Orale Chemotherapie auf dem Prüfstand

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38 IN|FO|NEUROLOGIE &PSYCHIATRIE2012;Vol.14,Nr.3 Neuroonkologie Ergebnisse: Insgesamt wurden 35 Patienten in die Studie eingeschlossen: Einer starb so rasch, dass er kei- ne Therapie mehr erhielt; bei zwei Patienten musste die Therapie wegen Toxizität abgesetzt werden, fünf weitere wiesen eine relevante (WHO-Grad III oder IV) Häma- totoxizität auf. Eine Größenabnahme des Tumors um mehr als 50% wurde bei fünf Patienten erreicht, kein Tumor zeigte eine komplette Remission. Die Kaplan- Meier-Analyse zeigte für den prädefinierten Endpunkt FFS bei acht Monaten einen kalkulierten Wert von 50,3%, eine mediane FFS-Zeit von 14 Monaten (Abbil- dung 1) und eine mediane Gesamtüberlebenszeit von 30 Monaten. Von den 35 Patienten zeigten 22 im Verlauf einen Tumorprogress trotz Therapie. Davon wurden zwölf bestrahlt, drei bestrahlt und mit Temozolomid therapiert, einer mit Gammaknife bestrahlt, einer in- tensiviert mit Temozolomid und fünf ausschließlich symptomatisch behandelt. Nach Strahlentherapie lag die damit erzielte mediane progressionsfreie Zeit bei fünf Monaten und die „Gesamt“-Überlebenszeit bei zehn Monaten. Als positive prognostische Prädiktoren erwie- sen sich das Vorhandensein einer Mutation im IDH1- Gen (Isocitratdehydrogenase 1) im Tumorgewebe und das Fehlen eines bilateralen Befalls im MRT. Schlussfolgerungen: Die Autoren folgern, dass trotz eingeschränkter Vergleichbarkeit mit publizierten Fall- serien zur Strahlen- und Chemotherapie mit Temozolo- mid oder Procarbazin, CCNU plus Vincristin (PCV), die Ergebnisse dieser Phase-II-Studie günstig zu beur- teilen sind. Damit darf ihres Erachtens die orale Chemo- therapie mit PC als eine etablierte Therapiemöglichkeit gelten oder zumindest als ein Standard für einen pro- spektiven randomisierten Vergleich mit einer (noch nicht absehbaren) experimentellen Therapie bei dieser Entität. Journal Screen GlasM,BährO,Fels- bergJetal.NOA-05 Phase2TrialofPro- carbazineandLo- mustinetherapyin Gliomatosiscerebri. AnnNeurol2011; 70:445 – 53 Gliomatosis cerebri Orale Chemotherapie auf dem Prüfstand Fragestellung: Es gibt keine Standardtherapie der Gliomatosis cerebri. Kann diese Erkrankung mit einer oralen Chemotherapie aufgehalten werden? Hintergrund: Die Gliomatosis cerebri ist eine Gliom- erkrankung des Gehirns, die mindestens drei Hirnlap- pen befällt. Histologisch können diese Tumoren astro- zytären Gliomen des WHO-Grades II oder III, seltener oligodendroglialen Tumoren oder auch Glioblastomen entsprechen. Eine Heilung ist nicht möglich: Aufgrund der Ausdehnung ist eine komplette oder auch nur weit- gehende Tumorresektion nicht durchführbar. Eine Strahlentherapie (mit mindestens 45 Gy) umfasst immer ein sehr großes Zielvolumen und wird wegen möglicher Neurotoxizität gefürchtet. Zur Chemotherapie gab es bislang nur Kasuistiken oder kleine prospektive Fall- sammelserien. Patienten und Methodik: Es handelte sich um eine einarmige Phase-II-Studie zur Chemotherapie mit Pro- carbazin und CCNU (PC) bei Patienten mit einer Glio- matosis cerebri, einem Lebensalter von über 18 Jahren und einem Karnofsky Performance Index (KPI) von mindestens 50. Das prädefinierte Ziel war es, einen Anteil von mindestens 30% der Patienten zu erreichen, die nach acht Monaten noch kein Therapieversagen aufwiesen (FFS, Failure-free survival). CCNU 110 mg/m 2 Körperoberfläche (KOF) an Tag 1 und Procarbazin 60 mg/m 2 KOF pro Tag an den Tagen 8 bis 21 wurden oral alle acht Wochen für bis zu sechs Zyklen verabreicht. Kommentar: DievorliegendeArbeitistverdienstvoll. 1)SielegtdieersteformaleprospektiveTherapiestu- diebeidieserkatastrophalenTumorerkrankungdes Gehirns vor und zeigt damit eineTherapiemöglich- keitauf.2)Siebestätigt,dassdieGliomatosiscerebri trotz des Einsatzes allerTherapiemodalitäten eine schlechtere Prognose als anaplastische Gliome hat. 3) EinVergleich derWirksamkeit von„PC“ mit (dem wahrscheinlichinderklinischenPraxishäufigereinge- setzten)Temozolomidistnichtmöglich.FürPCliegen jetztjedochbelastbareDatenvor. Uwe Schlegel, Bochum FFS (Anteil) Zeit (Monate) 1,0 0,9 0,8 0,7 0,6 0,5 0,4 0,3 0,2 0,1 0 10 20 30 40 50 0 + zensiert Zeit bis zum Therapieversagen NachAnnNeurol2011 Abbildung1 Zeit bis zum Therapie- versagen (FFS) bei 35 Patienten mit Gliomatosis cerebri bei Behandlung mit Procarbazin und CCNU.

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38� IN|FO|Neurologie &�Psychiatrie����2012;�Vol.�14,�Nr.�3

Journal Screen Neuroonkologie

Ergebnisse: Insgesamt wurden 35 Patienten in die Studie eingeschlossen: Einer starb so rasch, dass er kei-ne Therapie mehr erhielt; bei zwei Patienten musste die Therapie wegen Toxizität abgesetzt werden, fünf weitere wiesen eine relevante (WHO-Grad III oder IV) Häma-totoxizität auf. Eine Größenabnahme des Tumors um mehr als 50% wurde bei fünf Patienten erreicht, kein Tumor zeigte eine komplette Remission. Die Kaplan-Meier-Analyse zeigte für den prädefinierten Endpunkt FFS bei acht Monaten einen kalkulierten Wert von 50,3%, eine mediane FFS-Zeit von 14 Monaten (Abbil-dung 1) und eine mediane Gesamtüberlebenszeit von 30 Monaten. Von den 35 Patienten zeigten 22 im Verlauf einen Tumorprogress trotz Therapie. Davon wurden zwölf bestrahlt, drei bestrahlt und mit Temozolomid therapiert, einer mit Gammaknife bestrahlt, einer in-tensiviert mit Temozolomid und fünf ausschließlich symptomatisch behandelt. Nach Strahlentherapie lag die damit erzielte mediane progressionsfreie Zeit bei fünf Monaten und die „Gesamt“-Überlebenszeit bei zehn Monaten. Als positive prognostische Prädiktoren erwie-sen sich das Vorhandensein einer Mutation im IDH1-Gen (Isocitratdehydrogenase 1) im Tumorgewebe und das Fehlen eines bilateralen Befalls im MRT.

Schlussfolgerungen: Die Autoren folgern, dass trotz eingeschränkter Vergleichbarkeit mit publizierten Fall-serien zur Strahlen- und Chemotherapie mit Temozolo-mid oder Procarbazin, CCNU plus Vincristin (PCV), die Ergebnisse dieser Phase-II-Studie günstig zu beur-teilen sind. Damit darf ihres Erachtens die orale Chemo-therapie mit PC als eine etablierte Therapiemöglichkeit gelten oder zumindest als ein Standard für einen pro-spektiven randomisierten Vergleich mit einer (noch nicht absehbaren) experimentellen Therapie bei dieser Entität.

Journal Screen

Glas�M,�Bähr�O,�Fels-berg�J�et�al.�NOA-05�Phase�2�Trial�of�Pro-

carbazine�and�Lo-mustine�therapy�in�

Gliomatosis�cerebri.�Ann�Neurol�2011;�

70:�445–53

Gliomatosis cerebri

Orale Chemotherapie auf dem PrüfstandFragestellung: Es gibt keine Standardtherapie der Gliomatosis cerebri. Kann diese Erkrankung mit einer oralen Chemotherapie aufgehalten werden?

Hintergrund: Die Gliomatosis cerebri ist eine Gliom-erkrankung des Gehirns, die mindestens drei Hirnlap-pen befällt. Histologisch können diese Tumoren astro-zytären Gliomen des WHO-Grades II oder III, seltener oligodendroglialen Tumoren oder auch Glioblastomen entsprechen. Eine Heilung ist nicht möglich: Aufgrund der Ausdehnung ist eine komplette oder auch nur weit-gehende Tumorresektion nicht durchführbar. Eine Strahlentherapie (mit mindestens 45 Gy) umfasst immer

ein sehr großes Zielvolumen und wird wegen möglicher Neurotoxizität gefürchtet. Zur Chemotherapie gab es bislang nur Kasuistiken oder kleine prospektive Fall-sammelserien.

Patienten und Methodik: Es handelte sich um eine einarmige Phase-II-Studie zur Chemotherapie mit Pro-carbazin und CCNU (PC) bei Patienten mit einer Glio-matosis cerebri, einem Lebensalter von über 18 Jahren und einem Karnofsky Performance Index (KPI) von mindestens 50. Das prädefinierte Ziel war es, einen Anteil von mindestens 30% der Patienten zu erreichen, die nach acht Monaten noch kein Therapieversagen aufwiesen (FFS, Failure-free survival).

CCNU 110 mg/m2 Körperoberfläche (KOF) an Tag 1 und Procarbazin 60 mg/m2 KOF pro Tag an den Tagen 8 bis 21 wurden oral alle acht Wochen für bis zu sechs Zyklen verabreicht.

Kommentar: Die�vorliegende�Arbeit�ist�verdienstvoll.�1)�Sie�legt�die�erste�formale�prospektive�Therapiestu-die�bei�dieser�katastrophalen�Tumorerkrankung�des�Gehirns�vor�und�zeigt�damit�eine�Therapiemöglich-keit�auf.�2)�Sie�bestätigt,�dass�die�Gliomatosis�cerebri�trotz� des� Einsatzes� aller�Therapiemodalitäten� eine�schlechtere� Prognose� als� anaplastische� Gliome� hat.�3)�Ein�Vergleich�der�Wirksamkeit�von�„PC“�mit� (dem�wahrscheinlich�in�der�klinischen�Praxis�häufiger�einge-setzten)�Temozolomid�ist�nicht�möglich.�Für�PC�liegen�jetzt�jedoch�belastbare�Daten�vor.��

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35 Patienten mit Gliomatosis cerebri

bei Behandlung mit Procarbazin

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