und Gutes …, deshalb war es Schimpfund Schmach für die Frauen, unfruchtbar zu sein" (AE 721 mit Belegstellen). Josef be-zeichnet das ewige Licht des Geistes: "das Göttlich Geistige, das vom Göttlich Menschli-chen des Herrn ausgeht" (4669); das Göttlich Wahre, das wir in der christlichen Traditi-on den Heiligen Geist nennen (NJ 306). Dieses Licht des ewigen Morgens ist wahre Spi-ritualität ("Spirituale in sua essentia non aliud est": 4669), ist das erlösende, freima-chende (Joh 8,32) Licht der Liebe. Dieser Josef kann nicht ohne Benjamin leuchten.Deswegen sprach Rachel ein zweites Mal: "Jehovah füge mir noch einen Sohn hinzu!"(Gen 30,24). Denn in Josef fühlen wir immer auch schon Benjamin; unser höchstesGlück, das uns den Tod bringen wird. Wir sehen in den beiden Namenssätzen denWechsel von Elohim (Gotteslicht) auf Jehovah (Liebes- und Lebenswärme), den Über-gang in die reine Liebessphäre.

Auf ihrem Weg mit Jakob wird Rachel noch viel erleben. Die Theraphim (Hausgötter) ih-res Vaters wird sie stehlen und im Kamelsattel verstecken. Auf dem Weg nach Bethle-hem (Haus des ewigen Lebensbrotes) bei der Geburt Benjamins wird sie alles Irdischeablegen und in die himmlische Freiheit des Geistes übergehen. Wer ist Benjamin? ImSterben nannte sie ihn Benoni (Sohn meines Schmerzes oder meiner Trauer: 4591).Doch sein Vater nannte ihn Benjamin (Sohn der rechten Seite). In Psalm 110,1 heißt es:"Spruch des Herrn an meinen Herrn: Setze dich zu meiner Rechten, bis ich hinlege dei-ne Feinde als Schemel deiner Füsse." Das Neue Testament erkennt in diesem zur Rech-ten Sitzenden Jesus.

Zum religiösen Denken von Jung-Stillingvon Prof. Dr. Gerhard Merk

Vorbemerkung der Schrifleitung: Herr Prof. Dr. Gerhard Merk ist Präsident der Jung-Stilling-Gesellschaft in Siegen. Am 4. September 1999 durften wir ihn im Swedenborg Zentrum zu einemhochinteressanten Vortag über Jung-Stillings Weltsicht aus dem Diesseits und Jenseits begrüssen.Daraus ist nun der folgende Beitrag für unsere Zeitschrift hervorgegangen mit einem Schwerpunktbei den Jenseitsvorstellungen.

Lebensweg von Jung-Stilling

Johann Heinrich Jung-Stilling (1740–1817) hat die Geschichte seines Lebens selbst nie-dergeschrieben; Goethe beförderte den ersten Teil zum Druck. Sie wurde in viele Spra-

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chen übersetzt und blieb bis heute auf dem Büchermarkt. Danach lässt sich der äussereLebensweg von Jung-Stilling in vier Abschnitte gliedern.

(1) Jugendzeit im Siegerland. Jung-Stilling wächst in einer Grossfamilie von Handwerkernund Bauern im Siegerland auf, einer der ältesten Bergbauregionen in Europa. Nachsorgfältiger Erziehung daheim besucht er die Grundschule und Lateinschule. Von klei-nauf steht der frühreife Hochbegabte als Handreicher im Köhlerhandwerk dem Grossva-ters zur Seite, lernt beim Vater die Schneiderei und arbeitet als Schulmeister, Vermes-sungsgehilfe sowie in der Landwirtschaft in seiner Heimat.

Auf nahezu allen Gebieten bildet sich der wissensdurstige und bis zu seinem Lebensen-de lerneifrige Jung-Stilling weiter. Der Knabe ist durch die häusliche Erziehung beson-ders auch mit der christlichen Frohbotschaft wohl vertraut. Er beantwortet die Gnadeder Erlösung mit einem festen, lauteren und treuen Glauben. Die Familie ist reformier-ter Konfession, und Jung-Stilling blieb zeit seines Lebens in diesem religiösen Umfeld.Der katholische Glaube blieb im letztlich fremd. Was er vom Luthertum kannte, ist nurStückwerk geblieben.

(2) Reifung im Bergischen Land. Das wirtschaftliche Klima im Siegerland ist um 1760verhältnismässig schlecht. Demgegenüber erfreut sich das benachbarte Bergische Landeiner Phase günstiger industrieller Entfaltung. Getragen wird diese von der eisenverar-beitenden Industrie sowie von zahlreichen Textilfabriken im Talgebiet der Wupper. Vie-le Menschen wandern in das Bergische Land ein, darunter so mancher Siegerländer.Auch Jung-Stilling entschliesst sich in seinem 22. Altersjahr, als Wandergeselle insBergische zu ziehen.

Den Schneidergesellen entdeckt einer der damals bedeutenden Gewerbetreibenden ander Wupper: der Fabrikant, Gutsbesitzer, Viehzüchter, Grosshändler und Transportun-ternehmer Peter Johannes Flender (1727–1807). Er macht Jung-Stilling zum Hauslehrerseiner Kinder und zu seiner rechten Hand im Geschäftlichen. Flender ist wie Jung-Stilling reformierten Bekenntnisses; er entstammt väterlicherseits dem Siegerland. Got-tesdienstbesuch und Gebet bei Tisch sind eine Selbstverständlichkeit. Religiöse Fragenbeschäftigen Flender immerzu. Er liest entsprechende Bücher; zweimal in der Woche istder Pfarrer am Abend sein Gast. Jung-Stilling bleibt sieben Jahre im Hause Flender. Erbezeichnet diese Zeit als seine ökonomischen Studienjahre. Jung-Stilling, ländlicherHerkunft, wächst daneben hier auch in die kultivierte Lebensart des städtischen Bürger-tums hinein.

Bereits 30 Jahre alt, verlässt Jung-Stilling das Haus Flender, um in Strassburg Medizinzu studieren. Er hatte sich im Selbststudium bereits die Grundlagen dieser Wissenschaftangeeignet. Dazu wirkte er in seiner Freizeit als Laienarzt bei Augenkrankheiten; Jung-Stilling erhielt von einem Bekannten seines Onkels eine Handschrift mit entsprechen-

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den Anleitungen. In nur drei Semestern schaffte es Jung-Stilling, das Medizinstudiumabzuschliessen. In Strassburg lernte er auch Johann Wolfgang Goethe und GottfriedHerder kennen.

Noch vor seiner Abreise nach Strassburg hatte sich Jung-Stilling mit einer kränklichenjungen Frau aus einer Bergischen Unternehmerfamilie verlobt, die er 1771 heiratete. ImFrühjahr 1772 liess er sich als praktischer Arzt in Elberfeld nieder. Bald verlegt er denSchwerpunkt auf Augenkrankheiten, und hier wieder im besonderen auf die Operationdes grauen Stars. Bis zu seinem Lebensende schenkt Jung-Stilling etwa 2 000 Men-schen durch Operation das Augenlicht wieder. Ein Honorar verlangte er nicht, wiewohler die meiste Zeit seines Lebens Geldschulden hatte.

(3) Hochschullehrer für Ökonomik. Während seiner Zeit als Arzt in Elberfeld hatte Jung-Stilling auch Abhandlungen über betriebswirtschaftliche Themen veröffentlicht. DieseArbeiten und seine gute Beziehungen bei Hofe zu Mannheim (das Bergische Land ge-hörte damals zum Herrschaftsbereich des Kurfürsten von der Pfalz, der in Mannheimresidierte) trugen ihm 1778 die Berufung zum ordentlichen Professor für angewandteökonomische Wissenschaften an die Kameral Hohe Schule in Kaiserslautern ein. ImHerbst dieses Jahres zieht Jung-Stilling mit seiner Familie in die Kurpfalz.

Die Kameral Hohe Schule wird 1784 der Universität Heidelberg angegliedert. Jung-Stilling übersiedelt mit seiner Familie dorthin. Er hatte 1782 ein zweites Mal geheiratet,nachdem seine erste Frau in Kaiserslautern starb. Zum Sommersemester 1787 erhältJung-Stilling unter Verdoppelung seiner bisherigen Bezüge einen Ruf an die UniversitätMarburg, dem er gern folgt. Bis zum Jahr 1803 lehrt Jung-Stilling nun Ökonomik inMarburg. An der medizinischen Fakultät hält er auch Übungen zur operativen Augen-heilkunde ab. Denn Jung-Stilling gibt auch als Ökonomieprofessor seine Tätigkeit alsAugenarzt nie auf. Jung-Stilling schrieb zur Ökonomik elf Fachbücher und zahlreicheAufsätze. Auch veröffentlichte er eine Anleitung zur Operation des Grauen Stars.

(4) Berater am Badischen Hof. Die Französische Revolution von 1789 wirkt sich inDeutschland verheerend aus. Krieg, Mangel, Hunger, Elend, Verarmung, Leid, Trümmer,Plünderungen und Unsicherheit sind die Folge. Ab 1794 steht Deutschland ganz unterdem Druck der Franzosen. Die linksrheinischen Lande werden Frankreich einverleibt,alle anderen Gebiete von Frankreich beherrscht. Die Universität Marburg verkümmert;in den Vorlesungen von Jung-Stilling sitzen nur noch zwei bis drei Hörer.

Angesichts dieser widrigen Umstände entsagt Jung-Stilling dem Lehramt und tritt imHerbst 1803 in die Dienste des ihm geistig nahestehenden Karl Friedrich von Baden(1728–1811) als dessen persönlicher Berater. Wieder verlegt Jung-Stilling mit seinemganzen Hausstand den Wohnsitz, und zwar auf Wunsch seines Gönners zunächst nach

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Heidelberg, im Jahre 1806 dann nach Karlsruhe. Diesmal zieht seine dritte Ehefrau mitihm. Jung-Stilling war 1790 in Marburg ein zweites Mal Witwer geworden.

Karlsruhe ist um diese Zeit ein Mittelpunkt wieder aufblühender Kultur im SüdwestenDeutschlands. Das badische Herrscherhaus hatte sich klug an die neue Machtverhält-nisse angepasst. Karl Friedrich hatte gar seinen Nachfolger einer Adoptivtochter vonNapoleon Bonaparte zum Mann gegeben. Aufgrund dieser Politik wurde er von Frank-reich mit Gunstbezeugungen überhäuft. Er stieg vom Markgrafen zum Grossherzog auf;sein Staatsgebiet erweiterte sich beträchtlich durch von Frankreich verfügte Zuweisun-gen aus anderen deutschen Territorien. Karlsruhe galt als "befreundeter Hof" und warob dessen dem unmittelbaren Druck Frankreichs und der rohen Willkür seiner Kriegerentzogen. Jung-Stilling findet damit in Baden die nötige äussere Ruhe zum Arbeiten.

Hier in Karlsruhe stirbt Jung-Stilling im April 1817, zwei Wochen nach dem Hinschiedseiner dritten Ehefrau. In Karlsruhe liegt Jung-Stilling auch begraben; das Grabdenkmalbefindet sich heute auf dem (neuen) Hauptfriedhof. Bei seinem Heimgang waren ihmbereits sieben Kinder in das Jenseits vorangegangen. Sie alle sah Jung-Stilling samt ih-ren Müttern gelegentlich einer Verzückung im Himmel, wo sie sich der Seligkeit erfreu-en.

Versuch einer natürlichen Gotteserkenntnis

In seiner Zeit als Arzt in Elberfeld beschäftigte sich Jung-Stilling einlässlich mit derFrage, wie Gott und die Welt nicht nur aus biblischer Belehrung zu erkennen seien,sondern auch durch vernünftiges Nachdenken. Dieses Anliegen ist in der christlichenTheologie nicht neu. Vor allem Thomas von Aquin (1227–1274) und seine Schule brach-ten es hierbei, an die Schriften des Aristoteles (384–321 v.Chr.) anknüpfend, zu Lehr-sätzen, die bis heute als Glanzstück natürlicher (= nur auf Vernunftschlüssen beruhen-der) Theologie gelten.

Freilich blieb Jung-Stilling zeitlebens die Ergebnisse dieses Denkens unbekannt. Wieviele Genies, so achtete er wenig auf das, was andere vor ihm und neben ihm an Er-kenntnissen gewannen. So glaubte Jung-Stilling 1774, sein "eigenes System" entdecktzu haben. Frucht dessen ist sein "Theosophischer Versuch vom Wesen Gottes und demUrsprung aller Dinge" aus dem Jahr 1776; die Schrift ist nur als Manuskript auf uns ge-kommen. Doch 1787 gibt Jung-Stilling diese Gedanken in dem anonym erschienenenBuch "Blicke in die Geheimnisse der Natur=Weisheit" in veränderter Form zum Druck.

Jung-Stillings Anliegen ist es letztlich, die Übereinstimmung von Wissen und Glauben,von Denken und Offenbarung zu beweisen, wie er im Vorwort betont. Jedoch sind dieAusführungen an vielen Stellen sehr schwer verständlich und schleierig. Jung-Stillinghat ganz offensichtlich Lehren der westöstlichen Geheimwissenschaft (hermetische

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Schriften) in "sein System" hinein gemischt. Dazu fehlt ein Inhaltsverzeichnis, und diean den Schluss gestellten "Anmerkungen über vorgehendes philosophisches System"stehen teilweise in Widerspruch zum Hauptteil. Jung-Stilling räumt freilich selbst ein,dass "sein System" noch "ausserordentlich viel Unverdautes und Baufälliges" habe. Soist es nicht verwunderlich, dass dieses Buch selbst von den Widmungsträgern (Dalberg,Herder, Kant) mit Kopfschütteln aufgenommen wurde.

Eintreten für den Pietismus

Zu Lebzeiten von Jung-Stilling vollzog sich ein beachtlicher, bis heute nachwirkenderAufstieg der Naturwissenschaften. Viele Gesetze und Zusammenhänge wurden erstmalsentdeckt. Im Zuge dessen änderte sich allgemein das Verständnis von Gott und derWelt. Denn manches, was man bis anhin als unmittelbares Wirken Gottes ansah, erwiessich jetzt als in die Dinge hineingelegte Regelung. Dies führte nun bei vielen zu fal-schen Folgerungen. Die einen behaupteten, Gott kümmere sich gar nicht mehr um dieWelt und um den Menschen; er habe alles wie ein Uhrwerk vorgeordnet. Andere kamengar zu dem Schluss, Gott habe sich vergegenständlicht: er sei in der Welt aufgegangen.Diese Gott-Welt-Wirklichkeit sei in immerwährendem Werden. Goethe huldigte solchenGedanken.

Gelehrte und Ungelehrte fühlten sich berufen, die Menschen von dieser neuen Welt-sicht "aufzuklären". Die christliche Botschaft wurde als nicht mehr in die "neue Zeit"passend abgelehnt, darüber hinaus oft auch mit Spott und Hass verfolgt. Als Zerrbilddes im "Aberglauben" verhafteten Christgläubigen galt den Philosophen und Literatenvornehmlich der "Pietist". Über ihn schütten sie Hohn und Schimpf aus.

Solche Hetzjagd rief Jung-Stilling auf den Plan. Er verwahrte sich dagegen, die Pietistenallesamt als hinterwäldlerische Tölpel hinzustellen. In vielen Schriften wies er nach,dass das gläubige Vertrauen in den persönlichen Gott sogar Voraussetzung dafür ist,sich der Welt zuzuwenden und sie zum Besseren zu gestalten. Auch deckte Jung-Stillingauf, wie das Fehlen der Herzensfrömmigkeit zur Kälte gegen die Mitmenschen führt.Zwar wurden sie von den "Aufklärern" hochtrabend als "Brüder" gefeiert. Die tätigeNächstenliebe jedoch blieb ganz auf der Strecke. Statt dessen verkündeten die "Aufklä-rer" unbestimmte sittliche Forderungen in Menge. Im besonderen schärfte man dieauch von Jesus als Richtschnur anempfohlene Goldene Regel ("Handle so, wie du willst,dass andere handeln") ein – freilich ohne deren Verpflichtung im vor Gott zu verantwor-tenden Gewissen zu verankern.

Jung-Stilling hielt es für anmassend, diese neue Weltanschauung als "Aufklärung" zubezeichnen, und gar noch aus dem Evangelium alles zu streichen, was von der Vernunftnicht zu begreifen sei. Wahre Aufklärung ist vielmehr (so schreibt er in einem Lehr-

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buch) "die richtige Erkänntniß von Gott, von der Natur, besonders von dem Menschen,und von dem Verhältniß desselben zu Gott, und den daher entspringenden Pflichten ge-gen den Vater im Himmel, und gegen den Nächsten. Aus der wahren Aufklärung folgtalso reine und thätige Liebe gegen Gott und seinen Mitmenschen."

Man kann sich leicht vorstellen, dass Jung-Stilling für die tonangebende Schicht der Phi-losophie und Aufklärungs-Theologie als altmodischer Unbelehrbarer galt. Auf vielfacheWeise wurde er angefeindet. Andererseits aber scharten sich gläubige evangelischeChristen aus vielen Ländern um ihn. Für sie galt er als Bewahrer der unverfälschtenchristlichen Botschaft. Jung-Stilling bediente seine Anhänger durch eine Vielzahl from-mer Schriften, in denen er das Vertrauen auf das Heilswirken Gottes an jedem einzel-nen Menschen stärkte.

Jenseitsvorstellungen

Die zu Jung-Stillings Zeiten herrschende Aufklärungsphilosophie hatte für ein Lebennach dem Tod wenig übrig. Andrerseits war – ausgelöst vor allem durch die grossewirtschaftliche Not in breiten Volksschichten infolge der Kriege – vielenorts eine End-zeitstimmung aufgekommen. Im Zuge dessen sprossten in manchen christlichen Krei-sen krause, wirre Lehren über Tod und Jenseits auf. Auch "Seher" jeder Art meldetensich zu Wort, oft genug mit der Behauptung, von Geistern aus dem Jenseits belehrtworden zu sein. Beides, sowohl die Leugnung der jenseitigen Welt als auch die über-triebene Geisterseherei, veranlassten Jung-Stilling, sich vor allem in seinem letzten Le-bensabschnitt mit diesen Dingen näher zu beschäftigen. Hatte er zu seiner Zeit in Mar-burg bereits die "Szenen aus dem Geisterreich" herausgegeben, so folgte 1808 in Buch-form die "Theorie der Geister=Kunde": ein Werk, dass auch ins Englische, Niederländi-sche und Schwedische übersetzt wurde. Darin sowie in entsprechenden Stellen seinerVolksschriften legte Jung-Stilling seine Schau der Jenseits dar.

(1) Raum und Zeit. Jung-Stilling leugnet weder die Zeitlichkeit noch die Räumlichkeitdes Wirklichen. Die unseren Wahrnehmungen zugrunde liegenden Dinge füllen tatsäch-lich einen Raum aus. Der Wahrnehmung von Gestalt, Abstand, Ausdehnung, Lage, Ent-fernung und Bewegung entspricht etwas Gleichartiges in der Wirklichkeit. Auch er-scheint uns nichts als "stehendes Jetzt". Vielmehr erfahren wir die Dinge als fliessend,beginnend, sich ändern. Wo aber Veränderung ist, da muss ein Nacheinander, also Zeit-lichkeit sein.

In der Schöpfung (in der Natur) gibt es also Raum und Zeit. Es muss daher nach denBedingungen von Raum und Zeit sowohl geurteilt als geschlossen werden, und das Er-gebnis ist wahr. Gott freilich und die von ihm erschaffenen Geister sehen die Welt an-ders. Für sie gibt es weder Raum, noch Zeit, noch ein kopernikanisches Weltsystem.

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Daher darf man das nur den körperlichen Wesen (den Menschen, Tieren, Pflanzen undder Materie) anhaftende raumzeitliche Sosein nicht auf die Geisterwelt übertragen. Ausder Sicht des Schöpfers ist das Weltall weder körperlich, noch im Kräftespiel, noch inBewegung, noch genau so geordnet, wie es sich dem forschenden Menschengeist zeigt.

Man warf nun Jung-Stilling vor, er entnehme solche Unterscheidungen den Geheimleh-ren. Doch steht Jung-Stilling hier voll und ganz in der Überlieferung der christlichenTheologie. Obendrein bezichtigte man ihn der Leugnung des kopernikanischen Weltsy-stems. Dabei ging es Jung-Stilling doch darum, Folgerungen aus dem naturwissenschaft-lichen Weltbild für das Jenseits als unstatthaft aufzudecken.

(2) Engel und Geister. Aus dem Nichts erschaffen hat Gott nicht nur die sichtbare Welt,sondern auch die Engel. Sie sind reine Geistwesen (Körperlosigkeit), unter sich ver-schieden (Einzigkeit), mit freiem Willen begabt (Selbstbestimmung) und schauen inGottes Angesicht (Seligkeit). Jung-Stilling schreibt den Engeln einen Einfluss in allenEbenen der die Welt zu. Sie sind "Werkzeuge, durch welche der Herr die ganze Schöp-fung, also auch unsre Sinnenwelt regiert." Aber grundsätzlich steht es dem Menschennicht an, Umgang mit Engeln zu suchen.

Schutzengel sind Geister, die jedem Menschen von Gott beigestellt sind. Sie wenden Ge-fahren des Leibes und der Seele von ihren Schützlingen ab, eifern sie zum Guten an undbegleiten sie in die zukünftige Welt. Es muss ihnen eine gewisse Wirkmacht zu Gebotestehen, wodurch sie auf die Aussenwelt Einfluss nehmen. Wie gross diese ist, bleibt of-fen. Die von Jung-Stilling angeführten biblischen Beispiele und auch eigene Erfahrun-gen (sein Schutzengel Siona diktierte ihm die Schrift "Lavaters Verklärung" in die Fe-der) sind sicher als von Gott erteilte Wirkmacht für einzelne Fälle zu verstehen. Jung-Stilling geht davon aus, dass die Engel in Bezug auf die Spielweite ihrer Machtbetäti-gung jederzeit an den göttlichen Willen gebunden sind.

Eine fromme abgeschiedene Menschenseele kann nach Jung-Stilling zu einem engel-gleichen Zustand aufsteigen. In seinen "Szenen aus dem Geisterreich" zählt Jung-Stilling beispielsweise die beiden Zürcher Pfarrer Johann Kaspar Lavater (1741–1801)und Johann Konrad Pfenninger (1747–1792) zu solchen seligen Geistern. Sicher knüpftJung-Stilling hier an die altkirchliche (und noch heute von der katholischen und ortho-doxen Kirche gelehrte) Lehre von den Heiligen an. Es sind dies verstorbene Menschen,die der Gotteskindschaft teilhaftig wurden. "Sie erkennen im Willen Gottes, in dessenAngesicht sie leben, besser als wir, was für uns nüzlich ist, und beten gewiß mit vielerLiebe für uns", meint Jung-Stilling. Grundsätzlich ist er nicht gegen eine Verehrung derHeiligen, wie sie die frühe Kirche pflegte. Freilich sieht er die Gefahr, dass Heilige –ebenso wie Engel – sehr leicht in den Mittelpunkt des Glaubens rücken können. Daherwarnt er vor dem Kult der Engel und Heiligen.

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(3) Teufel und Dämonen. Ein Teil der Engel hat sich in freier Entscheidung von Gott ab-gewendet und steht ihm in Feindschaft gegenüber. Dies sind die bösen Geister (Dämo-nen). Diese "würken zum Verderben, erhitzen die Leidenschaften, und locken zum La-ster", wie Jung-Stilling ihr Tun kennzeichnet. Der abgefallene oberste Engel, dem dieLeitung der irdischen Dinge oblag, heisst Teufel (Satan, Luzifer).

Nach Jung-Stilling kann der Einfluss des "bösen Feindes" nicht geleugnet, darf jedochauch nicht übertrieben werden. Die Erkenntnis des Teufels und der bösen Geister über-haupt (als frühere Engel) ist geblieben. Sie übersteigt daher die menschliche. Jedoch er-kennt der Satan nicht das Zukünftige und auch nich die Gedanken (alle Denkerlebnisse)der Menschen. Er vermag auch keine Wunder zu wirken, sondern höchstens Taten, wel-che die menschlichen überragen ("Trugwerk", "Blendwerk"). — Gott gestattet dem Teu-fel, uns zu versuchen. Aber nicht jede Versuchung ist vom Teufel, weil Fleisch und Weltauch versuchlich sind. Der Satan kann nie zur Sünde zwingen; denn es gibt keine Sün-de ohne Freiheit. Teufelsbündnisse sind möglich. Niemand freilich, der sich mit einembösen Geist verbündet, kann Nebenmenschen schaden, "wenn ihm nicht jemand selbstdie Gelegenheit dazu giebt, und die Gottesfurcht beyseite sezt", wie Jung-Stilling betont.

(3) Himmel und Hölle. Jeder einzelne Mensch ist von Gott berufen, für einige Zeit an sei-ner Schöpfung auf Erden mitzuwirken. Je nachdem, wie er Gott und seinem Nächstenan dieser Lebens-Aufgabe gedient hat, wird seine Bestimmung nach dem Tode sein. DieGerechten kommen sofort nach ihrem Ableben auf der Erde in den Himmel. Die vonGott abgewandten Bösen werden in einen jenseitigen Strafzustand versetzt, in die Hölle.

(4) Hades. Die entleibten Seelen all jener, die sich im irdischen Leben nicht grundlegendfür das Gute oder Böse entscheiden haben, kommen in einen Mittelort (Totenreich, Ha-des, Scheol). Mit dieser Lehre steht Jung-Stilling zwar nicht in Widerspruch zur Ge-schichte der christlichen Theologie, wohl aber zur reformierten Lehre seiner Zeit. Imeinzelnen macht Jung-Stilling zum Hades acht wesentliche Aussagen.

1. Im Hades reifen die Seelen für kürzere oder längere Zeit entweder zum Himmel oderzur Hölle heran. Es gibt also im Hades "Gute und Böse, Halbgute, und Halbböse."

2. Die nach dem Tode im Hades angekommene Seele verspürt die Sinnenwelt nichtmehr. Sinnenwelt meint dabei die irdische Aussenwelt, die durch Empfindungen wieLicht, Ton, Wärme, Kälte, Geruch oder Geschmack wahrgenommen wird. Sie erkennt je-doch "die Geister, die im Hades sind."

3. Die Seelen im Hades können vom Geschick noch lebender Menschen (vor allem derAngehörigen) Kenntnis erhalten. Dies geschieht einmal durch Nachricht von Seelen, dieeben entleibt im Hades ankommen. Zum anderen aber kann auch Wissen vermitteltwerden "aus Anstalten, die in Ansehung unserer im Geisterreich gemacht werden."

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4. Die Seele besitz im Hades die Vorstellung von Raum und Zeit. Jedoch ist ihr nun imRaum alles nahe und in der Zeit nichts fern. Sie kann deshalb wissen, was in der Ferneund was in der Zukunft geschieht, "insofern es ihr die Gesetze des Geisterreichs erlau-ben." Freilich kann sich die Seele irren. In Unkenntnis ihrer Falschheit werden dannAussagen als wahr behauptet.

5. An und für sich betrachtet ist der Hades ein leidensfreier Ort. Die eigentlichen Leidenim Hades sind das Heimweh nach der auf immer verlorenen Sinnenwelt der nun leeren,entblössten Seele, die auf die Hölle zugeht. Seelen, die auf den Himmel vorbereitet wer-den, erleiden keine Pein, ausser der, die sie sich selbst machen. So empfinden etwas je-ne Seelen Leiden, die mit einer nicht abgelegten Begierde aus diesem Leben schieden.

6. Auf noch lebende Menschen können Seelen im Hades nur einwirken, wenn sie sichmit ihnen in Verbindung setzen können und dürfen. Sie vermögen dann Menschenauch absichtlich zu täuschen und in die Irre zu führen. Manche machen es sich gar zumVergnügen, Menschen zu betrügen.

7. Seelen aus dem Hades vermögen sich grundsätzlich körperlich sichtbar zu machen.In diesem Falle können sie von vielen Menschen gesehen werden. Jedoch fällt dem Be-trachter auf, dass es sich um keinen natürlichen, lebendigen Menschen handelt. Diesgeschah beispielsweise massenhaft beim Tode Jesu (Mt 27, 52).

(8) Es ist nützlich und heilsam, für Seelen im Hades zu beten. Niemand ist indessen zusolchem Gebet verpflichtet.

Zur katholischen Lehre von der Läuterung (in der deutschen Sprache früher auch "Feg-feuer" genannt) besteht ein wesentlicher Unterschied. Bei Jung-Stilling bereitet der Ha-des für Himmel und Hölle vor. Nach der altchristlichen und katholischen Lehre von derLäuterung jedoch sind nur solche Seelen in diesem Zustand, die nach einiger Zeit auchin den Himmel kommen. — Der arge Missbrauch, der mit dem "Fegfeuer" getriebenwurde, rechtfertigt nach Jung-Stilling keineswegs, dass die Reformatoren eine Reini-gung nach dem Tode zur Gänze ausschliessen. Andrerseits widerstrebt es Jung-Stillingauch, diese Lehre "auf die Canzel zu bringen."

Abschliessende Bemerkungen

Die theologischen Aussagen von Jung-Stilling stehen in keinem planvollen, sorgsamdurchdachten Zusammenhang. Die mangelnde Systematik erklärt sich daraus, dassJung-Stilling als Ökonom, Art und Literat die Theologie nicht als sein näheres Aufga-bengebiet ansah. So nimmt er meistens nur zu einzelnen Fragekreisen Stellung. Diesgeschieht in Büchern (wie etwa seiner Erklärung der Offenbarung Johannis), in Volks-schriften und Romanen sowie in – vor allem der Seelsorge dienenden – persönlichen

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Schreiben. Jung-Stilling dürfte zeitlebens gut 20 000 Briefe verfasst haben; die Korre-spondenz belegt besonders im letzten Lebensabschnitt einen Gutteil seiner Zeit. In al-lem aber steht die praktische Frömmigkeit im Vordergrund. Lehrmeinungen tretendemgegenüber zurück.

Hinzu kommt, dass sich Jung-Stilling selbst stets als Mitglied der reformierten Kirchesah, wie er mehrmals betonte. Von deren Kernlehren wollte er nicht abweichen — wie-wohl er das etwa in Bezug auf seine Aussagen zum Wirken der Engel und seine Be-schreibung des Hades offenkundig tat. Das brachte ihm schon zu Lebzeiten harsche Kri-tik seitens der Theologen ein. Bis heute hält dies an; und noch im Katalog der Jung-Stilling-Ausstellung Karlsruhe 1990 zählt ein Theologe und Jung-Stilling-Kenner die"Theorie der Geister=Kunde" den "abstrusen spiritistischen" Büchern bei. Der Lehre vonEngeln und Geistern gegenüber reagiert man im reformierten Umfeld günstigenfalls mitmilden Lächeln, oft genug mit Entrüstung und Empörung. Dass der unendlichen Vielfaltder sichtbaren Schöpfung Gottes auch eine Vielfalt in der nichtkörperlichen Welt ent-spricht, gilt als ausgeschlossen.

Endlich aber hatte Jung-Stilling ein Misstrauen gegen jede Art von Separatismus, ver-standen hier als Abspaltung von der Volkskirche. In seiner Jugend zuhause und in sei-ner Zeit im Bergischen Land lernte er religiöse Gemeinschaften kennen, die er in sei-nem Buch "Theobald oder die Schwärmer, eine wahre Geschichte" schildert. Je mehrsich diese von der Leitlinie der Kirchenlehre entfernten, desto überspannter und wirk-lichkeitsferner gestalteten sie sich selbst: das zeichnet Jung-Stilling deutlich nach. Des-halb schreibt er auch als Motto: "Mittelmaß die beste Straß" in den Untertitel seinesTheobald-Romans.

In seinem letzten Lebensabschnitt verdächtigte man Jung-Stilling, geistiger Vater vielerdamals aufblühender religiöser Gruppen mit schwärmerischer, ja teilweise sogar revolu-tionärer Lehre zu sein. Er musste sich gegen solche Vorwürfe in einer eigenen Schriftwehren. Auch das festigte Jung-Stilling in seiner Haltung, die verfasste Grosskirche zubestärken und der Glaubensüberzeugung ihrer Vorsteher gemäss Hebr. 13, 7 zu folgen.Jung-Stilling beeinflusste aber ohne Zweifel die gelebte Glaubenspraxis, die Frömmig-keit der reformierten Kirche seiner Zeit. Zumindest Rinnsale dieses Stromes sind bisheute spürbar.

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Die "Gemeinsame Erklärung zur Rechtferti-gungslehre" aus Sicht eines Swedenborgianersvon Thomas Noack

Am 31. Oktober 1999 (Reformationsfest) wurde in der Augsburger evangelischen St.Annakirche die lutherisch-katholische "Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungs-lehre"25 von Spitzenvertretern des Lutherischen Weltbundes (LWB) und des PäpstlichenRates zur Förderung der Einheit der Christen ratifiziert. Darin bestätigen der Lutheri-sche Weltbund und die römisch-katholische Kirche einen "Konsens in Grundwahrheitender Rechtfertigungslehre" (Absatz 5, 13, 40, 43)26.

Die Gemeinsame Erklärung betont die Alleinwirksamkeit Gottes (Monergismus) undverneint dementsprechend jegliche Mitwirkung des Menschen (Synergismus). Wir le-sen: "Gemeinsam bekennen wir: Allein aus Gnade im Glauben an die Heilstat Christi,nicht aufgrund unseres Verdienstes, werden wir von Gott angenommen und empfangenden Heiligen Geist, der unsere Herzen erneuert und uns befähigt und aufruft zu gutenWerken" (Absatz 15). "Alle Menschen sind von Gott zum Heil in Christus berufen. Al-lein durch Christus werden wir gerechtfertigt, indem wir im Glauben dieses Heil emp-fangen. Der Glaube selbst ist wiederum Geschenk Gottes durch den Heiligen Geist, derim Wort und in den Sakramenten in der Gemeinschaft der Gläubigen wirkt und zugleichdie Gläubigen zu jener Erneuerung ihres Lebens führt, die Gott im ewigen Leben voll-endet." (Absatz 16). Die "Mitte des neutestamentlichen Zeugnisses von Gottes Heils-handeln in Christus … sagt uns, daß wir Sünder unser neues Leben allein der vergeben-den und neuschaffenden Barmherzigkeit Gottes verdanken, die wir uns nur schenkenlassen und im Glauben empfangen, aber nie - in welcher Form auch immer - verdienenkönnen." (Absatz 17). "Wir bekennen gemeinsam, daß der Mensch im Blick auf seinHeil völlig auf die rettende Gnade Gottes angewiesen ist. Die Freiheit, die er gegenüberden Menschen und den Dingen der Welt besitzt, ist keine Freiheit auf sein Heil hin. Dasheißt, als Sünder steht er unter dem Gericht Gottes und ist unfähig, sich von sich ausGott um Rettung zuzuwenden oder seine Rechtfertigung vor Gott zu verdienen oder miteigener Kraft sein Heil zu erreichen. Rechtfertigung geschieht allein aus Gnade." (Ab-satz 19).

Dieser Konsens ist aus neukirchlicher Sicht keine Neuigkeit. Denn schon 1769 wiesEmanuel Swedenborg in seiner "Kurze(n) Darstellung der Lehre der neuen Kirche" das

25 Der vollständige Text ist im Internet unter www.rechtfertigung.de abrufbar.26 Die Absätze der gemeinsamen Erkläruung sind nummeriert. Diese Zahlen werden im Folgenden

verwendet.

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Folgende nach: "Die durch die Reformation von der Römisch-katholischen Kirche ge-trennten Kirchen weichen in mancherlei Punkten voneinander ab; stimmen aber alle inden Artikeln von der Dreiheit der Personen in der Gottheit, vom Ursprung der Sündevon Adam her, von der Zurechnung des Verdienstes Christi und von der Rechtfertigungdurch den Glauben allein überein." (KD 17). Und weiter: "Die Römisch-Katholischenhatten vor der Reformation ganz Ähnliches über die vier obengenannten Artikel gelehrtwie die Protestanten danach", somit auch "Ähnliches über die Rechtfertigung durch denGlauben an sie mit dem einzigen Unterschied, dass sie diesen Glauben mit der tätigenLiebe oder den guten Werken verbunden hatten." (KD 19). Also schon im 18. Jahrhun-dert entdeckte Swedenborg nach sachlicher Prüfung der maßgeblichen Dokumente,dass der Unterschied zwischen der römisch-katholischen Mutter und ihren Töchtern ausder Reformationszeit viel kleiner ist als es die lautstark inszenierte Trennung vermutenließ.

Der erreichte "Konsens in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre" wird als ein"entscheidender Schritt zur Überwindung der Kirchenspaltung" angesehen (Absatz 44).Gleichwohl hat er nicht die Einheit der lutherischen Kirchen mit der römisch-katholischen Kirche zur Folge. Warum? Kirchentrennend wirkt heute nicht mehr dieRechtfertigungslehre; das Konsenspapier zeigt es. Vielmehr ist das eigentliche Hinder-nis auf dem Weg zur Kircheneinheit die These des Ökumenismusdekrets des ZweitenVatikanischen Konzils, wonach die Protestanten "wegen des Fehlens des Sakramentsder Priesterweihe … kein Abendmahl im Vollsinn und seinem Wesen nach feiern".Selbst in der Papstfrage ist eine Verständigung möglich. Die Reformation hat das Papst-tum nur als Amt göttlichen Rechts (de iure divino) abgelehnt. Daher könnten die Luthe-raner den Papst als Bischof von Rom und als Patriarch des Westens anerkennen. DieKatholiken freilich müssten das Unfehlbarkeitsdogma von 1870 aufgeben. Kirchentren-nend wirken also heute vor allem ekklesiologische Grundüberzeugungen.

Swedenborg entlarvte die "Rechtfertigung allein durch den Glauben" als eine falscheLehre. Sie und ihre Anhänger stellen sich dem Werden einer neuen wahrhaft christli-chen Kirche mit aller Macht in den Weg. "Die zwei wesentlichen Lehren (essentialia)der neuen Kirche (siehe EO 490) werden von denen, die innerlich im Falschen der Lehrevon der Rechtfertigung allein durch den Glauben sind, ganz und gar verworfen." (EO501). Diese Lehre ist der Drache der Johannesapokalypse (EO 579), der die Geburt derGeistkirche Gottes gleich bei ihrem Entstehen verschlingen will (siehe SwedenborgsAuslegung von Offb 12,1-6 in EO 532ff, besonders 542). Die sola fide Konfirmation inden Köpfen der Theologen und ihres Glaubensvolkes läßt das innere Leben des Geisteszu einer winterlichen Landschaft erstarren und überdeckt mit eisiger Kälte den allent-halben im Worte Gottes blühenden Ruf nach einem Christentum der lebendigen Tat."Wer weiß es nicht aus dem Worte Gottes, dass jeder nach dem Tode ein seinen Hand-

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lungen entsprechendes Leben erlangen wird? Öffne das Wort, lies es, und du wirst esdeutlich sehen, aber halte dabei deine Gedanken fern von der Rechtfertigung alleindurch den Glauben." (GV 128).

Trotz dieser eindeutigen Distanzierung von der Rechtfertigungslehre muss nun aberdoch auf gewisse Gemeinsamkeiten hingewiesen werden. Insoweit das Anliegen des so-la fide (allein durch den Glauben) das solus Christus (allein Christus) ist, ist diesem An-liegen aus neukirchlicher Sicht zuzustimmen. "Die Erlösung war ein rein göttlichesWerk" (WCR 123). Der Herr allein ist der Erlöser (EO 279, LH 45). "Die neue Schöp-fung27 oder Wiedergeburt ist allein des Herrn Werk." (HG 88). "Die Wiedergeburt desMenschen geschieht allein durch den Herrn und ganz und gar nicht durch den Men-schen oder Engel" (NJ 185). Kein Mensch kann sich aus eigener Willenskraft aus derMacht seiner Höllen erlösen. "Denn der Mensch ist nichts als böse, er ist eine Zusam-menhäufung von Bösem, sein ganzer Wille ist nur böse." (HG 987). "Jeder Mensch wirdvon seinen Eltern her in das Böse der Selbst- und Weltliebe geboren … daher wird dieAbleitung des Bösen schließlich so groß, dass das gesamte Eigenleben des Menschennichts als böse ist." (HG 8550). Mit Blick auf das lutherische "simul iustus et peccator(zugleich Gerechter und Sünder)" ist aus neukirchlicher Sicht zu sagen, dass auch derWiedergeborene noch immer in seinem Bösen lebt. "Nie wird ein einziges Böses oderFalsches derart zerschlagen, dass es gänzlich vernichtet ist, sondern alles … verbleibt sosehr beim Menschen, dass er auch nach seiner Wiedergeburt nichts als böse und falschist." (HG 868). Gegenüber der wiedergebärenden Wirksamkeit des Herrn ist der Menschimmer nur ein Empfangender. Erinnert sei in diesem Zusammenhang nur an Sweden-borgs Vorstellung vom Menschen als einem Aufnahmeorgan. "Der Mensch ist nicht dasLeben, sondern das Aufnahmeorgan (Receptaculum) des Lebens von Gott." (WCR 470-474). "Der Mensch ist ein gottaufnehmendes Organ (Organum recipiens Dei)."(WCR 34). "Der Mensch ist nicht das Leben in sich, sondern ein lebenaufnehmendesOrgan (organum recipiens vitae)." (WCR 46128). "Der Mensch ist ein Empfänger des Le-bens (recipiens vitae), nicht das Leben." (HG 2021). In diesem Sinne ist die Wiederge-burt ein Geschenk, ja angesichts der völligen Bosheit und Verdorbenheit des menschli-chen Willens sogar ein "unverdientes Gnadengeschenk" (Absatz 38). In HG 633 sprichtSwedenborg vom "Geschenk der Barmherzigkeit des Herrn". Selbstverständlich kenntund beachtet auch die neue Kirche die neutestamentlichen Grundlagen. Demnach sind"die tätige Liebe und der Glaube die Mittel zur Wiedergeburt" (WCR 577). "Jede Wie-dergeburt wird vom Herrn bewirkt durch das Wahre des Glaubens und ein dementspre-

27 Beachte Paulus: "Wenn also jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung: Das Alte ist

vergangen, Neues ist geworden." (2. Kor 5,17).28 Vgl. auch HG 3318 mit zahlreichen Verweisstellen.

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chendes Leben." (NJ 203). Im "Glauben, der durch die Liebe tätig ist" (Paulus in Gal 5,6)sehen auch wir das Heilsmittel. Doch was ist der Glaube seinem Wesen nach? Bei derLektüre der Gemeinsamen Erklärung hat man oft den Eindruck der Glaube sei ein gött-liches Naturereignis, wen es trifft, den trifft es, und die anderen bleiben ohne dieseswundersame "Geschenk des Glaubens" (Absatz 25).

Rechtfertigung ist nicht der Zentralbegriff neukirchlicher Heilstheologie. Das ist dieWiedergeburt (regeneratio)29; sie ist mit Swedenborgs Worten gesprochen "das Wesent-liche des Heils" (essentiale salutis, GT 5740). Die neue Kirche steht damit in der jo-hanneischen Tradition (siehe vor allem Joh 1,13; 3,3.5), nicht in der paulinischen. Die inden lutherischen Kirchen mit der Rechtfertigung verbundene sola-fide-Vorstellung blok-kiert jegliches Wissen um die Wiedergeburt und ihre zahllosen Geheimnisse. Sweden-borg schreibt: "Die Kirchenchristen wissen heutzutage deswegen so wenig von derWiedergeburt, weil sie so viel von der Vergebung der Sünden und der Rechtfertigungreden" (HG 5398). Denn die wahre Rechtfertigung ist kein im Glauben empfangenerVerbalakt (Gerechtsprechung), sondern erfolgt durch die schrittweise Wiedergeburt (HG4721). Dabei ist zu beachten, dass die Wiedergeburt nicht durch das Sakrament derTaufe geschieht. Diese hat keinerlei regenerierende Kraft, sie entfaltet keinerlei magi-sche Wirkung im Getauften, sondern ist lediglich ein Zeichen dafür, dass der Getauftewillens ist, den Weg der Wiedergeburt zu gehen (siehe NJ 202-209).

Obwohl auch nach neukirchlicher Auffassung die Wiedergeburt allein das Werk desHerrn im Menschen ist, kann dieses Werk dennoch nur im Millieu eines mitwirkendenMenschen realisiert werden. "Die neue Geburt oder Schöpfung wird allein vom Herrnbewirkt … unter Mitwirkung des Menschen." (WCR 576). "Was soll das göttliche Wirkenim Inneren sein ohne das Mitwirken des Menschen im Äusseren wie aus eigener Kraft(sicut ab illo)?" (EO 451). "Man muss wissen, dass der Herr, obwohl er alles wirkt undder Mensch nichts aus sich, dennoch will, dass der Mensch, soweit seine innere Wahr-nehmung reicht, wie aus sich wirke. Denn ohne die Mitwirkung des Menschen wie aussich heraus kann es keine Aufnahme des Wahren und Guten geben und somit auchkeine Einpflanzung und Wiedergeburt. Der Herr gibt nämlich das Wollen, und weil die-ses dem Menschen wie aus sich heraus erscheint, gibt er ihm ein Wollen wie aus sich."(OE 911). Die gesamte Heilige Schrift appelliert an das Mitwirken des Menschen unddennoch wissen "die Armen im Geiste" (Mt 5,3) und bekennen es im Herzen, "dass sienichts Wahres und Gutes aus sich heraus haben, sondern ihnen alles umsonst ge-schenkt werde (gratis donentur)." (HG 5008). Im berechtigten Verkündigungsinteresse

29 Gemeint ist eine geistige Wiedergeburt, nicht die fleischliche Wiedergeburt, die man Reinkarnation

nennt.

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an dieser evangelischen Wahrheit muss man nicht die Mitwirkung des Menschen leug-nen.

Die Gemeinsame Erklärung spricht sich trotzdem gegen jegliche Mitwirkung des Men-schen aus. Die Lutheraner bekennen: Der Mensch ist "unfähig, bei seiner Errettung mit-zuwirken" (Absatz 21). Er kann die Rechtfertigung "nur empfangen" (Absatz 21); damitist "jede Möglichkeit eines eigenen Beitrags des Menschen zu seiner Rechtfertigung"verneint (Absatz 21). Die Katholiken, die von Mitwirkung immerhin sprechen können,sehen "in solch personaler Zustimmung" gleichwohl "kein Tun des Menschen aus eige-nen Kräften" (Absatz 20); Gottes Gnadengabe in der Rechtfertigung bleibe "unabhän-gig" "von menschlicher Mitwirkung" (Absatz 24). Diese strikte Betonung "der Passivitätdes Menschen" wird nun aber doch relativiert, indem vom "Beteiligtsein des Menschen"gesprochen wird. Weder Lutheranern noch Katholiken gehe es darum, "ein wahrhaftesBeteiligtsein des Menschen zu leugnen." Uns wird versichert: "Das strikte Betonen derPassivität des Menschen bei seiner Rechtfertigung hatte auf lutherischer Seite niemalsden Sinn, etwa das volle personale Beteiligtsein im Glauben zu bestreiten, sondern soll-te lediglich jede Mitwirkung beim Geschehen der Rechtfertigung selbst ausschließen.Diese ist allein das Werk Christi, allein Werk der Gnade"30. Man muss sich nun freilichfragen, was das "personale Beteiligtsein" einer rein passiven, in keiner Weise mit-wirkenden Person überhaupt ist. Ferner wird versichert: "Lutheraner verneinen nicht,daß der Mensch das Wirken der Gnade ablehnen kann." (Absatz 21). Darf man darausschließen, dass der Mensch, sobald er das Wirken der Gnade nicht ablehnt, ihrem Wir-ken zustimmt? Und was wäre dann, angesichts der strikten Betonung der Passivität, derAkt einer rein passiven Zustimmung? Wir begegnen, indem wir solche Fragen stellen,einer von Swedenborg beobachteten Eigenart der altkirchlichen Dogmatik, nämlich ih-rer kontradiktorischen Redeweise. Sie besteht darin, dass einem Lehrsatz A ein Lehr-satz B in den Weg gestellt wird, so dass keiner der beiden Lehrsätze in seinen Konse-quenzen voll und ganz zur Entfaltung kommen kann. Auf diese Weise wird der denken-de Christ daran gehindert, sich eine klare Vorstellung zu bilden und das theologischwohl ausbalancierte Lehrsystem verschwindet gegenüber allen Einwänden abgesichertim undurchdringlichen Geheimnis des Glaubens.

Indem die neue Kirche keine Scheu hat, die Mitwirkung des Menschen anzuerkennenund theologisch zu durchdenken, tritt sie auch für die freie Willensentscheidung in gei-

30 Stellungnahme des Gemeinsamen Ausschusses der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche

Deutschlands und des Deutschen Nationalkomitees des Lutherischen Weltbundes zum Dokument"Lehrverurteilungen-kirchentrennend?" (13. September 1991), in: Lehrverurteilungen im Gespräch,hrsg. von der Geschäftsstelle der Arnoldshainer Konferenz (AKf), dem Kirchenamt der Evangeli-schen Kirche in Deutschland (EKD) und dem Lutherischen Kirchenamt der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) (Frankfurt 1993) 84,3-8.

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stigen Dingen ein. Dem widersprechend billigen die Kirchen des Rechtfertigungs-glaubens dem Menschen nur die psychologische Freiheit, die sich ja auch nur schwerleugnen läßt, zu, nicht aber die "Freiheit auf sein Heil hin". Wir lesen: "Die Freiheit, dieer (der Mensch) gegenüber den Menschen und den Dingen der Welt besitzt, ist keineFreiheit auf sein Heil hin." (Absatz 19). Die finstere Konsequenz dieser Amputation desMenschlichen ist die Prädestinationslehre. Was geschieht mit denen, die das "Geschenkdes Glaubens" (Absatz 25) nicht erhalten? Und falls es alle erhalten, woher nehmen sichdie unfreien Menschen die Freiheit es abzulehnen? Swedenborg durchdenkt diese Pro-bleme viel gründlicher und kommt zu besseren Lösungen. In der "Wahren ChristlichenReligion" widmet er dem "freien Willen in geistigen Angelegenheiten" (WCR 479 undöfters) ein ganzes Kapitel.

Aus Sicht der neuen Kirche ist der Glaube nur durch die tätige Liebe und ihre Werkewahrer und lebendiger Glaube. Seine ganze Kraft und sein ganzes Wesen empfängt derGlaube aus der tätigen Liebe, deren Erscheinungsform er ist. Swedenborg drückt es soaus: "Die Trennung der tätigen Liebe vom Glauben ist wie die Trennung des Wesens(essentia) von der Form. Der gebildeten Welt ist bekannt, dass weder das Wesen ohneeine Form noch die Form ohne ein Wesen etwas ist, denn das Wesen hat überhaupt nurdurch die Form eine Beschaffenheit und die Form ihrerseits ist nur durch das Wesen einetwas, das Bestand hat. Folglich läßt sich von keinem der beiden im getrennten Zustandeine Aussage machen. So ist denn auch die tätige Liebe das Wesen des Glaubens, undder Glaube die Form der tätigen Liebe, ganz so wie das Gute das Wesen des Wahrenund das Wahre die Form des Guten ist." (WCR 367). In der Gemeinsamen Erklärunghingegen erscheinen die guten Werke der tätigen Liebe nur als Anhängsel des Glau-bens. "Wir bekennen gemeinsam, daß gute Werke … der Rechtfertigung folgen undFrüchte der Rechtfertigung sind." (Absatz 37). Als Folge, Auswirkung oder bildlich ge-sprochen Frucht31 der Rechtfertigung ist die tätige Liebe dem unabhängig von ihr voll-zogenen Akt der Gerechtsprechung deutlich nachgeordnet. Die tätige Liebe wurde alsoerst vom Glauben getrennt, damit dieser zum "freien Geschenk" (Absatz 25) mutierenkonnte, und anschließend an diesen Glauben wieder angehängt, denn ganz ohne guteWerke wollte man den Christen mit dem Gottesgeschenk des Glauben in der Sünde nundoch nicht stehen lassen. So betont man: Der "Glaube ist in der Liebe tätig; darum kannund darf der Christ nicht ohne Werke bleiben." (Absatz 25). Hierin könnte ein Anknüp-fungspunkt für ein Gespräch der Neuen Kirche mit den Kirchen der lutherisch- 31 Die Rede von den Früchten der Rechtfertigung beinhaltet die Vorstellung, dass der Glaube der Baum

sei. Dem widersprechend erklärte ein Engel in der geistigen Welt: "Nicht der Glaube ist der Baum,sondern der Mensch ist der Baum." (EO 417). Und Jesus sagt: "So bringt jeder gute Baum guteFrüchte, aber der faule Baum bringt schlechte Früchte." (Mt 7,17). "Entweder macht den Baum gut,dann ist seine Frucht gut, oder macht den Baum faul, dann ist seine Frucht faul; denn an der Fruchtwird der Baum erkannt." (Mt 12,33).

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katholischen Rechtfertigungslehre liegen; denn offenbar empfindet man trotz sola fideein Unbehagen am actus purus der Rechtfertigung ohne Werke.

In Übereinstimmung mit der lutherisch-katholischen Lehre sieht Swedenborg in derVerdienstmentalität ein Hindernis, ja ein Übel auf dem Weg zu echter Spiritualität undReligiosität. "In der Kirche ist bekannt, dass der Mensch durch das Gute, das er tut,nichts verdienen kann, denn das Gute, das er tut, gehört nicht ihm, sondern demHerrn." (HG 3956). "Das Übel (oder das Böse) des Verdienstes ist dann gegeben, wennder Mensch das Gute sich zuschreibt in der Meinung, es stamme von ihm, und sich da-her das Heil verdienen will." (HG 4174). Diesem Irrtum der Heilserwirtschaftung erlie-gen anfangs freilich alle, die frohgemut den geistigen Weg betreten. "Am Anfang glau-ben alle, die geistig umgeformt werden, dass das Gute aus ihnen sei und sie sich folg-lich durch dieses Gute der eigenen Tat das Heil verdienen (erarbeiten)." (HG 4174, sie-he auch 4145). Wenngleich also die dem Heilsaktivismus des Anfängers anhaftendeKaufmannsmentalität ein Übel ist, so ist es aber ein noch viel größeres Übel jenes erst-genannte dadurch zu beseitigen, dass der Aktivismus als solcher beseitigt wird. Keinvernünftiger Mensch wird das Unkraut in seinem Garten dadurch vernichten, dass erden Boden vergiftet. Das Tätigsein des äußeren Menschen ist dieser Boden, in den derHerr das Leben des Geistes einpflanzen will. "Viele verwerfen die guten Werke in derMeinung, diese seien bei niemandem ohne die Absicht möglich, sich dadurch etwas zuverdienen. Diese Leute wissen nicht, dass diejenigen, die vom Herrn geführt werden,nichts sehnlicher wünschen, als gute Werke zu vollbringen, und gleichzeitig nichts we-niger im Sinn haben als einen durch sie erreichbaren Verdienst." (HG 6392). Die Kauf-leute werden spätestens dann aus dem Tempel vertrieben, wenn Jesus selbst mit derGeißel den Tempel reinigt, entweder synoptisch am Ende oder johanneisch gleich zuBeginn des Weges. Solange jedoch der Jünger des inneren Lebens den Impuls des Gei-stes noch nicht empfindet, sollte er sich nicht befleissigen das Gute zu tun, sondern dasBöse nicht zu tun; dazu muss er es freilich zuerst erkennen. Das ist die Übung derSelbstbeschauung und der Umkehr, Buße genannt. Denn "niemand kann das Gute, daswahrhaft gut ist, von sich aus tun." (LL 9). Deswegen gilt: "Insoweit der Mensch vordem Bösen als Sünde flieht, tut er das Gute nicht von sich aus, sondern vom Herrn her."(LL 18). Ausserdem sollte er ein ihn ansprechendes und berührendes Wort Gottes lesenund nachsinnend in dessen Tiefen eintauchen und so das Bewußtsein seines äußerenMenschen den Formen des göttlichen Geistes einformen. Das ist die Übung der reforma-tio (in der WCR mit Umbildung übersetzt), das heißt der Neuformung des Gemüts. Dasist nach Swedenborg die Reformation. Auf diese Weise wird der äußere Mensch mit deminneren verbunden, ein neues Glaubensbewußtsein erwacht, und der Verdienstwahnlöst sich ebenso auf wie die Nebelschwaden im Lichte der aufsteigenden Sonne. Diese

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Morgenröte (aurora WCR 571) ist im Menschen die Wiedergeburt und ganz das Werkdes Herrn, denn kein Mensch hat die Macht, die Sonne aufgehen zu lassen.

Durch die Verlagerung der Rechtfertigung in das Gebiet des bloßen Glaubens wurde dieReligion aus der Kirche entfernt. Denn "alle Religion ist eine Angelegenheit des Lebensund ihr Leben besteht im Tun des Guten." (LL 1). Daher verwundert es uns nicht, dassinfolge dieser Hinausbeförderung nun ausserkirchliche Religiosität entsteht und die lee-ren Kirchen, abgesehen von ein paar leichenblassen Rechtfertigungspredigten, ihrerAufgabe als Sozialamt nachkommen in der Meinung, das Reich Gottes sei primär einegerechte Weltordnung.

Die Anhänger der Rechtfertigung allein durch den Glauben berufen sich auf Paulus. Zuuntersuchen wäre, ob dem ein richtiges Paulusverständnis zugrunde liegt. Eine solcheUntersuchung muss hier aus verschiedenen Gründen unterbleiben. Doch die folgendenHinweise will ich geben. Römer 3,28, eine Aussage, der in der Reformationszeit einezentrale Bedeutung zukam, lautet in der Übersetzung von Martin Luther: "So halten wires nu / dass der Mensch gerecht werde / ohn des Gesetzes Werk / alleine durch denGlauben."32 Im griechischen Urtext ist das Wörtchen "alleine" nicht zu finden; Lutherhat es offenbar als einen verdeutlichenden Zusatz im Sinne seines Verständnisses die-ser Stelle hinzugefügt. In EO 417 berichtet Swedenborg von einem Konzil in der geisti-gen Welt. Den Ausführungen kann man entnehmen, dass Paulus unter "den Werkendes Gesetzes" wahrscheinlich "die Werke des mosaischen Gesetzes für die Juden" ver-standen hat, also das Kultgesetz, die Bestimmungen der vorbildenden Kirche. Die Mei-nung des Paulus wäre demnach in etwa so zu umschreiben: Der Mensch wird von nunan ohne die Befolgung der kultischen Vorschriften der Thora gerecht, und zwar durchdas lebendige und tatkräftige Vertrauen auf das Heilswirken Christi. EO 417 bietet fürein noch zu entwickelndes Paulusverständnis der neuen Kirche insgesamt sehr interes-sante Textbeobachtungen.

Abschließend ein Wort Martin Luthers. In der geistigen Welt besprach er sich mit Swe-denborg und bekannte seinen Irrtum mit den Worten: "Wundert euch nicht, daß ichmich auf den allein rechtfertigenden Glauben warf und die tätige Liebe ihres geistigenWesens beraubte, den Menschen auch allen freien Willen in geistigen Dingen absprachund dergleichen mehr, was von dem einmal angenommenen Grundsatz des bloßenGlaubens abhängt wie der Haken von der Kette. Es war nämlich mein Ziel, von den Rö-misch-Katholischen loszukommen, und dies ließ sich nicht anders bewerkstelligen undaufrechterhalten. Ich wundere mich deshalb gar nicht, daß ich mich verirrte, sondernnur, daß ein Verrückter viele andere zu Verrückten machen konnte." (WCR 796). 32 Zitiert nach: Das Neue Testament Deutsch von D. Martin Luther. Ausgabe letzter Hand 1545/46. Un-

veränderter Text in modernisierter Orthographie. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 1982.

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Die Fusswaschung (Joh 13,1-20)von Thomas Noack

Der Ort der in den Kapiteln 13 bis 17 überlieferten Geschehnisse ist das "gepflasterteObergemach"33, das in Mk 14,15 und Lk 22,12 erwähnt wird. Das Interesse an der Ört-lichkeit kennzeichnet diejenigen, die bei einem wichtigen Ereignis nicht selber anwe-send waren und denen daher nun der Ort wichtig wird, durch den sie sich mit derdenkwürdigen Stunde in Verbindung setzen wollen. Das Interesse an der Örtlichkeitdes Abendmahls ist daher ein Indiz für die relative Spätdatierung der synoptischenÜberlieferung. Für den Augenzeugen hingegen waren die äußeren Umstände neben-sächlich, weder der Ort, noch das Mahl34, das er nur beiläufig und höchst unbestimmterwähnt, fesselten seine Aufmerksamkeit, selbst die Abendmahlsworte überlieferte eruns nicht. Stattdessen wurde ihm von den Ereignissen der letzten Stunden mit Jesus ei-ne Fußwaschung zum zentralen Symbol.

"Vor dem Passafest aber wusste Jesus, dass seine Stunde gekommen war, aus dieserWelt zum Vater hinüberzugehen, und da er die Seinen in der Welt liebte, erwies er ih-nen seine Liebe bis zur Vollendung." (13,1). Das Passafest erinnert an den Auszug ausÄgypten, dem "Haus der Knechtschaft" (Ex 13,3). Für Jesus war dieses Fest nicht Erin-nerung, sondern Vorbildung oder Dramaturgie seines eigenen Weges, seines Auszugsaus der Welt. Die entscheidende Stunde der Verherrlichung war nun gekommen; drei-mal wurde sie angekündigt (2,4; 7,30; 8,20), und dreimal heißt es, dass sie nun da ist(12,23; 13,1; 17,1). Jesus verläßt bzw. überwindet den Kosmos, den Machtbereich des"Beherrschers dieser Welt" (12,31; 14,30; 16,11), und wird am Ostermorgen als Gottauferstehen. Eine Nachfolge in dieses alles verzehrende, alles verwandelnde Feuer derGottheit ist ausgeschlossen. War also die Gemeinschaft mit Jesus, in dessen Nähe manGott spürte, nur eine Episode? Jesus verläßt die Welt, die Seinen aber bleiben nach wievor in ihr. Wird diese Trennung das Band der Liebe, eben erst verheißungsvoll ge-knüpft, schon wieder zerreißen? Die johanneische Antwort auf diese Frage ist die Fuß-waschung. Jesus, in dem die rettende Liebe des Vaters Gestalt angenommen hatte, liebtdie Seinen, wie es heißt, "bis ans Ende". Diese griechische Formulierung ist mehrdeutig.Das Ende, oben mit Vollendung übersetzt, kann zeitlicher, räumlicher oder graduellerNatur sein. Zeitlich verstanden liebte er die Seinen bis zu seinem Ende, bis zur Kreuzi-

33 W. Bauer gibt "gepflastertes Oberzimmer" als die wahrscheinlichere Übersetzung an, obwohl andere

an "ein mit Teppichen od. Speisepolstern belegtes Zimmer" denken (Wörterbuch zum Neuen Testa-ment, 1971, Sp. 1528).

34 Viele Exegeten bezweifeln sogar, dass das angegebene Mahl ein Passamahl war, denn nach Johanneswar ja Jesus das eigentliche Passalamm, das in dem Augenblick, da die Passalämmer im Tempel ge-schlachtet wurden, am Kreuz starb. Auf dieses Problem sei hier nur am Rande hingewiesen.

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gung, oder bis zu ihrem Ende oder gar bis zum Ende der Welt. Wir erinnern uns an dasSchlußwort des Matthäusevangeliums, wo uns der Auferstandene, nun Allgewaltige,versichert: "Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt" (Mt 28,20, al-lerdings mit einem anderen Wort für "Ende"). Graduell verstanden liebte er die Seinenvollendet, ganz und gar, bzw. bis zu seiner Vollendung (Verherrlichung) oder ihrerVollendung (Wiedergeburt). Und räumlich verstanden erstreckte sich seine Liebe bis indie körperlichen Endbereiche hinein, denn die Füße, um deren Reinigung es im folgen-den gehen wird, meinen "das Natürliche des Menschen" (HG 10243), das ihn nach un-ten abschließt und erdet. Jesus wird also durch seine Verherrlichung den Einflussbe-reich seiner Liebe bis dorthin ausdehnen, um immer und überall, auch in der Hölle, er-reichbar zu sein.

Die eigentliche Fußwaschungsszene beginnt mit Vers 2 und wird in Vers 12 als abge-schlossen vorausgesetzt ("Als er nun ihre Füsse gewaschen hatte"), umfasst also Joh13,2-11. Dieser Abschnitt ist in sich mehrgliedrig. Zu beachten sind zunächst dieKlammer (im folgenden kursiv) und ihre Inhalte (a) und (b) in den Versen 2f. "Und wäh-rend eines Mahles, (a) als der Teufel dem Judas Iskariot, dem Sohn des Simon, schon insHerz gelegt hatte, ihn zu verraten - (b) er wusste, dass ihm der Vater alles in die Händegegeben hatte und dass er von Gott ausgegangen war und zu Gott weggeht -, steht ervom Mahl auf ..." (13,2-4). Die Klammerinhalte befassen sich mit der äußeren Verur-sachung der Erhöhung durch den Verrat (a) und der dadurch gleichwohl nicht außerKraft gesetzten souveränen Gestaltungsmacht des Sohnes (b). Ist der Verrat als Ver-ursachung oder als Veranlassung zu werten? Kann das Böse Gutes verursachen oderwird es nur nolens volens in den Dienst des Guten genommen? Jesus ist nicht, auchwenn es so scheinen mag, das Opfer eines Verrats geworden; vielmehr hat ihm der Va-ter "alles in die Hände gegeben", womit die Allmacht oder, wie wir oben gesagt haben,die souveräne Gestaltungsmacht ausgedrückt ist. Die Passion, das Erleiden, ist somit ei-gentlich eine Aktion. Der Logos, der von Gott ausgegangen ist, gestaltet seine Heim-kehr, seine reichere Heimkehr, indem er auch die schmutzbelasteten Füße reinigt.

Die Fußwaschung in den Versen 4f deutet mit Signalwörtern auf die Kreuzigung unddie Auferstehung. "Und während eines Mahles … steht er vom Mahl auf und zieht dasObergewand aus und nimmt ein Leinentuch und bindet es sich um; dann giesst er Was-ser in das Becken und fängt an, den Jüngern die Füsse zu waschen und sie mit demTuch, das er sich umgebunden hat, abzutrocknen." (13,2.4-5). Das Ausziehen (13,4) undwieder Nehmen (13,12) des Obergewandes erweist sich nicht zuletzt durch den Bezugauf Joh 10,17f, wo dasselbe Wortpaar vorkommt, als Metapher für Tod und Auferste-hung, denn in Joh 10,17f lesen wir: "Darum liebt mich der Vater, weil ich mein Leben(Seele) ausziehe, um es wieder zu nehmen. Niemand nimmt es von mir, sondern ich zie-he es von mir aus aus. Ich habe Macht es auszuziehen, und ich habe Macht, es wieder zu

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nehmen." (10,17f). Der entkleidete Christus (13,4) verweist, auch mit Blick auf Joh19,23f, auf die Passion. Und das Aufstehen vom Mahl (13,4) deutet wohl die Auferste-hung an, jedenfalls begegnet uns hier das Verb, das auch das Auferwecken bzw. Aufer-stehen eines Toten bedeutet. Dass die Füsse das Natürliche, Erdhafte, auch die uns tra-genden Affekte, bezeichnen, wurde schon gesagt. Für die Einzelheiten, das Leinentuch,das Wasserbecken usw. verweise ich auf HG 10243.

In den Versen 6 bis 10, noch immer während der Fußwaschung, nimmt ein Dialog zwi-schen Petrus und Jesus auffallend breiten Raum ein. Petrus ist der Schüler der Glau-bensfestigkeit; gegenüber Johannes, dem Jünger der Liebe, bleibt der petrinische Glaubeallerdings im Verständnis des väterlichen Herzens zurück. Ja, er erweist sich sogar, na-türlich in bester Absicht, als Gegner (Satan) des väterlichen Liebewillens. In der synop-tischen Tradition ist diesbezüglich an die Reaktion des Petrus auf die erste Leidensan-kündigung zu denken (Mt 16,21-23) und in der johanneischen an den Widerstand desPetrus gegen die Fußwaschung. Der Glaube stützt sich und bezieht seine Sicherheit ausder Autorität des göttlichen Wortes. Dieser Glaube wird durch die Fußwaschung, einenDienst, den Sklaven, aber nicht Herren zu verrichten haben, in seinem Verständnis derGottesmacht der Wahrheit verunsichert. Denn diese Gottesmacht, beispielsweise in Ge-stalt der Zehn Gebote, soll nach petrinischer Glaubensauffassung das Denken und Wol-len der Menschen beherrschen, und dieser soll gehorchen und sich auf diese Weise vonseinen Sünden reinigen. Nun aber erweist sich gerade die Gotteswahrheit als diejenige,die nicht nur gebietet, sondern die anbefohlene Reinigung eigenhändig ausführt. Kannsie dann noch als anbefohlen angesehen werden? Verliert ein Gebot, das der Gebieterselbst ausführt, damit nicht die gebieterische Strenge? Der petrinische Glaube begreiftdas alles nicht; die Gottesmacht der richtenden Wahrheit wird durch die Gottesmachtder reinigenden Liebe überwunden. Das ist die Erlösung, der Kosmos wird aus derMacht der gebietenden Gottheit entlassen und dem Dienst der sich herablassenden Lie-be übergeben. Damit werden, wie Joh 13,12-20 und das neue Gebot (Joh 13,34f) zeigen,neue Maßstäbe für das Verhalten innerhalb der Gemeinde gesetzt.

Dass die Fußwaschung als Liebesdienst zu verstehen ist, wurde gleich im ersten Versdurch das zweimalige Vorkommen von "lieben (agapao)35" angedeutet. Der Glaubewehrt diese Liebe, wie gesagt, ab, daher ist nun die Stunde des Lieblingsjüngers, der Joh13,23 erstmals erwähnt wird, gekommen. Aufschlussreich ist die Verwendung und Ver-teilung von "lieben" im Johannesevangelium. In Joh 3,16.35; 10,17 ist Gott, der Vater,das Subjekt dieser Liebe; der Vater liebt den Sohn und indem er ihn liebt, liebt er dieWelt. In Joh 11,5 ist erstmals Jesus das Subjekt der Liebe, und ergriffen werden von ihr

35 Im Johannesevangelium begegnen uns zwei Worte für "lieben", nämlich "fileo" und "agapao". Da im

Vorwort "agapao" vorkommt, beschränken wir uns auf diesen Begriff.

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Lazarus und seine Schwestern. In den die nachösterliche Gemeinschaft vorbereitendenKapiteln 13 bis 17 ist eine sehr auffallende Häufung dieses Begriffes zu beobachten (Joh13,1.23.34f; 14,15.21.23.31; 15,9f.12.13.17; 17,23f.26). Dies zeigt, dass die Liebe alsdas Leben vom Vater über den Sohn via Lazarus, welcher der Todesmacht entrissenwurde, nun in die Jüngerschar, die ein Vollbild der inneren Kirche ist, überströmt. Fer-ner begegnet dieser Begriff in Verbindung mit dem Lieblingsjünger (Joh 13,23; 19,26;21,7) und im 21. Kapitel, welches das Verhältnis von Glaube (Petrus) und Liebe (Johan-nes) in der Zeit der Kirche reflektiert.

Der Abschnitt Joh 13,12-20 ist formal betrachtet ein Jesusmonolog. Die Eingangsfrage,"Versteht (erkennt) ihr, was ich an euch getan habe?" (13,12), zeigt, dass Jesu Tun nacheinem tieferen Sinn hin befragbar ist. Dazu passt, dass im Epilog des Johannes-evangeliums (Joh 20,30f) Jesu gesamtes Tun und Reden unter dem Schlüsselbegriff desZeichens zusammengefasst wird. Mit Blick auf das ganze Evangelium kann das letztlichnur bedeuten, dass Jesu gesamtes Dasein den unsichtbaren, aber in Jesus anwesendenVater vergegenwärtigt. Das Verstehen der Fußwaschung kommt gebündelt im Begriffdes Beispiels (13,15) zum Ausdruck. Der Gesandte des Vaters (das Wort des Liebegei-stes), dessen Wirksamkeit sich bis in die geistfernen, aber den geistigen Fortschritt al-lein ermöglichenden Fuß- oder Naturbereiche erstreckt, wird durch ebendiese Tat zumParadigma aller echten Abgesandten (siehe Apostel in 13,16) dieses einen Urgesandten.Die Gemeinde Christi ist daran erkennbar, dass sich ihre Mitglieder gegenseitig die Fü-ße waschen, dass sie sich bei der Reinigung der verkrusteten Außenpersönlichkeit hel-fen und so in gegenseitiger Liebe üben. Wer diese Botschaft aufnimmt, der nimmt da-durch den Christusgeist auf, und wer diesen aufnimmt, der nimmt damit eigentlich denUrgeist der Liebe oder des Vaters auf. Oder mit Jesu Worten gesagt: "Wer einen auf-nimmt, den ich sende, nimmt mich auf, und wer mich aufnimmt, nimmt den auf, dermich gesandt hat." (13,20).

Auch Judas tritt uns in dieser Fußerzählung beziehungsreich mit seinen Tretwerk-zeugen entgegen. "Der mein Brot isst, erhob gegen mich seine Ferse." (13,18; Ps 41,10),dieses Schriftwort soll durch den Judasverrat erfüllt werden. Die Ferse erinnert uns anGen 3,15 und an Jakob, den "Fersehalt" (Buber Gen 25,26), der zum Stammvater der Ju-den wurde, von denen Judas seinen Namen hat. Das Erheben der Ferse ist Ausdruck desalten Hochmuts, der Dominanz des Niederträchtigen, und somit die radikale Aufkündi-gung der Gemeinschaft der Liebe ("Der mein Brot isst"). Doch wie gesagt, der Tritt desJudas setzt die Erhöhung des Gottgesandten nicht in Gang. Die Erhöhung des mit göttli-cher Macht festgetretenen Kosmos in Christus, dieses erhebende Werk ist allein das desseinsmächtigen Gottes, dessen starker Arm Jesus ist. Das Böse und Falsche bewirktnichts, aber entgeht auch nicht dem allweisen Plane Gottes.

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Die Abrahamsgeschichte:Von der Wiedergeburt des Menschenvon Peter Keune

Die Abrahamsgeschichte stellt im inneren Sinn eine bildliche Dokumentation des Rin-gens Gottes um den Menschen dar. Wie in der gesamten Heiligen Schrift wird auch hierdie Wiedergeburt des Menschen beschrieben, oder - in anderer Sichtweise - die He-rablassung Gottes in unsere menschliche Ebene. Die Abrahamsgeschichte bildet in ei-ner noch tieferen Sinnebene auch Gottes Menschwerdung in Jesus Christus vor.

Der Mensch ist ein lebendiges Aufnahmegefäß Gottes. Sein "Ich" wurde mit Vernunftund freiem Willen ausgestattet und mit der Fähigkeit, sich sogar gegen seinen Schöpferbegründen zu können. Damit ist er willensmäßig frei. Er kann seinen eigenen Willenüber den Gottes stellen, da er von seinem Schöpfer scheinbar völlig getrennt existiert.Diese Trennung geht soweit, daß alle tieferen Erkenntnisse über ein innewohnendeshöheres Leben wie von außen durch göttliche Offenbarung erfolgen müssen.

Leider ist das Wort Gottes in der heutigen Zeit äußerlichen Denkens und immer größe-rer Gottabgewandtheit in Mißkredit geraten. Am Anfang des wissenschaftlich-technischen Zeitalters durfte daher Emanuel Swedenborg, dessen Berufung durch denHerrn im Jahre 1745 erfolgte, als "ein Diener des Herrn" den inneren, geistigen Sinnder Heiligen Schrift durch die Sprache der Entsprechungen aufzeigen. Wie schon obengesagt wurde, handelt das "Wort" - wie bei ihm die Heilige Schrift genannt wird - vonden Zuständen der menschlichen Seele, ihren Anlagen, ihren Verirrungen und ihrerAbsonderung von Gott, dessen Erbarmung und Seinen Kämpfen, um die Seele wieder inihr eigentliches Vaterhaus zurückzuführen. Erst wenn die Seele sich selbst zu erkennenvermag und ihre Verirrungen einsieht, kann sie auf eine andere Bahn gelenkt werden.In der Heiligen Schrift wird dieser Zustand als Wieder- bzw. Neugeburt bezeichnet.

Von solchen Zustandsveränderungen will diese Zusammenstellung berichten und anHand der biblischen Abrahamsgeschichte wesentliche Aspekte der Wiedergeburt schil-dern. Damit soll Mut gemacht werden, sich mit der Bibel zu beschäftigen und sie mittieferem Verständnis kennen zu lernen. Sie ist gewissermaßen das Fundament aller Of-fenbarung, wie die Grundfesten eines Hauses. Deshalb ist auch jede Offenbarung an derHeiligen Schrift zu messen.

"Und der Herr sprach zu Abram: Gehe aus deinem Vaterland und deiner Freundschaftund aus deines Vaters Hause in ein Land, das Ich dir zeigen werde." (1.Mose 12,1). Weildie inneren Lebenszustände nicht greifbar dargestellt werden können, da sie weitge-hend im Unbewußten wirken und dem Verstand deshalb nicht zugänglich sind, wurden

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sie von alters her in Bilder und Geschichten eingekleidet. Auf diese Weise werden siedeutlich vor Augen gestellt, wie beispielsweise in der Schöpfungsgeschichte. "Da Gottden Menschen schuf, machte Er ihn nach dem Bilde Gottes, und schuf sie einen Mannund ein Weib, und segnete sie, und hieß ihren Namen Mensch." (1.Mose 5,1-2).

Mit diesem ersten Text wird das Wesen des Menschen beschrieben. Er ist als Mann undWeib zugleich erschaffen, womit die Schrift aber nicht zwei Personen meint, sondernzwei Eigenschaften, die dem männlichen und weiblichen Prinzip entsprechen. Wirsprachen von den Menschen als Aufnahmegefäßen der göttlichen Liebe und Weisheit,und davon, daß sie in selbständiger Willensfreiheit bereit sein müssen, den göttlichenEinfluß aufzunehmen, damit sie vollendet zu Ihm zurückkehren können. Um ihre Be-stimmung erkennen zu können, müssen in dem Menschen zuvor Neigungen entwickeltwerden, die der göttlichen Liebe und Weisheit wesensgleich sind. Denn nur Gleicheskann Gleiches, nämlich die höheren Einflüsse, erkennen. Die ersten fünf Tage derSchöpfungsgeschichte sind der bildhafte Ausdruck jenes Prozesses, in dem aus einemnur natürlich denkenden Individuum ein für höhere Erkenntnisse aufgeschlossenerMensch wird. "Da Gott den Menschen schuf machte Er ihn nach dem Gleichnis Gottes"bedeutet, Er macht das Aufnahmegefäß "Mensch" so, daß es aus Weisheit und Liebe ge-staltet ist. Oder anders ausgedrückt, Weisheit und Liebe sind die Grundelemente, ausdenen der höhere Mensch besteht. Da es zwei Wesensbereiche sind, fährt die Schöp-fungsgeschichte folgerichtig in der Mehrzahl fort: "Und schuf sie als Mann und Weib".Das männliche Prinzip entspricht dem Vernunftdenken und somit der Weisheit und dasweibliche Prinzip den Neigungen daraus, oder der Liebe. Man könnte jene Stelle auchanders übersetzen und sagen: Da Gott den Menschen schuf, machte Er ihn ähnlich wieSich selbst und gab ihm einen Verstand (Weisheit) und ein Streben nach Liebe. Nunkommt es darauf an, ob sich diese Anlage im Menschen weiter entwickelt. In der Bibel-sprache heißt dieser Entwicklungsprozeß "vermehret euch". Der Mensch lebt ein äuße-res und inneres Leben nach seinen Erkenntnissen und Neigungen und ist fähig - abernicht gezwungen - Gottes Wege zu beschreiten. Tut er es, kehrt er zu Gott zurück, undtut er es nicht, entfernt er sich mehr und mehr von seinem Lebensquell und geht in alleNot und Finsternis über. Vielleicht fällt auf, daß einmal Liebe und Weisheit (in dieserReihenfolge) in Verbindung mit Gott gesagt wird, und einmal Weisheit und Liebe, wennes sich um den Menschen handelt. Der Grund ist, weil das Innerste immer zuerst ge-nannt wird. In Gott ist die Liebe der Grund (Vater) und die Weisheit das von der LiebeAusgehende (Sohn). Beim Menschen herrscht anfangs die Neigung zur Wahrheit vor,welche sich von der Liebe getrennt hat, um im Lauf der Wiedergeburt allmählich wiedereins zu werden mit der Gottes- und Nächstenliebe im Herzen.

"Da sich aber die Menschen begannen zu mehren auf Erden, und ihnen Töchter geborenwurden …" (1.Mose 6,1). Wir sprachen kurz von dem Ausspruch "vermehret euch". Dies

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bedeutete, daß die Ausrichtung des Menschen auf vermehrte Erkenntnisse über Gottund eine zunehmende Liebe zu Ihm ausgerichtet sein sollte. Wie soll man nun verste-hen, daß ihnen lauter Töchter geboren wurden? Wo blieben die Söhne? Sie werden andieser Stelle nicht erwähnt, obgleich sie auch vorhanden gewesen sein müssen, da sie jasonst später nicht hätten "Weiber nehmen" können, wie geschrieben steht. Hier bedeu-ten "Töchter", daß die Menschen Liebes-Neigungen zur Welt entwickelten. Es geht beider Nennung von Söhnen und Töchtern nicht um irgend eine Art von Wertigkeit. DieMißverständnisse liegen in der Unkenntnis der Entsprechungssprache. Wir wissen:"Mann" und "Weib" bedeuten Eigenschaften, und stellen in ihrer ehelichen Verbindungden Menschen als solchen dar. Dieser soll seine Liebe und seine Weisheit verbindenund auf Gott ausrichten, wie es später durch Moses in den Geboten erneut zum Aus-druck kommt, und diesem Streben alles andere unterordnen. Solchermaßen wieder indie Ordnung Gottes zurückgekehrt, fließen ihm die Segnungen Gottes zu. In diesemSinne soll er sich mehren und "fruchtbar" sein. Es heißt aber in unserem Text weiter:"Nun sahen die Kinder Gottes nach den Töchtern der Menschen". Hierunter wird ver-standen, wie die Göttlichen Attribute, nämlich die höhere Vernunft, gepaart mit Weis-heit und Liebe, sich mehr und mehr der Weltliebe zuneigten und diese sogar in ihre Be-gierden aufnahmen (sie zu Weibern nehmen). Mit einem gottgefälligen Weib soll derMann ehelich verbunden sein. In der Entsprechung stellt sie dann die Liebe zu Gott dar,allerdings nur in seinem wiedergeborenen Zustand, anderenfalls ist sie seine Neigungzum "vernunftmäßig Wahren", wie es Swedenborg ausdrückt. (Heute würden wir sagen:Was uns erstrebenswert erscheint und der Vernunft einleuchtet. Allerdings ist dieseEinsicht sehr vom Entwicklungszustand abhängig. Insofern sind die Entsprechungenauf unterschiedlichen Ebenen angeordnet). Neigungen, die uns als natürliche Menschen"reizen", werden in unserem Text mit den Worten ausgedrückt: "... wie sie schön waren,und nahmen zu Weibern, welche sie wollten". Gerade der letzte Teil rückt die Feinheitdas Aussage ins rechte Licht. "nahmen. zu Weibern, welche sie wollten". Also nicht dergöttlichen Ordnung gemäß, sondern wie sie wollten! So ist es bis heute immer gewesen.

Jeder Mensch muß die Möglichkeit zur Widerordnung haben, um wahrhaft frei zu sein.Er muß sich von Gott abwenden können. Wahrhaftiges Heil findet er aber nur in der Be-folgung der Gebote Gottes, die eine Kehrtwendung (Neuausrichtung) bewirken.

Ein anderes Bild macht diese Sachlage vielleicht noch deutlicher: Alles, was Gott je ge-schaffen hat, ist aus Seinen Gedanken und Ideen geworden, ist demnach Er Selbst. Alsnotwendige Folge könnten Seine Geschöpfe keine wirkliche Unabhängigkeit haben, dasie mit der ihnen gegebenen Intelligenz ihre vollständige Abhängigkeit von ihremSchöpfer erkennen. Wie kann Gott Seine Geschöpfe in eine echte Freiheit setzen und siedamit zu seinen Kindern machen, die als "Du" oder "Gegenüber" Sein Ebenbild sind?

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Um die, auch für einen Gott wahrlich nicht leichte Aufgabe zu lösen, muß Er zwischenSich und Seinen Geschöpfen eine Barriere, eine Art Mauer errichten, die Ihn vor SeinenGeschöpfen verborgen hält. In dieser Anordnung würde es aber zu keiner Begegnungzwischen ihnen kommen, wenn Er seinen Geschöpfen nicht so etwas ähnliches wie ei-nen Empfänger eingebaut hätte, mit dem sie sich auf entsprechenden Empfang einstel-len könnten. Unschwer zu erkennen: Die Mauer ist die Materie und der Empfänger istSein uns innewohnender Geist, der zwar zuerst "wie ausgeschaltet" wirkt, dann aber zuspielen anfängt, wenn man "daran dreht". Die Gebrauchsanweisung findet sich im geof-fenbarten Wort Gottes und - nicht zuletzt - in einem inneren Ahnen. Es erscheint ganzlogisch, daß im Kind in der ersten Zeit der Bewußtwerdung Gottes Bild im Innerstenwirkt und erlebt wird, da man in dieser Zeit noch von der Engelwelt umgeben ist. Abermit der zunehmenden Unabhängigkeit von dieser Sphäre gewinnen die äußeren Reizeder Welt an Einfluß und die inneren Wahrnehmungen und Ahnungen verblassen. Wirwären völlig verloren, wenn sich Gott unserer nicht erbarmen würde! Da beim Stand derDinge diese Zustände jedoch kommen, hat der Herr schon von "langer Hand" Möglich-keiten zu unserer "Wiedergeburt" vorbereitet. Mit anderen Worten: Er muß sich demMenschen jenseits der Mauer bemerkbar machen (in Erinnerung bringen), verhülltzwar und mit aller Vorsicht, um nicht Sein großes Ziel, die freiheitliche Entwicklung desEinzelnen, zu gefährden. Da dieses für alle Menschen und zu allen Zeiten glei-chermaßen gilt, ist die Beschreibung der Wege Gottes in uns wesentlicher Bestandteilder Heiligen Schrift (Gott offenbarte und offenbart sich auf verschiedenste Weise, bishin zu Seiner Menschwerdung auf Erden).

Die Abrahamsgeschichte schildert in der äußeren Form einer historischen Begebenheiteinen bedeutenden Entwicklungsprozeß, nämlich wesentliche Aspekte der Verbindungvon Seele und Geist. Wir alle sind Abram (wie sein Name zuerst hieß). Unser Denkenund Wollen ist noch auf die Welt ausgerichtet, d.h. die sinnlichen Eindrücke der äuße-ren Welt reizen uns mehr, als alles Wissen um ein geistiges Leben. Entsprechend sindunsere Familienbande in der Welt zu suchen. Der Herr aber arbeitet daran, uns dieseGenüsse schal werden zu lassen. Er wirkt dahin, daß uns ein Interesse um das andereerstirbt, wir keinen Gefallen mehr daran finden und nach Neuem zu suchen anfangen.Wenn der richtige Zeitpunkt da ist, wenn wir "weich" geworden sind, erhebt Er seineStimme und ruft uns zu: "Gehe aus deinem Vaterland und aus deiner Freundschaft undaus dem Hause deines Vaters" - damit ist das Land diesseits der Mauer mit allen seinenBindungen gemeint - "in ein Land, das Ich dir zeigen werde." Mit dem Ruf ist ein Ahnengemeint, daß es noch etwas anderes geben muß, etwas, was jenseits der bisherigen Er-fahrungen liegt. Hier rührt uns der Herr an. Es ist gewissermaßen die erste der großenVerheißungen, die auf unsere wahre Bestimmung hinweist. Damals, wie auch heutewerden wir aufgerufen. Immer! Heute, indem der Herr uns das ganze Panorama Seiner

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Himmel eröffnet hat. Wie anders sind sonst die Werke des großen Sehers aus dem Nor-den zu verstehen, in ihnen zeigt Swedenborg das große Ziel des Menschen auf. Er weistnicht etwa bloß darauf hin, er zeigt es buchstäblich, durchschreitet es und berichtet von"Unaussprechlichem - was er gesehen und gehört hat". In der Abrahamsgeschichte of-fenbarte sich der Herr in noch mehr verhüllter Weise. - Wie schon gesagt, ist Abrahamin der Folge wirklich Vater vieler Völkerschaften geworden. Die Verheißung beziehtsich aber in erster Linie auf den inneren Menschen. Religion soll der Ansatzpunkt füralle anderen Neigungen werden, die "wie Völker" in der Seele ein Eigenleben führen.Jede unserer Tätigkeiten soll aus der einen Quelle gespeist werden. Darin liegt unsereEinheit und Stärke.

Verheißung ist aber noch nicht Wirklichkeit. Vorerst heißt es einen steinigen Weg derDemut betreten, wissend, daß wir aus uns selbst nichts sind, daß alle unsere Kräfte ei-gentlich von "Ihm" kommen und daß wir eine völlige Bewußtseinsumwandlung durch-machen müssen. Wir müssen alles "Eigene" unterordnen und Seinen Anweisungen fol-gen und jedes daraus resultierende Ungemach auf uns nehmen. Daher die lange Wan-derung unseres Abram, der übrigens in diesem Stadium noch nicht selbständig im Gei-stigen wandelt, sondern erst Aufgeforderter ist. Daher sein Name Abram ohne "h". Erstvon einem bestimmten Stadium an, wird seine Name durch den Geistlaut "h" in Abra-ham geändert. In einem weiteren Sinn bezeichnet Abraham den Herrn, bzw. Seinehimmlische Kirche, die Er in uns errichten will. Sein Sohn Isaak stellt die geistige Kir-che dar und dessen Sohn Jakob die natürliche Kirche im Sinne eines Herabsteigens desHerrn von dem innersten Himmel bis zur menschlichen Ebene. So läßt uns der Text er-ahnen, welche Wunder uns der Herr auftun will, wenn wir uns aufmachen, alles Bishe-rige zu verlassen und in ein neues Land (in einen neuen Zustand) zu ziehen, das Er unszeigen wird. Bezeichnenderweise geschieht dieser Ruf, als Therach, der Vater Abrams,in Haran starb. Sterben ist in der Bibel immer ein Zustandswechsel, indem das Vorheri-ge abgeödet wurde (starb!). - Der Herr in Seiner göttlichen Liebe und Weisheit tritt mehrund mehr in unser Leben, um uns dann zu den Himmeln zu erheben. Und Abram ge-horcht! Er nimmt sein Weib Sarai, seinen Neffen Lot und alle seine Habseligkeiten undgeht den verheißungsvollen Weg nach Kanaan.

Es scheint eine der vielen Wanderszenen zu sein, die bei einem Nomadenvolk gang undgäbe sind. Nomaden sind wir im Geistigen auch. Mal ziehen wir hier hin, mal dahin,immer unseren momentanen Launen oder Neigungen folgend, dorthin, wo neue Futter-plätze (Nahrung für Seele und Geist) sind. Scheinbar wie in einem Irrgarten der Gefühlegehen wir unseren Begierden und Wünschen nach. Die Wege führen oft von Gott weg,beschäftigen unseren Gedanken und Sinne, wobei sehr wichtige, kostbare Zeit verlorengeht! Von irgendwo her, aus der Tiefe unseres Seins, kommt dann einmal der Ruf: "Sokann es nicht weiter gehen, es muß Besseres geben". In diesem Ruf ist der Herr auf der

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Suche nach uns und verheißt uns ein neues Leben! In Wirklichkeit braucht man seinäußeres Leben nicht völlig umzuändern, aber es bekommt einen neuen Geist. "Ich binder Herr dein Gott, du sollst keine anderen Götter haben neben mir", lautet das ersteGebot. Alles soll Ihm unterstellt werden! Das ist kein langweiliges Leben, sondern eineReise in immer seligere Zustände.

Und noch eins! Noch lange sind wir keine Wiedergeborenen, wenn wir den Ruf ver-nehmen und ihm Folge leisten wollen. Wir sind vorerst immer noch die Alten. Daherunser Text folgerichtig heißt: "Also nahm Abram sein Weib Sarai und Lot, seines Bru-ders Sohn mit aller Habe, die sie sich erworben hatten …" Vorerst bleiben alle unsereNeigungen erhalten, unsere "Habe". Abrams Brüder waren Nachor und Haran. Abrambezeichnet in diesem Zustand noch die Eigenliebe des Menschen, seine Brüder Weltlie-be und die Vergnügungssucht. Alle diese Liebesarten sind stark an die Sinne gebunden.Aus der Liebe zu den Vergnügungen stammt Lot. Er repräsentierte das, was den Sinnengefällt oder dem äußeren Menschen behagt. Mit anderen Worten ausgedrückt, wenn wirden Weg der Wiedergeburt beginnen, nehmen wir vorerst unsere Eigenliebe mit allenihren daraus hervorgehenden Neigungen, den Hang zur Sinnenfreude und den Hangzur Außerlichkeit mit.

Um es noch einmal klar zu sagen: Durch den Bewußtseinsprozeß, daß es einen Gottgibt, werden wir noch nicht von unserem "alten Adam" befreit. Die erste Glückseligkeitdes Augenblicks hat noch nichts mit der eigentlichen Wiedergeburt zu tun. Diese istnach unseren Lehren ein Akt der zunehmenden Reinigung und Abwendung vom Bösenund Falschen, welches uns bisher regiert hat. Dieser Prozeß ist nicht auf das irdischeLeben beschränkt, sondern setzt sich auch in der geistigen Welt fort. Hören wir dazuSwedenborg im Original: "Wenn der Mensch geboren wird, ist er in Ansehung des ane-rerbten Bösen eine Hölle in kleinster Gestalt. Er wird auch zu einer Hölle in dem Maßeer von dem anererbten Bösen annimmt und demselben noch Böses hinzufügt. Daherkommt es, daß die Ordnung seines Lebens durch die Anlage von der Geburt her unddurch sein wirkliches Leben der Ordnung des Himmels entgegengesetzt ist. Denn derMensch liebt aus dem Eigenen her sich selbst mehr als den Herrn und die Welt mehr,als den Himmel, während doch das Leben des Himmels ist, den Herrn über alles zu lie-ben und den Nächsten wie sich selbst. Hieraus erhellt, daß das erste Leben, welches derHölle angehört, ganz zerstört werden, d.h. das Böse und Falsche entfernt werden muß,wenn ein neues Leben, welches das Leben des Himmels ist, eingepflanzt werden soll.Dies kann aber durchaus nicht in Eile geschehen, denn jedes Böse steht in einem festverwurzelten Zusammenhang mit allem Bösen und dessen Falschem. Solches Böse undFalsche ist unzählig und der Zusammenhang desselben so mannigfach, daß es gar nichtbegriffen werden kann - nicht einmal von den Engeln - sondern vom Herrn allein. Hier-aus erhellt, daß das Leben der Hölle bei dem Menschen nicht plötzlich zerstört werden

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kann, denn wenn es plötzlich geschähe, müßte er seinen Geist aufgeben, wie auch dasLeben des Himmels nicht plötzlich eingepflanzt werden kann." (HG 9336)

Diese Tatsache findet in der Geschichte der Nachkommen Abrahams ihre äußere Bestä-tigung, indem es lange Auseinandersetzungen und Kämpfe bis zur Einnahme des Heili-gen Landes Kanaan gab - genaugenommen bis in die heutige Zeit andauernd - und nochimmer ist kein Ende abzusehen.

"Deinem Samen will Ich dieses Land geben …" Samen sind die besten und reifsten Le-benskräfte analog allem Guten und Wahren, und damit Ziel unseres Lebens, aus demdas spätere Himmelreich "bevölkert" werden soll. Der Mensch, solcherart im Umbruch,ist ganz erfüllt von den neuen Aussichten und möchte sein ganzes Leben dem Herrnwidmen. Widmen, heißt ein Leben nach der himmlischen Ordnung beginnen und damitdem Herrn eine Bleibstatt im Herzen bereiten. Alle Gebete festigen diesen Zustand. Inder Sprache der Bibel heißt es: "Und er baute daselbst dem Herrn einen Altar."

Weiter heißt es: "Es kam aber eine Teuerung ins Land …" Teuerung geschieht immer,wenn Warenknappheit herrscht. Auf unserer Station der Wiedergeburt sind wir in denZustand gelangt, in dem das neue Leben uns ganz glücklich macht und alles in Ordnungzu sein scheint. Nun kommt aber "eine Teuerung ins Land"‚ - schildert den Ausverkaufalter Wahrheiten, die uns in unserem bisherigem Leben als Grundlagen dienten und aufdenen unser neues Leben vorerst einmal fußt. Sie erweisen sich auf Dauer als nicht all-zu tragfähig. Es ist einfach zu wenig, oder auch das Falsche, um damit ein geistiges Le-ben führen zu können. Uns fehlen die Kenntnisse über geistige und himmlische Dinge.Folglich blicken wir uns um, wer da helfen könnte: Bücher, Vorträge usw. In vollen Zü-gen nimmt man auf. - Diese Verhaltensweisen sind nicht erst heute so, sondern von je-her menschliche Reaktion. Wer Hunger hat, wird sich nach Nahrung umschauen.

Im geistigen Sinne ist Essen ein Aufnehmen von Kenntnissen aller Art (daher gibt esauch so verschiedenartige Speisen). Die Art der Speise ist dabei noch völlig wertfrei.Das alte Ägypten mit seinen Weisheitsschulen und Einweihungsritualen ist ein Entspre-chungsbegriff für "Wissenschaft". Daher wandte sich Abram auch nach Ägypten mitseinen Kornkammern. Entsprechungsmäßig geht es um die Befriedigung geistigenHungers.

Aber es ist nicht Sache der Religion, lediglich Wissen zu sammeln. Vorhin lasen wir,was den Menschen vor und nach der Wiedergeburt unterscheidet: Vorher war es einLeben der Eigenliebe und nachher ein Leben der Gottes- und Nächstenliebe. Gottes- undNächstenliebe sind aber nicht Dinge des Wissens, sondern des Herzens, wie auch dasLand Kanaan beim geistigen Menschen das Gute und Wahre bei ihm bezeichnet. Natür-lich ist Wissen über himmlische Dinge nicht verwerflich, sondern sehr nützlich. Aber es

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befriedigt auf Dauer nicht, ist nicht Endzweck, daher auch dem Text hier zugesetztwird: "dass er sich daselbst als Fremdling aufhielte."

Da es das Ziel aller Wiedergeburtsbestrebungen des Herrn ist, bei uns ein tätiges Lebender Gottes- und Nächstenliebe anzuregen, wandte sich Abram wieder aus der reinenWissenssphäre seinem eigentlichen Ziele zu. Ägypten war äußerst fruchtbringend fürihn. Gestärkt und ausstaffiert mit allen Grundlagen geistigen Lebens, wie das natürlichGute (Dienen), geistige Wahrheiten (wissensmäßige Untermauerung) und neue Impulse(Liebe für das Geistige), lebte er zunehmend im weisheitsvollen Wirken. Die Bibeldrückt diese Tatsache in ihrer Bildersprache aus: "… war aber sehr reich an Vieh, Silberund Gold."

Er bewegt sich im "Mittagsland", welches den Weisheitsbereich anzeigt. Unsere Selbst-liebe, hier als Abram bezeichnet, ist in diesem Stadium noch vorherrschend. Dies zeigtdie Schrift an, indem Abram mit seinem Weibe, Lot und allem, was er hatte, in das Mit-tagsland zog. Sein noch unwiedergeborenes Weib stellt hier - noch - die Selbstsucht dar,und der Neffe Lot die Vergnügungssucht, d.h. die Neigung zu den äußeren Reizen. Nochdeutlicher sagt das: "Und allem, was er hatte." Ich glaube, es ist deutlich geworden, daßwir noch lange die alten Gewohnheiten und Neigungen behalten. Gleiches gilt auch füruns Freunde des neuen Wortes, bzw. des neuen Verständnisses des Wortes. Nicht dieTatsache, sich aufgemacht zu haben und in den Lehren Bescheid zu wissen, bringtschon Wiedergeburt, sondern erst der in langen Umbildungsperioden mit seinen vielenAnfechtungen vollzogene Wandel. Daher Swedenborg auch von der sogenannten "Neu-en Kirche" sagt, daß auch sie anfänglich äußerlich sein würde.

Hier noch einige Aussagen Swedenhorgs über diese Kämpfe: "Allein man muß wissen,daß ohne Versuchung niemand wiedergeboren wird, und daß mehrere Versuchungenauf einander folgen. Dies aus dem Grund, weil die Wiedergeburt den Zweck hat, daß dasalte Leben des Menschen sterbe, und ein neues Leben, welches das himmlische ist, ein-fließe. Daraus kann erhellen, daß notwendig ein Kampf stattfinden muß. Denn das Le-ben des alten Menschen widersteht und will sich nicht zerstören lassen, und das Lebendes neuen Menschen kann nicht eindringen, wenn nicht das Leben des alten zerstörtist. Hieraus erhellt, daß von beiden Seiten ein Kampf entsteht, und zwar ein heftiger,weil es sich um das Leben handelt …" (HG 8403). Dieser Text macht auch verständlich,warum solche "radikalen" Worte des Herrn hinsichtlich der Eroberung Kanaans ausge-sprochen wurden, was Kritiker der Bibel ohne Kenntnis ihrer Entsprechungsgrundlagenals Anstiftung zum Völkermord ansehen müssen.

Kämpfe mit den Feinden des Landes bilden im inneren Sinn Auseinandersetzungen inder eigenen Seele vor. Also die Kämpfe gegen alle niederen Eigenschaften, die unserHerz besetzt halten, in dem doch alleine Gott wohnen soll. Aber man muß sich auch von

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dem trennen, was bisher als gut und gerecht galt. Dies bezeichnet insbesondere die Auf-forderung zur Abkehr von der "Familie". - Im folgenden Abschnitt handelt es sich umdie Auseinandersetzung mit Lot, seines Bruders Sohn, der mit Abram bisher immermitzog. Im Mittagsland waren beide reich geworden. Das heißt, in der Weisheitssphärehatten beide profitiert: Die Eigenliebe, welche im Begriffe war, sich zur Gottesliebe zuwandeln, und jener Hang zur Äußerlichkeit, dargestellt durch Lot. Man muß den Zu-stand des mittlerweile gewandelten Abram kennen. Hören wir den Text aus der Schrift,welcher aus Platzgründen nicht in voller Länge aufgenommen werden konnte: "… Under zog weiter vom Südland (Mittagsland) nach Bethel … eben an den Ort, wo er früherden Altar errichtete. Dort rief er den Namen des Herrn an", also in der Weisheitssphäre(noch von Ägypten herrührend) erinnert er sich an den Zustand der Gegenwart desHerrn (er war auf seiner Wanderung schon einmal hier), wo er Ihm einst Gehorsam ge-lobte und einen Altar errichtete. Eindeutig ein neuerlicher Impuls zur Verinnerlichung.Dort, also in diesem Zustand, erkennt er sein zwiespältiges Wesen. Da ist einmal seineneue und große Liebe zu Gott mit ihren Konsequenzen, auf der anderen Seite die äußereSinnlichkeit seines Wesens, welche auf die Reize der Welt gerichtet ist. Beide habengroße Herden, bedeutet, daß diese Eigenschaften bedeutsame Lebensbereiche umfassen.Für den geistigen Weg ist der Hang zum sinnlichen Leben hinderlich. Es ist in Grenzenzwar nicht falsch, denn in der Welt muß man auch leben, aber das nach außen gerichte-te Leben muß von dem inneren, geistigen Leben abgegrenzt sein. Die Konsequenz istfolglich die Trennung. - Wir lesen: "Und das Land mochte nicht ertragen, daß sie beiein-ander wohnten, denn ihre Habe war sehr groß."

Die Folge in der Geschichte zeigt, daß diese Trennung in beiderseitigem Einvernehmenund in Freundschaft geschah. Jedem das Seine. Es sind nicht feindliche Bereiche, son-dern nur unterschiedliche Sphären, die man akzeptieren kann. Abram setzte sich spätersogar sehr für seinen Neffen ein, wie wir gleich sehen werden. Der natürliche Bereichoder der äußere Mensch wandte sich nach der Trennung bezeichnenderweise in jeneGegend (Zustand), in der sich Sodom entwickelte und welche später höllisch wurde.Hier sehen wir den Hang des natürlichen Menschen zu den Begierden des Bösen. Dortgeriet er bald in Verwicklungen, Kriege und Gefangenschaft, woraus er durch Abram(der geistigen Seite des Menschen) gerettet wurde. "… als nun Abram hörte, daß seinesBruders Sohn gefangen war, wappnete er seine Knechte, dreihundertundachtzehn, inseinem Hause geboren, und jagte ihnen nach." Dieser Akt der Nächstenliebe wurdedurch den Oberpriester Melchisedek, der in Salem (später Jerusalem) residierte und denHerrn darstellt, gesegnet.

Nach dieser kleinen Vorschau über das spätere Schicksal von Lot, kehren wir wieder zuder Trennung von Lot und Abram zurück. Nachdem diese geschah, war der Weg in dasHeilige Land frei. Alles, was uns an die Materie bindet, muß "auf seinen Platz ver-

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wiesen" werden. Wir verstehen: Materie muß sein und ist an und für sich nichts Ver-werfliches. Wenn wir aber unsere Liebe an sie binden - im Sinne des nicht Los-Kommens - verhindert sie unsere geistige Entwicklung. Auch der geistige Mensch mußin der Materie leben, solange er hier auf Erden noch inkarniert ist, und diese fordert vonZeit zu Zeit auch ihr Recht. Die Hinwendung zur Welt muß aber dem Geistigen unterge-ordnet werden und diesem dienen, und nicht umgekehrt. - Solcherart befreit von erdge-bundener Verstrickung, ist es nun möglich, dieses verheißene Land zu durchziehen, wiees heißt: "In der Länge wie in der Breite". Letztere Ausdrucksweise könnte belangloseAusschmückung sein, wenn die Beschreibung nicht in der Bibel als Gottes Wort stünde.So sollte man wieder die Entsprechungskunde zu Rate ziehen.

Alles Irdische hat Länge, Breite und Höhe und kann auch gemessen werden. Das LandKanaan bezeichnet das Himmlische und entzieht sich daher irdischen Maßstäben. DasGeistige muß sich immer an den Graden seiner Vollkommenheit messen lassen. Alsowieviel Heiliges (Gottes Liebe), wieviel Wahres und wieviel daraus hervorgehendes Le-bensgutes (Nutzwirkungen hinsichtlich der angewandten Lehre) enthält es? Unser Textwill nun sagen: Erforsche das dir sich öffnende Himmelreich und erkenne die dort herr-schende Liebe und Weisheit Gottes. Es in Besitz nehmen heißt, es sich aneignen undzur Lebensgrundlage machen. Dann erst erschließt sich die dritte Dimension: Es sinddie am Anderen erbrachten Dienstleistungen, im Sinne einer neu verstandenen Näch-stenliebe.

Ist der Wille vollkommen auf die Einnahme des verheißenen Himmelreiches ausgerich-tet, und hat der Mensch alles Hinderliche zurückgelassen und sich, mit Swedenborgausgedrückt, dem Einfluß Gottes geöffnet, kann der Herr seine zweite Verheißung anihn richten: "Ich bin der allmächtige Gott, wandle vor Mir und sei fromm, siehe Ich bines und habe Meinen Bund mit dir." So ist die Ordnung Gottes: Zuerst der Herr, dann derMensch in seinem Ausgerichtet-Sein. In diesem Zustand kann sich Gott dem Menschennahen und gefahrlos einen Bund mit ihm schließen. Nun ist eine feste und von Gott ausauch ewige Verbindung geschaffen - entsprechend den Zimmerleuten, die einen Ab-bund machen, wo ein Holz in das andere greift und wodurch ein gegenseitiger Halt en-steht. Himmelreich ohne den Menschen ist sinnlos, aber auch das Leben des Menschenohne Himmel ist es gleichermaßen. Sie brauchen sich gegenseitig. Als äußeres Zeichenwird dem Abram der Geistlaut "h" eingeprägt. Das "h" ist der Hauch Gottes, Sein Atem,das Geistfeuer, welches ihn erst zu einem Menschen macht. Der siebente Tag in derSchöpfungsgeschichte berichtet: "Da machte Gott der Herr den Menschen aus der Erdevom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Menschein lebendiges Wesen." (1.Mose 2,7). - Da die Abrahamsgeschichte auch unsere Ge-schichte ist, soll dieses Wirken Gottes an uns gleichermaßen geschehen. Der siebenteTag der Schöpfungsgeschichte schildert, daß Gott "ruhte". Hier handelt es sich nur um

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eine Scheinbarkeit. In Bezug auf den Menschen und die gesamte Schöpfung und derenErhaltung, ist Gott ständig tätig. Wie leicht könnte der Mensch wieder in den alten Zu-stand zurückfallen! Am siebenten Tag ist der Geistlaut der Wiedergeburt, das "h", hin-zugekommen, wie ein Markenzeichen, daß das Eingepflanzte Fuß gefaßt hat. Wohl kannder Mensch auch nach dieser Zeit fallen, aber das "h" verhindert ein gänzliches Abdrif-ten. Es passiert nur ein zeitweises Einkehren in die eigene Hölle.

Wir erinnern uns, daß bei der Schaffung des Menschen von der Mehrzahl die Rede war.Wir hatten ausgeführt, wie das Weib die Neigungen, oder Liebesausrichtungen desMenschen darstellt. Durch die erfolgten Läuterungen Abrahams wurden seine Inter-essen ganz auf das zu erringende Himmelreich gelenkt. Sie wurden in die Ordnung Got-tes gebracht. Auch Sarai erfährt den Geisthauch in ihrem erweiterten Namen als Sarah!Dies drückt sich in den Worten des Herrn aus: "Du sollst dein Weib Sarai nicht mehrSarai heißen, sondern Sarah soll ihr Name sein."

Welche Feinheiten die Heilige Schrift aufzeigt, kann man auch erkennen, wenn man dieStelle der Einfügung beim Namen Abram betrachtet. Sie wird in das zweite a gescho-ben. Der Herr ist immer die "1" und steht hier am Anfang als großes "A" (Der Herr). Daszweite a (der Geistfunke im Menschen als Sein Abbild) wird um den Geistlaut "h" erwei-tert (also: a h a) und zeigt, daß dieser Funke das "(Geist)Feuer" entfacht hat.

Abraham und seinem Weibe Sarah, deren Ehe nun eine geistig-himmlische Verbindungvon Liebe und Weisheit darstellt, verkündet der Herr die Geburt eines Sohnes (Isaak).Dieser bedeutet die geistige Kirche oder die inneren Wahrheiten, die aus solcher Ver-bindung hervorgehen.

Ist die Wiedergeburt nun abgeschlossen? Nein, da diese einen in die Ewigkeit reichen-den Prozeß darstellt. Der Mensch, die Stimme Gottes hörend und ihr folgend, soll ja erstdas Land "in Länge und Breite" einnehmen und darin heimisch werden. Um dies zu er-kennen und recht beurteilen zu können, bedarf es der Innewerdung göttlicher Weisheit.Diese wurde ihm gegeben: "Denn Ich will Sarah segnen. Auch von Ihr will ich Dir einenSohn geben. Völker sollen aus ihr werden und Könige über viel Völker."

Die Geburt des gesegneten Sohnes erscheint bei Berücksichtigung des Alters von Abra-ham und Sarah erst einmal ziemlich unwahrscheinlich. Jedoch sind die Zahlen in derHeiligen Schrift unter Entsprechungsgesichtspunkten besonders interessant. Sie stellennämlich nicht Zeiträume dar, sondern Zustände. Swedenborg: "… im Wort ist nichts ge-schrieben, was nicht in einen geistigen und himmlischen Sinn überginge bei den En-geln; denn die Engel sind in keinen anderen, als geistigen und himmlischen Ideen. Siewissen nicht, noch werden inne, was 8 und 6 ist, auch bekümmern sie sich nicht dar-um, wie alt Abraham war, als Hagar ihm den Ismael gebar. Wenn aber eine solche Zahlgelesen worden ist, stößt ihnen sogleich auf, was die Zahlen in sich schließen."

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Als Abram aus Haran auf Geheiß des Herrn fortzog ("Geh in ein Land …") und er sichdamit zu einem geistigen Leben wandte, war er 75 Jahre alt. Zusammengesetzt heißt dieZahl: 7 (göttliche Eigenschaften) und 5 (noch nicht das Ganze - alles wäre die 10). An-ders ausgedrückt ist es der Beginn des göttlichen Lichtes, aber erst ein Teil davon (5).Als der Herr später einen Bund mit Abraham machte, war er 99 Jahre alt (In der Zah-lenmystik werden die einzelnen Zahlen gedeutet), also zweimal die neun, jedesmal derZustand ganz kurz vor der Vollendung. In diesem Fall, sowohl in der geistigen, wie inder himmlischen Entwicklung. Erst in der Fülle der geistigen Reife kann man das Land"durchziehen in Länge und Breite". Als nach vielen Schwierigkeiten der angekündigteSohn doch noch von Sarah geboren wurde, war Abraham 100 Jahre alt. Der Sohn stellt,wie oben gesagt, das vernünftig Wahre dar, in unserer Geschichte sogar das göttlichWahre, oder die geistige Kirche, welche aus der Vereinigung der Weisheit (Abraham)mit der Liebe zu Gott (Sarah) hervorgegangen ist. Daß Abraham vor der Geburt Isaaksnoch den Sohn Ismael mit der ägyptischen Magd seiner Frau zeugte, war damals ganzlegal, war sie doch als Magd eine Leibeigene ihrer Herrin Sarah. Die Bedeutung liegt na-türlich in der Entsprechung. Ägypten läßt aufhorchen und auch, daß sie eine Magd war,also eine Hilfe auf dem Weg zur Wiedergeburt. Ismael ist ein Kind der Weisheit (Ägyp-ten) und später der Vater der Araber. Abraham war zu diesem Zeitpunkt 86 Jahre alt.Die 8 setzt sich zusammen aus 2x4, welcher Zustand Versuchungen (4) im geistigenund himmlischen Leben bezeichnet, daher die Verdoppelung. Die 6 ist eine Weiterfüh-rung von der 5 - also das Fortschreiten der eingeschlagenen Bahn. Das Kind aus derLiebe zu Gott - und damit die Krönung einer Entwicklung - wird ihm mit 100 Jahren ge-boren, als das volle himmlische Leben erreicht ist.

Selbsttäuschung - oder von der Notwendigkeitder Selbsterkenntnisvon Karin Kreuch

Vorbemerkung der Schriftleitung: Karin Kreuch vom Lüneburger Kreis schreibt: "Dieser Beitrag,der als Vortrag von mir gehalten wurde, enthält von mir zusammengetragene Textauszüge zuThema Selbsttäuschung aus der Heiligen Schrift, den Werken Swedenborgs, denjenigen Lorbersund der kleinen Schrift von F. W. Faber, Selbsttäuschung (Miriam-Verlag). Leider kann ich imNachhinein die genauen Fundstellen bei Swedenborg und Lorber nicht mehr benennen. Die Swe-denborgtexte waren hauptsächlich aus der Göttlichen Vorsehung".

Es geht bei diesem Thema darum, daß wir wahr werden mit uns selbst, wahr werdengegenüber dem Nächsten und wahr werden gegenüber Gott. Es geht um unser geistigesLeben als die einzige Wirklichkeit. Es geht um unsere Beziehung zu unserem himmli-

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schen Vater. Wie ernst meinen wir es, wie ernsthaft verlangt unsere Seele auf seinenWegen vorwärts zu kommen?

In der Heiligen Schrift finden wir sein Versprechen: "Suchet, so werdet ihr finden!"Aber es steht auch geschrieben: "Ihr werdet mich suchen und werdet doch in eurenSünden sterben." Ein Widerspruch? Oder ist es ein Hinweis darauf, daß es auch ein un-wahrhaftiges Suchen bei uns Menschen geben kann? Unwahrhaftigkeit ist der beleidi-gendste Vorwurf, den wir uns gegenseitig machen können; er verletzt unser Herz. Un-wahrhaftigkeit ist die allgemeinste aller Erbärmlichkeiten. "Ein wahrhafter Mensch istdas seltenste aller Phänomene", schreibt Faber in seinem Buch.

Ich habe daraufhin die Konkordanz zur Bibel zur Hand genommen und unter denStichwörtern "lügen" und "Lüge" nachgeschlagen und dort Hinweise auf sehr viele Bi-belstellen gefunden. Hier nur einige: "… mit deiner Lüge bringst du dich selbst um deinLeben" (StD 1,55). "… sie finden Gefallen an der Lüge, mit ihrem Mund segnen sie, dochin ihrem Innern fluchen sie." (Ps.62,5-6). "… du hast Mich vergessen und auf Lügen ver-traut" (Jer.13,26). "… wir haben Lüge zu unserer Zuflucht gemacht und in Trug uns ge-borgen" (Jes. 28,15). "… draußen sind die, die Lüge lieben und tun" (Off. 22,15). "… es istdie alte Eigenliebe, als der Vater der Lüge und aller Übel aus ihr, die Lüge aber ist diealte sündige Materie als die sündige Erscheinlichkeit der Eigenliebe, der Selbstsucht,des Hochmuts und der Herrschsucht" (Lorber, GEJ Bd.6).

Der erste Schritt zur Wahrhaftigkeit ist unsere Erkenntnis, daß sie uns abgeht. Dennaus dieser Erkenntnis erwächst der Entschluß und das Streben, diese Wahrhaftigkeit zuerlangen. Ein allgemeines Schuldbekenntnis reicht aber nicht aus! Wir müssen in unsgehen und unser ganzes Elend und unsere ganze Verderbtheit aufspüren. Swedenborgspricht "von denjenigen, die sich zwar aller Sünden schuldig bekennen, aber keine ein-zige bei sich aufsuchen (es kann doch niemand das, was er nicht kennt, fliehen, nochdagegen kämpfen)" und sagt, "das sich zu allen Sünden bekennen, ist ein Einschläfernaller und zuletzt ein Sichverblenden". "Alles Böse, das nicht zur Erscheinung kommt,glimmt fort und ist wie Feuer im Holz unter der Asche, auch wie Eiter in einer Wunde,die nicht geöffnet wird" (GV 278). Die innerliche Verderbtheit unserer Natur ist derRohstoff für unsere Selbsttäuschung. Die Bösartigkeit dieser Verderbtheit liegt in derVerlogenheit. Und am meisten betrügen wir unser Ich. "… mit deiner Lüge bringst dudich selbst um dein Leben" (StD 1,55).

Es gibt auf der Welt nichts Schwereres, als sich selbst zu erkennen. Aber wir müssenuns fragen: Bemühen wir uns ernstlich darum? Sind wir ehrlich bei unserer Gewissens-erforschung? Wieviel Platz und Zeit hat sie in unserer Tagesordung? Wie steht es mitRegelmäßigkeit, Genauigkeit und Fleiß? "Nichts ist dem ganzen Menschen heilsamerals eine zeitweilige innere Sichselbstbeschauung." (Lorber, GEJ I.224.8). "Widmet Mir

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an Stelle eurer gewissen Weltgedanken und an Stelle eurer so manchen Welterheite-rungen nur eine volle Stunde am Tage; heiligt sie dazu, daß ihr euch in derselbe mitnichts, als nur mit Mir in eurem Herzen abgebet - oh, da werdet ihr hundert Anständefür einen finden, und hundert weltliche Gedanken werden sich um einen einzigenschwachen geistigen wie ein Wirbelwind drehen! Allerlei weltliche Rücksichten werdetihr da zum Vorschein bringen; und wenn sich auch jemand für eine solche Stunde ent-schließen möchte, so wird er sich sicher nicht zu sehr freuen auf dieselbe, sondern wirdvielmehr eine kleine unbehagliche Scheu vor derselben haben und wird dabei fleißig dieMinuten zählen und nicht selten mit Ungeduld auf das Finale des Mir geweihten Stünd-leins harren! Und käme da nur irgendein unbedeutendes Weltgeschäftlein dazwischen,so wird das Stündlein entweder gar kassiert oder wenigstens in eine solche Periode desTages versetzt, in welcher sich schon gewöhnlich der wohltätige Schlaf über die Sterbli-chen senkt … Sehet, das alles ist Essig und Galle. Und es ist in euch dadurch nicht voll-bracht, wenn Ich zufolge Meiner unendlichen Liebe alles erdenkliche tue, um euch aufden rechten Weg des Lebens zu bringen: denn zur Vollbringung in euch ist nötig, daßein jeder sich selbst verleugne aus wahrer Liebe zu Mir, sein Kreuz auf sich nehme undMir getreulich nachfolge." (Schrifttexterklärungen 5).

Wenn wir uns keine Mühe geben, uns kennenzulernen, so können wir versichert sein,daß wir nicht wahr mit uns selbst sind. Es lastet auf fast jedermanns Gewissen eindumpfes, unbestimmtes Gefühl, eine traurige Unklarheit über einen Teil der Lebensfüh-rung, und doch wollen wir dieses Gefühl nicht analysieren, es entlarven, um zu sehen,was daran ist. Obwohl wir es tun könnten! Stattdessen greifen wir zu Selbstberedungund Selbstberuhigung. "Ach, das ist eine schwierige Sache!" Warum sagen wir es nicht?"Ich bin gerade jetzt nicht vorbereitet!" Ja, ist es denn eine Sache, die Aufschub duldet?Nach 5 Minuten ehrlicher Selbsterforschung, wäre uns klar, was wir ändern müßten.Aber nein, diese Art geistlicher Führung ist für uns viel zu nüchtern und derb, ja, ei-gentlich roh und herzlos. Man darf das Pflaster nicht von unseren Wunden reißen. Ne-bel hat etwas Beruhigendes. So leben wir dahin mit einem halben Dutzend ernster An-gelegenheiten, die ungeordnet, unklar und ungeprüft bleiben. Peinlich ist es, wenn unsandere durchschauen. Aber noch viel peinlicher ist es unserer armseligen Natur, unsselbst zu durchschauen, wenn wir die Achtung vor unserem Ich verlieren. Wir findenkaum jemanden, der nicht in seinem Herzen einen Winkel hätte, in den er sich mitLicht nicht hineintraut. Die Gründe hierfür sind so verschieden, wie unsere Seelen ver-schieden sind. Wir wissen, es wäre Schluß mit unserer Faulheit und Bequemlichkeit,mit unserem angenehmen Leben. Wir würden einer sehr widerwärtigen Sache gegen-übergestellt, die uns vielleicht all die Unruhe und Last einer vollständigen inneren Um-wälzung aufzwingt oder aber unser Gewissen in große Unruhe versetzt. So lassen wir

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die Vorhänge vor diesem Winkel unseres Ichs und sperren ab. Wie ein Zimmer mit un-guten Erfahrungen. Aber glauben wir denn, daß der Vater diesen Ort nicht kennt?

Wahrhaft ernst und echt zu sich und anderen sein, dazu gehört: Zu vermeiden unsereeigenen Handlungen zu besprechen und zu erklären. Warum? Fast nie bespricht je-mand seine eigene Handlung oder erläutert seine Beweggründe, ohne dabei unwahr zusein. Allein das Auslassen des Schlechten, macht die Darlegung des Guten zur Unwahr-heit. (Beispiel: machen wir unsere Gebetsübungen bekannt, so sollten wir mit unsererAnhänglichkeit an hübschen Möbeln und gut sitzenden Kleidern nicht hinter dem Bergehalten.) "… habt acht auf eure Frömmigkeit, daß sie nicht laut werde vor den Leuten".(Matth.6,1-3). Nie tun wir irgend eine Handlung allein aus einem Grund. Bei Anderenfällt es uns auf. Wir begeben uns in eine Lage, aus der wir ohne Schaden für unsereAufrichtigkeit nicht wieder herauskommen. Es bringt uns aber niemand in diese Lage!Niemand bedarf unserer Erläuterungen über unser Tun. Es kümmert die anderen vielweniger, als wir gern glauben wollen. In Wirklichkeit steckt Eitelkeit und überhöhteSelbsteinschätzung dahinter. Wer andere täuscht, täuscht schließlich immer sich selbst.

Die Ehrlichkeit gegenüber Gott. Wir wissen, daß Er uns völlig durchschaut. Wir wissen,daß unsere jämmerlichen Entschuldigungen und Ausflüchte in ihrer ganzen Häßlichkeitoffen vor Ihm liegen. "Herr, du hast mich erforscht und erkannt, du erkennst meine Ge-danken von ferne; da ist kein Wort auf meiner Zunge, das du Herr nicht schon wüßtest"(Ps. 139). Aber wir lassen dieses Wissen für uns im täglichen Leben nicht an die Ober-fläche kommen. Es ist ein schlimmer Gedanke unaufrichtig mit Gott zu sein, und dochsind wir es in erschreckendem Ausmaß. "Herr, rette meine Seele vor Lügenlippen" (Ps.120). "… darum ist das Reich fern von uns, denn zahlreich sind unsere Verbrechen,denn unsere Vergehen sind uns bewußt und unsere Sünde, die kennen wir." "… mit Lü-genworten schwanger werden und sie aus dem Herzen sprechen". (Jes.59,13). "… dennLüge machten wir uns zur Zuflucht, im Truge verbargen wir uns". (Jes. 28, 15).

Quellen der Selbsttäuschung

Erstens, die Seltenheit verläßlicher Selbsterkenntnis. Wir haben den Wunsch, der Höllezu entkommen, aber wie ernst ist es uns mit dem Wunsch, dem Vater zu gefallen, Ihmmit unserem falschen Tun nicht mehr weh zu tun? Unser geistiges Leben wünschen wiruns behaglich und bequem. Damit gehen wir am Wesentlichen vorbei in Selbstgefällig-keit und Eigenwilligkeit. Unsere Liebe zu uns selbst und unsere Liebe zur Welt hält inunserer Seele nahezu unerschöpfliche Möglichkeiten zum Bösen verschlossen. "… derMensch wird geboren in Böses aller Art" (Swed.). Die geheime Kraft der Weltlichkeitliegt in unserer Unkenntnis über uns selbst! Es ist keine ahnungslose Unkenntnis, son-dern Unkenntnis mit schlechtem Gewissen, das wir nicht zwingen wollen, die harte

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Nuß der Selbsterkenntnis zu knacken. "… die Selbstliebe bringt mit sich, daß man nichtgeleitet werden will vom Herrn, sondern von sich selbst" (Swed.).

Zweitens, das eigene Ich, das sich selbst betrügt. Eitelkeit ist hier die verbreitetste Ur-sache. Wir alle überschätzen uns auf die törichste Weise! Z.B. wenn wir uns in Gedan-ken über uns selbst aufhalten, beginnt sofort die Selbsttäuschung. Das eigene Ich siehtsich immer falsch! Über uns selbst nachzugrübeln führt uns auf einen neuen Weg zurSelbsttäuschung und zwar dadurch, daß wir fast ohne es zu merken unsere Gefühle mitder Wirklichkeit unsere frommen Wünsche mit Taten verwechseln! Die Selbstliebe ver-steht es mit viel Geschick, ihre Ideale und die Verwirklichung ineinander übergehen zulassen, so daß niemand wissen soll, was Theorie und was Praxis ist. Weiter betrügen wiruns dadurch, daß wir das, was offenbar unrecht ist, beschönigen. Ein fortlaufenderKommentar heimlicher Selbstentschuldigung geht uns durch den Kopf. Wir geben zu,gewisse Handlungen oder Unterlassungen sind unrecht. Aber die Verhältnisse liegenbei uns ganz besonders, wodurch bei uns weniger unrecht ist als bei anderen. Manch-mal hat unser Temperament Schuld, unsere Gesundheit, unsere Stellung. Manchmalsind wir gereizt worden. Wir begnügen uns mit leichter Rüge, blicken gleich auf die gu-ten Seiten unseres Charakters und überhaupt: wer von uns ist schon ohne Fehl? Unddamit sind wir beim Anderen und weg von uns. Mit dieser Methode der Selbsttäu-schung, versuchen wir eine genauere Bekanntschaft mit unseren fadenscheinigen Moti-ven aufzuschieben. Wir haben so viel zu tun! Und es ist im geistlichen Leben immerunklug, sich mehr vorzunehmen, als man leisten kann. Wir haben so viele offenkundigeFehler zu bekämpfen, so eilt es nicht so sehr mit gründlicher Selbstprüfung. "… denndas sich zu allen Sünden bekennen ist ein Einschläfern aller und ein sich Verblenden"(Swed.).

Drittens, man läßt sich von außen durch Dinge oder Personen täuschen. Wir sind min-destens doppelt so lobsüchtig, als wir wahr haben wollen! Wenn wir auf Lob ausgehenoder uns doch unmißverständlich darin sonnen, so lassen wir uns durch andere täu-schen, oft ohne deren Schuld. Die Gier nach Lob ist selbst in den Demütigsten noch un-begreiflich stark. Wir bekümmern uns fast gar nicht um die Qualität des Lobes. Wiedurstige Kamele in der Wüste das schmutzigste Wasser mit Wonne trinken! Wir gebendem Lob eine Bedeutung, die uns tief beschämen sollte! Wir bringen andere dazu, unszu täuschen, durch die Art, wie wir mit ihnen über uns selbst sprechen. Dies gilt beson-ders bei frommen Gesprächen und dem Gerede über unseren Charakter. Hier gibt esnur eine Alternative: Unser inneres Leben viel mehr geheim zu halten oder es vielschrankenloser zu offenbaren. Der Mittelweg bedeutet lügen. Das Richtige: überhauptnicht über sich selbst sprechen! Doch es gibt kaum eine schwierigere Übung christli-cher Vollkommenheit, als solches Gerede zu lassen, Wir machen die Leute glauben, daßwir viel edler sind als in Wirklichkeit und veranlassen sie so zu Lob und Bewunderung.

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Das ist Selbstbetrug in höchster Form. Auch geistige Bücher sind äußere Dinge, die unsunecht machen können. Heldenhafte Gedanken sind ansteckend, aber sie versagen denDienst für heldenhaftes Tun. Sie geben unserer Religiösität nur eine sentimentale Note."… da aber das Tun doch immer noch etwas Ernsteres ist als das alleinige Lesen selbstdes ernstesten Buches, so erklärt sich die Sache von selbst, mit welcher Schwierigkeitda das Tun wird zu kämpfen haben. Es ist leicht das Hören, und nicht schwer das Lesenund ebenso leicht das Zuschauen; aber das Selbsttun ist für jedermann von keinem gro-ßen Reize. Was nützt aber jemandem das Wissen und Nicht-Tun-danach?!" (Lorber)Wenn ein geistliches Buch uns nicht demütigt und niederhält, so bläht es uns auf undmacht uns unecht.

Zur Vielfältigkeit der Selbsttäuschung

Eine Art von Selbsttäuschung ist die der Selbstzufriedenheit. "Lauter bin ich, ohne Ver-gehen. Rein bin ich und habe keine Schuld. An meiner Gerechtigkeit halte ich fest undwerde sie nicht fahrenlassen" (Hiob). Mancher hat einen so starken Glauben an sichselbst, daß kein Fehltritt, kein Mißerfolg ihn erschüttern kann. Jeder Mißerfolg hat eineäußere Ursache. War diese oder jene Tat auch nicht das Beste, das zu tun war, so warendoch Ort und Zeit und Umstände so, daß es irgendwie doch das Beste war. Für ihn gibtes nur Zeichen der Vorsehung. Ja, seine Angelegenheiten sind die Endzwecke Gottes.

Eine weitere Form der Selbsttäuschung ist die Kritisiersucht. Es gibt Menschen, dieimmer so sicher sind, recht zu haben, daß sie sich als Maßstab aufstellen, andere zu be-urteilen. So fest ist ihr Selbstvertrauen. Faber warnt: "… das Herz wird kalt, wenn es derMensch nicht dadurch warm hält, daß er in ihm lebt; ein kritischer Mensch lebt mei-stens außerhalb seines Herzens".

Selbsttäuschung, die keinen Rat annimmt. Meistens sind es schweigsame Menschen,äußerlich ist kein warnendes Anzeichen von Selbstsucht zu erkennen. Ihren Eigendün-kel und Eigenwillen halten sie für kluge Zurückhaltung aufgrund ihrer Selbsttäuschung,die sich nicht beraten lassen will. Es gibt auch Selbsttäuschung, die in einem fort Ratsucht und noch schlimmer: bei jedermann. Es sind jene, die immerwährend etwas un-ternehmen und nie etwas zuwege bringen. Ihre Sucht nach Beratung ist eine Art Eigen-dünkel. Hat man je einen schwachen Menschen gesehen, der nicht zugleich sehr einge-bildet war? Je mehr er fragt und sich mitteilt, um so mehr nimmt die Unehrlichkeit zu.Er wirft sich mit jedem Wort Sand in die eigenen Augen. Je eigensinniger er wird, um somehr glaubt er an seine eigene Lenkbarkeit. Am Ende herrscht völlige Selbstunkennt-nis.

Selbsttäuschung tritt auch in der Form von Ehrgeiz auf. Mit einem Satz hat er die An-fangsstadien des geistlichen Lebens genommen und ist in hohe Dinge hineingesprun-

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gen. Er hat seine Seele mit Mystik genährt, und sie dabei verhungern lassen; gewöhnli-che Frömmigkeit hätte ihr so gut getan. Er fing an, die Heiligen in dem nachzuahmen,was unnachahmlich ist und endet damit, das religiöse Leben entmutigt aufzugeben. An-fänglich gierte er nach Übernatürlichem und schließlich findet er die gewöhnlichenÜbungen des Glaubens schwierig.

Die Selbsttäuschung durch falsche Demut. Jedermann fühlt, daß die Demut in besonde-rer Weise die Tugend der Vollkommenheit ist und jeder will sie erwerben. Wir fangenan, abfällig von uns zu reden (glauben aber nicht im geringsten daran!) Diese Selbstan-klagen neigen dazu, geistige Blindheit zu erzeugen. Diese künstliche Selbsterniedri-gung bringt uns dahin, daß wir uns im Dienste Gottes nur an Niederes heranwagen. DerMensch bleibt hinter den Absichten Gottes zurück. Selbsttäuschung untergräbt und zer-stört die volle Entfaltung des Menschen. So armselig diese Selbsttäuschung auch ist, hatsie doch ihren Stolz!

Es gibt nun vielfältige Kreuzungen bei diesen Arten der Selbsttäuschung. Man ver-strickt sich in nichts auf der Welt so sehr wie in Selbsttäuschung. Alle Formen sindschnell um sich greifende Krankheiten. "Solche, die sich nicht prüfen, sind mit Krankenzu vergleichen, bei welchen das Blut infolge der Verstopfung der kleinsten Gefäße ver-dorben ist" (Swed.).

Man braucht ein gewisses Maß frommen Mutes, diese widerliche Erscheinung unserergefallenen Natur immer genauer kennenzulernen. "Die Selbstliebe als der erbittertsteFeind Gottes und seiner Vorsehung, diese wohnt im Innern eines jeden Menschen vonGeburt an. Wenn du sie nicht erkennst - und sie will nicht erkannt werden - so wohntsie in Sicherheit und bewacht die Pforte, daß diese nicht vom Menschen geöffnet - unddie Selbstliebe dann vom Herrn ausgetrieben werde. Die Pforte wird vom Menschen da-durch geöffnet, daß er das Böse als Sünde flieht wie aus sich" (Swed.). Daß der Menschselbst öffnen muß, erklärt der Vater in der Heiligen Schrift: "Ich stehe vor der Tür undklopfe an, wenn jemand Meine Stimme hört und die Tür auftut, so will Ich zu ihm ein-gehen und Abendmahl halten."

Wir müssen die vielen Arten der Selbsttäuschung auch als festes Ganzes betrachtenund dabei fällt auf: ihre unbegrenzte Macht! Andere Versuchungen haben ein begrenz-tes Feld. Selbsttäuschung muß mehr sein als eine Versuchung. Versuchungen stellensich unter bestimmten Umständen ein, und diese Umstände verkünden uns die kom-mende Versuchung. Selbsttäuschung ist überall. Sie leitet zu bestimmten Vorgehen an,gibt Beharrlichkeit dazu. Sie ist der Erdboden, der Untergrund für unsere Handlungenund sie überwölbt sie wie das Firmament. Sie lobt und fördert die Eigenliebe, sie leitetdas Gewissen irre, sie ist nie müde, immer in unserer Gesellschaft.

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Das zweite Merkmal: ihre Geschicklichkeit, den Schein des Guten anzunehmen. Es istnicht nur ein geschicktes Sich-Drapieren mit den Gewändern der Tugend. Sie trägt siebeständig! Sähe man ihr die Bosheit an, niemand würde sich täuschen lassen. DieSelbsttäuschung läßt uns Teufelswerk tun im Glauben es sei Gotteswerk! "Selbstsucht,die wohl zum Scheine mit dem Lämmergewand der Liebe angetan, inwendig aber einreißender Wolf ist, der am Ende alles Edle im Herzen und den Geist zu erdrückenstrebt" (Lorber). Heuchelei hat nur ein kurzes Dasein, es sei denn, daß sie mit einemgewissen Maß Frömmigkeit gepaart ist. Selbsttäuschung hält sich mit Absicht in derNachbarschaft des Guten, um warmgehalten und gepflegt zu werden.

Ein drittes Merkmal für die Selbsttäuschung: sie nimmt mit dem Alter zu. Je mehr sichdas Leben weitet, um so mehr weiten sich unsere Anlagen zur Selbsttäuschung. Nochein Merkmal: es gibt ein Ding, und nur dies eine, neben dem die Selbsttäuschung bei-nahe nicht bestehen kann: Nachhaltiger Schmerz über die Sünde - die Reue. Und eineschwache Stelle hat die Selbsttäuschung: es schmerzt sie, wenn man sie berührt. DieBerührung schädigt sie nicht, aber sie zuckt unter ihr zusammen, und durch ihre Emp-findlichkeit bei Berührung, verrät sie sich.

Wir haben alle gewisse Eigenheiten, Gewohnheiten, Haltungen in unserem Benehmen;tadelt man sie, ärgern wir uns. Aber warum bleiben wir ganz ruhig, beim Tadel einerbestimmten Unart, und warum fliegen wir wie Schießpulver in die Luft, wenn eine an-dere berührt wird? Gewöhnlich verrät sich hier die Selbsttäuschung. Je tiefer wir uns indie Erkenntnis unserer eigenen Unwahrhaftigkeit versenken, um so näher kommen wirder erhabenen Wahrhaftigkeit Gottes. Die Erkenntnis unserer Selbsttäuschung kommteiner Heilung am nächsten. So ist großes Mißtrauen gegen sich selbst ein erstes Heil-mittel, aber es muß ins Einzelne gehen. Wir müssen uns die Überzeugung beibringen,daß wir dann am sichersten im Unrecht sind, wenn wir ganz sicher sind, im Recht zusein.

Ein weiteres Heilmittel ist das Betrachten der Eigenschaften Gottes. Was wir häufig be-trachten, ahmen wir unbewußt nach. Unsere große Chance: wir sind in das Bild Gottesund in Seine Ähnlichkeit geschaffen. Sein Bild liegt in uns, es muß nicht erst geprägtwerden. Origenes nennt dafür folgendes Gleichnis: Das Bild Gottes in der Seele Grundist wie ein lebendiger Brunnen. Wenn jemand Erde, das ist irdisches Begehren, daraufwirft, so hindert und bedeckt es ihn, so daß man nichts von ihm erkennt. Gleichvielbleibt er in sich lebendig und wenn man die Erde wegnimmt, so kommt er wieder zumVorschein. Origenes nimmt dies aus 1. Mose 26: "Abraham grub in seinen Acker leben-dige Brunnen, die Philister verstopften sie und füllten sie mit Erde … und Isaak grub dieBrunnen wieder aus und sie fanden Brunnen mit lebendigem Wasser". "Und das Licht

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scheint in der Finsternis und die Finsternis hat es nicht erfaßt" (Joh 1). Auch in unsereFinsternis scheint sein Licht.

Was wird uns wahr machen? "Die Selbstliebe bewacht die Pforte, daß diese nicht vomMenschen geöffnet wird und der Herr die Selbstliebe austreibt. Die Pforte wird vomMenschen dadurch geöffnet, daß er das Böse als Sünde flieht … Die Erkenntnis der Sün-de und die Selbstprüfung sind der Anfang der Buße und die Buße ist das erste der Kir-che beim Menschen. Aber Buße ist nicht seufzen und stöhnen, auch eine gewisse Zer-knirschung ist nicht Buße! Buße ist nicht möglich ohne Selbstprüfung. Das Böse kannnicht entfernt werden, wenn es nicht zur Erscheinung kommt; das heißt nicht, daß derMensch das Böse tun solle, sondern daß er sich prüfen soll. Sich prüfen heißt: das Böseanschauen, anerkennen, bekennen und davon abstehen. Damit sich der Mensch prüfenkann, ist ihm der Verstand gegeben und zwar getrennt von seinem Willen, auf daß erwissen, verstehen und anerkennen möge, was gut und was böse ist und wie sein Willebeschaffen ist" (Swed.). "Wer seine Seele finden will, der wird sie verlieren, und werseine Seele verliert um Meinetwillen, der wird sie finden" (Matth 10).

Auch das Gleichnis vom Unkraut im Acker bei Matthäus 13 weist auf unsere Aufgabehin: es ging ein Mann aus und säte guten Samen auf den Acker und es ging der guteSame auf, aber mit ihm wuchs auch viel Unkraut auf dem Acker. Daß der Mann in die-sem Gleichnis der Vater ist und sein Wort der gute Same und der Acker unsere Seele,ist uns erklärt. Es ist nun unsere Aufgabe, freien Boden zu schaffen, für den einge-pflanzten guten Samen. Aber ohne seine Hilfe ist uns nichts möglich. "Ohne Mich könntihr nichts tun".

Das Bild von der Fußwaschung haben wir uns an dieser Stelle betrachtet. "Wenn Ichdich nicht reinige, so hast du keinen Teil an Mir", sagt Jesus zu dem Jünger. "Erforschedein Herz an jedem Tag, und findest du dann eine andere Liebe und Neigung in ihm alsdie zu mir, so rufe Mich und zeige mir dein Herz, und Ich werde es sogleich reinigen fürMich und jede unlautere Begierde und Lust aus dir treiben" (Lorber). "Wahrlich, wahr-lich Ich sage euch, wer nicht durch die Tür in den Schafstall eingeht (der Schafstall istdie Kirche des Herrn) … Ich bin die Tür und wer durch Mich eingeht wird selig werdenund Weide finden". (Joh 10). "Fürchte dich nicht, denn Ich habe dich erlöst! Ich habedich bei deinem Namen gerufen, du bist Mein. Wenn du durchs Wasser gehst, Ich binbei dir, und durch Ströme, sie werden dich nicht überfluten. Wenn du durchs Feuergehst, wirst du nicht versengt werden, und die Flamme wird dich nicht verbrennen" (Jes43). Durchs Wasser unseres Eigensinnes und durchs Feuer unserer Eigenliebe müssenwir gehen - aber: "Fürchte dich nicht, denn Ich bin bei dir" (Jes 43).

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Emanuel SwedenborgHieroglyphischer Schlüssel zu den natürlichen und geistigen Geheim-nissen mittels Repräsentationen und Entsprechungenübersetzt von Thomas Noack

Vorbemerkung. Der Originaltitel lautet, Clavis hieroglyphica arcanorum naturalium etspiritualium per viam repraesentationum et correspondentiarum. Die Handschrift imCodex 79 wird in The Royal Swedish Academy of Scienes (Kungliga Vetenskapsakade-mien), Stockholm aufbewahrt, wo meine Frau und ich sie anlässlich einer Studienreiseim Jahre 1992 einsehen konnten. Das Werk wurde 1784 von Robert Hindmarsh in Lon-don veröffentlicht und bisher nur in die englische, schwedische und französische Spra-che übersetzt. Es besteht aus einundzwanzig sogenannten "Beispielen", in denen Swe-denborg ähnliche Phänomene auf unterschiedlichen Ebenen betrachtet. Dem schließensich im Idealfall drei Abschnitte an, nämlich erstens Reflexionen über die in den Bei-spielen vorgestellten Entsprechungen, zweitens Bestätigungen der in den Beispielengemachten Aussagen und drittens die Formulierung einiger Regeln. Dieser Dreischrittstellt, wie gesagt, den Idealfall dar, der aber nicht immer vollständig durchgeführt wird.

Swedenborg schrieb diesen "Hieroglyphischen Schlüssel" 174436, also gegen Ende sei-ner Krisen- und Übergangszeit vom Naturforscher zum Seher. Beim Nachdenken überseine Träume, die er schon von 1736 bis 1740 hatte, jedoch sind nur jene der Jahre1743 bis 1744 aus dem bekannten Traumtagebuch erhalten, konnte er die sich in ihmformende Lehre von den Entsprechungen und Repräsentationen anwenden. In seinemWerk "Die Seele" bekundet Swedenborg 1741 seine Absicht einen "Schlüssel zu den na-türlichen und geistigen Geheimnissen mittels Entsprechungen und Repräsentationen"zu schreiben, "der uns schneller und sicherer in die verborgenen Wahrheiten führt" undeine Lehre darstellt, "die der Welt bisher unbekannt war" (De Anima 567). 1744 schrieber dann besagten "Schlüssel", der wenig oder nichts mit den ägyptischen Hieroglyphenzu tun hat, dafür aber einen ersten Entwurf jener Wissenschaft der Entsprechungenenthält, die dem erleuchteten Bibelforscher und Seher geistiger Welten später klar undausgereift vor Augen stand. Im "Hieroglyphischen Schlüssel" ist alles noch Rohmaterial,auch die Terminologie ist noch im Werden, tastend, gleichwohl von der Ahnung geleitet,daß auf diesem Wege adamisches Wissen zu finden sei, formuliert der spätere Sehererstmals Gesetze der Grammatik des Geistes. In den "Himmlischen Geheimnissen", demersten ganz aus der Erleuchtung geschriebenen Werk der Jahre 1749 bis 1756, wirdvon ihnen kaum noch die Rede sein; nur der aufmerksame Leser dieses monumentalenWerkes entdeckt auch dort noch die Spuren und Reste jener einstigen Suche nach den

36 Datierung nach W. R. Woofenden, Swedenborg Researcher's Manuel, 1988, 55.

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Regeln der königlichen Wissenschaft der Entsprechungen. Der Seher sieht, der Schüleraber studiert. Im Jahre 1744 ist Swedenborg noch der Schüler, der die Grammatik desGeistes lernen will, der zwar schon ahnungsreich weiß, daß alles sinnlich Sichtbare eineverzweifelte Ähnlichkeit mit den ägyptischen Hieroglyphen hat, die damals noch nichtentziffert waren, dem aber die Tür in die inneren Geheimnisse noch nicht wirklich auf-getan wurde. Wagen wir also einen Blick in das Schulheft eines Pioniers der Entspre-chungswissenschaft. Im Folgenden lesen wir die Übersetzung der ersten drei Beispiele.

Auszug aus dem Manuskript "Clavis hieroglyphica" in Emanuel Swedenborgs Handschrift.

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Erstes Beispiel37

So lange die Bewegung andauert, dauert auch das Streben (conatus), denn das Strebenist die bewegende Kraft in der Natur. Das Streben allein ist aber eine tote Kraft.

So lange sich die Tätigkeit fortsetzt, setzt sich auch der Wille fort, denn der Wille ist dasStreben des menschlichen Geistes (mentis) nach Tätigkeit. Aus dem Willen allein folgtjedoch keine Tätigkeit.

So fortdauernd wie die göttliche Wirksamkeit, ist auch seine Vorsehung, denn die Vor-sehung ist der göttliche Wille, wirksam zu sein. Aus der Vorsehung allein folgt aberkeine Wirksamkeit.

Die folgenden Begriffe entsprechen einander: 1. Bewegung, Tätigkeit und Wirksam-keit. Tätigkeit wird allerdings auch der Natur zugeschrieben, weswegen man anstellevon Bewegung auch Tätigkeit hätte setzen können. Aber Tätigkeit fließt genau genom-men aus einem Anfang, der von sich aus tätig sein kann bzw. dem ein Wille innewohnt,also aus dem menschlichen Geist. Tätigkeit, häufiger aber Wirksamkeit, sagt man ge-wöhnlich auch von der göttlichen Vorsehung aus, auch wenn das kein spezifisch geisti-ger Begriff ist. 2. Streben, Wille und Vorsehung. Weil (die Bewegung) auf ein Streben hi-nausläuft, ist (Streben) ein bloß natürlicher Begriff. Der Wille hingegen gehört zum ver-nunftbegabten Geist und die Vorsehung zum alleinigen Gott. Daß Wille und Strebeneinander entsprechen, möge man im Abschnitt über den Willen nachschauen. Daß aberauch die Vorsehung (in diesem Entsprechungszusammenhang steht), ergibt sich ausfolgender Überlegung: So wie der Wille die gesamte menschliche Tätigkeit in sichschließt, so schließt die Vorsehung die gesamte göttliche Wirksamkeit bzw. seinen all-umfassenden Willen in sich. 3. Natur, menschlicher Geist und göttlicher Geist bzw. Gott. Inder ersten Klasse (classe)38 sind alle Begriffe enthalten, die rein natürlich sind; in derzweiten alle vernunft- und verstandesbezogenen, daher auch die sittlichen, folglich alleden menschlichen Geist betreffenden; in der dritten die theologischen und göttlichen.Deswegen entsprechen diese Begriffe einander.

Bestätigung der Leitsätze: 1. Daß die Bewegung so lange andauert wie das Streben istein allgemeiner Lehrsatz der Philosophen, denn sie sagen, in der Bewegung sei nichtsReales außer das Streben vorhanden. Außerdem sei die Bewegung ein ständiges Stre-ben. Anstelle von Bewegung kann man auch Tätigkeit setzen, und zwar eine rein natür-liche Tätigkeit, die aus einer Kraft hervorgeflossen ist oder eine Wirkung zur Folge hat.

37 Beachtenswert ist, dass Swedenborg von Beispielen ausgeht. Er will seinen "Hieroglyphischen

Schlüssel" also nicht aus der Vernunft ableiten, sondern will von Erfahrungen ausgehen.38 Swedenborg spricht hier noch von "Klassen", später wird er bevorzugt von "Graden" reden, wenn-

gleich der erstgenannte Begriff in den Himmlischen Geheimnissen noch vorkommt.

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2. Das Streben ist die bewegende Kraft in der Natur: Einem philosophischen Grundsatz(Axioma philosophicum) zufolge besteht eine Kraft in einem ununterbrochenen Strebennach Tätigkeit und ist der Anfang der Tätigkeiten und Veränderungen. Daraus folgt, daßdie bewegende Kraft in einem unaufhörlichen Streben nach Veränderung des Ortes be-steht. 3. Daß das Streben ohne Bewegung eine tote Kraft ist, folgt auch aus einer derWolff'schen Regeln, wonach nämlich eine Kraft tot ist, die nur im Streben besteht, undeine lebende Kraft mit örtlicher Bewegung verbunden ist. 4. Was den Willen anbelangt,und zwar den menschlichen, der von einem vernunftbegabten Geist herkommt, der sei-nerseits Quelle der vernunftbegabten Tätigkeit ist, (muß folgendes gesagt werden): Esgibt auch beseelte Tätigkeiten (actiones animales), die aus einem Willen hervorfließen,der dem vernunftbegabten Willen ähnlich ist. 5. Daß die Vorsehung nicht wirkkräftiggegeben wird, ist aus den Heiligen (Schriften) ersichtlich, denn der menschliche Geistist es, der die gesamte göttliche Macht zurückstößt. Man kann aber nicht sagen, dieVorsehung sei säumig, nur weil sie nicht aufgenommen werde. Wie ja auch der Willenicht säumig ist, wenn auch die Tätigkeit noch so sehr ausbleibt.

Regeln: 1. Die erste Klasse nenne ich die natürliche; die zweite die Klasse der ver-nunftbegabten Lebewesen, sie umfaßt auch die sittlichen Gegenstände; und die drittenenne ich die Klasse der geistigen oder theologischen Sachverhalte. 2. Die erste Materie(Materia principalis) darf nicht durch dieselben Begriffe ausgedrückt werden, sonderndurch andere, einer jeden Klasse eigentümliche, wie diese: Streben, Wille, Vorsehung.3. Und zwar durch solche Begriffe, die beim ersten Hinschauen (primo intuitu) nichtdasselbe zu bezeichnen oder darzustellen scheinen. Man begreift nämlich nicht sofort,daß der Wille dem Streben und die Vorsehung dem Willen entspricht; und daß der ver-nunftbegabte Geist der Natur und Gott dem vernunftbegabten Geist entspricht usw. 4.Die rein natürlichen Begriffe müssen durch etwas verstandesbezogenere natürliche Be-griffe erklärt und definiert werden. Aber die Begriffe der vernünftigen Klasse müssendurch Begriffe der natürlichen Klasse definiert werden und ebenso die Begriffe der theo-logischen Klasse durch Begriffe der vernünftigen Klasse. So wird das Streben durch dieKraft des Tätigseins definiert, der Wille durch das Streben des menschlichen Geistesnach Tätigkeit und die Vorsehung durch den göttlichen Willen nach Wirksamkeit usw.5. In vielen Fällen darf man dieselben und ähnliche Begriffe in den einzelnen Klassenanwenden, andernfalls würde man das Denken allzusehr verdunkeln. Begriffe wie "solange", "andauern", "sich fortsetzen", "allein", "ist", "folgt" und "und" sind nämlich kei-ne wesentlichen Begriffe. Und könnte man sie auch in andere, der jeweiligen Klasse ei-gentümliche umwandeln, so ist es dennoch besser die gewohnten Begriffe dem Ver-ständnis zuliebe beizubehalten. 6. Ferner (darf man) die eine Formel der einen Klasse(in der anderen Klasse) durch mehrere Begriffe und durch Umschreibung ausdrücken,wie diese Formel: Das Streben allein ist eine tote Kraft. In den folgenden Klassen heißt

OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 64

das: Der Wille allein ist ein Streben, dem keine Tätigkeit folgt. D. h. "keine Tätigkeit"oder "Untätigkeit" ist dasselbe wie "tote Tätigkeit", was aber ungeschickt klingt. So ver-hält es sich auch in der dritten bzw. theologischen Klasse.

Zweites Beispiel

In der ganzen Natur ist ein wirkendes Prinzip vorhanden, das dem Streben der Natureingepflanzt ist. Daher bestimmt die Beschaffenheit dieses Prinzips die Beschaffenheitder Möglichkeit des Wirkens, und die Beschaffenheit der Möglichkeit die des Strebens,und die des Strebens die der Bewegung und daher die der Ursache.

In jedem menschlichen Geist ist die Vorstellung und die Liebe zu einem Endzweck vor-handen, die dem Willen des Geistes eingepflanzt ist. Daher bestimmt die Beschaffenheitder Liebe die des Verlangens, und die des Verlangens die des Wohlwollens und des Wil-lens, und die des Willens die der Tat und schließlich die der Erreichung des Endzwecks.

Es gibt eine allerreinste Liebe zu uns und für unser Heil, das der Endzweck der Schöp-fung ist. Sie ist Gottes Vorsehung eingepflanzt. Daher bestimmt die Beschaffenheit die-ser Liebe die seiner Gnade und Vorsehung, und die der Vorsehung die der Wirksamkeitund die unseres Heils, welches der Zweck aller Zwecke ist.

Höchst vollkommen ist die Ordnung und die Welt der Gegenstände (mundus repraesen-tativus), wenn die Vorsehung Gottes, der Wille und die Absicht (Endzweck) des mensch-lichen Geistes und das Streben und die Wirkung der Natur übereinstimmen. Unvoll-kommen ist dagegen die Ordnung und die Welt, wenn sie nicht übereinstimmen; undzwar genauso unvollkommen wie das Ausmaß der fehlenden Übereinstimmung.

Die folgenden Begriffe entsprechen einander: 1. Das wirkende Prinzip, die Vorstellungeines Endzwecks und die Liebe zum Schöpfungszweck, unserem Heil in Gott. Auf den er-sten Blick scheint etwas anderes als die Liebe in Gott dem wirkenden Prinzip in der Na-tur zu entsprechen. Da aber Gott Anfang und Ende von allem ist, kann man in Gott kei-nen Anfang angeben, es sei denn ihn selbst. Seiner Vorsehung kann man aber einenAnfang zugestehen, denn sie ist eine werktätige Kraft. Dieser Anfang kann jedochnichts anderes sein als seine reinste Liebe zum Menschen und für dessen Heil, demZweck der Schöpfung. 2. Wirkung, (End)zweck und Zweck der Zwecke bzw. Seelenheil. DieWirkung gehört in den Bereich der Natur, der Zweck aber in den des menschlichen Gei-stes, denn der Geist betrachtet eher die Zwecke als die Wirkungen und diese dann nurals werkzeugliche Ursachen zur Verwirklichung des Zweckes. Das rein Menschliche be-steht darin, aus einer Wirkung auf den Zweck zu schließen, d.h. allein aus der Gegen-wart der Dinge weise zu sein, und außerdem nichts Zukünftiges zu beurteilen. Aber imMenschengeist sind nur Teilzwecke vorhanden und erkennbar. Der Zweck der Zweckebzw. der allumfassende Zweck ist allein Gottes Sache. Diesen Zweck gilt es zu beschrei-

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ben, um ihn zu verstehen. Er besteht in der himmlischen Gesellschaft der Seelen, d.h.im Heil des menschlichen Geschlechts. 3. Möglichkeit, Wohlwollen und Gnade. Bekannt-lich sagt man Wohlwollen vom Menschen und Gnade von Gott aus. Aber was soll manin der Natur als Entsprechendes annehmen? Zweifellos die mehr oder weniger großeMöglichkeit, die Geneigtheit oder Bereitschaft zum Wirken, d.h. die Leichtigkeit, von derauch die Möglichkeit abgeleitet wird, die ansonsten "Macht", "Vermögen" usw. bezeich-net.

Bekräftigung der Leitsätze: 1. Daß die Natur ein wirkendes Prinzip ist, kann man denPhilosophen entnehmen, welche die Natur bestimmen. Chr. Wolff sagt, die allumfassen-de Natur oder die Natur wurde schlechthin ein Anfang der Veränderungen in der Weltgenannt. Die Natur ist eine aktive Kraft, eine Bewegerin oder etwas den bewegendenKräften Beigeselltes, d.h. dem Streben Beigeselltes, denn das Streben besteht in einerKraft, so daß das erwähnte Prinzip dem Streben eingepflanzt sein muß. Auch Aristotelessagt, daß Gott und die Natur nichts vergeblich machen, sondern alles um eines Zweckeswillen. Somit gehören das wirkende Prinzip und die Wirkung der Natur an, der Zweckhingegen Gott. Zweck und Wirkung zugleich gehören jedoch dem Menschen an. 2. Daßdie Liebe zu einem Zweck dem Willen des menschlichen Geistes eingepflanzt ist, ist hinläng-lich bekannt, denn der Wille kommt praktisch nicht zur Erfüllung, wenn nicht irgendeinAnreiz der Liebe oder das Verlangen nach einem Ziel vorhanden ist. Doch vergleiche dieStelle über den Willen. 3. Daß in Gott allein der Zweck vorhanden ist und daß die Naturaus eigener Kraft zur Hervorbringung der Zwecke durch Wirkungen hineilt, kann man derTatsache entnehmen, daß Gott über der Natur ist und mit ihr nichts gemein hat. Die Na-tur ist nämlich zur Hervorbringung der Zwecke der göttlichen Vorsehung geformt undgeschaffen worden, was die Ursache der Entsprechungen und Repräsentationen ist. DerSchöpfungszweck kann kein anderer sein, als eine allumfassende Gesellschaft der See-len, die Gott als den Endzweck von allem erkennt.

Regeln: 1. Zwei Prüfungsarten geben uns zu wissen, ob wir die Wahrheit begriffen ha-ben: Ob die physische Wahrheit in der ersten Klasse tatsächlich enthalten ist, zeigt sichin der zweiten und dritten, der sittlichen und theologischen Klasse. Und ob die sittlicheWahrheit (in der zweiten Klasse enthalten ist), zeigt sich in der physischen und theolo-gischen Klasse. Denn alles muß übereinstimmen und harmonieren, die Wahrheit ansich bekräftigen, da nämlich ein Entsprechungsverhältnis vorliegt. Wird es irgendwoverletzt, dann ist das kein Zeichen der Wahrheit, sondern des Irrtums. 2. Noch eine an-dere Prüfung tritt hinzu. Weil offenbar die Inhalte der drei Klassen so übereinstimmenkönnen, daß sie neben sich gestellt eine vierte Wahrheit hervorbringen - wie diese: dieWelt der Gegenstände ist vollkommen -, deswegen stimmen die Vorsehung Gottes, Wil-le und Absicht des Menschengeistes und Streben und Wirkung der Natur überein. So istdas eine das Urbild (exemplar), das andere das Abbild (typus) und das dritte das Nach-

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bild (simulacrum). Alles Göttliche ist urbildlich, die intellektuellen, sittlichen und bür-gerlichen Dinge sind Abbilder und Bilder, die natürlichen und physischen Dinge hinge-gen sind Nachbilder. Daher werden sich die Urbilder, die Abbilder und die Nachbildervollständig darstellen. Auch besteht ein gegenseitiges Entsprechungsverhältnis undHarmonie, denn eines wird vom anderen anerkannt und anerkennt es als etwas dieseseine im Auge Habende.

Drittes Beispiel

Es gibt keine Bewegung ohne Streben, aber Streben ohne Bewegung. Wenn nämlich dasgesamte Streben in offene Bewegung ausbräche, ginge die Welt zugrunde, denn es gäbekein Gleichgewicht.

Es gibt keine Tätigkeit ohne Willen, aber Willen ohne Tätigkeit. Wenn der gesamte Wil-le in offene Tätigkeit ausbräche, ginge der Mensch zugrunde, denn es gäbe keine Waageder Vernunft, keine Mäßigerin.

Es gibt keine göttliche Wirksamkeit ohne Vorsehung, aber mit Sicherheit eine Vorse-hung, die nicht werktätig oder wirkend ist. Wenn die gesamte Vorsehung wirkend amWerke wäre, könnte die menschliche Gesellschaft nicht bestehen bleiben, wie sie ist,denn es gäbe keinen wahren Gebrauch der menschlichen Freiheit.

Entsprechungen: 1. Welt, Mensch, menschliche Gesellschaft. Denn der Mensch wird einMikrokosmos, eine kleine Welt, genannt; und die menschliche Gesellschaft eine großeWelt, französisch Le monde. Damit es eine Welt gibt, ist eine Natur erforderlich; damites einen Menschen gibt, ist ein vernunftbegabter Geist erforderlich; damit es einemenschliche Gesellschaft gibt, muß es Gott geben. Was das Göttliche ist, erkennt manin der menschlichen Gesellschaft und ganz besonders in der umfassendsten Gesell-schaft, der himmlischen Seelengesellschaft. 2. Gleichgewicht, Waage der Vernunft bzw.die Vernunft als Mäßigerin, wahrer Gebrauch der Freiheit. Vieles bändigt und beschränktden menschlichen Willen, so daß er nicht in offene Tätigkeit ausbricht. Es gibt Zügelund Widerstände verschiedenster Art: Unschickliches, Unehrenhaftes, verschiedeneLiebesarten und Leidenschaften, von denen eine die andere zügelt, Furcht, Notwendig-keiten, Unmöglichkeiten. Damit daher im Geist ein Gleichgewicht herrscht, ist die mä-ßigende Vernunft, die Klugheit oder wägende Vernunft, erforderlich. Außerdem ent-spricht auch noch die Gerechtigkeit dem Gleichgewicht, aber nur wo das Gerechte undUngerechte Gegenstand der Rede ist. Der wahre Gebrauch der Freiheit ist das eigentli-che Gleichgewicht der menschlichen Gesellschaft, der Mißbrauch hingegen ist die Zer-störung des Gleichgewichts. Regierungsformen, Herrschende, Untergebene, Strafen undAuszeichnungen gibt es einzig und allein zur Zügelung der Freizügigkeit und zur Be-schränkung, damit man die gestattete Freiheit wahrhaft hat. Wenn nämlich der göttliche

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Wille absolut herrschte, dann gäbe es keine Freiheit der jetzigen Art. Und ohne Freiheitgäbe es auch das eigentlich Menschliche nicht. Daher würde auch die Gesellschaft nichtbleiben wie sie ist. Siehe Freiheit.

Bekräftigung der Leitsätze: 1. Daß die Welt zugrunde ginge, wenn das gesamte Strebenin offene Bewegung ausbräche, hat folgenden Grund: In der ganzen Welt gibt es keineSubstanz, der nicht die Kraft und das Streben nach Tätigkeit, d.h. ihre Natur, inne-wohnt. Das gilt sogar für die schwereren Körper und Elemente. Daß sich die atmosphä-rischen Teile ausbreiten wollen, ist bekannt. Aber daß sich die unteilbaren (Teilchen)gegenseitig zusammen und in Schranken halten - woher das Gleichgewicht kommt -, (istein Prinzip), das ebenso die Teile wie das Ganze betrifft. 2. Ähnlich verhielte es sich mitder Vernunft, wenn der ganze Wille in offene Tätigkeit ausbräche. Dann ginge nämlich derMensch verloren, oder: es gäbe keinen vernunftbegabten Geist, denn der Mensch ist nurinsoweit da als der vernunftbegabte Geist da ist. Das Menschliche besteht daher darin,seine Begierden und die unsinnigen Anstrengungen, sie auszuleben zügeln zu können.Wäre daher der Mensch dieser Machtmöglichkeit beraubt, er hörte gänzlich auf zu exi-stieren. Außerdem sind die inneren Empfindungs- (sensoria interna) oder besser Be-wegnerven (motoria), wie auch die Körpermuskeln so zusammengestellt, daß ein ge-meinsames Gleichgewicht aller Teile besteht, wenn alles zugleich auf eine Tat hinaus-läuft. Tätigkeit fließt nämlich überreichlich aus einer größeren, aus Teilen bestehendenKraft unter einer gemeinsamen Kraft. 3. Daß die Vorsehung Gottes nicht wirksam bzw.wirkend in Erscheinung tritt, ist eine theologische Wahrheit. Gott sieht vor und will dasHeil aller Menschen, aber dieser allumfassende Wille, Vorsehung genannt, bleibt wir-kungslos, denn es gibt Menschen, die der göttlichen Gnade widerstehen, in denen dieVorsehung nicht wirkend und wirksam sein kann.

Martin Walser und Swedenborgvon Thomas Noack

Christiane Gollwitzer sandte uns den Artikel "Sprache, sonst nichts" von Martin Walser,erschienen in der Wochenzeitschrift "Die Zeit" vom 30. September 1999. Darin entfaltetder Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels sein Verständnis von Sprache undWelt, von Sprachwelt, - und bekennt sich zu Swedenborg, nennt ihn seinen "Paten". Ei-nigen mißfiel dies selbstverständlich: "Herr Walser, was fällt Ihnen ein?! Der schwedi-sche Wissenschaftler und Theosoph Emanuel Swedenborg - ein Durchdenker?" (DavidAxmann). Uns mießfiel es nicht, weswegen wir besagten Artikel in Auszügen unserenLesern zur Kenntnis geben wollen.

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Martin Walser: "Man kann nicht über das reden, was der Sprache entspricht oder nichtentspricht, ohne Emanuel Swedenborg zu nennen. Er ist der erfahrungsreichste und le-bendigste Durchdenker dieses Zusammenhangs. 'Die ganze natürliche Welt', schreibtSwedenborg, 'entspricht der geistigen; daher nennt man alles, was in der natürlichenWelt aus der geistigen entsteht, etwas Entsprechendes.' 'Der Mensch, welcher Himmelund Welt in kleinster Gestalt ist, hat sowohl die geistige, wie die natürliche Welt insich.' 'Was daher in seiner natürlichen Welt … durch seine geistige Welt … bewirkt wird,nennt man etwas Entsprechendes.' Die Ursache-Wirkungsfolge ist bei Swedenborg ein-deutig: von innen nach außen. Die Bibel, sagt er, sei 'in lauter Entsprechungen ge-schrieben; jedes Wort darin bedeutet eine Entsprechung'. Er sei vom Himmel belehrtworden, 'daß die Diener der ältesten Kirche auf Erden, welche Menschen des Himmelswaren, nur in Entsprechungen gedacht haben, wobei ihnen die natürlichen Dinge derWelt, die sie vor Augen hatten, als Ausdrucksmittel dienten; deshalb gehörten sie zuden Engeln und redeten mit ihnen, und so waren Himmel und Welt durch sie verbun-den'. Dann seien die Menschen 'allmählich äußerlich geworden und schließlich ganzmateriell, worauf die Lehre von den Entsprechungen verlorengegangen sei ...' Das isteine Sprachgeschichte der Religion. Die ist aber unsere Ausdruckssprache schlechthin.Hergebeten habe ich Swedenborg, weil er unser Inneres, Geist und Seele oder Wasau-chimmer, so ganz und gar zum Ausdrucksursprung des Sprachlichen gemacht hat. Abergegeben hat es das, sagt er, nur in einem Golden genannten Zeitalter, als die Menschennoch nicht, wie Swedenborg sagt, 'sich durch Selbstliebe und Weltliebe vom Himmelentfernt haben'. Danach werden die Dinge von 'Entsprechungen' zu 'Erscheinungen',die Sprache fängt an, sich selber zu entsprechen. Notgedrungen. Selbstbezogenheit, dasist jetzt ihre Eigenschaft. Je nötiger Gott wäre, um so deutlicher wird jetzt, daß er ausnichts bestehe als aus Sprache. Statt etwas haben wir Wörter. Schon Jakob Böhme konn-te nicht umhin, seine Figur so ins Wörtliche treiben zu lassen: '... und durch seinenMund bei drei Stunden anders nicht gesprochen, als nur solche Worte: Gott, Kot, Gott,Kot, und sich vor Gott als Kot geachtet.'

… Swedenborg hatte die seltene Gabe, den Himmel erlebbar zu schildern. Bei der Höllefällt das leichter, die Hölle hat von Dante bis Strindberg erregende Darsteller gefunden.Swedenborg erzählt, als sei er dabei gewesen, wie die feinste Art Engel, die des inner-sten Himmels, wie diese Engel 'die göttliche Wahrheit' entgegennehmen: 'Diese Engelvergraben die göttlichen Wahrheiten nicht in ihrem Gedächtnis, bilden sich also auchkein Wissen aus ihnen, sondern nehmen sie gleich nach dem Hören in sich auf und set-zen sie in Leben um … Anders die Engel im äußeren Himmel; diese prägen sich dieWahrheiten erst ins Gedächtnis ein, verschließen sie in ihrem Wissen, holen sie späterwieder daraus hervor und vertiefen sie mit ihrem Verstande; sie richten sich nach ih-nen, ohne ihre Richtigkeit mit der inneren Erfahrung zu prüfen … Merkwürdigerweise

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werden die Engel des dritten Himmels durch das Gehör und nicht den Gesichtssinn anWahrheit vollkommener.' Mir tut das gut, das Gehör so ausgezeichnet zu sehen: derSinn, mit dem wir die 'göttliche Wahrheit' beziehungsweise das Wesentliche, nämlichSprache, erleben. Und daß wir, was wir so empfangen, nicht als Wissen hörten, sonderngleich in Leben umsetzen, darf nicht auf den Himmel beschränkt bleiben. Wo das Wis-sen so in die Schranken gewiesen wird, muß ein anderer Pate herzitiert werden, SörenKierkegaard Wir haben zuviel zu wissen gekriegt und fangen zu wenig damit an." Wiewahr!

"Die Sprache ist ganz genauso ein Element des Historischen wie des Augenblicklichen.Sie ist das einzige Universale, das du praktizieren möchtest. Sie hat ein Eigenleben seitlangem, und sie hat ein Eigenleben in dir." So auf den Sprachmenschen Martin Walsereingestimmt, wollte ich das Eigenleben seiner Sprache hören, sie sei ein "Produktions-mittel, das versagt, wenn man es beherrschen will", und kaufte seine Novelle "Ein flie-hendes Pferd". "… diese Geschichte könnte zu dem gehören, das einmal übrigbleibt voneinem Jahrhundert." (Stuttgarter Zeitung).

Eine Novelle über die permanente Selbstverfehlung des modernen Menschen. Studien-rat Helmut Halm möchte inkognito existieren. Er ist auf der Flucht vor sich selbst: imUrlaub. Frau Sabine begleitet ihn bei diesem Unternehmen. Da stellt sich ihm dasSchicksal in den Weg: Klaus Buch mit Frau Helene, genannt Hel; angeblich Helmut'sSchulkamerad, Jugendfreund und Kommilitone. Der Urlauber Halm freilich erinnert sichan nichts, möchte jedoch diese Peinlichkeit nicht preisgeben. So entsteht die Urlaubs-freundschaft zwischen zwei völlig unterschiedlichen Charakteren. Eigentlich würdeman sich aus dem Weg gehen; aber erstens ist man im Urlaub und zweitens ist manMensch, also Anstand bewahren, die Scheinproduktion des gesellschaftlichen Lebensaufrecht erhalten.

Eine Szene im Restaurant Hecht, nicht die wichtigste, aber für uns interessant: KlausBuch "und Hel schauten eine Zeit lang stumm zu, wie Sabine und Helmut die Käseplatteleerten, Weißbrot aßen, Rotwein tranken. Als Helmut die von Entsetzen geweiteten Au-gen der Buchs zum dritten Mal durch Aufschauen zur Kenntnis genommen hatte, sagteer, Hels und Klaus' Zuschauen erinnere ihn an eine Szene aus dem Leben des großenschwedischen Philosophen Emanuel Swedenborg. Der habe, als er schon über fünfzigund ein berühmter Mann gewesen sei, einmal allein in seinem Zimmer gegessen. Plötz-lich habe er in einer Ecke seines Zimmers einen Mann wahrgenommen, der in dem Au-genblick zu Swedenborg herübersagte: Iß nicht soviel. Und wie hat der Herr Philosophreagiert, fragte Hel. Von dieser Stunde an nahm er nur noch eine Semmel in gekochterMilch zu sich. Und viel Kaffee. Den aber unmäßig süß. Na bitte, sagte Hel. Swedenborg,Klaus, bitte, merk dir den Namen, der interessiert mich." Danke, Martin Walser! Gut

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gemacht! Hoffentlich merken sich nun auch die Leser Deiner Novelle den Namen Swe-denborg.

"Ein fliehendes Pferd", so nennt Martin Walser seine Novelle. In der Schlüsselszene, einPferd, in wilder Flucht, rennt durch ein Dorf, sagt Klaus Buch: "Einem fliehenden Pferdkannst du dich nicht in den Weg stellen. Es muß das Gefühl haben, sein Weg bleibt frei.Und: ein fliehendes Pferd läßt nicht mit sich reden." In Martin Walser's Novelle sindgewissermaßen alle auf der Flucht. Der Ausweg kann nur als Katastrophe erlebt wer-den, - die freilich alle um Himmels willen vermeiden wollen. Nach Walser's Grundüber-zeugung ist die Beschädigung des Menschlichen gesellschaftlich bedingt; die heute ak-tuellen Sozialisationsformen lassen dem Individuum keine Chance, zu sich selbst zufinden.

Martin Walser muß an Swedenborg gedacht haben, als er seiner Gesellschaftskritik denTitel "Ein fliehendes Pferd" gab. Denn nach Swedenborg steht es für die Dynamik desGeistes, der seine dynamis nur im Verständnis des Wahren entfalten kann. Der Preis,den ein fliehendes Pferd für die Flucht vor sich selbst bezahlen muss ist groß. Er heißt:Leblosigkeit, Untergang im Konventionellen. Gestorben ist jeder, der seine eigene Spra-che verloren hat.

Ein Swedenborgianer liest Hahnemann und Kentvon Thomas Noack

Vorbemerkung der Schriftleitung: Am 5. März 2000 fand im Swedenborg Zentrum Zürich ein an-regendes Seminar über "Swedenborg und die Homöopathie" statt. Zahlreiche Homöopathen ausder Schweiz und aus Deutschland waren anwesend. Das Seminar wurde von Pfarrer Thomas No-ack und der Heilpraktikerin und klassischen Homöopathin Dagmar Strauß geleitet. Mit dieserNummer der Offenen Tore lösen wir ein damals gegebenes Versprechen ein, die Veröffentlichungder Vortragsunterlagen und weiterer Materialien.

1. Samuel Hahnemann und Swedenborg

1.1. Zur Geistesverwandtschaft

Samuel Hahnemann (1755-1843), der Begründer der Homöopathie, scheint von Swe-denborgs theologischen Schriften nicht beeinflusst worden zu sein, "obgleich er wahr-scheinlich mit einigen anatomischen Werken aus Swedenborgs früheren Jahren vertrautwar."39 Maguerite Block, die eine umfangreiche Geschichte der Swedenborgkirche in 39 Maguerite Block, The New Church in the New World, 1984, 162. Frau Block stützt sich auf New

Church Review, Vol. 31, p. 290.

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Amerika geschrieben hat, erklärt daher die Ähnlichkeiten in beiden Systemen mit einergemeinsamen Wurzel und nennt Paracelsus, "dessen gründliche Studenten beide, Hah-nemann und Swedenborg, waren und dessen Lehre von den 'Signaturen' für einenGroßteil der Ähnlichkeiten zwischen ihren Theorien verantwortlich ist."40 Elinore Pee-bles weist auf zwei Persönlichkeiten hin, die swedenborgsche Gedanken an Hahnemannvermittelt haben könnten: "Wir wissen, dass … Hahnemann in Kontakt mit JohannWolfgang von Goethe und Heinrich Heine stand und für sie wohl auch Verordnungenausstellte; beide waren mit der geistigen Seite der Philosophie Swedenborgs vertrautund von ihr angetan."41 Und schließlich sei erwähnt, dass Hahnemann in das erstmals1810 veröffentlichte "Organon der rationellen Heilkunde" naturphilosophische Gedan-ken von Friedrich W. J. Schelling einbezog, der ebenfalls von Swedenborg beeinflusstwar. Dennoch hat sich trotz zahlreicher Bemühungen eine direkte Beeinflussung Hah-nemanns durch Swedenborg bisher nicht nachweisen lassen.

1.2. Lebenskraft nach Hahnemann und Seele nach Swedenborg

Ergänzend zu dem in diesem Heft der Offenen Tore bereits Gesagten, möchte ich auf ei-nige Ähnlichkeiten zwischen Hahnemann und Swedenborg hinweisen, indem ich Zitategegenüberstellen werde. Hahnemann rechnet im Organismus mit einer "Lebenskraft",die der Seele (anima) im swedenborgschen System sehr ähnlich ist. Hahnemannschreibt: "Der materielle Organism, ohne Lebenskraft gedacht, ist keiner Empfindung,keiner Thätigkeit, keiner Selbsterhaltung fähig; nur das immaterielle, den materiellenOrganism im gesunden und kranken Zustande belebende Wesen (das Lebensprincip, dieLebenskraft) verleiht ihm alle Empfindung und bewirkt seine Lebensverrichtungen."42

Ähnliches weiß Swedenborg von der Seele zu berichten; im folgenden Text taucht sogarauch der Begriff "Lebenskraft" auf: "Wer gründlich darüber nachdenkt, kann wissen,daß nicht der Körper denkt, sondern die Seele, da sie geistig ist. Die Seele des Men-schen, über deren Unsterblichkeit viele geschrieben haben, ist sein Geist. Dieser ist inder Tat unsterblich, und zwar mit allem, was zu ihm gehört. Er ist es auch, der im Kör-per denkt, eben weil er geistig ist und das Geistige in sich aufnimmt und geistig lebt,das heißt denkt und will. Daher gehört alles geistige Leben, das im Körper erscheint,dem Geist, und auch nicht im geringsten dem Körper an. Wie bereits gesagt, ist ja derKörper stofflich, und das dem Körper eigentümliche Stoffliche ist dem Geist nur hinzu-gefügt und fast etwas wie eine Nebensache, unerläßlich für den Geist des Menschen in

40 M. Block, a.a.O., 162.41 Elinore Peebles, Homeopathy and the New Church, 472, in: Emanuel Swedenborg: A Continuing Vi-

sion, herausgegeben von Robin Larsen u.a., 1988, 468 - 472.42 Samuel Hahnemann, Organon der Heilkunst, Textkritische Ausgabe der sechsten Auflage, Heildel-

berg: Haug, 1999, § 10. Diese Ausgabe wird im Haupttext zitiert.

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der natürlichen Welt, in der alles stofflich und an sich leblos ist, um hier sein Lebenführen und Nutzen schaffen zu können. Da nun das Stoffliche nicht lebt, sondern nurdas Geistige, können wir es als feststehend ansehen, daß alles, was beim Menschenlebt, seinem Geist angehört und der Körper diesem nur dient – ganz wie ein Werkzeugder bewegenden Lebenskraft (vi moventi vitae). Zwar sagt man von einem Werkzeug, eswirke, bewege oder stoße, doch anzunehmen, daß es wirklich das Werkzeug sei undnicht der Mensch, der dahinter steht und wirkt, bewegt und stößt, ist eine Täuschung."(HH 432).

1.3. Was ist demnach Krankheit?

Krankheiten sind dementsprechend Verstimmungen der Lebenskraft. Hahnemann: DieKrankheiten sind "(geistartige) dynamische Verstimmungen unseres geistartigen Le-bens in Gefühlen und Thätigkeiten, das ist, immaterielle Verstimmungen unsers Befin-dens" (Organon S. 27). "Wenn der Mensch erkrankt, so ist ursprünglich nur diese geist-artige, in seinem Organism überall anwesende, selbstthätige Lebenskraft (Lebensprincip)durch den, dem Leben feindlichen, dynamischen Einfluß eines krankmachenden Agensverstimmt; nur das zu einer solchen Innormalität verstimmte Lebensprincip, kann demOrganism die widrigen Empfindungen verleihen und ihn zu so regelwidrigen Thätigkei-ten bestimmen, die wir Krankheit nennen, denn dieses, an sich unsichtbare und bloß anseinen Wirkungen im Organism erkennbare Kraftwesen, giebt seine krankhafte Ver-stimmung nur durch Aeußerung von Krankheit in Gefühlen und Thätigkeiten …, das ist,durch Krankheits-Symptomen zu erkennen und kann sie nicht anders zu erkennen ge-ben." (§ 11).

1.4. Vom inneren Wesen zum äußeren Entsprechungsbild(Symptomatik) der Krankheiten

Der krankmachende Einfluss verwirklicht sich daher von innen nach außen. Hahne-mann: "Auch besitzen die feindlichen, theils psychischen, theils physischen Potenzenim Erdenleben, welche man krankhafte Schädlichkeiten nennt, nicht unbedingt dieKraft, das menschliche Befinden krankhaft zu stimmen; wir erkranken durch sie nurdann, wenn unser Organism so eben dazu disponirt und aufgelegt genug ist, von dergegenwärtigen Krankheits-Ursache angegriffen und in seinem Befinden verändert, ver-stimmt und in innormale Gefühle und Thätigkeiten versetzt zu werden - sie machen da-her nicht Jeden und nicht zu jeder Zeit krank." (§ 31). Swedenborg wendet sich in sei-nem Werk "Über den Verkehr zwischen Seele und Körper" gegen die Vorstellung eines"physischen Einfließens" (von außen nach innen) und vertritt die Vorstellung eines"geistigen Einfließens" (von innen nach außen).

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Die nach außen sichtbare Krankheit ist ein Entsprechungsbild der seelisch-geistigenKrankheit. Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, dass es Verletzungen des Kör-pers (Unfälle) gibt, die der Chirurg zu reparieren hat; damit soll aber der Blick geöffnetwerden für ein Verständnis von Krankheit, das diese nicht mit ihrem organischen Aus-druck gleichsetzt. Die Symptome sind für Hahnemann nur das "nach außen reflectiren-de Bild des innern Wesens der Krankheit" (§ 7). Er nennt sie auch "Krankheitszeichen"(§ 19). Diese Sichtweise deckt sich mit dem, was Swedenborg über das Wesen der Ent-sprechungen zu sagen hat: "Zuerst also soll gesagt werden, was Entsprechung ist: Dieganze natürliche Welt entspricht der geistigen, und zwar nicht nur im allgemeinen,sondern auch im einzelnen. Deshalb heißt alles, was in der natürlichen Welt aus dergeistigen heraus entsteht, Entsprechendes. Man muß wissen, daß die natürliche Weltaus der geistigen entsteht und besteht, ganz wie die Wirkung aus ihrer wirkenden Ur-sache. Zur natürlichen Welt gehört alles räumlich Ausgedehnte, das unter der Sonne istund aus ihr Wärme und Licht empfängt, und zu dieser Welt gehört auch alles, was vonjener aus besteht. Die geistige Welt aber ist der Himmel, und es gehört alles zu ihr, wasin den Himmeln ist. Weil der Mensch ein Himmel und auch eine Welt in kleinster Ge-stalt ist, nach dem Bilde des größten, darum findet sich bei ihm sowohl die geistige alsauch die natürliche Welt: die innerlichen Bereiche, die zu seinem Gemüt gehören undsich auf Verstand und Willen beziehen, bilden seine geistige Welt, die äußerlichen aber,die seinem Körper angehören und sich auf dessen Sinne und Handlungen beziehen,stellen seine natürliche Welt dar. Als Entsprechendes wird daher alles bezeichnet, was inseiner natürlichen Welt, also in seinem Körper und dessen Sinnen und Handlungen, ausseiner geistigen Welt heraus entsteht, also aus seinem Gemüt und dessen Verstand und Wil-len." (HH 89f).

2. James Tyler Kent und Swedenborg

2.1. Der Swedenborgianer Kent interpretiert Hahnemanns Organon

Die Grundwahrnehmung ist also bei Hahnemann und Swedenborg ähnlich. Daher konn-te nun James Tyler Kent (1849 - 1916), der ein Swedenborgianer war und bis heute ei-ner der einflußreichsten Homöopathen ist, Vorlesungen über Hahnemanns Organon hal-ten und dabei dieses Grundlagenwerk ganz im Sinne Swedenborgs interpretieren, ohnevon Hahnemann abzuweichen.

2.2. Krankheit verwirklicht sich von innen nach außen

Kent beginnt seine "Lectures on Homoeopathic Philosophy" (Vorlesungen über homöo-pathische Philosophie) mit einem Kapitel mit der Überschrift "Der Kranke". Darin legter den ersten Paragraphen des hahnemannschen Organons aus, der da lautet: "Des Arz-

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tes höchster und einziger Beruf ist, kranke Menschen gesund zu machen, was man hei-len nennt." Interessant aus swedenborgscher Sicht ist das von Kent entfaltete Krank-heitsverständnis. Krankheit ist Unordnung im menschlichen Wesen und verwirklichtsich dementsprechend von innen nach außen. Kent schreibt: "Alle Krankheit fließt vomInnersten zum Äußeren"43 (51). "Wenn der innere Mensch krank ist, dann ist es nur ei-ne Frage der Zeit, bis sich in seinem Körper die Krankheit einstellen wird, weil der in-nere Mensch den äußeren formt." (67). "Krankheit kann nur vom Zentrum her in denMenschen einfließen und von da aus auf die äußeren Teile wirken, indem es die Regiestört, und das ist die ganze Krankheit." (54f). "Alle Krankheitsursachen gründen in derimmateriellen Lebenskraft. Es gibt keine Krankheitsursachen im Stofflichen, die ge-trennt von der Lebenskraft betrachtet werden können." (111). "Die Krankheiten ent-sprechen den Neigungen der Menschen, und die Krankheiten der heutigen Menschheitsind der äußere Ausdruck dessen, wie es innen im Menschen aussieht" (209). "Das Bildseines eigenen Innern kommt in der Krankheit zum Vorschein." (209). "Die reinenKrankheiten andererseits, ob erworben oder ererbt, sind jene, die sich aus dem Inner-sten nach der Peripherie auswirken und dabei den Menschen krank machen." (186).

Das alles steht Swedenborgs Verständnis von Krankheit sehr nahe: "Weil von der Ent-sprechung der Krankheiten gehandelt werden soll, so muß man wissen, daß auch alleKrankheiten im Menschen eine Entsprechung mit der geistigen Welt haben; denn wasin der ganzen Natur keine Entsprechung hat mit der geistigen Welt, das kann nicht exi-stieren, denn es hat keine Ursache, aus der es entsteht, folglich (auch keine), kraft dereres besteht." (HG 5711). "Die Krankheiten entsprechen den Begierden und Leidenschaf-ten des Lebensgeistes (animi). Diese sind auch die Ursprünge der Krankheiten, denndiese sind im allgemeinen Unmäßigkeit, allerlei Üppigkeit, rein sinnliche Vergnügun-gen, dann auch Neid, Haß, Rache, Unzucht und dergleichen, was das Inwendigere desMenschen zerstört; und wenn dieses zerstört ist, leidet das Auswendigere und ziehtdem Menschen Krankheit und dadurch den Tod zu … Aus dem Gesagten kann erhellen,daß auch die Krankheiten eine Entsprechung haben mit der geistigen Welt, aber mitden unreinen Dingen daselbst." (HG 5712).

Die Krankheit, die sich schließlich im Äußeren zeigt, also die Gesamtheit der Sympto-me, ist ein Entsprechungsausdruck des eigentlichen, inneren Krankheitsgeschehens.Kent: "Wie das Innere ist, so ist auch das Äußere, und das Äußere kann nur so sein wiedie Auswirkungen des Innersten." (208). "Wir haben gesehen, daß wir die Krankheitdurch Sammeln von Symptomen kranker Menschen studieren müssen, indem wir uns

43 J. T. Kent, Prinzipien der Homöopathie, 1996, 51. Eine deutsche Übersetzung von Kents "Lectures on

Homoeopathic Philosophy". Im Folgenden bezieht sich die Seitenzahl im Haupttext immer auf dieseÜbersetzung.

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auf die Symptome als Sprache der Natur stützen und daß die Totalität der Symptome dieNatur und Qualität der Krankheit darstellt und alles ist, was wir von dieser wissen müs-sen." (283). "Die Krankheit zeigt sich oder drückt sich aus durch die Totalität der Sym-ptome, und diese Totalität (welche die Sprache der Natur bedeutet) ist nicht selbst dieEssenz der Krankheit, sie repräsentiert nur die Unordnung des inneren Menschen."(38). "Alle heilbaren Krankheiten können vom Arzt an ihren Zeichen und Symptomenerkannt werden." (55). Kent nennt die Symptome die "Sprache der Natur" (321).

Krankheit in diesem Sinne ist ursächlich eine Störung im inneren Menschen, die - wieein ins Wasser gefallener Stein - ihre Kreise bis zur Peripherie des materiellen Orga-nismus zieht. Störungen, die dort nicht aus der Lebenskraft resultieren, nicht von innenverursacht werden, sollten Verletzungen genannt werden, nicht Krankheiten. Kentschreibt: "Wenn nur das Äußere des Menschen beeinflußt wird, ist seine Lebenskraftnur vorübergehend gestört." (133).

2.3. Der Gemütsbegriff

Der geistige Ursprungsort der Krankheiten ist das Gemüt (mens). Kents Gemütsbegriffgleich demjenigen Swedenborgs vollkommen: "Die Verbindung von Willen undVerstand macht den eigentlichen Menschen aus." (18). "Deshalb hat der Arzt nur deninneren Menschen in Ordnung zu bringen, das heißt Wollen und Denken miteinanderzu verbinden." (20). Hahnemann stellte fest, "der Geist sei der Schlüssel zum Men-schen. Allen seinen Nachfolgern haben sich die Gemütssymptome als die wichtigstenim Arzneimittel- wie im Krankheitsbild erwiesen. Der Mensch besteht aus dem, was erdenkt und was er liebt, aus sonst nichts." (24). "Das erste am Menschen ist sein Willen,das zweite sein Verstand, das letzte sein Äußeres bis zu seiner Peripherie, seinen Orga-nen, Haut, Haaren, Nägel usw." (31). "Im Menschen liegt diese zentrale Leitung im Ge-hirn, und von ihm aus werden alle Nervenzellen beherrscht." (39). "Durch göttlicheAusstattung hat der Mensch in sich ein primäres Ordnungszentrum, das in der grauenSubstanz des Gehirns angeordnet ist." (50). "Denken und Wollen bilden einen Zustandim Menschen, der den Zustand, in dem er sich befindet, erkennen läßt. Solange derMensch das denkt, was wahr ist und an dem, was für alle seine Nachbarn gut ist, anAufrichtigkeit und Gerechtigkeit festhält, so lange wird der Mensch auf Erden frei seinvon der Anfälligkeit für Krankheit, denn das war der Zustand, für den er erschaffen war.Solange er sich in diesem Stand hielt und seine Integrität wahrte, blieb er unempfäng-lich für Krankheit und würde kein Fluidum verbreiten, das zur Infektion führt. Doch alsder Mensch anfing, Dinge zu wollen, die seinem falschen Denken entsprangen, geriet erin einen Zustand, der seinem Inneren ganz entsprach. So wie sein Willen und Verstandsind, wird auch das Äußere des Menschen sein. So wie das Leben oder der Wille istauch der Körper des Menschen, und da beide auf dieser Erde eines sind, wird von ihm

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eine Aura entwickelt, die verderbt, entsprechend seinem Weg von der Tugend und Ge-rechtigkeit zum Bösen" (206).

Jeder Kenner hört aus diesen Aussagen Kents die Stimme Swedenborgs sprechen. Den-noch seien die folgenden Vergleichstexte aus den Werken des Sehers zitiert. Das Gemüt(mens) definiert er folgendermaßen: "Zwei Anlagen bestimmen das Leben des Men-schen, Wille und Verstand genannt. Sie unterscheiden sich zwar voneinander, sind aberdoch so beschaffen, daß sie eine Einheit darstellen sollen, und wenn das der Fall ist,werden sie als Gemüt bezeichnet. Sie bilden daher das menschliche Gemüt, und auf ih-nen beruht das ganze Leben des Menschen." (NJ 28). Bei wiedergeborenen (geistig re-generierten) Menschen wird das gespaltene Gemüt wieder eine Ganzheit: "Beim wie-dergeborenen Menschen bilden Verstand und Wille ein (ganzheitliches) Gemüt." (HG9300). Das Gemüt (der Mentalbereich) hat seinen Sitz im Gehirn (GLW 273). "Der Willezusammen mit dem Verstand ist im Gehirn in seinen Anfängen und im Körper in seinenAbleitungen" (GLW 403). Kent und seinen Schülern haben sich die Gemütssymtomevon daher als die beherrschenden eingeprägt. Das ist aus swedenborgscher Sicht nach-vollziehbar, denn die Anfänge des körperlichen Prozesses (Physiologie) liegen in derMentalstruktur (Gemüt) des Menschen. Es gibt eine "Entsprechung zwischen Gemütund Körper" (GLW 273). "Weil der Mensch ein Himmel und auch eine Welt in kleinsterGestalt ist, nach dem Bilde des größten … darum findet sich bei ihm sowohl die geistigeals auch die natürliche Welt: die innerlichen Bereiche, die zu seinem Gemüt gehörenund sich auf Verstand und Willen beziehen, bilden seine geistige Welt, die äußerlichenaber, die seinem Körper angehören und sich auf dessen Sinne und Handlungen bezie-hen, stellen seine natürliche Welt dar. Als Entsprechendes wird daher alles bezeichnet,was in seiner natürlichen Welt, also in seinem Körper und dessen Sinnen und Handlun-gen, aus seiner geistigen Welt heraus entsteht, also aus seinem Gemüt und dessenVerstand und Willen." (HH 90).

Swedenborg geht von der Leiblichkeit des Geistigen (Geistleiblichkeit) aus, die auch beiKent zum Vorschein kommt. Im folgenden Text erwähnt Kent die innere Lunge:"Schwindsucht ist ein tuberkulöser Zustand der Lunge, der aber seinerseits die Folgevon Störungen des inneren Menschen ist, die in der 'inneren' Lunge wirken, lange vordem Zusammenbruch der Gewebe." (70). "Als wissenschaftliche Homöopathen müssenwir erkennen, daß die Muskeln, Nerven, Bänder und die anderen Teile des menschli-chen Körpers ein Bild sind, das dem einsichtigen Arzt den inneren Menschen offenbart.Man kann nicht vom toten Körper her das Leben verstehen, sondern muß den Körpervom Leben her begreifen." (18f). Die geistige Leiblichkeit, die sich unsichtbar unserenmateriellen Augen während des Erdenlebens entwickelt (Prozess der Wiedergeburt),tritt nach der Trennung des Geistlebens von der materiellen Leiblichkeit (also nach demsogenannten Tod) in Erscheinung. Aufgrund jahrzehntelanger spiritueller Erfahrungen

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versichert uns Swedenborg: "Die Gestalt des menschlichen Geistes ist die menschliche.Mit anderen Worten: der Geist ist auch hinsichtlich seiner Gestalt Mensch." (HH 453).Dieser geistigen Leiblichkeit gelten die homöopathischen Heilbemühungen; der materi-elle Körper profitiert lediglich davon.

2.4. Kents methodischer Halt beim Gemütsbegriff und SwedenborgsHöllenreise

Kent gibt deutlich zu verstehen, daß er bei seiner Suche nach den geistigen Ursachender Krankheiten über den Gemütsbegriff nicht hinausgehen möchte: "Wir haben nichtdie Absicht bis jenseits von Wollen und Denken vorzudringen" (18). Kent macht offen-bar aus methodischen Gründen, um nicht ins Uferlose abzugleiten, beim GemütsbegriffHalt und nimmt ihn als relativen Anfangspunkt seiner Theorie des homöopathischenHeilens.

Doch nach Swedenborg steht das Gemüt mit Geistern in Verbindung, so dass die Ursa-chen der Krankheiten bis in die Welt der Geister zurückverfolgt werden können. Dazudie folgende Kostprobe: "Alle Höllengeister führen Krankheiten herbei, (wiewohl mitUnterschied,) aus dem Grund, weil alle Höllen in den Lüsten und Begierden des Bösensind, mithin im Gegensatz zu dem, was dem Himmel angehört. Daher wirken sie ausdem Gegensatz auf den Menschen ein. Der Himmel, welcher der Größte Mensch ist, er-hält alles im Zusammenhang und im unversehrten Stand; die Hölle, weil sie den Gegen-satz bildet, zerstört und zerreißt alles. Wenn daher höllische Geister nahe gebracht wer-den (applicantur), führen sie Krankheiten und zuletzt den Tod herbei. Aber es wird ih-nen nicht zugelassen, bis in die eigentlichen festen Teile des Leibes einzufließen, auchnicht in die Teile, aus denen die Eingeweide, Organe und Glieder des Menschen beste-hen, sondern nur in die Lüste und Falschheiten. Nur wenn der Mensch in eine Krank-heit fällt, dann fließen sie in solche Unreinigkeiten ein, die der Krankheit angehören;denn es existiert durchaus nichts beim Menschen, wenn nicht auch eine Ursache in dergeistigen Welt vorhanden ist. Wäre das Natürliche beim Menschen vom Geistigen ge-trennt, so wäre es von aller Ursache der Existenz, somit auch von aller Lebenskraft (vi-tali) getrennt. Dies hindert jedoch nicht, daß der Mensch auf natürliche Weise geheiltwerden kann, denn mit solchen Mitteln wirkt die Vorsehung des Herrn zusammen. Daßes sich so verhält, wurde mir durch viele Erfahrung zu wissen gegeben, und zwar so oftund so lange, daß gar kein Zweifel übrig blieb. Es wurden mir nämlich böse Geister aussolchen Orten oft und lange nahe gebracht, und je nach ihrer Gegenwart verursachtensie Schmerzen und auch Krankheiten. Es wurde mir gezeigt, wo sie waren und von wel-cher Art sie waren, und es wurde auch gesagt, woher sie waren. Ein Gewisser, der beiLeibesleben ein sehr großer Ehebrecher gewesen war und seine größte Lust darin ge-sucht hatte, mit mehreren Frauen die Ehe zu brechen, die er (aber) gleich nachher ver-

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stieß und verschmähte, derselbe setzte ein solches Leben bis in sein Greisenalter fort.Überdies war er auch dem Wohlleben ergeben, und wollte niemand Gutes tun und einenDienst leisten, außer um seiner selbst willen, und hauptsächlich seines ehebrecheri-schen Treibens wegen. Derselbe war (nach seinem Tod) einige Tage bei mir; er erschienunter den Füßen, und als mir die Sphäre seines Lebens mitgeteilt wurde, erregte er,wohin er nur kam, in den Knochenhäuten und den Nerven daselbst einen Schmerz, sonamentlich in den Zehen an der linken Fußsohle; und als ihm zugelassen wurde, weiterhinaufzudringen, auch in den Teilen, wo er jeweils war, hauptsächlich in den Knochen-häuten der Lenden, ferner in den Häuten der Brustbeine unter dem Zwerchfell, wie auchin den Zähnen von innen her. Während seine Sphäre wirkte, verursachte er auch demMagen eine große Beschwerde." (HG 5713f).

2.5. Der Mensch als Bürger zweier Welten

Es kann hier nur angedeutet werden, daß hinter dem Verständnis von Gesundheit undKrankheit, das Swedenborg und Kent vortragen, eine Anthropologie steht, die den Men-schen als einen Bürger zweier Welten sieht. Der Mensch ist dasjenige Wesen, das ge-nau auf die Schnittstelle zwischen dem materiellen und dem geistigen Kosmos gestelltworden ist. Bezüglich der materiellen Schöpfung ist der Mensch dessen Krone; aber mitBlick auf die von ihm nur geahnten geistigen Welten ist er nicht viel mehr als ein Em-bryo im Mutterleib. Swedenborg schreibt: "Der Mensch ist geschaffen, um gleichzeitigin der geistigen und in der natürlichen Welt zu sein." (NJ 36). Kent vertritt ebenfallsdiese Lehre Swedenborgs von den Dualwelten: "Dem Menschen kommen zwei Weltenzum Bewußtsein: Die Welt der Gedanken und die Welt der Materie; also die der immate-riellen Substanz, und die der materiellen Substanz." (99). "Es gibt zwei Reiche oderWelten: Die Welt der Ursachen und die Welt der Konsequenzen44. In dieser äußerenoder physikalischen Welt können wir nur mit den Augen sehen, mit den Fingern fühlen,mit der Nase riechen, mit den Ohren hören. Solcher Art ist das Reich der Auswirkun-gen. Die Welt der Ursache ist unsichtbar, nicht mit den fünf Sinnen zu entdecken. Es istdie Gedankenwelt und sie kann nur durch Verstehen entdeckt werden. Was wir um unssehen, ist nur die Welt des Endlichen, aber die Welt der Ursache ist unsichtbar." (110)."Die beiden Welten, die der Bewegung, der Kraft und die der Trägheit, existieren zu-sammen. Da ist eine Welt des Lebens und eine der toten Materie. Das Reich der Gedan-ken und das der Materie sind die Reiche der Ursache und der Wirkung." (126).

44 Ich habe an dieser Stelle die Übersetzung von Dr. med. Jost Künzli von Fimmelsberg berücksichtigt,

weil hier der Zusammenhang mit Swedenborgs Welt der Wirkungen deutlicher wird.

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2.6. Ursache und Wirkung

Die Dualweltentheorie führt zu einem gegenüber dem gewöhnlichen Sprachgebrauchveränderten Verständnis von Ursache und Wirkung. Wer wie Swedenborg die höherenWelten geschaut und erfahren hat, der weiß: UR-Sachen im echten Sinne des Wortesgibt es auf der materiellen Ebene nirgends. Hier gibt es nur Wirkungen, und was wirhier Ursache nennen, das sollte besser VOR-Gang (das, was einem bestimmten Ereignisvorangeht), Durchführung oder von mir aus auch äußere Ursache genannt werden. Die-ser swedenborgschen Einsicht entsprechend schreibt Kent: "Alles und jedes, was vorunseren Augen erscheint, ist nur die Verkörperung seiner Ursachen, und es gibt keineanderen Ursachen als die inneren." (68). "alles, was man sehen, fühlen, beobachtenoder mit dem Mikroskop erfassen kann, ist äußerlich und Auswirkung." (135). "InnereÜbel fließen ab in die äußere Erscheinungsform und die Homöopathie wird fortfahren,sie mehr und mehr hervorzutreiben und verschafft damit dem Organismus eine ver-hältnismäßig große Freiheit." (213). Die Homöopathie unterstützt das In-Erscheinung-Treten von Krankheiten auf der körperlichen Ebene. Der vertikale Ursachenbegriff - derGegensatz dazu wäre der horizontale Ursachenbegriff, der VOR-Gänge in der Raum-Zeit-Welt mit UR-Sachen verwechselt - führt zu einer Kette des Seienden. Dazu Kent: "Allesgeht von Ihm (Gott) aus und die ganze Kette vom Höchsten bis zur letzten Materie istauf diese Weise verbunden." (98f). "Nichts kann existieren, wenn seine Ursache nichtständig in es hineinströmt." (99).

Einige Vergleichstexte aus den Werken Swedenborgs belegen auch in diesem Punkt dieParallelität der Anschauungen: Die Naturalisten (Materialisten) "bedenken nicht, daßdas Bestehen ein immerwährendes Entstehen ist oder, was das gleiche, daß die Fort-pflanzung eine immerwährende Schöpfung ist und bedenken nicht, daß die Wirkung dieFortdauer der Ursache ist, und daß, wenn die Ursache aufhört, auch die Wirkung auf-hört, und daß daher jede Wirkung ohne den Einfluß der Ursache urplötzlich zunichtewird." (HG 5116). "Alle Dinge in der natürlichen Welt sind Wirkungen, während alleDinge in der geistigen Welt Ursachen dieser Wirkungen sind. Etwas Natürliches, dasseinen Ursprung nicht aus Geistigen hätte, gibt es nicht." (GLW 134). Diesen Ursachen-begriff wendet Swedenborg auch auf die Krankheiten an: "Weil von der Entsprechungder Krankheiten gehandelt werden soll, so muß man wissen, daß auch alle Krankheitenim Menschen eine Entsprechung mit der geistigen Welt haben; denn was in der ganzenNatur keine Entsprechung hat mit der geistigen Welt, das kann nicht existieren, dennes hat keine Ursache, aus der es entsteht, folglich (auch keine), kraft derer es besteht."(HG 5711).

Aus dem Gesagten ist klar, daß Bazillen, die ja Erscheinungen auf der materiellen Da-seinsebene sind, nicht die Ursachen, sondern nur die Bedingungen für das Auftreten

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von Krankheiten sein können. In diesem Milieu kann sich die schon vorher, ursächlichvorhandene Krankheit verwirklichen oder auswirken. Kent: "Sobald der Mensch ein lie-derliches Leben führt, ist er anfällig für äußere Einflüsse und je liederlicher er lebt, de-sto anfälliger wird er für die Atmossphäre, in der er lebt. Wenn er liederlich denkt, dannlebt er auch liederlich und macht sich krank durch schlechte Gewohnheiten im Denkenund Handeln. Diesen gestörten Gemütszustand hat Hahnamann sehr sicher erkannt,denn er lehrt uns immer wieder, daß besonders auf den Gemütszustand zu achten ist."(68). "Der Mensch wird nicht aus äußerem Anlaß krank. Weder durch Bakterien nochdurch die Umgebung, sondern aus Ursachen, die in ihm selbst liegen." (39). "Die Un-ordnung kommt von innen, aber viele Störungen, die diese Unordnung verschlimmern,kommen von außen." (56). "Bazillen sind keine Krankheitsursache, sie kommen immererst im Gefolge der Krankheit." (70). "Der Einsatz der feinsten Präzisionsinstrumenteermöglicht uns das Erkennen der feinsten Krankheitsauswirkungen, die das Ergebnisder immateriellen Dinge sind, wie zum Beispiel die Bakterien, die feinste Form tieri-schen oder pflanzlichen Lebens. Aber die Ursache der Krankheit ist millionenfach subti-ler als diese und ist dem menschlichen Auge unerreichbar. Die feinsten sichtbaren Din-ge sind nur Auswirkungen der noch viel feineren Dinge, so daß die Ursache bei letzte-ren bleibt." (114). "Bakterien können Ursachen enthalten, weil die Ursachen bis ins Äu-ßere hinaus wirken. Aber die erste Ursache ist nicht der Bazillus, dieser selbst hat seineUrsachen." (166).

2.7. Die Substanzialität des Geistigen

Dem Materialismus ist das Geistige immer nur ein Epiphänomen der Materie des Ge-hirns. Aus der erwiesenen Abhängigkeit geistiger Prozesse vom Gehirn folgert man, daßder Geist nicht unabhängig von jener Grauen Substanz existieren kann. Dieser Schlußist freilich genauso töricht wie der, daß Autofahrer keine Fußgänger sein können, nurweil sie als Autofahrer immer im Auto anzutreffen sind und jeder Motorschaden demAutofahrerdasein ein Ende bereitet. Swedenborg hingegen spricht von der Substanziali-tät des Geistigen. "Die göttliche Liebe und die göttliche Weisheit ist Substanz undForm." (GLW 40). Die Substanzialität des Geistigen finden wir auch bei Kent: "Substanzin geistartiger Form ist ebenso eindeutig Substanz, wie in konkreter Form der Materie."(96). "Kann sich der Mensch Energie als etwas Substanzhaftes vorstellen, dann kann ersich besser etwas Substanzhaftes vorstellen, das Energie besitzt." (97). "Wir werdendurch fortgesetzte Beschäftigung mit der Frage nach der immateriellen Substanz sehen,daß wir einigen Grund haben festzustellen, daß Energie nicht Energie aus sich herausist, sondern daß es eine kraftvolle Substanz ist, die uns von der Intelligenz geschenktwird, die selbst eine Substanz ist." (98).

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Die Homöopathie heilt, indem sie beim Kranken Substanzen ergänzt. Die Potenzierungder Materia medica dient ihrer Substanzialisierung. Kent: "Wir potenzieren unsere Mit-tel auch um zu ihrem feinstofflichen Gehalt vorzudringen, das heißt, zum Wesen undder Qualität des Mittels selbst. Damit ein Mittel homöopathisch wird, muß es zur Quali-tät und zur Wirkung der Krankheitsursache ähnlich sein." (111). Nach Swedenborg liegtaller Materie ursprünglich Substanz zugrunde: "Das Materielle hat seinen Ursprung imSubstanziellen (materialia suam originem ducunt ex substantialibus)" (EL 207). "DasSubstantielle ist der Anfang des Materiellen." (EL 328). Die Krankheit entsteht auf derseelisch-substantiellen Ebene und pflanzt sich von dort aus nach unten fort. Homöopa-thisches Heilen will den Kranken dort erreichen, wo er ursächlich krank ist.

Die Weisheit der Alten sah im Geist die Ursache der Materie. Die Neuzeit hingegensieht in der Materie die Ursache für den Geist und leugnet jede Form von Metaphysik.Swedenborg ebenso wie die Homöopathie und ihre großen Denker werden erst dann ei-ne Renaissance erleben, wenn der Geist wieder als das anerkannt wird, was er ist: dieUrsache aller Dinge.

Homöopathie und die Neue Kirchevon Elinore Peebles

Viele Gemeinsamkeiten bestehen zwischen Emanuel Swedenborg, dem religiösen Re-former, und Samuel Hahnemann, dem medizinischen Rebell. Beide besaßen eine beina-he unbegrenzte Neugier und einen fähigen Verstand gepaart mit einer geistigen Vision,und beide widmeten sich dem Dienst an der Menschheit, Swedenborg in seiner Suchenach der wahren Bedeutung unseres Lebens auf Erden und unseres geistigen Wach-stums durch die Wiedergeburt und Hahnemann in seinem Streben nach Verständnisund Heilung von Krankheit. Beide wirkten nachhaltig auf das spätere religiöse und me-dizinische Denken. Swedenborgs Schriften haben die dogmatische Theologie der Ver-gangenheit herausgefordert und verändert, und Hahnemann brach die Herrschaft derwirkungslosen und oft tödlichen medizinischen Praxis seiner Tage.

Meine früheste Erinnerung daran, von einer möglichen Beziehung zwischen der Homöo-pathie und der Neuen Kirche gehört zu haben, führt mich in mein siebentes Lebensjahrzurück, als ich erstmals bei sonntäglichen Versammlungen von Homöopathen der nähe-ren Umgebung anwesend war, die sich im Büro meines Vaters trafen, um Arzneimittelvorzubereiten und Aufzeichnungen ihrer Fälle zu vergleichen. Von den Fünfen, diemehr oder weniger regelmäßig kamen, waren drei Swedenborgianer, so dass sie gutqualifiziert waren, die beiden Disziplinen zu vergleichen. Ziemlich früh lernte ich, diese

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Verbindung als eine Tatsache meines Lebens zu akzeptieren, und als ich heranwuchs,ging ich anderen Leuten damit auf die Nerven, bis eines Tages ein Verwandter, der unsbesuchte, sagte: "Hört auf meine liebe Cousine, eine gute Swedenborgianerin und Hah-nemannianerin! Hört man sie so reden, dann könnte man glauben, Homöopathie lasseTote auferstehen."

Danach erwarb ich etwas mehr Zurückhaltung und begann mit Constantin Hering über-einzustimmen, dem "Vater der amerikanischen Homöopathie," der "Herings Gesetz"formulierte und 1850 geschrieben haben soll: "Während die Swedenborgianer aus gu-tem Grund eine homöopathische Behandlung bevorzugen dürften, gibt es überhauptkeinen Grund, warum alle Homöopathen Swedenborgianer sein sollten."45 Er fühlte,dass es die Wissenschaft nicht nötig hatte, sich selbst durch eine religiöse Lehre zu be-weisen und es daher auch nicht versuchen sollte. Dennoch war er, als ein Mitglied derNeuen Kirche in Philadelphia, jederzeit bereit, die philosophischen Ähnlichkeiten zudiskutieren, wie es auch viele seiner Kollegen waren.

Über diesen Gegenstand gibt es einige interessante Broschüren in der Bücherei derSwedenborg School of Religion in Newton, Massachusetts. Insbesondere eine, "A Defen-se of Homeopythy against its New Church Assailants"46 (Eine Verteidigung der Homöo-pathie gegen ihre neukirchlichen Gegner), ist von besonderem Interesse. Hering ebensowie Richard de Charms lieferten Beiträge dazu. Dr. William Holcombe, der später einMitglied der Neuen Kirche in Cincinnati wurde, nahm die negative Position sehr nach-drücklich ein, indem er schrieb, dass er viele Jahre lang ein allopathischer Arzt gewesensei und die Absicht habe, ein solcher für den Rest seines Lebens zu bleiben. Dennochwurde er 1851 ein homöopathischer Arzt, der nun mit derselben Leidenschaft zu ihrerVerteidigung schrieb und, gemäß seiner Biographie, so gründlich konvertierte, dass erals der "Vater der südlichen Homöopathie" bekannt ist.

Constantin Hering wurde von der medizinischen Vereinigung beauftragt, die Homöopa-thie als einen medizinischen Irrweg zu entlarven, aber er musste Deutschland verlas-sen, als ihn seine Nachforschungen veranlassten, diese Heilweise tiefergehend zu stu-dieren und schließlich genau die Wissenschaft zu praktizieren, die er in Verruf bringensollte. Klugerweise ging er nach Amerika. De Charms erzählt uns, dass Hering, ein Lu-theraner, von einem lutherischen Geistlichen beschuldigt wurde, mit den Worten, "dasser als ein Homöopath, den Teufel mit Beelzebub, dem Obersten der Teufel, austreibe."47

45 Constantin Hering, in Richard de Charms, Homeopathy and the New Church, Broschüre in der Bü-

cherei der Swedenborg School of Religion, Newton, Mass.46 Richard de Charms, A Defense of Homeopathy against its New Church Assailants (Philadelphia: New

Jerusalem Press, 1854).47 ebenda S. 6.

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Vor vielen Jahren, als mein Interesse an diesem Gegenstand erwachte, überraschtemich die Entdeckung der großen Anzahl homöopathischer Ärzte, die, mit meinen Wor-ten gesagt, "unkirchliche Swedenborgianer" waren. Denn, obgleich nur eine Minderheitaktive Kirchenmitglieder waren, glaubten sehr viel mehr, dass die Vertrautheit mitSwedenborgs Schriften hilfreich in der Ausübung ihrer homöopathischen Therapien sei.

Indem ich über Homöopathie schreibe, besonders für jene, die womöglich wenig von ihrwissen, scheint es sinnvoll, mit der Einführung des Gründers dieser Wissenschaft zubeginnen. Samuel Hahnemann wurde in Meißen in Sachsen 1755 als das älteste Kindeiner großen und armseligen Familie geboren. Sein Vater, ein Prozellanarbeiter, scheintbesondere Qualitäten bei seinem Sohn erkannt zu haben. Er ermutigte sein Interesse ander Natur, gab ihm Unterricht im Denken, lehrte ihn, nach Gründen in allen Dingen zuschauen und unterstützte seinen Wunsch, Arzt zu werden.

Hahnemann arbeitete sich durch zwei Jahre vormedizinischer Studien, indem er einemwohlhabenden Griechen Deutsch und Französisch lehrte und englische Bücher insDeutsche übersetzte. Mit einigen finanziellen Schwierigkeiten brachte er sich durch dieletzten zwei Jahre an der Universität Erlangen. Als er 1779 die Abschlussprüfung be-stand und zu praktizieren begann, beherrschte er zusätzlich zu seiner MutterspracheDeutsch, nach den Angaben von William Harvey King48, Lateinisch, Griechisch, Eng-lisch, Hebräisch, Syrisch, Italienisch, Arabisch und Spanisch. Er verfügte außerdemüber Kenntnisse des Chaldäischen und, wie einige noch hinzufügen, des Sanskrit. Da erzunehmend unzufrieden war mit den drastischen medizinischen Behandlungen, diedamals gang und gäbe waren, und befürchtete, den Kranken mehr zu verletzen als zuhelfen, gab er vorübergehend seine medizinische Praxis auf und wechselte zur Chemie,eine sich neu entwickelnde Wissenschaft. 1784 war Hahnemann gut bekannt als Che-mielehrer für seine sowohl originellen als auch manchmal kühnen Experimente.

Während dieses beruflichen Zwischenspiels, bekam er den Auftrag, die Materia Medicades schottischen Arztes William Cullen ins Deutsche zu übersetzen. In diesem Werkfand er eine ihm allzu phantastisch erscheinende Erörterung der Art und Weise, wieChinarinde bei der Behandlung von Malaria wirke. Daher entschied sich Hahnemannein Experiment durchzuführen, indem er selbst eine Dosis dieser Arznei nahm. Zu sei-ner großen Überraschung entdeckte er, dass sie in ihm die Symptome der Malaria her-vorbrachte. Hahnemann war so sehr beeindruckt, dass er daraufhin begann, mit ande-ren Arzneien zu experimentieren. Hahnemann fand heraus, dass das Arzneimittel in je-dem Fall bei einer gesunden Person die Symptome der Krankheit hervorbrachte, die esbei einer kranken heilte. 48 William Harvey King, The History of Homeopthy and Its Institutions (New York: Lewis, 1905), Bd. 1,

S. 24.

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Dadurch überzeugt, eine sichere Methode der Behandlung von Krankheiten gefundenzu haben, beschritt er einen Weg, von dem er nie mehr abwich. Diese neue medizini-sche Methode nannte er Homöopathie (griech. ähnliches Leiden) und wählte als ihr Mot-to "Similia similibus curentur" (Ähnliches soll durch Ähnliches geheilt werden). Hah-nemanns spätere Forschung in Medizingeschichte deckte einige Beziehungen zu dieserTheorie oder diesem Ansatz in den Schriften hinduistischer Weiser (ca. 2000 v. Chr.) bishin zu Hippokrates (ca. 460 v. Chr.) auf.

Kurz zuvor entdeckte Hahnemann, warum sich die Ähnlichkeitstheorie nicht durch-gesetzt hatte. Zuerst experimentierte er, indem er kleine Dosen der medizinischen Sub-stanzen gesunden Familienmitgliedern und Freunden gab, die sich freiwillig bereit er-klärt hatten, geprüft zu werden, und anschließend ihre Reaktionen aufzeichnete, die siein Form von Symptomen produzierten. Dann verordnete er die passende Medizin jenenPatienten, deren Symptome denen entsprachen, die bei der gesunden Person verursachtwurden. Die meisten benutzten Arzneien waren mehr oder weniger giftig und Hahne-mann wußte, dass der Körper versuchen würde, sie so schnell wie möglich auszuschei-den, aber dann verdünnte er sie bis zu dem Punkt, wo sie vertragen werden konnten. Erfand heraus, dass die Patienten, obgleich sie sich manchmal für kurze Zeit besser fühl-ten, nicht wirklich geheilt wurden und die Krankheit immer noch aktiv war, sobald dieSubstanz wieder abgesetzt wurde. Unter Beibehaltung seiner grundlegenden Voraus-setzung fuhr er fort zu experimentieren. Dabei entdeckte er zufällig den folgenden Zu-sammenhang: Wenn ein Fläschchen mit einer verdünnten Arznei scharf gegen eine har-te Oberfläche geschlagen wurde, was er Verschüttelung nannte, und der Inhalt einergesunden Person verabreicht wurde, dann hatte die gleichwohl noch immer giftige Arz-nei in ihrer verdünnten Form einen viel weiteren Aktionsumfang entwickelt. Er setztediesen Prozess mehrfach fort: Zuerst fügte er einem Teil des rohen Arzneistoffes neunTeile eines Verdünnungsmittels hinzu und unterwarf den Behälter dann der Verschütte-lung. Diese Verdünnung nannte er eine Einerpotenz. Dann verdünnte er einen Teil die-ser Mischung mit neun Teilen eines Verdünnungsmittels und erhielt nach der Verschüt-telung eine sogenannte Zweierpotenz. Bei der Fortsetzung dieses Prozesses erreichte ereine 30er Potenz, in der keine Spur mehr der ursprünglichen Arznei nachweisbar war.Gleichwohl blieben ihre medizinischen Eigenschaften erhalten und waren sehr erhöht.Die Verschüttelung, die ursprünglich mühsam eigenhändig getan wurde, wird jetztdurch hochentwickelte Maschinen erledigt, und die Energie kann in die Tausende er-höht werden.

Jüngste Forschungen in England lassen schließen, dass die molekularen Muster auchbei zunehmender Verdünnung dieselben bleiben aber die verborgene Energie anwächst.Jetzt werden Versuche gemacht, um herauszufinden, welche Art von Energie beteiligtist und warum sie zunimmt.

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Große Anstrengungen werden unternommen, um mehr darüber herauszufinden, warumHomöopathie so funktioniert wie sie funktioniert. Vieles davon ist Methodologie. DieDoktoren unterscheiden sich oft in der Praxis, aber fast alle stimmen ihren drei Grund-prinzipien zu: Das Ähnliche kommt an die Krankheit heran und ebenso entweder diekleinste Einzeldosis oder wenige Wiederholungen der angezeigten Medizin. Die meistenhomöopathisch bereiteten Arzneimittel stammen aus natürlichen Quellen im Tier-,Pflanzen und Mineralreich. Hahnemann lehrte, alle Dinge in der Natur seien lebendeWesenheiten und es sei notwendig, medizinische Substanzen jenseits ihres materiellenZustandes zu entwickeln und ihre immaterielle Kraft, die geistig-lebendige Kraft,Krankheiten zu behandeln, zu erschließen. Die Krankheiten hatten seiner Meinungnach eine immaterielle Ursache, die schon vorhanden sei, bevor die sichtbaren materiel-len Symptome erschienen.

Nirgends in Hahnemanns umfangreichen Schriften, und ich habe alles ins EnglischeÜbersetzte gelesen, erwähnt er Swedenborg oder macht irgendeinen direkten Verweisauf seine Schriften. Aber in vielen Paragraphen während der sechs Ausgaben seinesOrganons der Heilkunst setzt er körperliche Gesundheit mit geistiger Gesundheit gleich.In seiner Analyse der chronischen Krankheiten, die er für einen Ausdruck des vererb-ten Bösen hielt, ist seine Behandlung auf die Ausschließung oder Veränderung ihrerzerstörerischen Kraft gerichtet, so dass ihre Wirkung in zukünftigen Generationen ge-ringer sein möge. Tatsächlich ist die homöopathische Wertschätzung konstitutionellerBehandlung von Kindheit an auf dieses Ziel ausgerichtet.

In Hahnemanns Briefen und anderen Schriften kann man seine allmähliche Verände-rung von einem rein physiologischen Zugang zu den Ursachen der Krankheit hin zu ei-ner mehr geistigen Verursachung sehen. In der ersten Ausgabe seines Organons be-zieht er sich auf ein "heilendes Prinzip im Menschen, von dem das Wesen nicht be-kannt ist"49. Seine Suche nach einer jenseits des Sichtbaren liegenden korrigierendenWirkung der Heilmittel setzte er während seiner letzten Jahre fort, und durch seineWerke hindurch ist sein Glaube, dass in Krankheiten eine immaterielle geistartige Kraftexistiert, offensichtlich. Er nannte sie die "Lebenskraft", die durch eine ähnliche aberverschiedene Lebenskraft in den Medikamenten getroffen werden muss.

Swedenborg schrieb in der "Göttlichen Liebe und Weisheit": "Alle Tiere, die größerenwie die kleineren, leiten ihre Entstehung vom Geistigen in seinem letzten, dem natürli-chen Grad ab." Ebenso: "Die Formbildung in beiden Reichen verdankt ihre Entstehungeinem geistigen Einfließen." (GLW 346). Dies scheint eine Beziehung zwischen Swe-denborgs Lehren und denen von Hahnemann nahezulegen, und mag ein Grund dafür 49 Samuel Hahnemann, Organon of the Art of Healing, übers. von R. E. Dugeon, 1. Auflage (Philadel-

phia: Hahnemann Publishing Society, 1810).

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sein, dass einige Swedenborgianer eine homöopathische Behandlung ihrer Krankheitenbevorzugt haben. Hahnemann schreibt: "Von schädlichen Einwirkungen auf den gesun-den Organism, durch die feindlichen Potenzen, welche von der Außenwelt her das har-monische Lebensspiel stören, kann unsere Lebenskraft als geistartige Dynamis nichtanders denn auf geistartige (dynamische) Weise ergriffen und afficirt werden und allesolche krankhafte Verstimmungen (die Krankheiten) können auch durch den Heilkünst-ler nicht anders von ihr entfernt werden, als durch geistartige (dynamische, virtuelle)Umstimmungskräfte der dienlichen Arzneien auf unsere geistartige Lebenskraft"50.

Wiederum in der "Göttlichen Liebe und Weisheit" lesen wir: "Der Mensch wird auf-grund seines erblichen Gebrechens in Böses aller Art hineingeboren, das dort im Äu-ßersten seinen Sitz hat. Dieses Gebrechen aber werde nur entfernt, wenn die höherenGrade aufgeschlossen werden" (GLW 432).

Hahnemann teilte Krankheiten in drei Kategorien ein: (1) die, die der Einzelperson undihrer Umgebung angehören und sich durch ihre Situation entwickeln; (2) konstitutionel-le Vererbung, für die wir besonders empfänglich sind; und (3) Krankheiten, die aus derVolksgemeinschaft herkommen, das heißt konkrete Bereiche des Übels, der Epidemienund Seuchen, die kommen und gehen; sie übertragen ihre zerstörerische Kraft auf Per-sonen, die sie nicht verursacht haben und deswegen in keiner Weise geistig für ihrenEinfluß verantwortlich sind. Der zweiten und dritten Art muss, so Hahnemann, auf derdynamischen Ebene begegnet werden, um ihre Wirkungen vom Organismus zu entfer-nen.

Hahnemann erkannte, dass zusätzlich zur geistigen Kraft, die von einem "wohltätigenSchöpfer" geschaffen wurde, um die Einflüsse zu lenken, damit der Körper im Gleich-gewicht gehalten werden kann, ein entsprechendes körperliches System vorhandensein muss, durch welches erstens die Gesundheit erhalten werden kann und dessenhochindividuellen Ausdrucksweisen zweitens durch den ganzen physischen Körperverbreitet sind.

Wahrscheinlich beschrieb Hahnemann damit das Immunsystem, das normalerweise so-fort reagiert, um die materiellen Wirkungen der krankmachenden Einflüsse zu entfer-nen. Aber er stellte auch die These auf, dass es nur dann in der beabsichtigten Weisefunktioniert, wenn der entsprechende geistige Einfluß in Ordnung ist. Weil das häufignicht der Fall ist, kann Hilfe, die durch Medikamente bereitgestellt wird, erforderlichsein.

50 Ebenda, übers. von William Boerike, M. D., 6. Auflage (Philadelphia: Boericke & Tafel, 1922), S. 103.

Organon § 16.

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Im 16. Jahrhundert schrieb ein englischer Arzt, dass "unsere Körper nicht durch ver-dorbene und ansteckende Ursachen verletzt werden können, außer dass in ihnen einbestimmter Stoff ist, der geeignet ist, sie zu empfangen, andernfalls würden alle Men-schen krank werden, sobald einer krank wird."51 Und in unseren Tagen sagte der kürz-lich verstorbene René Dubos, ein Mikrobiologe am Rockefeller Institut for Medical Re-search nach einer vorurteilsfreien Prüfung der ganzen Mikrobentheorie von Krankhei-ten, dass "der Mensch immer eine große Anzahl von potentiell gefährlichen Mikrobenbeherbergt und in seinen Geweben alles für ihr Leben Erforderliche hat. Die meistenvon ihnen bleiben wahrscheinlich schlafend, aber einige werden sich schließlich trotzder Anwesenheit von spezifischen Antikörpern ausbreiten, wenn die normale Physiolo-gie des Körpers gestört wird."52 Er setzte einen Zustand des biologischen Gleichge-wichts zwischen Mensch und Mikrobe voraus, der instabil wird durch eine Abweichungvom normalen Zustand, eine emotionale, eine ernährungsbedingte, eine umweltbeding-te oder eine Abweichung aufgrund ausgiebiger und massiver Behandlung mit Medika-menten.

James Tyler Kent fügte eine Anzahl von Hahnemanns verstreuten Angaben zusammenund fand heraus, dass die Erklärung für die offensichtliche Unfähigkeit der geistartigenKraft, den materiellen Organismus immer im Gleichgewicht zu halten - wobei er an-nahm, dass dies in einer längst vergangenen Zeit möglich war -, darin bestehen muss,dass die Menschheit es während vieler Generationen dem Bösen und Falschen erlaubthat, sich einzuschleichen, womit es zu schwierig wurde, die guten Einflüsse in der Vor-herrschaft zu halten. Noch und noch erinnert er uns daran, dass Gesundheit vom Gei-stigen zum Körperlichen fließt, d.h. vom Innersten zum Äußersten und von oben nachunten. Swedenborg sagt dasselbe in den "Himmlischen Geheimnissen", indem er fest-stellt, dass "der Einfluss" immer vom inneren zum äußeren verläuft (HG 6322).

Außerdem fasst Kent den Sinn mehrerer Paragraphen der verschiedenen Ausgaben desOrganons mit den folgenden Worten zusammen: "Falschheiten, die mit dem harmoni-schen Einfluß im Konflikt geraten, werden im physischen Organismus durch ihre natür-lichen Entsprechungen gesehen, und das sind die Symptome, die uns sagen, welcheMedizin sie entfernen wird und es der immateriellen Lebenskraft, welche alle Teile desKörpers durchdringt, erlaubt wieder für die himmlischen Einflüsse empfänglich zu sein.Daher ist Gehorsam gegenüber den geistigen und natürlichen Gesetzen die absolute Be-

51 British Homeopathic Journal52 Aus einem Gespräch mit René Dubos, M. D. (später erschien es im British Homeopathic Journal), in

dem er eine Abhandlung von John Caius aus dem Jahre 1552 zitiert.

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dingung für Gesundheit sowohl in der Seele als auch im Körper. Jede Abweichung maggeistige und natürliche Krankheit bringen."53

Kent sagt uns, Hahnemann war der Meinung, dass es drei Grade in der Kraft gebe undalle Objekte in der natürlichen Welt ihnen entsprechen. Swedenborg bringt das so zumAusdruck: "Die ganze natürliche Welt entspricht der geistigen Welt" (HH 89). Hahne-manns philosophische Schriften zeigen ein teilweises Verständnis von SwedenborgsLehre des universalen Menschen (Maximus Homo), obgleich er beide Begriffe nicht be-nutzt. Er spricht eher davon, dass jede Person eine Vergegenständlichung des "kollekti-ven geistigen Menschen" ist und glaubt, dass jeder Teil eines Individums seine natürli-che Entsprechung mit diesem geistig vergegenständlichten Menschlichen hat.

Swedenborg sagt in den "Himmlischen Geheimnissen", dass das wahre Prinzip der Hei-lung die göttliche Liebe ist, die vom menschlichen Wesen des Herrn und einem Lebendes göttlich Wahren bis zu den höllischen Geistern in den Leibern der Menschen ge-bracht wurde, so dass diese Geister veranlasst werden zu weichen. Er fügt hinzu: "Dieshindert jedoch nicht, dass der Mensch auf natürliche Weise geheilt werden kann, dennmit solchen Mitteln wirkt die Vorsehung des Herrn zusammen." (HG 5713).

Hahnemann unterscheidet zwischen dem langsamen Prozess der Heilung oder Hem-mung des Fortschreitens von (1) chronischen Krankheiten und der Beschäftigung mit(2) Krankheiten auf der natürlichen Ebene, die die geistige Kraft nicht so gründlich stö-ren. Den chronischen Krankheiten muss auf der geistigen Ebene begegnet werden undsie müssen so weit als möglich durch immaterielle Kräfte überwunden werden, diedurch Potenzierung (Verdünnung und Verschüttelung) entwickelt werden. Die an zwei-ter Stelle genannten Krankheiten durch niedrigere Potenzen der medizinischen Sub-stanzen, aber immer noch durch eine immaterielle Kraft. Kent fühlte, dass das Durch-schreiten einer homöopathischen Behandlung chronischer Krankheiten, wie von Hah-nemann besprochen, dem Wiedergeburtsprozess analog war, so wie er durch Sweden-borg beschrieben wurde. Vor nicht langer Zeit schrieb Dr. Twentyman im British Ho-meopathic Journal: "Man nahm an, dass Kent ein reiner Hahnemannianer war, aber daswar er selbstverständlich nicht. Er war eine Synthese von Hahnemann und Sweden-borg."54

Vor einigen Jahren folgerten Forscher in England, dass Hahnemanns InfinitesimaldosenEnergie waren, obgleich es nicht klar war, was für eine Art von Energie oder wie siesich entwickelte. In seinem Organon stellt Hahnemann fest: "Die Lehre von der Teilbar-

53 James Tyler Kent, M. D., Lectures on Homeopathic Philosophy (Lancaster, Pa.: Examiner Printing

House, 1900).54 British Homeopathic Journal (July-October 1956), S. 260.

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keit der Materie lehrt uns, dass Energie nie geteilt wird bis zu dem Punkt, wo sie aufhö-ren würde, etwas zu sein und alle Eigenschaften des Ganzen teilen würde."55 Sweden-borg schrieb in der "Ehelichen Liebe": "Alles Geteilte ist mehr und mehr vielfach, nichtaber mehr und mehr einfach, weil das immer wieder Geteilte immer näher kommt demUnendlichen, in welchem auf unendliche Weise alles ist." (EL 329). Und in der "WahrenChristlichen Religion": "Dies stimmt auch überein mit der Weisheit der Alten, wonachalle Dinge bis ins Unendliche teilbar sind." (WCR 33).

Es gibt keine Aufzeichnung, dass Hahnemann jemals irgendeiner kirchlichen Organisa-tion angeschlossen war, aber er nannte seine Arbeiten eine "von Gott gegebene Philo-sophie". Seine Schriften zeigen einen festen Glauben an die Entsprechung der natürli-chen mit den geistigen Dingen. Sein medizinisches System ist sicher von dieser Vor-aussetzung aus entwickelt.

Wie Swedenborg war auch Hahnemann ein Mensch, der seiner Sache ganz hingegebenwar. Dennoch war er, als er in Paris 88jährig starb, ernüchtert, enttäuscht und unfähig,die Tatsache zu akzeptieren, dass seine langjährige Forschung und logische Argumenta-tion von so vielen seiner Zeitgenossen verworfen oder verspottet wurde.

Obwohl ihr Gründer ernüchtert war, wird Homöopathie heute in vielen Staaten der gan-zen Welt praktiziert und anerkannt. Gleichwohl ist die Homöopathie in den VereinigtenStaaten, wo eine materialistische und mechanistische Vorgehensweise die Medizin seitden frühen Jahren des 20. Jahrhunderts dominiert hat, bis vor kurzem allgemein igno-riert worden.

Auf der organisatorischen Ebene ist die Geschichte der Swedenborgkirche ähnlich ge-wesen. Beinahe bis ans Ende des 19. Jahrhunderts gab es, über das ganze Land ver-streut, viele neukirchliche Gemeinschaften und Gruppen, die Swedenborg rezipierten.Während desselben Zeitraums gab es homöopathische Schulen und Krankenhäuser inbeinahe jedem Staat. In den späteren Jahren des 19. Jahrhunderts gab es 70.000 prakti-zierende Homöopathen und einige Millionen homöopathische Patienten. Sowohl dieHomöopathie, als auch der Swedenborgianismus verloren jedoch nummerisch im frühen20. Jahrhundert an Boden, ein Trend, der bis vor kurzem angedauert hat. Jetzt gibt esein unterschwelliges Interesse an Hömöopathie im ganzen Land und ebenso neue Zei-chen eines Wechsels und einer verstärken Wirkung nach außen bei den Swedenborgia-nern. Vielleicht geht unsere Kultur jetzt durch ein Wiedererwachen der geistigen Di-mension entgegen.

Informierte Swedenborgianer haben traditionellerweise wenig Schwierigkeit, eine medi-zinische Philosophie zu akzeptieren, die auf der immateriellen, unsichtbaren und akti- 55 Hahnemann, Organon, Dudgeon Hg., S. 301.

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vierten Kraft des Geistes basiert. Ihre Interpretation durch Kent und seine Analyse dergeistigen Entsprechungen, die zwischen homöopathischen Heilsubstanzen und den Or-ganen des Körpers bestehen, ist sehr lesenswert. Es ist oft gesagt worden, dass erglaubte, Swedenborgs Wissenschaft der Entsprechungen sei in Harmonie mit dem, waser die Jahre hindurch gelernt hatte und ihm eine Hilfe in der Bestimmung der Wirkun-gen seiner Verordnungen war.56

Wir können das illustrieren, indem wir als Beispiel Swedenborgs Erklärung der Ent-sprechung zwischen Gold und dem menschlichen Herz anführen. Gold entspricht derLiebe: "Das Herz im Worte Gottes bezeichnet den Willen und auch das Gute der Liebe ...Daher werden dem Herzen auch Neigungen zugeschrieben, obgleich sie weder in ihnsind, noch aus ihm hervorgehen." (HH 95). Vor einigen Jahren bestätigte eine For-schung am Massachusetts Institute of Technology die mögliche Verwandschaft be-stimmter Metalle mit bestimmten Organen. Sie bemerkten, dass ein nennenswerterProzentsatz von Gold im Herzen gefunden werde und keine Spur davon in irgendeinemanderen Organ. Homöopathen benutzen potenziertes Aurum (Gold) bei der Behandlungeiniger Herzbeschwerden.

Es gibt noch viel mehr Ähnlichkeiten in den Schriften Swedenborgs und Hahnemanns,und jeder, der geneigt ist, sie weiter zu vergleichen, wird unweigerlich ein Interesse andiesen Zusammenhängen entwickeln. Ich habe mich manchmal dabei ertappt, dass ichüber diese Entsprechungen regelrecht verblüfft war. Wie konnten sie entstehen? Durchdie Vorstellung einer allgemeinen, den Dingen zugrundeliegenden Wahrheit? Oder gibtes eine auffindbare, historische Verbindung zwischen Swedenborg und Hahnemann?Wir wissen, dass sich die zwei Männer nie trafen, aber Hahnemann in Berührung warmit Johann Wolfgang von Goethe und Heinrich Heine und möglicherweise auch für sieRezepte ausgestellt hatte; beide waren vertraut mit der spirituellen Seite der Philoso-phie Swedenborgs und von ihr angetan. Jahre hindurch haben viele Leute versucht, eineAntwort zu finden, aber wenn nicht einige unübersetzte Briefe oder andere Papiere ansTageslicht kommen, wird eine tatsächlich belegbare Verbindung ein Geheimnis bleiben.

In diesem Punkt jedoch sind wir sicher, wenn wir sagen, dass jeder Mensch auf seineeigene Weise sich von ähnlichen Wahrnehmungen tiefer geistiger Realitäten, die dasganze Universum durchdringen, Anregungen holt. Für solche Menschen, deren Heran-gehensweise an das Leben weiterhin geistige Realitäten einschließt, mag eine hochent-wickelte geistige Philosophie von dem einen genommen werden und ein zusammen-hängender Zugang zur Gesundheit und Heilung von dem anderen. Swedenborg und

56 Thomas L. Bradford, Life and Letters of Hahnemann (Philadelphia: Boericke & Tafel, 1895).

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Hahnemann müssen als wichtige Führer und Quellen der Inspiration erscheinen, da un-ser Jahrhundert versucht, seine geistigen Wurzeln wiederzuentdecken.

Homöopathie und Neue Kirche in den USAdes 19. Jahrhunderts57

von Maguerite Block

Die früheste Verbindung der Homöopathie mit der Neuen Kirche geschah durch Dr.Hans Burch Gram (1786 - 1840), der sich 1825 in New York City niederließ und einMitglied der New Yorker Gesellschaft der Swedenborgianer wurde. Dr. Gram, der inDeutschland bei Hahnemann persönlich studiert und beträchtliche Verfolgungen beiseinem Versuch, die neuen Methoden in Kopenhagen einzuführen, erlitten hatte, warder erste homöopathische Arzt in Amerika. Er war nicht nur bei der Bekehrung einerAnzahl prominenter New Yorker Ärzte zu den neuen Lehren erfolgreich, sondern auchdarin, dass er sie mit Mitgliedern der Neuen Kirche bekannt machte. 1826 übersetzte erHahnemanns Abhandlung "Geist der homöopathischen Heillehre"58. Die Homöopathieging wie ein Lauffeuer durch die Neue Kirche. Ihre Periodika sind voll von Erörterungenihrer Beziehung zu den Lehren Swedenborgs, und ein großer Teil ihrer Mitglieder nahmsie an. Zwei der größten Firmen homöopathischer Pharmazeuten in Amerika, Boerickeund Tafel in Philadelphia und Otis Clapp in Boston, wurden von Neukirchenleuten ge-gründet. Diese Männer waren außerdem in der Publikation homöopathischer Literaturaktiv, Boericke besaß den maßgeblichen Kapitalanteil am Hahnemann Publishing Hou-se.59 Bald schon war eine große Anzahl homöopathischer Ärzte ebenfalls in die Mit-gliedslisten der Neuen Kirche eingeschrieben, einige von ihnen wurden später ordinier-te Pfarrer.60

Die Gründe für diese Verbindung zwischen den beiden Lehren sind ausführlich in Pu-blikationen der Neuen Kirche dargelegt worden. Anscheinend hat es allerdings keinendirekten Einfluss der Schriften Swedenborgs auf Hahnemann selbst gegeben, obgleiches wahrscheinlich ist, dass er mit einigen anatomischen Werken seiner früheren Jahre

57 Den folgenden Einblick in frühe Verbindungen und Kontroversen der Homöopathie mit der Neuen

Kirche in den Vereinigten Staaten des 19. Jahrhunderts entnehmen wir dem Buch von MagueriteBlock, The New Church in the New World, 1984, S. 161-165.

58 Dr. Wm. H. Holcombe, The Truth about Homeopathy, S. 8f; New Jerusalem Messenger, Bd. 39, S. 168.59 New Church Review, Bd. 36, S. 207; New Church Life, Bd. 22, S. 113-115.60 New Church Messenger, Bd. 108, S. 96, 175.

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vertraut war.61 Das hauptsächliche Verbindungsglied zwischen ihnen scheint Paracelsuszu sein, dessen gründliche Studenten beide, Hahnemann und Swedenborg, waren unddessen Lehre der "Signaturen" für einen Großteil der Ähnlichkeit zwischen ihren Theo-rien verantwortlich ist. Für Hahnemann war, ebenso wie für Swedenborg, Krankheit ei-ne Angelegenheit des Geistes oder, wie Hahnemann es formuliert: "Dynamische Abir-rungen unseres Geistes, gleichwie Leben, das sich durch Empfindungen und Vorgängekundtut". Die Psora, die chronische Krankheiten verursachte, war ein Miasma oder einböser Geist, der den Körper durchdrang und sich schließlich als ein Einbruch kund-gab.62 Mit Bezug auf das Verhältnis zwischen den beiden Lehren schrieb Dr. William E.Payne, von Bath, Me., wie folgt: "Mit diesem Versuch, die Wissenschaft der Medizin inihrer ordentlichen Verbindung mit den Lehren der Kirche darzustellen, habe ich mich,dessen bin ich mir bewußt, auf eine Ebene von endloser Ausdehnung begeben … Allegeistigen Krankheiten haben, wie wir uns bemühen werden, ihm Laufe unserer Bemer-kungen zu zeigen, ihr Pendant in den Krankheiten des natürlichen Körpers; oder andersgesagt, alle Krankheiten des natürlichen Körpers sind die Endausformungen geistigerUnordnungen oder böser Neigungen des Gemüts. Und während das Gebiet des geistigenArztes beschränkt ist auf die geistige Ebene, indem er besonders den Krankheiten desGemüts dient, ist gleicherweise die Gegend des natürlichen Arztes auf die natürlicheEbene beschränkt, indem er vor allem für die Krankheiten des natürlichen Körpers zu-ständig ist … Den Skeptizismus, der im Schoße der Kirche und in den Gemütern Außen-stehender existiert, mag man im wachsenden Unglauben an die Nützlichkeit aller Heil-mittel erkennen, als solcher stellt er sich in den Gemüters von Akademikern und Nicht-Akademikern dar. Wie im einen Fall falsche Prinzipien zur Unterdrückung moralischerVerdorbenheit benutzt werden, so werden im anderen Fall Medikamente zur Unter-drückung körperlicher Krankheit benutzt, oder aber die Wirkungen einer Krankheitwerden anstelle der eigentlichen Krankheit entfernt, wie in den Fällen der Entfernungvon Tumoren mit dem Messer, damit das Äußere des Körpers gesund und schönscheint, während dieselbe innere Ursache bleibt, weiterhin in das Äußere fließt und sichvielleicht sogar in einer widerlicheren Form als zuvor zeigen wird."63

Der Artikel fährt fort: "Zwei neue Methoden zur Behandlung von Krankheiten habensich jüngst Neukirchenleuten empfohlen. Die eine, die Hydropathie, oder, wie siemanchmal genannt wird, das Kalt-Wasser-System der Heilung; und die anderen, dieHomöopathie, oder das medizinische System, das den Nutzen spezieller Heilmittel an-erkennt. Das erstere ist sehr jungen Datums und hat sich Neukirchenleuten aufgrund

61 New Church Review, Bd. 31, S. 290.62 Morris Fishbein, The Medical Follies, S. 31-34.63 Newchurchman, Bd. 2, S. 509-513.

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der allgemeinen Entsprechung des Wassers empfohlen. Ungefähr ein halbes Jahrhun-dert ist vergangen seit die Prinzipien des letzteren der Welt zuerst bekannt gemachtwurden in Gestalt einer Wissenschaft und sich Neukirchenleuten empfahlen, wie mannun sehen kann, hauptsächlich daher, dass es den Ursprung aller Krankheiten auf im-materielle, geistige Ursachen zurückführt … Swedenborg sagt: 'Die Krankheiten ent-sprechen den Begierden und Leidenschaften des Gemüts (animi). Diese sind auch dieEntstehungsgründe der Krankheiten, denn diese sind im allgemeinen Unmäßigkeit, al-lerlei Üppigkeit, rein sinnliche Vergnügungen, dann auch Neid, Haß, Rache, Unzuchtund dergleichen, was das Inwendigere des Menschen zerstört; und wenn dieses zerstörtist, leidet das Auswendigere und zieht dem Menschen Krankheit und dadurch den Todzu.' (HG 5712) … Wenn der Einfluss des Lebens wilder und grausamer Tiere, giftigerPflanzen und Mineralien in die natürliche Welt frei und ungehindert ist, dann wird na-türliche Krankheit nicht vorkommen, denn dieses Leben fließt frei durch das Gemüt, daes ja nach seiner eigenen äußersten Form, entweder auf der tierischen, der pflanzlichenoder der mineralischen Stufe, strebt. Diese Form allein kann es aufnehmen, ohne dieGewalt, die ihr durch ein Leben, das wesentlich von ihrem eigenen Leben abweicht, an-getan würde. 'Daher sehen wir', Swedenborg zitierend, 'dass alle Objekte und Gegen-stände der natürlichen Welt als eine Art Sicherheitsventil dienen, wenn der Ausdruckerlaubt ist, zum Schutz des natürlichen Lebens des Menschen. Ohne diese könnte ernicht einen Augenblick existieren.' … Wenn sich eine Krankheit gezeigt hat, 'dann wirdes notwendig, um den natürlichen Körper wieder zur Aufnahme seines eigenen Lebensherzustellen, also einen Zustand der Gesundheit herbeizuführen, dass die Sperre über-wunden wird, dass die Neigung, die eingesperrt ist, und nun in den natürlichen Körpersals ihr äußerstes Aufnahmeorgan fließt, wieder abwärts in ihr ureigenstes Aufnahmege-fäß fließt und den natürlichen Körper verläßt, der nur ein aufnehmendes Organ seineseigenen, ihm angemessenden Lebens ist. Um das zu bewirken, muss das Äußerste desKrankheit oder der bösen Neigungen, das im Körper tätig ist, um etwas Aufnehmendeszu formen, in dieselbe Ebene eingeführt werden, um das unordentliche Leben aufzu-nehmen.' Quecksilber produziert dieselben bösen Wirkungen wie Syphilis, Ähnlichesheilt Ähnliches, daher heilt Quecksilber Syphilis."64

In einem Artikel mit der Überschrift "Have the Principles of Homoeopathy an Affinitywith the Doctrines of the New Church?" (Haben die Prinzipien der Homöopathy eineÄhnlichkeit mit den Lehren der Neuen Kirche?) erläutert Rev. Richard de Charms seineTheorien der Verbindung. "Es ist nicht wahr, dass eine Krankheit durch eine andereähnliche Krankheit ausgetrieben wird. Wie wir gezeigt haben, ist das nicht die Theorieeiner hömöopathischen Heilung. Die Theorie ist, dass die bösen Geister der Hölle, die

64 Ebenda, S. 520, 532, 541f.

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Krankheit im menschlichen Organismus erregen, dadurch, dass sie in menschliche Giftefließen, die ihnen entsprechen und welche die Sünde darin (im menschlichen Organis-mus) erzeugt hat, abgeleitet und von diesem Organismus abgezogen dadurch werden,dass ihnen ein dankbareres Feld für ihre höllischen Aktivitäten geboten wird, nämlichjene ähnlichen Gifte, die mit den Höllen jener Geister im Tier-, Pflanzen- oder Mineral-reich unterhalb des Menschen korrespondieren. In diese niedrigeren Gifte oder ihreWirkungen gehen die höllischen Geister freiwillig und durch göttliche Zulassung, nichtZwang, weil sie ein größeres Vergnügen in einem äußerlicheren Grund ihrer Aktivitätfühlen."65 Diese ausgefallene Theorie wurde von verschiedenen neukirchlichen Ärzten,Homöopathen und Allopathen, scharf kritisiert. Dr. William H. Holcombe, ein allopathi-scher Arzt, der später zur Homöopathie konvertierte, schrieb: "Wenn eine Person Arsenschluckt, dann ist es keineswegs so, dass sich die Geister in die Arsenmoleküle stürzen,ihre bösartige Aktivität zeigen und dann im Arsen aus dem Körper fahren. Sie bemäch-tigen sich lediglich des Arsens als eines Wirkstoffes im Äußersten, durch den sie dieZerstörung in seinem Körper bewerkstelligen möchten, die sie in seiner Seele anrichtenwürden. Ein chemisches Gegenmittel verhindert den höllischen Einfluss, indem es dieForm der Substanz verändert … Der Eintritt des Teufels in die Schweine ist eine im-merwiederkehrende Illustration bei homöopathischen Neukirchenleuten, aber die bei-den wichtigsten Punkte werden übersehen. Die Teufel verlassen die zwei Männer mitgroßem Widerwillen, indem sie ihre Bitte, in die Schweine zu gehen, mit den mißbilli-genden Worten einleiten: 'Wenn du uns austreibst'. Die Sphäre der göttlichen Liebequälte sie, so dass sie willig wurden, ihre höhere Sphäre der Wirksamkeit zu verlassenzugunsten einer niedrigeren und (im Widerspruch zur Hypothese von Herrn deCharms) weniger angenehmeren."66 Eine andere nicht zustimmende Meinung kam Dr.William M. Murdoch, einem anderen allopathischen, neukirchlichen Arzt: "Ich versiche-re in aller Wahrheit, dass ich nicht fähig bin ein einziges Prinzip und kaum einen einzi-gen Ausdruck in den Werken Swedenborgs zu finden, der als eine Unterstützung derVorstellung aufgefasst werden kann, dass Ähnliches Ähnliches heilt, Similia similibuscurantur. Tatsächlich scheint mir das genau das Prinzip zu sein, welches unser Herr zu-rückwies, als er lehrte, dass es unmöglich sei, Teufel durch Beelzebub, den Obersten derTeufel, auszutreiben … Außerdem glaube ich nicht, dass ein religiöses Journal ein pas-sendes Medium ist, Kontroversen über medizinische Theorien auszutragen … Ärzte er-achten die Meinungen Geistlicher über medizinische Angelegenheiten für gänzlichwertlos."67

65 New Church Repository, Bd. 3, S. 506.66 Ebenda, S. 542-544.67 New Church Messenger, Bd. 2, S. 112.

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Dr. Charles S. Mack, Professor am Homoeopathic Medical College der Universität Michi-gan und später ein neukirchlicher Geistlicher, widmet in seinem Buch "Philosophy inHomoeopathy" mehrere Seiten der Beziehung der Homöopathie zu Swedenborgs Philo-sophie. Sein Glaube ist, dass "die Theorie der Homöopathie gänzlich annehmbar zu seinscheint für den Glauben, dass wir Empfänger des Lebens von der ersten Quelle des Le-bens sind und, wenn Heilung vorkommt, Empfänger der Gesundheit, die Krankheit er-setzt."68� � � � � � � � � � � � � � � � � � � �

Homöopathie - das göttliche Naturheilgesetzvon Dagmar Strauß

Zunächst sollen die Begriffe Homöopathie, Allopathie und Naturheilkunde erklärt wer-den: Es gibt die Allopathie (heute meist mit "Schulmedizin" gleichgesetzt); der Begriffist abgeleitet von allos = anders, gegensätzlich; und pathos = Leiden. Es gibt die Ho-möopathie, abgeleitet von homoios = ähnlich. Und es gibt die Naturheilkunde; ihr thera-peutischer Ansatz entspricht häufig dem allopathischen Vorgehen, sie verwendet aberüberwiegend natürliche Drogen.

Homöopathie nimmt unter den drei großen Therapierichtungen eine Sonderstellung ein.Sie unterscheidet sich von den anderen Richtungen durch ein ganz eigenes Denkmodellmit spezieller Krankheits- und Gesundheitslehre, das auf strengen Gesetzen beruht. Umdie Homöopathie verstehen zu können, muß man sich vom herkömmlichen Krankheits-und Gesundheitsverständnis lösen. Der Unterschied zwischen Homöopathie und Allopa-thie wird am deutlichsten anhand der Entwicklung und Entdeckung der homöopathi-schen Heilgesetze.

Die Entdeckung des homöopathischen Heilgesetzes durch SamuelHahnemann 1790

Samuel Hahnemann wurde 1755 in Meißen geboren. Sein Vater war Porzellanmaler,und die Familie war nicht sehr wohlhabend. Samuel war ein sehr intelligentes undsprachbegabtes Kind, aber seine Eltern hatten nicht die finanziellen Möglichkeiten, ihnauf eine höhere Schule zu bringen. Dank seiner großen Begabung fand sich ein Gönner,der dem jungen Hahnemann eine höhere Schulbildung finanzierte. Da er schon in jun-gen Jahren 5 Sprachen fließend sprechen konnte, war es ihm möglich, sich seinen größ-ten Traum zu erfüllen, - Arzt zu werden.

68 Dr. C. S. Mack, Philosophy in Homeopathy, S. 90-99.

OFFENE TORE: Jahrbuch 2000 96

Sein Medizinstudium finanzierte er sich durch Übersetzen von pharmazeutischer, che-mischer und medizinischer Literatur. Alle fremdsprachige Fachliteratur ging damalsdurch seine Hände und so erlangte er schon in frühen Jahren das größte fachübergrei-fende Wissen seiner Zeit.

Zehn Jahre später, 1790, ließ er sich das erste Mal als praktischer Arzt nieder. Er be-merkte allerdings schon bald eine große Unsicherheit im Umgang mit den Patienten,obwohl er über ein großes medizinisches Wissen verfügte. Er spürte, daß es an allge-meingültigen Gesetzen zur Behandlung von Kranken fehlte. Wie konnte er sicher sein,einem Patienten nicht noch mehr zu schaden? Wie konnte er wissen, ob er einen kran-ken Menschen wirklich zu größerer Gesundheit, oder ob er ihn nur in noch größeresLeid führte? Wo waren die Richtlinien zur Behandlung von kranken Menschen?

Es gab so viele unterschiedliche Meinungen zur Behandlung der verschiedenen Krank-heiten. Jede Fakultät hielt nur ihre Therapie für die heilbringende. Versammelten sichfünf Ärzte um ein Krankenbett, so gab es fünf Diagnosen und fünf Therapien. Das konn-te nicht die wahre Heilkunde sein. Eine Heilung darf nicht von Meinungen abhängen.Welcher Meinung und welchem Arzt sollte er sein Vertrauen schenken? Es mußte dochein allgemeingültiges Gesetz zur Heilung von kranken Menschen geben! Solange diesesnicht gefunden war, solange wollte er keinen Patienten mehr anfassen. Schon ein Jahrspäter, 1791, hängte er deshalb seinen Arztkittel an den Nagel. Ab jetzt versuchte er,seine Frau Henriette und die stetig ansteigende Kinderzahl mit Übersetzertätigkeitenmehr schlecht als recht zu ernähren.

1790 mußte er ein Werk des Engländers Cullen übersetzen, der u. a. beschrieb, wieman Wechselfieber mit Chinarinde erfolgreich heilen konnte. Cullen erklärte den heil-samen Einfluß auf das Wechselfieber durch die "magenstärkende Wirkung" der China-rinde. Darüber wunderte sich Hahnemann sehr, denn er kannte viele Substanzen, dienoch viel kräftiger auf den Magen einwirkten, aber keinerlei Einfluß auf das Wechsel-fieber zeigten. Dies konnte also nicht das Wirkprinzip sein. Es mußte etwas in der Chi-narinde geben, das direkt auf das Fieber einwirkte. Er überlegte, wie man wohl die heil-same Wirkung der Chinarinde ergründen könnte, ohne auf Spekulationen angewiesenzu sein.

Da bekam er einen göttlichen Einfall: "Was passiert wohl, wenn ein Gesunder die glei-che Menge Chinarinde einnimmt, die Cullen als heilsam bei Wechselfieber beschriebenhat? Um die Wirkungen einer Arznei zu erforschen, ist es wohl das Beste, sie als Ge-sunder einzunehmen!" Um also der Wahrheit ein wenig näher zu kommen, nahm er -trotz des gesundheitlichen Risikos - die Chinarinde in der Dosierung ein, wie sie Cullenals heilsam bei Wechselfieber empfahl.

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Schon nach einigen Tagen spürte er eine Veränderung in seinem Befinden; es stelltensich Symptome ein, die er ganz sorgfältig und penibel aufschrieb. Sein alter gesunderZustand, wie er ihn von sich selber kannte, verschwand, und Befindensveränderungenauf allen Ebenen stellten sich ein. Er war erschöpft, sein sonst ruhiges Wesen verwan-delte sich in nervöse Reizbarkeit, Unruhe und depressive Stimmung. Im Kopf hatte erdas Gefühl, als ob das Gehirn gegen den Schädel schlüge. In den Gliedern spürte erTaubheitsgefühle und Zittern.

Nach ein paar Tagen schaute er sich diese Symptomenauflistung an und stellte zu sei-ner Überraschung fest, daß er Symptome entwickelte, die einem Wechselfieber täu-schend ähnlich waren. Er setzte die Arznei ab und die Symptome verschwanden nacheinigen Tagen. Sein alter gesunder Zustand kehrte auf allen Ebenen zurück. Das konnteaber auch nur ein Zufall sein, und so fing er nochmals an, die Arznei einzunehmen, undwieder stellten sich nach ein paar Tagen diese Befindensveränderungen ein. Es setzte dieArznei erneut ab und alle Veränderungen verschwanden und der alte gesunde Zustandkehrte zurück.

Um sicher zu gehen, gab er die Chinarinde gesunden Verwandten und Bekannten, undzu seinem Erstaunen stellten sich bei allen "Prüfern" mehr oder weniger stark diesespeziellen Befindensveränderungen ein. Wurde die Arznei abgesetzt, so verschwandenalle Symptome und der jeweils alte gesunde Zustand kehrte zurück. Hahnemann notier-te auch die Symptome der anderen "Prüfer" ganz penibel und erstellte so ein Prüfungs-protokoll der Chinarinde bei Prüfung am gesunden Menschen.

Angeregt durch diese Entdeckung erwachte sein Forschergeist und nun begann er eif-rig, alle damaligen Arzneisubstanzen auf ihre Möglichkeit, das gesunde menschlicheBefinden zu verändern, zu untersuchen. Er "prüfte" alle Substanzen an sich, seinenFreunden und Bekannten.

Für die Prüfung benutzte er ganz geringe Mengen der Ursubstanz, die täglich mehrmalseingenommen wurden, bis sich deutlich wahrnehmbare objektive und subjektive Befin-densveränderungen einstellten. Alle auftretenden Befindensveränderungen, die sich aufder geistigen, emotionalen und körperlichen Ebene einstellten, wurden genau protokol-liert und ausgewertet. Nachdem er viele der damals üblichen Arzneien genau geprüftund "Prüfungsprotokolle" erstellt hatte, begann er auch Substanzen zu prüfen, die nochnicht als Arznei verwendet wurden, um deren Potential, das menschliche Befinden zuverändern, zu erforschen. Die Prüfung der Tollkirsche z. B. erbrachte folgende charakte-ristische Befindensänderungen: Hochroter Kopf, weite Pupillen, durstlos trotz trockenenMundes, starke Unruhe, Halluzinationen, Halsschmerzen und Ohrenschmerzen rechts,starkes Herzklopfen usw. Die Sammlung an Prüfungsprotokollen sämtlicher Arzneien

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stelle er zur "Reinen Arzneimittelprüfung" zusammen und stellte fest: Jede Arznei machtkrank! Jede, ohne Ausnahme.

Ein Gesunder, der eine Arznei einnimmt, wird zum Arzneikranken mit arzneispezifischerSymptomatik! Wird die Arznei abgesetzt, so verschwindet diese Arzneikrankheit und deralte gesunde Zustand kehrt zurück. Das nennt man Arzneimittelprüfung. Als Hahnemannungefähr 60 - 80 Arzneien auf ihre ihnen innewohnende Wirksamkeit hin geprüft hatteund so über ein sehr genaues Arzneiwissen verfügte, eröffnete er seine Praxis, denn erwollte nun sehen, was er mit diesem Wissen praktisch anfangen konnte.

Kam eine Mutter mit einem hochfiebernden Kind, so schaute sich Hahnemann sehr ge-nau diese Befindensveränderungen an. Zeigte dieses Kind z. B. einen hochroten Kopf,erweiterte Pupillen, Unruhe, Halsschmerzen, Ohrenschmerzen und Halluzinationen, sofragte er sich: "Bei welcher Arzneieinnahme ging es mir ähnlich, wie nun diesem kran-ken Kind? Bei der Tollkirschenprüfung fühlte ich mich ähnlich wie sich dieses Kindjetzt fühlen muß. Er gab nun dem Kind die Tollkirschenurtinktur in ganz geringer Dosismehrmals am Tag. Das Kind reagierte sehr heftig auf die Arznei, denn das Fieber stiegnoch einmal an, die Schmerzen und auch die Unruhe wurden stärker, aber schon nach 1- 2 Tagen klangen alle Krankheitserscheinungen ab und das Kind wurde auf allen Ebe-nen wieder gesund. So arbeitete er nun täglich mit Dutzenden Patienten, indem er sichimmer wieder genau ihre Befindensveränderungen schildern ließ und überlegte, beiwelcher Arznei er ähnliche Prüfungssymptome entwickelte, wie sie nun dieser krankeMensch schilderte. Als er Hunderte von Patienten erfolgreich behandelt hatte, gab es fürihn keinen Zweifel mehr an seiner Heillehre und er formulierte sie das erste Mal öffent-lich, indem er die Grundgesetze zur Heilung von kranken Menschen aufführte.

1. Grundsatz: "Ähnliches werde mit Ähnlichem geheilt."

Eine Arznei, die einen kranken Menschen gesund macht, muß bei Prüfung am Gesun-den ein ähnliches Erscheinungsbild hervorrufen!

2. Grundsatz: "Prüfung der Arznei am Gesunden"

Die Arzneien dürfen nicht am kranken Menschen geprüft werden, weil sein Organismusschon krankhaft gestört ist und so keine reinen Arzneireaktionen zu erwarten sind.Auch sollten kranke Menschen nicht noch zusätzlich belastet werden. Der gesundeMensch stellt sich zu Verfügung, damit dem kranken Menschen geholfen werden kann.

3. Grundsatz: "Verwendung von potenzierter Arznei"

Und wie kam es nun dazu? Hahnemann nahm an Anfang noch ganz geringe Dosen derUrsubstanz (in unserem Fall die Tollkirschentinktur) und verabreichte sie mehrmalstäglich, nach dem Ähnlichkeitsprinzip ausgewählt, dem Kind mit dem hohen Fieber. Es

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erfolgten zuerst unangenehme "Erstverschlimmerungen" der herrschenden Symptome.Aber Hahnemann wollte sanft heilen, ohne starke Erstverschlimmerungen, und erschrieb diese heftigen Reaktionen der noch starken Giftigkeit der Substanz zu. Alsomußte er die Dosis verringern. Er fing aber nicht an, die Arznei zu halbieren, zu drittelnoder zu vierteln, so wie wir es täten, sondern er nahm ein Teil Tollkirschentinktur mit100 Teilen Alkohol-Wassergemisch und verschüttelte es zehn Mal kräftig, um es gut zuvermengen, und beschriftete die Flasche mit Tollkirsche C 1 = Centesimal 1; VerhältnisTollkirsche zu Lösungsmittel 1 : 99

All seine Arzneien "verdünnte" er zu einer C 1. Nun verordnete er nur noch die Arznei-en in der C 1 und beobachtete die auftretenden Reaktionen. Die Erstverschlimmerungenwaren nicht mehr so heftig, die Heilwirkung blieb jedoch erhalten. Also ging er daran,die Arznei noch "ungiftiger" zu machen. Er nahm von der Tollkirsche C 1 einen Teil,verschüttelte ihn zehn Mal kräftig mit 100 Teilen Lösungsmittel und beschriftete dieFlasche mit Tollkirsche C 2 .

Auch diese Dosierung prüfte er wieder an seinen Patienten. Die heftigen Erstreaktionenwurden immer sanfter, die erwünschte heilende Wirkung hielt jedoch an. Bei der C 6stellte er kaum noch Erstverschlimmerungen fest. Mit dieser Dosierung, die keine Ver-schlimmerungen mehr bewirkte, hätte er sich eigentlich zufrieden geben können. Aberda erwachte abermals Hahnemanns Forschergeist. Nun wollte er gerne wissen, ab wel-cher Verdünnung keine Wirksamkeit der Arznei mehr spürbar war. Also fuhr er mitdem Verringern der Arzneidosis fort und prüfte jede Dosis auf ihre Wirksamkeit amkranken Menschen. Zu seiner Überraschung war es aber nicht so, wie man leicht hättevermuten können, daß die Arzneien um so weniger Wirkungen zeigten, je höher er po-tenzierte, sondern zu seinem großen Erstaunen mußte er das Gegenteil erfahren: Jestärker er die Dosis verkleinerte (verdünnte und verschüttelte), um so stärker wurde ih-re Heilwirkung (es gab keine Erstverschlimmerungen mehr) und um so seltener mußteer die Gaben wiederholen. Konnte das mit rechten Dingen zugehen?

Hahnemann war ein gewissenhafter Arzt und er prüfte seine Entdeckung immer undimmer wieder, bevor er jemandem davon erzählte. Zu seiner Überraschung war es die C30, die am schnellsten und sanftesten eine Heilung bewirkte. Erst als er Hunderte vonPatienten mit einer C 30 schnell, sanft und sicher von ihrem Übel befreit hatte, ging erdamit an die Öffentlichkeit. Man erklärte ihn für verrückt und viele seiner (mittlerweile)großen Anhängerschar wandten sich von ihm ab. In den immateriellen Bereich wolltenihm nur wenige folgen und viele, die zwar zunächst Anhänger der "Ähnlichkeitslehre"waren, konnten diesen Weg nicht mitgehen und weigerten sich auch, es zumindest zuversuchen.

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Hahnemann jedoch ließ sich nicht beirren. Sein Ruf als wundersamer Heiler ging nunschon weit über Deutschlands Grenzen hinaus und viele Patienten aus aller Welt pilger-ten zu ihm, um von ihren Krankheiten befreit zu werden. Hahnemann fing an, alle mög-lichen Substanzen aus dem Pflanzen-, Mineral- und Tierreich auf ihre Fähigkeit zu prü-fen, das menschliche Befinden zu verändern. Alle Stoffe wurden auf eine C 30 hochpo-tenziert und erst dann von den Prüfern eingenommen. Er potenzierte auch Substanzen,die in der Ursubstanz, auch in größeren Mengen genossen, keinerlei Arzneikraft auf-wiesen - und mußte wieder zu seinem Erstaunen feststellen, daß sie, in der C 30 einge-nommen, eine große Kraft besaßen, das menschliche Befinden zu verändern.

James Tyler Kent schreibt: "Die Kraft kommt von innen, von einem Zentrum her: Des-halb potenzieren wir unsere Medikamente höher und höher, um eben diesem Zentrumnäher zu kommen, denn je näher dem Zentrum, desto intensiver ist die Kraft. In diesemSinne wird das Medikament durch die Potenzierung immer stärker. Materiell wird dasMedikment immer schwächer."

Was geschieht aber bei dem so umstrittenen Potenzierungsprozess? Man kann sich dasfolgendermaßen vorstellen: Hinter jeder Materie steht ja die geistige Kraft, die das Äu-ßere formt. Swedenborg sagt: "Alles materiell Sichtbare hat seine Ursache im dahinter-liegenden Geistigen." Durch den Verdünnungs- und Verschüttelungsprozeß wird nundas Geistige oder die Information vom Informationsträger gelöst. Die grobe Außenschalewird nach und nach entfernt und die dahinterliegende Kraft kann sich mehr und mehrentfalten. Diese Kraft wird nun an einen neutralen Informationsträger gebunden (Alko-hol-Wassergemisch oder Milchzucker). Diese von der materiellen Bindung losgelösteArzneikraft vemag nun, unmittelbar auf die seelische Ebene einzuwirken.

Hahnemann fand also heraus, daß eine nichtstoffliche Arznei heilen konnte, sofern sienach dem Ähnlichkeitsprinzip verordnet wurde. Daran gab es nichts zu rütteln, denndie täglichen schnellen und sanften Heilungen waren Beweis genug. Jetzt setzte er wie-der seinen logischen Verstand ein und kam zu dem Schluß: "Wenn eine nichtstofflicheArznei heilend wirkt, so muß die Quelle der Erkrankung (logischerweise) auch imnichtstofflichen Bereich liegen."

Diesen nichtstofflichen Bereich nannte er Lebenskraft oder Dynamis. Nicht der Körper istder eigentliche Träger der Krankheit, sondern die Kraft, welche diesen Körper geschaf-fen hat, ihn unterhält, Störungen reguliert und ihn nach dem Tode wieder verläßt. DieLebenskraft kann man nicht sehen, messen oder anfassen, man erkennt sie nur an denManifestationen, die sie im Körper hinterläßt. Krankheiten können wir niemals sehen,ebensowenig wie wir das Leben selbst sehen können. Die Lebenskraft ist nicht direktnachweisbar, denn sie steht hinter der Chemie und die organische Chemie entsteht nurdurch diese dynamische Kraft. Normalerweise spürt man die Tätigkeit der Lebenskraft

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nicht. Kommt es aber zu einer Verstimmung, so sagt man: "Ich spüre …" Die Funktionender Organe, wie des Magens, der Leber, der Nieren usw., spürt man normalerweisenicht; in dem Moment aber, wo im immateriellen Bereich (Lebenskraftebene) eine Stö-rung vorhanden ist, sagt man: "Ich spüre meinen Magen, Übelkeit, Schmerzen usw."

Erst die Störung dringt zum Bewußtsein vor; wenn alles normal ist, spürt der Menschnichts! Beginnt man mit den heutigen diagnostischen Geräten eine Untersuchung, wür-de man zu diesem Zeitpunkt noch kein Ergebnis erhalten, organisch ist alles in Ord-nung, aber der Patient hat schon Befindensveränderungen gegenüber seinem gesundenZustand. Der Prüfer spürt durch die künstliche Arzneikrankheit Befindensveränderun-gen, und der gesunde Mensch spürt bei Eintreten der natürlichen Krankheit Befindens-veränderungen.

Ein häufiges Beispiel: Ein Patient beklagt Magendruck, Übelkeit, Empfindlichkeit gegenbestimmte Nahrungsmittel usw. Er geht zu einem Schulmediziner, aber der kann nichtsentdecken. So wird der Patient nach Hause geschickt ohne Ergebnis. Der Patient fühltsich immer noch nicht wohl, die Beschwerden bleiben oder werden immer schlimmer.Jedes Jahr geht er zur Untersuchung ohne Ergebnis. Jahre später entdeckt man ein Ma-gengeschwür, das nun endlich medikamentös behandelt werden kann. Das Magenge-schwür ist nicht die Krankheit, sondern das Endresultat der Krankheit! Die sichtbarenZellstrukturveränderungen, die man mit den heutigen Geräten messen kann, sind dasEndresultat der Krankheit, nicht aber die Krankheit selbst. Veränderungen in den Emp-findungen verraten uns den Beginn der Erkrankungen, noch bevor Zellstrukturverände-rungen sichtbar sind. Nicht die Magengeschwüre sind die Krankheit, sondern der Prozeßder Entstehung des Magengeschwüres. Eine lokale Behandlung dieses Endergebnissesberührt die dahinterliegende Störung nicht. Der Patient war schon krank, als er die Be-findensveränderungen feststellte und sagte: "Ich spüre …" - da beginnt schon dieKrankheit.

Hahnemann arbeitete Tag und Nacht an der Erweiterung seiner Lehre. Er und seineSchüler prüften immer neue Substanzen auf ihre Fähigkeit, das menschliche Befindenzu verändern. Je mehr Mittel gefunden wurden, um so mehr Menschen konnte geholfenwerden. Er heilte täglich viele kranke Menschen mit seinen "dynamisierten Arzneien" -wie er sie nannte - verordnet nach dem Ähnlichkeitsprinzip. Viele Jahre arbeitete ersehr erfolgreich in seiner Praxis, bis er einige Male bei hartnäckig chronisch krankenMenschen beobachtete, daß die Krankheit nach anfänglicher Besserung immer wiederin alter Stärke zurückkehrte. Er wollte aber nicht nur kurzfristig heilen, sondernschnell, sanft, sicher und vor allem dauerhaft. An der Wahl der Arznei konnte es nichtliegen, da zumindest jedesmal eine kurzfristige Besserung eintrat. An dem Ähnlich-keitsprinzip konnte es auch nicht liegen. Aber woran lag es dann? Um der Sache auf

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den Grund zu gehen, fing er nun ganz penibel an, die chronisch kranken Patienten ge-nauestens zu befragen. Er nahm die Gesamtheit der Symptome des chronisch krankenPatienten auf, und zwar vom Beginn bis zu ihrem Jetztzustand. So erhielt er ein umfas-sendes Bild der vorherrschenden Krankheit. Auch die Krankengeschichte der Vorfahrennahm er genauestens unter die Lupe. Hahnemann erstellte 12 Jahre lang über jedenchronisch erkrankten Patienten ein umfangreiches Krankenjournal mit allen Aufzeich-nungen. Er verglich alle Patientenberichte miteinander, arbeitete gemeinsame Zügeheraus und vereinigte alles zu einem großen Ganzen.

Hahnemann erkannte ganz bestimmte Zusammenhänge, Gesetzmäßigkeiten und Ver-erbungsmuster, die er in drei große Gruppen einteilte. Er nannte sie die Psora, Sykosisund Syphilis. Alle zusammen wurden unter dem Begriff "Miasmen" oder auch "Ver-schmutzungen" zusammengefasst. Er stellte fest, daß die Neigungen zu bestimmtenchronischen Krankheiten schon vom Geburt an im Menschen verankert sind und nichtdurch äußere Einflüsse hervorgerufen werden. Die Miasmen prägen das Individuumund bestimmen die inneren Neigungen zu bestimmten chronischen Leiden und Emp-fänglichkeiten für bestimmte äußere Krankheitseinflüsse!

Beispiele für Miasmen: Die Psora = der konstitutionelle Zustand des Mangels, derHemmung oder der Organunterfunktion. Die Sykose = der konstitutionelle Zustand derÜberschwenglichkeit, Ausuferung oder der Organüberfunktion. Die Syphilis = der kon-stitutionelle Zustand der Zerstörung, Degeneration und Aggression oder der pervertier-ten Organfunktion.

In Bezug auf die Haut bedeutet das: Ein Mensch, der unter dem psorischen Miasma ge-boren ist, neigt zu trockenen, schuppenden und leicht unterdrückbaren Hautausschlä-gen (Organunterfunktion). Ein Mensch, der unter dem sykotischen Miasma geboren ist,neigt zu Wucherungen wie Warzen, Polypen, Fibrome, Kondylomen, Muttermalen usw.(Organüberfunktion). Ein Mensch, der unter dem syphilitischen Miasma geboren ist,neigt zu Geschwüren, Rhagaden, Fissuren usw. (zerstörende oder pervertierte Organ-funktionen)

Hahnemann erkannte, daß diese erblichen "Verschmutzungen" (Miasmen) immer eineGrunderkrankung als Ursache hatten, die sich dynamisch an die Lebenskraft hefteteund so als Organschwächen und innere Empfänglichkeiten für Krankheiten an dieNachkommen weitergegeben wurde.

Miasmen machen also erst für bestimmte Krankheiten empfänglich und prägen die Fol-gekrankheiten nach Unterdrückung eines Lokalübels durch allopathische Arzneien. DieMiasmen sind die Prägungen des Menschen durch seine Vorfahren, Umwelt und Le-bensweise. Der Mensch wird immer so krank, wie seine vererbte Prägung es zuläßt.

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Kent schreibt (immer zitiert aus: "Zur Theorie der Homöopathie: Kents Vorlesungenüber Hahnemanns Organon"): "Man kann in vielen Familien Charakteristika und Be-sonderheiten im Erbgang weitergehen sehen. Zuerst die subjektiven Symptome, späterobjektive, durch welche sich die Anfangsstadien jeder Krankheit ausdrücken. Aberwährend sich bei einem Familienmitglied die pathologische Anlage Schritt für Schrittzum Krebs entwickelt, kann dieselbe Anlage bei einem anderen Familienmitglied zurTBC führen usw. - aber wie gesagt aus derselben Anlage." "Nachkommen bekommennur die innere Krankheit, nicht mehr die äußeren Manifestationen."

Den Miasmen liegt immer eine bösartige und aggressive Erkrankung zu Grunde, diekeinerlei Selbstheilungstendenz aufweist und erst mit dem Tod des Patienten erlischt.Bei seinem Studium der chronischen Krankheiten beobachtete Hahnemann, daß der Be-ginn des Krankseins fast immer in der Behandlung eines Lokalübels lag.

Hahnemann fand z. B. heraus, daß Patienten, die an der Lungenschwindsucht erkrank-ten, in jüngeren Jahren alle einen Bläschenausschlag, hauptsächlich zwischen den Fin-gern hatten, welcher mit den damals üblichen Salben unterdrückt wurde. Da stellte sichihm die Frage: "Was hat die Unterdrückung einer Krankheit mit der Krankheit zu tun,die nachher folgt?" In der Homöopathie sind die Bakterien und Viren nur die Auslösernicht aber die Ursache einer Erkrankung. Wären die Bakterien und Viren die eigentli-che Ursache, so müßte sich unabdingbar jedes Individuum anstecken, was jedoch nichtder Fall ist. Die Ursachen der Erkrankungen sind immer die inneren vererbten Emp-fänglichkeiten.

Dazu Kent: "Die Bakterientheorie will uns glauben machen, die göttliche Vorsehung hät-te diese unendlich kleinen Wesen geschaffen, den Menschen krank zu machen." "DieBakterien mögen noch von der Ursache enthalten, da die Ursachen bis in die sichtbarenEndzustände fortwirken, aber die wahre, tiefste Grundursache ist nicht in ihnen, dieBakterien selbst haben eine Ursache." "Nicht von äußeren Ursachen wird der Menschkrank, nicht von Mikroben noch sogar von Umwelteinflüssen, sondern nur von Ursa-chen, die in ihm selbst liegen. Begreift der homöopathische Arzt dies nicht, so fehlt ihmeine echte und wahre Vorstellung von der Krankheit. Entgleisung, Störung im Inner-sten, im leitenden Zentrum - ein Zuwenig oder Zuviel - das ist die erste Etappe zurKrankheit, darauf folgen dann die ersten äußeren Anzeichen, und zwar zuerst in Formsubjektiver, später dann objektiver Symptome. Alle Krankheiten auf Erden sind nur dasSpiegelbild dessen, was im Innern des Menschen ist. Wäre es nicht so, wäre er nichtempfänglich für Krankheit, könnte er nicht entwickeln, enthüllen, was in ihm ist. DasBild dessen, was im Inneren ist, kommt bei der Krankheit heraus. Wie der Menschdenkt, so sein Leben." Menschen z. B., die eine Neigung zu Durchfall haben, infizierensich schon damit, wenn im letzten Haus in der Straße jemand an Durchfall erkrankt ist.

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Die gleichen Menschen können in einen Raum mit 50 Menschen, die eine Bronchitishaben, gehen, ohne sich anzustecken.

Es gibt in der heutigen Zeit niemanden mehr, der ohne starke miasmatische Belastungauf die Welt kommt. Durch die jahrhundertealte Unterdrückung von Krankheiten wer-den diese Miasmen immer vielfältiger, bösartiger und auch aggressiver. Kent: "Die Mi-asmen, welche die menschliche Rasse heutzutage krank machen, sind durch allopathi-sche Behandlung noch tausendfach komplizierter gemacht worden." (Kents Erkenntnisum 1900!)

Jedes Individuum kommt mit einer bestimmten Stärke an Lebenskraft auf die Welt undmit einer bestimmten Stärke der mitgebrachten Miasmen (die sich an die Lebenskraftals störendes und zerstörendes Element anheften). Jeder von uns hat seine individuelleNeigung zu chronischen Krankheiten. Der eine neigt zu Rheuma, der nächste zu Asth-ma, wieder der nächste zu Diabetes usw.

Kent: "Wir haben zwei Dinge auseinander zu halten, den akuten Zustand, durch dieKrankheit hervorgerufen und den darunterliegenden chronischen Zustand, den natürli-chen Zustand jedes Patienten, der unter Miasmen geboren ist."

Warum erkrankt einer an dieser, der andere an jener chronischen Erkrankung? Wirsind immer nur so gesund wie unsere Vorfahren! Normalerweise hält die Lebenskraftdie Miasmen in "Schach" sie schlummern in der Tiefe und können nicht erwachen.Deshalb sind Kinder normalerweise sehr gesund und neigen eigentlich kaum zu chroni-schen Krankheiten, da ihre Lebenskraft noch ungetrübt ist. Erst im Alter, wenn die Le-benskraft auf natürliche Weise nachläßt, beginnen die chronischen Leiden hervorzubre-chen. Aber wie sieht es heutzutage aus? Wie viele chronisch kranke Kinder gibt es indieser Generation, sprich, wie viele Kinder gibt es eigentlich noch, die nicht schon vomSäuglingsalter an chronisch krank sind? Die Miasmen werden von Generation zu Gene-ration stärker und die Lebenskraft sinkt im Gegensatz dazu!

Hahnemann begann alle seine Mittel dahingehend zu untersuchen, welche auslöschen-den Wirkungen sie auf diese vererbten Miasmen besitzen und teilte die gesamten Arz-neien auch in diese Gruppen ein. Es gibt somit die psorischen, sykotischen und syphili-tischen Arzneien. Hatte er einmal das vorherrschende Miasma beim Patienten erkannt,so nahm er eine Arznei, die die Kraft besaß, auf diese Miasmen schwächend einzuwir-ken und erzielte dadurch dauerhafte Erfolge bei der Heilung von - aus allopathischerSicht - unheilbar kranken Menschen.

Alle Maßnahmen, welche die Lebenskraft schwächen, lassen die Miasmen hervorbre-chen. Schwächend auf die Lebenskraft wirken: schlechte Lebensweise, Nahrungs- undUmweltgifte, wenig Schlaf, Allopathie, Impfungen, Kummer usw. Gute Ernährung, gute

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Lebensweise wirken stärkend auf die Lebenskraft, aber nicht schwächend auf die Mi-asmen. Einzig und allein die Homöopathie vermag direkt auf die vererbten Verschmut-zungen reinigend und schwächend einzuwirken. Die Patienten werden im Laufe derTherapie immer belastbarer. Hahnemann widmete den Rest seines Lebens nur noch derErforschung und Therapie der chronischen Krankheiten und starb im hohen Alter von88 Jahren 1843 in Paris.

Wie sieht die Homöopathie heute aus?

Sie hat sich in den letzten 200 Jahren in ihren Grundzügen nicht verändert. Die Homöo-pathie ist das göttliche Naturgesetz zur Heilung von kranken Menschen und wird sichauch in Zukunft in ihren Grundlagen nicht ändern. Hahnemanns Nachfolger prüftenständig neue Arzneien, und so können wir heute auf einen Schatz von nahezu 2000 ge-prüften Arzneien aus dem Pflanzen-, Mineral- und Tierreich zurückgreifen. Einem Ho-möopathen ist es heute unmöglich, in seinem Leben alle Arzneien am eigenen Leibe zuprüfen. Deshalb stehen die gesamten "Prüfungsprotokolle" als Arzneimittellehre demTherapeuten zum Nachschlagen zur Verfügung.

Wie findet der Homöopath das ähnlichste Arzneimittel für den Patien-ten?

Ein Patient mit Asthma kommt in die Praxis. Zuerst erfragt der Homöopath die lokalenAsthmasymptome. Wie zeigen sich die genauen individuellen Befindensveränderungenbei diesem Patienten? Zu welcher Tageszeit ist die Atemnot am schlimmsten? Was bes-sert die Beschwerden? Wann traten das erste Mal diese Atemnotsymptome auf usw.? Al-les wird genauestens abgefragt und festgehalten. Dann wird die gesamte Krankenge-schichte aufgenommen. An welchen Krankheiten leidet der Patient noch? Was fürKrankheiten hatte er schon in seinem Leben? Es wird versucht, die chronologische Rei-henfolge präzise nachzuvollziehen! Welche Nahrungsmittelverlangen und -abneigungenhat der Patient? Welche individuellen Persönlichkeitsmerkmale sind vorhanden, z. B.auf der emotionalen Ebene? Welche Ängste bestehen, welche Impulse? Wie ist dasTemperament? Wie ist das persönliche Lebensumfeld? Welche Probleme gibt es im täg-lichen Leben? Gibt es auf der geistigen Ebene Probleme? Wie ist es mit der Konzentrati-on usw.? Welche chronischen oder schweren Erkrankungen tauchen in der Familie undbei den Vorfahren auf? Ungefähr 1 - 2 Stunden dauert so eine erste Befragung des Pati-enten. Jede individuelle Information, die die Persönlichkeit charakterisiert, ist für denHomöopathen wichtig und führt ihn zu dem ähnlichsten Mittel. Es ist oft nicht einfachfür die Patienten, die Beschwerden genau zu beschreiben, da im allgemeinen solche in-dividuellen Symptome keine Beachtung finden. Jede Information, die der Homöopathvon dem Patienten erhält, ist wie ein Teil eines Puzzles, das nach der Befragung sorgfäl-

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tig zusammengesetzt werden muß bis ein ähnliches Bild entsteht, wie es bei der Prü-fung am Gesunden (beschrieben in den Prüfungsprotokollen) aufgetaucht ist. Die Arzneiwird nach dem Schlüssel-Schloß-Prinzip ausgesucht. Der Patient erhält nun seine per-sönliche Arznei in einer C 30 oder C 200 in Form von kleinen Milchzuckerkügelchenals einmalige Gabe verabreicht. Der Patient wird fragen, was er denn ab nun regelmäßigeinnehmen solle und wird die Antwort erhalten - "vorerst nichts mehr!" - Und hier sto-ßen wir bei den Patienten wie auch bei der Schulmedizin auf große Skepsis. Um dieseszu verstehen, wollen wir noch einmal zusammenfassen und uns die zwei verschiedenenTherapierichtungen betrachten. Zuerst einmal die uns geläufige Allopathie (Schulmedi-zin).

Allopathische Verordnung der Arznei

Wir wissen jetzt, daß jede Arznei krank macht - ohne Ausnahme. Nimmt ein gesunderMensch eine Arzneisubstanz regelmäßig ein, so bekommt er Befindesveränderungenund er wird arzneispezifisch krank. Setzt er die Arznei ab, so verschwinden die arznei-spezifischen Krankheitssymptome und es kehrt der alte gesunde Zustand zurück. (Arz-neimittelprüfung am Gesunden!)

Was passiert bei der allopathischen Verordnung der Arznei? Wie erleben wir die Be-handlung unserer Leiden durch die Schulmedizin? Nehmen wir als Beispiel Halsent-zündung: Ein Patient kommt damit zum Arzt. Bei der Untersuchung stellt sich heraus,daß der Hals entzündet und vereitert ist. Als Therapie wird ein Antibiotikum verschrie-ben mit dem Hinweis, es jeden Tag mehrmals für die Dauer von mindestens 6 - 10 Ta-gen einzunehmen. Der Patient nimmt seine Tabletten täglich 3 x ein und stellt nach einbis zwei Tagen fest, daß die Schmerzen nachlassen und sich die Vereiterung zurückbil-det. Er nimmt die Arznei noch für den vorgeschriebenen Zeitraum weiter. Die Halsent-zündung ist scheinbar "geheilt" oder besser gesagt "verschwunden". Der Patient fühltsich noch recht schwach, sieht noch mitgenommen aus, was man der gerade überstan-denen Krankheit zuschreibt. Der Allgemeinzustand bessert sich auch mit der Zeit undgerade in dem Moment, wo der Patient sich richtig gut fühlt, steckt er sich erneut miteiner Halsentzündung an.

Was ist passiert? Jede Arznei macht krank! Der Patient nimmt eine gegensätzliche Arz-nei ein, solange bis der alte Zustand verschwindet! (Genauso wie es einem gesundenMenschen bei Einnahme einer Arznei passiert). Nimmt ein Gesunder eine Arznei ein, soverschwindet der gesunde Zustand und er wird arzneikrank. Wird die Arznei abgesetzt,so verschwindet die künstliche Arzneikrankheit und der alte gesunde Zustand kehrt zu-rück. Beim kranken Menschen aber, der eine gegensätzliche Arznei regelmäßig ein-nimmt, verschwindet der alte kranke Zustand. Dem Körper wird eine künstliche Krank-

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heit übergestüplt, die nach Absetzen der Arznei wieder verschwindet und der "alte Zu-stand" (in unserem Fall die Halsentzündung) kehrt zurück. Dieses Spiel kennen wir vonder normalen Medizin zur Genüge, weshalb die Wartezimmer voll sind mit Patienten,deren Erkrankungen ständig wieder auftreten oder besser gesagt "zurückkehren". DiePatienten meinen, daß sie sich beim Wiederauftreten der Halsentzündungen erneut an-gesteckt hätten, aber nach Absetzen der gegensätzlichen Arznei kehrt die alte Halsent-zündung wieder zurück, um endlich ausgeheilt zu werden. Die Patienten mit wiederauf-tretender Halsentzündung, Bronchitis, Ohrenentzündungen usw. plagen sich immer mitein und derselben Krankheit herum. Bleiben allerdings nach einer gegensätzlichen The-rapie die Beschwerden dauerhaft verschwunden, so taucht dieselbe Krankheit später aufeiner tieferliegenden Schicht wieder auf, mit gleicher Stärke und gleicher Hartnäckig-keit (dies wird aber von der Schulmedizin als "neue" Krankheit angesehen). Es nütztnichts, die gegensätzliche Arznei nur einmal einzunehmen, da die gegensätzliche Arz-neikrankheit immer stärker sein muß, als die vorherrschende natürliche Krankheit.Dies wird durch das mehrmals täglich und wiederholte einnehmen der grobstofflichen,gegensätzlichen Arznei erreicht. Die natürliche Krankheit verschwindet während derEinnahme langsam und es kommt zur Unterdrückung. Setzt man das Antibiotikum zufrüh ab, so bleiben die Halsschmerzen bestehen. Die allopathische (gegensätzliche) The-rapie muß deshalb immer so lange eingenommen werden, bis der alte kranke Zustandverschwindet. Die Allopathie macht sich dieses Gesetz der Wirkung der künstlichenArzneikrankheit für eine scheinbare Heilung zunutze. Patienten mit chronischen Leidenmüssen fast ohne Ausnahme ständig eine Arznei einnehmen, denn wenn sie die Arzneiabsetzen, kehrt der alte kranke Zustand zurück. Es hat sich an der eigentlichen Krank-heit nichts verändert. Die Symptome verschwinden nur, solange die gegensätzlicheArznei eingenommen wird. Die sogenannten Nebenwirkungen, die sich bei langem Ge-brauch einstellen, sind die eigentlichen "Prüfungsymptome", die bei Prüfung am Ge-sunden klarer herauskommen würden. Wird eine gegensätzliche Arznei zu lange ein-genommen, kommt es u. U. auch zu irreparablen Organschäden!

Wir kennen dieses Problem auch bei den chronischen Kopfschmerzen (Migräne), diemit Schmerztabletten kurzfristig beseitigt werden. Klingt die Arzneikraft der Schmerz-tablette ab, kommt der Kopfschmerz unerbittlich zurück und eine neue Tablette mußeingenommen werden. Am eigentlichen Zustand ändert sich auf Dauer nichts! Da es oftnach Monaten und Jahren zu einem Gewöhnungseffekt kommt, muß die Dosis ständigerhöht werden, um eine stärkere Arzneikrankheit zu erzeugen. Als "Nebenwirkungen"(Arzneiprüfungserscheinungen) treten dann Magengeschwüre und Nierenleiden auf.Der Patient wird aufgefordert, diese Tabletten nicht mehr einzunehmen und der alteKopfschmerz kehrt zurück (meist noch sehr verstärkt), und dazu gesellt sich ein Magen-und Nierenleiden. Jede Arznei macht krank!

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Bei der Rheumabehandlung war es üblich, Goldspritzen zu verabreichen mit dem Erfolg,daß der alte kranke Rheumazustand verschwand (allerdings nur, solange die Spritzenverabreicht wurden). Nicht selten traten Gemütsveränderungen (als unerwünschte Ne-benwirkungen), wie schwere Depressionen mit Selbstmordneigung, auf, und zwar mitdem Bedürfnis, sich aus dem Fenster zu stürzen. Liest man in den Prüfungsprotokollender reinen Arzneimittellehre unter "Gold", so findet man genau diese Gemütsbeschrei-bungen wieder. Jeder Homöopath weiß, daß hier eine künstliche Arzneikrankheit er-zwungen wird. Der Patient tauscht das schwere Rheumaleiden gegen ein schweres (le-bensgefährliches) Gemütsleiden ein.

Ein wahrer Therapeut kann nur ein Ziel haben, nämlich die völlige Arzneifreiheit desPatienten, nie aber die Abhängigkeit von Arzneien. Bei ständiger Arzneieinnahme - evtl.über Monate und Jahre kann nie von Heilung gesprochen werden. Wahre Heilung istdann gegeben, wenn sich der Patient auf einer stabilen Gesundheitsebene befindet, oh-ne ständig eine Arznei einzunehmen. Aber wie wirkt nun die homöopathische Arznei,und warum geben die Homöopathen nur eine einmalige Dosis einer C 30 oder C 200?

Homöopathische Verordnung der Arznei

In der Homöopathie nutzen wir die künstliche Arzneikrankheit um die Lebenskraft zureizen, damit sie die heilenden Reaktionen in Gang setzt. Wir müssen aber nicht ständigunsere Arznei wiederholen, um dem Organismus eine Arzneikrankheit aufzuzwingen,damit der alte, kranke Zustand während der Einnahme verschwindet. Unsere dynami-sierten Substanzen wirken genau auf der Ebene, auf der sich auch die eigentlichen dy-namischen Krankheitsgeschehen abspielen. Die primäre Erkrankung liegt im Nichtstoff-lichen. Durch die Potenzierung wirkt die Arznei nun auf der gleichen Ebene wie derprimäre Prozess der Erkrankung. Wir setzten mit unserer individuellen dynamischenArznei einen Reiz auf der Lebenskraftebene, der durch die Potenzierung auch etwasstärker ist als die vorherrschende natürliche Krankheit. Die Lebenskraft sieht in unsererArznei einen massiven Störfaktor, (einen die Ordnung störenden äußeren Krankheits-einfluß), gegen den sie sich zur Wehr setzen muß. Und genau dies will der Homöopatherreichen! Um die Ordnung im Organismus wiederherzustellen, beginnt sie nun - ange-regt durch diesen künstlichen Krankheitsreiz - alles zu unternehmen, um Abwehrme-chanismen dagegen in Gang zu setzen. Sie weiß genau, was sie für Abwehrmaßnahmenergreifen muß und beginnt, Nervenimpulse auszusenden, Abwehrkörper in Gang zusetzten, Fieber zu produzieren usw. Da aber unser künstlicher Arzneireiz der natürli-chen Krankheit sehr ähnlich ist, setzt sie nun genau die Abwehrmechanismen in Gang,die auch nötig gewesen wären, um die natürliche Krankheit zu überwinden. Man hält derLebenskraft sozusagen ein "Spiegelbild" der erlittenen Krankheit vor. Sie war gewis-

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sermaßen "betriebsblind" für die natürliche chronische Krankheit und hatte keine Mög-lichkeit dagegenzusteuern.

Nur wenn der Arzneireiz stärker ist, als die vorherrschende natürliche Krankheit, er-kennt die Lebenskraft den Reiz als äußeren "Krankheitseinfluß" an und beginnt mit denheilenden Abwehrmechanismen. Durch die verschiedenen Potenzierungsstufen habenwir die Möglichkeit, die Reizkraft zu bestimmen. Es gibt keine Arznei, die heilt! Es gibtnur eine heilende Reaktion der Lebenskraft auf einen ähnlichen Arzneireiz!

Mit der einmaligen Gabe unserer Arznei in der Potenzierung C 30 oder C 200 setzenwir eine Initialzündung und reizen die Lebenskraft zur Abwehrreaktion gegen unserekünstlich gesetzte Arzneikrankheit. Ist erst der Reiz gesetzt, so beginnen die Regulie-rungen der Lebenskraft, die sich dann über mehrere Tage bis zu einigen Wochen hinerstrecken können. Der Patient beginnt, die Auswirkungen der Arznei zu spüren, esstellen sich jetzt Befindesveränderungen ein, die er möglichst genau aufzeichnet, damitder Homöopath diese Reaktion kontrollieren kann. Nur durch die Kontrolle der Befin-densveränderungen, die unter dem Gesichtspunkt ganz spezieller Heilgesetze betrach-tet werden, kann der Homöopath erkennen, ob er wirklich die ähnlichste Arznei ge-wählt hat. Er wird sich die Befindensveränderungen im Gemütsbereich, im Gefühlsbe-reich und im körperlichen Bereich genauestens vom Patienten schildern lassen. Er mußjetzt genau beleuchten, ob die Reaktionen im Sinne der Gesetze erfolgen und der Pati-ent so zu einer stabileren Gesundheitsebene geführt wird. Hat der Homöopath nicht dieähnlichste Arznei, sonders aus Versehen eine Arznei gewählt, die dem Patienten nichtähnlich ist, so kann u. U. auch diese Substanz zur Unterdrückung der Beschwerden füh-ren, denn dann wirkt auch die potenzierte Substanz allopathisch. Denn nicht die Arzneiist homöopathisch, sondern die Verordnung!

Krankheits- und Heilgesetze aus der Sicht der Homöopathie

Konstantin Hering (1800-1880) erkannten durch genaues Beobachten der Arzneireak-tionen die Gesetze, die das Leben und die Krankheit beherrschen und daß sie mit dentherapeutischen Gesetzen harmonieren. Die Lebenskraft reagiert immer nach festen Ge-setzen, sowohl bei der Erkrankung als auch bei der Heilung. Die Schulmedizin und dieHomöopathie arbeiten nach dem gleichen Naturgesetz, aber nur die Homöopathie nutztdas Wissen um es heilbringend einzusetzen.

1. Gesetz: Eine Heilung verläuft immer von innen nach außen!

Die Lebenskraft reagiert auf einen äußeren Krankheitseinfluß immer zentrifugal, dasheißt, sie versucht die Störung ihrer Ordnung nach außen hin auf die körperliche Ebeneabzuleiten - am besten noch auf die Haut. Auch bei einer positiven Reaktion auf einenhomöopathischen Reiz wird sie versuchen, die innere Krankheit nach außen abzuleiten.

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Unser Beispiel: Der Patient mit dem Asthma berichtet nach einiger Zeit, daß seineAtembeschwerden leichter werden, er jetzt aber einen Hautausschlag zu beklagen hat.Hier weiß der Homöopath, daß er eine gute und ähnliche Arznei verordnet hat, denn dieReaktion geht von innen nach außen, von der Lunge zur Haut. Von einem "edlen" zu ei-nem "unedlen" Organ. Die Lebenskraft kann jetzt die Krankheit zentrifugal nach außenhin ableiten. Dies wäre ein optimaler Heilungsverlauf. Auch der Hautausschlag wirdnach weiterer Behandlung verschwinden, und zwar ohne eine nachfolgende Krankheitauf einer anderen Ebene zu erzwingen. Sogar die kleinste Lebenseinheit, die Zelle, un-tersteht diesem Gesetz, denn sie arbeitet von innen nach außen, d. h. von ihrem Kernaus. Das "Leben" ist innen und nicht außen.

Kent: "Die Entwicklung einer Krankheit, ebenso gut wie der Heilungsprozeß, verfolgteine bestimmt Linie, die von einem Ausgangspunkt an zum Endpunkt verläuft: vomMenschen zu seinen Organen und nicht umgekehrt von den Organen zum Menschen."Der Innere Mensch ist der ewige unsterbliche Mensch. Swedenborg sagt: "Der Menschist nicht dadurch Mensch, weil er wie ein Mensch aussieht, sondern weil er das Wahrezu denken und das Gute zu wollen vermag." Swedenborg sagt sinngemäß: Jede Personhat ihre spezifische geistleibliche Seinsweise, in der sich ihr "innerer Mensch" darstellt.Dieser innere Mensch ist während des physischen Lebens im äußeren Menschen alsdessen inneres Modell verborgen. Der leibliche Tod tangiert den inneren Menschenüberhaupt nicht, er ist nur eine Versetzung des Menschen aus der irdischen in eine an-dere, geistigere Seinsweise, in eine andere Art der Leiblichkeit, die anderen Dimensio-nen. Die Kontinuität seines Bewustseins erfährt keine Unterbrechung.

2. Gesetz: Heilung verläuft immer von oben nach unten!

Der Patient mit dem Asthma produziert jetzt einen Hautausschlag im Gesicht, der nacheiniger Zeit zu den Füßen wandert. So erkennt der Homöopath, daß auch weiterhin dieHeilung in richtiger Richtung verläuft, bis der Hautausschlag ganz verschwindet.

3. Gesetz: Heilung verläuft in umgekehrter Richtung des Erscheinens, sozusagen einRückwärtsabrollen der unterdrückten Krankheiten!

Beispiel: Der Patient mit dem Asthma berichtet uns beim Erstgespräch, daß er nichtschon immer an Asthma, sondern davor an chronischer Bronchitis litt, die jahrelang mitallopathischen Arzneien behandelt wurde. Vor der chronischen Bronchitis plagten ihnständige Halsschmerzen, die auch "erfolgreich" allopathisch therapiert wurden. Ganzfrüher, als Kind, hatte er chronische Hautausschläge, die durch viele Salbenkuren zum"Verschwinden" gebracht wurden.

Der Homöopath verabreicht nun sein individuelles Atemnots- und Persönlichkeitsmittelund danach berichtet der Patient, daß die Atemnot weniger wurde, sich dafür aber die

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alten Symptome der Bronchitis bemerkbar machten. Wieder einige Zeit später hörtendie Hustensymptome auf und er bekam eine sehr starke Halsentzündung, die mit Auf-treten des ihm bekannten Hautausschlages aufhörte.

Ein Wiederaufrollen der alten Beschwerden zeigt dem Homöopathen, daß hier eine sehrvitale Lebenskraft vorhanden und eine Heilung noch möglich ist. Bei schweren, fortge-schrittenen chronischen Krankheiten und bei sehr alten Menschen erfolgt oft eine Bes-serung ohne das Wiederaufrollen der alten Beschwerden, was auf eine schwache Le-benskraft hinweist; eine vollständige Heilung ist hier kaum noch möglich. Dieses oftunangenehme Aufarbeiten der alten Beschwerden ist für die Patienten sehr lästig undmeist unverständlich, für die vollständige Heilung aber dringend notwendig.

Ein Beispiel, wie Krankheiten nach dem Naturgesetz verlaufen: Nehmen wir einmal an,ein Patient leidet unter Akne. Er geht zum Hautarzt, der ihm nach kurzer Diagnostik ei-ne Salbe verordnet. Der Patient wendet sie regelmäßig an, und nach einiger Zeit wirddie Haut besser, die Entzündungen bilden sich zurück. Der Hautarzt ist zufrieden, denner war erfolgreich und hat geheilt! Nun ist der Patient einige Zeit sehr glücklich, aberauf einmal "überfällt" ihn ein neues Leiden, es stellt sich eine hartnäckige Bronchitisein. Jetzt ist nicht mehr der Hautarzt zuständig, sondern der Lungenfacharzt, der dieBronchien und Lungen genauestens untersucht und eine Antibiotikabehandlung fürnotwendig erachtet. Die Bronchitis ist zwar sehr hartnäckig, aber nach Erhöhung derDosis verschwindet auch sie dauerhaft. Auch der Lungenfacharzt ist zufrieden und ent-läßt den Patienten als geheilt! Wieder geht es einige Zeit gut, doch dann taucht eine lä-stige Schlaflosigkeit auf. Weder der Hautarzt noch der Lungenfacharzt sind nun zustän-dig, ein Gang zum Hausarzt wird weiterhelfen. Der Patient bekommt Schlaftabletten, dieauch prompt wirken. Der Hausarzt ist zufrieden, denn sein Patient kann wieder schla-fen. Zwar muß die Dosis von Monat zu Monat erhöht werden, aber Hauptsache, er kannwieder schlafen. Auf einmal bemerkt der Patient eine Veränderung in seinem Gemüt; esstellen sich Ängste ein, die er vorher noch nie kannte; auch die Freunde sagen, daß ersich irgendwie verändert hat. Ein Nervenarzt wird ihm empfohlen, der auch einige guteund zuverlässige Psychopharmaka in der Schublade bereit hält.

Jeder Facharzt hat geheilt! Aber was hat die eine Erkrankung mit der vorherigen zu tun?Findet unser Patient nun den Weg zum Homöopathen, so wird dieser in einer langenund ausführlichen Befragung (Erstanamnese) Schritt für Schritt die Reihenfolge der Er-krankungen abfragen und sich alle Symptome genau beschreiben lassen. Besonders diesubjektiven Empfindungen und Ängste müssen vom Patienten genau geschildert wer-den. Nun erhält er seine individuelle Arznei, welche die Gesamtheit seiner Beschwerdenabdeckt und zum individuellen Charakter paßt. Ist die Arznei gut gewählt, beginnt ein"Rückwärtsabrollen" oder "Hinauswerfen" der alten Beschwerden - bis hin zur alten

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Akne, die schließlich auch verschwindet. Nun kann endlich die anfängliche natürlicheKrankheit geheilt werden. Es ist für einen Facharzt, der nur ein Organgebiet behandelt,sehr schwer zu erkennen, daß die Bronchitis z. B. nur die Akne auf der Bronchienebeneist. Wird ein Hautausschlag durch äußerliche Maßnahmen behandelt, so wird die dahin-terliegende Krankheitskraft nicht berührt, denn die Krankheit ist der Prozeß der Ent-stehung des Hautausschlages, und die Hautveränderungen sind nur das Endresultat derKrankheit. Wird der Hautausschlag zum Verschwinden gebracht, verändert das nichtsan der dahinterliegenden Krankheitskraft, die nun gezwungen ist, sich gegen ein ande-res (meist lebensnotwendigeres) Organ zu wenden. Kent: "Durch allopathische "Hei-lung" (Unterdrückung) hat er, was an der Oberfläche und damit relativ harmlos war, indie Tiefe hineingedrückt, und als Folge dieser wissenschaftlichen Ignoranz befindet sichder Kranke nun auf dem Pfade zum Tode." Kent: "… innere Übel fließen in äußere Mani-festationen, die Homöopathie fährt fort, auswärts zu treiben, dadurch wird das Innere,werden die edleren Organe entlastet und befreit, das Innere wird relativ krankheitsfrei."Die Bronchien können nur organspezifisch reagieren und daher keinen "Hautausschlag"produzieren (Wenn sie es könnten, wäre die gesetzmäßige Abfolge leichter erkennbarund weniger leicht zu übersehen!). Die gleiche Kraft, die diesen Hautausschlag hervor-brachte, wird nun im Bronchialbereich eine ihm adäquate Erkrankung bewirken, z. B.eine Bronchitis. Ein leichter Hautausschlag, der unterdrückt wurde, bewirkt auch nureine leichte Erkrankung der Bronchien. Eine schwere Neurodermitis, die man mit äuße-ren Maßnahmen zum Verschwinden gebracht hat, bewirkt auf der Ebene der Atmungs-organe eine adäquat schwere Erkrankung, z. B. Asthma oder eine Lungenentzündung(die im Gegensatz zum unterdrückten Hautausschlag beide lebensgefährlich sind!).

"Je schwerer eine unterdrückte Krankheit, desto schwerer ist die nachfolgende innereErkrankung." Mit diesem Wissen wird ein Homöopath einen Hautausschlag NIE mit äu-ßerlichen Anwendungen behandeln, sondern immer die innere Krankheit und Empfäng-lichkeit beeinflussen wollen. Um diese Krankheitsgesetze noch besser verständlich zumachen, will ich im Folgenden aus der Sicht der Homöopathie auf die drei Ebenen desDaseins genauer eingehen. Grundsätzlich müssen wir uns dabei vergegenwärtigen, daßdas Gesetz nicht nur die sichtbaren, sondern auch die unsichtbaren Dinge beherrscht.

Die drei Ebenen des Daseins

Zum einen gibt es die sichtbare körperliche Ebene und zum anderen die unsichtbareemotionale sowie die geistige Ebene. Konstantin Hering, ein bedeutender Schüler Hah-nemanns und Swedenborgs, hat beobachtet, daß die Lebenskraft immer bestrebt ist, deninneren Menschen, sprich die emotionale und geistige Ebene, gesund zu erhalten. Alleäußeren Krankheitseinflüsse, die auf der unsichtbaren Lebenskraftebene einfließen,werden, soweit möglich, sofort zentrifugal auf den körperlichen Bereich abgeleitet (am

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besten auf die Haut), damit der wichtigere, innere Mensch, die emotionale und geistigeEbene, von dieser Störung nicht berührt wird. Der innere Mensch ist der ewige Mensch,der vom Tod nicht berührt wird. Dieser innere ewige Mensch muß gesund bleiben! DieHaut schützt den inneren Menschen.

Laufen die äußerlichen Unterdrückungen zu massiv ab und die ererbten Strukturen las-sen es zu, so wandert die Krankheit immer weiter nach innen, zu zentraleren Bereichen,bis sie schließlich die körperliche Ebene verlassen muß und auf den emotionalen Be-reich überwechselt. (siehe Beispiel beim 3. Heilgesetz). Es können sich Reizbarkeiten,Unzufriedenheiten, Ängste, qualvolle Ängste, Apathie, Unlust, Depression bis hin zurSelbtsmordneigung einstellen (siehe das Beispiel Goldtherapie bei Rheumakranken).Um in der Terminologie von Swedenborg zu sprechen, gibt es somit ein Äußeres, Inne-res und Innerstes. Das Äußerste des Menschen ist die körperliche Ebene, das Innere istdie emotionale oder Gefühlsebene und das Innerste ist die geistige oder Verstandesebe-ne. Diese Dreiheit steht nicht nebeneinander sondern ist ineinander verschachtelt (sie-he Zeichnung). Alles Geschaffene ist nach dieser "Dreifaltigkeit" aufgebaut. Die körper-liche Ebene wiederum hat auch ein Äußeres, Inneres und Innerstes. Zum äußeren kör-perlichen Bereich gehören (von außen nach innen betrachtet): Haut, Schleimhaut, Mus-keln, Knochen, Bänder, Gelenke usw. Zum Inneren zählt man die edleren Organe. DieWichtigkeit eines Organes richtet sich nach der Schädigung, die der Gesamtorganismuserfährt, wenn das Organ verletzt wird. Von außen nach innen betrachtet zählen dazuMagen, Darm, Blase, Niere, Lunge, Leber. Zum Innersten auf der körperlichen Ebenezählen die Hormondrüsen, Herz und Gehirn. Zum emotionalen oder inneren Bereich desMenschen zählen von außen nach innen betrachtet die Zufriedenheit, Gelassenheit, Ur-vertrauen, Selbstwertgefühl, Kontaktfähigkeit, Gemeinschaftsempfinden und Liebesfä-higkeit.

Zum geistigen Bereich zählen von außen nach innen betrachtet das Konzentrations-vermögen, Gedächtnisfähigkeit, logisches Denken, Vernunft, Selbsterkenntnis undGotterkenntnis. Diese Einteilungen sind natürlich nur "Arbeitsmodelle" um die Störun-gen und den Heilungsverlauf beurteilen zu könnnen. Diese Ebenen korrespondierenstark miteinander und greifen auch ineinander über.

Der äußerste Bereich des Menschen, die Haut, hat auch wieder ein Äußeres, Inneresund Innerstes. Das Prinzip des Äußeren, Inneren und Innersten läßt sich beliebig weiterfortsetzen. Die ganze materielle und immaterielle Schöpfung ist nach diesem Prinzipaufgebaut. Sogar die kleinste Lebenseinheit, die Zelle, hat auch ein Äußeres (Zellhaut),ein Inneres (Zellplasma) und ein Innerstes (Zellkern). Auch der Zellkern hat ein Äuße-res, Inneres usw. Die Apfelfrucht besteht auch aus ein Äußeres (Apfelschale), Inneres(Fruchtfleisch) und Innerstes (Apfelkerne). Der Himmel hat ein Äußeres (unterster

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Himmel), Inneres (Mittlerer Himmel), Innerstes (oberen Himmel). Die Hölle hat eben-falls ein Äußeres (obere Hölle), Inneres (mittlere Hölle) und ein Innerstes (untere Hölle).Selbst der Buchstabe hat (wie wir von Swedenborg wissen) ein Äußeres (natürlichenSinn), Inneres (geistigen Sinn) und Innerstes (himmlischen Sinn).

Die drei Ebenen des Daseins (nach G. Vithoulkas "Die wissenschaftliche Homöopathie")

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Himmel und Hölle nach Emanuel Swedenborg

Krankheiten gehören auf die körperliche Ebene! Wird der Lebenskraft durch ständigeUnterdrückungen die Möglichkeit der Ausleitung auf die körperliche Ebene genommen,so kann sie die Krankheit vom inneren Menschen nicht mehr fernhalten und dieKrankheiten dringen in den inneren Menschen ein. Bei einer guten homöopathischenBehandlung werden sich die geistigen und emotionalen Beschwerden zurückbilden,aber gleichzeitig tauchen auf der körperlichen Ebene adäquate Beschwerden auf. Fürviele Patienten ist es schwer, diese Tatsache einzusehen und ihre Notwendigkeit zuverstehen. Ein "Verpuffen" der Beschwerden ist bei chronisch Kranken nach den Geset-zen der Natur nicht möglich, sondern nur ein ausleiten, was meist nicht angenehm ist.

Werden auch die Probleme der emotionalen Ebene mit ständiger Einnahme von Psy-chopharmaka unterdrückt, so zieht sich die Krankheit auf immer zentralere Bereichedes menschlichen Daseins zurück. Auf der geistigen Ebene kann es nun zu Zerstreut-heit, Vergeßlichkeit, Konzentrationsschwäche, Stumpfheit, Lethargie, Paranoia, Geistes-verwirrung und evtl. zu Alzheimer kommen. Man hat festgestellt, daß Patienten mitGeistesverwirrungen nicht mehr fähig sind körperlich akut krank zu werden. Es sindkeine Ausleitungsprozesse wie Schnupfen, Husten und Fieber mehr möglich. Die

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Krankheit spielt sich hauptsächlich auf der geistigen Ebene, auf der Ebene des innerenMenschen ab. Kent: "Aber der Kranke von heute wird einer nicht weniger gefährlichenTherapie unterworfen, nur merkt man lang nichts, da die Drogen seine geistigen Fähig-keiten herabsetzen." (Ausspruch Kents um 1900!).

Alzheimerkranke Menschen sind oft körperlich relativ gesund, wissen aber nicht mehr,wer sie sind, wo sie wohnen, können die Angehörigen nicht mehr erkennen! Sweden-borg: "Der Mensch ist Mensch durch seinen Willen und Verstand!" Was passiert mitdem inneren Menschen dieser Alzheimerkranken, wenn der innere (hier kranke)Mensch seinen Körper verlässt? Swedenborg: "... der leibliche Tod tangiert den innerenMenschen überhaupt nicht, er ist nur eine Versetzung des Menschen aus der irdischenin eine andere, geistigere Seinsweise". Was eine scheinbare "Heilung" für den Körperist, wird zum Unheil für den inneren ewigen Menschen. Die Menschen wollen ein ge-nußvolles, vergnügliches äußeres Leben - und dazu passen diese lästigen Krankheitennicht, die hässlichen Hautausschläge usw. Die Schulmedizin betrachtet den Menschenvon außen her, und ist ein Hautausschlag verschwunden, so ist der Mensch anschei-nend geheilt. Die Homöopathie betrachtet den inneren Menschen und beobachtet alleVeränderungen auf der Geistes- und Gemütsebene.

Die homöopathische Therapie besteht nicht im Konsum von Arzneien, sondern ist einWeg, den der Patient mit seinem Therapeuten geht. Der Therapeut hat das Ziel, diesenPatienten ohne regelmäßige Arzneieinnahme in einen freudvollen, zufriedenen undkraftvollen inneren Gesundheitszustand zu führen. Danach erst kommt auch die Hei-lung des äußeren Menschen! "Denn unsere Trübsal, die zeitlich und leicht ist, schaffteine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit, uns, die wir nicht schauen aufdas Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare. Darum werden wir nicht müde, sondern obunser äußerlicher Mensch verdirbt, so wird doch der innerliche von Tag zu Tag erneu-ert. Denn was sichtbar ist, das ist zeitlich, was aber unsichtbar ist, das ist ewig!" (2. Kor.4,16-18).

Ein Homöopath erkennt die Stärke der Lebenskraft an ihrer Fähigkeit, Krankheiten aufder körperlichen Ebene zu halten. Kommt z. B. ein Patient und berichtet, daß der Haut-ausschlag durch eine Vitaminsalbe schnell verschwunden ist, weiß der Homöopath, daßhier eine geringe Vitalität der Lebenskraft vorliegt. Kommt dagegen ein Kind mit Neu-rodermitis, das schon seit Jahren ohne "Erfolg" mit Cortisonsalbe behandelt wird, sokann man auf eine starke Lebenskraft, die sich nicht so schnell unterdrücken läßt,schließen. Zusammenfassung: Werden die äußeren Erscheinungen entfernt, bleiben dieinneren Bedingungen unverändert, und die innere Krankheit schreitet im Laufe der Zeitweiter zum Zentrum. Wird eine Krankheit, die eine bestimmte Kraft besitzt, äußerlich

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unterdrückt, wendet sich die gleiche Kraft gegen ein anderes meist lebenswichtigeresOrgan. Eine wahrhafte Heilung verläuft immer von innen nach außen.

Auch Swedenborg spricht im Homo Maximus S. 124f von dieser Ausleitung von innennach außen: "Dennoch gibt es umherschweifende Geister von der höllischen Rotte, wel-che gefährlicher sind als andere. Weil diese im Leibesleben gewöhnt waren, in die Nei-gungen des Menschen einzugehen, um ihm zu schaden, behalten sie auch im andernLeben diese Begierde bei und suchen auf alle Weise in den Geschmack beim Menscheneinzugehen, und wenn sie in denselben eingegangen sind, besitzen sie sein Inwendiges,nämlich das Leben seiner Gedanken und Neigungen, denn wie gesagt, solches ent-spricht, und was entspricht, das wirkt zusammen. Von solchen werden sehr viele heut-zutage besessen, denn es gibt heutzutage inwendigere Besessenheiten, nicht aber wieehemals auswendigere [18. Jhd.] … Jene gefährlichen Geister gehen hauptsächlich dar-auf aus, daß sie alle inneren Bande lösen, welche sind die Neigungen zum Guten undWahren, Gerechten und Billigen, die Furcht vor dem göttlichen Gesetz, die Scheu, derGesellschaft und dem Vaterland zu schaden. Es wurde mir auch gezeigt, wie sie wegge-trieben wurden (die höllischen Geister). Als sie nämlich in die inwendigeren Teile desHaupts und Gehirns einzudringen meinten, wurden sie durch die Absonderungswegedaselbst abgeführt und zuletzt gegen die äußeren Teile der Haut getrieben. Und hernachsah man, wie sie in eine Grube, die voll von ausgelöstem Schmutz war, geworfen wur-den. Ich wurde belehrt, daß solche Geister den schmutzigen Grübchen auf der äußerstenHaut, wo die Krätze ist, somit der Krätze selbst entsprechen." (= Heilung von innennach außen!) Durch die allopathischen Behandlungen wird verhindert, diese höllischenGeister aus dem Inneren hinauszutreiben. Bei Alzheimer z. B. kann der Geist nichtmehr hinunter bis ins Natürliche hinein wirken! Dieser Mensch hat alle Verstandesfä-higkeit (Selbsterkenntnis und Gotterkenntnis) verloren. Es werden nur noch die körper-lichen Bedürfnisse befriedigt! Hahnemann ging davon aus, daß eine homöopathischeKur nur dann erfolgreich war, wenn sich am Ende der Behandlung ein Hautausschlagzeigte - auch bei den Patienten, die nie zuvor unter einen Hautausschlag litten! Auslei-tung der "höllischen Rotte".

Vom inneren ewigen Menschen aus betrachtet, ist das, was wir üblicherweise "Krank-heit" nennen (also z.B. Husten, Schnupfen, Fieber), nicht die eigentliche Krankheit, son-dern vielmehr der Versuch der Lebenskraft, die innere Ordnung wieder herzustellen!Krankheit ist so betrachtet eigentlich ein Heilprozess! Die Befindensveränderungen, diewir dabei verspüren, sind eben dieser Versuch der Lebenskraft, die innere Krankheit zuüberwinden um die Ordnung wieder herzustellen! Der juckende und brennende Krätze-ausschlag auf der Haut ist ein notwendiger Heilprozess für den inneren Menschen!Durch äußere Behandlung mit Salben und dergleichen kommt es zur Unterdrückungund die "höllische Rotte" kann ins Inwendige des Menschen vordringen! Das was den

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äußeren Menschen scheinbar krank gemacht hat, ist der Heilprozess des inneren Men-schen. Die homöopathische Arzneiverordnung unterstützt diesen zentrifugalen Auslei-tungsvorgang und wird auch die Krätzebläschen zur Ausheilung bringen. Krankheits-einflüsse können wir nicht spüren. Wir merken nicht, wenn ein grippaler Infekt ein-fließt, erst wenn wir anfangen zu niesen, Halskratzen usw. sich einstellt, dann erst spü-ren wir die Krankheit und sagen "Ich glaube, ich werde krank". Tatsächlich aber ist diesbereits der Versuch, die Krankheit hinauszuleiten. Der eigentliche Abwehrprozeß istschon - unbemerkt und unspürbar - im Inneren abgelaufen, noch bevor wir Befindens-veränderungen unseres gesunden Zustandes bemerken. Diese Befindensveränderungvom gesunden zum kranken Zustand ist aber schon der Heilungsversuch, die Abwehr-reaktion der Lebenskraft auf den immateriellen Krankheitseinfluß. Die Zeit vom nichtspürbaren Einfließen der Krankheit auf der nichtstofflichen Lebenskraftebene ins inneredes Menschen bis zum Zeitpunkt der ersten Krankheitszeichen nennt die Schulmedizin"Inkubationszeit". Aus homöopathischer Sicht ist "Krankheit" immer ein Heilversuchdes Inneren Menschen. Krankheiten gehören auf die körperliche Ebene! Die Schulmedi-zin versucht alle Krankheiten auf der körperlichen Ebene zum Verschwinden zu brin-gen. Ist eine Krankheit äußerlich sichtbar verschwunden, so gilt der Patient als geheilt.

Krankheits- und Ansteckungsgesetze

Kent: "Die Vorgänge bei Krankheit, Heilung und Ansteckung gleichen sich sehr, und diePrinzipien, die sich auf's eine beziehen, gelten auch beim anderen. Bei der Heilung ha-ben wir den Vorteil, den Potenzgrad ändern zu können, und dadurch ist es uns möglich,das Mittel genau der Empfänglichkeitsebene des Patienten anzupassen." Im Folgendenmöchte ich sieben mögliche Reaktionen zeigen, wie die Lebenskraft auf einen äußerenKrankheitsreiz reagiert. Als Beispiel nehmen wir einen Patienten, der an einem chroni-schen Durchfall als seiner natürlichen Krankheit leidet.

1. Diesem Patienten wird eine homöopathische Arznei verordnet, die bei Prüfung amGesunden einen ähnlichen Durchfall hervorruft. Durch den Potenzierungsvorgang istder Reiz stärker als die vorherrschende natürliche Krankheit. Reaktion: Der Durchfallwird geheilt.

2. Der Patient steckt sich mit einer akuten Magen-Darmgrippe an. Diese grassierendeGrippe ist stärker als die vorherrschende Krankheit. Der Patient durchlebt sie intensiv.Reaktion: Nach Abklingen der neu dazukommenden Durchfallerkrankung ist auch derchronische Durchfall geheilt. Diese hinzutretende natürliche Krankheit wirkt wie einhomöopathisch verordnetes Arzneimittel.

Ein Beispiel aus der Geschichte der Medizin, wie zwei natürliche Krankheiten sich ge-genseitig aufheben können: Julius Wagner von Jauregg (1857-1940) erlebte, wie sich

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ein Patienten, der an progressiver Paralyse litt (fortschreitende Lähmung), mit Malaria(Wechselfieber) ansteckte und diese Krankheit sehr heftig durchleiden mußte (trotz sei-ner schon schweren chronischen Krankheit). Zu seiner Überraschung war die MultipleSklerose (fortschreitende Lähmung) nach Abklingen der Malaria vollständig geheilt! Ei-ne stärkere natürliche Krankheit hat die vorherrschende Krankheit durch das Ähnlich-keitsprinzip geheilt (Heilung durch Ansteckung einer ähnlichen natürlichen Krank-heit!). Julius Wagner führte die Malaria- Behandlung bei progressiver Paralyse ein underhielt 1927 den Nobelpreis. Das Heilgesetz, das hinter diesem Geschehen wirkte, hater nicht erkannt. Er erhielt 1927 für seine Entdeckung den Nobelpreis. So können auchheute noch Patienten durch Ansteckung von ähnlichen, stärkeren Krankheiten geheiltwerden.

3. Der Patient mit dem chronischen Durchfall wird mit einer ähnlichen Krankheit kon-frontiert, die nicht stärker ist, als die natürliche vorherrschende Krankheit. Reaktion:keine Ansteckung und zu keiner weiteren Reaktion.

4. Unser Patient bekommt eine allopathische (gegensätzliche) Arznei verordnet. Durchdie häufige, regelmäßige Einnahme ist die Arznei stärker, als die vorherrschende natür-liche Krankheit. Reaktion: Die natürliche Krankheit tritt zurück, sie verschwindetscheinbar. Der Patient bekommt eine künstliche Arzneikrankheit evtl. (je nach Empfind-lichkeit) mit Prüfungssymptomen. Nach Absetzen der Arznei kehrt die alte natürlicheKrankheit zurück (Scheinheilung mit evtl. arzneispezifischen Prüfungssymptomen =Nebenwirkungen).

5. Unser Patient steckt sich mit einem akuten katarrhalischen Infekt an. Dieser Infektist eine gegensätzliche Krankheit (sie hat nichts mit dem Durchfall zu tun). Reaktion:Während der Patient diese akute Grippe mit evtl. Schnupfen und Fieber durchsteht,verschwindet der alte kranke Zustand und sein Stuhlgang ist normal. Klingen die Grip-pesymptome ab, so kehrt der alte chronische Durchfall zurück. Diese Grippe hat wie ei-ne allopathisch gewählte Arznei gewirkt und die natürliche chronische Krankheit un-terdrückt.

6. Dem Patienten wird eine homöopathische Arznei verordnet, die der vorherrschendenKrankheit nur in oberflächlichen Teilbereichen, nicht jedoch "der Gesamtheit der Sym-ptome" ähnlich ist. Reaktion: Es kann zum "Verschwinden" der vorherrschendenKrankheit kommen, jedoch ohne gleichzeitige Besserung des Allgemeinbefindens aufder Geistes- und Gemütsebene, eben der Ebene des inneren Menschen. Die natürlicheKrankheit ist nur unterdrückt. Nach Abklingen der homöopathischen Arzneiwirkungtaucht die alte natürliche Krankheit wieder auf. ("Nicht die Arznei ist homöopathisch,sondern die Verordnung").

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7. Unser Patient kommt mit vielen Menschen zusammen, die eine Bronchitis haben.Diese Bronchitis ist nicht stärker als sein natürliches Krankheitsleiden (chronischerDurchfall). Reaktion: Es kommt zu keiner Ansteckung.

Wenn das homöopathische Gesetz ein Naturgesetz ist, so muß es uns auch im täglichenLeben begegnen.

Das homöopathische Prinzip im täglichen Leben!

1. Bei Erfrierungen: Hier kommt das homöopathische Prinzip sehr deutlich zum Aus-druck. Keine Mutter kommt auf die Idee, über die froststarren Finger ihres Kindes hei-ßes Wasser zu gießen (das wäre die allopathische Behandlung), sondern sie nimmt ähn-lich kalten Schnee oder Wasser und reibt die Finger vorsichtig ein, bis die Durchblutungwieder in Gang kommt.

2. Bei Verbrennungen: Hier ist die allgemeine (allopathische) Behandlung, den betroffe-nen Teil sofort unter kaltes Wasser zu halten. Diese Behandlung hat zwar den Vorteil,daß durch den Schock momentan kein Schmerz spürbar ist, sobald jedoch die Kühlungaufhört, treten sehr heftige Schmerzen auf und die Heilung dauert sehr lange. Dagegensteht die homöopathische Behandlung: Bei Verbrennungen wird der betroffene Teil so-fort mit ähnlicher Hitze, z.B. sehr heißem Wasser oder erwärmtem Alkohol (wie Hah-nemann empfiehlt), behandelt. Der Schmerz wird zwar zunächst noch stärker, läßt aberschon nach kurzer Zeit nach und meist entstehen dann keine Brandblasen. ErfahrenenKöchen war dieses Gesetz schon immer sehr gut bekannt: Bei Verbrühungen undVerbrennungen wird der betroffene Teil immer wieder zur ähnlich heißen Feuerstellegeführt; die Schmerzen lassen schnell nach und es gibt keine Brandblasen.

Homöopathische Heilung im Alten Testament

"Da schickte er gegen das Volk die Vipern, die Brandnattern aus, die bissen das Volkund viel Volk von Israel starb. Das Volk kam zu Moses und sie sprachen: Wir haben ge-sündigt, daß wir gegen ihn redeten und gegen dich, setze dich bei ihm ein, daß er dieVipern von uns wende. Moses setzte sich ein für das Volk und Gott sprach zu Moses:Mach dir eine Brandnatter und tue sie an eine Bannerstange und jeder Gebissene sehesie an und er wird am Leben bleiben. Moses machte die Viper aus Kupfer und tat sie aneine Bannerstange und so war es: Hatte die Viper einen Mann gebissen und blickte erauf die Viper von Kupfer so blieb er am Leben!" (Numeri 21). Tanz ums goldene Kalb:"Als Moses aber nahe zum Lager kam und das Kalb und das Tanzen sah, entbranntesein Zorn, und er warf die Tafeln aus der Hand und zerbrach sie unten am Berge undnahm das Kalb, das sie gemacht hatten, und ließ es im Feuer zerschmelzen und zer-

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malmte es zu Pulver und streute es aufs Wasser und gab es den Kindern Israel zu trin-ken." (Exodus 32).

Zum Schluß möchte ich noch aus Herbert Fritsches Buch "Die Erhöhung der Schlange"zitieren, in dem er sich einige interessante Gedanken über die Wirksamkeit von ho-möopathischen Arzneien und dem Ähnlichkeitsprinzipes macht: "Nun beruht aber dieganze Homöopathie darauf, daß es zahlreiche Kranke gibt, deren Symptome denen dergeprüften Arzneien ähnlich sind, daß also beispielsweise ein Patient mit Belladonna-Symptomen angetroffen werden kann, welcher nicht Belladonna als Arznei im Leibehat. Auch in ihm wirkt Belladonna, jedoch nicht diejenige, die er etwa aus dem Weltbe-stande des Makrokosmos - von außen her - einverleibt bekommen hätte, sondern dieje-nige, die er von vornherein latent in sich hatte und die lediglich jetzt, in Form seinesKrankseins, aus den Tiefen seines Menschenorganismus freigeworden ist. So nur kön-nen wir es verstehen, sonst wäre unerklärlich, daß in der Tat die Symptomengesamtheitder Erkrankungsfälle der Menschheit in ihren Signaturen den Signaturen der am Ge-sunden prüfbaren Arzneien entsprechen. Daß der Makrokosmos im Entsprechungsver-hältnis zum Mikrokosmos Mensch steht, ist Urgut der Initiations-Erkenntnis von Her-mes Trismegistos über Paracelsus bis zu Swedenborg und bis zur Gegenwart. Man mußdas nur konkret genug nehmen. So konkret wie die Homöopathie es lehrt. Dann siehtman, daß alles, was das All enthält, auch im Menschen latent vorhanden ist: die Bella-donna, die Kröte, die spanische Fliege, der Schwefel, das Blei usw. Freilich handelt essich bei solchem Im-Menschen-Vorhandensein nicht um ein stoffliches, sondern um einVorhandensein als Schöpfungs-Prinzip, als okkulte "Eingebundenheit". Kommt es aberdahin, daß sie "eigen-sinnig" werden und mithin gleichsam ins Physische ausbrechen,dann wirken sie, wie die ihnen jeweils entsprechende Arzneiprüfung am Gesunden, d.h.sie rufen Symptome hervor, sie machen krank. Das Eigen-sinnig-Werden der dynami-schen Prinzipien im Menschen, die Wendung ins krankmachend Stoffliche, läßt sichbeweisen. Gibt man Kranken, deren Symptomenbild auf Schwefel hinweist, potenzier-ten Schwefel als homöopathische Arznei, so zeigt sich, daß die Patienten während derHeilung ungeheuer zu nennende Mengen Schwefel durch die Haut ausscheiden, bis zu5,76 Gramm täglich, von der dynamisierten Arznei aus dem Gewebe geschwemmt. EinSieg des Geistes über die Materie. Der unerlaubt materiell gewordene, der eigen-sinnig"bockende" Schwefel wird aus dem Organismus des Kranken hinausgedrängt. Dadurch,daß der Schwefel "dumm" wurde, kam es zu den Schwefelsymptomen -: in solchem Sin-ne darf man sagen, Krankheit ist "Arzneiprüfung". Zugleich aber kam es zu einem Aus-fall des Schwefels als eines zum Menschen gehörigen dynamischen Prinzipes. Diesesdynamische Prinzip hat sich auf anarchische Weise in etwas Materielles metamorpho-siert und fehlt mithin nun im gesunden Zusammenspiel der Dynamis. Die daraufhin "inErscheinung tretenden" Symptome besagen nicht nur, daß "dumm" gewordener Schwe-

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fel den Organismus vergiftete, sondern sie melden auch den Hunger nach dem an, wasdem Kranken fehlt. "Was fehlt Ihnen?", fragt der Therapeut seinen Patienten. Der The-rapeut, der angesichts der Sulfur-Symptomatik des Kranken sieht, daß dynamisierterSchwefel fehlt, verordnet solchen als die passende Arznei. Damit stillt er den Hunger,den höchst spezifischen Sulfur-Hunger - und stillt ihn nicht durch massive Gaben (denndavon fehlt ja nichts, es ist im Gegenteil viel zu viel vorhanden), sondern durch Arznei-"Geist", welcher alsdann den "Sieg über die Materie", über den "dumm gewordenen"Schwefel erwirkt, indem er ihn ausscheidet. Die Symptome verschwinden dann: dieSymptome, welche sowohl Hunger bekunden (nach dem fehlenden dynamischen Prin-zip), als auch zugleich "Überfütterung" (mit der Materie, zu der sich dieses Prinzip me-tamorphosiert hatte). Der Organismus hat das Fehlende wiedererlangt, Heilung = Wie-der-Ganz-Werdung kann verbucht werden."

Weiter heißt es an anderen Stellen: "Auch Leibbrand kommt zu dem Ergebnis: 'DerMensch ist krank.' Er lebt im Grunde genommen aus dem Zentrum seiner Schwächeund 'Deine Gesundheit ist also entgiftete Krankheit'. 'Überdies tritt Erkrankung stets alsSchicksal auf. Nur in einem vollends sinn-entleerten Weltbild kann man die Meinungproduzieren, so eindringliche Ereignisse wie das Erkranken kämen als peinliche Zufällebeim allgemeinen Hin und Her des kosmischen Getriebes zustande. Warum gerade ich?,fragt der Kranke gern. Oberflächliche Ärzte beruhigen ihn dann mit Belehrungen überbiologisches Malheur, z.B. mit Hinweisen auf eine als Unfall zu bewertende Infektionoder auf Diätfehler. Kann aber der wirklich zum Therapeuten taugen, der nicht spürt,daß jede Krankheit Ruf ist und damit Forderungen an den Kranken stellt? Daß Erkran-kungen gegenüber die Einstellung Jakobs zu gelten habe: 'Ich lasse dich nicht, du se-gnest mich denn!', sehen heute die Besten unter den Ärzten ein. Der Segen, der errun-gen werden soll, läßt sich volkstümlich dadurch ausdrücken, daß der Geheilte als besse-rer Mensch aus seiner Erkrankung hervorgehen möge. Und das trifft präzis zu: EinSchritt vorwärts in Richtung echter Menschwerdung muß jedes Krank- und Geheiltwer-den führen.' 'Das therapeutische christliche Mysterienwort 'Ecce homo!' - das ein Nicht-Christ ausrief, heißt auf Deutsch: 'Sieh da: der Mensch!' Pilatus entdeckte das heilsameSimile (das individuelle Heilmittel) des Homo sapiens, bevor er dieses Simile der denHomo sapiens erlösenden Passion preisgab. Nach Maßgabe seiner hochpotenziertenDurchchristung gerät der Mensch also ins Kraftfeld der Heilung. Im Erlöser wird Gottdem Menschen ähnlich und damit zu dessen Simile, welches durch ähnliches Leidenwirkt - Golgatha und sein Passions-Vorspiel sind menschenähnliches Leiden des men-schenähnlich gewordenen Gottes, aber dieses wieder hat der Mensch zu 'assimilieren',es hat dem Menschen vom Menschen her an- und eingeähnlicht zu werden, damit esHeil erwirke." Nicht Gleiches heilt, nicht Gegensätzliches heilt, sondern Ähnliches heiltÄhnliches!

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Swedenborg und KentÜber den Einfluß von Emanuel Swedenborg auf die homöopathischePhilosophie von James Tyler Kent

von Dr. med. Emiel van Galen

In der Ausübung der homöopathischen Heilkunde spielt heute die genuine - zumeist"klassisch" genannte - Richtung eine herausragende Rolle. Ein wichtiger Aspekt für dieHomöopathie sind das Ausmaß an theoretischem Unterbau und die Regeln, die zu ihremGebrauch als therapeutischem System entwickelt sind. Zwei Namen in der Homöopathieragen dabei heraus: Constantin Hering wegen der großen praktischen Bedeutung desnach ihm benannten "Gesetzes", mehr aber noch James Tyler Kent, der einen Grundsteinder klassischen Homöopathie in seinen "Lectures on Homoeopathic Philosophy" gelegthat. Die klassische Homöopathie von Hering und Kent basiert auf dem genauen Umgangmit dem Ähnlichkeitsgesetz von Hahnemann, wobei die Symptome in ein hierarchischesSystem gesetzt werden unter einer auffallenden Betonung der Gemütssymptome undsolcher, die im jeweiligen Fall besonders eigenartig und merkwürdig sind.

Diese Vorgehensweise unterscheidet sich radikal von denjenigen Schulen, die einzigund allein auf der Grundlage des Ähnlichkeitsprinzips Mittel in niedrigen Potenzen ver-schreiben. Dieser Konflikt, der die Versuche, die Homöopathie auf eine eindeutigeGrundlage zurückzuführen, fortwährend behindert, macht zugleich eine befriedigendeUntersuchung ihrer philosophischen Grundlagen äußerst schwierig. In der Diskussionüber diese Grundlage der homöopathischen Theorie und Praxis bleibt ein bestimmterAspekt fortdauernd ungenannt; dies gilt auch für die homöopathische Ausbildung undfür Veröffentlichungen über die Forschung nach den philosophischen Grundlagen. Dieklassische Schule ist nämlich, so wie sie durch die Lehre und das Werk von Hering undKent vor hundert Jahren begründet wurde, tiefgehend beeinflußt durch die im 18. Jahr-hundert entstandenen philosophischen Ideen des schwedischen Gelehrten, Philosophenund Mystikers Emanuel Swedenborg.

Dieser Artikel versucht, jene Lücke zu schließen und einen Beitrag für die Grundlagen-forschung zu liefern, die notwendig ist, um die Homöopathie im heutigen Rahmen zufestigen und ihr gleichzeitig eine stärkere und deutlichere eigene Identität innerhalbder allseitig bezweifelten "Werte-Freiheit" unserer naturwissenschaftlichen Wirklichkeitzu geben.

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Emanuel Swedenborg (1688 - 1772)

Der schwedische Gelehrte Emanuel Swedenborg durchlief während seines Lebens eineEntwicklung vom begnadeten Gelehrten, der als einer der ersten verschiedene Entdek-kungen auf naturwissenschaftlichem Gebiet machte, zum Begründer einer Philosophie,die sich schließlich zu einer eigenständigen Form christlicher Theologie entwickeln soll-te und in zunehmendem Maße stets mehr mystische Elemente enthielt.

Seine wissenschaftliche Grundhaltung wurde geprägt durch die Philosophie von Des-cartes, den Theorien von Isaac Newton und die aufkommenden Naturwissenschaften. ImJahr 1715 wurde Swedenborg durch den schwedischen König mit der Aufsicht des Berg-bauwesens beauftragt, woraufhin er 1734 sein erstes Werk über die Mineralien veröf-fentlichte: "Opera Philosophica et Mineralia"69 Hierin entwickelte er seine Naturphiloso-phie mit Elementen von Descartes, Leibniz und dem englischen Philosophen Locke. In"De Cultu et Amore Dei" von 1745 beschrieb Swedenborg eine Nebeltheorie über dieEntstehung des Weltalls, in welcher Gedanken des Philosophen Kant und des Naturge-lehrten Laplace zu erkennen sind. Weiterhin ist Swedenborg bekannt geworden für seineoriginellen Ideen zur Anatomie und Psychologie, die in "Oeconomia Regni Animalis"70

von 1741 und vor allem in "Regnum Animale"71 von 1744 - 1745 zu finden sind. Offen-bar war Swedenborg sein ganzes Leben lang bestrebt, zur allumfassenden Synthese zukommen. In diesen Werken sind die Versuche, Verbindungen zwischen Körper undPsyche, zwischen unterschiedlichen Organen und schließlich zwischen der spirituellenund materiellen Welt zu legen, überall nachzuweisen.

Nach 1745 geht die naturwissenschaftliche Vorgehensweise von Swedenborg fließendüber in eine persönliche Theologie und - unter Einfluß spiritueller Erfahrungen - in einepersönliche Mystik. Dies ließ eine Vielzahl von geistlichen Werken entstehen, die allenach seinem 57. Lebensjahr geschrieben sind. Sein bekanntestes geistliches Werk ist"Arcana Coelestia" aus den Jahren 1749 - 1756.

Swedenborgs Einfluß

Es ist wahrscheinlich, daß Swedenborg wesentlich häufiger gelesen wurde und viel mehrEinfluß hatte, als öffentlich zugegeben wurde. Die Zurückhaltung liegt möglicherweise

69 Swedenborg, E.: Opera Philosophica et Mineralia. 3 Vols. Friedrich Hekel, Dresden, Leipzig 1734.70 Swedenborg, E.: Economy of the Animal Kingdom (Oeconomia Regni Animalis, 1740 - 1741). 2 Vols.

Übers. von A. Clissold. William Newberry, London 1845. Repr., Swedenborg Scientific Association,Philadelphia 1955.

71 Swedenborg, E.: Animal Kingdom (Regnum Animalis, 1744 - 1745) 2 Vols. Übers. von J.J.G. Wilkin-son, William Newberry, London 1843, Repr. Bryn Athyn, Swedenborg Scientific Association, Phil-adelphia 1960.

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in Swedenborgs Lebensabschnitten als Mystiker begründet, die manchmal nur schwer ineinen Zusammenhang mit seiner "rationalen" und "wissenschaftlichen" Vorgehenswei-se und Publizistik aus den ersten fünfzig Jahren seines Lebens zu stellen sind. Unterberühmten Namen, die Swedenborg als Inspirationsquelle genannt haben, finden wir Co-leridge, Carlyle, Tennyson, Goethe, Heine, Thoreau, Blake, Emerson, Baudelaire, de Balzac,Dostojewski, Ezra Pound, August Strindberg und Jorge Luis Borges.

Der amerikanische Transzendentalismus gilt als die geistige Bewegung, die die großenSchriftsteller Neu Englands und der amerikanischen Ostküste im 19. Jahrhundert ge-formt hat. Auch diese intellektuelle Bewegung ist tiefgehend durch die Philosophie Swe-denborgs beeinflußt.72

Der Transzendentalismus

Swedenborgs philosophische Ideen erreichten um 1784 die Ostküste Amerikas und füg-ten sich unmittelbar in das damalige intellektuelle Klima in diesem Teil der Neuen Weltein. Die intellektuelle Strömung beruhte zu einem großen Teil auf dem Erstarken desneuen wissenschaftlichen Verständnisses der Natur, aber es blieb auch Raum für tradi-tionelle Vorstellungen über die fundamentale Einheit der Schöpfung und die alten pla-tonischen Philosophien. In diese Synthese zwischen dem Wissenschaftlichen und demMystischen fügte sich die Philosophie Swedenborgs harmonisch ein und führte zu einerneuen Art von Kirchengemeinschaft. Sie wurde "New Church" genannt, die Mitgliederwaren bekannt unter dem Namen "Swedenborgianer".

Die Wurzeln der "New Church" liegen in London (1789). Die "New Church" in den Ver-einigten Staaten wurde 1792 in Baltimore gegründet, und 1817 wurde in Philadelphiader erste Konvent der "Church of the New Jerusalem" abgehalten. Auch wenn die mo-derne Swedenborgsche Kirche noch immer auf der Theologie von Emanuel Swedenborgaufbaut, muß betont werden, daß Swedenborg selbst während seines Lebens niemals ei-ne Kirche gegründet hat.

In diesem Milieu war Raum für eine persönliche, christliche Lebensüberzeugung, diesich mühelos mit der aufkommenden "betrachtenden Wissenschaftlichkeit" der Erleuch-tung, der Naturphilosphie des frühen Swedenborg, der mystischen Theologie des spätenSwedenborg, neuen Auffassungen über die Literatur usw. verband73.

72 Treuherz, F.: The Origins of Kents Homoeopathy. Journal of the American Institute of Homeopathy 77

(1984) 130-150.73 Gardiner, H.: Swedenborg´s Philosophy and Modern Science. British Homoeopathic Journal 49

(1960) 195-205.

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In diese eklektische Überzeugung paßte die Homöopathie als neue, ursprüngliche Heil-kunde, die schon früh durch die Swedenborgianer übernommen wurde. Beide Systemeverschmolzen miteinander. In der Verbindung der Philosophie Swedenborgs mit derHomöopathie im Amerika des 19. Jahrhunderts spielte Dr. Garth Wilkinson (1812 -1899) eine entscheidende Rolle74. Wilkinson war ein homöopathischer Arzt, der bekanntgeworden ist, nachdem er als erster - während seiner Ferien auf Island - die heilendeWirkung der Asche des Vulkans Hecla erkannt hatte (Entstehung von Knochen-Exostosen). Er nahm daraufhin etwas Hecla-Lava mit nach Hause und potenzierte sie.Neben seinen Verdiensten als homöopathischer Praktiker hat Wilkinson noch in einemanderen Bereich Bedeutung erlangt. Er übersetzte Swedenborgs Werke "Arcana Coele-stia", "Regnum Animale" und "Oeconomia Regni Animalis" erstmals aus dem Lateini-schen ins Englische75.

Ein Jahrhundert nachdem Swedenborg sie verfaßt hatte, kamen seine Werke mit einerneuen intellektuellen Strömung und damit mit Vertretern der Homöopathie in Berüh-rung. Dies führte unmittelbar zu einer "chemischen Reaktion"76. Nach Harris L. Coulter77

war Dr. Garth Wilkinson am Hahnemann-College in Philadelphia ausgebildet worden,welches 1848 durch Constantin Hering errichtet worden war. Hering war zugleich Mit-glied der ersten "Society of Swedenborgians" in Philadelphia. Auch Hans Gram, der dieHomöopathie als erster in Amerika eingeführt hatte (1825), Otis Clapp aus Neu England,John Ellis aus Michigan und die Verleger Boericke und Tafel waren bekannte Sweden-borgianer. Boericke und Tafel brachten viele homöopathische Bücher heraus, aber auchalle Übersetzungen der Werke Swedenborgs78. Garth Wilkinson war im übrigen über Hen-ry James Sr. mit der Homöopathie in Berührung gekommen, einem einflußreichen Verle-ger und Vater der amerikanischen Schriftsteller William und Henry James Jr. Henry JamesSr. war bereits ein bedeutender Swedenborgianer und ein wichtiger Begründer desTranszendentialismus als literarischer Strömung an der Ostküste der Vereinigten Staa-ten79.

Die Beziehungen zwischen den Swedenborgianern und der Homöopathie waren demzu-folge bereits sehr eng, und es war dann auch selbstverständlich und auch gesellschaft-lich akzeptiert, sich als Homöopath mit der "New Church" zu verbinden. Die Position

74 Treuherz, F. a.a.O.75 Swedenborg, E.: Animal Kingdom a.a.O.; Treuherz, F.: a.a.O.76 Treuherz, F. : a.a.O.; Campbell, A.: The Two Faces of Homeopathy. Robert Hale Limited, London 1984.77 Coulter, H.L.: Divided Legacy. Vol. 3: Science and Ethics in American Medicine, 1800-1914. North Al-

tantic Books, Richmond/California.78 Tafel, R.L.: Documents on Swedenborg - Documents Concerning the Life and Character of Emanuel

Swedenborg. 2 Vols., bound as 3. Swedenborg Society, London 1875, 1877.79 Campbell, A.: The Two Faces ... Robert Hale Ltd. London 1984; Treuherz, F.: a.a.O.

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von Constantin Hering macht deutlich, warum so viele Homöopathen dieser Zeit bei derGemeinschaft der Swedenborgianer Mitglied wurden. Ein vielsagendes Zitat von Hering:"Während die Swedenborgianer aus gutem Grund eine homöopathische Behandlung be-vorzugen dürften, gibt es überhaupt keinen Grund, warum alle Homöopathen Sweden-borgianer sein sollten."80

Hering war der Überzeugung, daß Wissenschaft sich nicht zu beweisen hatte, indem sieeine religiöse Doktrin übernahm. Aber Philadelphia war ein Mittelpunkt der "NewChurch". Viele Kollegen Herings und viele seiner Schüler waren mit Swedenborgs Ideenin Berührung gekommen, und vielleicht war es in dieser Zeit auch durchaus Mode, Mit-glied dieser etwas elitären, intellektuellen, aber auch gesellschaftlichen Vereinigung zusein. Hering war jedenfalls Mitglied der "New Church" von Philadelphia und war jeder-zeit bereit, die philosophischen Schnittstellen zwischen der Homöopathie Hahnemannsund der Lehre Swedenborgs zur Diskussion zu stellen.

Es ist übrigens fraglich, ob viele Homöopathen allein aus religiöser Überzeugung Mit-glied der Swedenborgianischen "New Church" wurden. Es gibt keine Hinweise darauf,daß die großen Homöopathen in der alltäglichen Organisation der Kirchengemeinschafteine Rolle spielten. Wahrscheinlicher ist, daß viele Homöopathen in der PhilosophieSwedenborgs ein ausgearbeitetes System sahen, das ihnen dabei behilflich war, der Ho-möopathie ein festes Fundament zu geben.

Swedenborg und Kent

Nach Pierre Schmidt81 gehörte Kent erst nach dem Tod seiner Ehefrau den Swedenbor-gianern an. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits Rektor der "Philadelphia PostgraduateSchool of Homeopathy". Diese Berührung mit der Philosophie Swedenborgs muß dem-nach in den Jahren zwischen 1888 und 1899 vermutet werden.

80 Peebles, E.: Homeopathy and the New Church. In: Homeopathy and the Swedenborgian Perspective.

P. 468 - 472.81 Schmidt, P.: The Life of James Tyler Kent. British Homoeopathic Journal 53 (1964) 152-160.

dto.: Biographie von James Tyler Kent, Zeitschrift für Klassische Homöopathie (ZKH) 6 (1962) 278-293.dto.: Biography of James Tyler Kent, BPh, MA, MD, 1849-1916. Voorwoord Final Edition Repertory, p.3-11.dto.: A Propos du Kentisme, Cahiers du Groupement Hahnemannien (1964) 180-184.dto.: Le Kentisme et al biographie de J.T. Kent: Cahiers du Groupement Hahnemannien (1964) 140-155.

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Nach Aussage des Autors Frederic Schmid82 war Kents zweite Ehefrau Clara Louise je-doch eine führende Figur der Swedenborgianischen Kirche in Philadelphia, und er istdurch sie mit Swedenborgs Gedankengut in Kontakt gekommen. Obwohl Garth Wilkinsonals Homöopath und als Übersetzer Swedenborgs Bekanntheit erlangt hatte, gibt es kei-nen unmittelbaren Beweis dafür, daß Kent die Übersetzungen Wilkinsons wirklich gele-sen hat.

Kents Brief an Rev. W. F. Pendleton

Der Einfluß seiner zweiten Ehefrau Clara Louise Kent (1856 - 1943) auf Kents Werk darfnicht unterschätzt werden83: "Das Repertorium wurde in einer durch Clara Louise Kent,

82 Schmid, F.W..: Reflections on the Tombstone of James Tyler Kent. Transactions of the Liga Medico-

rum Homoeopathica Internationalis, Sussex 1982, p.345.83 Kent, J.T.: Repertory of Homoeopathic Materia Medica. Ind. ed., repr. from 6th Am. ed. B. Jain Publi-

shers, New Delhi.

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der geliebten Witwe des berühmten Autors, revidierten Fassung veröffentlicht." Der Au-tor dieses Aufsatzes entdeckte vor kurzem in der »Swedenborg Library«, Bryn Athyn(USA), einen Brief, den James Tyler Kent am 13. November 1900 geschrieben hatte. Erbeweist, daß Kent ein Mitglied der swedenborgschen Neuen Kirche in Evanston gewe-sen ist. Der Empfänger ist Rev. W. F. Pendleton. Kent wohnte »Suite 707, 92 StateStreet, Chicago«.84

Laut Treuherz sind Kents "Lesser Writings" in dieser Hinsicht am bedeutendsten. KentsVerweise auf Swedenborg sind in seinen anderen Werken indirekter Natur85. Kent nann-te seine Potenzreihe 30, 200, M 10M, 50M, CM, MM "Oktaven in der Reihe der Grade"86

(in Übereinstimmung mit Swedenborgs "Lehre von den Graden" und dessen Ideen überdie Unendlichkeit; siehe unten). Kent kommentierte Herings Heilgesetz wie folgt: "DasZentrum des Menschen besteht aus Willen, Vernunft und Gedächtnis, und diese beein-flussen den physischen Organismus. Diese Vorstellung spielt in Anbetracht der Ent-wicklung der Symptome - vom Innersten zum Äußersten - eine Rolle ... Und diese Vor-stellung wird praktisch bei der Gewichtung der zu repertorisierenden Symptome ange-wandt ... Die physischen Organe entsprechen dem Zentrum des Menschen, dem Willenund der Vernunft."87 (in Übereinstimmung mit Swedenborgs "Lehre von den Graden").Schließlich schreibt Kent in seinen "Lesser Writings": "Durch meine Vertrautheit mitSwedenborg habe ich erkannt, daß die aus dem Worte Gottes hervorgebrachte Entspre-chung mit allem, was ich erfahren habe, übereinstimmt."88

Bei der Neuauflage von Kents "Lectures on Homoeopathic Philosophy" erschien unteranderem ein Vorwort von George G. Starkey: "Dr. Kent war zugestandenermaßen einemanderen genialen Geist zu Dank verpflichtet, Emanuel Swedenborg, dessen Rang alsWissenschaftler und Forscher von den führenden Wissenschaftlern und Forschern inEuropa und Amerika nur zögernd anerkannt wird. Mit einer genialen Begabung, die ineinzigartiger Weise die Fähigkeiten der Intuition und des rationalen Denkens verband,

84 Der Wortlaut des Briefes: »My dear Bishop, As the Rev. L. P. Mercer has organised a new society in

Evanston, Mrs. Kent and myself desire to associate with it. We therefore request that you send us let-ters of dismissal such as it is proper for us to have, that we may unite here. Our first service washeld last Sunday and there were twenty members of the New Church present. Mr. Mercer told methere were forty New Churchmen in reach of Evanston and he expected to make it his headquartersshortly. At present we have afternoon service but after the first of the year we expect to have mor-ning service. Sincerely, J. T. Kent«. Eine Abbildung des Briefes findet man in »Homœopathic Links« 3(1994) 29 und am Ende dieser Veröffentlichung.

85 Treuherz,F.: a.a.O.; Kent, J.T.: New Remedies, Clinical Cases, Lesser Writings, Aphorisms and Pre-cepts. Erhart and Karl, Chicago 1926. Repr., B. Jain Publishers, New Delhi 1981.

86 Treuherz, F.: a.a.O.87 Treuherz,F.: a.a.O.88 Kent , J.T.: New Remedies, Clinical Cases , Lesser Writings, Aphorisms and Precepts. Erhart and Karl

Chicago 1926. Repr., B. Jain Publishers, New Delhi 1981.

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schuf Swedenborg neue Grundsätze. Einer davon ist die Lehre von den Reihen und Gra-den."89 Zudem soll Kent laut Starkey gesagt haben: "Meine ganze Lehre gründet sich aufHahnemann und Swedenborg; ihre Lehren entsprechen sich vollkommen."90

Swedenborgs Lehre von den Entsprechungen

Für Swedenborg war es von grundlegender Bedeutung, daß eine mystische Entspre-chung zwischen der geistigen Welt und unseren materiellen Dingen bestand. Sweden-borg lehrte, daß Form und Funktion des Menschen (Mikrokosmos) einem Vorbild in derspirituellen, höheren Wirklichkeit (Makrokosmos) nachgestaltet waren. Alles, was dortin der höheren Welt bestand und geschah, spiegelte sich wider in dem Ähnlichen, dassich in der weltlichen Wirklichkeit auf der Erde befand. Diese Idee der "Entsprechun-gen" ist schon sehr alt und wird gemäß Swedenborg bereits auf verschiedene Weise inder alchemistischen Tradition getroffen. Swedenborgs Lehre der Entsprechungen be-trachtete das Universum als ein symbolisches System, welches in ein göttliches Lichtgestellt werden kann, wenn auch in verschiedenen Abstufungen. Es ist ein universellerSymbolismus, in dem alles in der Außenwelt Sichtbare der Natur ein spirituelles Äqui-valent in der Innenwelt hat.91 Die Swedenborgianer betrachteten die Lehre der Entspre-chungen unmittelbar als ein Naturgesetz, das schon seit jeher bestanden hat. Diese Leh-re ist das Kernstück der Theorie, in der Swedenborg die spirituelle Welt mit der materiel-len Wirklichkeit verbindet. Die Anhänger Swedenborgs fanden in der Homöopathie Hah-nemanns ein wissenschaftliches System vor, das in den Begriffen der Heilkunde exaktmit den Prinzipien dieser Lehre übereinstimmte. Nach Emerson: "Swedenborg sah undzeigte die Verbindungen zwischen der äußeren Welt und der Seelenlage."92

Swedenborgs Lehre von den Graden

In "Oeconomia Regni Animalis"93 und "Regnum Animale"94 beschrieb Swedenborg seineStudien der Anatomie und der Psychologie des Menschen; zwei Felder, die für Sweden-borg übrigens in wechselseitigem Bezug zueinander stehen. Swedenborg studierte dieAnatomie, aber betrachtete sie nicht allein als etwas Objektives, sondern wünschte die

89 Starkey, G. G.: James Tyler Kent, voorwoord bij Lectures on Homoeopathic Philosophy. B. Jain Publi-

shers, New Delhi.90 Starkey, G.G.: a.a.O.91 Edwards, P.: The Encyclopedia of Philosophy. Vol. 7/8. Macmillan Publishers, 1972.92 Treuherz, F.: a.a.O.93 Swedenborg, E.: Economy of the Animal Kingdom (Oecon. Regni Animalis 1740 - 1741) A. Clissold

a.a.O.94 Swedenborg E.: Animal Kingdom (Regnum Animalis, 1744 - 1745) J.J.G. Wilkinson, a.a.O.

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Anatomie des Körpers auch als "Königreich der Seele" zu sehen, etwas, das auch in denTiteln seiner wissenschaftlichen Werke zum Ausdruck kommt.

Swedenborg unterschied drei hierarchische Strukturen im Menschen, die in Form einerSpirale miteinander verbunden sind. Obenauf stand die Seele mit dem Willen als Trieb-feder, als Gefühl (für dieses Niveau gebraucht Swedenborg den Begriff "singular", ein-malig/eigen). Das mittlere Niveau ist die Vernunft, mit dem Verstand und der Absicht(für dieses Niveau wird der Begriff "particular" gebraucht). Das niedrigste Niveau bein-haltet die Einbildung, die Erinnerung und das Verlangen und beeinflußt die Körperfunk-tionen. Dieses Niveau der Psyche wird "general (allgemein)" genannt.

Dieser Bestandteil der Lehre Swedenborgs befindet sich an mehreren Stellen in der Ken-tianischen Homöopathie wieder: in erster Linie ist es eine Erklärung für die durch Kenthervorgehobene Notwendigkeit zur Gewichtung der Symptome, mit anderen Worte, zurBestimmung, welche Symptome zu welchem Swedenborgschen Niveau der Psyche gehö-ren. Es ist beinahe unglaublich, feststellen zu müssen, daß die Begriffe "particulars"und "generals" durch Kent aus dem Menschenbild Emanuel Swedenborgs entlehnt seinkönnten. In Kents ursprünglichen Texten werden die Begriffe "particular" und "general"eingeführt und ihre Erläuterung in das Repertorium von Margret Tyler und John Weirübernommen.95

Nach Kent liegt die Essenz des Menschseins in folgendem: "Der Mensch hat Willen undVerstand, der Leichnam will und weiß nichts. Beides, Willen und Verstand, machen denMenschen aus. Zusammen ermöglichen sie Leben und Aktivität, sie bilden den Körperund verursachen alles Körperliche. Wenn zwischen Willen und Verstand Gleichklangherrscht, ist der Mensch gesund."96

Die "particulars" sind die Symptome, die sich auf dieses Gebiet von "Wille undVerstand" beziehen. Die Gemütssymptome haben Bezug zu den intellektuellen Funktio-nen, auf Emotion und Stimmung. Und die "generals" sind die Symptome, die den ge-samten Menschen ergreifen.

Die hierarchische Einteilung der Psyche in die genannten drei Niveaustufen in Sweden-borgs "Lehre von den Graden" klingt in Kents "Use of the Repertory" durch97. "Zu be-rücksichtigende Symptome: Zuerst diejenigen, die sich auf Liebesarten und Abneigun-gen, Wünsche und Aversionen beziehen (Swedenborgs Seele, das Einzigartige); dann 95 Kent, J.T.: addenda: Use of the Repertory - How to Study the Repertory - How to Use the Repertory, B.

Jain Publishers, New Delhi.;Tyler, M.; Weir, J.: Repertorising - Ergänzung zum Rpertorium. B. Jain Publishers, New Delhi.

96 Kent, J.T.: Lectures on Homoeopathic Philosophy, Chicago 1900. Repr., B. Jain Publishers, New Delhi(repr. from 5th ed., 1954), Repr., Thorsons Publishers, Wellingborough 1979.

97 Kent, J.T.: addenda: Use of the Repertory a.a.O.

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diejenigen, die zum vernünftigen Gemüt, dem sogenannten verständigen Gemüt, gehö-ren (Swedenborgs Vernunft mit dem Verstand); drittens diejenigen, die mit dem Ge-dächtnis zu tun haben (Swedenborgs Erinnerung, die dritte Ebene)."

In demselben "Use of the Repertory" kommt noch eine ältere Facette Swedenborgs zumVorschein: In seinen ersten anatomischen Studien hatte sich Swedenborgs Interesse vorallem auf das Blut und die Körperflüssigkeiten gerichtet, da er diese als essentiell fürdie Körperfunktionen erachtete98. Kent setzt seine Anweisungen für den Gebrauch desRepertoriums wie folgt fort: "Die nächsten Symptome, die am wichtigsten sind, sind die-jenigen, die sich auf den ganzen Leib oder sein Blut und die Körperflüssigkeiten bezie-hen: z. B. sein Empfinden für Hitze, Kälte, Wind, Ruhe, Nacht, Tag, Zeit. Sie beinhaltenbeides: Symptom und Modalität."99 Stammen die Bedeutung und die Auffassung von dentypischen homöopathischen Modalitäten aus Swedenborgs frühestem anatomischemWerk ab?

Die sogenannte Kentsche Reihe von Potenzschritten lehnt sich ebenfalls an eine bedeu-tende Stelle von Swedenborg an. Dieser hatte eine komplexe Vorstellung von der Unend-lichkeit, wobei vorausgesetzt wird, daß man sich der Unendlichkeit schrittweise annä-hern sollte. Der Weg zur Unendlichkeit verlief in bestimmten Stufen oder Graden100.Nach Kent haben Potenzen ihren Angriffspunkt in einem kranken Körper in Überein-stimmung mit dem Grad ihrer Verdünnung. Die höchsten Potenzen erreichen das Mit-telniveau (Gehirn) und vielleicht das höchste Niveau, die Seele. In dieser Vorstellungwerden die Potenzen als Formen mentaler Energie gesehen, ein Gedanke, der in derklassischen Homöopathie zum Allgemeingut gehört101.

Die Essenz in der Natur des Menschen wird nach Swedenborg durch den grundlegendenspirituellen Impuls geregelt. Dies stimmt überein mit Hahnemanns Idee, daß Krankheitdurch eine Verstimmung der "Lebenskraft", der Dynamis verursacht wird. Die Sweden-borgianer betrachteten Krankheit immer als eine Störung des innersten, psychischenKerns des Menschen, und darum ist Krankheit immer ein psychisches Problem, mitSymptomen und Facetten des Gemüts des Patienten und seiner spirituellen Existenz.Dies stimmt überein mit der prinzipiellen Vorrangigkeit, die Kent in seinen "Lectures"den psychischen Symptomen des Gemüts zuerkennt102.

98 Gardiner, H.: a.a.O.;Swedenborg, E.: Economy of the Animal Kingdom, 2 Vols., Übers. von A.Clissold.

William Newberry ... a.a.O.99 Kent, J.T.: addenda: Use of the Repertory ... a.a.O.100 Edwards, P. : a.a.O.; Gardiner, H.: a.a.O.; Peebles, E.: a.a.O.101 Kent, J.T.: Lectures on Homoeopathic Philosophy, Chicago 1900 ... a.a.O.; Treuherz, F.: a.a.O.102 Treuherz, F.: a.a.O.

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Twentyman schloß hieraus im "British Homoeopathical Journal" von 1956 bereits: "Mannahm an, daß Kent ein reiner Hahnemannianer sei, aber das war er natürlich nicht. Erwar eine Synthese von Hahnemann und Swedenborg."103

Epilog

Die Werke Kents haben auch heute noch große Bedeutung, und es ist erstaunlich, daßder Einfluß der philosophischen Ideen Emanuel Swedenborgs hierbei so lange ungenanntgeblieben ist. Hierfür könnten die widerstreitenden Auffassungen in der Homöopahtieverantwortlich gemacht werden, die bemerkenswert viel Interesse gezeigt haben, Swe-denborg zu verschweigen.

Die Verbreitung der homöopathischen Lehre Kents in Europa verlief möglicherweiseüber zwei Wege: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ging Margret Tyler in die VereinigtenStaaten, um bei Kent Homöopathie zu studieren. Zurück in England, ermutigte sie ande-re homöopathische Ärzte - finanziell unterstützt durch eine Zuwendung ihrer MutterLady Tyler -, bei Kent Studien zu betreiben. Einer der ersten, die hiervon Gebrauchmachte, war Dr. John Weir, der nach seiner Rückkehr 1909 der Entwicklung der Ho-möopathie in England seinen Stempel aufdrückte104. Der Swedenborgianische Einfluß istauch bei Margret Tyler und John Weir unübersehbar vorhanden: In ihrer Schrift "Reperto-rising" betonen sie das Hierarchisierungsprinzip als "The Grading of Symptoms"105.Swedenborg gebraucht an einer Stelle die Worte "The Grading of Degrees". Einen zwei-ten Weg der Verbreitung fand Kents Homöopathie durch Pierre Schmidt vor allem imfranzösisch- und deutschsprachigen Gebiet106.

Nach dem einflußreichen französischen homöopathischen Arzt Denis Demarque, einembedeutenden Gegner Swedenborgs und Kents, ist die Homöopathie in zwei paralleleStrömungen geschieden, von denen die eine durch den Gebrauch eines materialisti-schen Konzepts gekennzeichnet ist, das das Festhalten an der Gewebelehre, der biologi-schen Meßbarkeit und den chemischen Reaktionen beinhaltet. Auf der anderen Seitesteht die vitalistische Homöopathie, die an den überkommenen Ausgangspunkten Sa-muel Hahnemanns festhält107.

103 Twentyman, R.: The Evolutionary Significance of Samuel Hahnemann. British Homoeopathic Journal

64 (1975) 144 - 145. Editorial - The History of Homoeopathy. British Homoeopathic Journal 67 (1978)2.

104 Campbell, A.: The Two Faces of Homeopathy. British Homoeopathic Journal 74 (1985) 1 - 10; Camp-bel, A.: The Two Faces Of Homeopathy. Robert Hale Limited, London 1984.

105 Tyler, M.; Weir, J.: a.a.O.106 Schmidt, P.: The Life of James Tyler Kent ...a.a.O.; Le Kentisme et la biographie de J.T. Kent ... a.a.O.107 Demarque, D.: l´Homeopathie Medicine de l´Experience. Editions Coquemard, Angouleme 1968.;

Demarque, D.: La secte et ses incarnations: Le Swedenborgisme at le Kentisme. Homeopathie (1988)

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Demarque spricht sich dafür aus, daß die moderne Homöopathie vollständig freigemachtwerden muß von der früheren Mystik und Philosophie, die zur Entwicklung ihrer Theo-rie beigetragen haben, die aber jetzt einer Aufnahme der Homöopathie in die modernewissenschaftliche Heilkunde im Weg stehen. Demarque erachtet dieses Erbe als nutzlosund meint, daß dieser Bestandteil am besten verleugnet werden sollte108. Es sollte deut-lich geworden sein, daß der Autor dieses Artikels hiergegen Stellung bezieht.

Quelle: "Zeitschrift für Klassische Homöopathie" 1 (1995) 19-29. Wir danken der Schriftleitung fürdie Abdruckerlaubnis!

Der gute Hirtevon Thomas Noack

"Ich bin der gute Hirte" (Joh 10,11), dieses Jesuswort steht im Gegensatz zu den Phari-säern, den schlechten Hirten und blinden Blindenführern (Mt 15,14) des vorange-gangenen Kapitels des Johannesevangeliums. Sie hätten das Volk weiden sollen und ta-ten es nicht. Solchen Hirten gilt das Wort Ezechiels, der selber einer priesterlichen Fa-milie entstammte und angesichts des Babylonischen Exils ausrufen musste: "Weh denHirten Israels, die nur sich selbst weiden. Müssen die Hirten nicht die Herde weiden?"(Ez 34,2). In Johannes 10 begegnen uns diese Hirten, die hauptsächlich ihren eigenenVorteil im Auge haben, als Diebe, Räuber, Fremde und Lohnarbeiter. Den verdorbenenHirten wird der eine gute Hirte gegenübergestellt.

Ein weiterer Zusammenhang des 10. mit dem 9. Kapitel des Johannesevangeliums istdurch den Blindgeborenen gegeben. Denn dieser erkennt in Jesus den von Gott Gesand-ten und fällt anbetend vor ihm nieder (Proskynese in Joh 9,38109), während die Pharisäerdie Göttlichkeit Jesu nicht anerkennen wollen, weil er ihre unsinnigen Sabbatvor-schriften nicht beachtet. Der Blindgeborene, im inneren Sinn sind die Heiden gemeint(OE 239), ist ohne geistiges Licht, ohne Religionsunterricht, aufgewachsen und dennochoder gerade deswegen fähig, den Gottgesandten aus seinen Werken zu erkennen; er ge-

28 - 33.; Julian, O.A.: Haffen, M.: Homoeopathic Materia Medica. Chicago 1904. Repr., B. Jain Publi-shers, New Delhi.; Seror, R.: XLVe Revue de presse homeopathique de langue anglaise. Cahiers deBiotherapie 90 (1986) 71 - 76.

108 Treuherz, F.: a.a.O.109 Zur Proskynese vor Jahwe siehe in den Psalmen: "Werft euch nieder vor dem Herrn in heiliger

Pracht." (29,2). "Kommt, wir werfen uns nieder und wollen uns beugen, niederknien vor dem Herrn,unserem Schöpfer." (95,6). "Zu deinem heiligen Tempel hin will ich mich niederwerfen und deinenNamen preisen" (138,2).

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hört zu denen (siehe Joh 10,3f), welche die Stimme des guten Hirten erkennen können,sich ihr anvertrauen und ihm nachfolgen.

Das 10. Kapitel ist mit den vorangehenden schließlich auch wie das Gute mit dem Wah-ren verbunden. Im 8. Kapitel sagte Jesus, wobei wir wissen müssen, dass das Licht demWahren entspricht: "Ich bin das Licht der Welt." (Joh 8,12), und im 9. Kapitel heilte erden Blindgeborenen und deutete seine Mission mit den Worten: "Ich bin zum Gericht indiese Welt gekommen, damit, die nicht sehen, sehend werden, und die sehen, blindwerden." (Joh 9,39). Das Licht ist immer das Licht einer Quelle, vor allem der Sonne,und Jesus, insofern er der Sohn und das "Licht der Welt" ist, ist immer der Gesandte desVaters, das heißt der göttlichen Liebe. Das innere Licht, das des Mikrokosmos, ist immerdas Licht der Liebe, - liebloses, kaltes Licht ist kein Licht aus dem Herzen des Vaters.Daher folgt der Offenbarung des Lichtes nun in Johannes 10 die Enthüllung der fürsor-genden, uns weidenden Liebe. Jesus gibt sich als der gute Hirte und damit letztlich alsder "Vater des Lichts" (Jak 1,17) zu erkennen.

Im Gleichnis vom guten Hirten ist die Tür das Kennzeichen dafür, wer in guter und werin böser Absicht kommt. "Wer nicht durch die Tür in den Hof der Schafe hineingeht,sondern anderswo einsteigt, der ist ein Dieb und ein Räuber." (Joh 10,1). Die Tür, die jaeigens geschaffen wurde, um den Zugang zu gewähren, ist ein Bild für den vom Schöp-fer vorgesehenen Zugang zu den Schafen. Derjenige, der diesen, von Anbeginn an vor-gesehenen Zugang zur Menschenwelt wählt, gibt sich dadurch, dass er dies kann, alsder gute Hirte zu erkennen.

Jesus sagt: "Ich bin die Tür zu den Schafen." (Joh 10,7). Das heißt, durch das men-schliche Wesen Jesu kommt Gott zu uns Menschen. Unter diesem menschlichen Wesenverstehen wir zunächst die leibliche Gestalt des irdischen Jesus, dann aber auch dessenverherrlichte Gestalt und seine Erscheinungsform vor den Engeln. Auch die menschli-chen Vorstellungen, durch die sich Gott uns nähert, können unter dieser Tür verstandenwerden. Der gute Hirte ist so gesehen daran erkennbar, dass er mit unseren Worten undunseren Gedanken zu uns spricht, sich also seiner Zuhörerschaft anpasst. Obwohl Got-tes Gedanken nicht unsere Gedanken sind (siehe Jes 55,8f), redet er doch auf möglichsteinfache, menschliche Weise zu uns. Je komplizierter hingegen jemand die Weisheiten,die er selber nicht verstanden hat, vorträgt, desto naheliegender ist der Verdacht, dassdieser Seelenführer, seinen eigenen Ruf als hochangesehener Lehrer der Weisheit pfle-gen möchte, dass er also ein Dieb und Räuber ist, der sich die Anerkennung seiner Per-son betrügerisch verschaffen will.

Doch die Schafe können den guten Hirten erkennen. "Die Schafe hören auf seine Stim-me, und er ruft die eigenen Schafe mit Namen und führt sie hinaus … die Schafe folgenihm, weil sie seine Stimme kennen. Einem Fremden aber werden sie nicht folgen, son-

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dern sie werden ihm davonlaufen, weil sie die Stimme der Fremden nicht kennen." (Joh10,3-5). Dieses Sensorium hat sich die Gemeinde immerhin bewahren können, die in-stinktive Erkenntnis dessen, der es gut mit ihr meint. Der Inhalt der Rede ist dabei be-langlos, die Unterscheidung des guten Hirten von den schlechten gelingt durch dieStimme. Den Inhalt göttlicher Offenbarungsreden können wir oft nicht von Grund aufbeurteilen, aber wir können darauf achten, ob in den Worten die Stimme des guten Hir-ten erkennbar ist, der wir uns dann anvertrauen können, auch wenn wir nicht schon imvorhinein wissen, wohin sie uns führen wird.

Die selbstlose Liebe des guten Hirten zeigt sich darin, dass er sogar sein Leben für dieSchafe einsetzt (Joh 10,11). Darin unterscheidet er sich von den Lohnarbeitern, denendas Leben der Schafe nicht das höchste Gut ist. Ihnen geht es primär um den Lohn, umdas Leben der Schafe hingegen nur insoweit, als sich damit Gewinne erwirtschaften las-sen. "Der Lohnarbeiter, der nicht Hirte ist, dem die Schafe nicht gehören, der sieht denWolf kommen und lässt die Schafe im Stich und flieht, und der Wolf reißt und ver-sprengt sie. Denn er ist ein Lohnarbeiter, und ihm liegt nichts an den Schafen." (Joh10,12f). Indem Jesus ganz und gar für die Schafe lebt, ihr Wohlergehen zu seinem Le-bensinhalt macht, überwindet er die der Menschheit seit dem ersten Brudermord einge-brannte Natur. Diesen Bezug zu Genesis 4 hat Arthur Schult gesehen: "Im Gegensatz zujener Kains-Natur, die da fragt: 'Bin ich der Hüter meines Bruders?' und sich in sich sel-ber abschließt, ist der gute Hirte aufgeschlossen für alle Nöte seiner Mitmenschen undopfert sich in selbstloser Liebe für sie auf."110 Abel, nota bene der Schafhirt, wurde vonKain, der dem Irdischen dient (Ackerknecht), schon zu Beginn der Menscheitsgeschich-te ausgerottet, so dass seitdem die Verantwortungslosigkeit und Gefühlskälte in Gestaltder Kainsfrage "Bin ich der Hüter meines Bruders?" die Signatur der gefallenenMenschheit ist. Jesus, der Abel der neuen Schöpfung, richtete das alte Ideal der Für-Sorge anstelle der Selbst-Sorge wieder auf. Allerdings konnte die Kainsmenscheit auchdieses gerechte Opfer, auch diesen hingebungsvollen Lebenseinsatz, wiederum nicht er-tragen und brachte den neuen Abel um. Doch auf diesen Karfreitag folgte ein Ostermor-gen.

Dem 10. Kapitel schließt sich die Auferweckung des Lazarus an, welche die bösen Hir-ten zu dem Entschluss treibt, Jesus töten zu wollen (Joh 11,53). Damit beginnt die Pas-sionsgeschichte. Das 10. Kapitel ist somit der Höhepunkt der Selbstoffenbarung des Va-ters in der Gestalt des Sohnes. Jesus offenbart seine Einheit mit dem Vater, ja eigentlichsogar die Anwesenheit des Vaters in der Leiblichkeit Jesu. Anläßlich des Tempelweihfe-stes sagt Jesus: "Ich und der Vater sind eins" (Joh 10,30) und ebenso, "dass in mir derVater ist und ich im Vater bin" (Joh 10,38). Das Tempelweihfest erinnert die Juden an 110 Arthur Schult, Das Johannes-Evangelium als Offenbarung des kosmischen Christus, 1965, 237.

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die Wiedereinweihung des Tempels, nachdem der syrische König Antiochus IV. denJahwekult bei Todesstrafe verboten hatte. Jesus, der nach Johannes 2 der wahre Jahwe-tempel ist, bringt hier also zum Ausdruck, dass fortan er die Gegenwart Jahwes in derMenschenwelt ist. Der gute Hirte offenbart sich vollständig, zunächst seine Liebe, dannden Grund derselben, nämlich die Anwesenheit des Vaters. Das Urgöttliche hat durchJesus, der die Tür ist, die Menschenwelt betreten. Das ist der Höhepunkt der öffentli-chen Selbstoffenbarung Jesu.

Im Gespräch mit den Jüngern, also im esoterischen Teil des Johannesevangeliums, wer-den auch später nochmals die Höhen der Gotteserkenntnis erklommen, aber die Offen-barung des Gesandten vor der Welt hat in Johannes 10 den Gipfel erreicht bzw., wennman sich die Reaktion der Juden anschaut (Joh 10,31.39), den Gipfel des Zumutbarenbereits überschritten. In den Abschiedsreden wird Jesus sagen: "Wer mich gesehen hat,hat den Vater gesehen." (Joh 14,9). Und Thomas bekennt, den Ausnahmezustand derAuferstehung vor Augen habend: "Mein Herr und mein Gott!" (Joh 20,28). Und der Auf-erstandene erwidert, die Zeit der Kirche vor Augen habend: "Selig sind, die nicht sehenund doch glauben." (Joh 30,29). Damit schließt das Johannesevangelium (siehe Joh20,30f). Das 21. Kapitel öffnet dann noch ein Fenster in die Zeit der Kirche und zeigtuns das Schicksal der petrinischen Glaubenskirche und des johanneischen Geistesle-bens bis zur Ankunft des neuen Jerusalems. Auch das sind Höhepunkte, aber der guteHirte ist das Höchste der vorösterlichen Liebesoffenbarung. Sie läd uns zu einem Lebendes Vertrauens ein: "Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln …" (Ps 23,1).

Rom meldet sich zurückZur vatikanischen Erklärung "Dominus Iesus" (DI)

von Thomas Noack

Am 6. August 2000, dem Fest der Verklärung des Herrn, verklärten sich in Rom auchdie Gesichtszüge bei Joseph Cardinal Ratzinger, dem Präfekten der vatikanischen Kon-gregation für die Glaubenslehre, als er seinen katholischen Schafen die Einzigkeit unddie Heilsuniversalität Jesu Christi und vor allem natürlich seiner Kirche nach einer Au-dienz beim Heiligen Vater erklären durfte. Diese Schafe also wissen nun, was sie zuglauben haben. Nun lesen freilich solche innerkatholischen Erklärungen auch nichtka-tholische, ja sogar protestantische Schäflein und promt geht es los, das lautstarke öku-menische Blöken über diese jüngste Klarstellung aus Rom. Denn diese Schäflein wissennun nicht mehr, was sie glauben sollen.

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Dabei war man sich am 31. Oktober des noch nicht Heiligen Jahres 1999 doch schon soeinig. In der Gemeinsamen Feststellung des Lutherischen Weltbundes und der katholi-schen Kirche über die Rechtfertigungslehre (siehe OT 1/00) sprach man von der "rö-misch-katholischen Kirche" und den "lutherischen Kirchen". Und nun plötzlich erklärtdie Römerin: "Die kirchlichen Gemeinschaften …, die den gültigen Episkopat und die ur-sprüngliche und vollständige Wirklichkeit des eucharistischen Mysteriums nicht be-wahrt haben, sind nicht Kirchen im eigentlichen Sinn" (DI 17). Angesprochen dürfensich die Kirchen der Reformation fühlen, was allerdings jene evangelischen Kirchenfüh-rer schmerzt, "die noch zu Jahresbeginn für den zum Heiligen Jahr ausgesprochenenAblass ein gutes Wort einlegten und mit dem Papst an die Heilige Pforte pochten, hinterder sie das ökumenische Paradies wähnten" (Ulrich Körtner). Doch was kümmert solchökumenisches Wunschdenken die Römerin, im Heiligen Jahr 2000 blüht sie auf, sprichtPius IX. selig, dem ihre Päpste die Unfehlbarkeit verdanken, und erklärt die reformato-rischen Gemeinschaften zu Randerscheinungen des Katholizismus. Soviel Klarheitmacht protestantische Ökumenismuseiferer fassungslos.

Die Römerin ist "die eine heilige katholische und apostolische Kirche" (Konstantinopoli-tanisches Glaubensbekenntnis). "Die Gläubigen sind angehalten zu bekennen, dass eseine geschichtliche, in der apostolischen Sukzession verwurzelte Kontinuität zwischender von Christus gestifteten und der katholischen Kirche gibt" (DI 16). "Es gibt also eineeinzige Kirche Christi, die in der katholischen Kirche subsistiert [= verwirklicht ist, sie-he die Dogmatische Konstitution "Lumen gentium" des Zweiten Vatikanischen Konzils]und vom Nachfolger Petri und von den Bischöfen in Gemeinschaft mit ihm geleitetwird." (DI 17). Die Römerin bleibt sich treu. Während manche lutherischen Kirchenderzeit kaum ein wichtigeres Thema zu kennen scheinen als die Wiedereingliederungin die historische Sukzession im Bischofsamt, grosse protestantische Kirchen die Frau-enordination wieder problematisieren, oder in reformierten Gemeinden Veranstaltungenzum Reformationsfest abgesagt werden, weil man so etwas für ökumenisch unschick-lich und den katholischen Partnern nicht mehr zumutbar hält, wiederholt die Römerinunbeeindruckt von diesem Balzgehabe "einige Glaubenswahrheiten" (DI 23), die "zumGlaubensgut der Kirche gehören" und schon mehrfach in "früheren Dokumenten desLehramts vorgetragen" wurden (DI 3). So zum Beispiel am 18. November 1302 in derBulle "Unam sanctam" von Bonifatius VIII.: "Wir erklären, sagen und definieren nunaber, daß es für jedes menschliche Geschöpf unbedingt notwendig zum Heil ist, demRömischen Bischof unterworfen zu sein." Höre wohl, protestantische (H)erde! In derNeuzeit drückt sich die Römerin zwar etwas höflicher aus, doch in der Sache unnach-giebig. Swedenborgs Wesenschau hat Bestand. "Babylon, die Große, die Mutter der Hu-ren und der Greuel der Erde" (Offb. 17,5), das ist die Römerin (EO 729), und dies ist ihr

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Wesen: "Unter Babylon werden alle verstanden, die durch die Religion herrschen wol-len." (JG 54).

Der Mensch als Geschöpf GottesKörperliche Fehlhaltungen - geistige Zusammenhänge

von Ingeborg Maier

Vorbemerkung von Thomas Noack: "Ich bin der Herr, dein Arzt" (Ex 15,26), dieses göttliche Wortund das Beispiel Jesu Christi zeigen mir, daß Heil (für die Seele) und Heilung (für den Körper) zu-sammengehören. So nahm ich im Juli dankbar die seltene Gelegenheit wahr, eine christliche Heil-praktikerin und eine Heilweise kennenzulernen - und zwar nicht nur theoretisch, sondern am ei-genen Leib -, die auch im Lichte der Entsprechungswissenschaft vielversprechend ist. Denn dieGrundtechnik der Nervenreflextherapie am Fuß (= dem Natürlichen) erinnerte mich spontan anSwedenborgs Wort: "Der letzte (natürliche) Grad ist Zusammenfassung, Behälter und Unterlageder vorhergehenden Grade." (GLW 209). Auf der körperlichen Ebene bedeutet dies, dass über dieFüsse, der ganze Mensch erreicht werden kann. Und wie wir ferner wissen, ist aller Wandel nurmit den Füssen, das heißt im natürlichen Grad möglich. So begab ich mich also zu Ingeborg Maierund war gespannt auf eine, wie sich herausstellen sollte ereignisreiche, Therapiestunde. Daraufhinbat ich Frau Maier, den Kern ihrer Behandlung kurz und prägnant in unserer Zeitschrift vorzustel-len. Wer sich angesprochen fühlt, mehr wissen möchte oder Hilfe sucht, kann sich an IngeborgMaier, Dorfmühle 30, 73432 Aalen-Unterkochen, Telefon 0 73 61 / 8 78 84 wenden.

Die Biblische Körpertherapie und Seelsorge ist eine Kurzzeittherapie mit sofortiger Anlei-tung zur Selbsthilfe. Die körperlich therapeutische Arbeit verbindet sich mit der geisti-gen Zielrichtung: Loslassen der alten, krankmachenden Wege und dafür Hinwenden zurheilmachenden Beziehung mit dem Schöpfer, bzw. Bewußtmachung, daß der Mensch,und zwar jeder gleich welcher Religion, Geschöpf Gottes ist, für ein ewiges Leben wun-derbar gedacht und gemacht. Das Wort aus l.Thess. 5,23-24 beschreibt umfassend Sinnund Zweck der Therapie: "Er aber, der Gott des Friedens, heilige euch durch und durch,und euer Geist ganz mit Seele und Leib möge in untadeliger Weise für die Wiederkunftunseres Herrn Jesus Christus bewahrt werden. Getreu ist er, der euch ruft; er wird'sauch tun."

Zu den Fehlhaltungen: Der kranke und leidende Mensch hat meist unbewußt mit geerb-ten und durch das Leben gewordenen inneren und äußeren Fehlhaltungen zu tun. Ver-stärkt durch Unkenntnis anatomisch-statischer Ordnungskriterien reichen diese von derleichten Verspannung bis hin zu ernsten Erkrankungen. Bei vielen Schmerzpatienteninsbesondere, stimmt weder die Gesamthaltung noch die psychophysische Gewichtung,der Körper ist nicht geweckt, Geist und Seele eingefleischt und in den täglichen Ge-

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wohnheiten verweltlicht. Verhärtungen und Verkrümmungen kennzeichnen den ver-zweifelten und menschlich sehr verständlichen Kampf gegen Krankheit und Schmerz.

Für den Laien ist es weitgehend unbekannt, daß jeder cm im Querschnitt eines Muskels25 kg Zug ausüben kann. D.h., daß sich alle Kräfte, die notwendig sind, um die Gewich-te, die nicht in Balance sind, zu halten, sich zu einem enormen Kraftaufwand summie-ren. Wenn z.B. der Kopf nur 30 Grad nach vorn gebeugt ist, erhöht sich der Druck aufdie Wirbel durch die Hebelwirkung im Rücken von 12,5 auf 85 kg. Wieviele Menschenlaufen täglich mit hängendem Kopf herum! Wenn sich Muskeln zusammenziehen wer-den sie kürzer und dicker, sie drücken aufeinander. Zwischen den Muskeln sind Arteri-en, Venen, Nerven, Lymphgefäße, und die Muskeln werden zu einer schmerzendenSchraubzwinge, die alles abklemmt.

J. Lorber schreibt zu diesem Thema: "Der Hauptgrund zu einem Schmerze, den stets nurdie Seele, nie aber das Fleisch empfindet, liegt also im Drucke, den irgendein zu trägeund somit auch zu schwer gewordenes Fleisch auf irgendeinen Lebensteil der Seeleausübt. Es ist daher zeitweilig jede Krankheit zu heilen, wenn man die Fleischmasse zuerleichtern versteht …" (GEJ 5.75.5-6).

Weg und Ziel der Therapie ist die Bewußtmachung und Lösung von Fehlhaltungen unddie Zurückführung in eine schöpfungsgemäße Ordnung und Grundhaltung. Denn wirsind Tempel des Heiligen Geistes (l. Kor.6,19-20); und wir können und dürfen als Hauptund Verwalter unserer zunächst ganz eigenen Glieder, diese Gabe Gottes, die uns gege-ben ist und uns nicht gehört, vom Innersten bis ins Äußerste mit Leben füllen und aus-formen bis in die kleinsten Finger und Zehen, damit Gottes Geist ganz in uns ein- unddurchfließen kann. Der ganze Mensch ist veranlagt und befähigt, mit allen seinen Glie-dern vollkommen lebendig zu werden, damit die Kinder Gottes den Herrn Jesus Chri-stus schon in dieser Welt verkörpern können und ER endlich wiederkommen kann. Rö-mer 8,19: "Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf, daß die Kinder Gottesoffenbar werden". Wer die Therapie erlebt hat, heil und gesund wurde, kann seinem"Nächsten" Wesentliches weitergeben!

Begrenzung: Es wird kein Körperkult zur Verherrlichung des Leibes betrieben. Dem Pa-tienten wird auch kein krankheitsfreier Lebensverlauf angeboten, denn Krankheitensind Chancen, mit Gottes Hilfe an Leib und Seele zu wachsen und zu reifen. Suggestiv-behandlungen schließen sich selbst aus, denn das innerste Loslassen des Patientenkann nur in der freien Willensentscheidung geschehen. Verändert werden soll nur das,was veränderungsbedürftig, -nötig und -möglich ist.

Die Behandlungsmethoden setzen sich aus den nachfolgenden Therapien zusammen,die wechselseitig, je nach Erkrankungsschwerpunkt, bei jeder Behandlung zur Anwen-dung kommen. Die Nervenreflextherapie am Fuß ist Grundtechnik, bzw. wichtigstes

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Handwerkszeug. Durch Hinzunahme der Biblisch-therapeutischen Seelsorge (BTS), istdiese Arbeit nicht mit der üblichen Reflexzonen-Massage zu vergleichen. Am ehestenkommt sie einer Körper-Psychotherapie gleich, mit dem Vorteil, daß über den Körperdie meist unbewußten Ursachen, die zur Erkrankung führten, schneller aufgedeckt, be-wußt gemacht und geheilt werden können. Im "Homo Maximus" von Swedenborg istauf Seite 193 sehr treffend der Beginn der Erkrankung im Inwendigeren des Menschenbeschrieben: "Weil der Tod nicht anderswoher kommt als von der Sünde, und Sünde al-les das ist, was gegen die göttliche Ordnung ist, deshalb verschließt das Böse die aller-kleinsten und ganz unsichtbaren Gefäße, aus welchen die zunächst größeren, ebenfallsunsichtbaren, zusammengefügt sind. Denn die allerkleinsten und ganz unsichtbarenGefäße sind eine Fortsetzung des Inwendigeren des Menschen. Daher kommt die ersteund inwendigste Stockung, und daher die erste und inwendigste Verderbnis, die insBlut kommt. Wenn diese Verderbnis zunimmt, verursacht sie Krankheit und zuletzt denTod". Die Forschungsberichte der Psychoneuroimmunologie sagen zusammenfassendund vereinfacht aus, daß die Qualität des Denkens, Fühlens und Wollens eines Men-schen (vgl. Swedenborgs Gemütsbegriff) entsprechende Hormone und Neurotransmitter(Botenstoffe) freisetzen, auf die das Immunsystem entsprechend reagiert. Am bekannte-sten sind die körpereigenen Opiate, die Endorphine, die schmerz- und erregungsdämp-fende Wirkung haben. So wird ein hoher Einfluß auf die Qualität der seelisch-geistigenund körperlichen Gesundheit ausgeübt. Wo die Liebe Gottes in Kraft, Vertrauen undFreude über das Denken und Fühlen in das Nervensystem kommt, hat dies öffnende,krankheitsumstimmende, und heilende Auswirkungen auf den ganzen Menschen.

Nervenreflextherapie am Fuß (integrierte Lymphbehandlung; spezielle Nerven- undMuskelmassage; modifizierte Gelenkmobilisation): Behandlung des ganzen Menschenvorwiegend über die Reflexzonen im Mikrosystem seiner Füße; im motorischen Nerven-system der statischen und motorischen Muskulatur und der Beckenbänder. Behandlungdes zentralen Nervensystems mit dem Einfluß auf die Organe sowie Arterien-, Venen-und des Lymphsystems.

Schmerzbewältigung- und Streßtraining: Überwindung akuter und chron. Schmerz-zustände durch verhaltens- und verheißungstherapeutisch orientierte Übungen zuminwendigen Loslassen. (Das Wort Gottes wird in heil-praktische Anwendung gebracht,z.B. Matth. 16,25 u.a., die ein- und durchfließende Heilungskraft wird vom Patientenwahrgenommen)!

Phytotherapie: Entstauung, Entgiftung und Ausleitung von Stoffwechselschlacken ausdem Körper durch pflanzliche Medikamente und Tees; ergänzt und unterstützt mit Mi-neralien und Vitaminen.

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Rücken- und Haltungsschulung: Rückgratstärkung; Korrektur zur lotgerechten Hal-tung der Wirbelsäule im Kreuz (Kreuzbein, lat. Os sacrum = heiliger Knochen). Hier ge-schieht körperliche Beugung und Aufrichtung in eine Wohlfühlhaltung, die sich auf dieSeele und den Geist entsprechend auswirkt!

Biblisch-therapeutische Seelsorge (BTS), therapiebegleitend, ist eine multipluralepsychotherapeutische Anwendung von Gesprächs- und Verhaltenstherapie, Tiefenpsy-chologie, Logotherapie sowie biblische Seelsorge. Sie dient als Befreiungshilfe aus nega-tiven körperlichen und seelischen Gebundenheiten, Festlegungen und Abhängigkeiten.

Wirkung der Behandlung: Durch die manuelle Stimulation der Nervenenden in den Fü-ßen des Patienten (dort sind die Schmerzen des ganzen Körpers, auch die unbewußtverdrängten, spürbar), und seinem bewußten, vertrauensvollen Loslassen, werden kom-primierte Nerven, Blut- und Lymphgefäße befreit. Muskelverspannungen und -verhärtungen lösen sich, ebenfalls Blockaden der Wirbelsäule und Gelenke. Es kommtzur Beruhigung und zum Ausgleich zwischen dem willkürlichen und vegetativen Ner-vensystem. Ein sofortiger Längenausgleich der Muskulatur mit spürbarer Wärme,Leichtigkeit und Weite, durch die bessere Blutzirkulation ist die Folge. Patienten kön-nen sich neu bewegen und überwinden ihre Schmerzen. Aufrichtung aus gebeugterHaltung wird möglich, so daß sich Kreislauf und Stoffwechsellage, besonders im Stütz-und Bewegungsapparat der Wirbelsäule, normalisieren und stabilisieren können. Eben-so kommt der Hormon- und Enzymhaushalt wieder in Ordnung. Wenn die Zu-, Durch-und Abflußwege durch den Körper wieder frei geworden sind, können Muskeln und Or-gane Nahrung und evtl. Medikamente wirkungsvoller aufnehmen.

Heilungsreaktionen als gewünschte Antworten des Körpers auf den gesetzten Reiz, wei-sen auf ein intaktes Immunsystem, auf eine Wende im Verlauf der Krankheit und aufHeilung hin; sie dienen der Haltungsfindung im Kreuz. Vorsorgebehandlungen verhin-dern späteren Schaden und viel Schmerz!

Zielgruppen: Kranke und gestreßte Menschen in jedem Alter. Kinder und ältere Men-schen sprechen besonders gut auf die lösende, ordnende, ausgleichende und das Im-munsystem stärkende Behandlung an. Schmerz-Patienten mit akuten und chron. Ge-lenks- und/oder Wirbelsäulenerkrankungen mit Durchblutungsstörungen, Lähmungs-und Erregungszuständen sowie psychosomatischen Erkrankungen bilden die Haupt-gruppe. Am Immunsystem Geschwächte und Erkrankte, bei denen angeblich "nichtsmehr zu machen ist", haben gute Chancen Besserung und auch Heilung zu erfahren,wenn sie sich auf das Loslassen ganz einlassen (Römer 12,1-2)! Wo menschliche Kräfteund Künste an Grenzen stoßen, hat Gott immer noch genügend Möglichkeiten heilendeinzugreifen.

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Abschließende Zusammenfassung: In Jesu Bild gestaltet zu werden heißt, sich durchden Prozeß der Heiligung (l.Thess.5,23-24) umprägen zu lassen. Es ist medizinisch-neurologische Erkenntnis, daß Prägung nur dann geschehen kann, wenn theoretischesWissen mit körperlichem Tun gekoppelt ist, sonst bleibt es Theorie und die alte Prägungwirkt weiter. Das Umprägen in Jesu Leben kann nicht sanfter und kürzer geschehen, alsdurch sofortiges Loslassen ins Kreuz. So wie das Bibelwort Geistiges und Göttliches insich birgt, so enthält der Körper des Menschen Möglichkeiten mit neuem Leben ausGott gefüllt zu werden, sobald er geweckt, geöffnet, gereinigt und geweitet wird, wennHaupt und Glieder in bewußter Beziehung zu- und miteinander leben. Der durch deninnersten Willen gewirkte körperliche Lösungsmechanismus, der in dieser Therapiezentral vermittelt wird, soll im Alltag reflexartig automatisiert werden. So kann der Pa-tient lernen, in Krisen- und Entscheidungssituationen in der schöpfungsgemäßenGrundhaltung des Körpers im Kreuz gelöst und gesund zu bleiben. Die Folge ist echteGelassenheit und dankbare Freude, weil innen und außen einander entsprechen, unddies nun ganz natürlich auch körperlich zum Ausdruck kommen kann (1. Kor 6,20).

Ein Fallbeispiel, vereinfacht wiedergegeben: Ein 3 1/2-jähriges Kind mit einer psycho-motorischen Retardierung, als Nebenbefund eine Spina bifida occulta (ärztl. Diagnose)zwischen den Lendenwirbeln 4 und 5, wurde von der Mutter gebracht. Das Kind konntenicht laufen, robbte auf dem Boden und beim Tragen auf dem Arm hingen die Beineschlaff herunter waren durch Sauerstoffmangel blau und kalt. Die Mutter hatte eineSchwangerschaftspsychose bei diesem ersten Kind, und starke depressive Phasen, weilsie sich an der Behinderung ihres Kindes schuldig fühlte. Während der Arbeit an denFüßen des Kindes konnte ich der Mutter mit biblischer Seelsorge helfen, ihre Gefühlssi-tuation neu zu sehen und zu ordnen.

Nach ebenfalls zwei Behandlungen, rief mich die Mutter abends an und war sehr erregt,weil ihr Kind im Wohnzimmer stand und einige Schritte versuchte. Zur dritten Stundeführte die Mutter das Kind bereits an der Hand und in der vierten lief es freudig durchdas Wartezimmer. Die Beine waren inzwischen gut durchblutet, warm und kräftig ge-worden, weil die Nervenleitungen vom Kopf bis zu den Füßen endlich Kontakt mitein-ander hatten. In der siebten Stunde war das Kind bereits so kräftig, daß es auch drau-ßen laufen konnte. Es fand keine achte Stunde mehr statt.

Die Mutter war voller Freude und dankte Gott sehr inniglich, sie konnte die Heilung ih-res Kindes kaum fassen. Ich glaube, daß das Kind bisher gar nicht wußte, wozu es dieFüße überhaupt hat, sie wurden ihm bewußt gemacht und belebt, und das hatte völligausgereicht! Die Gesamtkosten betrugen nur DM 350,-.

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NachrufIm Materialdienst 12/99 der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragenerschien ein Nachruf zum Tode von Friedemann Horn. Darin hebt Frau Dr. Gabriele La-demann-Priemer hervor: "Friedemann Horn war ein Mensch mit einer großen geistigenWeite, und er war aus tiefem Herzen liebenswürdig … Sachliche Unterschiede, auch kri-tische Anfragen an Swedenborgs Theologie stellten die menschliche Gemeinschaft nichtin Frage. Horn redete Unterschiede nicht schön, um einer falschen Harmonie willen. Erhatte das Bestreben, die Neue Kirche aus der 'Sektenecke' zu befreien und ihr einenPlatz und eine Stimme im Chor der christlichen Kirchen zu verschaffen. So nahm er inseinen letzten Lebensjahren Kontakt zum Ökumenischen Rat der Kirchen auf. Auchvorher pflegte Horn ökumenische Beziehungen. Er war viele Jahre Mitglied im Arbeits-kreis 'PSI und christlicher Glaube' der EZW. Die Beziehungen zu den Mitgliedern desArbeitskreises waren herzlich, Horn war eine tragende Säule des Kreises und brachteviele Anregungen mit … Es hat Horn verletzt, daß gelegentlich die Meinung vertretenwird, die Swedenborgianer nähmen den Tod nicht richtig ernst oder nicht ernst genug,weil er für sie 'nur' der Durchgang in die Geistige Welt sei. Fünf Tage vor seinem Todsaß ich mit Friedemann Horn in Zürich auf einer Bank bei einer Friedhofskapelle nahedem Zürichsee. Wir sprachen über Krankheit und Tod. Er strahlte eine heitere Gelas-senheit aus, aber er stellte zugleich mit tiefem Ernst die Frage: 'Was soll ich antworten,wenn ich in der Geistigen Welt gefragt werde? - Und ich werde gefragt werden!'"

NeuerscheinungEinigen Lesern ist Karl Dvorak noch bekannt. Er war ein Kenner der christlichen Pro-phetie. In zahlreichen Vorträgen und Seminaren hat er sein Verständnis des innerenWeges und geistige Übungen gelehrt. Aus diesen Tonbändern haben nun seine Freundeein Buch zusammengestellt: »Leben und Lehre Jesu Christi: Geistige Entsprechungs-deutung und Wiedergabe wichtiger Lebenslehren sowie Anregungen zur Tatnachfolgemit vielen geistigen Übungsanleitungen«. Es kann über Lothar Broß, Krankenhausstr.10a, D -64823 Groß Umstadt oder Maria Dvorak, Khittelstr. 7/16, A - 3100 St. Pöltenzum Preis vom 39,- DM bezogen werden.

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Synchronisation des Videos"Animals and Parables in the Bible"

Peter Keune vom Berliner Swedenborg-Zentrum beabsichtigt die Synchronisation desVideos "Animals and Parables in the Bible" (Tiere und Gleichnisse in der Bibel). DieserFilm führt sehr einfühlsam in die geistige Bedeutung der Tierwelt der Bibel ein. Schonvor einigen Jahren wurde auf diese Weise "Swedenborg, the man who had to know" pro-fessionell synchronisiert und ist seitdem unter dem Titel "Swedenborg: Forscher imDiesseits und Jenseits" erhältlich. Für das neue Projekt wird nun ein Englisch-Deutsch-Übersetzer gesucht, der den Originaltext vom Tonband abschreiben kann, um ihn dannzu übersetzen. Interessenten wenden sich bitte direkt an Peter Keune, Schmarjestrasse2, D - 14169 Berlin, Tel. 030 - 8011684.

Einladung zur JahrestagungDie Swedenborgtagung findet dieses Jahr vom 30. Mai bis 4. Juni statt. Unsere Referen-ten führen Sie in die Vorstellungswelt des nordischen Sehers ein und stehen Ihnen fürAuskünfte zur Verfügung. Ein Büchertisch lädt zur Lektüre ein.

Unsere Zusammenkunft bietet Ihnen zahlreiche Möglichkeiten zu anregenden Gesprä-chen mit gleichgesinnten Christen aus dem gesamten deutschen Sprachraum. BeliebteTreffpunkte im Tagungshotel sind der Römerkeller und das gemütliche Café Christine.

Familien mit Kindern sind herzlich willkommen. Ein Kinderspielkreis wird nach Ab-sprache mit den Eltern eingerichtet. Ausserdem bieten wir zwei Kindernachmittageüber »Die Welt der Engel« an. Falls Sie ein Musikinstrument spielen, haben Sie keineScheu, es mitzubringen. Gerne wollen wir gemeinsam singen und musizieren.

Das ausführliche Programm ist ab sofort beim Swedenborg Zentrum Zürich erhältlich.

Dissertation von Gottlieb FlorschützDr. phil. Gottlieb Florschütz, Jahrgang 1962, bietet unseren Lesern seine Doktorarbeitüber "Swedenborgs verborgene Wirkung auf Kant" zum Preis von nur 10,- DM an. DieArbeit wurde 1991 von der Philosophischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel als Dissertation mit dem Originaltitel "Swedenborg und die okkultenPhänomene aus der Sicht von Kant und Schopenhauer" angenommen und wird gegen-wärtig von der Swedenborg Scientific Association (USA) ins Englische übersetzt.

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Bei der kritischen Aufarbeitung der Kant-Swedenborg-Kontroverse stellt sich heraus,daß Kant keineswegs nur der nüchterne Rationalist war, als der er oft tituliert wird,sondern daß ihm sogar mystische Ambitionen nachzuweisen sind. Dies gilt vor allemfür seine Frühschriften sowie für seine späten Vorlesungen über Metaphysik. Hier nä-hert sich Kant der Jenseitslehre Swedenborgs wiederum soweit an wie zu Beginn seinesKontaktes mit dem nordischen Seher, von dessen hellseherischer Begabung er sich an-fangs fasziniert zeigte. Er nennt dessen Lehre vom moralischen Geisterreich "erhaben"und gesteht der menschlichen Seele nach dem Ableben die Fähigkeit zu "intellektuellerAnschauung" zu, mittels derer sämtliche "okulten" Phänomene wie Telepathie, Hellse-hen, Präkognition und "Kontakte" mit Verstorbenen möglich und erklärbar wären.Kants Nachfolger und Kritiker Arthur Schopenhauer (1788 - 1860) legt in seinen para-psychologischen Schriften "Versuch über Geistersehn" (1851), "Von der anscheinendenAbsichtlichkeit im Schicksale des Einzelnen" (1851) und "Animalischer Magnetismusund Magie" (1836) ein überzeugendes Plädoyer für die Echtheit "okkulter" Phänomeneab. Seine parapsychologische Theorie, die noch Hans Driesch als "kurzes Lehrbuch derParapsychologie" würdigte, kann dem modernen Parapsychologen auch heute nochwertvolle Anregungen bei seinen Erklärungsversuchen paranormaler Phänomene ge-ben, wenngleich Schopenhauers mechanistischer Naturbegriff erweitert werden müßte.Bei seiner Erklärung der geheimnisvollen Prophetie in sog. "Wahrträumen" finden sicherste Anklänge an C. G. Jungs Synchronizitätstheorie, der Auffassung paranormalerWahrnehmungen als akausaler Sinnzusammenhänge.

Interessenten wenden sich direkt an Dr. Florschütz, Mangoldtstr. 19, 24106 Kiel, Telefon 0431 -542 131.

Das Neue Testamentund frühchristliche Schriften

Das Neue Testament und frühchristliche Schriften. Übersetzt und kommentiert von Klaus Bergerund Christiane Nord. 1373 Seiten. Leinen. DM 64,- / öS 467,- / sFr. 58.-

Die vorliegende Übersetzung der ältesten Schriften des Christentums ist in mehrfacherHinsicht neuartig, in den Übersetzungsprinzipien, in der Kommentierung und im Um-fang und der Anordnung der Schriften. Nach Swedenborg sind im Neuen Testament nurdie vier Evangelien und die Offenbarung im eigentlichen Sinne Gottes Wort (siehe HG10325). Das Neue Testament dürfte daher nur aus diesen fünf Büchern bestehen. DieApostelgeschichte und die Briefe könnten aus neukirchlicher Sicht in einem Ergän-zungsband "Frühchristliche Schriften" erscheinen. Und das genau ist der Grund, warum

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wir auf die Übersetzung von Berger / Nord hinweisen. Denn hier werden nicht nur diekanonischen Schriften des Neuen Testaments geboten, sondern auch all die anderen,die bis zum Jahr 200 nach Christus entstanden sind. Diese Fülle frühchristlicher Schrif-ten findet man in keiner anderen Ausgabe. Als evangelischer Theologe kann Bergerselbstverständlich Paulus und die anderen Briefe nicht aus dem Kanon entfernen, aberer relativiert diese Sammlung, indem er auch andere frühchristliche Schriften auf-nimmt. Die Reihenfolge orientiert sich am Entstehungsdatum der Texte. Diese histori-sche Einordnung ist bisher nirgends konsequent vollzogen. Nur am Rande sei bemerkt,dass Berger das Johannesevangelium auf die Zeit gegen Ende der sechziger Jahre des 1.Jahrhunderts datiert, womit er nach unserer Überzeugung goldrichtig liegt. Die Über-setzung will das Verständnis der Texte erleichtern, ohne ihre Herkunft aus einer ande-ren Kultur und Zeit, zu verleugnen. Den einzelnen Texten sind Kommentare vorange-stellt, die die Entstehungsgeschichte, die theologiegeschichtliche Bedeutung und dieWirkungsgeschichte erläutern. In den Fußnoten werden Sacherläuterungen und Über-setzungsalternativen gegeben.

Aus unserer KorrespondenzHerr H. stellte uns die Frage nach der Glaubwürdigkeit der Bibel: "Es interessiert mich,ob Swedenborg eine Inspiration zur Frage der Glaubwürdigkeit der Bibel hatte … Seitmeiner Kindheit lässt mich diese Frage nicht los. Mein Pfarrer wollte mich wegen mei-nen Zweifeln nicht konfirmieren! Jetzt bin ich 57 Jahre alt und suche immer noch. DieBücher namhafter Theologen nähren meine Zweifel." Unsere Antwort: Grundsätzlichsind aus swedenborgscher Sicht die historische und die göttliche Glaubwürdigkeit zuunterscheiden. Swedenborgs Inspiration bezieht sich eher auf die göttliche Glaubwür-digkeit. Er versichert, dass in den Büchern der Heiligen Schrift ein geistiger und einhimmlischer Sinn enthalten sei. Sie handeln von der geistigen Wiedergeburt des Men-schen und der Verherrlichung des Herrn. In diesem Sinne ist die Bibel Gottes Wort undvollkommen glaubwürdig. Die inneren Sinnschichten sind jedoch im Buchstaben ver-borgen wie die Seele im Leib. Zur historischen Glaubwürdigkeit äussert sich Sweden-borg nicht in dem Umfang und in der Weise wie es angesichts des heutigen Pro-blembewußtseins wünschenwert wäre. Deswegen kann ich Sie nur darauf hinweisen,dass es neben den von Ihnen genannten "namhaften Theologen" Lüdemann, Ranke-Heinemann usw. auch andere Stimmen gibt. Auch die Archäologie konnte wichtige Bei-träge zur Eindämmung der totalen Infragestellung der historischen Glaubwürdigkeit lei-sten. Gleichwohl ist die Bibel kein objektives Geschichtsbuch - gibt es so etwas über-haupt? -; die biblischen Geschichtsdarstellungen sind allesamt aus der Perspektive des

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Glaubens geschrieben, des Erwählungsglaubens im Alten Testament oder des Christus-glaubens im Neuen Testament. In diesem Sinne sind sie tendenziös und subjektiv. Dochdie Wahrheit, um die es im Leben eigentlich geht, ist nie nackte historische Wahrheit.Die Inspiration und Glaubwürdigkeit der Bibel besteht nach unserem Glauben darin,dass sich in den Worten, Taten und Visionen der biblischen Schriftsteller die göttlicheWahrheit einflechten konnte. Swedenborg schreibt: "Die Inspiration ist kein Diktat,sondern ein Einfluss aus dem Göttlichen." (HG 9094).

Neudruck der Tafelbibel?Der Swedenborg Verlag erwägt den Neudruck der Tafelbibel. Diese Übersetzung wurdein den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts von dem Swedenborgianer und Sprach-gelehrten Dr. Leonhard Tafel (1800 - 1880) auf Anregung Theodor Müllensiefens ange-fertigt und später von seinem Sohn Ludwig Hermann Tafel (1840 - 1909) in zehnjähri-ger Arbeit gründlich revidiert. L. H. Tafel war bestrebt, die Übersetzung seines Vatersim Sinne einer noch genaueren Wiedergabe des Urtextes so zu verbessern, dass jedeshebräische bzw. griechische Wort durch ein- und dasselbe entsprechende deutscheWort wiedergegeben wurde. Die Tafelbibel ist also eine sehr wörtliche Übersetzung undgehört damit demjenigen Übersetzungstyp an, den auch Swedenborg, der freilich auchdie Ursprachen beherrschte, bevorzugte. Ein Neudruck dieser Tafelbibel ist aber nurdann sinnvoll, wenn eine Nachfrage besteht und wenn wir tatkräftige Unterstützungbeim Korrekturlesen erhalten. Daher bitten wir hiermit um Reaktionen aus unserer Le-serschaft. Bei entsprechendem Echo könnte die Bibel fadengebunden mit Goldprägungzum Preis von 150,- bis 180,- DM angeboten werden.

Seminar- und Besinnungswoche in BarendorfDas Swedenborg Zentrum Lüneburg lädt wieder zu einem Seminar- und Besinnungswo-chenende in Barendorf (bei Lüneburg) ein. Thema ist das Vaterunser. Die folgendenVorträge sind vorgesehen: 1.) Einleitung - Von der Bedeutung des Gebetes (A. Kreuch).2.) Von "Vater unser" bis "Dein Wille geschehe" - Der Herr und seine Himmel für dasMenschengeschlecht (P. Keune). 3.) Von "so auf Erden" bis "sondern erlöse uns vondem Bösen" - Der Weg des Menschen auf Erden in der Führung durch Gott. (S. Keune).4.) Feierstunde am Sonntag über den Schlußvers "denn Dein ist das Reich …" (A.Kreuch). Das Wochenende findet vom 29.9. (Beginn 19.30 Uhr) bis 1.10.2000 (Ende 13Uhr) statt. Für Übernachtung und Verpflegung entstehen Unkosten in Höhe von 150,-

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DM plus 10,- DM Seminargebühr. Bei Anfragen und Anmeldung bitte 04131 - 37997 (A.Kreuch) anrufen.

Swedenborg taucht in gegenwärtige niederländi-sche Musikszene einMartijn Padding (geb. 1956), ein niederländischer Komponist,schreibt eine Oper über Swedenborg

"Kann ich eines Tages vielleicht eine Oper schreiben?" ist die Frage, die jedem Kompo-nisten im Kopf herumgeht, der auch nur einen leichten Hang zum Theater hat. Oftmalsverwirft er die Idee überhaupt oder er malt sich aus, dass er schon die gesamte Produk-tion in Händen hält.

Wir wissen ja, man kann mächtig alt werden und auf einen Opernauftrag warten. Manstelle sich Martijn Paddings Überraschung vor, als vor ein paar Monaten das Telefonklingelte. "Es war Tadeusz Wielecki vom Warschauer Herbst Festival.," erinnert sichPadding, "und fragte, ob ich gerne eine Oper schreiben würde." Wenn rosarote Zucker-watte aus seinem Telefonhörer herausgedrungen wäre, er hätte nicht mehr überraschtsein können. Grund für den Auftrag war Paddings Musik selbst. Ein Mitglied des künst-lerischen Festival-Ausschusses hatte das Schönberg-Ensemble mit der Aufführung vonPaddings "Ein Haus mit einem Dach" gehört und war von dem Stück so hingerissen,dass er alles unternahm, den Komponisten ausfindig zu machen.

Eben zu jener Zeit kursierten in Warschau Pläne für eine Trilogie, die auf Aufsätzenüber Swedenborg, Blake und Oscar Milosz basierten, entnommen einer Sammlung despolnischen Nobelpreisträgers Czeslaw Milosz. Drei Komponisten wurden für das Projektausgewählt. Padding und sein Librettist Friso Haverkamp sprachen sich für Swedenborg(1688-1772) und für William Blake (1757-1827) als ihr Opernsujet aus.

"Das Festival lud uns übers Wochenende nach Polen ein. Es war ein seltsames Erlebnis.Wir wurden im Opernhaus von Lodsz herumgeführt. An einer bestimmten Stelle ließensie mich alleine herumtappen, und als ich einfach eine Tür öffnete, betrat ich einen Pro-bensaal mit 150 Ballerinas, die gerade übten. Da überkamen mich glückliche Erinne-rungen, dass ich einmal Ballett-Pianist (Korrepetitor) gewesen war. Deshalb fragte ich,ob ich Tänzerinnen in der Oper verwenden dürfe. "Sicher, kein Problem," war die Ant-wort. Gerade recht! Voller Euphorie kehrten wir in die Niederlande zurück."

Friso Haverkamp hat sich seither gründlich in die Werke Swedenborgs und Blakes ein-gelesen. "Swedenborg war ein Philosoph und Bergbauingenieur in Diensten des schwe-

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dischen Königs," erklärt Haverkamp. "Er stand im Zentrum des gesamten Spektrumsder Naturwissenschaften seiner Zeit. Ungefähr mit 56 Jahren befand sich Swedenborgin einer persönlichen Krise. Er beschreibt seine Visionen aus diesem Lebensabschnitt indemselben makellosen Latein, das er früher zur Erläuterung seiner naturwissenschaftli-chen Themen benutzt hatte. Swedenborg entwirft ein verwirrendes Bild des Himmels,inklusive einer detaillierten Klassifikation der Engel. Dieses Werk, beträufelt mit christ-licher Inspiration, ist voller überschwenglicher Frömmigkeit.

Blake übernahm viele der Gedanken Swedenborgs, aber im Gegensatz zu Blake ist Swe-denborgs Beschreibung der Engel staubtrocken. Sein altväterliches Bild von Tugendverbleicht in eine freudlos korrekte, buchalterische Auflistung neben der selbstsicherenImagination des jungen Blake. In der Tat, unverdauliches Gefasel sind SwedenborgsTexte." Aber diese Tatsache wird Haverkamp nicht davon abhalten, sie zu meistern.Falls er seinen Weg gefunden hat, wird ein Seiltänzer für drei Viertelstunden über demPublikum schweben.

Die Swedenborg-Oper mit dem Titel "Tattooed Tongues" (Tätowierte Zungen), Schnipselaus dem Jenseits, ist versuchsweise für Oktober 2001 geplant. Das Werk erfordert zweiVokalsolisten, einen elektronischen Chor und 33 Ballerinas. Auf ein gut Teil unter derZahl der Schwäne (der 150 Tänzerinnen) hatten Padding und Haverkamp gehofft, aberdas ist besser als nichts. Die Choreographie stammt von Amir Hosseinpour, der auch beider Oper "Hiero" von Guus Janssen [Komponist 1951- ] und Friso Haverkamp beteiligtwar.

Quelle: Donemus trackings. Vol.2, nr.1. - May 2000

Der Komponist Daniel GlausDer schweizer Komponist Daniel Glaus (Jahrgang 1957) schrieb eine 20minütige "Kir-chen (-Raum-) Musik" bestehend aus fünf Szenen für Alt, Sprecher, Violine, Haupt- undPositivorgel mit Assistenten und Schauspielerin ad libitum (nach Belieben). Die Textestammen von Daniel Glaus, Ernst Kappeler, Rudolf Steiner und Emanuel Swedenborg.Daniel Glaus ist Kirchenmusiker an der Stadtkirche Biel und Lehrer für Orgel am dorti-gen Konservatorium und für Theorie und Neue Musik an der Musikhochschule Zürich.

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Hans Magnus EnzensbergerWo warst Du, Robert?

Hans Magnus Enzensberger, Wo warst Du, Robert? Carl Hanser Verlag 1998, Halbleinen 34,00DM, 248,00 öS, 32,80 sfr. Die Taschenbuchausgabe für 16,50 DM erscheint im November 2000.

Enzensberger wurde 1929 in Kaufbeuren geboren. Er studierte Germanistik und Philo-sophie und begann 1957 seine schriftstellerische Karriere mit zeitkritischer Lyrik. Inden Sechzigern veröffentlichte er vor allem politik- und medienkritische Essays. In denSiebzigern widmete er sich dokumentarischen Arbeiten. Daneben war er auch Heraus-geber verschiedener Zeitschriften. Mehrere Auszeichnungen, wie der Georg-Büchner-Preis oder der Heinrich-Heine-Preis, ehren sein Werk.

Enzensberger spielt mit Zeit und Raum. Ein Roman für junge Menschen und solche, diees geblieben sind. Es war ein ganz gewöhnlicher Tag, als Robert verschwindet. Er sitztin der Küche und sieht fern. Da wird er plötzlich in die gerade über den Bildschirmflimmernde Szene katapultiert und findet sich an einem fremden Ort, in einer fremdenZeit wieder. Für Robert beginnt eine Zeitreise durch fast vier Jahrhunderte. Jedesmalspringt er von einem historischen Schauplatz zum anderen und erlebt hautnah span-nende Abendteuer.

Enzensbergers Kunst ist die Beiläufigkeit, die lockere, unangestrengte Erzählweise, mitder er Robert und uns - ganz beiläufig - auch mit dem Dorflehrer Emanuel Tidemandbekannt macht. Er "trug stets den gleichen schwarzen, abgeschabten Anzug. Man sahihm an, daß er ein ewiger Junggeselle war. Und dann die Augen! Blind war er nicht; ermerkte alles. Aber dieser helle, silberne Glanz in seinen Pupillen - solche Augen hatteRobert nur einmal zu Gesicht bekommen, bei einer blinden Nachbarin …" Und dieserTidemand mit den seltsamen Augen kennt den Geisterseher, kennt Emanuel Sweden-borg. Er "ist der Kolumbus der Geisterwelt und der Entdecker der himmlischen Wissen-schaften. Er verstand die Geheimsprache der Engel, und so manchen schrecklichenStreit hat er mit den Dämonen ausgetragen, die ihm das Leben schwermachten."

Ein Prolog und ein Epilog, dazwischen sieben Zeitreisen und ein bisschen Swedenborg,ein schönes Jugendbuch über die Zeit. Was ist sie? "Ein Tag", so Gottfried Keller, "kanneine Perle sein. Und ein Jahrhundert nichts." Und von den Zeitgenossen einer Epocheerlebt jeder eine andere Zeit, - seine Zeit.

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Klaas HuizingDas Ding an sich: Ein Kant-Roman

Klaas Huizing, Das Ding an sich: Ein Kant-Roman 2000. 236 Seiten, Kartoniert (auch gebundenerhältlich) 17,00 DM -124 öS - 16,00 sfr.

Kant und die Folgen, ein in unseren Kreisen nicht unbekanntes Thema. Da mag es in-teressieren, was Klaas Huizing (geboren 1958), Ordinarius am Lehrstuhl für Systema-tische Theologie der Universität Würzburg, über das "Ding an sich" zu erzählen weiß.

Der Philosoph Johann Georg Hamann (1730-1788) erhält unter mysteriösen Umständeneine Scherbe mit dem Abdruck einer menschlichen Hand, wobei ihm berichtet wird, derAbdruck zeige Adams Hand, mit der er einen Pakt mit dem Teufel geschlossen habe.Hamann zeigt dieses Stück seinem Freund-Feind Kant, und man beschließt, sie zu un-tersuchen. Die Scherbe widersetzt sich jedoch ersten Versuchen, ihr Material zu erkun-den. So wird denn der Diener Kants, Martin Lampe, zu verschiedenen Koryphäen derZeit entsandt - zu dem Naturforscher Prokop Divisch (1696-1765), der mit Elektrizitätexperimentiert, zu den Physikern Denis Papin (1647-1712) und Tiberio Cavallo, die sichmit Hitze und Dampf bzw. Kälte und Eis befassen, und schließlich zu dem MedizinerFranz Anton Mesmer (1734-1815), dem Begründer der Lehre vom tierischen Magne-tismus. Aber alle scheitern daran, das Geheimnis der Scherbe zu enthüllen; sie bleibtunzerstörbar und wird Kant bei seinem Tode mit ins Grab gegeben.

Huizing gelingt es, Philosophie in das Gewand eines amüsanten und intelligenten Ro-mans zu verpacken. Die mysteriöse Scherbe, sie ist das Ding an sich, verblüfft, verunsi-chert den großen Philosophen: "Ist dieses Ding hier die absolute und unzerstörbare Re-alität? Das kann und darf nicht sein! Darf nicht! Das Ding an sich ist unerkennbar undwird auf ewig unerkennbar bleiben ... Ist unsere Vernunft nur fähig, diese Wirklichkeitzu erkennen? Das kann und will ich nicht glauben." (167). Und damit tönt das eigentli-che Ziel des Romans an; es ist eine Kritik, der "Kritik der reinen Vernunft". Der Alles-zermalmer, Eingeweihte erkennen darin den kantigen Verstand, kann eben doch nichtalles zermalmen. Seine letzten Worte auf dem Sterbebett sollen gewesen sein: "Nichtalles läßt sich zermalmen." Und Huizing fügt hinzu: "Bisher allerdings hat keiner derBiographen und Interpreten diese Worte richtig gedeutet." (229). Und wo es in Gestalteiner unscheinbaren Scherbe so sehr um die den Sinnen und dem Verstand unzu-gängliche Realität geht, da kann auch ein gewisser Geisterseher nicht allzu ferne sein …

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Handbuch Religiöse Gemeinschaftenund Weltanschauungen

Handbuch Religiöse Gemeinschaften und Weltanschauungen. Herausgegeben von Horst Reller,Hans Krech und Matthias Kleiminger. 5., neu bearbeitete und erweiterte Auflage 2000. 168,00 DM- 1226 öS - 151,00 sfr.

Das Handbuch "Religiöse Gemeinschaften und Weltanschauungen" ist im August 2000in 5. völlig neu bearbeiteter und erweiterter Auflage auf den Büchermarkt gekommen.Herausgeben wird es im Auftrag der Kirchenleitung der Vereinigten Evan-gelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) von dem von der VELKD und demDeutschen Nationalkomitee des Lutherischen Weltbundes (DNK/LWB) getragenen "Ar-beitskreis Religiöse Gemeinschaften". In den evangelischen Kirchen, im Religionsun-terricht und darüber hinaus gilt dieses Handbuch, das nunmehr auch als CD-ROM ver-fügbar ist, als Standardwerk. Die Stellungnahmen sind von den geltenden Ordnungendes kirchlichen Lebens der Evangelisch-lutherischen Kirche her entwickelt worden. Siegeben eine Orientierung im Umgang mit den religiösen Gemeinschaften, tragen aberkeinen kirchenrechtlichen Charakter.

Im Unterschied zur 4. Auflage 1993 ist die Neue Kirche in die Gruppe der Sonderge-meinschaften aufgenommen worden. Darunter versteht der Arbeitskreis "Ge-meinschaften, die teilweise Beziehungen zu den Kirchen haben, aber Sonderlehren ver-treten, die in einigen Fällen auch sektiererische Züge tragen; bei einigen dieser Ge-meinschaften sind die Mitglieder zugleich Glieder der Landeskirche". In der 4. Auflagegehörte die Neue Kirche noch zu den Sekten, das heißt zu den "Gemeinschaften, die mitchristlichen Überlieferungen wesentliche außerbiblische Wahrheits- und Offenba-rungsquellen verbinden und in der Regel ökumenische Beziehungen ablehnen". Der Ar-tikel über die Neue Kirche ist sehr sachlich und kenntnisreich verfaßt.

365 x LebenskunstIm Gütersloher Verlagshaus ist "365 x Lebenskunst" in einer Auflage von 5000 Exem-plaren erschienen. Darin hat Horst Prießnitz Worte für jeden Tag von der Antike bis indie Gegenwart zusammengestellt. Auch der folgende Text von Helen Keller, aus "Lichtin mein Dunkel" (Swedenborg Verlag) wurde als Wegzehrung für den 4. November auf-genommen: "Wahrlich, ich habe in den Abgrund der Finsternis geschaut, aber mich ih-rem lähmenden Einfluß nicht ergeben; im Geiste gehöre ich zu denen, die im Morgen-licht wandeln. Was hat das zu bedeuten, wenn alle dunklen, entmutigenden Stimmun-

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gen des menschlichen Gemüts mich überfallen und mich so dicht umwehen, wie dietrockenen Blätter im Herbst? Andere sind vor mir diese Straße dahin gezogen, und ichweiß, daß durch die Wüste ebenso sicher ein Weg zu Gott führt wie durch erfrischendegrüne Auen und fruchtbare Obstgärten. Auch ich bin tief gedemütigt worden und mußtemir meine Kleinheit inmitten der Grenzenlosigkeit der Schöpfung eingestehen. Je mehrich lerne, desto weniger meine ich zu wissen und je besser ich die Erlebnisse zu wertenweiß, die mir meine Sinne vermitteln, desto deutlicher werden mir deren Mängel be-wußt und ihre Unzulänglichkeit als Lebensgrundlage. Hin und wieder stehen mir dieGesichtspunkte des Optimisten und des Pessimisten so geschickt ausgewogen vor Au-gen, daß ich alle Geisteskraft benötige, um den Halt an einer praktischen Lebensphiloso-phie nicht zu verlieren, die mir ermöglicht zu leben. Aber ich gebrauche meinen Willen,erwähle das Leben und weise sein Gegenteil, das Nichts, zurück."

Gerhard GollwitzerIm Süden, insbesondere in Stuttgart, verbindet sich mit der Deutschen Sweden-borg-Gesellschaft auch der Name Gollwitzer. Gerhard Gollwitzer, Bruder des BerlinerTheologen Helmut, war hier lange Vorsitzender und prägende Persönlichkeit. Daher seiauf das folgende Buch hingewiesen: Helmut Gollwitzer: Skizzen eines Lebens: aus ver-streuten Selbstzeugnissen gefunden und verbunden von Friedrich-Wilhelm Marquardt,Guetersloh 1998. Der Bruder Gerhard wird mehrmals mit Hinweis auf die "mystischeTheologie Emanuel Swedenborgs" erwähnt.

Bernhard LangBernhard Lang ist uns durch "Der Himmel: Eine Kulturgeschichte des ewigen Lebens",Frankfurt am Main 1990 bekannt, weil er in diesem Buch Swedenborgs Bedeutung beider Geburt der modernen Himmelsvorstellung ausführlich gewürdigt hat. Daher wird esunsere Leser interessieren, daß Professor Lang nun auch eine Studie für die englischeAusgabe von Swedenborgs "Himmel und Hölle" geschrieben hat, das im September2000 bei der Swedenborg Foundation erschienen ist.

Swedenborg Zentrum, Apollostrasse 2 , CH - 8032 ZürichSchriftleitung: Thomas Noack