Ortskirche und Weltkirche in der Geschichte · Hiltrud Kier und Ulrich Krings, Köln 1984, S. 32f.,...

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Ortskirche und Weltkirche in der Geschichte Kölnische Kirchengeschichte zwischen Mittelalter und Zweitem Vatikanum Festgabe für Norbert Trippen zum 75. Geburtstag Herausgegeben von Heinz Finger, Reimund Haas und Hermann Josef Scheidgen Sonderdruck im Buchhandel nicht erhältlich 0 2011 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

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Ortskirche und Weltkirche in der Geschichte

Kölnische Kirchengeschichte zwischen Mittelalter und Zweitem Vatikanum

Festgabe für Norbert Trippen

zum 75. Geburtstag

Herausgegeben von

Heinz Finger, Reimund Haas

und Hermann Josef Scheidgen

Sonderdruck im Buchhandel nicht erhältlich

0 2011

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Brandkatastrophe und Solidarität, Marktsanierung

und Gottesfrieden. Kölns Take-off unter Erzbischof Sigewin (1079-89)

von Manfred Groten

1. Die Brandkatastrophe

�Wenn wir schon zu jeder Zeit Gott wegen unserer und der übrigen Christen Verfehlungen inständig anflehen müssen, so müssen wir umso eifriger Gottes Milde anrufen, so oft wir von den Widerwärtigkeiten der Welt betroffen wer- den, damit die unverdiente Gnade Gottes die Qualen, die wir zu Recht in dieser Welt erdulden, zu mildem und durch das gütige Geschenk der Liebe

abzuwenden geruhe. Rascher aber wird Gott den Zorn seines Unmuts gegen uns mildern, wenn wir zu unserer Hilfe seine Heiligen und Auserwählten mit demütiger Verehrung anrufen. Das haben wir bei der Ankunft des heiligen Kunibert, unseres Patrons, an jenem Tage offenkundig erfahren, an dem wir - leider durch unsere Sünden verursacht - das Kloster der heiligen Gottesmut-

ter zu den Stufen vor unseren Augen niederbrennen sahen. Es fing an jenem Tag auch das Haus des heiligen Petrus an der Ostseite Feuer, so dass schon ein Teil des Klosters niedergebrannt war und die Brüder und die Bürger der Stadt in Verzweiflung gerieten und wegen der drohenden Feuersbrunst schon die Ausstattungsstücke aus der Kirche brachten. Da kam aber die Gemein-

schaft des heiligen Kunibert, und als sie den Körper dieses unseres heiligsten Patrons seufzend und unter Tränen in das Haus des heiligen Petrus dem Feu-

er entgegen trugen, da ließ vor unseren Augen, die wir zugegen waren, durch Gottes Gnade das Feuer und der Brand vom Haus des heiligen Petrus ab, wodurch der Herr wahrhaftig bezeugte, dass wir durch die Verdienste des heiligen Kunibert von der Gefahr des Brandes befreit worden sind. "'

Das Entsetzen über die Brandkatastrophe und die Verwunderung und Freude über die unverhoffte Rettung der Kölner Domkirche vor der völli- gen Zerstörung spricht deutlich aus dem ausführlichen Bericht, der die Ur- kunde einleitet, mit der Erzbischof Sigewin dem hl. Kunibert durch reiche

Rheinisches Urkundenbuch Altere Urkunden bis 1100,2 (Publikationen der Gesellschaft für Rheini-

sche Geschichtskunde 57) bearb. von Erich \Visplinghoff, Düsseldorf 1994, Nr. 267. Die Regesten

der Erzbischöfe von Köln im Mittelalter 1 bearb. von Friedrich-Wilhelm Oediger (Publikationen der

Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 21), Bonn 1954-61, Nr. 907 (un Folgenden zitiert: REK), Nr. 1138.

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Schenkungen seinen Dank abstattete. Die Schenkungen erfolgten am 18. Februar und am 4. März 1080. Kurz vor dem früheren Datum wird das von Erzbischof Anno II. vollendete Stift Mariengraden in Schutt und Asche ge-

sunken sein? Der Wiederaufbau konnte 1085 mit der Neuweihe der Kirche

abgeschlossen werden .3 Dass die Kanoniker von St. Kunibert mit den Reli-

quien ihres Patrons dem Feuer trotzten, bezeugt ihren tiefen Glauben an die

Kraft des Heiligen, dem sie die Fähigkeit zutrauten, aus dem Jenseits in die

Geschicke der Welt einzugreifen .4 Der oben zitierte Text lässt aber auch

erkennen, dass ihnen dieses Werk des Glaubens äußerste Kraftanstrengung

und Risikobereitschaft abverlangte. Die Kanoniker machten es sich nicht leicht, aber sie hatten Erfolg.

Das Wunder, das der W. Kunibert 1080 wirkte, ist keineswegs einmalig. Es gibt zahlreiche Berichte über die Macht der Heiligen über das Feuer. Ein

weiteres Kölner Beispiel liefert die Vita Annonis. 5 Als im Jahre 1070 Erzbi-

schof Anno im Begriff stand, die Jakobskapelle beim Stift St. Georg zu wei- hen, brach eine �gefräßige

Feuersbrunst" aus, zu deren Bekämpfung fast alle Teilnehmer die feierliche Handlung verließen. Als sie nach dem Löschein-

satz zurückkehrten, stellte sich heraus, dass das Feuer in der Zwischenzeit

wieder aufgeflammt war. Der Erzbischof, dessen Heiligkeit die Vita erwei- sen will, forderte die Menge daraufhin auf, mit ihm die Weihehandlung zu vollenden und das Lob Christi um keiner Gefahr willen abzubrechen. Die Menge gehorchte, und tatsächlich erlosch das Feuer durch göttliche Einwir-

2 Die Kunstdenkmäler der Stadt Köln 2,3 Ergänzungsband (Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz 7,3) bearb. von Ludwig Amtz, Heinrich Neu, Hans Vogts, Düsseldorf 1937, S. 5-28, Toni Diedrich, Stift - Kloster - Pfarrei. Zur Bedeutung der kirchlichen Gemeinschaften im Heiligen Köln, in: Köln. Die Romanischen Kirchen. Von den Anfangen bis zum Zweiten Weltkrieg (Stadtspuren 1) hrsg. von Hiltrud Kier und Ulrich Krings, Köln 1984, S. 32f., Helmut Fußbroich, St. Maria B. V. ad Gradus im

selben Band S. 557-561, Frank G. Hirschmann, Stadtplanung, Bauprojekte und Großbaustellen im 10.

und 11. Jahrhundert. Vergleichende Studien zu den Kathedralstidten westlich des Rheins (Monogra-

phien zur Geschichte des Mittelalters 43), Stuttgart 1998, S. 48-51. Konrad Bund bereitet eine grö- ßere Veröffentlichung vor, vgl. einstweilen ders., Eine Glocke braucht ihren Turm - die untergegan- gene Kölner Stiftskirche St. Mariengraden und ihr Geläute (Kölner Glocken und Geläute des Mittel-

alters V). Ein doppeltes Jubiläum und eine schmerzliche Erinnerung, in: Jahrbuch für Glockenkunde 19/20 (2007/08), S. 27-58. Zur Lage des Stifts vgl. Hermann Keussen, Topographie der Stadt Köln im Mittelalter, 2 Bde., Bonn 1910, Nachdruck Düsseldorf 1986, Bd. 2, S. 302f.

Rheinisches Urkundenbuch 2 (wie Anm. 1), Nr. 278. Dort Hinweis auf den Brand:. ed exigentibus peccatis ex combustione in dneres redadum. Arnold Angenendt, Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis

zur Gegenwart, München 1994, S. 102-122. Vita Annonis I, 34, MG SS 11, S. 481, REK 1, Nr. 992 zu 1070 (un Regest ungenau referiert). Zu den Wundem Annos vgL Uta Kleine, Gesta, Fama, Srßpta. Rheinische Mirakel des Hochmittelalters

zwischen Geschichtsdeutung, Erzählung und sozialer Praxis (Beiträge zur Hagiographie 7), Stuttgart

. 2007, S. 75-122,159-188,231-282

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kung, als ob Wasser darauf gegossen worden wäre. So wurden die Verdiens-

te des heiligmäßigen Erzbischofs offenbar. Erzbischof Sigewin sah die Ursache des Brandes von Mariengraden im

Zorn Gottes über die Sündhaftigkeit der Menschen, der er sich auch selbst verfallen wusste. Nur die Gnade Gottes, erwirkt durch die Verdienste der Heiligen, verhinderte das Schlimmste. Dass diesem göttlichen Gnadenwir- ken kein Automatismus innewohnte, hatten Sigewin und seine Zeitgenossen

wenige Jahre zuvor erfahren müssen. Am Osterfest 1076 brannte die Pe-

terskirche in Utrecht, in der Bischof \Vrilhelm in Anwesenheit König Hein-

richs IV. den Bann über Papst Gregor VII. verkündet hatte, im Gefolge

eines Blitzeinschlags nieder. 6 Angesichts der ungeheuerlichen Anmaßung des Königs und des Bischofs hatte Gott seinen Zorn nicht gemäßigt. Bi-

schof Wilhelm war bald nach der Brandkatastrophe gestorben. Im Köln war man dagegen noch einmal davongekommen, aber der

Schock musste tief sitzen, denn auch Erzbischof Sigewin hielt König Hein-

rich die Treue und stellte sich damit gegen Papst Gregor und seine Anhä-

nger. Sige-%vin war um den Jahreswechsel 1078/79 von Heinrich IV. zum Erzbischof von Köln bestimmt . vorden. 7 Im Gegensatz zu seinem unrühm- lichen Vorgänger Hildolf8 war er vermutlich Rheinländers und als Domde- kan mit den Kölner Verhältnissen seit Jahren gut vertraut 10 Die Vita Annonis berichtet, dass Anno Sigewins Erhebung auf den Kölner Bischofs-

stuhl vorausgesehen und ihn gepriesen habe: Ecce vere Israbelita in quo dolus

non est Goh. 1,47)11 Sigewins Investitur entsprach jedoch nicht den Anfor- derungen, die Gregor VII. an die Amtseinfiihrung eines Bischofs stellte. Dennoch ließ der Papst die Sache in der Schwebe, weil er noch Hoffnung auf eine gütliche Einigung mit dem König hatte. 12 Sigewin hat sein ungeklärtes Verhältnis zu Gregor VII. klaglos hingenommen. Bis zu seinem Lebensende

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Gerold Meyer von Knonau, }ahrbücher des Deutschen Reiches unter Heinrich IV. und Heinrich V.

2, Berlin 1894, S. 660-662

REK 1, Nr. 1133. Tobias Wulf, Erzbischof Siegwin von Köln. Ein Beitrag zur Geschichte des Erzbistums Köln im 11. Jahrhundert, in: Geschichte in Köln 50 (2003), S. 9-35. REK 1, Nr. 1111-1113, Hanna Vollrah, Erzbischof Hildolf von Köln (1075-1078):

�Häßlich anzu- sehen und von erbärmlicher Gestalt". Eine Fallstudie zum Konzept von kanonischer Wahl und Re- formfeindschaft im Investiturstreit, in: Köln, Stadt und Bistum in Kirche und Reich des Mittelalters,

Festschrift für Odrlo Engels zum 65. Geburtstag hrsg. von Hanna Vollrath und Stefan Weinfurter, Köln-Weimar-Wien 1993, S. 259-281.

REK 1, Nr. 1132 REK 1, Nr. 1070 (nach dem 23. Mai 1072). Vita Annonis Il, 8, MG, SS 11, S. 486f. REK 1, Nr. 1135 (Juni 1079), dagegen heißt es in den Annalen Bertholds, er sei bald exkommuni- ziertworden (max tammmrrrirafiori infelia subiaab4, vgl. Nr. 1133.

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ist er ein getreuer Gefolgsmann Heinrichs IV. geblieben. 13 Unter seinem Stab blieb Köln eine unerschütterliche Bastion des salischen Königtums. '4 Die Kirchenreformer fanden keinen Zugang zum konservativen Köln. Wie

sich gleich zeigen wird, heißt das allerdings nicht, dass das innovative Potenti-

al der kirchlichen Reformideen oder die sie begleitenden neuen religiösen Ausdrucksformen an Köln spurlos vorbeigegangen wären.

Die Parteigänger Papst Gregors VII. hatten 1077 Rudolf von Rheinfelden

zum Gegenkönig gegen Heinrich IV. erhoben. Seither zerriss ein Bürgerkrieg das Reich. Am 27. Januar 1080 hatten das Heer Rudolfs bei Flarchheim an der Unstrut in Thüringen die Truppen Heinrichs IV. geschlagen. " Die Nachricht über die Niederlage seines Königs mag Erzbischof Sigewvin erreicht haben, kurz bevor der Brand in Mariengraden ausbrach. Die Frage, ob Sigewvin und seine Gefolgsleute im Angesicht Gottes richtig handelten, musste angesichts der Zerrüttung des Reiches in aller Schärfe gestellt werden.

Am 22. März 1080 weilte Erzbischof Liemar von Bremen zusammen mit Bischof Benno II. von Osnabrück in Köln. '(, Liemar befand sich auf dem Weg zu König Heinrich, der in Lüttich das Osterfest feiern wollte, um über seine schmähliche Abweisung durch Gregor VII. in Rom zu berichten. 17 Das

schroffe Verhalten des Papstes gegenüber der hochrangigen königlichen Ge-

sandtschaft zur Fastensynode verwies schon auf den erneuten Bannspruch über Heinrich IV., den Gregor am 7. März 1080 verkündete. is Auch die römi- schen Ereignisse mussten Sigewin zu denken geben. Erzbischof Liemar und Bischof Benno fungierten als Zeugen für bedeutende Schenkungen Sigewins

an den hl. Gereon und seine Gefährten. '9 Auch den Elftausend Jungfrauen brachte Erzbischof Sigewvin 1080 Geschenke dar, um ihre Fürbitten zu erlan- gen 2° Da die betreffende Urkunde am 9. November 1080 ausgestellt wurde, kann man die Schenkung an die heiligen Jungfrauen als ein Dankopfer für den

glücklichen Ausgang der am 15. Oktober ausgetragenen Schlacht an der Grune zwischen den rivalisierenden Königen interpretieren. Erzbischof

13 RISK 1 Nr. 1142,1144,1163-1165.11G7,1170,1173.117ä 14 Ursula Lcwald, Köln im Investitussrrcr, in: Invts:. ̂ r: rs: ris taxi Rcichssufassung (Vorträge und

Forschungen 17) hrsg. von Josef Flcckc=e n, SZ=-in^ers 1973, S. 373-393, Raymund Kottje, Zur Bedeutung der Bisehofsstidtc für l icnrch IV., ix Ilisrorixhcs Jahrbuch 97/98 (1978), S. 131-157, hier S. 143f.

15 Gerold Meyer von Knonau, Jahri3üches des D tn. s hen Rcichcs unter I Ieinrich IV. und 1lcinrich V. 3, Berlin 1900, S. 23B-241.

16 Rheinisches Urkundenbuch 2 (wie Arm. 1), Nr. 261f.

17 Meyer von Knonau 3 (wie Anm. 15), S. 251.

18 Meyer von Knonau 3 (wie Anm. 15), S. 252-256. 19 REK 1, Nr. 1140, Rheinisches Urkundenbuch 2 (wie A=L 1), Nr. 261.

20 RGK 1, Nr. 1143, Rhciniachcs Urkundmbr: ch 2 (wt: Anm. 1). Nr. 332.

Brandkatastrophe und Solidarität, Marktsanierung und Gottesfrieden 73

Sigewin hatte an dem Feldzug teilgenommen und verlor bei der Plünderung des Lagers Heinrichs 1jT durch die Sachsen sein Gepäck. 21 Der zunächst siegreiche König Rudolf erlag nach dem Ende der Kämpfe seinen Verletzun-

gen. 22 Es dürfte nicht leicht fallen, ein Jahr zu finden, in dem die Kölner Hei- ligen so reich beschenkt wurden wie 1080. Am Ende dieses Jahres sah die Situation Heinrichs IV. und seiner Anhänger deutlich besser aus als zu Jah-

resbeginn. Das Gegenkönigtum war zunächst beseitigt, und am 25. Juni war mit Clemens III. ein Gegenpapst gewählt worden, der Gregor VII. den Stuhl Petri streitig machen sollte.

2. Die Solidarität

Wie haben die Kölner auf die Brandkatastrophe von 1080 reagiert? Die Antwort könnte ein geheimnisvolles Pergamentblatt liefern, das bisher noch nicht in dem Zusammenhang betrachtet worden ist, in den wir es hier stellen wollen. Gemeint ist die

�Kölner Namenliste", die Wilhelm Levison in einer

Londoner Handschrift entdeckt hat. 23 Anhand identifizierbarer Namen ist diese Liste einhellig in die Zeit um 1080 datiert worden, also in die Zeit mit der wir uns hier beschäftigen.

Das große Pergamentblatt (ca. 52 cm hoch, ca. 26 cm breit) ist einseitig in zwei Spalten beschrieben worden. Es enthält fast 40024 männliche und weibliche Rufnamen in Blöcken angeordnet, denen als Überschriften oder Rubriken Namen von Kölner Stifts-, Kloster- und Pfarrkirchen vorange- stellt sind. Einige Blöcke zeigen eine Binnengliederung durch das Freilassen

von Zeilen. Da das Blatt am oberen Rand beschnitten worden ist, fehlen die Überschriften bei den ersten Blöcken der ersten und zweiten Spalte. Die Zuordnung dieser Blöcke lässt sich für Spalte I mit hoher Wahrscheinlichkeit, für Spalte II mit erheblich geringerer Sicherheit rekonstruieren.

In den Zeilen 2 bis 4 der ersten Spalte finden sich mehrere Namen, die

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RFK 1, Nr. 1142. Meyer von Knonau 3 (wie Anm. 15), S. 337-341,644- 652. Wilhelm Levison, Eine Aufzeichnung über Kölner Kirchen aus dem 11. Jahrhundert, in: ZRG KA 6 (1916), S. 386-391, ders., Eine Kölner Namenliste aus dem 11. Jahrhundert, in: AHVN 119 (1931), S. 164-169, Rudolf Schützeichd, Die Kölner Namenliste des Londoner Ms. Harley 2805, in: Na-

menforschung. Festschrift für Adolf Bach zum 75. Geburtstag am 31. Januar 1965 hrsg. von Rudolf Schätzeichel und Matthias Zender, Heidelberg 1965, S. 95-126. Die Zahl bei Schutzeichel (wie Anm. 23), S. 114. Schutzeichel schließt aus dem Auftreten bestimmter Namen in verschiedenen Blöcken, dass einzelne Personen mehrfach eingetragen wurden. Ob das zu- trifft, ist nicht zu kuren.

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erzbischöfliche Kapläne der Zeit Sigewins tragen: Heinricus (Z. 2)25, Thiederihc

und Eiluechin (Z. 3)26, GeZo (Z. 4). 27 Dieser Befund deutet darauf hin, dass der erste umfangreiche Namenblock der Kölner Domkirche zuzuordnen ist. Die Struktur dieses Block ist allerdings aufgrund von Textverlust schwer zu analysieren. Welche Bedeutung der Ortsname [R]ichelinchusen (wohl Reckling- hausen) in Zeile 7 hat, ist nicht zu klären? 8 Vielleicht gehört er gar nicht zum ursprünglichen Text. Er kann auf jeden Fall nicht als Überschrift für die fol-

genden Namen angesehen werden, weil sich unterhalb des Schriftzugs eine freie Zeile befindet, was bei den anderen Überschriften nicht der Fall ist.

Der erste Block der zweiten Spalte ist bei weitem der umfangreichste der

ganzen Liste. Der in Z. 5 genannte l179bart könnte einen Hinweis auf seine Zuordnung zu einer Kirche liefern. 29 Ein Wolfhard hat vor 1106/21 ein Haus in der Witschgasse als Stiftung für sein Seelenheil dem Kloster St. Pantaleon vermacht. 30 In der Überlieferung von St. Pantaleon tauchen auch die Namen Razo (Z. 5 und 19) 31 und Tiezo (Z. 7 und 13) 32 auf. Allerdings sind diese Namen häufiger belegt als der Name Wolfhard. Die wenigen Nachweise reichen nicht aus, um die Zuordnung zu St. Pantaleon zur Ge- wissheit zu erheben. Angesichts des regen Interesses der Kölner Bürger für die Verhältnisse in St. Pantaleon, das der Bericht Lamperts von Hersfeld über den Aufstand gegen Erzbischof Anno nach Ostern 1074 erkennen lässt33, erscheint es aber nicht unwahrscheinlich, dass zahlreiche Namen gerade die- sem Kloster zugeordnet werden.

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REK 1, Nr. 1147 (1081), 1150 (1079-83). REK 1, Nr. 1150 (1079 -83). REK 1, Nr. 1147 (1081), 1174 (1085 ? ), 1190 (1079-89). Schützeichel (wie Anm. 23), S. 99-102- Der Name ist auch in Z. 35 unter Klein St. Martin belegt. Die Urbare von S. Pantaleon in Köln (Rheinische Urbare 1, Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 20) hrsg. von Benno Hilliger, Bonn 1902, S. 87f. Nr. IV, vgl. auch S. 14 (Memorienkalender zum 12. Februar), 112 (Urbar A um 1225, zahlungspflichtig Gottschalk Overstolz und eine Witwe.

Hilliger (wie Anm. 30), S. 88 Nr. IV, 89 Nr. V (unter Abt Gerhard 1123-45, Razo und Bruder Tyezo). Hilliger (wie Anm. 30), S. 40 (1lfemorienkalender zum 14. Juni, Stifter einer Verkaufsbude [la]), 63,113

(Urbar A um 1225), S. 89 Nr. V (unter Abt Gerhard 1123-45).

Lamperti monachi Hersfeldensis opera (MG SS rer. Gems. 38) hrsg. von Oswald Holder-Egger, Han-

nover 1894, S. 190. Vgl. auch Manfred Graten, Wurde das romanische Kölner Stadtsiegel im Klos-

ter St. Pantaleon gestochen?, in: Colonia Romanica 1 (1986), S. 73-77. Vgl. allgemein Hans Joachim

Kracht, Geschichte der Benediktinerabtei St. Pantaleon in Köln 965-1250 (Studien zur Kölner Kir-

chengeschichte 11, Siegburg 1975, Sebastian Ristow Die Ausgrabungen von St. Pantaleon in Köln.

Archäologie und Geschichte von römischer bis in karolingisch-ottonische Zeit, Bonn 2009).

Brandkatastrophe und Solidarität, Marktsanierung und Gottesfrieden 75

Es ergäbe sich also folgende Verteilung der Kirchen:

I II 1 [Dom] 1 [St. Pantaleon (Benediktinerkloster) ?]

2 St. Aposteln, daneben 2a St. Johann [Baptist] 34 (Nachtrag)

2 Klein St. Martin

3 St. Gereon 3 St. Cäcilia 4 St. Kolumba 4 St. Andreas 5 St. Severin (wiederholt am Ende der

Spalte) 5 St. Alban

6 Groß St. Martin Schottenkloster 7 St Ursula

Die Reihung der Kirchen erscheint willkürlich. Verschiedene Kirchenty-

pen treten gemischt auf. Die übliche Reihenfolge der Stiftskirchen nach ihrem Alter ist nicht beachtet worden. 35 Auch topographische Gesichtspunkte spie- len keine Rolle. Der gesamten Liste scheint also kein erkennbares Konzept

zugrunde zu liegen. In ihr fehlt das vornehmste Kölner Damenstift St. Maria im Kapitol. Ebenso sind die Männerstifte St. Kunibert, St. Georg und Ma-

riengraden nicht belegt, was bei letzterem angesichts seiner Zerstörung nicht verwundern muss. Bei den innerstädtischen Pfarrkirchen vermisst man St. Laurenz.

Zu der Beschriftung des Blattes stellt Levison fest �Die meisten [Perso-

nennamen] stammen von der Hand des ersten Schreibers, einzelne sind ausradiert, andere von verschiedenen, aber ziemlich gleichzeitigen Händen

ergänzt; viele der Nachträge heben sich durch dunklere oder hellere Tinte ab, indem im übrigen die Hände oft kaum zu unterscheiden sind. "36 Der Schluss des Satzes enthüllt Levisons Ratlosigkeit. In der Tat lässt die verfüg- bare Abbildung des Blattes37 keine durchgehende Anlagehand erkennen. Es

scheint eher so zu sein, dass fast jeder Block von einer neuen Hand ge- schrieben worden ist, zu deren Eintragungen oft Ergänzungen von anderen Händen hinzukommen. Dieser Befund ließe sich durch die Annahme erklä- ren, das Blatt sei an einem zentralen Schreibort angelegt, dann im Umlaufver-

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Recte = Stift, kursiv = Pfarrkirche. Manfred Groten, Prioren und Domkapitel von Köln im Hohen Mittelalter, Beiträge zur Geschichte des kölnischen Erzstifts und Herzogtums (Rheinisches Archiv 109), Bonn 1980, S. 38. Levison, Namenliste (wie Anm. 23), S. 165. Schatzeichel (u ie Anm. 23), nach S. 104.

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fahren38 bei einzelnen Kirchen ergänzt und schließlich am Ursprungsort

eine Zeit lang von verschiedenen Händen fortgeschrieben worden. Die Namenliste stellt im Rahmen der pragmatischen Schriftlichkeit in

Köln im späten 11 Jahrhundert ein völliges Unikum dar. Vergleichbare Auf-

zeichnungen kennen wir aus den Gruppeneinträgen in den süddeutschen Verbrüderungsbüchern 39 Für Köln muss die Anlage der Namenliste jedoch

als erklärungsbedürftiger Sonderfall gewertet werden. Nur ein außergewöhn- liches Ereignis kann Anlass zu einer solchen schriftlichen Fixierung von Per-

sonennamen gegeben haben. Die Anlage eines so einzigartigen Dokuments

war nur an einem leistungsfähigen Schreibort möglich, an dem mehrere Schreiber zur Verfügung standen. Eine solche Gruppe von Schreibern stell- ten in Köln nur die erzbischöflichen Kapläne dar, die in fast allen Urkunden Sigewins als Zeugen auftreten. 40 Es ist daher zu vermuten, dass die Namen- liste in der Umgebung des Erzbischofs und vielleicht auch in seinem Auf-

trag entstanden ist. Der Erzbischof kann aber nicht der alleinige Initiator der Namensammlung gewesen sein.

Zu welchem Zweck die Namen aufgezeichnet worden sind, geht aus der Liste nicht hervor. Dass jedoch ein religiöser Kontext anzunehmen ist, kann

man aus der Tatsache schließen, dass nicht nur Namen von Männern aufge- führt werden, sondern auch von Frauen, die in weltlichen Angelegenheiten

nicht öffentlich auftreten konnten. Die Beteiligung von Geistlichen und Laien weist in dieselbe Richtung.

Geistliche und Laien erscheinen in der Liste grundsätzlich von einander getrennt. Das zeigt sich bei St. Ursula, wo Frauennamen mit Mehthilt an der Spitze durch zwei Leerzeilen von gemischten Männer- und Frauennamen

abgesetzt sind. Bei der genannten Mechtild dürfte es sich um die 1080 beleg- te Äbtissin von St. Ursula handeln41, bei den übrigen Namen dann wohl um Kanonissen. Die abgesetzten gemischten Namen gehören demgegenüber Laien. Bei St. Andreas sind vier Männernamen von einem gemischten Na-

menblock abgehoben. Bei dem an erster Stelle genannten Karl handelt es

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Ein schlüssiger Beweis für diese Hypothese lässt sich nicht erbringen, weil als Vergleichsmaterial aus den einzelnen Kirchen nur Urkunden zu Verfügung stehen, die in diplomatischer hlinuskel ge- schrieben sind, während die Namenliste Gebrauchsschrift/Buchschrift zeigt. Der Namenblock von St. Gereon lässt sich nicht mit der Hand identifizieren, die die Urkunde für St. Gereon von 1080 (His-

torisches Archiv des Erzbistums Köln, Pfarrarchiv St. Gereon A 11, vgl. Anm. 19) geschrieben hat.

Vgl. Holger Schmenk, Die frühmittelalterlichen Gedenkbücher des Bodenseeraums, Marburg 2003. REK 1, Nr. 1138 -1140,1143,1147,1149,1151,1155,1161,1162,1174,1175,1181-1183,1190. REK 1, Nr. 1143. Gertrud Wegener, Geschichte des Stiftes St. Ursula in Köln (Veröffentlichungen

des Kölnischen Geschichtsvereins 31), Köln 1971, S. 182.

Brandkatastrophe und Solidarität, Marktsanierung und Gottesfrieden 77

wohl um den Dekan von St. Andreas. 42 Zu St. Cäcilia werden nur Frauenna- men aufgeführt. An zweiter Stelle steht der Name Hathewihc, den zwischen 1089 und 1094 die Äbtissin dieses Stiftes trug. 43 Bei St. Gereon sind nur Männernamen angegeben, beginnend mit ll7erenbolt, 1080 als Dekan des Stif- tes bezeugt. 44 Bei den Männerstiften fällt auf, dass deren Vorsteher, die im Priorenkolleg organisierten Pröpste, nicht in Erscheinung treten.

Die Namen von Laien sind in der Liste deutlich in der Überzahl. Die Be- wegung, die die Namenliste dokumentiert, wurde also in hohem Maße von Laien getragen, die zu bestimmten Kirchen in Beziehung traten. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass alle in der Liste belegten Kirchen Pfarrrechte hatten. Dass das Stift Mariengraden keine Pfarrrechte besaß, könnte dem-

nach ebenso wie seine Zerstörung 1080 für sein Fehlen in der Liste verant- wortlich sein. Einige der Stifte hatten zwar die Pfarrseelsorge in eigene An-

neakirchen ausgegliedert, die Namenliste zeigt aber deutlich, dass die Gläubi-

gen sich um 1080 noch den Patronen der Stiftskirchen am stärksten verbun- den fühlten. So erscheinen in der Liste Laien unter der Rubrik St. Andreas,

obwohl die Kirche St. Paul, in der der Pfarrgottesdienst gefeiert wurde, zu dieser Zeit wohl schon existierte45 Anders lagen die Verhältnisse allerdings in der Innenstadt. In den von der Römermauer umschlossenen Stadtkern

reichte die Sogkraft der Stifte kaum hinein. Hier konnten die Pfarrkirchen Zentren des religiösen Lebens werden. So erscheinen St. Kolumba und St. Alban in der Namenliste. 46

Einen Sonderfall stellt die auf dem südlichen Teil des Marktgeländes vor der östlichen Mauer der Römerstadt gelegene Pfarrkirche Klein St. Martin dar. 47 Ihre Pfarrrechte leiteten sich, wie noch am Ende des 13. Jahrhunderts in

einem Prozess festgestellt wurde48, vom Stift St. Maria im Kapitol ab. Der

rasante Ausbau des Marktviertels im 11. Jahrhundert überforderte offenbar das vom hohen Adel dominierte Damenstift, das den Pfarrgottesdienst in

42 Rheinisches Urkundenbuch 2 (wie Anm. 1), Nr. 243 (undatiert, vor 1083), REK 1, Nr. 1204 (1091), 1212 (1094).

43 REK 1, Nr. 1211, Rheinisches Urkundenbuch 2 (wie Anm. 1), Nr. 251. 44 REK 1, Nr. 1139f. 45 Rheinisches Urkundenbuch 2 (wie Anm. 1), Nr. 241 (2. Hälfte des 11. Jhs. ). u Karte der mittelalterlichen Kölner Pfrrsprengel bei Hermann Jakobs, Verfassungstopographische

Studien zur Kölner Stadtgeschichte des 10. bis 12. Jahrhunderts, in: Mitteilungen aus dem Stadtarchiv

von Köln 60 (1971), S. 49-123, hier S. 99. 47 Die Kunstdenkmäler der Stadt Köln 2,3 Ergänzungsband (Die Kunstdenkmäler der Rheinprovinz

7,3) bearb. von Ludwig Arntz, Heinrich Neu, Hans Vogts, Düsseldorf 1937, S. 74-85, Keussen, Topographie 1 (wie Anm. 2), S. 55b6.

48 Hermann Keussen, Der Rotulus von S. Maria im Kapitol vom Jahre1300, in: Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln 35 (1914), S. 95-211.

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einer kleinen Kapelle in der Immunität lesen ließ 49 Es war wohl Erzbischof Anno, der den veränderten Verhältnissen durch die Errichtung einer neuen Pfarrkirche am Rande des Marktes Rechnung trug. Dass Klein St Martin in

annonischer Zeit gegründet worden sein muss, und nicht erst um 1080, wie es in der Literatur meistens heißt50, ergibt sich aus der starken Repräsentation dieser Kirche in der Namenliste, die nicht zu einer Kirche in der Aufbaupha-

se passt. Für die durchgängig behauptete maßgebliche Beteiligung der Bür-

ger an der Errichtung von Klein St. Martin gibt es übrigens in den Quellen keine Anhaltspunkte. Es handelt sich um eine unzulässige Rückprojektion

spätmittelalterlicher Zustände in das 11. Jahrhundert Damit entfallen auch alle Überlegungen bezüglich des Entwicklungsgrads bürgerlicher Verge-

meinschaftungen, die an diese Annahme geknüpft worden sind. Die räumliche und ständische Distanz zu St. Maria im Kapitol ließ auch

Klein St. Martin zu einem Zentrum religiösen Lebens der Stadtbewohner

werden. Die �splendid isolation" des Stifts könnte auch erklären, warum St

Maria im Kapitol in der Namenliste fehlt Das Stift übte vermutlich wenig Anziehungskraft auf die Laien in seiner Umgebung aus. Die topographische Verteilung der Namenblöcke zeigt, mit einer möglichen Ausnahme, eine deutliche Konzentration auf den östlichen Teil des Stadtzentrums: Der ver- stümmelte Block für den Dom weist noch 15 Zeilen auf, der für Groß St. Martin 12 Zeilen. Bei den Pfarrkirchen stehen unter St. Kolumba 16 Namen,

unter St. Alban 13, unter Klein St. Martin 40. Die Peripherie ist weit schwä- cher repräsentiert. Bei St. Aposteln und St Severin sind je ein Name ver- zeichnet, bei der Pfarrkirche St. Johann Baptist 2. Bei St. Caecilia und St. Gereon sind offenbar keine Laien eingetragen worden. Etwas besser sieht es im nördlichen Umfeld der Römerstadt bei St Andreas und St. Ursula aus. Dieser Bereich war offenbar dichter besiedelt als das südliche Vorfeld der Stadt, wo auch das nicht vertretene Stift St. Georg lag. Allerdings fehlt am Rande der nördlichen Peripherie auch St. Kunibert.

Sollte der mit noch 32 erhaltenen Zeilen größte Block der Liste tatsäch- lich St. Pantaleon zuzuordnen sein, würde die Bedeutung dieses Siegburger Reformklosters eindrucksvoll in Erscheinung treten. Anders als die anderen Konventualkirchen, die aufgrund ihrer Pfarrrechte Laien aus ihrem Umfeld

an sich binden konnten, erstreckte sich die Anziehungskraft von St Pantaleon

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St. Noitburgis, vgl. Keussen, Rotulus (wie Anm. 48), S. 106. Jakobs, Studien (wie Anm. 46), S. 109-114, Hugo Stehkämper, Die Stadt Köln in der Salierceit, in:

Die Salier und das Reich 3 hrsg. von Stefan Weinfurter unter Mitarbeit von Hubertus Seibert, Sigma-

ringen 1991, S. 75-152, hier S. 117, Hirschmann, Stadtplanung (wie Anm. 2), S. 63f.

Brandkatastrophe und Solidarität, Marktsanierung und Gottes frieden 79

über die gesamte Stadt. Schenkungen an das Kloster51 bestätigen diesen Befund ebenso wie die prominente Vertretung der klösterlichen Ministeria- len in der städtischen Führungsgruppe im 12. Jahrhundert. 52

Was hat nun zahlreiche Laien veranlasst, sich an bestimmte Kirchen (in ei- ner für uns nicht näher bestimmbaren Form) zu binden und diesen Akt sogar schriftlich festhalten zu lassen.? Angesichts der formalen Ähnlichkeit der Na- menliste mit dem Quellentyp der Verbrüderungsbücher könnte man an eine Gebetsverbrüderung denken. Eine so große Verbrüderungsbewegung, wie sie die Liste dokumentiert, muss von einem bestimmten Ereignis ausgelöst wor- den sein. Als ein solch aufrüttelndes Ereignis kommt ganz gewiss der Brand

von Mariengraden 1080 in Frage. Die oben geschilderte Krisensituation könn- te Erzbischof Sigewin durchaus zu einem Aufruf an die Bevölkerung Kölns verlasst haben, Gott für sein gnädiges Wirken zu danken und für die Zukunft in gesteigertem Maße seine Gnade zu erflehen. Die Resonanz zeigt, wie emp- fänglich die Kölner für einen solchen Appell waren. In Köln gab es also durchaus ein Publikum für die Klagen über die Vergänglichkeit und Sündhaf- tigkeit der Welt, die die Kirchenreformer angestimmt hatten. Als Heilmittel

predigten sie Buße und Umkehr. In der deutschen Memento-mori-Dichtung

wurde dieses Lebensgefühl in die Laienwelt vermittelt. 53 Es kontrastierte mit der weltzugewandten Aufbruchstimmung, die von den durch das hochmittelal- terliche Klimaoptimum verbesserten Lebensbedingungen befeuert wurde. 54 Das späte 11. Jahrhundert war eine von jähen Stimmungsumschwüngen cha- rakterisierte Umbruchzeit.

Das scheint in milderer Form auch fir die durch die Namenliste doku-

mentierte Aktion zuzutreffen. Wie die freigelassenen Zeilen innerhalb der Namenblöcke anzeigen, war die Liste auf Zuwachs angelegt. Man ging also davon aus, dass die Bewegung weiter anwachsen würde. Wie die verbleiben- den Lücken zeigen, hat man die Nachhaltigkeit der Mobilisierung der Be- völkerung jedoch überschätzt. Das könnte die Folge eines bald nach dem Beginn der Namensammlung einsetzenden Stimmungsumschwungs gewe- sen sein. Im Laufe des Jahres 1080 besserte sich die Lage für die Anhänger

st Hilliger (uie Artur. 30), Ißt. IV (erschlossene Datierung 1106-21), V (erschlossene Datierung 1123- 45).

ss Manfred Groten, Die Kölner Richerzeche im 12 Jahrhundert Mit einer Bürgermeisterliste, in: Rheini- sehe Vierteljahrsblätter 48 (1984), S. 34-85, hier S. 62

Sl Die deutsche Literatur des 2M iittelalters. Verfasserlexikon 6 (1986), Sp. 381-386. Vgl. auch Manfred Graten, Die Arengcn der Urkunden Kaiser Heinrichs IV. und König Philipps I. von Frankreich im Ver-

gleich, in: Archiv fier Diplomattý- 41 (1996), S. 49 -72, besonders S. 55. sr Rüdiger Glaser, Klimageschichte Mitteleuropas. 1000 Jahre Netter Klima, Katastrophen, Datenstadt

2001, S. 61 (1. Warmphase 1021-40,2 Warmphase 1080-1120), 72 (Wmterverhältnisse).

80 Manfred Groten

Heinrichs IV. tatsächlich in gewissem Umfang. Auf der Synode von Brixen im Juni wurde ein Gegenpapst gewählt, der der königlichen Partei von höchs- ter Warte kirchliche Legitimation verleihen konnte. Mit dem Tod Rudolfs von Rheinfelden nach der Schlacht an der Grune vom 15. Oktober erlosch zu- nächst das Gegenkönigtum. Damit mag sich die düstere Stimmung verflüch- tigt haben, die im Frühjahr 1080 eine Bußbewegung in Leben gerufen hatte.

Welchen sozialen Status die in der Namenliste verzeichneten Männer

und Frauen hatten, lässt sich aus der Quelle nicht ermitteln. Es erscheint ver- lockend, in ihnen Angehörige des Meliorats, der primores55, zu sehen, die sich mit der städtischen Geistlichkeit verbunden hatten. Zur Vorsicht mahnt allerdings die Feststellung, dass die in den Urkunden Sigewins als Zeugen genannten Laien, die nicht dem Adel zuzurechnen sind, seien es Ministerialen oder Bürger, soweit sie seltenere Namen tragen (lVichinan, Ratere56, Hupreht, Giselbreht57, Amelricus, Otto, Burchardus58 Adelricus, Marcniannus59 Volradt, MegenZo 60), nicht in der Namenliste auftauchen. Außer dem häufig belegten Rufnamen Ludolf kommen auch die in der ältesten erhaltenen Schöffenliste

von 1103 überlieferten Namen nicht vor. 61 Die unter St. Andreas genannte Be. Zela (II, Z. 51) könnte die als Mutter eines Heinrich 1083 belegte gloriosa matrona sein 62

Insgesamt liegt der Anteil der Frauennamen bemerkenswert hoch. Mit mindestens 180 Einträgen macht der Frauenanteil der Namenliste knapp die Hälfte des erhaltenen Gesamtbestandes aus. Dieser Befund bezeugt eine starke religiöse Mobilisierung von Frauen in der Stadtbevölkerung, die schon auf die im frühen 12. Jahrhundert erkennbare große Popularität der Siegburger Reformbewegung bei den Kölner Frauen verweist 63

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Stehkämper, Köln (wie Anm. 50), S. 111-114, Manfred Groten, In tanto tumultu rerum. Die Bürger von Brügge in Galberts Bericht über die Ermordung Graf Karls von Flandern 1127, in: Vielfalt der Geschichte. Lernen, Lehren und Erforschen vergangener Zeiten. Festschrift für Ingrid Heidrich zum 65. Geburtstag hrsg. von Sabine Happ und Ulrich Nonn, Berlin 2004, S. 126-140, S. 132-136. REK 1, Nr. 1138 (1080).

REK 1, Nr. 1143 (1080). REK 1, Nr. 1155 (1083). REK 1, Nr. 1161 (1084). REK 1, Nr. 1172 (1085). Regesten der Erzbischöfe von Köln im Mittelalter 2 (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 21) bearb. von Richard Knipping, Bonn 1901, Nr. 28. REK 1, Nr. 1155. Vgl. Manfred Groten, Reformbewegungen und Reformgesinnung im Erzbistum Köln, in: Reformidee

und Reformpolitik im spätsalisch-frühstaufischen Reich (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheini- sehen Kirchengeschichte 68), Mainz 1992, S. 97-118, Wier S. 107£ und allgemein den Beitrag von Franz J. Felten, Frauenklöster und -stifte im Rheinland im 12. Jahrhundert im selben Band S. 189- 300.

Brandkatastrophe und Solidarität, Marktsanierung und Gottes frieden 81

Für die weitere Argumentation ist es hier nicht erforderlich, sich auf die Deutung der Namenliste als Zeugnis für eine Gebetsverbrüderung festzule-

gen. Für die stadtgeschichtliche Auswertung des Dokuments genügt es, von einer Solidargemeinschaft von Klerus und Volk von Köln zu sprechen. Wir haben auf jeden Fall das vor uns, war Jan Dhondt als solidarite bezeichnet hat. Unter Solidaritäten versteht er mehr oder weniger beständige, mehr oder weniger fest gefügte Gruppierungen, die auf Dauer oder für kurze Zeit

gemeinsam handeln, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen 64 Eine solche De- finition hat den Vorteil, dass sie von den rechtlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen der Gemeinschaft absieht.

Entscheidend ist die Feststellung, dass es um 1080 zu einem Schulter-

schluss der Kölner Kirche und der Kölner Stadtbevölkerung auf breiter Grundlage gekommen ist. Eine solche Solidaritätsbekundung war in Köln dringend erforderlich, nachdem das herrische Vorgehen Erzbischof Annos

gegen die aufständischen Kölner deren Ehre tief verletzt hatte. 65 Das in der Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs neu erwachende kaufmännisch- bürgerliche Selbstwertgefihl passte nicht in Annos konservatives Weltbild, in dem Arbeit als Konsequenz des Sündenfalls

�schändete". 66 In dem für

ihn offenbar noch gültigen Konzept der funktionalen Dreiteilung der Ge-

sellschaft in Geistliche (Beter), Adlige (Kämpfer) und Arbeiter wurde nicht zwischen armseligen Arbeitssklaven in der Landwirtschaft und weltweit agie- renden Handelsherren unterschieden. 67 Das haben die Kölner Kaufleute Anno nicht verziehen. Ihnen war nach dem bald auf die Niederschlagung

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)an Dhondt, Les �solidarites" medievales. Une societe en transition: la Flandre en 1127-1128, in:

Annales 12 (1957), S. 529-560, dort S. 537: [solidarites =] groupements plus ou moins permanents, plus ou moins cobirents, ..., [une solidaritf] agil eolkrtinement, soil de manilre permanente, soil ä court terme en rue d'un objeafprrtis. Zum Verlauf des Aufstandes von 1074 vgl. REK 1, Nr. 1033. Die Literatur zu diesem Ereignis ist zu umfangreich, um sie hier zu zitieren. Die Bedeutung der Ehre hat Knut Gärich in zahlreichen Studi-

en herausgearbeitet, zuerst in Die Ehre Friedrich Barbarossas. Kommunikation, Konflikt und politi- sches Handeln im 12. Jahrhundert, Darmstadt 2001. Aus der Fülle der weiteren Publikationen sei nur verweisen auf Winfried Speitkamp, Ohrfeige, Duell und Ehrenmorde. Eine Geschichte der Ehre, Stuttgart 2010. Vgl. zu den verschiedenen Wertungen des Phänomens Arbeit Verena Postel, Arbeit und Willens- freiheit im Mittelalter, Stuttgart 2009. Otto Gerhard Oeale, Die funktionale Dreiteilung der Gesellschaft` bei Adalbero von Laon. Deutungs-

schema der sozialen Wirklichkeit im früheren Mittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien 12 (1978), S. 1- 54, ders., Deutungsschemata der sozialen Wiriichkeit im frühen und hohen Mittelalter. Ein Beitrag zur Geschichte des Wissens, in: Mentalitäten im Mittelalter. Methodische und inhaltliche Probleme (Vorträ-

ge und Forschungen 35) hrsg. von Frantisek Graus, Sig ? ri g 1987, S. 65-117, dens., Die funktionale Dreiteilung als Deutungsschema der sozialen \Vrllichkeit in der ständischen Gesellschaft des Mittelalters, in: Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität hrsg. von Winfried Schulze, München 1988, S. 19-51.

82 Manfred Groten

ihrer Empörung folgenden Tod des Erzbischofs kein Votum für die Heilig- keit des Kirchenfürsten zu entlocken. Die Mönche von Siegburg sahen sich veranlasst, in das Annolied ein Städtelob einzubauen (möglicherweise nach- träglich 6$), um die ablehnende Haltung der Kölner zu besänftigen 69 Unter dem von Heinrich IV. aus Trotz erzwungenen Regime Erzbischof Hildolfs

wird sich das Verhältnis der Kölner Bevölkerung zur Kölner Bischofskirche kaum gebessert haben 7° Vor diesem Hintergrund kommt den Ereignissen

von 1080 eine fundamentale Bedeutung zu. Letzten Endes dokumentiert die Kölner Namenliste die Aussöhnung zwischen Kölner Kirche und Kölner Bürgertum. Diese Aussöhnung war Voraussetzung für den Aufstieg Kölns

zur führenden Wirtschaftsmacht des Reiches. Die Namenliste ist ein Zeugnis für die Solidarität von Klerus und Bür-

gerschaft in Köln, dem an Intensität kein anderes gleichkommt. Allerdings hat Hugo Stehkämper die engen Beziehungen zwischen den Kölner Bürgern

und ihren Kirchen im 12. Jahrhundert minutiös dokumentiert. 71 Die von Mathias Kälble für Freiburg und Gerold Bönnen für Worms herausgearbei- tete Bedeutung solcher Beziehungen für die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft und Verfassung scheint allerdings für Köln auf längere Sicht

geringer zu veranschlagen sein 72

3. Die Marktsanierung

Das gute Verhältnis zwischen Erzbischof Sigewin und den Kölner Bürgern war die unabdingbare Voraussetzung für ein Großprojekt, dessen Spuren die Grabung auf dem Heumarkt zutage gefördert hat. 73 Es handelt sich um eine durchgreifende Sanierung der großen Fläche des Heumarkts (und wohl

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Vgl. meine Rezension zu Stephan Müller, Vorn Annolied zur Kaiserchronik, Heidelberg 1999, in: Geschichte in Köln 49 (2002), S. 267-269. Das Annolied hrsg. von Eberhard Neumann, Stuttgart 1975, S. 12 (ab Strophe 8)-16. Vgl. oben Anm. B. Hugo Stehkämper, Bürger und Kirchen in Köln im Hochmittelalter (Veröffentlichungen des Kölni-

sehen Geschichtsvereins 45), Köln 2007. Mathias Kälble, Bruderschaft und frühe Stadtgemeinde. Zu den fratres de Friburch im St. Galler Verbrüderungsbuch, in:... in frumento er vino opima. Festschrift für Thomas Zotz zu seinem 60. Geburtstag hrsg. von Heinz Krieg und Alfons Zeltler, Sigmaringen 2004, S. 111-126, Gerold Bönnen, Gemeindebildung und kommunale Organisation in Worms und Speyer (1074 bis ca. 1220), in: Rheinische Vierteljahrsblätter 74 (2010), S. 19-56, hier S. 30-34. Nico Aten, Gjergj Frasheri, Franz Kernpken, Marion Merse, Ausgrabungen auf dem Heumarkt in Köln. Zweiter Bericht zu den Untersuchungen von Mai 1997 bis April 1998, in: Kölner Jahrbuch 31 (1998), S. 514-520.

Brandkatastrophe und Solidarität, Marl. -tsanierung und Gottesfrieden 83

auch des Altermarkts) in Form einer Erhöhung des Bodenniveaus um etwa 70 cm durch die Aufbringung von Kies und Erde. Von Brücken überspann- te Entwässerungskanäle sorgten für einen trockenen Baugrund für Markt- buden, eine von Nordwest nach Südost führende Straße verbesserte die Verkehrsführung auf dem Markt. Durch die Niveauerhöhung wurde der Marktplatz in gewissem Umfang besser vor Rheinhochwasser geschützt.

Die Baumaßnahmen bedurften der Genehmigung des Erzbischofs, dem bei seiner Investitur das Marktrecht als Regalienrecht vom König verliehen wurde. 74 Es ist aber kaum vorstellbar, dass der Erzbischof der alleinige Initia-

tor der Marktsanierung war. Man darf vielmehr davon ausgehen, dass auch die Kölner Kaufleute ein vitales Interesse am guten Zustand des Marktge- ländes hatten. Sie mögen auch bereit gewesen sein, ihren Beitrag zur Beseiti-

gung von il iängeln zu leisten. Eine finanzielle Beteiligung der Bürger an dem Sanierungsprojekt musste dem Erzbischof vor allem willkommen sein, weil die Mittel seiner Kirche schon in eine andere Großbaustelle flossen, nämlich den Wiederaufbau von 11lariengraden 75

Die Aufhöhung der Marktfläche erforderte eine enorme technische und logistische Leistung. Gewaltige Mengen Kies und Erde mussten außerhalb der Stadt, vermutlich auf Gütern der Kölner Kirche, gefördert und auf die Marktfläche aufgebracht werden. Befestigung und Entwässerung der riesi- gen Fläche stellen keine geringe Ingenieurleistung dar. Die Arbeiten mussten möglichst ohne große Beeinträchtigungen der drei jährlichen Messen zu Ostern, Petri Kettenfeier (1. August) und um St. Severin (Ende Oktober)

organisiert werden. 76 Das war nur im Einvernehmen zwischen dem Markt- herrn und den Kaufleuten möglich. Die Marktsanierung lässt sich mit der Methode der Dendrochronologie genau bestimmen. Untersuchte Bauhölzer, die bei der Grabung geborgen wurden, erlauben eine Datierung auf das Jahr 1082.77 Damit wurde das Großprojekt bald nach dem Schulterschluss von Kirche und Bürgerschaft im Jahre 1080 in Angriff genommen.

Das Gelingen des Sanierungsprojekts lässt auf eine effektive Organisati-

on der Kölner Kaufleute untereinander schließen. Ob diese Organisation

sich spontan im Zuge der Arbeiten entwickelte oder ob sie schon in Gestalt

einer Gilde vor 1082 bestand, lässt sich nicht klären. Die Kölner Kauf-

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Zwei Jahrtausende Kölner Mirtschaft 1 hrsg. von Hermann Kellenbenz, Köln 1975, S. 93,113 (Edith Ennen). Hirschmann, Stadtplanung (wie Anm. 2), S. 15-65 zu Köln. Zweijahrtausende (wie Anm. 74), S. 113E (Edith Ennen). Aren u. a. (wie Anm. 73), S. 515.

84 Manfred Groten

mannsgilde ist erst im zweiten Viertel des 12. Jahrhunderts sicher bezeugt78, aber ihre Anfänge reichen zweifellos weiter zurück. Die Marktsanierung von 1082 könnte ihre erste große Bewährungsprobe gewesen sein.

Hohe Aufwendungen für die Verbesserung der Infrastruktur konnten

nur Sinn haben, wenn die Auslastung des Marktes gut war und mit einer weiteren Steigerung des Warenumschlags gerechnet wurde. So kann man die Maßnahmen von 1082 wohl als ein Indiz für das Aufblühen des Kölner Zwischenhandels werten. In der Zeit Erzbischof Sigewins wurden die Fun- damente für die Kölner Wirtschaftsmacht des Hochmittelalters gelegt.

4. Der Gottesfriede

Zur Vervollständigung des hier gezeichneten Bildes muss noch der Kölner Gottesfrieden von 1083 einbezogen werden. 79 Vorbild für diesen Frieden war derjenige, den Bischof Heinrich I. von Lüttich mit den bedeutendsten Adligen seines Bistums ausgehandelt und am 27. März 1082 (Sonntag Oculi) verkündet hatte. 80 In den schwärzesten Farben malt der Geschichtsschreiber Ägidius von Orval gestützt auf ältere Quellen vor 1251 die Zustände, die den Bischof dazu veranlassten, das in Frankreich entwickelte Instrument des Gottesfriedens zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung in seiner Diözese einzusetzen 81 Der Friede verbot das Tragen von Waffen und

78 Zwei Jahrtausende (wie Anm. 74), S. 128f. (Edith Einen). Franz-Reiner Erkens, Sozialstruktur und Verfassungsentwicklung in der Stadt Köln während des 11. und frühen 12. Jahrhunderts, in: Die Frühgeschichte der europäischen Stadt im 11. Jahrhundert (Städteforschung A43) hrsg. von Jörg Jamut und Peter Johanek, Köln-Weimar-Wien 1998, S. 169-192, hier S. 182f., geht vom Bestehen der Gilde schon zum Jahre 1074 aus, allerdings ohne schlagende Argumente. Die einzige Quelle für die Kölner Gilde ist die Gildeliste des 12. Jahrhunderts, ediert bei Kölner Schreinsurkunden des zwölf- ten Jahrhunderts, 2 Bde. (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 1) bearb.

von Robert Hoeniger, Bonn 1884-1894, Bd. 2,2, S. 46-57. Hans-Werner Goetz, Der Kölner Gottesfriede von 1083, Beobachtungen über Anfänge, Tradition und Eigenart der deutschen Gottesfriedensbewegung, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 55 (1984), S. 39-76. Die jüngste Arbeit zum Thema Paul Christian Schwellenbach, Untersuchungen zum Kölner Gottesftieden von 1083. Ursprung, Inhalt und Wirkungsgeschichte, Saarbrücken 2009, geht auf die hier behandelten Zusammenhänge nicht explizit ein. Das liegt daran, dass er wichtige Literatur über-

sehen hat. Er stellt den Gottesfrieden in den Zusammenhang des Verfalls der lothringischen Herzogs-

gewalt. Meyer von Knonau 3 (wie Anm. 15), S. 467-469.

Druck MG Const 1 S. 603 Anm. 1 nach MG SS 25, S. 90. Zum Gottesfrieden allgemein vgl. Werner Goetz, Kirchenschutz, Rechtswahrung und Reform. Zu den Zielen und zum Wesen der frühen Got- tesfriedensbewegung in Frankreich, in: Francia 11 (1983), S. 193-239, The Peace of God. Social Vio- lence and Religious Response in France around the Year 1000 hrsg. von Thomas Head und Richard Landes, Ithaca-London 1992, Thomas Head, The Development of the Peace of God in Aquitaine

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Brandkatastrophe und Solidarität, Marktsanierung und Gottesfrieden 85

Kampfhandlungen an bestimmten \Vochentagen und Heiligenfesten sowie im Advent, in der Weihnachts-, Fasten-, Oster- und Pfingstzeit. Gegen Friedens- brecher sollten die Adligen, die den Gottesf ieden beschworen hatten, mit Waffengewalt vorgehen. Brach ein Freier den Frieden, verlor er sein Erbe und wurde aus der Lütticher Diözese verbannt.

Heinrich von Lüttich hatte nicht die Absicht, die Autorität Heinrichs N. in Frage zu stellen, der wie seine Vorgänger den Anspruch erhob, der obers- te Hüter des Friedens in seinem Reich zu sein. Dass der Bischof treu zum König stand, geht aus der Tatsache hervor, dass Heinrich IV. im Jahre 1080 das Osterfest (12. April) in Lüttich feiern konnte, nachdem Papst Gregor VII.

am 7. März zum zweiten Mal den Bann über ihn verhängt hatte. 82 Im Früh- jahr 1081 war Heinrich IV. nach Italien gezogen, erst 1084 kehrte er ins Reich zurück. Der Bischof handelte im Einvernehmen mit dem jenseits der Alpen weilenden Herrscher, der seine Maßnahme ausdrücklich bestätigte. 83 Im gleichen Sinne wurde auch Erzbischof Sigewin aktiv, indem er für seine Diözese auf einer Synode am 20. April 1083 einen Gottesfrieden nach Lütti-

cher Muster errichtete. 84 Was war die Ursache der von Agidius von Orval geschilderten Tollwut,

die das Land mit dem Blut ihrer Opfer überschwemmte? Im August 1081 hatten die Anhänger des Papstes Hermann von Salm, den Bruder Graf Konrads von Luxemburg, zum Gegenkönig gewählt 85 Hermann hatte zwar verwandtschaftliche Beziehungen zum kölnisch-niederländischen Raum, das Zentrum seiner Macht lag aber in Sachsen. Sein Bruder Konrad gehörte zu den Garanten des Lütticher Gottesfriedens

. 86 Eine krisenhafte Situation

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as

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(970-1005), in: Speculum 74 (1999), S. 656-686, Rolf Große, Der Friede in Frankreich bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts, in: Von Sacerdotium und Regnum. Geistliche und weltliche Gewalt im frühen

und hohen Mittelalter, Festschrift für Egon Boshof zum 65. Geburtstag hrsg. von Franz-Reiner Erkens und Hartmut Wolff, Köln-Weimar-Wien 2002, S. 77-110, Hans-Werner Goetz, Die Gottes- friedensbewegung im licht neuer Forschungen, in: Lndfrieden. Anspruch und Wirklichkeit (Rechts- und staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft N. F. 98) hrsg. von Arno Buschmann und Elmar Wadle, Paderborn 2002, S. 31-54. Vgl. allgemein Hartmut Hoffmann, Gottesfrieden und Treuga Dei (Schriften der MGH 20), Stuttgart 1964, Elmar Wadle, Die peinliche Strafe als Instrument des Friedens, in: Träger und Instrumentarien des Friedens im hohen und spä- ten Mittelalter (Vorträge und Forschungen 43) hrsg. von Johannes Fried, Sigmaringen 1996, S. 229- 247, ilirltai-D. Grigore, Ehre und Gesellschaft. Ehrkonstrukte und soziale Ordnungsvorstellungen

am Beispiel des Gottesfriedens (10: 11. Jahrhundert) (Symbolische Kommunikation in der Vormo- derne), Darmstadt 2009. Meyer von Knonau 3 (wie Arun. 15), S. 275f. Meyer von Knonau 3 (wie Anm. 15), S. 469. REK 1, Nr. 1152 (Druck MG Const 1, S. 603-605). Meyer von Knonau 3 (wie Anm. 15), S. 417f. Meyer von Knonau 3 (wie Anm. 15), S. 469.

86 Manfred Groten

entstand vor allem durch das Übergreifen eines von Westen vordringenden Strukturwandels adliger Herrschaft, der von Südfrankreich seinen Ausgang

genommen hatte, in die Niederlande und das Rheinland. Durch den Bau von Burgen unterwarfen sich machtgierige chätelairu die im Schatten ihrer Festun-

gen gelegenen Landstriche und untergruben damit die Machtpositionen von Grafen und Herzögen. 87 Die rheinischen Burgherren, die sich wie ihre franzö-

sischen Standesgenossen stolz nach ihren Burgen nannten, z. B. Gerhard de

Hostade, Wichmann de Henrnrercbach, verweigerten den Besuch der gräflichen Gerichte, weil sie Gleichrangigkeit mit den Grafen beanspruchten. 88 Diese

Sezessionsbewegung bedrohte den Bestand der Grafschaften. Sie war von Fehden begleitet, die Bauern und Kaufleute gleichermaßen in Mitleiden-

schaft zogen. In einer Zeit, in der die Herrschaft König Heinrichs IV. auf schwachen Füßen stand, war der gesellschaftliche Wandel aber nicht aufzu- halten. Der Kölner Erzbischof Sigewin erkannte die Ansprüche der neuen Burgherren an und ließ ihre Beinamen in die Zeugenlisten seiner Urkunden

aufnehmen 89 Mit der Errichtung des Gottesfriedens versuchte Sigewin die Gewalt einzudämmen. Dass die Gottesfrieden erfolgreich waren, lässt sich daran ablesen, dass der Lütticher 1155 von Friedrich Barbarossa bestätigt

wurde90 und auch der Kölner um diese Zeit noch wirksam war. 91 Für die Bewohner Kölns waren die Gottesfrieden in zweierlei Hinsicht

von existenzieller Bedeutung. Einerseits sorgte der Kölner Gottesfrieden für Ruhe im Umland der Stadt, aus dem sie Lebensmittel und Rohstoffe bezog. Für die Kölner Kaufleute war der Schutz der Rheinschifffahrt und der Landwege

nach Westen und Osten unabdingbare Voraussetzung für ertragreiche Han- delsgeschäfte. Die Kölner Messen konnten nur florieren, wenn die Sicherheit ihrer Besucher gewährleistet war. So schuf der Gottesfrieden von 1083 die Rahmenbedingungen für den Erfolg der Marktsanierung vom Vorjahr. Nach seiner Kaiserkrönung am 31. März 1084 kehrte Heinrich IV. nach Deutsch- land zurück. 92 Dass er das erste \Veihnachtsfest nach seiner Rückkehr in sein

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Thomas N. Bisson, The Crisis of the Twelfth Century. Power, Lordship, and the Origins of European Government, Princton/Oxford 2009 betont die Gewalttätigkeit dieses Prozesses der Herrschaftsbil- dung. Manfred Groten, Die Stunde der Burgherren. Zum Wandel adliger Lebensformen in den nördlichen Rheinlanden in der späten Sauerzeit, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 66 (2002), S. 74 -110. Groten, Burgherren (wie Anm. 88), S. 79 D FI Nr. 123 (7. September 1155): Renovamus etiam et confirmamus et imperiali auttoritate tenedam censemus et servandam pacem Henrici episcopi in Leodiensi epi rropatu. Urkundenbuch der Abtei Steinfeld bearb. von Ingrid Joester (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 60), Bonn 1976, S. 603E Nr. 1. Meyer von Knonau 3 (wie Anm. 15), S. 571.

Brandkatastrophe und Solidarität, Marktsanierung und Gottesfrieden 87

Reich in Köln feierte93, ist als Zeichen seines ungebrochen guten Verhält-

nisses zu Erzbischof Sigewin zu werten. Mit der Weihe des Neubaus von Mariengraden im folgenden Jahr94 schließt sich der Kreis der hier betrachte-

ten Ereignisse.

93 Meyer von Knonau 3 (uie Anm. 15), S. 605, REK 1163. 94 Vgl. Anm. 3.