OXI · ‚Traum-Seite‘ der OXI zu schreiben, dachte ich an eine Utopie. Ich überlegte, zu...

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Bosse regieren Siegt jetzt die Politik? Woher wissen wir, dass wir von Murx, also vor allem dinglichem Schrott ,umzingelt sind? Weil es Handbücher gibt. Also frühneudeutsch „Manuals“. Manuals an sich sind ein Offenbarungseid auf die Qualität unserer Produkte. Sie erklären sich nicht. Also sollen wir sie studieren. Das be- deutet strenggenommen den permanenten Super-GAU der Warenwelt. Den aber keiner bemerkt. Die Form der Manuals ist ein Skandal obendrauf. Kaufte man vor ge- fühlt zehn Jahren neue Technik, gab es ein Handbuch dazu. Einsprachig, mitteldick, unverständlich, logisch aufgebaut, somit komplett nutzer- feindlich. Dann kam die Ära der mehrsprachigen Manuals. Ich besitze ei- nen drei Jahre restjungen Flachfernseher, dem lag ein 4-sprachiges Handbuch mit gut 500 Seiten bei. Hat da einer ausgerechnet, dass es bil- liger ist, jedem Gerät 500 statt 125 Seiten beizulegen? Reden wir nicht mal über Ökologie. Psychohygienisch reagiere ich auf solche Manuals nur mit Wegwerfreflexen. Mein Lesewiderstand ist eh zu hoch, also kann ich mich auch gleich darauf einstellen, dass ich meine Heimtechnik nur mar- ginal verstehen werde. Parallel zum bibelförmigen Handbuch kam auch die CD auf. Immerhin kann man auf einem digitalen Medium schneller finden, was man am Ende doch nicht versteht. Das spart immerhin Zeit. Aber Digitalisierung bedeutet auch Entkörperlichung. Daher wanderte in den Folgejahren das Manual ins Web. Oder auch nicht. Man weiß es manchmal nicht. Ich habe beispielsweise eine Software erworben, für deren Manual es einen PDF-Download gab. Ergänzend (oder konkurrierend?) die ir- gendwie ins Programm eingebaute Hilfefunktion. Sodann die Online- Hilfe. Das alles ist irgendwie vernetzt, was die Hilfestellung nicht verein- facht. Denn jede Hilfeliste ist anders aufgebaut. Zuschlimmerletzt sei die Verlinkung mit sogenannten Erklärvideos genannt. Seit es Communitys gibt und jeder Hansel sich bemüßigt fühlt, vor einer Kamera Technik zu erklären, nachdem er sie zunächst stunden- lang ausgepackt hat („Unboxing“ nennt sich das), schrumpft der Anteil hilfreicher Videos in den Promillebereich. Aber immerhin verdienen da- mit Menschen wieder Geld. Was die Wirtschaft befeuert, die Gerätehersteller entlastet. So fügt es sich. Aus dem Skandal unverständ- licher Technik ist ein weiteres Geschäft entstanden. (JoWü) MURX. UND WIE ER ZUM HANDBUCH WIRD. O X I DAS BLOG ZUM BLATT: OXIBLOG.DE WIRTSCHAFT FÜR GESELLSCHAFT MÄRZ 2017 DIE MONATSZEITUNG 3,50 € THEMEN DIESER AUSGABE VON HANS-JÜRGEN ARLT „Ich werde der größte Arbeitsplatz- beschaffer in der Geschichte Amerikas sein.“ US-Präsident Trump droht, es nicht nur der Presse, sondern auch der Wirtschaft zu zeigen. Übernimmt das Weiße Haus die Regie über das Kapital und treibt ihm den Freihandel aus? Unternehmen schaffen dort Jobs, wo sie am meisten verdienen. Regierungen jedoch brauchen Arbeitsplätze im eige- nen Land. Nationale Grenzen für Waren und Kapital sind aus Sicht der „freien Wirtschaft“ Hindernisse, die weg müssen; Wirtschaftskräfte wollen weltweiten Freihandel. Dagegen wollen Staaten — bei Bedarf nationale Grenzen in Schutzzäune verwandeln, mit Strafzöllen gegen ausländische Waren, Investitions- verboten für internationales Kapital, Mauern gegen fremde Arbeitskräfte. Jeder Staat, ob Diktatur oder Demo- kratie, ob China, Deutschland oder die USA, setzt pragmatisch die Instrumente ein, die den Unternehmen und damit den Arbeitsplätzen auf ‚seinem Boden’ nüt- zen; mal mehr Freihandel, mal mehr Protektionismus, mal mehr oder weniger Freizügigkeit. So ist Deutschland heute nur deshalb in den Freihandel vernarrt, weil der sein Exportmodell am besten stützt: Es ist nationaler Egoismus im ele- ganten Kleid wirtschaftlicher Vernunft. Dagegen wirkt der Kerl im Weißen Haus mit seinen „two simple rules: buy Ameri- can and hire American“, wie ein hemds- ärmeliger, aggressiver Heimatschützer. Keines von beiden, weder Freihandel noch Protektionismus – weder EU und NAFTA noch Importquoten und Subven- tionen –, ist ohne Politik zu bekommen. Der Nationalstaat hat die Macht; auch die Macht, Macht abzugeben. Die Regierung hat das letzte Wort, und trotzdem er- scheint es oft so, als lese sie der Wirt- schaft die Wünsche von den Lippen ab. Manchmal aber, wie im Fall Trump, wirkt es so, als dirigiere die gewählte Politik die Wirtschaft. Geht doch, jubelt dazu Oskar Lafontaine. Momentan wird in den USA neu aus- gefochten, wie Politik und Unternehmen miteinander umgehen. Das Weiße Haus richtet sich gegen die internationale Wirtschaft, um nationalen Investitionen, nationalen Waren, nationalen Arbeits- kräften Vorteile zu verschaffen. Geht doch, jubeln die Nationalisten in Europa. Ein verwirrend gemischter Jubelchor. Zeigen ausgerechnet Konservative wie die britische Premierministerin Theresa May, Rechtspopulisten und Rassisten wie die „ökonomische Patrio- tin“ Le Pen den demokratischen Staaten, was Politik alles bewegen kann? Auf je- den Fall sehen die Mitte-links-Regie- rungen von Bill Clinton, Tony Blair und Gerhard Schröder der 2000er-Jahre bla- miert aus: Sie haben die Politik klein ge- macht. Zwar großartige Ansprüche for- muliert, aber artig Wünsche der Wirtschafts- und Finanzlobby exeku- tiert. Sie leugneten (nicht rhetorisch, aber praktisch), dass Regierungen — erst recht gemeinsam, international abge- stimmt — das Soziale, Ökologische und Kulturelle gegen die Wirtschaft nicht nur verteidigen, sondern sogar ausweiten können, statt dem Ökonomischen immer mehr Raum zu geben. Heute gewinnt Martin Schulz Sympathien, indem er so tut, als sei er nicht dabei gewesen. Die Agenda 2010 hat kein SPD-Kanzlerkan- didat propagiert, aber ein SPD-Kanzler durchgesetzt. Trifft der eben angestellte Vergleich zwischen rechtsnationalen und Mitte- links-Regierungen so einfach zu? Demonstrieren die einen, was Politik al- les kann, während die anderen kuschen? Am Kabinettstisch in Washington sitzen Milliardäre und Millionäre, Immobilien- händler und Generäle, Bosse der Öl- und Finanzindustrie. „Unsere erste Priorität sind Steuererleichterungen für Unter- nehmen und Privatpersonen“, sagt der Finanzminister. Trumps Wirtschafts- politik konzentriert sich auf die Instru- mente Steuern senken, Finanzmarkt de- regulieren, in Infrastruktur investieren und Protektionismus praktizieren. Es ist Politik für eine nationale Wirtschaft, für Kapitalismus in einem (sehr großen) Land. National gesonnene Unternehmer in politischen Ämtern fördern nationale Unternehmen unter dem Motto „Make America great again“. Und versuchen alle abzustrafen, die dabei nicht mitmachen wollen oder können. Hier wird keine eigenständige demo- kratische Politik gemacht für bessere Gesundheit und mehr Bildung, größere soziale Sicherheit, mehr Gerechtigkeit und Umweltschutz. Hier dient alles der nationalen Ökonomie. Das große Beispiel für eine selbstbewusste demokratische Politik, die der Wirtschaft gesellschaft- liche Verantwortung beibringt, wird in den USA nicht vorgeführt. Trump taugt nicht als Vorbild, auch nicht für einen Primat der Politik. Dass die demokra- tische Politik mehr kann und mehr darf, als sie sich bis jetzt traut, dieser Beweis steh noch aus. Siehe auch „Freihandel, Protektionismus, Globalisierung“ auf Seite 17. Nationalismus global: Machtspiele zwischen Unternehmen und Regierungen Freihandel, Schutzzölle? Eine Frage des nationalen Interesses FOTO: PIT WUHRER FOTO: MALCHEREK TITEL: FRAUEN . WIE SIE WIRTSCHAFT DENKEN . UND MACHEN Seit die Wirtschaft eine Wissenschaft sein will, erklären Männer die Welt. Obwohl Theorien und Vorschläge feministischer Ökonominnen Auswege aus dem Dilemma Kapitalismus zeigen: Es muss nicht auf Kosten anderer und des Planeten gewirt- schaftet werden. Aber noch gilt: Weiberwirtschaft ist ganz nett, Wirtschaftsweiber sind nicht gut gelitten. FOTO: JUNOPHOTO ANZEIGE Karl Marx Das Kapital 1.5 Die Wertform Hrsg. von Rolf Hecker und Ingo Stützle 224 Seiten, Broschur, 9,90 Euro, ISBN 978-3-320-02334-8 Anlässlich 150 Jahre »Das Kapital« wird der Anfang der Erstauflage erstmals allgemein zugänglich gemacht – und seine Geschichte erzählt. Einblicke in Marx’ Laboratorium dietz berlin dietzberlin.de KÄSE, KULTUR UND ANDERS WIRTSCHAFTEN S. 14-16 Warum gibt es in der Reggio Emilia so viele Industrie- Genossenschaften? Pit Wuhrer beschreibt Niederlagen und Erfolge italienischer Kooperativen. Und gibt eine Antwort auf die Frage, warum Industriegenossenschaften in Deutschland fast keine Chance haben. FÜR JUNGE UND KREATIVE — ROSIGE AUSSICHTEN? S. 10-11 Kreative in der Wirtschaft — das ist Dynamik. Junge in der Wirtschaft — denen stehen alle Wege offen. Wahrheiten oder Klischees? Tina Groll und Peter Grafe analysieren.

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Page 1: OXI · ‚Traum-Seite‘ der OXI zu schreiben, dachte ich an eine Utopie. Ich überlegte, zu beschreiben, wie schön das Leben sein könnte. Solche Träume haben den Vorteil, dass

Bosse regierenSiegt jetzt die Politik?Woher wissen wir, dass wir von Murx, also vor allem dinglichem Schrott

,umzingelt sind? Weil es Handbücher gibt. Also frühneudeutsch „Manuals“. Manuals an sich sind ein Offenbarungseid auf die Qualität unserer Produkte. Sie erklären sich nicht. Also sollen wir sie studieren. Das be-deutet strenggenommen den permanenten Super-GAU der Warenwelt. Den aber keiner bemerkt.

Die Form der Manuals ist ein Skandal obendrauf. Kaufte man vor ge-fühlt zehn Jahren neue Technik, gab es ein Handbuch dazu. Einsprachig, mitteldick, unverständlich, logisch aufgebaut, somit komplett nutzer-feindlich. Dann kam die Ära der mehrsprachigen Manuals. Ich besitze ei-nen drei Jahre restjungen Flachfernseher, dem lag ein 4-sprachiges Handbuch mit gut 500 Seiten bei. Hat da einer ausgerechnet, dass es bil-liger ist, jedem Gerät 500 statt 125 Seiten beizulegen? Reden wir nicht mal über Ökologie. Psychohygienisch reagiere ich auf solche Manuals nur mit Wegwerfreflexen. Mein Lesewiderstand ist eh zu hoch, also kann ich mich auch gleich darauf einstellen, dass ich meine Heimtechnik nur mar-ginal verstehen werde.

Parallel zum bibelförmigen Handbuch kam auch die CD auf. Immerhin kann man auf einem digitalen Medium schneller finden, was man am Ende doch nicht versteht. Das spart immerhin Zeit. Aber Digitalisierung bedeutet auch Entkörperlichung. Daher wanderte in den Folgejahren das Manual ins Web. Oder auch nicht. Man weiß es manchmal nicht. Ich habe beispielsweise eine Software erworben, für deren Manual es einen PDF-Download gab. Ergänzend (oder konkurrierend?) die ir-gendwie ins Programm eingebaute Hilfefunktion. Sodann die Online-Hilfe. Das alles ist irgendwie vernetzt, was die Hilfestellung nicht verein-facht. Denn jede Hilfeliste ist anders aufgebaut.

Zuschlimmerletzt sei die Verlinkung mit sogenannten Erklärvideos genannt. Seit es Communitys gibt und jeder Hansel sich bemüßigt fühlt, vor einer Kamera Technik zu erklären, nachdem er sie zunächst stunden-lang ausgepackt hat („Unboxing“ nennt sich das), schrumpft der Anteil hilfreicher Videos in den Promillebereich. Aber immerhin verdienen da-mit Menschen wieder Geld. Was die Wirtschaft befeuert, die Gerätehersteller entlastet. So fügt es sich. Aus dem Skandal unverständ-licher Technik ist ein weiteres Geschäft entstanden. (JoWü)

MURX.UND WIE ER ZUM HANDBUCH WIRD.

OXI DAS BLOG ZUM BLATT: OXIBLOG.DE

WIRTSCHAFT FÜR GESELLSCHAFT MÄRZ 2017DIE MONATSZEITUNG 3,50 €

THEMEN DIESER AUSGABE

VON HANS-JÜRGEN ARLT

„Ich werde der größte Arbeitsplatz-beschaffer in der Geschichte Amerikas sein.“ US-Präsident Trump droht, es nicht nur der Presse, sondern auch der Wirtschaft zu zeigen. Übernimmt das Weiße Haus die Regie über das Kapital und treibt ihm den Freihandel aus?

Unternehmen schaffen dort Jobs, wo sie am meisten verdienen. Regierungen jedoch brauchen Arbeitsplätze im eige-nen Land. Nationale Grenzen für Waren

und Kapital sind aus Sicht der „freien Wirtschaft“ Hindernisse, die weg müssen; Wirtschaftskräfte wollen weltweiten Freihandel. Dagegen wollen Staaten — bei Bedarf — nationale Grenzen in Schutzzäune verwandeln, mit Strafzöllen gegen ausländische Waren, Investitions-verboten für internationales Kapital, Mau ern gegen fremde Arbeitskräfte.

Jeder Staat, ob Diktatur oder Demo-kra tie, ob China, Deutschland oder die USA, setzt pragmatisch die Instrumente ein, die den Unternehmen und damit den Arbeitsplätzen auf ‚seinem Boden’ nüt-zen; mal mehr Freihandel, mal mehr Protektionismus, mal mehr oder weniger Freizügigkeit. So ist Deutschland heute nur deshalb in den Freihandel vernarrt, weil der sein Exportmodell am besten stützt: Es ist nationaler Egoismus im ele-ganten Kleid wirtschaftlicher Vernunft.

Dagegen wirkt der Kerl im Weißen Haus mit seinen „two simple rules: buy Ameri-can and hire American“, wie ein hemds-ärmeliger, aggressiver Heimat schützer.

Keines von beiden, weder Freihandel noch Protektionismus – weder EU und NAFTA noch Importquoten und Subven-tio nen –, ist ohne Politik zu bekommen. Der Nationalstaat hat die Macht; auch die Macht, Macht abzugeben. Die Regierung hat das letzte Wort, und trotzdem er-scheint es oft so, als lese sie der Wirt-schaft die Wünsche von den Lippen ab. Manchmal aber, wie im Fall Trump, wirkt es so, als dirigiere die gewählte Politik die Wirtschaft. Geht doch, jubelt dazu Oskar Lafontaine.

Momentan wird in den USA neu aus-gefochten, wie Politik und Unternehmen miteinander umgehen. Das Weiße Haus richtet sich gegen die internationale Wirtschaft, um nationalen Investitionen, nationalen Waren, nationalen Arbeits-kräf ten Vorteile zu verschaffen. Geht doch, jubeln die Nationalisten in Europa. Ein verwirrend gemischter Jubelchor.

Zeigen ausgerechnet Konservative wie die britische Premierministerin Theresa May, Rechtspopulisten und Rassisten wie die „ökonomische Patrio-tin“ Le Pen den demokratischen Staaten, was Politik alles bewegen kann? Auf je-den Fall sehen die Mitte-links-Regie-rungen von Bill Clinton, Tony Blair und Gerhard Schröder der 2000er-Jahre bla-miert aus: Sie haben die Politik klein ge-macht. Zwar großartige Ansprü che for-muliert, aber artig Wünsche der Wirtschafts- und Finanzlobby exeku-tiert. Sie leugneten (nicht rhetorisch, aber praktisch), dass Regierungen — erst recht gemeinsam, international abge-stimmt — das Soziale, Ökologische und Kulturelle gegen die Wirtschaft nicht nur verteidigen, sondern sogar ausweiten können, statt dem Ökonomischen immer mehr Raum zu geben. Heute gewinnt Martin Schulz Sympathien, indem er so tut, als sei er nicht dabei gewesen. Die Agenda 2010 hat kein SPD-Kanzlerkan-

didat propagiert, aber ein SPD-Kanzler durchgesetzt.

Trifft der eben angestellte Vergleich zwischen rechtsnationalen und Mitte-links-Regierungen so einfach zu? Demon strieren die einen, was Politik al-les kann, während die anderen kuschen? Am Kabinettstisch in Washington sitzen Milliar dä re und Millionäre, Immobilien-händ ler und Generäle, Bosse der Öl- und Finanz industrie. „Unsere erste Priorität sind Steuererleichterungen für Unter-neh men und Privatpersonen“, sagt der Finanzmi nister. Trumps Wirtschafts-politik konzentriert sich auf die Instru-mente Steu ern senken, Finanzmarkt de-regulieren, in Infrastruktur investieren und Protek tio nismus praktizieren. Es ist Politik für eine nationale Wirtschaft, für Kapita lis mus in einem (sehr großen) Land. National gesonnene Unternehmer in politischen Ämtern fördern nationale Unternehmen unter dem Motto „Make America great again“. Und versuchen alle abzustrafen, die dabei nicht mitmachen wollen oder können.

Hier wird keine eigenständige demo-kratische Politik gemacht für bessere Gesundheit und mehr Bildung, größere soziale Sicherheit, mehr Gerechtigkeit und Umweltschutz. Hier dient alles der nationalen Ökonomie. Das große Beispiel für eine selbstbewusste demokratische Politik, die der Wirtschaft gesellschaft-liche Verantwortung beibringt, wird in den USA nicht vorgeführt. Trump taugt nicht als Vorbild, auch nicht für einen Primat der Politik. Dass die demokra-tische Politik mehr kann und mehr darf, als sie sich bis jetzt traut, dieser Beweis steh noch aus.

Siehe auch „Freihandel, Protektionismus, Globalisierung“ auf Seite 17.

Nationalismus global: Machtspiele zwischen Unternehmen und Regierungen

Freihandel, Schutzzölle? Eine Frage des nationalen Interesses

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TITEL: FRAUEN. WIE SIE WIRTSCHAFT DENKEN. UND MACHEN

Seit die Wirtschaft eine Wissenschaft sein will, erklären Männer die Welt. Obwohl Theorien und Vorschläge feministischer Ökonominnen Auswege aus dem Dilemma Kapitalismus zeigen: Es muss nicht auf Kosten anderer und des Planeten gewirt-schaftet werden. Aber noch gilt: Weiberwirtschaft ist ganz nett, Wirtschaftsweiber sind nicht gut gelitten. FOTO: JUNOPHOTO

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Karl MarxDas Kapital 1.5 Die WertformHrsg. von Rolf Hecker und Ingo Stützle 224 Seiten, Broschur, 9,90 Euro, ISBN 978-3-320-02334-8

Anlässlich 150 Jahre »Das Kapital« wird der Anfang der Erstauflage erstmals allgemein zugänglich gemacht – und seine Geschichte erzählt.

Einblicke in Marx’ Laboratorium

dietz berlindietzberlin.de

KÄSE, KULTUR UND ANDERS WIRTSCHAFTENS. 14-16Warum gibt es in der Reggio Emilia so viele Industrie-Genossenschaften? Pit Wuhrer beschreibt Niederlagen und Erfolge italienischer Kooperativen. Und gibt eine Antwort auf die Frage, warum Industriegenossenschaften in Deutschland fast keine Chance haben.

FÜR JUNGE UND KREATIVE — ROSIGE AUSSICHTEN?S. 10-11Kreative in der Wirtschaft — das ist Dynamik. Junge in der Wirtschaft — denen stehen alle Wege offen. Wahrheiten oder Klischees? Tina Groll und Peter Grafe analysieren.

Page 2: OXI · ‚Traum-Seite‘ der OXI zu schreiben, dachte ich an eine Utopie. Ich überlegte, zu beschreiben, wie schön das Leben sein könnte. Solche Träume haben den Vorteil, dass

Es ist fünfzehn Jahre her, dass ich eines Nachts voller Panik aus dem Schlaf hoch-schreckte, obwohl ich nicht geträumt hatte. Die Angst war einfach so da. Existenzangst nennt man das wohl. Das Stipendium für meine Doktorarbeit wür-de auslaufen. Dabei war noch nicht abzu-

sehen, ob ich sie abgeben könnte. Mit klopfendem Herzen im Bett sitzend, war ich überzeugt, nie wie-der für irgendetwas Geld zu bekommen. Niemals bekäme ich einen Job, nie ein Gehalt. Irgendwann fiel ich erschöpft in die Federn zurück. Und träumte.

Als ich gebeten wurde, einen Text für die ‚Traum-Seite‘ der OXI zu schreiben, dachte ich an eine Utopie. Ich überlegte, zu beschreiben, wie schön das Leben sein könnte. Solche Träume haben den Vorteil, dass sie ausgedacht sind und damit er-zählbar, nachvollziehbar. Wie aber soll ich diese re-ale Traumsequenz jener Nacht vor fünfzehn Jahren wiedergeben, die in sich nicht einmal schlüssig auf-gebaut war, geschweige denn, dass sie eine richtige Handlung gehabt hätte?

Ich sitze auf einer riesigen und zugleich frei-schwebenden Treppe, die Richtung Himmel führt. Die Treppe des Lebens? So philosophisch dachte ich allerdings nicht, denn die Panik aus meinem Wachzustand setzte sich fort: Die Treppe hatte Lücken, durch die ich ins Leere zu fallen drohte. Mit der Zeit aber wurde mir bewusst, dass ich dort nicht alleine saß. Und – Achtung, jetzt wird es unlogisch! – die Menschen um mich herum, bzw. wir alle, gleichzeitig eine Art Hängematte bildeten, so dass die Lücken gar keine Löcher darstellten. Im Grunde saßen wir alle in einem Netz, das wir selbst bil-deten. Ich wachte auf und fühlte mich geborgen.

Dieses Gefühl hält bis heute an. Kurze Zeit spä-ter begann ich, eingebunden in solidarische Ökonomiestrukturen zu leben. Aber nie mit dem Wunsch, mich abzukapseln. Stattdessen in dem Bestreben deutlich zu machen, dass wir alle genug zum Leben hätten, wenn wir nur mit- und nicht ge-geneinander tätig wären.

Träume. Eigentlich habe ich nie ein gutes Verhältnis zu ihnen gehabt. Als kleines Kind habe ich mir abends stets gewünscht, nachts nichts zu träumen. Ungeheuerliches passierte, wenn ich die Augen schloss. Traumata sind vererbbar, heißt es. Oder vielleicht spürte ich einfach, was in meinen Eltern gärte, die als Kinder Krieg und Flucht erlebt hatten. Daran mag es liegen, dass ich nie das Gefühl

habe, es fehlt mir etwas, solange meine Grundbedürfnisse gedeckt sind und mindestens ein Mensch um mich herum ist, mit dem mich Liebe verbindet. Aber mein Streben in der Welt kann ich als ganz so bescheiden nicht bezeichnen: Es wird immer darum gehen, dass dies allen Menschen – und eigentlich allen Wesen – zusteht.

Wie also sähe meine Utopie aus? Mein letztes Buch, „Ecommony. UmCare zum Miteinander“, handelt davon, wie wir leben könnten: Besitz aner-kennen und Eigentum abschaffen hieße, denen die Häuser, die darin wohnen, das Land jenen, die es be-wirtschaften, die Seen für alle zum Hineinspringen und die Bohrmaschine derjenigen, die bohrt. Wenn aber jemand nicht teilen möchte oder sich von an-derem, scheinbar Ungenutztem nicht trennen mag, gehen deshalb die Ressourcen dieser Welt noch lange nicht zu Ende. Entscheidend ist, dass es kein Geld mehr gäbe – und damit die Illusion verschwän-de, immer mehr haben zu können. So wie heute, da acht Männer so viel Vermögen besitzen wie die är-

mere Hälfte der Weltbevölkerung. Es gibt Menschen, die halten das für keinen Traum, son-dern für die logische Weiterentwicklung der Produktionsverhältnisse. Dazu gehört der Marxist Paul Mason, ehemaliger Leiter der Wirtschafts-redaktion von Channel 4 News, der mit seiner Vorhersage des Postkapitalismus (2016) von einer Aushebelung des Preismechanismus ausgeht. Jeremy Rifkin, liberaler Ökonom, bekanntester Zukunftsforscher der Welt und Autor des Werkes „Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft“ (2014), sieht ebenfalls die Preise der Produktion von Gütern und Dienstleistungen gegen null gehen, womit das ka-pitalistische System seinen Einfluss auf die Knappheit verliert und damit die Fähigkeit, von der Abhängigkeit anderer zu profitieren. Beide Autoren kommen zu gleichen Ergebnissen: Die technischen und wirtschaftlichen Entwicklungen laufen auf eine neue Gesellschafts form hinaus, die sich lateral, kollaborativ als Commons bzw. Peer-Produktion organisiert.

Mindestens ebenso befreiend an diesen Visionen – mit oder ohne Technik, letztlich wäre das egal – finde ich die Produktionsseite: Weil auf diese Weise jenseits der Ideologie, wir wollten nur faul sein, unsere Lust am Tätigsein befreit würde; weil wir unter selbstbestimmten Bedingungen das tun könnten, womit wir uns in dieser Welt verwirk-lichen wollen. Oder was uns am wichtigsten er-scheint, dass es getan wird. Oder was uns leichter als anderen fällt. Hauptsache, wir täten es nicht aus (ökonomischem) Zwang, sondern aus Überzeugung heraus.

Letztlich kennen Sie meinen Utopie-Traum selbst. Sie müssen dafür nur die Augen schließen und einen Moment überlegen, worauf es ankommt, damit Sie – und alle – gut leben: Dass Sie ein schö-nes Zuhause haben und gutes Essen. Und was sonst Ihr Herz begehrt – aber nicht, um es zu haben, son-dern um es zu nutzen! Dass Sie alles tun können, was Sie möchten, ohne dass Ihnen jemand sagt, Sie seien nicht gut genug dafür. Oder falls doch, dann erst, nachdem Sie jemand anderen auskonkurrie-ren, diesen anderen also daran hindern, es auch zu tun. Kurz: Ohne dass Ihnen oder anderen Ihre Lebensgrundlagen verweigert und/oder Ihre Lebens zeit, Ihr Selbstbewusstsein und Ihr Glück systematisch geraubt werden.

So einfach ist mein Utopie-Traum. Und so ein-fach könnte es sein.

Worauf es ankommt

EVon Friederike Habermann

FOTO : W Ü L L N E R

DIE AUTORIN

Friederike Habermann, Jahrgang 1967, ist Volkswirtin und Historikerin, forscht und schreibt als freie Wissenschaftlerin und entwickelte die „subjektfundierte Hegemonietheorie“, mit der sie beschreibt, dass Identitätskategorien im Ringen um Privilegien, wie beispielsweise den Zugang zu Ressourcen, Zugriff auf Körper, Hierarchien in Arbeitszusammenhängen, Konstruktionen sind. Sie ist vernetzt in Basisbewegungen solidarischen Wirtschaftens.

2008 veröffentlichte sie „Der homo oeconomi-cus und das Andere. Hegemonie, Identität und Emanzipation“, erschienen bei Nomos, ein Jahr spä-ter das Buch „Halbinseln gegen den Strom. Anders leben und wirtschaften im Alltag“, erschienen bei Helmer, Königstein.

Mit ihrem neuen Buch „ECCOMONY. UmCare zum Miteinander“, 2016 im gleichen Verlag erschienen, beschreibt Friederike Habermann eine Alternative zum Kapitalismus in Form neuer Konsum- und Produktionsmuster, deren Hauptprinzipien „Besitz statt Eigentum“ und „Beitragen statt Tauschen“ lauten.

Besitz anerkennen und Eigentum abschaf-fen hieße: denen die Häuser, die darin woh-nen, das Land jenen, die es bewirtschaften, die Seen für alle zum Hineinspringen und die Bohrmaschine derjenigen, die bohrt. ANZEIGE

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N I C H T V E R G ESS E NM Ä R Z 2 0 1 7 | OX I | S E I T E 0 2

EDITORIAL„Eure Ordnung ist auf Sand gebaut.“ Dieser Satz stammt von Rosa Luxemburg (Seite 23) und er klingt auch heute wie eine Kampfansage. „Eure Wirtschaftsordnung ist auf Sand gebaut“, sagen und schreiben feministische Ökonominnen und entwi-ckeln Ideen und Vorschläge für eine andere Art des Wirtschaftens. Weg vom Paradigma des Homo oeconomicus und unendlichen Wachstums auf Kosten des überwiegenden Teils der Menschheit und des Planeten, hin zu solidarischem Miteinander, in dem Care-Arbeit und Lohnarbeit nicht länger als ge-trennt betrachtet werden. Der Titel dieser Ausgabe, die im Monat des Equal Pay Day (18. März) erscheint — jenem Tag, der die Lohnlücke zwischen Männern und Frauen symbolisiert; in Deutschland lag sie 2016 bei 21 Prozent —, befasst sich mit Theorie und Praxis weiblichen Wirtschaftens. Mit Unternehmerinnen und Vordenkerinnen, die sich in einer erodierenden Ordnung, die mit Klauen und Zähnen ihre Pfründe vertei-digt, behaupten müssen.

Am 23. März – da haben wir Frauen schon seit fünf Tagen den Equal Pay Day hinter uns und richtig Schotter verdient – findet in Leipzig im Rahmen der Buch-messe der „OXI-Talk Weiberwirt schaft – Wirtschaftsweiber“ statt. Dabei ist auch die Autorin und Volkswirtin Friederi ke Habermann (Seite 3). 20 Uhr im Interim in Leipzig-Lindenau. Wir diskutieren gern mit Ihnen und freuen uns auf Sie. Klappt das an diesem Abend nicht, dann besuchen Sie uns auf der Buchmesse, Messehalle 5, Stand-Nr. E 402.

In der Februarausgabe hatten wir uns mit dem Thema Wohngenossenschaften befasst. In dieser Ausgabe gehen wir dem – nur vermeintlichen – Phänomen nach, dass es nirgendwo sonst in Europa eine solche Dichte an Genossenschaften gibt wie in der norditalienischen Provinz Reggio Emilia. Und auch im Baskenland ist die Zahl der Kooperativen vergleichsweise hoch, wäh-rend in anderen Regionen der Genossen-schaftsgedanke überhaupt keine Rolle spielt. Unser Autor Pit Wuhrer ist der Frage nachgegangen, ob die Suche nach neuen Idealen verhindern kann, dass die anhal-tende allgemeine Wirtschafts- und Finanzkrise auch die Genossenschaften er-reicht.

Ob die Jugend wirklich rosigen Zeiten auf dem Arbeitsmarkt entgegensieht und ob die vielbeschworene Arbeits platz-beschafferin Kreativwirtschaft nur eine Schimäre ist, versuchen wir auf den Seiten 10 und 11 zu ergründen. Eine Ordnung, die auf Sand gebaut ist, sollte uns nicht schre-cken. Neues ist in Sicht. Was und wo, darü-ber schreiben und berichten wir auch in den folgenden Ausgaben. Kathrin Gerlof

THEMEN, DIE WICHTIG BLEIBENLOHNGERECHTIGKEIT

Kaum Bewegung beimGender Pension GapBei der Altersversorgung klafft zwischen Männern und Frauen in Deutschland eine noch größere Lücke als bei den Löhnen. In Zukunft wird der Abstand zwar schrumpfen, doch das hat nur wenig mit einer besseren Altersversorgung von Frauen zu tun. Vor allem liegt es daran, dass künftig die durchschnitt-liche gesetzliche Rente von Männern im Vergleich zu aktuellen Rentnern geringer sein wird, laut einer von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Studie. Eine Forschergruppe des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) hat dafür geschlechts-spezifische Unterschiede bei der gesetzlichen Rente analysiert (Daten des Sozio-oekonomischen Panels und der Rentenversicherung).

Im Westen fällt der so genannte Gender Pension Gap fast doppelt so hoch aus wie im Osten. Der Studie zufolge erhielten westdeutsche Männer im Ruhestand im Jahr 2014 monatlich im Schnitt 994 Euro und damit 418 Euro (42 Prozent) mehr aus der Gesetzlichen Rentenversicherung als Rentne-rinnen. Im Osten, wo die Männer im Schnitt auf 1.057 Euro kommen, betrug die Differenz 239 Euro (23 Prozent). Verantwortlich für den Rückstand der Frauen sind in erster Linie Unterschiede beim sozial versicherungspflichtigen Arbeitsentgelt, laut DIW. Im Schnitt verdienten Arbeitnehme-rinnen deutlich weniger als Arbeitnehmer. Infolge-dessen übertreffe der Gender Pension Gap deutlich den Gender Pay Gap, der zuletzt deutschlandweit bei 21 Prozent (Westen: 23 Prozent, Osten: 8 Pro-zent) lag.

Die Unterschiede sind in den ärmeren Ein-kommensschichten besonders stark ausgeprägt: Bei Westdeutschen der Jahrgänge 1936 bis 1945 variiert die geschlechtsspezifische Differenz bei der Rente zwischen 40 Prozent im Zehntel mit dem höchsten Rentenanspruch und 75 Prozent im Zehntel mit der niedrigsten Rente. Nach Ansicht der Autoren dürfte das mit den vielen teilzeitbe-schäftigten und nicht erwerbstätigen Frauen in der

unteren Hälfte der Verteilung zusammenhängen.Im Verlauf der vergangenen beiden Jahrzehnte

ist der Gender Pension Gap minimal kleiner gewor-den, zeigt ein Blick auf Neurentnerinnen und Neurentner: 1995 lag der Abstand zwischen west-deutschen Männern und Frauen, die erstmals eine Rente der GRV bezogen, bei 48 Prozent. 2014 waren es 39 Prozent. Im Osten, wo die Differenzen durch-gehend kleiner sind, ging die geschlechtsspezi-fische Lücke von 33 auf 10 Prozent zurück.Als maß-geblichen Grund nennen die Ökonomen die gestie-gene Frauenerwerbstätigkeit, eine zunehmend bessere Ausbildung von Frauen und einen langsam sinkenden Gender Pay Gap. In Zukunft wird aber noch ein anderer Faktor bei der Angleichung an

Gewicht gewinnen: sinkende Rentenansprüche bei Männern, wie die DIW-Forscher anhand einer Simulation herausfanden. Um die eigenständige Altersversor gung von Frauen zu stärken, empfeh-len die For scher den Ausbau einer stützenden In-fra struk tur für Familien, um Arbeitszeit auch mit Sorgever pflichtung aufrecht zu erhalten und Erwerbs unter brechungen zu begrenzen. Darüber hinaus gelte es, alle Säulen der Alters sicherung im Auge zu behalten. Die gesetzliche Rente, die bei Frauen der Jahrgänge 1966 bis 1970 im Schnitt bei knapp über 700 Euro liegen wird, dürfte allein kaum vor Altersarmut schützen. Aller dings gebe es bislang auch bei der betrieblichen Altersvorsorge einen Gender Pension Gap, so die Forscher.

Jedes Jahr werden in Deutschland 11 Millionen Ton-nen genießbare Lebensmittel im Wert von etwa 25 Milliarden Euro auf den Müll geworfen. Die Verbrau-cherzentrale errechnete, dass 275.000 voll beladene Sattelschlepper zum Transport notwendig wären. 50 Prozent der Lebensmittelmittel seien das, die vom Feld bis zu den VerbraucherInnen vernichtet würden. Die Gegenbewegung heißt Containern – also Lebensmittel aus dem Müll retten. „Schwerer Diebstahl“ ist das und wird vor Gerichten verhandelt, so auch im vergangenen Jahr in Aachen, was Anlass für eine Petition gab, das Containern zu entkrimina-

lisieren. Im oberbayrischen Neumarkt-St. Veit ist im Januar 2017 ein Rentner wegen Containern zu einer Geldstrafe von 200 Euro verurteilt worden.

Nun hat der Vorstand der Partei „Die Linke“ be-schlossen, die Kampagne zur Entkriminalisierung des Containerns von Lebensmitteln und Sperrmüll zu unterstützen. Dies solle durch eine Reform des Diebstahlparagrafens geschehen. Interessant wäre an dieser Stelle, so es parlamentarische Initiativen in diese Richtung geben sollte, über eine „Abgabe-pflicht“ zu debattieren, durch die Supermärkte und Lebensmittelläden angehalten würden, nicht ver-kaufte Lebensmittel, die bislang im Müll landen, kostenfrei nach Beendigung der Öffnungszeit zur Verfügung zu stellen. Dann wäre die Vernichtung von Lebensmitteln kriminell und nicht länger de-ren leichtfertige Entsorgung.

LEBENSMITTELRETTUNG

Containern kriminell?

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EstlandDänemark

SlowakeiLitauen

TschechienUngarn

IslandLettland

GriechenlandPolen

FinnlandBelgien

NorwegenSchweden

EstlandPortugal

ItalienFrankreich

IrlandÖsterreich

EnglandDeutschlandNiederlandeLuxemburg

forum Nachhaltig WirtschaftenDas Entscheider-MagazinStrategierelevante Informationen, spannende Beiträge und starke Best Practice-Beispiele für Zukunftsgestalter und innovative Unternehmen.ISSN 1865-4266

ECO-WorldBewusst besser lebenMit einem umfangreichem Adressteil, vielen Informationen und praktischen Tipps für alle, die ökologisch bewusst leben und handeln wollen.ISBN 978-3-925646-44-7

B.A.U.M.-Jahrbuch 2017 Digitalisierung und NachhaltigkeitDer Bundesdeutsche Arbeitskreis für umweltbewusstes Management präsen-tiert wichtige Themen und die Vorreiter nachhaltigen Wirtschaftens. ISBN 978-3-925646-67-6

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Unterschiede der Ruhestandsgelder zwischen Männern und Frauen in EuropaDer Wert bezeichnet das prozentuale Mehr an Rente, das Männer gegenüber Frauen erhaltenQuelle: European Institute for Gender Equality (Stand: 2015)

Wer diesen „Abfall“ aus Not an sich nimmt, darf nicht mehr kriminalisiert werden. FOTO : FOTO L I A

QUELLEMarkus Grabka, Björn Jotzo, Anika Rasner, Christian Westermeier: Der Gender Pension Gap verstärkt die Einkommensungleichheit von Männern und Frauen im Rentenalter.DIW Wochenbericht 5/2017.

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IMPRESSUM:SIEHE LETZTE SEITE

Page 3: OXI · ‚Traum-Seite‘ der OXI zu schreiben, dachte ich an eine Utopie. Ich überlegte, zu beschreiben, wie schön das Leben sein könnte. Solche Träume haben den Vorteil, dass

DIE THEMEN

S. 6-7Sieben Unternehmerinnenund wie sie wirtschaftenS. 8Die Gewerkschaften und ihre Ziele für Frauen:Christiane Brenner, IG MetallKarin Schwendler, ver.diS. 9Was Frauen vermögen:FrauenVermögenFrauenVernetzung

DER KONTEXT

Manchmal mutet es wie ein Glaubenskrieg an: Die Auseinandersetzungen um die wirtschaftlichen Kompetenzen und realen Möglichkeiten von Frauen. Ob Frauen wirtschaften und ökonomisch denken können, ob sie führen und Verantwortung übernehmen wollen, warum sie hier und da doch nicht die Geeigneten sind und: wie sie alles in Balance bekommen können, Job und Privates.Diese süffisant gestellten Fragen und arroganten Unterstellungen sind eine Zumutung. Zumindest für das Gros der Frauen. Deshalb zeigen wir in unserem Titelthema, dass Frauen wirtschaften - manchmal wie Männer und oft anders. Und dass es an der Zeit ist, umzudenken. Nicht nur bei der Bezahlung!

VON ULRIKE BAUREITHEL

„Jetzt soll ich auch noch ein Haushaltsbuch füh-ren!“, empört sich Melanie S., als sie von der Schuldnerberatung kommt. Dort hatte man ihr aufgetragen, alle laufenden Ausgaben in ein Heft zu schreiben, um den Überblick über ihr verfüg-bares Einkommen zu behalten. Melanie verdient als Hilfskraft in einem Krankenhaus nicht viel, und sie geht schon gerne mal shoppen. Für die Schulden allerdings ist ihr Ex verantwortlich, der sie mit zwei Bankdarlehen hat sitzen lassen. Seit ih-rer Privatinsolvenz steht sie unter Kuratel.

Frauen und Ökonomie. Die Geschichte einer schwierigen Beziehung. Melanie S., die sich unver-schuldet in ein Finanzchaos verwickelt sieht, emp-findet das Haushaltsbuch als Schikane, als Disziplinierungsmittel. Würde es sie trösten, wüsste sie, dass die 17-jährige Frau Rat Goethe, Mutter von Johann Wolfgang von Goethe, in Frankfurt auch ein solches Haushaltungsbuch akribisch hatte führen müssen? In die Zeit der Aufzeichnungen zwischen 1753 und 1779 fiel die Geburt von sechs Kindern, und deren Mutter stand einem großbürgerlich-repräsentativen Haushalt vor.

Der Ende 1933 promovierten Soziologin Mar-ga rethe Freudenthal lieferten die Budgetrech-nungen das Material, um zu untersuchen, wie sich im ausgehenden 18. Jahrhundert das bürgerliche und das proletarische Haushaltswesen verändert haben. Erstmals eröffnete die Mikroökonomie des Haushalts unvermutete Einsichten in die National-ökonomie. „Die Frau im Hause, heißt es“, schrieb die Frauenrechtlerin Käthe Schirmacher bereits 1905, „konsumiert Werte, verteilt Werte, schafft aber keine Werte.“ Und sie fügt hinzu, dass das nicht stimmt: „Frauenarbeit wird fast immer unter ihrem Werte bezahlt.“ Das beträfe insbesondere die von Frauen im Haus erbrachte Arbeit. Schirmacher war eine der Ersten, die forderten, dass diese Tätigkeit zu entlohnen sei.

Die sogenannte Hausarbeitsdebatte war also keinesfalls eine Erfindung der Neuen Frauenbewe-

gung. Sie holte nur ein Faktum ins kollektive weib-liche Gedächtnis zurück, das Frauen in Fleisch und Blut übergegangen ist: Frauen werden, wenn sie er-werbstätig sind, nicht nur schlechter bezahlt als Männer, sondern für einen Teil ihrer Arbeit – ihre Haus-, Erziehungs- und Pflegetätigkeiten – über-haupt nicht direkt entlohnt, sondern höchstens über das, was der (Ehe-)Mann als „Familienlohn“ nach Hause bringt. Die theoretische Frage nach den „Reproduktionskosten der Gattung“ füllt viele Seiten der berühmten blauen Bände. Dass die häus-liche weibliche Arbeitsleistung bei diesen Überle-gungen aber gar nicht in Erscheinung tritt, war das feministische Skandalon.

DAS KLASSISCHE MODELL HAT AUSGEDIENT.Die herkömmliche und bis heute so gelehrte Nationalökonomie hält an dieser Trennung von marktvermittelten Teilen des Wirtschaftens und der Hausarbeit fest. Das schlägt sich ganz praktisch nieder in der gesellschaftlichen Gesamtrechnung, denn die unbezahlten Anteile – vom Kampf ge-gen Schmutz und Keime über die Herstellung von Mahlzeiten, die psychologische und pädago-gische Betreuung von Kindern, die Pflege kran-ker oder behinderter Menschen bis hin zur Herstellung einer häuslichen Atmosphäre, die es dem „Hauptverdiener“ erlaubt, sich zu regenerie-ren – gehen nach wie vor nicht ins Sozialprodukt der Gesellschaft ein.

Der Homo oeconomicus, der nach dem Prinzip der Nutzenmaximierung handelt, ist ein Mann. Hausfrauen werden von Ökonomen höchstens als Konsumentinnen wahrgenommen, deren Kauf-kraft gestärkt werden muss. Im aufrührerischen Italien der 1970er-Jahre haben Dario Fo und Franca Rame in der schrillen Satire „Bezahlt wird nicht!“ diese neue Marktmacht der Frauen auf die Bühne gestellt und durchgespielt, was passiert, wenn sie sich den üblichen Tauschverhältnissen einfach entziehen.

Doch das klassische Modell der Fürsorgearbeit, der „berührenden Sorge“, von der der Nationalöko-

nom Adam Smith alle Menschen abhängig sah und die ihm, gerade weil sie nicht auf Vorteil schielte, prädestiniert schien, menschliche „Glückseligkeit“ zu erreichen, funktioniert nicht mehr reibungslos. Immer mehr Frauen streben in den Beruf, es fehlt ihnen an Zeit und Kraft, sich 24 Stunden um die Familie zu kümmern, Eltern oder Schwiegereltern zu pflegen und die hohen Ansprüche an Kinderer-ziehung zu erfüllen. Die „zweite Schicht“ zu Hause ist so wenig attraktiv wie das Zuverdienermodell, das für Frauen wenig berufliche und persönliche Anerkennung bereithält.

„Das bisschen Haushalt“ macht sich eben nicht von alleine, wie auch Melanie S. weiß, die als Alleinerziehende nun die ganze Sorgearbeit stem-men muss: „Wenn ich müde aus dem Krankenhaus komme, geht’s schnell zum Einkaufen und Vorkochen für den nächsten Tag, dann noch schau-en, ob die beiden Kinder ihre Hausaufgaben ge-macht haben, die Waschmaschine beladen und Wäsche aufhängen. Alles andere bleibt bis zum Wochenende liegen. Und jetzt wollen die auch noch, dass ich ein Haushaltsbuch führe!“ Melanie S. ist 39, ihre Mutter über siebzig und kränklich. „Sie würde mich gerne unterstützen, aber eigentlich bräuchte sie mich. Sie wohnt aber nicht in Berlin.“ Schlechtes Gewissen.

UNSICHTBAR UND NICHT ENTLOHNTFür diese umfassende Sorge für sich und andere hat sich in der feministischen Theorie der Begriff „Care“ herausgebildet. Der Umfang dieser weitge-hend unsichtbaren, weil nicht entlohnten Arbeit umfasste im Jahr 2001 noch 96 Milliarden Stunden, das 1,7-Fache der gesamten bezahlten sogenann-ten produktiven Erwerbsarbeit mit 56 Milliarden Stunden. Inzwischen hat sich das Verhältnis etwas zugunsten der bezahlten Arbeit verschoben, die ge-schlechtsspezifische Verteilung der Zuständigkeit ist jedoch weitgehend erhalten geblieben. Da un-bezahlte Tätigkeiten im Privathaushalt statistisch nicht erfasst werden, existieren nur Schätzungen über die dort erbrachte Wertschöpfung: rund 40 Prozent des deutschen Bruttoinlandprodukts.

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Bei Frauen verrechnet sichMann immer noch ganz schön

F R AU E N U N D A R B E I T

Was Frauen für die Gesellschaft leisten, ihre Anteile an pädagogischer, psychologischer, pflegerischer und Fürsorgearbeit, fehlt in der Gesamtbilanz des Sozialproduktes. Was stattdessen immer noch zählt, ist der Homo oeconomicus, der nach dem Prinzip der Nutzenmaximierung handelt und zu Produktivität und Wohlstand beiträgt. Der Mann, die Stütze der Wirtschaft. Die Frau, die nützliche Idiotin.

Im Westdeutschland der Nachkriegszeit sorgte die Hausfrauenehe dafür, dass Kinder aufgezogen, Alte gepflegt wurden und Männer unbelastet ihrem Job nachgehen konnten. Doch die dazu erforder-lichen Sozialversicherungssysteme, weist Gabriele Win ker in ihrem Buch „Care-Revolution“ nach, er-wiesen sich als relativ teuer. Außerdem benötigte der Arbeitsmarkt immer mehr qualifizierte Frauen. Sie sehen sich nun mit dem sogenannten Verein bar- keits problem konfrontiert: Sie sollen als fitte „Arbeitskraftunternehmerinnen“ bereitstehen, aber gleichzeitig ihre Familien managen, bei erhöh-ten Anforderungen an Erziehung und Ausbil dung von Kindern.

Einen Ausweg sehen die etwas finanzkräf-tigeren Mittelschichtsfamilien darin, Teile der Sorgearbeit einfach auf relativ schlecht bezahlte Dienstkräfte auszulagern. In seinem kürzlich er-schienenen Buch „Die Rückkehr der Diener“ be-schreibt der Kultursoziologe Christoph Bartmann aus eigener Anschauung die neue häusliche Servicewelt in den „Wohnhotels“ von New York. Die „domestic workers“ wirken weitgehend unsichtbar für einen Mindestlohn, den sich die obere Mittelschicht gerade noch leisten kann. Was sie da-für erhalten, entlastet sie.

WIE DIE VERHÄLTNISSE FEMINISTISCH DREHEN?Bartmanns sehr anschauliche und materialreiche Erzählung über die neuen globalen Sorgeketten, in deren Sog rund 100 Millionen Migranten um die Welt wandern und sich prekär verdingen müssen, ist allerdings auch ein ärgerliches Beispiel dafür, dass immer erst ein Mann kommen muss, wenn es einen Missstand öffentlichkeitswirksam zu machen gilt. Denn alles, was Bartmann beschreibt, ist von zahl-reichen feministischen Theoretikerinnen schon viel früher skandalisiert worden. Dass Frauen (und deren Kinder) auch unter den neuen Dienstboten die beson-ders Leidtragenden sind, beweisen die sogenannten Euro-Waisen, die von den 300.000 osteuropäischen Arbeitsmigranten in ihrer Heimat zurückgelassen worden sind. Und die eingewanderten Nannys, kom-mentiert die kalifornische Soziologin Arlie Russel Hochschild die Situation in den USA sarkastisch, ermöglichten genau genommen nicht den reichen Frauen die Partizipation auf dem Arbeitsmarkt, stattdessen den reichen Männern, die zweite Schicht zu vermeiden.

Um die ökonomischen Verhältnisse feminis-tisch zu drehen, kann es also nicht darum gehen, dass Frauen lediglich ihr „Vereinbarkeitsproblem“ lösen, indem sie ein paar Kitaplätze mehr zur Verfügung haben und das Schmutz-, Aufsichts- und Pflegemanagement an ärmere Frauen delegieren. Zunächst, gibt die Schweizer Ökonomin Mascha Madörin zu bedenken, müsse man beide Aspekte von Care-Arbeit – bezahlte und unbezahlte Tätig-kei ten – zusammen denken unter der Bedingung, dass es sich um personenbezogene (Kinderer-ziehung, Pflege etc.) Arbeiten mit unterschied-lichen Graden von Abhängigkeit und nicht perso-nenbezogene Dienstleistungen (z.B. Sauberma chen oder Pizza-Service) handeln kann.

Teile von Care-Arbeiten lassen sich leicht in den kapitalistischen Produktionsprozess integrieren: Im Rahmen von Industrie 4.0 wird der intelligente Kühlschrank entwickelt oder über das sich selbst

reinigende Haus sinniert. Anderes wiederum sperrt sich. Die Erziehung eines Kindes oder die Pflege eines behinderten Menschen folgen einer anderen Zeit- und Effizienzlogik als der auf dem Markt üb-lichen, selbst wenn auch hier über den Einsatz von Pflegerobotern nachgedacht wird. Aber grundsätz-lich braucht die menschliche Sorge um und für den Menschen Zeit und ist nicht unbegrenzt rationali-sierbar, wie das Scheitern der „Minutenpflege“ im deutschen Pflegesystem eindrücklich gezeigt hat. Madörin ist überzeugt, dass sich gerade im Gesundheits- und Erziehungsbereich die strate-gischen Kämpfe der Zukunft abspielen werden: „Es wird dabei nicht um das Verhältnis von Staat und Markt gehen, sondern um die Nichtstan dar disier-barkeit der Care-Arbeit.“

Diese neue Arbeitsdebatte tangiert aber auch die Makroökonomie. Denn wenn einmal akzeptiert wird, dass Fürsorgearbeiten unverzichtbar, aber nicht im Takt zu erledigen sind, muss auch darüber gesprochen werden, wie das Sozialprodukt verteilt werden soll. Wollen wir immer mehr in Billig-lohnländern geschaffene Konsumgüter kaufen oder von diesem Geld lieber personenbezogene Dienste bezahlen, fragt Madörin.

ÖKONOMIE DES COMMONSDenn Care könnte auch so etwas wie der „Vorschein“ auf ein weniger entfremdetes, teilhabeorientier-teres und faires Arbeiten sein. In der ökofeminis-tischen Debatte der 1980er-Jahre wurde dieser Aspekt gelegentlich ideologisch überhöht, brachte aber immerhin die Abkehr von den marktförmigen Tauschverhältnissen ins Spiel, die in der neueren fe-ministischen Diskussion wieder thematisiert wird.

Eine Ökonomie des Commons, wie sie etwa Friederike Habermann in ihrem Buch „Ecommony“ skizziert, hätte Melanie S. möglicherweise die Finanzmalaise durch nicht zu tilgende Darlehen er-spart. Commons bedeutet alles, was aktiv ge-

braucht, aber nicht besessen wird. Das Auto, für das einer ihrer Kleinkredite draufgegangen war, hätte sie vielleicht von jemand anderem zur Verfügung gestellt bekommen nach dem Prinzip des freiwilli-gen Teilens: Jeder trägt bei, was er hat und was er kann, in einer freien und offenen Produktions- und Verteilungsatmosphäre. Vielleicht hätte sich Melanie „revanchiert“, indem sie ein krankes Kind pflegt – aber eben nicht auf der Basis einer Zeit-Leistungs-Verrechnung wie etwa bei einem Tauschring, sondern im Rahmen der von ihr be-stimmten Handlungsmöglichkeiten.

Auf diese Weise würden der „strukturelle Hass“, die immer gegenwärtige marktvermittelte Konkurrenz, und die „strukturelle Verantwortungs-losigkeit“ („ich zuerst und nach mir die Sintflut“) in ein kooperatives, freiwilliges Miteinander über-führt. Commons bedeutet nicht wie bei einer Genossenschaft, dass eine bestimmte Gruppe Eigentum besitzt und darüber verfügt. Stattdessen besteht für alle – wie es beim Saatgut sein sollte – der gleiche Anspruch, was aber voraussetzt, dass ge-nügend vorhanden ist und alle problemlos Zugang haben. Verzichtsideologie hat in diesem System kei-nen Platz.

Die Vorstellung von Commons knüpft am menschlichen Grundbedürfnis an, nicht unfair be-handelt werden zu wollen. Und unfair ist es, be-stimmten Gruppen, zum Beispiel Frauen, unbe-queme Arbeiten zu übertragen, nur weil sie Frauen und scheinbar dazu geboren sind. Identitätsdenken verträgt sich mit Ecommony also so wenig wie Eigentum oder Zwang. Diese Prinzipien, so Habermann, gälten in alternativen Wirtschaftsan-sätzen wie der Degrowth-Bewegung oder dem sozi-alökologischen Umbau nicht. Sie blieben in der Marktlogik gefangen.

ETWAS VERHINDERN, ETWAS ERMÖGLICHENHabermanns weiträumiger Entwurf ist darauf aus-gerichtet, in der Gegenwart kleine Zukunftsinseln zu bauen, die sie zahlreich vorstellt. Es geht darum, Handlungsmöglichkeiten und Spielräume auszu-loten, die darauf ausgerichtet sind, etwas zu verhin-dern und gleichzeitig etwas zu ermöglichen. So ha-ben viele Frauenprojekte in Deutschland begonnen, aber auch wichtige Einrichtungen in den Ländern des Südens wie die Grameen-Bank in Bangladesch, wo das Prinzip verpflichtender sozialer Kontrolle es ermöglicht, auch mittellosen Frauen Kredite zu ge-währen.

Mascha Madörin behauptet, dass es für eine fe-ministische Theorie nicht nur die Analyse vergan-gener Ausbeutungsverhältnisse braucht, sondern auch Antizipation und Fantasie dessen, was erstre-benswert erscheint. Das Gold (und das Geld) gab als Marktabstraktum einmal ein solches Versprechen auf die Zukunft. Die Aufgabe feministischer Ökonomie aber ist es, sich von dieser Gestaltmacht zu lösen, von dem Fetisch, dass das Geld alles ver-mittelbar und alles machbar macht. Kritisch ist aber auch mit dem vermeintlich besseren Leben in der Vergangenheit umzugehen. Das Wirtschaften im alten „Oikos“, im „ganzen Haus“, war Miteinander und Ausbeutung zugleich. Die Entstehung des bür-gerlichen Haushalts wie der von Frau Rat Goethe hatte es vermocht, die wahren Verhältnisse zu ver-schleiern.

Etwa 40 Prozent desBruttosozialprodukts werden durch nicht bezahlte Tätigkeiten im Haushalt erbracht.

Die internationale Assoziation für feministische Ökonomie (IAFFE) ist ein Zusammenschluss von Akademikerinnen, Aktivistinnen und Politiktheo­reti kerinnen, die für gendersensible, feminis­tische und inklusive Ökonomieansätze und Poli­tik analysen eintreten.

Die Assoziation ist als Ergebnis einer Diskus­sion im Rahmen der American Economic Asso­ciation Conference im Jahr 1990 entstanden. Seit 1997 berät sie als NGO den Wirtschafts­ und Sozialrat der Vereinten Nationen. Heute gehören ihr über 600 Mitglieder aus 64 Ländern an. Die IAFFE will sowohl das ökonomische Bewusst­sein als auch die Lehre verändern. Die Asso­ziation fördert den Austausch von Forsche­rinnen, politischen Entscheidungs trä gerinnen und Aktivistinnen unter anderem zu folgenden Themen:▪ Gleichberechtigung der Geschlechter in

Arbeit und Ressourcenfragen▪ makroökonomische und Haushaltspolitik▪ Geschlechterverhältnisse und Care­Arbeit▪ Gender­Aspekte der Bildung und Gesundheit▪ sozialer Schutz und Ernährungssicherheit▪ Migration, Handel

DIE ZIELE DER KONFERENZENDie jährlich stattfindende Konferenz und das IAFFE­Journal ermöglichen es Mitgliedern, sich über den Stand der Forschung auszutauschen und eigene Forschungsbeiträge zu diskutieren. Die Konferenz 2017 beschäftigt sich mit der Geschlechterungleichheit in einer multipolaren Welt und mit der Frage, inwieweit feministische Ökonomie nützlich für Lehrende, feministische Organisationen und PolitikerInnen in einer Welt sein kann, in der multiple Machtzentren – sowohl politische als auch ökonomische – existieren.

2015 stand die Konferenz unter dem Thema „Austeritätspolitik“ und dem damit verbundenen Versuch, Krisen durch harte Sparkurse bei sozia­len und gesellschaftlichen Aufgaben zu begeg­nen. Das Urteil der feministischen Ökonominnen lautete, diese Form der Krisenbewältigung miss­achte die Komplexität der realen Welt, sei mora­lisch falsch und funktioniere zudem nicht. Die verordneten Sparrunden zur Konsolidierung eines außer Rand und Band geratenen Finanz­sektors wirkten sich vor allem auf Frauen negativ aus. Die Folgen der Finanzkrise im Jahr 2008 und der folgenden Jahre hätten sich – das kon­statierten die Ökonominnen ebenfalls – zwar be­sonders auf bestimmte Gruppen von Frauen aus­gewirkt, aber die Armut unter Männern sei in den Folgejahren proportional besonders stark ge­stiegen, da es Bestrebungen der Wirtschaft gebe, sich die Arbeitskraft gut ausgebildeter Frauen anzueignen. Diese Entwicklung hin zu mehr „Gleichheit unter den Geschlechtern“, was die Prekarisierung und zunehmende Armut an­belangt, könne allerdings nur zynisch betrachtet als Fortschritt bewertet werden.

Anne SchindlerWEBTIPPwww.iaffe.org

HINTERGRUND

FeministischeÖkonomieinternational

D I E B I L D E R AU F D E R S E I T E 1 U N D D I ES E N

S E I T E N G E H Ö R E N Z U R S E R I E „ P I N K L A DY “

D E R B E R L I N E R FOTO G R A F I N J U L I A

N OWA K .

W W W. J U N O P H OTO. D E

D I E AU TO R I N U N D V I E L FAC H B E W EGT E

U L R I K E BAU R E I T H E L A R B E I T E T A LS F R E I E

J O U R N A L I ST I N I N B E R L I N

Page 4: OXI · ‚Traum-Seite‘ der OXI zu schreiben, dachte ich an eine Utopie. Ich überlegte, zu beschreiben, wie schön das Leben sein könnte. Solche Träume haben den Vorteil, dass

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100 Prozent Familienbesitz, rund 500 Mitarbei-terInnen in Deutschland und 1500 weltweit in beauftragten Produktionsstätten, Zahlen zu Umsatz und Gewinn werden nicht veröffentlicht. Antje von Dewitz ist seit 2009 Geschäftsführe rin des Unternehmens Vaude, das der Bergsportler Albrecht von Dewitz 1974 gründete. 1980 ent-stand in Obereisenbach bei Tettnang ein eigener Produktionsbetrieb, 1992 steigt von Dewitz in das Geschäft mit der Ausrüstung für RadfahrerInnen ein. Antje von Dewitz ist eine von drei Schwestern, hat Kulturraumstudien in Passau studiert, vier Kinder.

Schon ein Jahr bevor sie die Geschäftsführung übernahm, hatte sich das Unternehmen eine Nach-haltig keitsstrategie verordnet. Vaude sollte, so das erklärte Ziel, die ökologischsten Wander hosen, Rucksäcke, Zelte herstellen und der nachhaltigste Outdoorhersteller Europas werden. Statt billigem, aber gesundheitsschädlichem PVC wird teureres, aber recycelbares Polyurethan (PU) verwendet. Vaude unterzeichnete als eines der ersten Unternehmen den deutschen Nachhaltigkeits-kodex, kooperiert mit dem WWF und erhielt 2011 eine Auszeichnung der Stiftung des Deutschen Nachhaltigkeitspreises. Das ist nicht selbstver-ständlich für die Outdoorbranche, die zwar NaturliebhaberInnen und AbenteurerInnen glück-lich macht, aber für die tollen Klamotten teure Materialien verwenden muss, will sie ökologisch verträglich produzieren. Vaude produziert Taschen und Jacken aus recycelten PET-Flaschen, hat eine eigene Reparatur werk statt, in der auch jahrzehnte-alte Zelte repariert werden, wenn die Kundin es möchte und das Zelt einschickt. Antje von Dewitz sagt, sie sei den Weg ihres Vaters einfach konse-

Sie gründete 1985 in Nürnberg die I.K. Hofmann GmbH, zu einer Zeit, als Zeitarbeitsfirmen noch als Orchideengewächse galten. Die 1954 gebore-ne Fränkin war die erste Frau im Präsidium der Deutschen Arbeitgeberverbände. Ihr Unternehmen ist heute in Deutschland mit rund 23.000 Mitar-beiterInnen und 89 Standorten das sechstgröß-te der Branche. 2015 betrug der Umsatz 768 Milli-o nen Euro. In den Jahren 2008 bis 2016 wurde Ingrid Hofmann im bundesweiten Wettbewerb „Beste Arbeitgeber Deutschlands“ (einen weib-lichen Auszeichnungstitel gibt es nicht) gekürt. Auf die Frage, woher sie das Startkapital für ihr Unternehmen nahm, antwortet sie der Zeitschrift „Capital“, die übrigens den Untertitel „Wirtschaft ist Gesellschaft“ führt) im Juli 2016: „Mein Vater, ein Landwirt, hatte grenzenloses Vertrau en in mich. Er verkaufte für 30.000 D-Mark ein Grundstück. Die habe ich schon im ersten Jahr zurückbezahlt. Ich wollte unabhängig sein. Später wollte die Bank, dass mein Mann für Kredite bürgt. Da habe ich gesagt: Das geht ja gar nicht, gehört die Firma nun mir oder ihm?“

Viel interessanter aber, was die möglichen Unterschiede zwischen Unternehmerinnen und Unternehmern anbelangt, ist ihre Antwort auf die Frage, ob sie sich noch an ihre erste Million erinnern kann: „Ich habe ernsthaft darüber nachgedacht,

Man hört Bärbel Röhncke gern zu, wenn sie über die Ausleger einer Feldspritze redet oder über das Flagschiff ihres Unternehmens, eine Landmaschine, mit 340 PS und GPS ausgestattet, die zentimeter-genau die Saat ausbringt. Sie weiß, dass Kälbchen sensible Tiere sind, die von ihr verkauften iri-schen Futtermischwagen zu den modernsten auf dem Weltmarkt gehören. Und sie weiß, dass das Ersatzteillager der Firma Gold wert ist. Da finden sich noch Raritäten der DDR-Landtechnik, die man-cher Landwirt irgendwann braucht.

2003 übernahm die Bauingenieurin von heute auf morgen die Westprignitzer Landmaschinen GmbH. Ihr Ehemann, der die Firma nach der Wende aus altem DDR-Bestand übernommen und weiter-geführt hatte, war einer schweren Krankheit erle-gen. Bärbel Röhncke muss sich entscheiden. Als Ingenieurin versteht sie etwas vom Bauen, als Mensch und Prignitzerin etwas von der kargen Region und den 24 Familien, die mit ihren Jobs an dem Unternehmen hängen. Röhncke kündigt ihren sicheren Job und übernimmt. „Ich bin damals ins kalte Wasser gesprungen, wissend, wie hart der Markt ist.“ Mitbewerber versuchen ungeniert, ihre besten Leute abzuwerben, und warten darauf, dass sie scheitert. Denken: Lass sie mal spielen, hat sich bald erledigt.

Bärbel Röhncke spielt immer noch mit, hat das Team auf 33 erhöht, davon vier Frauen und vier

12,6 Prozent der Stimmrechte bei BMW gehören ihr, ihrer Schwester Johanna 16,7 und ihrem Bruder Stefan 18,4 Prozent. Die Quandts haben bei BMW das Sagen, auch ohne absolute Mehrheit. Susanne Klatten gilt als reichste Frau Deutschlands. 2016 kündigte die Unternehmerin an, mit ihrer neuen Initiative Skala in den kommenden fünf Jahren 100 Millionen Euro an bis zu 100 soziale Projekte zu spenden.

Wikipedia schreibt: „1993 wurde Susanne Klatten mit 31 Jahren Mitglied im Aufsichtsrat der Altana AG und später dessen stellvertretende Vorsitzende. Im Jahr 1997 trat sie zusammen mit ih-rem Bruder offiziell das Erbe ihres Vaters bei BMW an. Sie ist über ihre Gesellschaft Susanne Klatten GmbH & Co. KG für Automobilwerte Teilhaberin und Mitglied des Aufsichtsrates von BMW (12,5 %) und über ihre weitere Holdinggesellschaft SKion am Chemiekonzern Altana AG (100 %), dem Wind-turbinenhersteller Nordex SE (5,7 %) und dem Kohlefaserspezialisten SGL Carbon (Einstieg im März 2009 mit 7,92 %, aktueller Beteiligungsstand 27,27 %) beteiligt.“

Mut bewies die 1962 geborene Milliardärin, Tochter von Herbert Quandt und dessen dritter Ehefrau, als sie Erpressungsopfer eines Gigolos wurde, der mit der Veröffentlichung von kompro-mittierenden Fotos drohte und fünf Millionen Euro für sein Schweigen wollte. Susanne Klatten erstat-

Die TRUMPF GmbH ist ein Unternehmen für Werkzeugmaschinen, Lasertechnik und Elektronik, gegründet 1923, mit rund 11.000 MitarbeiterInnen weltweit und mit einem Umsatz von 2,81 Milliarden Euro 2015/16.

2005 übergab Berthold Leibinger das Familienunternehmen in die Hände seiner Tochter Nicola Leibinger-Kammüller. Offensichtlich eine gute Entscheidung, denn TRUMPF überstand die Weltwirtschaftskrise 2008, obwohl der Umsatz um rund vierzig Prozent einbrach und ohne dass MitarbeiterInnen entlassen wurden. Nicola Lei-binger-Kammüller gab stattdessen 75 Millionen aus der Familienkasse ins Unternehmen und kürzte die Geschäftsführergehälter um zehn Prozent. In der Zeit, als die Produktion fast stillstand, ließ sie ihre Leute schulen und sich weiterbilden. Als die Zeiten wieder besser wurden, war das Unter-nehmen also gut am Start.

2012 führte die Geschäftsführerin ein in der Geschäftswelt als revolutionär wahrgenommenes Arbeitszeitmodell ein. Alle zwei Jahre können die MitarbeiterInnen selbst entscheiden, wie lange sie arbeiten möchten. Sie dürfen bis zu 1.000 Stunden auf ein Arbeitszeitkonto einzahlen und das Guthaben später für Freizeit abrufen. So sind selbst Sabbaticals von bis zu zwei Jahren möglich. Ihre Begründung: Die Lebenswirklichkeit der Menschen könne nicht mit einem Standardtarifvertrag abge-

Ärztin wollte sie werden. Hat sie auch auf Umwegen geschafft. Aber jetzt ist sie laut FAS „die teuerste Frau im DAX“, weil sie ihrem aktuellen Arbeitgeber, der Darmstädter Merck KG, auf Aktien als Topmanagerin jährlich 5,7 Millionen Euro wert sei. Belén Garijo kam 2011 zu Merck und ist bin-nen kürzester Zeit zur Chefin der Pharmasparte (Healthcare) aufgestiegen und das, obwohl sie kei-nen Doktortitel vor dem Namen trägt.

Unter den wenigen Frauen, die in einem DAX- 30-Unternehmen mitmischen dürfen, ist die 56-jährige Spanierin so etwas wie ein Solitär. Schon ihre Ausbildung und ihr Berufsweg wollen nicht in die Management-Schemata internationaler Kon - z er ne passen. In einfachen Verhältnissen aufge-wachsen, der Medizinstudienplatz fast am ver-schärften spanischen Numerus clausus gescheitert. Sie demonstriert mit anderen und besetzt längere Zeit den Unicampus, um danach doch Anatomie zu pauken. Der Traumberuf scheitert an der Realität: zu viele Absolventen, zu wenige freie Stellen. In einem Krankenhauskonzern heuert sie an, um an Klinikpatienten neu zugelassene Medikamente zu testen. Die Tür zur Pharmabranche steht fortan of-fen. Und Garijo tritt hindurch, arbeitet bei Abbott, Rhone-Poulenc und Sanofi.

Es gelingt ihr dabei, die Regeln der Medizin nicht zu vergessen: Symptome erkennen und dann die richtige Therapie verordnen. Was sie zum Beispiel ab 2011 bei Merck tut, indem sie teure Forschungsvorhaben mit wenig Aussicht auf kom-merziellen Erfolg ablöst und ehrgeizig verfolgt, wo-rauf so mancher sehnsuchtsvoll wartet: ein hilf-

Es soll Frauen geben, die ihr vorwerfen, dass sie sich mehr um ihre Karriere kümmert als um ihre fünf Kinder. Sie sei eine Rabenmutter, nörgeln die Medien und einige Neider. Ein großes Missverständnis! Sigrid Evelyn Nikutta ist Feuer und Flamme für ihre Kinder und die Familie – und für ihre rund 12.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, denen sie seit Oktober 2010 vorsteht. Damals wurden un-ter den BVG-Männern und einigen Verschmähten Wetten abgeschlossen, wann Nikutta wohl das Handtuch werfen und wieder ein Mann das Steuer übernehmen würde. Sie hatten die promovierte Arbeitspsychologin unterschätzt.

Nikutta sucht den Kontakt zur Basis, steht früh-morgens zum Schichtbeginn kurz nach 4 Uhr in einem Straßenbahndepot, lässt sich in Werkstätten Baureihen, Technik und Funktionsweise von Bus, Bahn und Fahrgastinformationssystemen erklä-ren. Sie hat „den Anspruch, die Dinge zu verstehen“. Und stellt jemand ihre Fachkompetenz in Abrede, „dann kontert sie mit Daten und Fakten, freundlich, aber präzise, auf den Punkt“, sagt eine, die vom ers-ten Tag an mit Nikutta zu tun hat und weiß, dass die Vorstandsvorsitzende eine Menge Sperrfeuer – meist von Männern – aushalten muss. Klein und zierlich von Statur heißt nicht, dass Nikutta klein beigibt. Die Vorstandsfrau versteht eine Menge von Transparenz, Kommunikation, Effizienz und von Menschenführung. Den Männern der BVG macht sie klar, dass Europas größtes Unternehmen des öf-fentlichen Personen- und Nahverkehrs keine Burschenschaft, sondern ein modernes, weltof-fenes, kommunales Unternehmen ist, in dem Frauen eine Schlosserei leiten können und Führungskräfte Elternzeit nehmen dürfen. Unter

quent weitergegangen. Und insgesamt habe sich die Branche sehr in Richtung Nachhaltigkeit gewan-delt. Grün ist ein Verkaufsar gument, besonders für ein Familienunternehmen, das nicht – wie bei-spielsweise Jack Wolfskin – auf Großinvestoren baut. Wer PU einsetzt, zahlt beim Einkauf der Rohstoffe das Dreifache, und nicht alle KundInnen honorieren das.

Andere aus der Branche achten die Nach-haltigkeitsbemühungen von Vaude, sagen aber auch, wer über den Online-Händler Amazon seine Produkte verkaufe, denkt nicht bis zu Ende. Denn Nachhaltigkeit müsse bis zum Verkaufsort gelten und auch die Arbeitsbedingungen der Versand-händler im Blick haben. Antje von Dewitz konterte – in einem Interview darauf angesprochen –, dass Vaude Lieferanten aussortiert habe, die gegen Sozialkodizes verstießen, so zum Beispiel das Paketunternehmen GLS. Auf Amazon zu verzich-ten, könne sich ihr Unternehmen aber nicht leisten. Man sei auch in den kommenden Jahren auf Wachstum angewiesen, weil bankenfinanziert, und stecke somit in einem engen Korsett aus Kenn-zahlen, müsse das Eigenkapital ausbauen.

Antje von Dewitz habe, darin sind sich BeobachterInnen einig, das Unternehmen stärker verändert als es je zuvor der Fall war. Ihr Erfolg brachte sie in die „Hall of Fame“ der Familienun-ternehmen, kein anderes Mitglied war bei seiner Aufnahme so jung wie sie. 95 Prozent der Sommer-kollektion 2017 werden frei von umweltschäd-lichen Fluorcarbonen (PFC) sein, und bis 2020 soll die Kollektion komplett ohne PFC produziert wer-den. Vaude erhielt einen Preis als familienfreund-licher Arbeitgeber, unter anderem für das „Kinderhaus“ , eine Art werkseigenen Kindergarten.

aber: nein! Ich habe nie Geld aus der Firma rausge-nommen, deshalb habe ich das Gefühl der ersten Million nie so gehabt. Ich habe immer dieses Sicherheitsdenken. Wir haben eine Eigenkapital-quote von 50 Prozent und noch nie eine Ausschüt-tung gemacht. Ich selbst bekomme ein Gehalt und eine Erfolgstantieme. (…) Ich erinnere mich auch, wie wir 2012 das Ziel von einer halben Milliarde Umsatz erreichten. Da haben wir ein Fest gefeiert und jeder der 500 internen Mitarbeiter hat ein aus-tralisches Gold-Nugget bekommen. Die waren je-weils 16.000 Euro wert.“

In Deutschland werden mehr als 961.000 Leiharbeiter beschäftigt, mit steigender Tendenz. Um Missbrauch von Leiharbeit und Werkverträgen durch Unternehmen einzudämmen, wurde im No-vem ber 2016 ein Reformvorschlag des Arbeits mi-nisteriums präsentiert. Das Gesetz tritt voraus-sichtlich am 01.04.2017 in Kraft. Leiharbeit ist in Deutschland ein umstrittenes Thema, bietet sie doch – aufgrund der Gesetzgebung – ausreichend Möglichkeiten der Ungleichbehandlung der Beleg-schaft. Ingrid Hofmann sieht die Einmischung von Politik und Gewerkschaften skeptisch. Jährlich werden 20 bis 25 Prozent der von ihr vermittelten LeiharbeiterInnen von Kundenfirmen übernom-men.

Azubis. „Meine Kunden bringen mir ihre Söhne, sie vertrauen unserem Betrieb.“ Landtechnik für über sieben Millionen Euro wird im Jahr umgesetzt. Sie hat saniert, neue Hallen und eine Kranbahn gebaut. Zum Landmaschinenhandel gehören neben dem Verkauf auch der Service, Ersatzteilbeschaffung, eine freie Autowerkstatt, TÜV und DEKRA – und na-türlich Engagement in der Region. Denn hier ist Röhncke verwurzelt, kämpft für moderne Straßenanbindungen und ärztliche Infrastruktur im ländlichen Raum.

tete Anzeige und nahm in Kauf, dass so alles öffent-lich wurde. Der Fernsehfilm „In der Falle“ erzählt diese ungewöhnliche Geschichte. „Madame Bovary in der deutschen Hochfinanz“, schrieb der Spiegel.

Ihren Reichtum haben die Quandts beständig gemehrt: In der Zeit des Nationalsozialismus profi-tierten sie von der Aufrüstung und retteten ihren Besitz über die Kriegszeit. Susanne Klatten spende-te in der Vergangenheit auch große Summen an die CDU und die FDP.

bildet werden. Die Berliner Zeitung schrieb 2012 in einem Porträt: „Wenn alle Kapitalisten so wären wie Nicola Leibinger-Kammüller, dann hätte der Kommunismus wohl nie wieder eine Chance.“ Die Gewerkschaften aber waren skeptisch.

reiches Krebsmedikament. Versprochen ist es ab 2018, ob es gelingt, wird sich zeigen.

Was sich schon zeigt, ist die preußische Disziplin der Spanierin: Pünktlich sei sie, rational, fleißig. Es wirkt abgegriffen, aber „Chefin sein heißt, viel zu arbeiten“, sagt sie der FAS. Wer international im Pharmageschäft mitmischen will, führt einen Wettlauf gegen die Zeit. Fristen einzuhalten, erfor-dert Disziplin. In ihrer Zuständigkeit geht es um knallharte Geschäftsinteressen. Von den Umsätzen im Konzern, derzeit mit 12,8 Milliarden Euro bezif-fert, ist sie für mehr als die Hälfte verantwortlich.

Dass sie es mit Professionalität und Geradlinig-keit so weit gebracht hat, verdankt sie auch der Rollenteilung mit ihrem Mann – auch er ein Mediziner –, der Abstriche im Beruf macht und die Vaterrolle für die beiden Töchter offenbar klaglos und beglückt hinnimmt.

Und Belén Garijo kann sogar noch weiter auf-drehen: Sie findet scheinbar auch Spaß daran, junge Frauen im Unternehmen zu fördern, ihnen als Mentorin zur Seite zu stehen. Warum, darüber kann man mutmaßen: Weil sie selber Töchter hat und weiß, wie viel Zugeständnisse man an Arbeit und Familie machen kann oder muss? Oder weil Garijo um ihren Studienplatz hart kämpfen musste? Oder weil es nur einem glücklichen Zufall zu verdanken ist, dass sie einen – anfangs nicht geliebten – Job für klinische Medikamentenstudien annahm, der ihr dann später die Welt und die Chefposten öffnete?

Oder weil sie weiß, dass einem manchmal Zufälle helfen, aber man auch immer an sich und seinen Kompetenzen arbeiten muss?

Nikutta muss keiner bis nachts im BVG-Tower an der Berliner Jannowitz-Brücke sitzen, um zu be-weisen, dass er oder sie die Arbeitsaufgaben bewäl-tigt und durchsetzungsfähig ist.

Den Frauen im Unternehmen macht Nikutta klar, dass sie mit ihr rechnen können, aber sich den-noch auch ins Zeug legen müssen. Denn bei inzwi-schen mehr als einer Milliarde Fahrgäste (2015) und einem Umsatzerlös von 821 Millionen Euro ist die BVG nicht nur das Herz der öffentlichen Mobilität und einer der wichtigsten Arbeitgeber in Berlin, sondern hat auch mehr als eine „Baustelle“. Zum Beispiel, wenn Busfahrer fehlen. Dann denkt Nikutta nach vorn, macht Unmögliches möglich. Gemeinsam mit der Gesamtfrauenvertretung und der Arbeitsagentur wurde ein Programm aufgelegt, langzeitarbeitslose Alleinerziehende als Busfah-rer in nen auszubilden. Frauen, denen keiner eine Chance gab, haben bei der BVG viereinhalb Monate gelernt und lenken seitdem zentimetergenau „die Gelben“ durch die Rushhour. „Nikutta verändert, gewaltlos, aber beharrlich“, sagt die Insiderin.

Gemeinsam mit ihren Vorstandskollegen und anderen Gremien hat die Vorstandsvorsitzende der BVG bis 2022 einen Frauenanteil von 27 Prozent in der Gesamtbelegschaft verordnet, in den Anforderungsprofilen für leitende Mitarbeiter festgeschrieben und somit nachweisbar und be-richtspflichtig. Warum es ausgerechnet bei der BVG funktionieren soll, fragt man sich fast besorgt. „Weil Nikutta willensstark und selbst Vorbild ist.“

Für einen Moment denkt man ketzerisch, viel-leicht wirklich keine schlechte Idee, dass auch sie als potenzielle Nachfolgerin für den ausgeschie-denen Bahn-Chef Grube gehandelt wird.

Die Zielstrebige

Die Solide

Die RetterinDie Systemtreue

Die RespektvolleDie Quereinsteigerin

Die „Rabenmutter“

Antje von Dewitz, Geschäftsführerin Vaude – ein Unternehmen für Bergsportausrüstung

Ingrid Hofmann, Geschäftsführende Alleingesellschafterin, I.K. Hofmann GmbH

Bärbel Röhncke, Geschäftsführerin und Gesellschafterin der SRB Westprignitzer Landmaschinen GmbH Susanne Klatten, BMW-Erbin, Susanne Klatten GmbH & Co KG

Dr. phil. Nicola Leibinger-Kammüller, Vorsitzende der Geschäftsführung der TRUMPF GmbH + Co KG

Belén Garijo, CEO Healthcare, Mitglied im Vorstand der Merck KGaA

Dr. Sigrid Evelyn Nikutta, Vorstandsvorsitzende, Berliner Verkehrsgesellschaft BVG

Outdoorkleidung mit höchsten ökolo-gischen Anspruchen – mit der Rezeptur werden die Textilien von Vaude zwar teurer. Aber solange es kundige KundInnen gibt, die das würdigen ...

Der Chefin einer Zeitarbeitsfirma gelang es, acht Jahre lang zum „Besten Arbeitgeber Deutschlands“ gekürt zu werden. Und das in einer Branche, in der die Wahrung von Arbeitnehmerrechten nicht gerade zu den Kardinaltugenden gehört.

Lass sie mal spielen – so dachte die Konkurrenz. Stattdessen spielte sie mit, in ihrem eigenen Stil.

Sie gilt als die reichste Frau Deutschlands. Hauptgrund: Susanne Klatten ist Teilhaberin und Aufsichtsrätin von BMW.

Mitarbeiter dürfen so viele Stunden ansparen, dass bis zu zwei Jahre Auszeit möglich sind.

Von der Medizinerin zum Vorstand eines Pharmakonzerns: Belén Garijo passt nicht in das Schema der gradlinigen Karrierefrau.

Als Vorstand eines kommunalen Großunternehmens arbeitet Evelyn Nikutta be-harrlich an der Erhöhung des Frauenanteils in der Gesamtbelegschaft der BVG.

„Man macht schließlich nicht deswegen Karriere, weil man intelligenter, kompetenter oder sozialer als andere ist, sondern weil man gemeiner, gieriger, aggressiver und schamloser ist.“

So schrieb Karen Duve 2014 in dem Buch „Warum die Sache schiefgeht“. Das männlich dominierte Feuilleton sorgte für einen Verriss. Tatsächlich klingt ihre These, dass Männer genetisch böse sind, ziemlich wild. Auch wenn Duve nicht den Umkehrschluss zog, dass Frauen per se gut seien.

Tatsache ist, dass von Frauen geführte Unternehmen seltener plei­tegehen. Zumindest hatte 2012 eine Studie des Bundeswirt schafts­ministeriums diesen Befund erbracht. Aber ebenso richtig ist: Die meisten Unternehmen werden ja von Männern geführt, also müssen die auch mehr Pleiten hinlegen als Frauen.

2014 wurden hierzulande rund 13 Prozent der Start­ups von Frauen gegründet. Daran hat sich nicht viel geändert. Auch nicht an dem Befund, dass von Frauen geführte Unternehmen in der Regel lang­samer wachsen und dass die Zahl der Chefinnen mit der Größe der Unternehmen sinkt. Für jedes Argument lässt sich ein Gegen­argument finden. Dass Frauen ihr Geld vorsichtiger anlegen und sich deshalb seltener verzocken, lässt sich damit begründen, dass sie im Schnitt nur halb so viel Geldvermögen haben, wie Männer. Deshalb ist es eine theoretische Frage, ob Lehman Sisters auch pleitegegan­gen wäre. Die Bank hieß nun mal Lehman Brothers. Weil wir Kapitalismus haben.

Wir können nicht beweisen, dass Unternehmerinnen besser wirt­schaften, nachhaltiger im Umgang mit menschlichen und natür­lichen Ressourcen umgehen, weniger externalisieren, unternehme­rischen Erfolg nicht aus dem Elend der Ausgebeuteten ziehen. Erfolg im Kapitalismus misst sich an Wachstum. Trotzdem lohnt sich ein Blick darauf, wie Unternehmerinnen es im Zweifelsfall schaffen, doch etwas besser zu machen.

* Karen Duve: Warum die Sache schief geht. Wie Egoisten, Hohlköpfe und Psychopathen uns um die Zukunft bringen. Galiani Berlin 2014, 182 Seiten, 12 €

Zusammengestellt von Kathrin Gerlof und Ina Krauß

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Page 5: OXI · ‚Traum-Seite‘ der OXI zu schreiben, dachte ich an eine Utopie. Ich überlegte, zu beschreiben, wie schön das Leben sein könnte. Solche Träume haben den Vorteil, dass

T I T E LT H E M A | M Ä R Z 2 0 1 7 | OX I | S E I T E 0 8 F R AU E N & G E L D | F R AU E N I M N E T Z

Der Gender Pay Gap von rund 21 Prozent scheint trotz starker Gewerkschaften in Beton gemeißelt. Warum ist das so?

Dort wo Tarifbindung herrscht und Tarifver träge existieren, ist auch der Gender Pay Gap deutlich niedriger. Dennoch haben wir Handlungs bedarf. Im Rahmen unserer Initiative „Auf geht’s – faires Entgelt für Frauen“ haben wir die Eingruppierungen und Entgelte von Frauen und Männern unter die Lupe ge-nommen. Sie stimmen überwiegend.

Die Ursachen für die Lücke sind vor allem, dass Frauen in höheren Entgeltgruppen häufig fehlen, bei Höhergruppierungen seltener be-rücksichtigt werden oder ihre Aufstiegs-chancen schlechter sind. Kurz gesagt, trotz guter Eingrup pie rungspolitik haben wir noch Handlungsbedarf in den Betrieben.

In den meisten Branchen, in denen mehr Männer als Frauen arbeiten, werden deut­lich höhere Löhne gezahlt als in frauendo­minierten Branchen. Müssen nicht alle Gewerkschaften gleiche Bezahlung und wirkliche Gleich stellung auf dem Arbeitsmarkt zu ihrem Megathema ma­chen?

Bei dem Thema passt kein Blatt zwischen IG Metall und unsere Schwestergewerkschaften im DGB. Gerade die Kolleginnen und Kollegen in den pflegenden und erziehenden Berufen ver-dienen mehr Anerkennung und eine bessere Bezahlung. Ob Abschaffung der Leichtlohn-gruppen oder das Ende der sogenannten Hausfrauenehe vor 40 Jahren – ohne organi-sierte ArbeitnehmerInnenvertretung hätten wir das heute nicht. Auch Themen wie die Frauenquote, mehr Entgelttransparenz oder das Rückkehrrecht von Teilzeit auf Vollzeit stünden ohne unseren Einsatz nicht auf der po-litischen Agenda.

Das Thema Arbeitszeit ist ein Schwerpunkt für die IG Metall. Spielt dabei auch die Forde rung eine Rolle, die Arbeitszeit gene­rell zu verkürzen?

Die IG Metall unterstützt das von Bundes-ministerin Manuela Schwesig vorgeschlagene Modell der Familienarbeitszeit. Wir wollen den Beschäftigten mehr Zeitsouveränität und Selbst bestimmung ermöglichen. Viele Beschäf-tigte möchten zeitweise kürzer arbeiten, um sich zum Beispiel um pflegebedürftige Eltern oder die Kindererziehung zu kümmern. Dafür sind Möglich keiten zur kurzen Vollzeit mit

Karin Schwendler leitet bei ver.di den Bereich Frauen- und Gleichstellungspolitik. Leichtes Spiel könnte man denken, schließlich gilt diese Gewerkschaft als Frauengewerkschaft. Hartes Brot ließe sich sagen, denn bekanntermaßen ha-ben es Arbeitgeber nicht so mit Lohngleichheit und -gerechtigkeit – weder vertikal noch hori-zontal. Nicht mal der öffentliche Dienst schafft es, den sogenannten Gender Pay Gap (Seiten 12/13) auf den Müll der Geschichte zu werfen.

Zugunsten aller Gewerkschaften lässt sich anmerken: Da, wo es Tarifverträge gibt, ist die Lohnlücke zwischen den Geschlechtern we-sentlich kleiner. Zu ihren Ungunsten muss fest-gestellt werden: Trotz starker Gewerkschaften in Deutschland, beträgt ebendiese Lohnlücke gesamtgesellschaftlich betrachtet noch immer 21 Prozent.

„Wir wären gern und sind in vieler Hinsicht auch politische Akteurin, wenn es darum geht, diese Ungerechtigkeit zu thematisieren und Vorschläge zu unterbreiten. Aber die Tarif-verträge bilden das noch immer nicht ab. Obwohl sich viel zum Besseren geändert hat. Früher waren Gewerkschaften Männerbünde und dementsprechend sahen die Tarifverträge auch aus. Da hat sich einiges getan.“

Karin Schwendler redet über Fehlanreize im Steuersystem, darüber, dass Teilzeitjobs im-mer noch mit Frauenarbeit übersetzt werden können, wie krass die Rente als Spiegelbild des Erwerbsle bens deutlich macht, dass Frauen weiterhin durch sozial ungenügend abgesicher-te Jobs, unfreiwillige Teilzeitarbeit, Minijobs, Scheinselbstständigkeit und Freiberuflichkeit, Wechselfälle des Lebens, zu denen hierzulande eben auch Kinder oder Scheidung oder famili-äre Pflegearbeit gehören, benachteiligt sind.

Seit September 2016 gibt es ein von ver.di initiiertes „Frauen-Bündnis gegen Altersar-mut“, das einen Kurswechsel in der Renten-politik verlangt – zum Beispiel durch die Fort-setzung der Rente nach Mindestentgelt-punkten. Das Bündnis fordert zudem eine deut-liche Verbesserung bei den Leistungen der Erwerbs minderungsrenten und dass für Zeiten, in denen jemand ALG II bekommt, wieder Rentenbeiträge von der Agentur für Arbeit ent-richtet werden.

Aber wie agiert eine Gewerkschaft, wenn die Tarifverhandlungen sozusagen stärkste Waffe im Kampf gegen Lohnungerechtigkeit sind? „Zum Beispiel, indem wir darauf drängen, dass die Löhne in den unteren Lohngruppen stärker steigen als in den höheren Bereichen.

Es wäre sicher interessant gewesen, zu wissen, ob eine Frauenbank sich auch einen solch ho-hen Gender Pay Gap leistet, wie er in den üblichen Geldhäusern gang und gäbe ist (OXI Seiten 12/13). Wahrscheinlich nicht, denn eine Frauenbank wür-de ja von Frauen geleitet. Das klingt tautologisch, ist es aber nicht. Schließlich sitzen – nur als Beispiel – nicht selten Männer auf den Chefredakteurssesseln von Frauenzeitschriften.

Astrid Hastreiter, Vorstand von FrauenVer-mögen, eines 2002 gegründeten Unternehmens mit Sitz in München, hat die Idee mit der Beantragung einer Banklizenz irgendwann nicht mehr verfolgt. „Damals war der Gedanke, einen Stellenwert zu haben und eine gewisse Größe zu re-präsentieren. Inzwischen hat sich die Bankenland-schaft geändert. Und das gute Image der Banken ist zum großen Teil verloren gegangen. Auch deshalb sind wir in der reinen Vermögensberatung und -vermittlung geblieben: mehr Unabhängigkeit, we-niger Krise, besserer Ruf, Unternehmensgröße mit Augenmaß.“

Das Augenmaß ist, wie die Diplom-Informati-kerin (mit Schwerpunkt Mathematik) sagt, etwas, was sich bei zu großem „Erlösedruck“, wie sie es nennt, schwer behalten lässt. „Der Erlösedruck bei Banken ist extrem hoch. Und es ist auch so, dass man für gute Finanzberatung keine Banklizenz braucht. Im Gegenteil, da fahren wir mit schlanke-rem Gewand besser, denn so können wir auch Frauen mit kleinerem Geldbeutel gut beraten.“ Schlankes Gewand heißt zum Beispiel keine Dienstwagen, keine Boni, aber „vernünftige Gehäl-ter“, wie Hastreiter sagt.

Rund 69 Prozent der berufstätigen Frauen ar-beiten zeitweise oder immer in Teilzeit und können deshalb nur geringere Rentenbeiträge erwerben. Aus dem Lohngefälle, das auch mit dem unverän-dert hohen Gender Pay Gap zu tun hat, wird ein Rentengefälle. Wer – nur zum Beispiel – 30 Jahre lang 2.500 Euro brutto verdient, kommt auf eine Rente von 673 Euro. Das ist lächerlich.

Die FrauenVermögen AG hat also vor allem eine Zielgruppe im Auge, die nicht zum Zocken zur Beratung kommt. Natürlich sind unter den Frauen,

Entgeltersatz leistungen notwendig.

Wer die Besten will, kann auf Frauen nicht verzichten, verkündete die IG Metall 2016. Was tun Sie, um mehr Frauen für die IG Metall zu gewinnen?

Unsere vielen Aktiven in den Betrieben wissen, wo bei den Kolleginnen der Schuh drückt, und unterstützen sie, wenn es um faire Entgelte, bessere Entwicklungsmöglichkeiten, die Vereinbarkeit von Arbeit und Leben oder um Qualifizierung und Weiterbildung für das digitale Zeitalter geht. Das kommt bei Frauen gut an. So sind inzwischen mehr als 407.000 Frauen Mitglied der IG Metall. Im Jahr 2016 wa-ren 20 Prozent aller Neuaufnahmen Frauen. Wir organisieren Frauen also fast im gleichen Verhältnis, in dem sie auch in unseren Branchen arbeiten.

Trotzdem bleibt die IG Metall eine Männerge werkschaft. Bleibt das alte Familienmodell – gut bezahlter Fachar­beiter in der Automobil industrie als „Familienernährer“ mit Gattin als „Hinzuver dienerin“ – nach wie vor bestim­mend?

Wir sind bunter, jünger und weiblicher ge-worden. Das spiegelt sich auch in unserer Politik wider. Unsere Arbeitszeitkampagne, bei der eine bessere Vereinbarkeit von Arbeit und Leben eine zentrale Rolle spielt, ist dafür ein gutes Beispiel.

Eines Ihrer Schwerpunktthemen ist die di­gitale Zukunft der Arbeit. Wie wollen Sie den Wandel gestalten?

Durch die Digitalisierung – vor allem durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz – wird es zu einer weiteren Verschiebung der Berufs-felder kommen. Frauen müssen genauso wie Männer über Weiterbildung und Qualifizierung fit für die digitale Arbeitswelt gemacht werden. Bisher gilt bei Qualifizierung und Weiter-bildung aber viel zu oft: Wer hat, dem wird gege-ben. Das darf nicht die Maxime sein. Qualifi-zierung muss es auch für Frauen geben, die in Teilzeit arbeiten. Bei ganztägigen Qualifizie-rungen muss dann eben auch die Kinder-betreuung geregelt sein. Wenn man auf solche Rahmenbedingungen nicht achtet, dann sind Frauen automatisch außen vor.

Das Interview führte Anne Graef

Denn gerade hier arbeiten ja viele Frauen, die dann von den Ergebnissen unserer Verhand-lun gen profitieren.“

Gibt es Versuche, in den Tarifverhand-lungen zu fordern, dass die Löhne von Frauen stärker steigen als die der Männer – und zwar so lange, bis die Lohnlücke geschlossen ist? „Eher nicht. Denn auch hier gilt: Dieser Schritt wäre so groß und umwälzend, dass die Arbeit-geber nicht bereit sind, ihn mitzugehen.“

An dem Punkt ist Karin Schwendler dann wieder bei der gesellschaftlichen Debatte und der Frage, wie viel eine Gesellschaft und jede und jeder Einzelne bereit ist, zum Beispiel für gute Pflege, zu bezahlen. „Wenn man weiß, dass heute viele bereits für ihre Ausbildung bezah-len müssen, anstatt dass die Gesellschaft ein Interesse daran formuliert, gut ausgebildete Fachkräfte zu bekommen, dann ist es mehr eine Frage der Politik denn der Tarifver-handlungen, diesen unsäglichen Zustand zu be-enden. Und es ist ein gesellschaftliches und po-litisches Problem, wenn so viele Menschen sich nicht mehr von einem Job ernähren können, stattdessen aufstocken oder in mehreren Jobs arbeiten müssen.“

Die typische – und dann eben auch oft nicht ganz befriedigende gewerkschaftliche Arbeit sei es, Jahr für Jahr in kleinen Schritten Verbesse rungen zu verhandeln. Das klingt nicht nach großem Wurf und auch nicht nach großen Sprüngen, aber vielleicht sind Gewerk-schaften dafür tatsächlich der falsche Adressat. Und möglicherweise ist ein Frauen-Bündnis, wie das gegen Altersarmut, dann ein guter Weg, aus dem „Verhandlungs-Dilemma“ raus und rein in die notwendige gesellschaft-liche Diskussion zu kommen. Und natürlich wiegen die Ansagen und Statements von ver.di, die da heißen: Wir sind für die Abschaffung des Ehegattensplittings. Wir sind und waren von Beginn an gegen die Hartz-IV-Gesetze. Wir sind für die Umwandlung der sogenannten Minijobs in sozialversicherungspflichtige Jobs. Wir wol-len, dass die Pflegeversicherung kein Teil-kasko, stattdessen eine Vollversicherung ist. Wir halten gegen den Trend, Ausbildungen zu Teilausbildungen umzufunktionieren, um Hilfs berufe zu schaffen und damit den Niedriglohnsektor zu zementieren. Alles keine Revolutionen oder Paradigmenwechsel, aber gute Verbesserungen auf jeden Fall. Das Interview führte Kathrin GerlofWEBINFOfrauen.verdi.de

die ihr Geld anlegen und nicht nur auf ein Tagesgeldkonto packen wollen, auch einige, die viel Geld haben. Im Verhältnis ist dies aber die gerin-gere Anzahl.

WAS MACHEN FRAUEN ANDERS, WENN SIE GELD ANLEGEN?Astrid Hastreiter: „Zunächst einmal sind sie vorsich-tiger und sicherheitsorientierter. Sie fragen eher als Männer, was ihr Geld macht, heißt, ihnen sind ethi-sche Aspekte und Nachhaltigkeit nicht gleichgül-tig. Man muss auch sagen, dass Frauen oft über weni-ger Fachwissen verfügen. Deshalb bemühen wir uns um verständliche Sprache und um größtmögliche Transparenz. Heißt, wir sagen zu jedem Produkt, das wir anbieten, deutlich, welche Eigenschaften und so-mit auch welche Vor- und Nachteile damit verbun-den sind. Und dann ist noch wichtig: Frauen sorgen meist zuerst für andere vor, ehe sie an sich denken. Da sind sie teilweise sehr extrem, sparen jeden Euro für die Ausbildung der Kinder und kümmern sich nicht um ihre Rente.“

Nachhaltigkeit ist vielen Kundinnen wichtig – gegenwärtig sind es rund 700, die von sechs Mitarbeiterinnen der FrauenVermögen AG betreut

werden. Es gebe aber gerade bei Fondsanlagen eine Zwei-Klassen-Gesellschaft, sagt Hastreiter. „Hier die explizit nachhaltigen und dort die anderen Fonds. Und nichts dazwischen. Wir erklären den Frauen also auch, was es heißt, wenn sie sich für das eine oder andere entscheiden. Für manche Anlageziele ist es schwierig bis unmöglich, durch-weg gute nachhaltige Produkte zu finden.“

Frauen, denen das völlig egal ist, seien eher sel-ten, der größte Teil der Kundinnen entscheidet sich für eine Mischung, und ein kleiner Teil will das Geld konsequent nachhaltig anlegen. Für alle aber gilt: „Sie müssen sorgsamer mit ihrem Geld umgehen, denn sie haben weniger. Der Raum für Spielgeld oder für eine Zockerkomponente ist oft sehr klein oder fehlt ganz. Die beruflichen Lebensläufe von Frauen sind meist nicht geradlinig. Frauen, die in fi-nanziell gleichberechtigten Partnerschaften ohne Kinder leben, haben es da vergleichsweise einfach. Für andere sieht die Zukunft im Alter – wenn sie sich nicht selbst kümmern – schlechter aus. Wir ge-ben in der Beratung dann immer den Anstoß, die richtigen Fragen zu stellen. Und ermutigen die Kundinnen natürlich, an sich und ihre Vorsorge zu denken, nicht immer nur an andere.“

Vor Jahren hat eine große Direktbank einmal die Depots von Frauen und Männern unter die Lupe genommen. Das Ergebnis zeigte: Die der Frauen sind die besseren. Auch deshalb, weil Frauen nicht dazu neigen, andauernd zu wechseln. Männer schon, auch wenn jeder Wechsel Kosten verursacht. Allerdings waren leider nur ca. 20 Prozent Depots von Frauen. Der Nachholbedarf ist also groß.

Die FrauenVermögen AG wächst langsam, aber stetig, sie verwaltet inzwischen Anlagen im Wert von rund 45 Millionen Euro. Inzwischen bringen die Mütter, die sich haben beraten lassen, ihre Töchter zu Astrid Hastreiter und ihren Kolleginnen. „Das zeigt uns, dass wir mit unserer wertschätzenden und ehrlichen Beratung richtig liegen. Wäre das nicht so, hätten wir nicht so viel Zulauf nur über Empfehlungen.“

WEBLINKwww.frauenvermoegen.de

Bunter, jünger, weiblicher ...

Große Aufgaben und kleine Brötchen

Über Geld sprechenWenn es um Lohngerechtigkeit, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, bessere Aufstiegschancen für Frauen geht, spielen Gewerkschaften eine wichtige Rolle. Aber was haben sie bisher geschafft und was können sie wirklich tun, um strukturelle Diskriminierung und Ungleichbehandlung zu beenden? OXI sprach mit Christiane Brenner, Zweite Vorsitzende der IG Metall, und Karin Schwendler, Leiterin des Bereiches Gleichstellung im Betrieb bei der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di.

Sechs Fragen an Christiane Brenner, IG Metall Im Gespräch mit Karin Schwendler, ver.di

In München sitzt die Frauenvermögensverwaltung AG und bietet unabhängige Beratung und Finanzkonzepte an. Ursprüngliche Idee war die Gründung einer Frauenbank. Aber es gibt gute Gründe dafür, dass es so nicht gekommen ist.

NETZWERK-TIPPS FÜR FRAUEN

Wie sich Frauen real, theoretisch und digital vernetzen

„Da ist es, das Defizit“, schreibt die Fotografin und Bildjournalistin Eva Hehemann in einem Blogbeitrag auf Watch-Salon, wo einige Kolleginnen des Journalistinnenbundes Medien und Gesellschaft beobachten. Die Frauenbewegung gehöre nicht zum Lehrplan, „ihre Protagonistinnen und vor allem ihre Netzwerke sind weitgehend unbekannt“.Wer nicht das Vorbild einer emanzipierten Mutter habe, schwebe im luftleeren Raum und glau-be, das Rad neu erfinden zu müssen.WEB: watch-salon.blogspot.de

Dabei drehen eine Menge Frauen bereits am Rad, real und digital.Im realen Leben verbünden sie sich zu losen Netzwerken oder festen Verbänden. Einige haben sich im Deutschen Frauenrat – Lobby der Frauen zusammengeschlossen. Mit zwei, drei Klicks wird man im Netz fündig, welcher Frauenverband innerhalb der Lobby mitspielt und der Politik frauenpolitisch auf die Finger klopft. Von sozialer über konfes-sionelle und politische Ausrichtung bis hin zu Berufs- und Karrierenetzwerken reicht die Spannbreite der Mitgliedsverbände.WEB: www.frauenrat.org

Vernetzung und Verbündung findet aber nicht nur real, sondern auch im Digitalen statt. Auch wenn die Männer dem Anschein nach die Deutungshoheit über politische, wirtschaftliche und kulturrevolutionäre Diskurse haben, ist unumstritten, dass Frauen äußerst aktiv, sichtbar und höchst kompetent in der digitalen Welt ihre Meinung und ihre Themen vertreten. Aber weil eine Auswahl nur eine Auswahl sein kann, sollte von unseren Empfehlungen niemand Vollständigkeit, politischen Proporz oder Ausgewogenheit er-warten. Wir empfehlen subjektiv-feministisch-kreativ-anarchistisch:

50 Prozent ist ein Projekt von Anne Roth und dokumentiert, dass und wie sehr Frauen als Rednerinnen bei Konferenzen, Podien, bei Talk-Shows und anderen öffentlichen Veranstaltungen unterrepräsentiert sind. Pro Veranstaltung wird genau gezählt und der Prozent-Anteil veröffentlicht. Mitmachen aus-drücklich erwünscht.WEB: 50prozent.speakerinnen.org

Wer schon immer wissen wollte, was es mit sperrigen Begriffen wie Gender Budgeting auf sich hat, aber lustlos aufgab, kann gerne hier stöbern. Kommt zwar aus Österreich, aber hat Methode, auch in Deutschland.WEB: blog.imag-gendermainstreaming.at

Die Idee klingt ganz simpel: ein Online-Magazin für Frauen mit professionellem Anspruch und intellektuellen und gesell-schaftlichen Ambitionen, mit Neugier auf Neues und wenig Zeit für Medienkonsum. Das alles will Saal Zwei.WEB: www.saalzwei.de

Angeblich sind die jungen Frauen ja anders drauf als ihre emanzipierten und karriere-geneigten Mütter, interessieren sich weniger für Wirtschaft und Politik, sondern nur für ihre Fingernägel. Das ist falsch, falsch und falsch, bewiesen die sogenannten Alphamädchen schon vor Jahren und gründeten die Mädchenmannschaft und später dann Frau Lila.WEB:maedchenmannschaft.netfraulila.de

Warum gelingt nur wenigen Frauen der Aufstieg? Was sind die Spielregeln der Macht und wieso entscheiden sich Frauen so oft da-gegen? Antworten darauf gibt’s bei Die Chefin.WEB: www.diechefin.net

Grandios ist die Idee der österreichi-schen Tageszeitung Der Standard, für Frauenthemen eine eigene Website zu haben: aktuell, politisch, vielfältig und mit dem Blick über die Donau, den Tellerrand und in die Welt. Das stände Spiegel und FAZ oder der Süddeutschen auch nicht schlecht.WEB: derstandard.at/dieStandard

(Ina Krauß)

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L Weder chaotisch noch kopflos:Frauenvermögen wird vorsichtig und sicherheitsorientiert gebildet.

Hier kommen Frauen nicht zum Zocken her.Sie wollen eher eine sichere Geldanlage.

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Page 6: OXI · ‚Traum-Seite‘ der OXI zu schreiben, dachte ich an eine Utopie. Ich überlegte, zu beschreiben, wie schön das Leben sein könnte. Solche Träume haben den Vorteil, dass

P R OT E K T I O N I S M U S

VON TINA GROLL

Sie werden Generation Y, Millennials oder Digital Natives genannt und mittlerweile gesellt sich schon Generation Z dazu: Berufseinsteiger bis etwa 35 Jahre. Schon 1993 tauchte der Begriff „Generation Y“ auf – in der Marketingzeitschrift „Advertising Age“. Der Jugend wird erzählt, sie pro-fitiere auf dem Arbeitsmarkt vom demografischen Wandel und davon, dass sie besser ausgebildet sei als jede Generation vor ihr. Und weil sie groß wur-den in einer digitalisierten und globalisierten Welt, seien Jugendliche krisenfest und hochflexi-bel: Denen muss die Arbeitswelt doch offenstehen! Unzählige Medienberichte und Bücher widmen sich dem Phänomen.

Die Jungen hätten andere Erwartungen an Erwerbsarbeit und trügen deshalb dazu bei, die Arbeitswelt erheblich zu verändern. Ihnen seien Freizeit und eine gute Work-Life-Balance wich-tiger als ein hohes Gehalt, heißt es. Arbeitgeber könnten sie nicht mehr mit Bonuszahlungen, Dienstwagen oder steilen Aufstiegschancen moti-vieren – vielmehr müssten sie ihnen Sinn anbieten und mehr Projektarbeit, in der die Jüngeren eher unternehmerisch denken und handeln können. Dann seien sie auch bereit, sich voll zu engagieren. Andernfalls wechselten sie schnell den Arbeitge-ber. Ein Leben lang bei einem Unternehmen zu ar-beiten, das wollten die Jungen heute ohnehin nicht mehr.

Was sie sollen, wird den Jugendlichen als eige-nes Wollen angedichtet. Dass Beschäftigte etwa wie kleine Unternehmer denken sollen, ist ein Managementkonzept, das sich seit Jahren nach und nach durchsetzt. Selbst in einfachsten Aus hilfs jobs wird den Mitarbeitern „Passion“ (Leiden schaft) und volle Identifikation mit dem Arbeitge ber abver-langt. Anstelle von Anweisungen geben Manager von heute Benchmarks vor – mehr oder weniger konkrete Ziele und ehrgeizige Zahlen. Klar, das suggeriert vermeintliche Freiheit. Aber wer das Ziel nicht erreicht, wird in der Regel sofort ausge-tauscht und erlebt den Arbeitsplatzverlust als per-sönliche Niederlage.

Bloß nicht zu scheitern, das ist die erste Sorge, die junge Menschen umtreibt. Hört man sich unter Schülern, Auszubildenden, AbiturientInnen, Stu-die renden und AbsolventInnen um, zeigt sich oft, dass die angeblich hoch flexible, wenig auf Sicher-heit und gutes Einkommen bedachte junge Genera-tion ein Mythos ist. Natürlich, es gibt jene – zumeist aus der soliden Mittelschicht kommend, mit Aka-de mi ker-Eltern und in gut-bürgerlichem Wohl-stand aufgewachsen –, die sich nur wenig Sorgen um ihren Berufseinstieg machen. Die nach dem Abitur zunächst auf Weltreise gehen, gesponsert von den Eltern. Die dann den richtigen Studien- oder Ausbildungsplatz finden und bei denen der Einstieg in die Arbeitswelt einigermaßen reibungs-los klappt. Oft auch mit Hilfe der guten beruflichen Kontakte der Eltern oder Eltern von Mitschü-lerInnen.

PREKÄRER EINSTIEGDoch wer nicht zur Ober- oder oberen Mittelschicht gehört, der erlebt meist anderes. Leistungsdruck hat für die meisten schon in der Schule mit da-zugehört. Angst und Unsicherheit begleiten die Berufsanfänger von heute bei der Ausbildungs- und Studienplatzsuche, anschließend in Studium und Lehre und erst recht, wenn es gilt, einen Platz in dieser Arbeits- und Leistungsgesellschaft zu finden. In keiner anderen Generation gab es schon in jun-gen Jahren so viel psychisch Kranke wie unter den heute Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Jeder Fünfte unter 25 Jahren litt schon einmal unter ei-ner psychischen Erkrankung, so eine Studie aus dem Jahr 2013, veröffentlicht im Deutschen Ärzteblatt wurde: Essstörungen, Depressionen und Burn-out rangieren dabei ganz oben.

Die optimistischen Klischees über die junge Generation decken sich auch nicht mit den Daten vom Arbeitsmarkt. Schon seit Jahren verläuft der Berufseinstieg, egal ob für AkademikerInnen oder ArbeiterInnen, vor allem prekär. Immerhin 260.000 Jugendliche und junge Erwachsene hän-gen in Qualifizierungsmaßnahmen zwischen

Schule und Ausbildung fest, oft ohne Aussicht auf einen Berufsabschluss.

Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt in Deutsch-land – in Europa insgesamt sieht es viel düsterer aus – zwar nur 5,9 Prozent, aber die Aufstiegschan-cen haben sich stark verschlechtert. Waren früher vor allem Sonder- und HauptschülerInnen von Arbeits losigkeit und Chancenlosigkeit beim Berufs ein stieg betroffen, sind heute auch immer mehr junge Erwachsene mit einem mittleren Schul abschluss dabei. Das Bildungs- und Berufs-bildungssystem ist in den letzten Jahren auch nicht durchlässiger, sondern verschlossener geworden. Kinder aus Arbeiterfamilien haben heute sechsmal schlechtere Chancen, den Aufstieg zu schaffen, als Kinder aus Akademikerfamilien.

Hinzu kommt: Viele hangeln sich selbst nach ei-ner Berufsausbildung oder einem Studium zu-nächst von Praktikum zu Praktikum, halten sich mit Mini- und Midijobs, Zeitarbeit und Kurzver-trägen über Wasser. Die Ausbeutung in unbezahl-ten oder massiv gering bezahlten Praktika ist dank der Einführung des Mindestlohns zwar geringer geworden, dafür steigt der Anteil an prekärer Beschäftigung in Form von selbstständiger Pro-jekt- und Crowdarbeit. Erste Studien von Gewerk-schaf ten zeigen [siehe: www.innovation-gute-ar-beit.verdi.de/themen/crowdwork]: Die gezahlten Honorare reichen oft kaum, um den Lebens-unterhalt zu decken. Junge Erwachsene, die sich mit prekären Beschäftigungen durchhangeln, tau-chen in keiner Arbeitsmarktstatistik auf.

OHNE SICHERHEITEine junge Frau beschreibt ihre Situation so: „Der Einstieg war unglaublich hart. Momentan arbeite ich Teilzeit als Personaldisponentin und verdiene 2.100 Euro brutto – ein Traum, wenn ich an die letz-ten Jahre zurückdenke, und doch nichts, das zum Beispiel eine vernünftige Altersvorsorge zulässt.“ Von einer Vollzeitstelle kann die Mittzwanzigerin indes nur träumen. Bisher hatte sie nur befristete Verträge. „Wenn ich Pech habe, wird der nächste Vertrag wieder nur auf ein Jahr befristet, verlän-gerte Probezeit nenne ich das. Alternativen gibt es nicht. Eine Familie zu gründen, würde ich mir unter diesen Umständen im Leben nicht zutrauen. Immer noch habe ich das Gefühl, in diesem Schwebezustand zwischen Studium und ‚richtigem‘ Job zu verharren. Und ich hoffe nur inständig, nicht abzustürzen.“

BerufseinsteigerInnen, besonders in teuren Großstädten, leben daher länger als früher in Wohngemeinschaften; oder bleiben gleich zu Hause. Viele würden zwar gern eine eigene

Wohnung haben, aber das Einkommen reicht oft nicht aus. „Man konkurriert mit gut verdienenden Vierzigjährigen um den knappen Wohnraum. Viele Vermieter wollen sogar einen unbefristeten Arbeitsvertrag sehen, das kann ich aber nicht bie-ten“, erzählt ein 29-jähriger Leiharbeiter aus Berlin.

Ein sicherer Job und ein auskömmliches Einkommen sind wichtig, wenn junge Menschen entscheiden, ob sie eine Familie gründen oder nicht. Es hat oft weniger mit Hedonismus und Selbstverwirklichung zu tun, wenn viele junge Paare erst Ende 30 Eltern werden. Die fehlende Sicherheit wirkt auch auf andere Lebensbereiche, etwa die Frage, ob man fürs Alter vorsorgen kann.

Der unbefristete Arbeitsvertrag, für viele junge Leute ist er so etwas wie der Schlüssel zum „echten“ erwachsenen Leben. Aber selbst in Zeiten des Fachkräftemangels werden heute viele Auszu-bildende nicht mehr übernommen. Laut DGB-Ausbildungsreport 2016 wusste fast die Hälfte der Auszubildenden im dritten Lehrjahr zur Jahres-wende 2015/16 noch nicht, ob sie übernommen wird. Ein Drittel der Übernahmezusagen war nur befristet [www.jugend.dgb.de/ausbildung]. Für die Allermeisten beginnt nach der Ausbildung eine Zeit der unsicheren Jobsuche. Sogar bei den HochschulabsolventInnen nimmt eine befristete Beschäftigung zu – selbst in Mangelberufen wie bei Ingenieuren steigt der Anteil von Fristverträgen kontinuierlich. (Quelle 1)

Ein besonders großes Problem ist befristete Beschäftigung an Hochschulen und in der Wissenschaft; daran hat auch die Novellierung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG) kaum etwas verändert (Quelle 2). Sagenhafte 90 Prozent der wissenschaftlichen Mitarbeiter-Innen an deutschen Hochschulen hängen in einer Befristung. Das sind schon fast Verhältnisse wie in der Kunst, auf Bühnen und in Konzertsälen.

Der Arbeitsgesellschaft geht nicht die Arbeit aus. Mehr wurde noch nie gearbeitet – von den Maschinen. Menschliche Arbeitszeit hingegen wird weniger gebraucht. Den jungen Leuten eine heile Arbeitswelt vorzugaukeln, soziale Verwerfungen mit Marketing-Sprech zu übertün-chen, das wird die Probleme nicht lösen, noch nicht einmal verdrängen.

QUELLEN1 www.ingenieurkarriere.de/magazin/beratung/

befristete­arbeitsvertraege­bei­ingenieuren 2 www.zeit.de/karriere/beruf/2015­12/

zeitvertraege­wissenschaft­reform­kommentar

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Alle sollen wie kleineUnternehmer denken.Der Chef steckt dann immer schon im Kopf.

FOTO: MALCHEREK

Rosige Klischees, graue FaktenWerbewirksam tönt es seit einigen Jahren aus der Wirtschaft: Die Jungen werden die Arbeitswelt verändern und erleben rosige Zeiten auf dem Arbeitsmarkt. Die Wirklichkeit ist anders.

W E R M U S S S I C H M I T B E F R I ST E T E N ST E L L E N Z U F R I E D E N G E B E N ?Anteil der Befristeten an allen abhängig Beschäftigten der Altersgruppe (in Prozent)

Abhängig befristet Beschäftigte ohne Auszubildende in Prozent der abhängig befristet und unbefristet Beschäftigten (ohne Auszubildende) in der Altersgruppe von … bis unter … Jahren. Die Angaben beziehen sich auf das Jahr 2015.Quelle: Statistisches Bundesamt (2016); Aufbereitung: WSI

J U G E N D & A R B E I T

Gesamt> 65

60-6555-60

50-5545-50

40-4535-40

30-3525-30

20-2515-20

41,3

27,4

20,0

12,2

8,26,2

4,7 4,3 3,5 3,6

7,39,3

K R E AT I V W I RTS C H A F T

VON PETER GRAFE

Was sie nicht alles sein soll: „eine Zukunftsbranche mit Modellcharakter für zukünftige Arbeits- und Lebensformen“, der Vorreiter „in eine wis-sensbasierte Ökonomie in Deutschland“, so das Bundeswirtschaftsministerium schon 2009. Gemeint sind elf Teilbranchen von der Filmwirt-schaft bis zur Werbebranche, die mit knapp 150 Milliarden Euro pro Jahr mehr umset-zen als die chemische Industrie. Ihr besonderes Kennzeichen: Die Produkte kreativen Schaffens haben einen Doppelcharakter, sie sind Kultur- und Wirtschaftsgüter zugleich.

Die KKW umfasst insbesondere Aktivitäten, die professionell mit Deutung und Gestaltung zu tun haben. Und deren Anteil an der Gesamtwirtschaft wächst stetig. Die großen Agenturen, Produzenten, Verlage, Veranstalter und Vermarkter gehören dazu. Die kommen wirtschaftlich gut zurecht, wenn sie die Digitalisierung nicht verschlafen. Es gibt aber auch die „kleine Kulturwirtschaft“, die künstlerischen und publizistischen Freiberufler, die Klein- und Kleinstbetriebe. Sie wollen entweder eigene Ideen auf den Markt bringen oder liefern den großen zu – auch den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Sie springen ein, wenn die Festangestellten in Urlaub oder krank sind oder einzelne Projekte mehr als das feste Personal er-fordern. Aber viele dieser unentbehrlichen Krea-tiven erreichen, von wenigen Stars abgesehen, das Existenzminimum nur mit Mühe.

ARME POETEN SIND UNTER UNSEs ist ein Dauerproblem: Die Kulturwissenschaftler Karla Forbeck und Johannes Wiesand veröffentlich-ten vor etwa 40 Jahren (1975) den Künstlerreport, eine systematische Untersuchung mit dem Ergebnis: Die in Kulturberufen Tätigen leben im Schnitt in schlechter wirtschaftlicher Lage. Einige Jahrzehnte später, im Dezember 2007, berichtete die Enquetekommission „Kultur in Deutschland“ über die bescheidenen Einkommen der KünstlerInnen. Und forderte Abhilfe.

Die wäre weiterhin nötig: Überdurchschnittlich viele, die in dieser Branche arbeiten, sind Selbstständige und ein extrem hoher Anteil hat ei-nen Jahresumsatz von weniger als 17.500 Euro. Sie müssen sich mit berufsfremden Arbeiten wie Kellnern oder Taxifahren finanzieren, werden von Familienangehörigen oder der öffentlichen Hand unterstützt. Spitzwegs arme Poeten sind noch im-mer unter uns, auch als Musikerinnen oder Bildhauer, und es gibt nach wie vor Verfechter der reinen Kultur, die dies für die eigentlich angemes-sene Existenzform der Künstler halten — und jede erwerbswirtschaftliche Orientierung für verwerf-liche „Ökonomisierung“.

Aber: Kunst und Kultur waren und sind immer auch Wirtschaftsgüter, die Kulturschaffenden auch Gewerbetreibende – früher bei Hofe und heu-te auf dem Markt. Es werden in diesen Berufen, ins-besondere an Kunstakademien und Musikhoch-schulen, viel mehr junge Menschen ausgebildet, als öffentlich finanzierte Kultureinrichtungen brau-chen. Sie müssen entweder den Beruf wechseln oder ihre Qualifikationen anderweitig vermarkten. Was kann der kleinen Kulturwirtschaft helfen? Wie könnte es dem „kreativen Prekariat“ künftig besser gehen?

„KREATIVPILOTEN“ WERDEN GEFÖRDERTDer Bund, viele Länder und Städte machen seit 2007 einiges – beispielsweise angeschoben von der „Initiative Kultur und Kreativwirtschaft“ des

Bundes: Die Kreativen und KünstlerInnen kön-nen sich beraten lassen, wie sie sich am besten sel-ber helfen, wie sie ihre Fähigkeiten realistisch einschätzen und Dienstleistungen und Produkte entwickeln, die am Markt eine Chance haben — um ein halbwegs stabiles Einkommen zu errei-chen. Besonders gefördert und ausgezeichnet werden jedes Jahr 32 „Kreativpiloten“, meist jun-ge Freiberufler oder Kleinstunternehmen, deren Geschäftsideen als beispielhaft gelten; ihnen wird vor allem geholfen, ihre Ideen wirtschaftlich um-zusetzen, Kooperationspartner zu finden und sich zu vernetzen.

Ein Beispiel: die „Morethanshelters GmbH“, ein interdisziplinäres ExpertInnen-Team, das lebens-werte Bedingungen für Geflüchtete und hilfsbe-dürftige Menschen schaffen will. Die Firma entwi-ckelt gemeinsam mit den Betroffenen Unter-künfte, die deren Leben besser entsprechen als die bisherigen: „Es ist unser Ziel ein individuelles Zuhause für die Menschen zu schaffen, die in eine Notsituation gezwungen wurden, und ihnen die Chance zu geben, sich selbst zu helfen.“ „Moret-hanshelters“ betreibt Unterkünfte in Jordanien, Nepal, Griechenland und Hamburg, plant gerade ein neues Projekt in Syrien. Die traditionellen Hilfsorganisationen tun sich etwas schwer, solch innovative neue Konzepte einzubeziehen. Es gibt gelegentliche Kooperationen, doch ohne selbst or-ganisierte Finanzierung und Spenden könnte „Morethanshelters“ nicht aktiv sein.

Gute Beratung ist oft hilfreich. Viel weiterrei-chend wäre es jedoch, wenn sich systematisch Menschen mit künstlerisch-kreativen und tech-nisch-handwerklichen Qualifikationen zusam-mentun würden, und genau das von der Politik und den öffentlichen Verwaltungen gefördert würde: „Die Kreativen“ arbeiten mit, wirtschaftliche, sozi-ale und ökologische Probleme zu lösen, so wie die „Morethanshelters GmbH“. Nach der Devise von Albert Einstein: „Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstan-den sind“, muss man die Arbeit an bisher ungelös-ten Aufgaben anders angehen als bisher.

BEGEGNUNGEN EINER NEUEN ART„Kulturpolitik ist keine Instanz, der das Wohlergehen selbstständig arbeitender Künstler am Herzen liegt“, schrieb der Kultursoziologe Dieter Haselbach 2014 in den „Kulturpolitischen Mitteilungen“. Das sollte nicht so bleiben. Die Kulturpolitik müsste also über ihre bishe-rige kleine Welt hinausdenken: Den freiberuf-lichen Künstlerinnen, Musikern, Autorinnen und Filmemachern helfen, dass sie mit ihren Fähigkeiten auch jenseits der Künste ihr Geld verdienen, indem sie z.B. an Mobilitätskonzepten, Umweltschutz, Gesundheitsvorsorge, bei der Integration von Flüchtlingen, beim Bau neuer Stadtteile und an Produkten mitarbeiten, die nachhaltig und zugleich marktfähig sind.

Das erfordert Begegnungen einer neuen Art: Wenn bei solchen und anderen Projekten traditio-nelle mittelständische Handwerker und Unterneh-mer auf Kreativwirtschaftler treffen, begegnen sich zwei kulturell fremde Welten. Die entspre-chenden Hindernisse lassen sich am besten über-winden, wenn sie zusammen an konkreten Projekten arbeiten, also miteinander Erfahrungen sammeln. Die öffentliche Hand kann und sollte mit entsprechender Auftragsgestaltung diese Koope-ra tions fähigkeit einfordern, denn heterogene Teams sind innovativer und produktiver als homo-gene. Auf die Ergebnisse dürfte das Publikum sehr gespannt sein.

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Die Kunst, der Markt, das GeldDie Kultur- und Kreativwirtschaft (KKW) gibt es nicht wirklich. Sie ist ein statistisches Konstrukt – und politisch gewollt, weil sie wirtschaftliche Dynamik und Arbeitsplätze bringen könnte. Sehr viele der Musiker und Designer, Schauspielerinnen und Journalistinnen, Maler und Architektinnen kommen wirtschaftlich aber nur mit Mühe über die Runden. Das müsste nicht so bleiben.

So definiert die Ministerialbürokratie offiziell die­se Branche: „diejenigen Kultur­ und Kreativun­ter nehmen ..., die überwiegend erwerbswirt­schaftlich orientiert sind und sich mit der Schaffung, Produktion und/oder medialen Verbreitung von kulturellen/kreativen Gütern und Dienstleistungen befassen“. Zur Kultur­ und Kreativwirtschaft (KKW) zählen: Architektur­ und Buchmarkt, darstellende Künste, Design­ und Filmwirtschaft, Games und Software, Kunst­und Werbemarkt, Musikwirtschaft, Medien und privater Rundfunk.

In der gesamten Branche arbeiten etwa 1,6 Millionen Erwerbstätige (2015). Etwa 834.000 von ihnen sind sozialversicherte Arbeitnehmer­Innen. Rund 250.000 sind selbstständig und ha­ben einen Jahresumsatz über 17.500 Euro, rund 210.000 haben einen Jahresumsatz von unter 17.500. Von diesen 1,6 Millionen Erwerbstätigen der Branche sind rund 430.000 tatsächlich in Kreativberufen tätig. Zugleich sind in der Gesamt wirtschaft — über die KKW hinaus — mehr als 1,5 Millionen Kreative unterwegs.

BEISPIELE FÜR KREATIVPILOTEN▪ Baukind UG, Berlin; baukind.de. Ein Team

aus Architekten und Produktdesignern, das sich auf den Bau von Kitas spezialisiert hat.

▪ Bluespots Productions e.V., Augsburg; bluespotsproductions.de. Ein multimediales Theaterensamble, das eigene Stücke insze­niert und Auftragsarbeiten realisiert.

▪ Identitätsstiftung GmbH, Hannover; id­stif­tung.de. Eine Art Agentur auf den „Spielfeldern“ Stadtraum und Beteiligung, Arbeit und Veränderung, Gesundheit und Soziales, Game Thinking und neue Kommunikation.

▪ Morethanshelters GmbH , Hamburg; morethanshelters.org/de/. Macht aus

Überlebensräumen menschenwürdige Lebensräume (siehe Infos im Artikel).

▪ The Electric Hotel, Kassel; the­electric­hotel.com. Vereint Design,

Kunst und erneuerbare Energien, bietet ein mobiles Minikraftwerk für Festivals und an­dere Großevents.

LITERATUR Lisa Basten: Wir Kreative! Das

Selbstverständnis einer Branche. Verlag Frank &Timme, 2016. 162 S., 16,80 Euro

Herbert Grüner u.a.(Hrsg.): Kreative gründen an­ders!: Existenzgründungen in der Kulturwirtschaft. Ein Handbuch. Transcipt Verlag, 2009. 250 S., 23,80 Euro, gebraucht ab 5 Euro

Frédéric Martel: Mainstream. Wie funktioniert, was allen gefällt: Über die ökonomischen Strategien der Unterhaltungsindustrie. Knaus Verlag 2011. Gebraucht ab 8,99 Euro

Rolf Heinze/ Fabian Hoose: Perspektiven der Wirtschaftsförderung für den Kultur­ und Kreativsektor. Friedrich Ebert Stiftung 2012. library.fes.de/pdf­files/wiso/09366.pdf

WEBLINKSDaten zur KKW in Deutschland:

kultur­kreativ­wirtschaft.de/KuK/Navigation/Initiative/monitoring­und­studi­en.html

Wettbewerb Kultur­ und Kreativpiloten: kultur­kreativpiloten.de

Portal zur Förderung europäischer KKW­Kooperationen

www.creative­europe­desk.de

Zusammenstellung: Peter Grafe

INFORMATIONEN

Kreativberufe undihre Branche

DER AUTOR

Peter Grafe ist Soziologe und Publizist. Stationen: Gründungsmitglied der TAZ, freiberuflicher Journalist, Politikberater, Referatsleiter im Bundeskanzleramt. Arbeitet an einem Buch über politische Kultur und politi-sierte Emotionen. Sein jüngstes Buch „ArmeRoma, böse Zigeuner“ (Ch. Links Verlag, 3. Aufl.2013) handelt auch vom Leben sogenannterWirtschaftsflüchtlinge.

Großkünstler Salvador Dali hinterließ ein Vermögen von über 50 Millionen US-Dollar. Das Gros der Kreativen in Deutschland muss mit weni-ger als 20.000 Euro im Jahr zurechtkommen. FOTO : R O G E R H I G G I N S

Page 7: OXI · ‚Traum-Seite‘ der OXI zu schreiben, dachte ich an eine Utopie. Ich überlegte, zu beschreiben, wie schön das Leben sein könnte. Solche Träume haben den Vorteil, dass

M Ä R Z 2 0 1 7 | OX I | S E I T E 1 2 S O L ÄU F T D E R L A D E NMINDESTENS 21 PROZENT UNGERECHTIGKEIT

DIE AUTORIN

Angelika Knop ist freie Journalistin und Moderatorin in München mit den Schwerpunktthemen Recht, Arbeit, Unternehmensführung, Frauenpolitik und Medien. Außerdem lehrt sie in der Journalistenaus­ und Weiterbildung.

01 Die unbereinigte LohnlückeFrauen bekommen in Deutschland rund ein Fünftel weniger Stundenlohn als Männer – zumindest im Durchschnitt. Laut Statistischem Bundesamt (Destatis) erhielten Arbeitnehmerinnen 2015 im Mittel 16,20 € pro Stunde, Arbeitnehmer dagegen 20,59 €. Bei einer 40-Stunden-Woche ist das schon im Monat ein Verlust von rund 755 Euro, im Jahr von knapp 9.000. Diese Entgeltlücke ist eine Tatsache. Ob sie eine Ungerechtigkeit oder gar Diskriminierung be-deutet, darüber gehen die Meinungen auseinander. Denn dieser unbe-reinigte Gender Pay Gap sagt noch nichts darüber aus, ob es auch unterschiedliche Bezahlung in gleichen Berufen und Positionen gibt. Klar ist jedoch: Bei gleicher Arbeitszeit verdienen weibliche Beschäftigte im Schnitt 21 Prozent weniger als männliche.

04 Die Unterschiede zwischen Ost und WestIn den alten Bundesländern fällt der Entgeltunterschied fast dreimal so hoch aus wie in den neuen, obwohl sich die Werte leicht annähern. Frauen im Westen erhalten 23 Prozent, im Osten 8 Prozent weniger. In einigen Regionen dort verdienen sie sogar mehr als Männer. Mögliche Erklärungen dafür sind: Bei den geringeren Löhnen im Osten gibt es geringere Unterschiede. Auch Männer arbeiten dort eher in schlech-ter bezahlten Dienstleistungsjobs, weil gut bezahlte Industriearbeitsplätze fehlen. Außerdem sind Frauen im Osten länger und dauerhafter erwerbstätig und erreichen ähnliche Positionen und Gehälter wie ihre Kollegen.

07 Die schwarzen BranchenschafeDie Lohnlücke variiert ganz erheblich zwischen den einzelnen Wirtschaftszweigen. Der größte Unterschied, 32 Prozent, existiert laut Statistischem Bundesamt bei den freiberuflichen, wissenschaft-lichen und technischen Dienstleistungen. Das sind Kanzleien und Unternehmensberatungen, Architektur- und Ingenieurbüros sowie Wissenschaft, Forschung, Werbung und Marketing. Dicht darauf fol-gen Banken und Versicherungen. Dort haben Frauen die schlechtes-ten Aufstiegschancen – und verdienen im Schnitt 30 Prozent weniger als Männer, weil sie unter anderem eher am Schalter arbeiten als in der Führungsetage. In den gering entlohnten Branchen Verkehrswesen oder Wasserversorgung sind es dagegen nur vier bis fünf Prozent. Insgesamt beträgt die Lohnlücke in der Privatwirtschaft 24, im Öffentlichen Dienst sechs Prozent.

08 Die FamilienfalleGleichberechtigte Partnerschaften verfallen oft in alte Rollenmuster, sobald Kinder da sind. Männer arbeiten dann eher mehr, Frauen weni-ger, pausieren und gehen zumindest zeitweise in Teilzeit. Laut der Langzeitstudie Sozio-oekonomisches Panel des DIW erhalten Mütter im ersten Jahr, nachdem sie ins Berufsleben zurückgekehrt sind, sie-ben Prozent weniger Lohn oder Gehalt als Frauen ohne Kinder. Im Laufe der folgenden zehn Jahre verschwindet der Unterschied je-doch. Bei Frauen allerdings, die länger als die gesetzliche Elternzeit zu Hause bleiben, beträgt die Differenz anfangs sogar 16 Prozent und liegt zehn Jahre nach dem neuen Arbeitsbeginn noch bei fünf Prozent. Ob das daran liegt, dass diese Mütter weniger ehrgeizig ihre Karriere verfolgen oder der Arbeitgeber das nur annimmt, klärt die Studie nicht. In Teilzeit sinken die Stundenlöhne. Auch für Väter führt ein Jahr Teilzeit zu Lohneinbußen von etwa drei Prozent, errechnete das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).

09 Die Berufswahl und der Wert der Arbeit„Frauen wählen die falschen Branchen und Berufe“, so ein häu-figer Vorwurf. Der Girl‘s Day oder MINT-Initiativen sollen sie dazu anregen, verstärkt technische Berufe zu ergreifen, die bes-ser bezahlt sind als solche in der Dienstleistungs- oder Gesundheitsbranche. IT-Fachkräfte verdienen in der Regel gut – der Unterschied zwischen Männern und Frauen ist in diesem Beruf relativ gering. Dass es die Branchenwahl alleine nicht richtet, zeigt aber der Finanz- und Bankensektor, wo mehr als die Hälfte der Mitarbeiter weiblich ist – und fast ein Drittel weni-ger verdient als die männlichen Kollegen. Steigt der Frauenanteil in einer Branche, dann sinken dort oft die Durchschnittslöhne, weil die Frauen eher niedriger bezahlte Stellen einnehmen. In unserer Gesellschaft und bei der Lohnfindung hat die Verantwortung für Menschen derzeit einen niedrigeren Wert als die Verantwortung für Maschinen oder Algorithmen. Erzieherinnen oder Pflegekräfte werden aber ge-sucht – die Bewertung orientiert sich also nicht nur an Angebot und Nachfrage.

10 Die gläserne DeckeMit Führungsverantwortung steigt das Gehalt. Frauen gelangen aber seltener in Führungspositionen. Das Betriebspanel des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung IAB zählte für 2014 einen Frauenanteil von 43 Prozent unter den Beschäftigten in der Privatwirtschaft. Doch auf der obersten Führungsebene ist nur jeder vierte Chef eine Chefin, auf der zweiten sind es zwei von fünf. Tendenziell geschieht das jedoch eher in kleinen Betrieben und weni-ger lukrativen Branchen, wo selbst die Spitzengehälter moderat sind. Das könnte einer der Gründe sein, warum der Gender Pay Gap sehr hoch ist in leitenden Positionen und besonders bei jenen mit Hochschulabschluss. Da die Bezahlung von MitarbeiterInnen und obersten Führungskräften ohnehin immer weiter auseinander driftet, trägt es deutlich zur Lohnlücke bei, wenn Frauen beruflich nicht so aufsteigen wie Männer.

11 Die Verhandlung um das GehaltDass Frauen nicht genug Geld für ihre Arbeit verlangen, stimmt nur teilweise. Studien zeigen, dass Frauen durchaus ähnlich häufig nach Gehaltserhöhungen fragen wie Männer – offenbar nur nicht so erfolg-reich. Und sie steigen oft schon mit niedrigeren Gehältern ein. Nach Forschungsergebnissen der Internationalen Hochschule Bad Honnef (IUBH) sind sie selbstkritischer als Männer und stufen ihre Kompetenzen eher geringer ein. Besonders Mütter mit kleinen Kindern verlangen weniger Geld, um sich nicht unter Druck zu setzen und dem Arbeitgeber keine Angriffsfläche zu bieten. Andere Untersuchungen zeigen aber auch, dass selbst Chefinnen Frauen we-niger Geld anbieten als männlichen Kollegen. BWL-Professorin Isabell Welpe (TU München) hat erforscht, dass Frauen als „schwierig“ gelten, wenn sie hart um ihr Gehalt verhandeln, und deswegen im Einstellungsgespräch auch schon mal durchfallen.

05 Die Unterschiede zwischen Stadt und LandIn Großstädten profitieren Frauen unter anderem von einem besseren Angebot an gut bezahlten Arbeitsplätzen, Kinderbetreuung und weni-ger traditionellen Rollenbildern. Meist ist der Gender Pay Gap dort kleiner – mit Ausnahmen, haben Bundesagentur für Arbeit und das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung herausgefunden: Im ländlichen Bereich ist die Differenz sogar 10 Prozent höher als im Durchschnitt. In der Region Ingolstadt zum Beispiel, dem Standort von Audi, beträgt der Pay Gap satte 40 Prozent. Hier profitieren offen-bar vor allem Männer von den gut bezahlten Jobs im KFfz-Gewerbe.

06 Europa im VergleichBeim Gender Pay Gap gehört Deutschland zu den Schlusslichtern der EU. Nur Estland (28 %), Österreich (23 %) und die Tschechische Republik (22 %) haben höhere oder ähnliche Werte. Der Schnitt liegt bei 16,1 %. Am kleinsten ist die Entgeltlücke in Slowenien (3 %), gefolgt von Malta (5 %) und Italien (7 %). In den zwei letztgenann-ten Ländern ist allerdings mehr als die Hälfte der Frauen nicht erwerbstätig und fällt aus der Statistik. Eine Erklärung ist: Wer wenig verdient, bleibt mangels Kinderbetreuung lieber daheim, gutverdienende Frauen gehen auch arbeiten, wenn sie Familie haben. Ein geringer Gender Pay Gap ist also nur ein Zeichen für Gleichberechtigung, wenn andere Faktoren hinzukom-men. Denn wenn alle Frauen zu Hause bleiben, betrüge er null. In Schweden, dem Land mit der höchsten Frauenerwerbsquote, liegt er bei knapp 14 Prozent. Dort müssen Firmen alle drei Jahre schriftlich berichten, wie sie Entgelte für Frauen und Männer bemessen und welche Unterschiede es gibt.

02 Die DatenerhebungDas Statistische Bundesamt errechnet den Gender Pay Gap mit reprä-sentativen Stichproben. Mehr als 40.000 Betriebe müssen dafür je-weils Arbeitszeiten und Bruttoverdienste aus ihrer Personal -ver waltung und Entgeltabrechnung melden – vierteljährlich in der Verdiensterhebung und alle vier Jahre detaillierter in der Verdienststrukturerhebung mit etwa 1,9 Millionen Beschäftigten. Die letzte stammt von 2014, ausgewertet ist jedoch erst die von 2010. Nicht erfasst werden dabei private Haushalte, Landwirtschaft und Betriebe mit maximal zehn Mitarbeitern. Ohnehin außen vor bleiben Selbstständige. Studien des Deutschen Instituts für Wirtschafts-forschung (DIW) zeigen jedoch, dass sich bei anderen Einkommens-arten sogar noch größere Lücken zwischen Frauen und Männern auftun.

03 Die bereinigte LohnlückeDer Unterschied von 21 Prozent in der Bezahlung lässt sich unter an-derem damit erklären, dass Männer häufiger besser bezahlte Berufe und Branchen wählen, in leitenden Positionen sind und nicht so oft in Mini-Jobs mit niedrigen Stundenlöhnen arbeiten. Rechnet man sol-che Faktoren heraus, erhält man die sogenannte „bereinigte Lohnlücke“: Sieben Prozent beträgt dann der Entgeltunterschied bei Männern und Frauen im gleichen Job bei gleicher Erfahrung und Arbeitszeit. Diesen „nicht erklärbaren Rest“ sehen die einen als Beweis für Lohndiskriminierung von Frauen. Andere argumentieren, er könnte gegen Null schrumpfen, wenn man nur genügend weitere Faktoren heranzöge. Dagegen spricht, dass schon beim Berufseinstieg Entgeltunterschiede existieren – obwohl junge Frauen heute oft besser qualifiziert sind als Männer.

12 Die RentenlückeWer lebenslang weniger verdient, bekommt später weni-ger Rente. Beim Gender Pension Gap klafft in Deutschland eine Riesenlücke von 57 Prozent. Frauen erwerben im Durchschnitt nur gut zwei Fünftel der Alterssicherung von Männern – Witwenrenten nicht eingerechnet. Das liegt nur zum kleineren Teil an der Lohnlücke: Frauen sind häu-figer gar nicht erwerbstätig, nehmen eher Auszeiten oder arbeiten Teilzeit. Die Mehrheit der Minijobberinnen ist gar nicht rentenversichert. Frauen schneiden auch schlechter bei betrieblicher und privater Altersvorsorge ab, so eine Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts WSI der Hans-Böckler-Stiftung. (Siehe auch Seite 2 in dieser Ausgabe)

15 Die Unternehmen & die TariflöhneImmer weniger Unternehmen zahlen Tariflöhne. Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung und des Münchner IFO-Instituts ist es noch rund ein Drittel der Betriebe, das wiederum knapp zwei Drittel der Arbeitnehmer in Deutschland beschäftigt. Es sind also zunehmend die Unternehmen, die Löhne festlegen oder verhan-deln – und damit auch die Lohnlücke. Die wächst ohne Tarifbindung und mit der Betriebsgröße – von 19 Prozent in Firmen unter 20 Beschäftigten auf 25 Prozent bei bis zu 1.000. Erst bei noch größeren Unternehmen nimmt sie wieder leicht ab. Anonymisierte Bewerbungen, Frauenförderung, Kinder-betreuung, flexible Arbeitszeiten, Führung in Teilzeit – all diese Maßnahmen können den Pay Gap verkleinern. Unternehmen, die es ernst meinen, können ihre Gehaltsstrukturen auch kritisch überprüfen – zum Beispiel mit dem von Bundesregierung und Antidiskriminierungsstelle empfohlenen und geförderten Messverfahren „Lohngleichheit im Betrieb – Deutschland“ (Logib-D) oder dem aus der Kritik daran entwickelten „Entgeltsgleichheits-Check“ (eg-check), frei verfügbar im Internet. Teilnehmer berichten von Aha-Effekten nach der Analyse. Insgesamt gilt es, klare Regelungen ohne verborgene Diskriminierung für Arbeitsentgelt zu entwickeln.

16 Die Entgeltgleichheit ist EU-Grundrecht„Jeder Mitgliedsstaat stellt die Anwendung des Grundsatzes des glei-chen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit sicher.“ So steht es in Artikel 141 des EG-Vertrages und stand so ähnlich schon in den Gründungsverträgen der Gemeinschaft. Laut Europäischem Gerichtshof (EuGH) ist dieser Grundsatz Ausdruck eines fundamentalen Menschenrechts. Betroffene können dieses Recht auch vor ihren nationalen Gerichten einklagen, so wie es der-zeit die ZDF-Redakteurin Birte Meier versucht.

Die Gleichbehandlungs-Richtlinie von 2006 verpflichtet die Mitgliedsstaaten, dass „jede mittelbare und unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts in Bezug auf sämtliche Entgeltbestandteile und -bedingungen beseitigt“ wird. Die Zahl der Gerichtsverfahren, insbesondere der erfolgreichen, ist trotz einiger spektakulärer Erfolge überschaubar. Denn es lässt sich lange strei-ten, welche Arbeit „gleichwertig“ ist und welche Faktoren in die Bezahlung einfließen.

17 Die Lohngleichheit im deutschen RechtSeit 2006 legt § 7 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) in Deutschland fest, dass Beschäftigte wegen ihres Geschlechts nicht benachteiligt werden dürfen. Bekommt eine Frau weniger Lohn, nur weil sie eine Frau ist, ist das verbotene Diskriminierung. So urteilte das Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz in Mainz im Fall der Firma Birkenstock. Weil der Schuhfabrikant Frauen bis 2013 über einen Euro weniger Stundenlohn als Männern im gleichen Job gezahlt hatte, muss-te er einer Arbeiterin für vier Jahre mehr als 9.000 Euro entgan-genen Lohn plus 6.000 Euro Entschädigung nachzahlen und bot ihren Kolleginnen ebenfalls Ausgleichszahlungen an. So direkt ist die Diskriminierung jedoch selten, sondern eher mittelbar.Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes sammelt dazu Beschwerden. Scheinbar neutrale Gründe für Gehaltsabschläge treffen oft vor allem Frauen, wenn zum Beispiel Teilzeitbeschäftigte – in der Regel weiblich – vom Weihnachtsgeld ausgeschlossen werden.

18 Die Transparenz bei der BezahlungUm ihr Recht zu erstreiten, muss eine Frau erst einmal wissen, dass sie schlechter bezahlt wird als ein Kollege mit gleicher oder gleich-wertiger Arbeit – und das dann vor Gericht auch belegen. Der Nachweis fällt schwer, wenn Tarife oder Arbeitsplatzbeschreibungen fehlen, Gehalt Verhandlungssache ist und Verträge Verschwiegenheitsklauseln enthalten. Die Bundesregierung will den Lohnvergleich nun mit dem Entgelttransparenzgesetz erleichtern. In Unternehmen ab 200 Mitarbeitern sollen die Beschäftigten alle zwei Jahre Auskunft über Grundgehalt und Zulagen einer vergleichbaren Kollegengruppe verlangen können, unterstützt vom Betriebsrat, so-fern es einen gibt. Mittlere und große Kapitalgesellschaften, die nach dem Handelsgesetzbuch zu einem Lagebericht verpflichtet sind, müssen darin dann über Entgeltgleichheit berichten. Da ein Bericht für alle anderen Betriebe freiwillig bleibt, wird das Gesetz wohl nur dann maßgeblich zur Lohnangleichung beitragen, wenn genügend Frauen ihren Auskunftsanspruch wahrnehmen und dann ihr Recht verlangen. Wer fragt, macht sich unbeliebt, wer klagt, umso mehr.

19 Der Equal Pay DayEin medienwirksamer Aktionstag kurbelt die Debatte um geschlech-tergerechte Bezahlung an – in den USA schon seit 30, in Deutschland seit neun Jahren. 2008 übernahm der Verband Business Professional Women BPW Germany mit Unterstützung des Deutschen Frauenrates die Red Purse Campaign aus den USA. Die Rote Tasche steht für das Minus der Frauen im Geldbeutel. Das Bundesfrauenministerium för-dert die Kampagne, seit 2011 gibt es auch eine Geschäftsstelle in Berlin. Die informiert nicht nur über die nackten Zahlen, sondern auch über Ursachen und Strategien gegen die Lohnlücke. Der Entgeltunterschied ist in dieser Zeit allerdings nur um etwa zwei Prozentpunkte gesunken.

2017 findet der Equal Pay Day in Deutschland am 18. März statt. Bis zu diesem Tag des Jahres arbeiten Frauen quasi umsonst, denn ihnen fehlt rund ein Fünftel des männlichen Durchschnittslohns. Die etwa 76 unbezahlten Tage und damit auch das Datum ergeben sich, wenn man die 365 Tage im Jahr mit der aktuellen Lohnlücke von 21 Prozent multipliziert. Diese plakative Methode führt dazu, dass der Equal Pay Day in verschiedenen Ländern an unterschiedlichen Tagen begangen wird – je nachdem, wie groß der Gender Pay Gap ausfällt. Unmittelbar vor dem Termin verkündet das Statistische Bundesamt die neuen Zahlen fürs vergangene Jahr.

20 Die Folgen der Ungleichbehandlung

Der Gender Pay Gap ist ein Teufelskreis. Wenn Frauen weniger verdie-nen, ziehen sich insbesondere Mütter häufig zeit- oder teilweise aus dem Arbeitsleben zurück, wodurch sie wiederum weniger verdienen und weniger in ihre Rente einzahlen. Alleinerziehende Frauen haben das größte Armutsrisiko, Altersarmut wird zunehmend weiblich. Das belastet die Sozialsysteme und verschwendet Potenziale. Die Benachteiligung trifft auch Männer, die nicht den Rollenerwartungen entsprechen und zum Beispiel Teilzeit arbeiten. Die ungenutzten Chancen verringern letztlich das wirtschaftliche Potenzial des Landes. Ungerecht ist es sowieso.

21 Die Argumente der GegnerNatürlich steht der Gender Pay Gap im Feuer der Kritik. Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (WI) in Köln rechnet zum Beispiel vor, dass die bereinigte Lohnlücke nur 3,8 Prozent betrage. Denn alle Unterschiede ergäben sich aus „individuellen Entscheidungen“ der Frauen – und die seien „rein privat“. Die Wissenschaftler führen die Faktoren der bereinigten Lohnlücke an und formulieren sie als Vorwurf an die Frauen: Sie wählen die falschen Jobs, Branchen, zu lange Familienpausen und verhandelten nicht richtig übers Gehalt. Abgesehen davon, dass das IW auf andere Zahlen zurückgreift als das Statistische Bundesamt, ist die Sicht sehr einseitig: In der Wirtschaft läuft alles prima – nur die Hälfte der Bevölkerung macht etwas falsch. Nein. Wenn Kinderbetreuung fehlt oder nicht passend ist, wenn Unternehmenskulturen weiß und männlich geprägt sind, Arbeitszeiten unflexibel und Arbeitsbewertungen aus den 1960er-Jahren fortgeschrieben werden, dann sind das Zwänge und nicht rein „private“ Entscheidungen.

13 Die Ziele der PolitikHohe Ziele, wenig Erfolg – das ist die Bilanz der Bundesregierungen beim Thema Equal Pay. Seit 2002 liegt der Verdienstunterschied zwischen Frauen und Männern konstant bei über 20 Prozent. Das 2008 unter Angela Merkel erklärte Ziel, ihn bis zum Jahr 2010 auf 15 Prozent zu senken, wurde deutlich verfehlt. Die nun angepeilte Halbierung auf 10 Prozent bis 2020 ist in vier Jahren kaum zu erwarten. Bisher setzen Maßnahmen vor allem darauf, das Verhalten von Frauen und Paaren zu verändern: Girl‘s Day, Vätermonate und Elterngeld Plus, Förderung des Wiedereinstiegs nach der Familienpause. Erst in jüngster Zeit nimmt man zaghaft die Unternehmen in die Pflicht: Mit der Frauenquote, die aber nur für die Aufsichtsräte von rund 100 Unternehmen verpflichtend ist, und dem ge-planten Entgelttransparenzgesetz. Einen kleinen Erfolg scheint die Einführung des gesetzlichen Mindestlohnes 2015 gebracht zu haben, von dem insbesondere Frauen profitierten. Außerdem gibt das Vergaberecht Bund, Ländern und Gemeinden die Möglichkeit, Aufträge nur an Firmen zu verge-ben, die sich zur Entgeltgleichheit verpflichten.

Den größten Schritt, um die Lohnlücke zu schließen, tut die öffentliche Hand als Arbeitgeber. Hier gibt es Tarife ohne Verhandlungsspielraum, Führung in Teilzeit und flexible Arbeitszeitmodelle – und dadurch nur einen Gender Pay Gap von sechs Prozent.

14 Die Rolle der TarifparteienDie Arbeitgeberverbände gehören zum Nationalen Aktionsbündnis des Equal Pay Day. Anstatt selbst Initiativen voranzubringen, for-derten sie bisher vor allem mehr staatliches Handeln bei Kinderbetreuung, Elternzeit, Steuer- und Sozialversicherungsrecht. Das Gesetz für mehr Lohntransparenz lehnen sie als „Bürokratiemonster“ ab. Immerhin: Ökonominnen von der Univer-sität Erlangen-Nürnberg und dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) haben analysiert, dass die Lohnlücke in tarifge-bundenen Betrieben deutlich geringer ist als in Firmen ohne Tarifvertrag. Sie führen das darauf zurück, dass Frauen sehr stark in unteren Lohngruppen vertreten sind, die besonders von Tarifverträgen profitieren. Enthielten Tarifverträge bis in die 1970er-Jahre noch pauschale Lohnabschlagsklauseln für Frauen, setzen sich die Gewerkschaften heute für Gleichberechtigung ein. Doch weil sich alte Vereinbarungen oft hartnäckig halten, sind Tarifverträge immer noch nicht frei von mittelbarer Diskriminierung: Wenn zum Beispiel Betriebszugehörigkeit mit Zulagen honoriert wird, verlieren überwie-gend Frauen durch Familienpausen Geld. Wenn der ungelernte Lagerarbeiter durch Zulagen für körperliche Arbeit mehr Lohn be-kommt als die ausgebildete Verkäuferin, die immerhin auch den ganzen Tag steht, ist das fragwürdig. Wenn psychische Belastung oder Kommunikationsfähigkeiten bei der Arbeitsbewertung keine Rolle spielen, trifft das eher frauentypische Berufe.

BILDER: 123RF

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VON PIT WUHRER

„Es ist, als wäre eine Bombe explodiert“, sagt Simona Caselli, „noch nie war die Lage so drama-tisch.“ Caselli ist normalerweise nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen. Die energische Frau war jah-relang Präsidentin des Genossenschaftsverbands Legacoop von Reggio Emilia gewesen, bevor sie als Agrarministerin in die Regierung der norditalie-nischen Region Emilia-Romagna berufen wurde; zuvor hatte sie als Direktorin des genossenschaft-lichen Finanzdienstleisters CCFS gearbeitet. Sie hat also schon einiges erlebt und viele heikle Situationen gemeistert. Aber jetzt? „Auf die massiven und anhal-tenden Umbrüche infolge der Finanzmarktkrise von 2008 haben wir keinen Einfluss“, sagt sie.

Die Krise ist nicht zu übersehen und hält bis heute an. Seit 2007 hat sich die Arbeitslosigkeit in Italien auf zwölf Prozent verdoppelt, über ein Drittel aller Jugendlichen sucht verzweifelt nach einem Job, das Bruttosozialprodukt liegt immer noch deutlich unter dem des Jahres 2007. Beson-ders dramatisch sieht es im Bausektor aus. Caselli schildert die Misere so: „Viele Banken geben keine Kredite mehr. Die Regierung hat schon vor Jahren einen Investitionsstopp verfügt. Und die Behörden bezahlen, falls überhaupt, erst nach Jahren für er-brachte Leistungen.“

DEN FOLGEN DER FINANZMARKTKRISE AUSGELIEFERT

Das bringt die stärksten Unternehmen ins Schlingern. Stark waren sie ja gewesen, die Baugenossenschaften in der Provinz Reggio. Doch in den vergangenen vier, fünf Jahren schlitter-te eine Kooperative nach der anderen in die Insolvenz. Zuerst die Cooperativa Muratori Reggiolo (CMR) mit ihren 230 GenossenschafterInnen, dann das von ehemaligen Partisanen gegründe-

SchülerInnen die Grundprinzipien kollektiven Wirtschaftens lernen; sie unterstützt die musische Ausbildung von Migrantenkindern und antifaschis-tische Erinnerungsarbeit. Aktivitäten, über die re-gelmäßig der — selbstverständlich genossenschaft-lich organisierte — regionale TV-Sender Telereggio berichtet. Es gibt also in der Region eine ausge-prägte genossenschaftliche Kultur und Tradition.

„SIE ORIENTIEREN SICH VIEL ZU SEHR AM MARKT.“

Die Genossenschaften erwirtschaften heute rund ein Drittel des regionalen Bruttoinlandsprodukts. Viele von ihnen wachsen wie andere Unternehmen, pro-duzieren und handeln nicht nur in der Region, son-dern weit über sie hinaus. Und: In den vielen Jahren ist in der Region eine Kultur des Kooperierens ent-standen: In den Kindergärten der Reggio-Pädagogik – die nach der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg und der Resistenza von Partisaninnen entwickelt worden war – lernen die Drei- bis Sechsjährigen spielend den Wert von Solidarität und Gemeinsinn kennen. In lokalen Schulen steht Gemeinwirtschaft auf dem Lehrplan. Und wer spä-ter mit einer Unternehmensgründung liebäugelt, findet bei Legacoop Rat.

Luca Iori ist unzufrieden mit der Stimmung: „Die Genossen schafts bewegung hat längst ihre Ideale verloren.“ Früher habe es zwei Arten von Kooperativen gegeben: die sozialistischen der Arbeiterbewegung, also die roten, und die weißen Kooperativen, welche in Konkurrenz dazu von der katholischen Kirche gegründet worden seien. Jahrzehntelang habe es, so Iori, „deutliche Unterschiede zwischen den beiden Traditionen ge-geben“. Diese seien heute verschwunden. Der Grund: Alle Kooperativen, ob einst rot oder weiß, „orientieren sich allesamt viel zu sehr am Markt und haben dessen Regeln übernommen.“

te Bauarbeiterkollektiv Orion (500 Mitglieder), schließlich das auf Hafen-, Bahnstrecken- und Fabrik bau spezialisierte Unternehmen Coopsette (600 GenossenschafterInnen) mit noch etwa 350 Millionen Euro Umsatz (2013). Und jetzt wankt auch noch die 1904 gegründete Großbaukooperative Unieco mit ihren 1.500 Arbeitereigentümern, die vor Kurzem noch einer anderen Kooperative unter die Arme gegriffen hat – ebenfalls ein Unternehmen mit einem Umsatz von mehreren Hundert Millionen Euro.

Die Unruhe ist gegenwärtig beträchtlich. Dass sogar einst erfolgreiche Kooperativen wie die Industriegenossen schaft CCPL ums Überleben kämpfen, hat viele verunsichert. Für die GenossenschafterInnen stehen nicht nur ihre Pflichteinlagen auf dem Spiel, sondern auch das Ersparte, das sie – wie in Italien oft üblich – der Kooperative zur Verfügung gestellt haben. Andere Genossenschaften bangen um ihre Unterstützungs-kredite. Und die Repräsentant Innen der Genossen-schaftsbewegung fürchten um den Ruf ihres solida-rischen Wirtschaftsmodells.

IM KERN STABIL: 200 GENOSSENSCHAFTEN MIT 600.000 MITGLIEDERN

Doch Krisen bestimmen nicht das ganze Bild. Kleinere, hochspezialisierte Baukooperativen wie das 1890 von Malern gegründete Unternehmen Tecton (Marktführer bei der Restaurierung von Kirchen und Palästen) oder das Architekten- und Ingenieurskollektiv Sicrea zeigen sich trotz der Schwierigkeiten erstaunlich robust. Und andere Kooperativen können sowieso nicht klagen. Sicher: Bei den regionalen Konsumgenossenschaften wie Coop und Conad halten sich die Wachstumsraten in Grenzen, aufgrund der stark gesunkenen Einkommen; aber das Wachstum hält an. Die

AUF DER SUCHE NACH NEUEN IDEALEN

Dass es auch anders gehen kann, erläutert Iori am Beispiel von Mag6, einer Finanzgenossenschaft, die er vor etwa dreißig Jahren mitbegründet hat. Mittlerweile gehören rund 1.400 Menschen dieser Kooperative an, die bisher etwa 2,5 Millionen Euro an knapp 200 politische und kulturelle Initiativen verliehen hat. In den Genuss dieser zinsgünstigen Kredite kommen – wie beim großen genossenschaft-lichen Finanzdienstleister CCFS – nur Gruppen oder Betriebe, die bei Mag6 selbst Mitglied sind. Anders als CCFS vergibt Mag6 jedoch Gelder nur an Projekte, die keine finanziellen Interessen verfolgen und die, so Iori, „hierarchiefrei sind, selbstverwaltet funktionieren und sich für eine Verbesserung der Lebensverhältnisse aller einsetzen“. Seine Kritik an den großen Kooperativen: Sie setzten schon zu lan-ge und zu sehr auf Wachstum.

Kooperativen in anderen Branchen und vor allem im Dienstleistungssektor sind wirtschaftlich so stark wie eh und je.

Im Dachverband Legacoop Reggio Emilia – er wurde bereits 1886 gegründet – sind knapp 200 Konsum- und Produktionsgenossenschaften mit insgesamt etwa 600.000 Mitgliedern organisiert. Manche von ihnen sind – wie auch anderswo – im Handel und der Landwirtschaft tätig: Viele Parmigiano-Reggiano-Käsereien funktionieren als Kooperativen, ebenso wie große Weinkellereien, beispielsweise La Riunite, weltweit größte Lambrusco-Produzentin. Sie gehören allerdings nicht den Beschäftigten, sondern den Zulieferern, also den Milch- und Weinbauern. Andere hingegen befinden sich im Eigentum der Belegschaften. Es sind Theater- und Kulturinitiativen, Speditions- und Busunterneh men, Übersetzungsbüros, Fit-ness studios, Restau rant ketten wie die Cooperativa Italiana Ristora zione (mit 5.500 Genossenschaf-

DIE CHEFS ERHALTEN DAS 3,5-FACHE DES AM NIEDRIGSTEN BEZAHLTEN ARBEITERS

Da will Simona Caselli nicht widersprechen: „Wir haben uns zu sehr darauf verlassen, dass alles so weitergeht wie in den vergangenen Jahrzehnten.“ Zu sehr auf ein Mehr des bereits Bestehenden ge-setzt. Das ändere sich jedoch seit einigen Jahren: So biete beispielsweise die Coop-Supermarktkette inzwischen an Schulen und Hochschulen Bildungs-programme für soziales und ökologisches Konsu-mieren an. Die Bau-Kooperativen konzentrier-ten sich stärker auf den Bau von günstigeren und energiesparenden Wohnungen. Und CCFS wolle künftig in allen Branchen vor allem nachhaltige Entwicklungen finanzieren.

Noch aber steht das traditionelle Geschäft im Vordergrund. Dass auch das unverändert mit Erfolg betrieben werden kann, zeigt die Großgenossen-schaft Coopservice, deren Mitglieder Gebäude und Krankenhäuser reinigen, Wachdienste schieben, Geld transportieren, und in der Arzneimittel-logistik tätig sind. Vor drei Jahren hat Coopservice in Reggio ein modernes Medikamentenlager auf-gebaut, um mit dem zentralen Einkauf und Vertrieb von Arzneimitteln die Kosten für das regionale Gesundheitswesen zu senken.

„Das nützt den Spitälern und sichert uns Hunderte von Arbeits plätzen“, sagt Luca Barracchi, der Leiter des Verteil zentrums. „Die Jobs sind gut bezahlt. Und die obersten Chefs verdienen maxi-mal das 3,5-Fache des am schlechtesten entlohnten Arbeiters.“ Das funktioniert? Besser als in Unter-nehmen, die sich auf die Rendite konzentrieren, meint Barracchi: „In den letzten beiden Jahren ist unsere Gesamtbeleg schaft von 16.000 auf beinahe 18.500 ange wachsen.“ Und: Von ähnlichen Zuwächsen berichten auch die meisten anderen Genossenschaften von Reggio.

weiter auf S. 16 >>>

terInnen), IT-Firmen, Landmaschinenhersteller, Reinigungs- und Wachdienste, Landvermessungs-kollektive. Dazu kommen kooperativ organisierte Altenheime, Behindertenwerkstätten, Gasthäuser oder Herber gen.

30.000 BESCHÄFTIGTE UND 30.000 EIGENTÜMER

„Über 30.000 Beschäftigte arbeiten hier in den Produktionskooperativen. Und die gehören ih-nen“, sagt Simona Caselli. Die Belegschaften wäh-len ihre Vorstände und Geschäftsführungen, fas-sen auf Vollversammlungen Beschlüsse zu den wichtigsten unternehmerischen Fragen, bestim-men über die Höhe der Einlagen und entscheiden über die Ausschüttung von Gewinnen; die Löhne sind auf dem Niveau der jeweiligen Branche, die Arbeitsplatzsicherheit ist auch in der Krise deut-lich höher als in klassischen privatwirtschaft-lichen Unternehmen. Und diese Kooperativen sind eng vernetzt: über das eigene Geldinstitut Cooperativo Finanziario per lo Sviluppo (CCFS) beispielsweise, das mittlerweile in ganz Italien aktiv ist, aber seinen Sitz unverändert in Reggio hat. Die Genossenschaft wurde 1904 ursprüng-lich gegründet, um eine regionale Eisenbahn zu bauen und zu betreiben. Heute verwaltet die CCFS die Überschüsse der 200 Genossenschaften und reicht sie mit einem minimalen Zinsaufschlag an Kooperativen weiter, die Kredite benötigen. Sie ver-fügt über Einlagen in Höhe von rund einer Milliarde Euro; ihr Verwaltungsaufwand ist minimal.

Auch die Kooperative Boorea wurde (im Jahr 2000) von allen anderen Kooperativen gegründet. Sie finanziert sich aus Beiträgen der Mitglieder und Spenden. Sie verfolgt allgemeine kulturelle und soziale Ziele: Sie fördert Projekte in Palästina, Mosambik oder Argentinien; organisiert in den Schulen der Region Unterrichtseinheiten, in denen

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Wein, Käse, Kultur und eine andere Welt des WirtschaftensWohl nirgendwo sonst in Europa gibt es eine solche Dichte an Genossenschaften wie in der norditalienischen Provinz Reggio Emilia – trotz der anhaltenden Krise, die viele Baukooperativen verschlungen hat.

KO O P E R AT I V E N I N I TA L I E N

Die Genossenschaften erwirtschaften heute fast ein Drittel des regionalen Brutto-sozialprodukts.

Früher gab es die „roten“ und die „weißen“ Kooperativen.Heute orientieren sich fast alle am Markt.

Computerarbeitsplatz in der Lagerverwaltung bei Coopservice.

Die Zahlen sind beeindruckend. Eine Milliarde Menschen seien Mitglied in einer Genossen­schaft, heißt es auf der Webseite der Internatio­nal Co­operative Alliance (ICA), dem Weltdach­ver band mit Organisationen in 95 Ländern. Aber was besagt das? Schließlich führt die ICA in ihrer Liste der größten Kooperativen auch die deut­schen Rewe­ und Edeka­Unternehmen, die mit den Grundsätzen der Genossenschafts­bewegung nun wirklich nicht mehr allzu viel im Sinn haben.

Entsprechend bombastisch fallen weitere Angaben der ICA aus. Gesamtumsatz der 300 größten Coops: 2,2 Billionen US­Dollar. Davon setzen die formal genossenschaftlich organisier­ten Banken und Versicherungen allein 1,3 Billionen um. Der Finanzmarktsektor rangiert vor den Agrarkooperativen, danach folgen Handel, andere Dienstleistungen (unter ande­rem das Gesundheitswesen), erst am Schluss kommen die Industriegenossenschaften.

Vergleichsweise niedrig ist der Anteil der Arbeiterkooperativen, also jene Unternehmen, die im Besitz ihrer Belegschaften sind. Die International Organisation of Industrial and Services Cooperatives (Cicopa) vertritt nach ei­genen Angaben weltweit 68.000 Genossen­schaften mit rund vier Millionen Beschäftigten respektive EigentümerInnen.

Arbeiterkooperativen sind in Europa vor allem im Baskenland zu finden (Mondragón), in Norditalien (Emilia­Romagna) und in Frankreich. In Britannien, dem Geburtsland der modernen Genossenschaften, gab es in den 1970er­Jahre Versuche, das Konzept der Industrie kooperativen wieder zu beleben. Sie scheiterten aber – auch am Desinteresse der damals regierenden Labour­Partei und der Gewerkschaften. pw

FAKTEN

Die Welt derKooperativen

FOTOS: PIT WUHRER, AGLIMPSOFREGGIO GRAFIK: WIKIMEDIA

Reggio Emilia, in Norditalien gelegen, ist die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz. Die Großstadt mit ihren etwa 171.000 Einwohnern beein-druckt durch ihren historischen Stadtkern. Reggio Emilia ist die Kernregion der italienischen Genossenschaften.

ΕυχαριστώΜατθίας!

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VON PIT WUHRER

Wer nach Italien reist, fährt meist dran vorbei: zu unbedeutend mutet die zwischen Parma und Modena gelegene Stadt Reggio dell’Emilia an, mit ihren rund 170.000 EinwohnerInnen. Und zu un-scheinbar wirkt die gleichnamige Provinz mit ihren etwa 500.000 Einwohnern, die sich vom Po bis zum Apennin erstreckt – trotz des Parmigiano-Reggiano, der hier (und nicht in Parma) gekäst wird, trotz ih-rer Geschichte, trotz der ehrwürdigen Altstadt. Und so bekommen auch nur wenige den Hauptplatz von Reggio mit seinen vielen Denkmälern zu sehen, da-runter auch eine Büste von Camillo Prampolini.

VON DER APOTHEKE, DEM GASWERK BIS ZUM SCHLACHTHOFPrampolini (1859-1930) war lebenslang Sozialist gewesen, der wie kaum ein anderer italienischer Politiker seiner Zeit das Konzept einer – unter Handwerkern bereits praktizierten – alternativen Ökonomie vorantrieb: Die Arbeiterselbstverwaltung habe den Zweck, „die Bevölkerung auf ein ökono-misches, intellektuelles und moralisches Niveau zu heben, um so die siegreiche Revolution vorzu-bereiten, ohne das Proletariat in ein Massaker und in die Niederlage zu führen“, schrieb er 1889 in der von ihm gegründeten Zeitung La Giustizia. Reform und Revolution – nach diesem Motto vergesellschaf-tete damals die Stadtverwaltung von Reggio Gas-, Strom- und Wasserversorgung. Sie kommunali-sierte Bäckereien und Schlachthöfe und gründete im Jahr 1900 kommunale Apotheken, die nicht nur die Armen mit billigen Medikamenten versorgten, sondern auch selbst Arzneimittel herstellten. Noch heute erwirtschaften die Farmacie Comunali einen Überschuss, der städtischen Sozialprojekten zugu-te kommt.

DEMOKRATISCH, AUTONOM, UNABHÄNGIGZu Beginn der Arbeiterbewegung hatte es über-all solche Ansätze gegeben. Bereits während der industriellen Revolution entstanden – an-geregt von frühsozialistischen Visionären wie Charles Fourier oder Robert Owen (siehe OXI Mai 2016) – die ersten modernen Genossenschaften. 1844 etwa gründeten Weber im nordenglischen Rochdale einen Konsumverein und formulierten jene Prinzipien, die heute noch für Kooperativen gel-ten: offene Mitgliedschaft, keine Diskriminierung, basisdemokratische Kontrolle, Autonomie und Unabhängigkeit.

Nach den Verbrauchergenossenschaften entwi-ckelten sich bald in vielen Staaten auch Produktionsgemeinschaften; in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wuchs das Genossenschafts-wesen zu einer breiten Bewegung heran. Vielerorts scheiterten sie jedoch – nicht zuletzt an einer poli-tischen Linken, die ganz große Ziele im Sinn hatte. Die sozialistischen (später auch kommunistischen) Parteien setzten damals entweder auf die Revo-lution, nach der sich sowieso alles ändern werde, oder auf staatliche Reformen. Die Verhältnisse mit dem Aufbau von Kooperativen zu verbessern? Das erschien vielen als zu mühsam, zu kleinbürgerlich, zu wenig radikal, werde doch so der Unterschied zwischen den Klassen verwischt.

WARUM VIELE GENOSSENSCHAFTEN SCHEITERTENSo kam es, dass in Industriegebieten mit zen-tralistisch organisierten Gewerkschaften und Parteien die Genossenschaftsidee nur in Form von Konsumvereinen überlebte. In ländlichen Regionen wie in Reggio Emilia oder im Baskenland gab es je-doch weder solche zentralistisch geformten poli-tischen Organisationen noch einen starken bür-gerlichen Staat. Hier ging es den Menschen vor allem darum, ihre Lebensgrundlagen zu sichern. So waren in dieser norditalienischen Provinz LandarbeiterInnen und Pächter die treibende Kraft. Während im italienischen Süden oder in der Region um Mailand Großgrundbesitzer Heerscharen von TagelöhnerInnen kontrollierten, wirtschafteten die Pachtbauern auf nahe beieinanderliegenden Gehöften – und halfen sich gegenseitig. Der nächs-te Hof war zu Fuß zu erreichen, man teilte sich die Werkzeuge, sprang in Notfällen ein. Und kämpfte

oft gemeinsam gegen die Gutsbesitzer. Eine ver-gleichbare soziale Topografie wies übrigens das Baskenland auf, wo Zusammenhalten und -arbeiten bereits Tradition hatten, als in den 1950er Jahren zwischen verstreuten Höfen und Weilern die erste Mondragón-Kooperative entstand (siehe OXI Januar 2017).

STAATSFERNE UND ANDERE GEMEINSAMKEITEN Auffällig ist: die Staatsferne. Im Baskenland wurde und wird der (spanische) Staat vor allem als Repressionsagentur wahrgenom-men und abgelehnt. Groß ist so der Wunsch nach Selbstständigkeit und Autonomie; die Gründung von Mondragón ist ein Ausdruck davon. Und: Wie in der Reggio dell’Emilia mit Prampolini spielte auch im Baskenland in der Gründungsphase eine Führungsfigur eine entscheidende Rolle, der so-zial denkende Pater Jose Maria Arizmendiarrieta. In Norditalien hingegen musste sich zwischen der Staatsgründung 1861 und dem Ersten Weltkrieg niemand vom Staat distanzieren – er bestand zwar, hatte aber nicht die Kraft, eine öffentliche Daseinsvorsorge aufzubauen. So war Selbsthilfe angesagt: Die Menschen befestigten gemeinsam Straßen, gründeten Eisenbahn-Kooperativen, schaufelten Dämme gegen die Hochwasser des Po, errichteten Volkshäuser mit Bibliotheken, Versammlungsräumen und Theatersälen. Nach Nazibesatzung und Zweitem Weltkrieg blühte die lokale Genossenschaftsbewegung wieder auf: So manche Partisanen sahen nach der Befreiung in Kooperativen das Gegenkonzept zu Kapitalismus und Faschismus.

GENOSSENSCHAFTS-HOCHBURG IN SÜD-INDIENSo kann auch die Existenz einer weiteren Koopera-tiven-Hochburg erklärt werden: Sherthala im süd-in di schen Bundesstaat Kerala. Der lange Kampf der Bevölkerung gegen die britischen Kolonialherren hatte dort einen Selbstbehauptungswillen entste-hen lassen, der nach der Unabhängigkeit nicht ein-fach verschwand: Privatinvestoren machten ei-nen großen Bogen um das Gebiet. Und so blieb den Fischern, Textilarbeiterinnen, Kokospflückern und Dienstleistungsbeschäftigten (darunter die Kellner des Indian Coffee House) nur die Alternative, sich selber zu organisieren.

UND IN DER PFALZ UND CHEMNITZ?Verantwortung übernehmen, eigenständig denken, solidarisch handeln und gemeinsam in Kooperativen dem renditegetriebenen Kapitalismus Paroli bie-ten – im Prinzip können das alle, überall. Dafür gibt es viele Beispiele. Doch nicht immer gelingt der Sprung in die kollektive Selbstständigkeit. Weil Gesetze das verhindern. Oder weil die Kultur dafür fehlt: Selbst streikerfahrene LohnarbeiterInnen und Gewerkschafter sind nicht unbedingt auch (gerne) engagierte und unternehmerisch denken-de Mitglieder einer Genossenschaft.

So übernahmen beispielsweise die Beleg schaf-ten der Chemnitzer Werkzeugma schinenfabrik Union und der Flugzeugwerke Pfalz 1996 und 1997 ihre kriselnden und von Schließung bedrohten Betriebe. Als die Firmen ein paar Jahre später wie-der profitabel waren, verkauften die Beschäftigten ihre Anteile.

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Kultur und Tradition machen den UnterschiedWarum gibt es beispielsweise im Baskenland und der Reggio dell’Emilia sehr viele und sehr große Genossenschaften? Und anderswo gar keine. Was macht den Unterschied aus?

KO O P E R AT I V E N I N I TA L I E N

DER AUTOR

Pit Wuhrer, aufgewachsen am Bodensee,arbeitet seit 1985 als freier Journalist mitden Schwerpunkten Arbeitswelt, sozialeBewegungen und politische Verhältnissein Deutschland, Großbritannien, Nordirlandund Irland. Seine Reportagen, Analysen undKommentare wurden und werden in zahlrei-chen Tages- und Wochenzeitungen inDeutschland und der Schweiz publiziert.

FOTO: TECTON REGGIO EMILIA

Mehr Texte von Pit Wuhrer finden Sie auf oxiblog.de

Tecton, eine Kooperative, die 1890 von Malern gegründet wurde, ist heute itali-nischer Marktführer bei der Restaurierung von Kirchen und Palästen. So verdankt sich das aktuelle Erscheinungsbild des Domes von Reggio Emilia, der Kathedrale Santa Maria Assunta aus dem Jahr 1711, dem Können der Kooperative.

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so werden bei den ausländischen Anbietern hohe Zusatzkosten verursacht, die diese ebenfalls zwingt, die Verkaufspreise zu erhöhen. Letzteres nennt man nichttarifäre Handelshemmnisse. Der Extremfall: Der Staat verbietet die Einfuhr von einzelnen Waren, Warengruppen oder er verhängt ein komplettes Einfuhrverbot. Protektionistische Maßnahmen sind bei Unternehmen und Arbeitnehmern von Branchen (und ihren Gewerkschaften) sehr popu-lär, die von ausländischen Konkurrenten gefährdet sind. Jedoch: Damit kann zwar kurzfristig die hei-mische Wirtschaft geschützt werden. Aber die an-deren Länder, deren Exporte davon negativ betrof-fen sind, werden ihrerseits die Importe von Waren aus dem Land, das Protektionismus betreibt, er-schweren.

Was überwiegt auf der Welt momentan: Protektionismus oder Freihandel?Die Bewegungen von Produktion und Kapital über alle Ländergrenzen hinweg, also das, was wir Globalisierung nennen, beschränkt sich im Wesentlichen auf die Staaten der OECD in Nordamerika, Westeuropa und Ostasien sowie ei-nige Schwellenländer wie Brasilien, Indien und vor allem China. Am weitesten vorangetrieben ist der Freihandel im Moment zwischen den EU-Ländern. Nach außen erhebt die EU allerdings Importzölle. Die Einnahmen fließen in den EU-Haushalt und be-trugen 2014 immerhin über 16 Milliarden Euro.

Wo herrscht Protektionismus?Alle Länder praktizieren eine Mischung aus Freihandel und Protektionismus. Es ist naheliegend: Jedes Land möchte Freihandel für seine Branchen, die international wettbewerbsfähig sind. Und es will Protektionismus und Schutz für die Branchen, die von Importen gefährdet sind. Beispiel Deutschland: Die Automobilindustrie ist an Freihandel interes-siert, weil deutsche Autos überall auf der Welt sehr begehrt sind. Die deutsche Stahlindustrie wie-derum leidet unter den günstigen ausländischen Anbietern von Stahl und setzt sich deshalb für hohe EU-Schutzzölle ein. In beiden Fällen decken sich die Interessen von Unternehmen und Gewerkschaften, die Hand in Hand gegenüber der Regierung ihre je-weiligen Brancheninteressen vertreten. Da wird so-gar der traditionelle Konflikt zwischen Kapital und Arbeit zweitrangig. In den USA möchte der neuge-wählte Präsident Donald Trump jetzt auf impor-tierte Autos 35 Prozent Zoll erheben. Dadurch sol-len deutsche Autos in den USA so teuer werden, dass die Amerikaner sie sich nicht mehr leisten können und amerikanische Autos kaufen müssen.

Hat sich ein Land wirtschaftlich total abgeschottet?Regierungen, die nach der Macht über die Welt stre-ben, wollen autark sein. Das ist Industrieländern aber nicht möglich. Denn in der Regel verfügen sie nicht über genügend heimische Rohstoffe, wes-halb sie von den Ländern abhängig sind, die die-se Rohstoffe exportieren. Letztere wiederum ha-

ben viel zu wenig industrielle Produkte, um den Weltmarkt beherrschen zu können. So sind heute eigentlich alle von allen abhängig. Selbst Nordkorea kommt nicht umhin, Waren im Wert von rund vier Milliarden US-Dollar jährlich zu importieren. Die wechselseitige wirtschaftliche Abhängigkeit der Länder sollte ja auch der positive, Frieden stiftende Nebeneffekt der Globalisierung sein.

Also ist der Mix aus Freihandel und Protektionismus für alle vorteilhaft?Nein. Das wäre nur so, wenn alle Länder relativ gleich stark und einflussreich wären. Bereits das einfache Modell von Ricardo (siehe oben) zeigt, wie ungleich die Chancen verteilt sind: Wenn England Tuch produziert, dann kann es diese Ware beliebig vermehren — es ist nur eine Frage des Kapitals und der Arbeitskräfte. Aber Portugal, das sich auf die Weinproduktion konzentriert, stößt rasch an natür-liche Grenzen. Die Frage der Macht kommt hinzu: Groß- und Weltmächte, ob heute China oder die USA, versuchen immer, auch mit unlauteren oder kriege-rischen Mitteln Länder zu kontrollieren, die das ha-ben, was sie selbst nicht haben: entweder Rohstoffe oder technische Fertigkeiten. Freihandel erzeugt immer Gewinnerländer und Verliererländer. Und auch innerhalb eines Landes gibt es Gewinner und Verlierer: Die Gewinnerbranchen machen gute Geschäfte, haben sichere Arbeitsplätze, kön-nen gute Löhne zahlen. Die Unternehmen der Verliererbranche – in Deutschland beispielswei-se bereits in den 1960er-Jahren die Schuh- und Textilindustrie – gehen pleite, und Arbeitsplätze werden vernichtet.

Wie kann den Globalisierungsverlierern geholfen werden?Jedes Land muss seine Verlierer so auffangen, dass sie auch nach Verlust des Arbeitsplatzes materi-ell abgesichert sind und erneut in die Arbeitswelt reintegriert werden. Das ist der keynesianische Ansatz. Neoliberale Regierungen gehen einen anderen Weg: Sie wollen sich im internationa-len Wettbewerb Vorteile verschaffen, indem sie Löhne, Sozialausgaben und Unternehmenssteuern senken, damit die eigenen Waren möglichst bil-lig angeboten werden können. Das setzt eine Abwärtsspirale in Gang: Die Länder, welche die Folgen der Globalisierung wohlfahrtsstaatlich ausgleichen wollen, haben mit ihren Produkten dann weniger Chancen und sehen sich gezwungen, Löhne und Steuern ebenfalls zu senken. Das war übrigens der Kern der Politik von US-Präsident Ronald Reagan (1981 bis 1989): Er senkte radikal Unternehmenssteuern, so dass alle anderen Staaten Angst haben mussten, es setze ein Kapitalstrom in Richtung USA ein; sie senkten ebenfalls flächende-ckend die Steuern, die verheerenden Folgen dieser Politik sind heute mit Händen zu greifen. So werden die im Prinzip positiven Wirkungen des Freihandels ins Gegenteil verkehrt. Ziel der Politik muss sein, faire Handelsabkommen und soziale Absicherungen zu kombinieren.

VON HERMANN ADAM

Was ist Freihandel?Freihandel bezeichnet den Export und Import von Gütern und Dienstleistungen zwischen ver-schiedenen Ländern, ohne dass die Staaten diesen Handel beispielsweise mit Zöllen und Vorschriften erschweren. Dazu gehört auch der ungehinder-te Kapitalverkehr: Unternehmen können di-rekt in anderen Ländern investieren, also etwa Produktionsstätten errichten, und alle können ausländische Wertpapiere kaufen und verkau-fen. Außerdem gehört die grenzüberschreitende Mobilität von Arbeitskräften zum reinen Modell des Freihandels. Die Silbe „Frei“ klingt automatisch po-sitiv. Neutraler wäre: deregulierter Handel.

Der neoklassische Ökonom David Ricardo hat doch nachgewiesen: Freihandel bringt allen Vorteile.Ricardos Theorie der komparativen Kosten war eine reine Modellbetrachtung. Empirisch nach-gewiesen hat er also gar nichts. Er verglich die Tuchproduktion in England mit der Weinproduktion in Portugal und stellte fest: Wenn England sich auf die Tuchproduktion und Portugal auf die Weinproduktion spezialisiert, steigt in beiden Ländern das Bruttoinlandsprodukt und damit der Wohlstand. Er unterstellt dabei: Die Arbeiter in England können ohne Probleme von der Wein- zur Tuchproduktion umsteigen und in Portugal von der Tuch- zur Weinproduktion. Das ist aber in Wirklichkeit nicht so, weil Arbeitskräfte mit ihrer jeweiligen Qualifikation nicht beliebig austausch-bar sind.

Heute werden – anders als in Ricardos Modell – Produkte weltweit gehandelt: deutsche Autos in Japan und japanische Autos in Deutschland.Ricardos Theorie ist seitdem auch weiterentwi-ckelt worden, beispielsweise von dem US-Ökonomen und Keynesianer Paul Krugman. Er sagt: Wenn Unternehmen ihre Produkte jeweils weltweit ver-kaufen, dann können sie ihre Produktion steigern, was zu sinkenden Stückkosten führt. So haben die Verbraucher eine größere Produktauswahl bei güns-tigeren Preisen. Ferner werden heute, insbesonde-re in den Automobilbranchen, die Vorprodukte in vielen verschiedenen Ländern hergestellt. So ent-stehen weltweite Zulieferketten, die es dank ge-ringer Transportkosten ebenfalls ermöglichen, die Verkaufspreise geringer zu halten.

Was ist Protektionismus? Protektionismus (von lateinisch protectio = Schutz) heißt: Der Staat schützt die heimische Wirtschaft vor ausländischer Konkurrenz. Seine Instrumente: Er verhängt Einfuhrzölle, also Steuern auf im-portierte Waren, so dass diese teurer werden; so soll die einheimische Bevölkerung animiert wer-den, Produkte von inländischen Unternehmen zu kaufen. Oder es werden beispielsweise strenge Umweltauflagen für die Importwaren festgelegt;

Seit Donald Trump regiert, sind Schutzzölle angesagt und Freihandel nicht mehr selbstverständlich. Was ist was? Und wer vertritt welche Interessen?

Protektionismus der alten BRDAm Anfang waren alle Importe kontingentiert: Für jede Ware waren Einfuhrmengen und - werte festgelegt. Die Kon tin gente wurden schrittweise aufgehoben und durch Einfuhrzölle ersetzt; bei landwirtschaftlichen Erzeugnissen, Textilien und Kera mik waren blieben die Kontingente bestehen.

Gleichzeitig wurden die deutschen Exporte bis 1955 mit Steuerermäßigungen subventioniert und ausländischen Kunden der Kauf deutscher Waren mit zinsverbilligten Krediten erleichtert. Ausfuhrrisiken wie Zahlungsun fähig keit auslän-discher Kunden wurden von einer staatlichen Hermes-Kreditversicherung abgedeckt. Stark be-günstigt wurde der Aufbau der deutschen Export-wirtschaft zudem aufgrund der Unterbewertung der Mark; bis März 1961 war ein US-Dollar gleich 4,20 Mark. So galt für die Industrie zwar formal das Prinzip des Freihandels.

Doch mit Rücksicht auf die eigenen Unter-nehmen wurde dieses Prinzip mit Subventionen, Steuervergünstigungen sowie mit der Unterbe-wertung der Mark durchbrochen. Im Agrarsektor und bei der Kohle strebte die westdeutsche Poli-tik Freihandel nie an. Der Erfolg der Wirt-schaftspolitik Ludwig Erhards – Bundes wirt-schaftsminister (1949 bis 1963) und Bundeskanz-ler (1963 bis 1966) – beruht also keineswegs auf der Durchsetzung einer freien Marktwirtschaft, sondern auf gezielten Staats interventionen.

Deutschland in der EWGZum 1. Januar 1958 traten die Römischen Verträge in Kraft. Deutschland (alte BRD), Frank-reich, Italien und die Benelux-Staaten schlossen sich zur Europäischen Wirtschafts gemeinschaft zusammen. Zölle zwischen den sechs EWG-Ländern wurden stufenweise abgebaut, gegen-über Drittländern wurden für Einfuhren Zölle erhoben. Sie wurden nach und nach abgesenkt. 1970 betrug der Zoll bei gewerblichen Produkten im Durchschnitt aller Warengruppen noch 8,8 Prozent.

Deutschland in der EUMit dem Vertrag von Maastricht vom November 1993 wurden auch die Grundlagen für die Personenfreizügigkeit, die Dienstleistungs-freiheit und den freien Kapital- und Zahlungs-verkehr geschaffen. Mit diesen Regeln ist die EU der größte gemeinsame Markt der Welt.

Summe von Exporten und Importen von Waren und Dienstleistungen in Prozent des BIP:

Brasilien 19 %USA 30 %Ägypten 38 %Japan 41 %Nordkorea 41 %Russland 42 %China 47 %Schweden 82 %Deutschland 87 %

Brasilien ist demnach – in Relation zum Bruttoinlandsprodukt – ein stark vom Welthandel abgeschottetes Land. Deutschland hingegen generiert den überwiegenden Anteil des BIP durch Importe und Exporte.

Quellen: Institut der deutschen Wirtschaft (IW), Köln; Observatory of Economic Complexity (OEC); Russland in Zahlen. Aktuelle Wirtschaftsdaten für die Russische Föderation (Hg.: Botschaft der Bundesrepublik Deutschland, Germany Trade and Invest, Deutsch-Russische Auslandshandelskammer)

HINTERGRUND

Wie Deutschland seine Wirtschaft schützt

FAKTEN

Wie offen sind Volkswirtschaften?

Freihandel, Protektionismus, Globalisierung

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Page 10: OXI · ‚Traum-Seite‘ der OXI zu schreiben, dachte ich an eine Utopie. Ich überlegte, zu beschreiben, wie schön das Leben sein könnte. Solche Träume haben den Vorteil, dass

F U N D ST Ü C K E AU S D E M M E D I E N U N I V E R S U M

Unerkannte Heldinnen (Hidden Figures): seit 2. Februar 2017 im Kino.

Mathe ist nichts für Mädchen – dieser idiotische Merksatz wird noch immer von Generation zu Generation weiter-gegeben. Jetzt kommt mit „Unerkannte Heldinnen“ ein Film ins Kino, der uns mit einem Paukenschlag um die Ohren haut, was bisher niemand wusste: Nur den Rechenkünsten von Frauen ist die Mondlandung zu verdanken. Eine histo rische Tatsache, die längst in den Geschichtsbüchern gefeiert werden müsste.

Die Fähigkeit, komplexe Rechen auf-gaben zu bewältigen, ist mitnichten an das Y-Chromosom gekoppelt. So gab es vor mehr als sechzig Jahren den Beruf „Com-pu ter“, geschlechtsneutral abgeleitet vom englischen Wort „rechnen“. Das waren in der Regel mathematisch begabte Frauen, die von Versicherungen, der US-Army oder der NASA zum manuellen Bearbei-ten gigantischer Rechenoperationen ein-gestellt worden waren. Sie saßen ähnlich wie Stenotypistinnen in großen Sälen, nicht ahnend, dass schon bald Maschinen ihre Arbeit erledigen würden. Nur der Name „Computer“ würde bleiben. Ein ver-gessener Fakt, wie so oft wenn es um die Leistung von Frauen geht. Dieses ganze Hightech-Zeugs ist Männersache – von wegen. Die Geschichte der Frauen im frü-hen Computerzeitalter wird längst er-forscht, federführend von Janet Abbate, Tech-Professorin in den USA. Aber diese Quel len zu finden ist mühsam. Umso wich ti ger ist solch ein Film mit Breiten-wir kung.

Zurück zum Computer-Saal in Hidden Figures: Von diesem fensterlosen Raum aus starten drei hochbegabte Mathema-tikerinnen zu einzigartigen Karrieren in der NASA. Es sind wahre Geschich ten, die die Sachbuchautorin Margot Lee Shetterly 2016 ausgegraben hat und die Vorlage für das Drehbuch waren: von der Mathelehrerin Dorothy Vaughn, die zu-nächst den Rechensaal mit ihren afro-amerikanischen Kolleginnen leitet und dann, weil es die Männer nicht hinkrie-gen, die gerade gelieferte IBM-Maschine zum Laufen bringt und – überraschend,

aber wahr – zur Leiterin des neuen Rechen zentrums ernannt wird. Dann gibt es da ihre Kollegin Mary Jackson, die ihr nebenberufliches Ingenieurstudium als schwarze Frau vor Gericht durchfechten muss. Der Fokus aber liegt auf Katherine Johnson. Ihr Mathegenie wurde schon in der Schule erkannt, mit 14 Jahren kommt sie aufs College und belegt Kurse in analy-tischer Geometrie. Im Film wird sie in das Herzstück der NASA beordert, einen Saal voller weißer Männer, die sie zunächst für die Putzfrau halten. Und dann ist sie es, die den Weltraumflug vorm fatalen Unglück rettet und damit die Fortsetzung des ehrgeizigen Mondflugprogramms im Wettlauf gegen die Russen ermöglicht.

Filmisch gesehen ist dies Hollywood-Standardkost in Hochglanz: großartige Schauspielerinnen, gefälliger Soundtrack und ganze Arbeit bei der Requisite. Ein Fest fürs Auge mit Originalbüroausstat-tungen, Oldtimern und frischgebügelten Sixties-Kleidern.

Doch das ist nur der schmucke Rahmen. Das Biopic wirft einen Blick auf das Leben der schwarzen Mittelschicht. Zwar alles adrett bürgerlich, aber die Frauen und ihre Familien leben unter der Knute der Rassentrennung. Es ist die Zeit der amerikanischen Bürgerrechtsbe we-gung, Martin Luther King spricht im Fern-se hen. Wie sich dieser Alltagsrassismus anfühlt, wird beim vierzigminütigen Gang zur Toilette der Schwarzen spürbar, oder beim Besuch der Stadtbibliothek, in die „Coloured People“ nicht reindürfen. Dorothy klaut kurzerhand das Fachbuch für die Programmiersprache Fortran. Mit ihren Steuern habe sie es schließlich be-zahlt, erklärt sie augenzwinkernd ihren Jungs.

Unerkannte Heldinnen hat ganz schön viel Pathos. Aber zugegeben, in den frühen Sechzigern war es verdammt auf-regend, eine bemannte Rakete ins Weltall zu schicken und zu hoffen, dass der Mensch darin heil auf die Erde zurück-kehrt. Dieser Astronaut – John Glenn, der 1962 als erster US-Amerikaner im All die Erde umrundet – vertraut allein den Rechenkünsten von Katherine Johnson und tut damit das einzig Richtige.

Der Film erfüllt aufs i-Tüpfelchen die Idee, über fiktionale Stoffe das Verstän d-nis von Wissenschaft und insbesondere die oft totgeschwiegenen Leistungen von Frauen in die Bevölkerung hineinzutra-gen, wie von der neugegründeten Initiative MINTEEE der Max-Planck-Gesellschaft gefordert.

Christine Olderdissen(Aus: Watch­Salon, Blog des Journalistinnenbundes)

Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Beck´sche Reihe, Bd. I u. II. Je 14,95 Euro

Der am 12. Juli 1902 als Günther Stern in Breslau Geborene studierte in Ham-burg, Freiburg und Marburg und pro-movierte 1924. 1929 heiratete er die Philosophin Hannah Arendt, wurde je-doch 1936 wieder von ihr geschieden. 1933 musste Stern als Jude, der sich seit 1930 Günther Anders nannte, flie-hen. Über Frankreich gelangte er in die USA, wo er sich während des Krieges als Hilfsarbeiter durchschlug. Von 1947 bis 1949 war er Lehrbeauftragter für Ästhetik an der New Yorker „New School for Social Research“, an der viele jüdische Emigranten unterkamen. 1950 kehrte Anders nach Europa zurück und arbeitete als freier Journalist. Ganz früh engagier-te er sich in der Friedens- und Anti-Atom-Bewegung. 1956 erschien der erste, 1980 der zweite Band seines Hauptwerks „Die Antiquiertheit des Menschen“.

Der Ausgangspunkt für das Werk ist eine doppelte Scham des Menschen. Die erste Scham entdecken Menschen, wenn sie sich der Zufälligkeit ihrer Geburt und Existenz bewusst werden. Auf die zweite Scham stieß Anders am 11. März 1942, wie er in einem Notizheft festhielt: „Glaube, heute vormittag einem neuen Pudendum (Beschämen den) auf die Spur gekommen zu sein; einem Scham-Motiv, das es in der Ver gan genheit nicht gegeben hat. Ich nenne es vorerst für mich ‚promet-heische Scham‘; und verstehe darunter die Scham vor der ‚beschämend‘ hohen Quali-tät der selbstgemachten Dinge.“ Das Wort „prometheisch“ ist abgeleitet vom Namen des Titanensohns Prome theus, der nach der griechischen Sage den Göttern das Feuer stahl, um den Menschen Wohlstand zu verschaffen. Diese zweite Scham be-ruht darauf, dass sich Menschen den von ihnen hergestellten Apparaten, dem

„Fortschritt“, unterlegen fühlen. Diese „prometheische Scham“ entsteht nicht nur im Ange sicht komplexer technischer Apparate, sondern auch im Alltag. Jeder Nicht-Informatiker steht immer wieder vor der Tatsache, gar nicht zu begreifen, was der Computer tut und wie selbstherr-lich-störrisch er auf Eingabefehler des Nutzers reagieren kann.

Jede technische Errungenschaft be-deutet, so Anders, ein Mehr an Entfrem-dung des Menschen von sich selbst, mit-hin eine Unterwerfung des Menschen un-ter den technischen Apparat mit der Folge der Verbannung des Menschen aus der Welt. Im Horizont der technischen Revolutionen öffnet sich eine Situation, in der der Mensch überflüssig wird und von der Herrschaft der Technik ersetzt wird. Das meint Anders mit der „Antiquiertheit des Menschen“ verglichen mit der Aktuali tät der neuesten Technik.

Die beiden Bände von Anders´ Haupt -werk enthalten eine radikale Kritik an der technisch-industriellen Zivilisation und deren Zer störungspotenzial. Der Verdacht, Anders verteufele die Technik und beschwöre ein technikfreies, quasi-romantisches Zeitalter, ist aber unberech-tigt. Er warnt vielmehr vor der Instrumen-talisierung des Menschen und seiner Lebenswelt. Für ihn stellt beispielsweise „das Fehlen der Technik in unterentwi-ckelten Ländern eine ungleich größere Gefahr“ dar „als deren Existenz“.

Anders identifizierte das Zerstö-rungs potential der Zivilisation mit der Vernichtung des europäischen Juden tums und mit dem Einsatz von Atom bom ben in Hiroshima und Nagasaki. Er wusste je-doch genau zu unterschieden zwischen den beiden Ereignissen. Beide haben zwar gemeinsame Wurzeln in der ökono-mischen und technischen Ratio na li tät, aber darüber hinaus steht „Ausch witz“ bei Anders für das schlechterdings „Monströse“ und „moralisch ungleich ent-setzlichere Ereignis“. Ausch witz ange-messen hielt Anders nur eine zynische Sprechweise: Dort wurden nicht Men-schen getötet, sondern „Mate rial“ angelie-fert, das von „Maschinen“ verarbeitet wur-de. Und dieses „Material“ hatte „die unge-wöhnliche Eigenschaft besessen, sehen, hören und fühlen zu können.“ „Hiroshima“ sei schwerer fassbar, weil die Täter un-sichtbar blieben und das Erei gnis den Charakter einer Apo ka lypse hatte. Wie kein anderer Philo soph hat sich Anders mit diesem „Massen mord ohne Mörder“ beschäftigt und einem mit „Apokalypseblindheit“ geschlagenen Publikum den Spiegel vorgehalten.

AUF DER LEINWANDWIEDERGELESEN

Ausgerechnet Mathe! Natürlich Frauen!

Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen

BÜCHERDie Tagebücher eines UngehorsamenHenry David Thoreau, Tagebuch I, Matthes & Seitz, Berlin, 26,90 Euro

Schwer zu glauben, dass jemand die Natur so sehr lieben kann, dass er sie zu seiner eigenen macht. Als handelte es sich um den edlen Wilden von Rousseau, der von Natur umgeben aufwächst, sich mit ihr verbindet, und darin auflöst. Ein solches Leben ist es, von dem Henry David Thoreau (1817-1862) in seinen Tagebüchern erzählt.

Thoreau taucht in die Welt des Tagebuchschreibens ein, als er zwanzig-jährig vom Studium an seinen Geburtsort, die Kleinstadt Concord, zurückkehrt. Hier bezieht er eine selbst gebaute Waldhütte und füllt unter Eulenrufen und der Raserei der Eichhörnchen vierzehn Hefte. Matthes & Seitz veröffentlichte 2016 den ersten von insgesamt zwölf Bänden aus diesem riesigen Schatz von siebentausend Seiten (etwa das Doppelte von ‚Die Suche nach der verlorenen Zeit‘ von Proust).

Thoreau spricht über Wälder, Seen, Bäche, Bäume und Tiere. In wehmütigem Ton gerät das Tagebuch zu einer Enzyklopädie der Farben und Formen, der Sonnenaufgänge und Mondphasen, des Geschmacks der Beeren und der Düfte der Pflanzen, aller Arten Vögel und auch der beim Landvolk beliebten Lieder.

Während die poetische Erzählung uns in den Bann zieht, dass wir das Knistern der trockenen Blätter unter den Füßen oder das Murmeln des fließenden Baches hören, wird die lyrische Verzückung durch die Natur von einer Kritik an der modernen Zivilisation und dem Übel der Industrialisierung begleitet: ein Denken, das die fortschrittskritischen Thesen von Autoren wie Lewis Manford, Günther Anders, Jacques Ellul oder Ivan Illich vor-wegnimmt.

Als grundlegender Autor des moder-nen Denkens war Thoreau nicht nur ein Theoretiker des zivilen Ungehorsams, der die Gerechtigkeit über die Gesetze stellt. Seine Worte stimmten stets auch mit sei-nen Taten überein und so dokumentieren die Tagebücher seine lebenslange ableh-nende Haltung gegenüber der Sklaverei.

Wäre er nicht im Alter von vierund-vierzig Jahren gestorben, hätten wir noch mehr Tagebuchseiten, die uns vermitteln, dass es ohne die Freiheit, die Gesellschaft, in der wir leben, ernsthaft zu hinterfra-gen, auch keine Antworten geben wird, die uns zu freieren Wesen machen.

Neben dem erwähnten Titel lassen sich in der Buchhandlung Amarcord ver-schiedene Werke des Autors sowie spa-nische und portugiesische Übersetzungen finden. Vollständiger Artikel auf www.utopie-magazin.org und auf www.oxiblog.de . (Júlio do Carmo Gomes)

Wenn die Mittel zum Leben fehlenMartin Caparrós: Der Hunger. Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe Band 1746, 844 S., 4,50 Euro zzgl. Vers., www.bpb.de

Die Bundes- und Landeszentralen für po-litische Bildung veröffentlicht in ihrer Schriftenreihe viele Texte und Bücher, die für kleines Geld sehr viel Wissen bie-ten. Darunter solche, die auch ob ihrer Sprache und konzeptionellen Gestaltung ein Highlight sind. Band 1746 ist so ein Beispiel. „Der Hunger“ von Martin Gaparrós, aus dem Spanischen übersetzt

von Sabine Giersberg und Hanna Grzimek, erschien 2014 unter dem Titel „El hambre“ bei Planeta de Libros Argentina und 2016 als Lizensausgabe auf Deutsch.

Es erzählt Geschichten vom Hunger, es erzählt über Menschen, die Hunger lei-den, die versuchen, sich ihr täglich Brot auf irgendeine Weise zu erarbeiten, zu be-schaffen. Es redet vom Sterben und davon, dass Reichtum und Elend ihre Ursachen in einem Wirtschaftssystem haben, das die-ses Sterben zugunsten von Profiten und Macht zulässt.

„Als die Tante sich über das Lager beugte, den Kleinen hochhob, ihn befrem-det, ungläubig ansah und ihn der Mutter auf den Rücken legte, so wie Kinder in Afrika gewöhnlich auf den Rücken ihrer Mütter gelegt werden – die Arme und Beine gespreizt, die Brust gegen den Rücken gepresst, das Gesicht zur Seite ge-dreht –. und ihn mit einem Tuch festband, brach es mir das Herz. Der Kleine war an seinem angestammten Platz, bereit für den Heimweg, tot.“

Caparrós‘ Geschichten nehmen in einem nigerischen Dorf ihren Anfang. Der Autor bedient sich verschiedener Erzählformen, geht weit zurück, bis in die Zeit des Sklavenhandels im 15. Jahr-hundert. Die Geschichte des Hungers ist die Geschichte von Kolonialisation, Ausbeutung, Profitgier und Korruption. Das Buch ist Wissenskompendium und wütende Eloge zugleich. Es gibt den Menschen Namen und lässt sie zu Wort kommen. Es beleuchtet Hintergründe und historische Zusammenhänge und wan-dert durch die Welt des Hungers, die wir gern Dritte Welt nennen, lässt jedoch auch die Erste Welt nicht aus.

Von Niger nach Indien, in das alte Europa. „Menschengemacht“ lautet das zweite große Kapitel, ein Exkurs durch die Klassen- und Verteilungskämpfe, die Bemühungen und das Scheitern. Von Europa in die USA und hin zum großen Geld, hin zur „Chicago Board of Trade“ – ein halber Hektar voller Makler, Compu-ter und elektronischer Anzeigentafeln. Hier geht es um Maisoptionen, um Weizenhandel, Kurse, Gewinne und Ver-luste, aber nicht ums Sterben. Gestorben wird woanders.

Die Zwischenkapitel „Der Volksmund“ sind Zwiegespräche des Autors mit sich selbst: „Wie zum Teufel können wir wei-terleben, obwohl wir wissen, dass diese Dinge geschehen?“

„Das ist ein Buch über die extremste Form des Hässlichen, die ich mir vorstel-len kann“, schreibt der Autor zum Schluss. „Es ist ein Buch über den Ekel – den wir empfinden sollten für das, was wir getan haben.“ (KG)

BLÄTTERSeit 45 Jahren alle zwei WochenPublik-Forum, 14-tägliche Zeitschrift, Jahresabo 106,80 Euro, Studentenjahresabo 74,40 Euro, www.publik-forum.de

Neben den 14-täglich erscheinenden Heften werden auch Dossiers zu besonderen Themen wie hier dem Klimawandel herausgegeben.

Das Blatt analysiert und berichtet über politische, soziale, religiöse und kultu-relle Fragen – der geistige Hintergrund: aufklärerisch-christlich. Publik-Forum ist ebenso unaufwendig wie abwechs-lungsreich gestaltet. Die Ausgabe vom 10. Februar: Titelthema ist der Streit über

die Nutzung von Windkraft, es gibt eine Analyse zu Martin Schulz, eine Reportage über Flüchtlinge in Italien, ein Interview mit der Linguistin Elisabeth Wehling und der Schriftstellerin Juli Zeh — religiöse Kleidung, das Leben von Alleinstehenden sind weitere Themen, neben vielen Nachrichten und Rezensionen.

Publik-Forum ist, wie der langjährige Chefredakteur Wolfgang Kessler sagt, „das Produkt einer Revolte“. Von 1968 bis Anfang 1972 gaben die Bischöfe eine libe-rale katholische Wochenzeitung namens Publik heraus. Sie wurde Ende 1971 von den Bischöfen eingestellt, weil sie ihnen zu liberal, zu kritisch geworden war. Vor allem Harald Pawlowski, Redakteur, wagte zusammen mit aktiven LeserInnen einen Start in eine unabhängige Zukunft. Kessler: „Im Januar 1972 erschien die erste Ausgabe mit zwölf Seiten. Von der Öffentlichkeit schnell totgesagt, erschei-nen wir inzwischen seit 45 Jahren alle zwei Wochen mit 64 Seiten.“ In diesen Medien-Welten eine große Leistung. Vor Kurzem wurde Geburtstag gefeiert.

Was auffällt: Publik-Forum ist zweige-teilt. Der weltliche Teil dreht sich um Fragen von Frieden, Gerechtigkeit, um ak-tuelle Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Unter der Leitung von Wolfgang Kessler, Ökonom und Autor vie-ler Bücher, werden Finanzmärkte, Welt-handel, Steuer- und Sozialpolitik der Staaten akribisch analysiert. Im reli-giösen Teil stehen Fragen der Ent-wicklung der Kirchen selbst, der Spiritualität, auch theologische Grundsatzdebatten im Mittelpunkt.

Wer kauft und liest Publik-Forum? Das Publikum ist weitgehend konfessio-nell gebunden. Die Auflage liegt bei etwa 35.000 verkauften Exemplaren.

BYTESGewerkschaften – Eine interessante Geschichtewww.gewerkschaftsgeschichte.de/

Seit wann gibt es die Arbeiterbewegung in Deutschland? Wann sind Frauen Entscheidungsträgerinnen in den Gewerkschaften geworden? Wie hat sich Mitbestimmung im Laufe der Zeit ver-ändert? Welche Kämpfe wurden ge-fochten, gewonnen oder verloren? Das Portal „Geschichte der Gewerkschaften“ zeigt verständlich, übersichtlich und spielerisch, wie die deutschen Gewerkschaften entstanden sind. Die ein-zelnen Epochen der Geschichte sind mit Hintergrundwissen über die soziale, wirt-schaftliche und politische Lage angerei-chert – in ausführlicheren Texten erfährt man mehr über einzelne Ereignisse wie die Zerschlagung der Gewerkschaften im Zweiten Weltkrieg oder die Auflösung des FDGB 1990.

Was die Gewerkschaften heute und gestern bewegt: In Themensammlungen wird übersichtlich und interessant über die Rolle der Frauen in Gewerkschaften, die Arbeit im Wandel, die Geschichte der Mitbestimmung informiert. Weiterfüh-rende Literaturtipps für all jene, die mehr wissen wollen, die schönsten Plakate aus der Gewerkschaftsgeschichte ergänzen die Texte. Und wer den eigenen Kenntnisstand überprüfen möchte, kann sich an einem Quiz versuchen. (as)

BÜCHERBLÄTTERBYTES & MEHR

M Ä R Z 2 0 1 7 | OX I | S E I T E 1 8

Vor gut einem Jahr gab es eine Test-sendung und seither ist Klaus Dörre , re-nommierter Soziologe an der Jenaer Friedrich -Schiller-Universität, jeden Monat einmal auf Sendung: Am 9. März geht es um die digitale Revolution. Seine Fragen: Was ist das? Mehr als die soge-nannte Industrie 4.0? Wie gefährlich ist sie, und für wen? Wem nützt sie?

Für Dörre ist die Musik fast so wichtig wie das gesendete Wort — , das eine hängt mit dem anderen zusammen, das eine be-fördert das andere. So werden in der neu-en Sendung beispielsweise die Aeronau-ten mit ihrer Version von „Risikobiografie“ zu hören sein; ein Genuss, der auch zu der Frage anregen kann, wozu wir diese digi-tale Revolution überhaupt brauchen. Und auch dieses Stück soll helfen, sich in die-ser angeblich so smarten neuen Welt zu-rechtzufinden: „Spanish Key“ aus dem le-gendären Miles Davis-Album „Bitches Brew“.

Dörre sendet, weil es ihm Spaß macht und weil Wissenschaft öffentlich sein müsse, der Gesellschaft ihre Expertise also verständlich zur Verfü gung zu stellen habe, so Dörre. Er moderiert die Sendung, wählt das Thema aus, präsentiert einen zum Thema passenden Gast, meist einen seiner jungen Kolle gInnen von der Uni — und zeichnet auch für die Auswahl der Musik verantwortlich. In der Sendung spricht und diskutiert er über die Themen, über die er und seine Wissenschaftler-KollegInnen sonst (leider zu oft abstrakte) Vorträge halten und Bücher schreiben: Populismus, Arbeits markt und Arbeits-losigkeit, Wirtschafts demokratie und eben auch über die künftige Digitalisie-rung und Roboterisierung von Wirtschaft und Welt, wie in seiner Märzsendung. Jede Sendung bietet abwechslungsreich Wissen und Kritik kombiniert mit anre-gender und entspannender Musik. Diese ungewöhnliche Sendung des lokalen Jenaer Bürgerradio OKJ endet meist mit diesem Satz: "Manchmal ist keine Revolution auch keine Lösung .... ." Jeden Monat einmal für Jena und für, via Internet-Livestream, die ganze Welt also diese "musikalische Gesellschafts kritik", wie Moderator KD seine Sendung nennt.

SENDER-INFODonnerstag, 9. März 2017, 18.00 – 19.00 Uhr, 10. März 2017, 13.00 – 14.00 Uhr. Zu empfangen via Kabel über: auf 107, 90 MHZ; konventionell über UKW 103, 4 MHZ und im Netz über radio­okj.de/wp­content/themes/radiookj/okj­player.html; Assistenz: Anna Mehlis, Technik: Die Radiokatze.

RADIO-TIPP

KD zu digitalerRevolution

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Cornelia Edding

Vielfalt ins Top-Management Erfolgsgeschichten aus der Vorstandsetage

Cornelia Edding

Vielfalt ins Top-ManagementErfolgsgeschichten aus der Vorstandsetage

erscheint im Juni 2017

ca. 100 Seiten, Broschur

ca. € 18,– (D) / sFr. 19,80

ISBN 978-3-86793-746-7

Erfolg durch chancengerechte Führungsvielfalt

Wie können Unternehmen ihren wirtschaftlichen Erfolg und gleichzeitig ihre gesellschaft-

liche Akzeptanz sichern? Wann sind sie attraktiv für junge Talente, für neue Kunden aber

auch für internationale Kooperationen? Eine Voraussetzung lautet: Diversität – auch im

Top-Management. Gerade am Beispiel der Berufung von Frauen in Vorstandsgremien zeigt

sich, dass Vielfalt nicht immer einfach zu erreichen ist. Wie kann die Integration von Frauen

erfolgreich gelingen?

Erscheint als E-BookEBOOK

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ISSN 2511- 6363 | 112 SeitenEinzelheft: 9,90 Euro

Jahresabo: 25,00 Euro

Donald Trump plant, was Ronald Reaganmachte: brutal Steuern senken

Hermann Adam über die Folgen

oxiblog.de/von-der-lafferkurve-zur-defekten-schultoilette

Kritik der Ungleichheit:Eine Überdosis Pikettyverteilungsfrage.org

Infos, Analysen und Positionen rund um das Thema Ungleichheit werden auf dem Blog verteilungsfrage.org — Untertitel: Zur Politik und Ökonomie der Ungleichheit — zusammengetra-gen. Sie werden aus einer wirtschafts-wissenschaftlichen Perspektive präsen-tiert und als Fragen von Gerechtigkeit kommentiert. Julian Bank, wissenschaft-licher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Sozialökonomie der Universität Duisburg-Essen, zeichnet als Verantwortlicher. Das Blog ist offen für Gastbeiträge und Kommentare zur Vermögens- und Einkommensverteilung.

Thomas Piketty‘s Buch „Capital in the 21. Century“ hat es dem Bloginhaber be-sonders angetan. War es zu Beginn ‚nur‘ ein detaillierter Beitrag über die umfang-reiche Berichterstattung zur englischen Ausgabe des Buches, so gibt es seit dem Erscheinen der deutschen Ausgabe (Oktober 2014) eine „Piketty Sonderseite“. Auf dieser Seite ist alles zu finden – und noch mehr –, was der Interessierte über den Autor und sein Werk schon immer wissen wollte. In einer Unterrubrik „Weekly Piketty“ wurden zeitweise sogar wöchentlich Textstellen aus dem Buch dis-kutiert und die Berichterstattung weiter-verfolgt. Dieses Projekt wurde dann nach neun Wochen eingestellt.

Im Januar stand der am Neujahrstag 2017 verstorbene Anthony B. Atkinson im Zentrum, „der wohl bedeutendste Ungleichheitsforscher unserer Zeit“. Julian Blank hat viele Nachrufe in den Massenmedien und auf Twitter gesam-melt und zusammengestellt.

Die Möglichkeit, die Beiträge des er-sten und zweiten Jahres von verteilungs-frage.org kostenfrei als PDF herunterzu-laden und nachzulesen, sowie der optio-nale Newsletter, der hilft, über neue Beiträge auf dem Laufenden zu bleiben, sind definitiv ein Plus. Wer sich ausgiebig mit Verteilungsgerechtigkeit – unter be-sonderer Berücksichtigung von Piketty – beschäftigen will, ist hier an der richtigen Adresse. (far)

Von A bis Z – einThementummelplatzsoziologie.de/blogLebendig gestaltet, anregend geschrie-ben: der Soziologenblog.

Die DGS, die Deutsche Gesellschaft für Soziologie, „ist ein gemeinnütziger Verein, dessen Zielsetzungen vor allem da-rin bestehen, sozialwissenschaftliche

Probleme zu erörtern, die wissenschaft-liche Kommunikation der Mitglieder zu fördern und an der Verbreitung und Vertiefung soziologischer Kenntnisse mit-zuwirken“. So beschreibt die DGS sich und ihre Ziele auf ihrer Homepage. Seit rund fünf Jahren hilft ihr ein Blog, diesen Zielen näher zu kommen. Begonnen hat das Blog mit dem ersten Eintrag im September 2011, in dem Günter Voß (der zusam-men mit Hans Pongratz die Bezeichnung „Arbeitskraftunternehmer“ schuf) als er-ster Autor stolz verkündete, „die DGS hat jetzt einen Blog ...“.

Die Beitragsdichte liegt zwischen null und neun Texten pro Monat. Das Bemühen um Themenvielfalt, auch um eine gewisse Regelmäßigkeit, ist dem Blog nicht abzu-sprechen. Zwischen A wie „akademischer Kapitalismus“ bis Z wie „Zeitdiagnose“ tummeln sich Themen wie Geschlechter-forschung, Konsum, soziale Ungleichheit und Macht.

Alle zwei Monate wechseln die Autoren, von denen jeder und jede zum persönlichen Fachgebiet schreibt, was den bunten Themenmix erklärt.

Die Möglichkeit, im Archiv alte Beiträge zu lesen und das Blog via E-Mail zu abonnieren, um über neue Beiträge in-formiert zu werden, macht aus dem Ganzen eine runde Sache.

Schade nur, dass die Autoren der DGS nach dem Beitrag über Islamfeindlichkeit im November 2016 so lange in den Winterschlaf verfallen sind. Oder war es ein verlängerter Weihnachtsurlaub? Das interessierte Publikum freut sich auf Mehr. (far)

Ein Angebot, um die Welt besser ordnen zu könnenPolitikum, Viertelsjahreszeitschrift, Einzelpreis 12,80 Euro, Jahresabopreis 39,20 Euro, für Studierende und Referendare 19,60 Euro, Wochenschau Verlag, www.politikum.org

Dieses recht neue und aufwändig gestal-tete Journal ("Analysen, Kontroversen, Bildung") will in monothematischen Ausgaben kompakt Informationen, Argumente und Zusammenhänge zu ein-zelnen bedeutenden Groß-Themen ver-mitteln: In dem Heft "Wer ordnet die Welt?" geht es um die Macht der UNO, die Rolle der Schwellenländer, um das (Macht-)Verhältnis zwischen den USA und China. Weitere Ausgaben: Das Finanzkapital, EUrosion (erste Ausgabe 2017).

Das Ziel der Herausgeber und Verle-ger: Sie wollen die aktuelle Bericht-erstattung ergänzen, indem sie Wissen und Befunde aus den Sozial wissen-schaften zu bedeutenden Fragen von Politik und Wirtschaft in verständlicher Form publizieren. Diese gingen in der all-gemeinen Berichterstattung meist unter, seien jedoch unverzichtbar für eine unab-hängige und fundierte Urteils bildung.

Entsprechend werden die ausgewähl-ten Großthemen auch sehr grundsätzlich behandelt. In einem Debattenteil gibt es jeweils mehrere kurze Interventionen und Kommentare, Ein ausführlicher Rezen-sions teil schließt ab. Bei allen Anstren-gungen ist doch zu merken, dass aus-schließlich Wissenschaftler die Beiträge schreiben.

Die zweite Ausgabe in diesem Jahr wird sich dem Thema Wutbürger widmen.

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VO M R AT Z U R TATM Ä R Z 2 0 1 7 | OX I | S E I T E 2 0

HILFE FÜR GRIECHENL AND

Netzwerk in der Not gegen die NotKREATIVER WIRTSCHAFTEN

„Hochschneidern!“ – Wie Mode auch politisch sein kannGriechenland im Jahr 2012 – vier Jahre Rezession und zwei Jahre durch die Europäische Union verordnete Sparmaßnahmen haben eine hohe Zahl von GriechInnen an den Rand einer sozia-len Krise gebracht. Gesundheits-, Strom- und Lebensmittelversorgung konnte von vielen nicht mehr selbstständig sicherge-stellt werden, der Sozialstaat löste sich unter den Austeritätsmaßnahmen im-mer weiter auf. Überall in Griechenland hatten sich Solidaritätsstrukturen und Gesundheitszentren gebildet, die den Auswirkungen der Austeritätspolitik praktisch etwas entgegensetzen wollten.

Zwischen 180 und 200 solcher Soli-da ri täts strukturen gab es im Herbst 2012. Alle arbeiteten im Kleinen, waren nachbarschaftlich organisiert – eine Galaxie hoffnungsvoller Ideen und Projekte –, und alle versuchten, den ge-sellschaftlichen Verhältnissen etwas entgegenzusetzen. Anfänglich nur als informelles Netzwerk agierend, wurde solidarity4all gegründet, um diese ein-zelnen Solidaritätsstrukturen zu ver-netzen, Wissen auszutauschen, Wider-stand zu bündeln und die Selbstor-

ganisation zu fördern. Das Netzwerk möchte die einzelnen Initiativen weder nach außen vertreten, noch bevormun-den, sondern bildet einen Knotenpunkt für all jene, die sich in Griechenland soli-darisch organisieren (möchten) – einen offenen Raum des Austauschs.

Solidarity4all ermöglicht Grie chIn-nen, die sich engagieren wollen oder selbst in einer Notsituation sind, einen Überblick über bestehende Netz werke, hilft praktisch mit Ausrüstung und Wissen, organisiert nationale und inter-nationale Solidaritätskampagnen und richtet sich an alle Menschen in Griechenland – unabhängig von Her-kunft oder Bedürftigkeitsgrad. Ziel ist es, die Gesellschaft dauerhaft solida-rischer zu gestalten und Wissen und praktisches Können weiterzugeben.

Solidarity4all wird durch den Solidaritätsfonds der SYRIZA-Partei unterstützt. Zurzeit arbeitet das Netzwerk an einem Konzept für eine Solidar ökonomie, das in Griechenland umgesetzt werden soll. asWEBTIPPwww.solidarity4all.gr/files/deutsch.pdf

Es klingt plausibel: Frauen mit Gespür für alles Textile, für Körper, Proportionen und Design und mit dem Wunsch, sich kreativ auszuleben, gründen mit hoher Wahrscheinlichkeit irgendwann ein ei-genes Modelabel. Oberflächlich betrach-tet trifft das auch auf Elisabeth Prantner zu. 1984 gründet die Österreicherin ihr Fashionlabel Lisa D., zieht Anfang der 1990er-Jahre in die Hackeschen Höfe in Berlin, dem Hotspot für alles Kreative in Berlins neuer Mitte.

Doch der Modedesignerin Lisa D. geht es um weit mehr als um Trendfar-ben und Rocklängen, schwingende Säu-me und geschnürte Taillen. Lisa D. setzt auf kluge, kritische Käuferinnen, ist eine Anarchistin unter all den Mode-designpüppchen, die auf Markt, Markt-anteile und Modellverkauf setzen.

Wenn Prantner für ihre Shows den Tränenpalast, die ehemalige Ausreise-halle des Bahnhofs Friedrichstraße, mit großen Eisblöcken auslegt und die Models auf Eiskufen über den „Laufsteg“ schickt, dann ist das ein politisches Statement an symbolischem Ort, an der Schnittstelle zwischen Ost und West. Wenn sie aus ausgedienten Militär-mänteln tragbare Mode für die emanzi-pierte Großstädterin kreiert, dann ist es ein politisches State ment zu Abrüstung, Aufrüstung, Umrüs tung.

Daraus entsteht viele Jahre später die Idee, vorhandene Kleidung nicht ein-fach zu entsorgen, sondern auf- oder umzurüsten. „Bis es mir vom Leibe fällt“ nennt Lisa D. das nächste Fashion-Konzept, ein „Ver-Änderungsatelier“, bei dem es einzig darum geht, vorhandene Lieblingsmodelle zu retten, zu reparie-ren, zu erneuern, wachzuküssen. Lisa D. sagt „hochschneidern, vereinzigartigen, personalisieren“. Und meint damit, vor-handene Kleidungsstücke „länger in der Welt zu halten“. Aus zwei alten Hemden vom Großvater könnte nicht nur eine gute Erinnerung, sondern ein Lieblings-kleid werden, aus alten Nadelstreifen-hosen eine coole Jacke. Ressour cen-verschwendung empört sie, wenn in Deutschland rund 40 Prozent gekaufter Kleidung ungetragen im Müll landen, wie Greenpeace herausgefunden hat. „Wichtig ist mir, Nachhaltigkeit mit einem designerischen und ästhetischen Witz zu verbinden.“

Doch das ist ökonomisch komplex. Vielfach ausgezeichnet und preisge-krönt ist Prantner, aber nicht reich ge-worden mit ihrer Kreativität, ihrer künstlerischen Ader, ihrem überschäu-menden Temperament und mit ihren insgesamt sieben Mitarbeiterinnen in beiden Fashion-Labels. Die Mitarbei-terinnen sind übrigens fest angestellt,

keine Dauerpraktikantinnen, sind sel-ber Designerinnen und versierte Hand-werkerinnen. Ihre Ideen sind unbedingt gefragt und tragen zum Erfolg der Unternehmung bei. Die Hierarchie ist flach. „Ich muss aber ehrlich zugeben, dass ich nie den Wunsch hatte, an groß-en Rädern zu drehen.“ Es wäre total ge-gen ihre Vorstellungen eines geglückten Lebens gewesen. „Wenn du an großen Rädern drehen willst, dann wird für dich als Frau die Luft dünn.“

„Bis es mir vom Leibe fällt“ schlug in Berlin zwar ein wie eine Bombe, der Andrang, die Lieblingsstücke aufzupep-pen, ist hoch, doch in die schwarzen Zahlen kommt Prantner damit nicht. „Ich war und bleibe diesbezüglich ein Hippie“, sagt sie. Die lustvolle, gemein-schaftliche Arbeit sei ihr wichtig. „Die für mich ideale Form wäre eine Genos-sen schaft“, dies sei aber verwaltungs-technisch und steuerlich zu aufwendig. „Und so wage ich jetzt das Experiment, ‚Bis es mir vom Leibe fällt‘ in einem Verein fortzuführen.“ Mit Verwandeln und Fair-Wan deln hat ihr Modeunter-nehmen sowieso immer zu tun. Vielleicht stünde Prantner die Bezeichnung Fair-Änderung auch gut zu Gesicht. Ina KraußWEBTIPPwww.lisad.com/bisesmirvomleibefaellt

„Wenn der Wind der Veränderung weht, bauen die einen Mauern und die ande-ren Windmühlen.“ Dieses chinesische Sprichwort haben die MacherInnen des deutsch-arabischen Kulturmagazins Al Ard, ihrer ersten Ausgabe, Mitte 2016 er-schienen, vorangestellt. Al Ard heißt auf Deutsch die Welt und ist in Deutschland wohl einzigartig. Alle Texte erscheinen zweisprachig, das Magazin ist Ratgeber und Kulturblatt zugleich. Es schreiben Einheimische, aber auch gerade ange-kommene Geflüchtete. Und alle arbei-ten ehrenamtlich, es gibt weder öffent-liche Gelder noch eine Organisation, die das Blatt herausgibt.

Als 2015 immer mehr Menschen nach Deutschland kamen, war für Fadi Mustafa, 33, dem Initiator, klar: „Jetzt ist das Engagement der Bürger gefragt.“ Schnell fand der Mediendesigner, selbst vor 30 Jahren mit seinen palästinen-sischen Eltern aus dem Libanon nach Deutschland geflüchtet, für seine Idee eines deutsch-arabischen Magazins MitstreiterInnen. Das Geld für den Druck der ersten Ausgabe kam per Crowd funding zusammen.

„Wir wollen Brücken bauen zwi-schen Geflüchteten und Berlinern, zwi-schen der deutschen und der arabischen Kultur“, erklärt Fadi das Konzept. Al Ard berichtet in Reportagen und Interviews von Flucht, Vertreibung und Ankunft, über Grenzen und deren Überwindung. „Wir wünschen uns Al Ard, die Welt, als Gespräch“, so Fadi. Gleichzeitig will Al Ard Orientierung bieten, den Neuange-

kommenen und Einheimi schen. Das Blatt informiert, wie Wahlen in Deutsch-land funktionieren oder wie es um die Rechte der Frauen bestellt ist. Jede Aus-gabe enthält deutsch-arabische Bild-wörter karten und Kochrezepte von Spätz le bis Falafel, oft bei gemeinsamen Essen erprobt.

Die Mischung kommt gut an – bei Geflüchteten wie bei Deutschen. Mittlerweile ist bereits die vierte Ausgabe zum Thema Arbeit in der Mache, sie erscheint Mitte März. Kostenlos liegt das Magazin in Flüchtlingsunterkünften und öffentli-chen Einrichtungen aus. Die Ausgabe zum Thema „Frauen und Islam“ war nach wenigen Tagen vergriffen. „Wir würden gerne mehr Exemplare drucken, aber dafür fehlt uns das Geld“, so Fadi. Mühselig müssen für jede Ausgabe Anzeigen akquiriert und Sponsoren ge-sucht werden.

Das Engagement von Al Ard be-schränkt sich nicht nur aufs Blatt-machen. „Wir wünschen uns Begegnun-gen und ein bisschen Normalität“, sagt Fadi. Dafür vermittelt Al Ard zum Bei-spiel Patenschaften zwischen Geflüch-te ten und Einheimischen, schafft Raum für persönliche Begegnun gen auf Festen. Ambitioniert sind auch die Zukunftspläne, Fadi träumt von einer bundesweiten Al Ard. Noch fehlen dafür die Sponsoren. Anne Graef

WEB-TIPP www.al­ard.de

DER ANDERE ALLTAG

Ein textiles Statement, mit dem vorhandene Kleidung länger in der Welt bleibt. So wird Opa immer in bester Erinnerung bleiben und aus seinem Anzug mehr als eine gut sitzende Jacke werden. FOTO : L I S A D.

Ist zweisprachig und macht Lust auf gemeinsame Kultur. FOTO : A L -A R D A L - D.

Wo Lisa D. ihre Mode inszeniert, geht es auch immer um ein politisches Statement. „Bis es mir vom Leibe fällt“ steht für„Hochschneiderei“, einen Veränderungsservice mit modischem und nachhaltigem Anspruch. FOTO : L I S A D.

DA S A N D E R E Ö KO N O M I S C H E WÖ RT E R B U C HM Ä R Z 2 0 1 7 | OX I | S E I T E 2 1

P.PrivatisierungWAS IST GEMEINT?Unternehmen, die sich im Staatseigentum be-finden, werden an private Investoren oder das breite Publikum verkauft. Es gibt die formelle Privatisierung (auch unechte Privatisierung): Ein staatlicher Eigenbetrieb wird in eine pri-vatrechtliche Gesellschaft überführt, der Staat bleibt aber Eigentümer. Es gibt zweitens die funk-tionale Privatisierung: Der Staat betraut private Unternehmen mit Aufgaben, die vorher von der öffentlichen Hand erfüllt wurden. Und es gibt drittens die materielle Privatisierung: Der Staat zieht sich aus seiner Verantwortung vollkommen zurück und überlässt Produktion und Verkauf Privatunternehmen und dem Markt.

WAS SAGEN DIE NEOLIBERALEN? Sie sind große Verfechter der Privatisierung. Begründung: Private erfüllen die meisten staatlichen Aufgaben (Ausnahme: hoheitliche Aufgaben wie Polizei, Verwaltung) effizienter als staatliche Behörden oder von ihnen abhän-gige Unternehmen. So könnten vormals staatli-che Leistungen den Bürgern kostengünstiger und stärker an ihren Bedürfnissen orientiert angebo-ten werden. Das Motiv: Die Privatisierung eröff-net der Privatwirtschaft neue Geschäftsfelder und Gewinnperspektiven.

WAS SAGEN DIE KEYNESIANER?Sie sind gegen Privatisierungen, da staatli-che Unternehmen unter anderem öffentliche Beschäftigungsprogramme unterstützen sollen. Aus gesellschaftspolitischen Gründen ist für sie Vollbeschäftigung ein vorrangiges Ziel. Der Staat spielt in ihren Augen dabei eine wichtige Rolle. Er muss zudem im Interesse des Gemeinwohls auch für alle Bereiche der Daseinsvorsorge (Wasserversorgung, Verkehr, Bildung, Gesundheit etc.) verantwortlich sein. Das bedeutet: Unternehmen in diesen Bereichen dürfen nicht nach privatkapitalistischen Grundsätzen mit dem Ziel der Profitmaximierung geführt werden. Diese Unternehmen müssen effizient geleitet werden, ihre Geschäftspolitik hat sich jedoch am Bedarf der Bürger auszurichten.

WAS SAGEN POSTKAPITALISTEN?Sie sehen sehen in profitorientierten Privatunter-nehmen die Triebfeder immerwährenden Wirt-schaftswachstums. Staatliche Unternehmen sollten deshalb nicht nur erhalten, sondern sogar ausge-baut werden. Sie könnten den Markt korrigieren und Vorbilder für ökologisches Wirtschaften sein. Hermann Adam

C.CrowdworkingWAS IST GEMEINT?Übersetzt heißt es wörtlich „Arbeiten in der Masse“. Das ist irreführend. Crowdworking müsste eher Internet-Auftragsbörse genannt werden. Beim Crowd working zerlegen Unternehmen Projekte in kleine Aufträge, die gegen geringe Honorare an Studenten oder Selbstständige vergeben werden. Diese Aufträge werden auch Mikrojobs genannt. Die Auftragnehmer werden über Crowdworking-Plattformen vermittelt. Die Mikrojobs werden über das Internet angeboten. Die Plattformbetreiber kas-sieren Provisionen von den Honoraren.

WIE WIRD GEARBEITET?Es gibt feste Aufträge und solche, die im Wettbe-werb vergeben werden. Bei festen Aufträgen geht es beispielsweise um das Texten von Produktbe-schreibungen, um Webrecherche, Online-Umfragen oder die Optimierung von Webshops. Dabei werden für eindeutig definierte Tätigkeiten Honorare aus-geschrieben. Diese Honorare sind im Vergleich zu Vor-Internet-Zeiten extrem niedrig. Das funktio-niert, weil bei den Plattformen Hunderttausende Mikrojobber aus aller Welt konkurrieren. Dieser Wettbewerb führt zu massivem Honorar-Dumping.

Bei der anderen Form der Auftragsvergabe geht es um kreative Tätigkeiten, wie beispielsweise die Gestaltung eines Firmenlogos oder das Erfinden eines Claims für eine Produktwerbung. Hier sam-melt das Unternehmen alle eingehenden Ideen und sucht sich eine aus. Nur diese Idee wird auch be-zahlt. Alle anderen Zulieferer gehen leer aus. Das können Hunderte oder auch Tausende sein. Das Unternehmen hat natürlich als Ideenreservoir alle eingegangenen Vorschläge in der Schublade. Für solche „Pakete“ mussten vor der Zeit des Crowd-working teure Agenturen bezahlt werden, die ein ganzes Team mit der Ideenfindung beauftragten.

WELCHE PLATTFORMEN GIBT ES?Die größte Plattform für Mikrojobs sitzt im austra-lischen Sidney und heißt „Freelancer“ (übersetzt „freier Mitarbeiter“). Dort sind über 18 Millionen Nutzer eingetragen, davon über 300.000 aus dem deutschsprachigen Raum. Mikrojobs werden von dort aus in 250 Ländern abgewickelt. Die meis-ten Tätigkeiten werden hier in den Bereichen Softwareentwicklung, Texte, Datenerfassung, Web-de sign und Webmarketing vergeben. Immerhin gibt es hier eine Liste von Mindestpreisen für Arbeiten wie Webdesign oder Textproduktion.

In Deutschland gehört die in Essen beheimate-te Crowdworking-Plattform „Clickworker“ zu den ganz Großen. Hier sollen aktuell etwa 800.000 Menschen auf kleine Jobs lauern. Die meisten sind

Studenten und Solo-Selbstständige aus aller Welt.Global sollen laut der Internationalen Arbeitsorga-nisation aus Genf bereits über 20 Millionen Men-schen als Mikrojobber eingetragen sein. Und jeden Monat kommen einige Zehntausend hinzu.

WELCHE BEGRIFFE KURSIEREN NOCH IN DEN MEDIEN?Neben „Crowdworking“ werden unterschiedliche Begriffe für ähnliche Formen der Auftragsvergabe verwendet. Es begann im Jahr 2000 mit „Click-working“, als die US-Raumfahrtbehörde NASA un-bezahlte Freiwillige suchte, um Marsfotos aus-zuwerten. Der Begriff „Clickworker“ wanderte dann in die US-Wirtschaft. Dort ging es um ho-norierte Mikrojobs. Dafür bürgerte sich auch die Bezeichnung „Paid Crowdsourcing“ ein, übersetzt „bezahlte Schwarmauslagerung“.

Crowdsourcing bezeichnet — seit ein US-Journalist im Jahr 2006 diesen Begriff geprägt hat — die kooperative oder wettbewerbsorientierte Erbringung von Leistungen mittels internetbasier-ter Dienste und Techniken. Das können auch frei-willige Tätigkeiten sein. Das Internet-Lexikon Wikipedia ist beispielsweise ein solches Projekt, bei dem eine sehr große Zahl Menschen freiwillig und unbezahlt Leistungen erbringt. Dass diese Leistung auch Open Source, also beliebig weiterver-wendbar ist, kommt als besondere Eigenschaft der Wissensplattform hinzu. „Crowdsourcing“ selbst ist wiederum abgeleitet vom bekannten Out-sourcing, also der Verlagerung von Tätigkeiten aus dem Unternehmen an projektorientiert arbeitende Selbstständige, Teams oder Unternehmen.

WAS IST ZU KRITISIEREN?Wenn viele Menschen per Internet in einen glo-balen Wettbewerb um kleine Aufträge treten, gibt es nur einen Gewinner: die Auftraggeber. Auf der Mikroebene des einzelnen Jobsuchers findet also maximale Ausbeutung statt. Auf einer hö-heren Ebene wird das Prinzip des Unternehmens selbst obsolet. Ein Unternehmen, wie der Wirtschaftsnobelpreisträger Ronald Coase 1937 schrieb, existiert nur, weil es günstiger ist, wenn möglichst viele Tätigkeiten unter einem Dach statt-finden. Denn dann sind die Transaktionskosten niedrig. Globalisierung und Digitalisierung haben diese Rationalität aber schon lange ausgehebelt. Immer mehr Tätigkeiten können ausgelagert wer-den. Alle Teilnehmer dieser Wirtschaft werden zu radikal „Freien“ – ohne ein Arbeitsumfeld, ohne Mindestlohn, Kündigungsschutz, Urlaubsan sprü-che, Rente oder gar ein Streikrecht. Jo Wüllner

A.AllmendeWAS IST GEMEINT?Allmende stammt aus dem Altdeutschen und be-zeichnet die im Mittelalter von allen Mitgliedern einer Gemeinde gemeinschaftlich genutzten Wiesen und Weiden. Die Begriffe Commons oder Gemeingüter haben die gleiche Bedeutung. Die Allmende (Gemeingüter) sind Gaben der Natur, wie Luft, Wasser und Boden, die allen Menschen gehören. Sie wurden entweder ererbt oder von nicht immer eindeutig identifizierbaren Personen und Gruppen hergestellt und weitergegeben bezie-hungsweise zum Gemeingut erklärt. Strikt davon zu trennen sind Kollektivgüter oder öffentliche Güter. Hierbei handelt es sich um Güter, die erstellt wer-den müssen und von deren Nutzung niemand aus-geschlossen werden kann, beispielsweise öffent-liche Sicherheit und Infrastruktur. Über deren Produktion entscheidet in der Regel der Staat be-ziehungsweise die Parlamente.

WAS SAGEN DIE NEOLIBERALEN? Sie sehen in Gemeingütern die Gefahr der Übernutzung: denn alle haben Zugang und ver-werten sie beliebig und ohne Rücksicht auf Erhalt. Mit dieser angeblichen Tragik der Allmende recht-fertigen sie die Überführung von Ressourcen, die nur begrenzt vorhanden sind, wie der Boden, in Privateigentum. Denn Privateigentümer hätten das Interesse, die Allmende zu erhalten, weil sie daraus dauerhaft Profit ziehen wollten.

WAS SAGEN DIE KEYNESIANER?Keynes hatte die Vision, dass die Menschen eines Tages genug produzieren würden, um all ihre Bedürfnisse zu befriedigen, ohne länger als drei Stunden täglich arbeiten zu müssen. Für ihn stell-te sich daher das Problem der Übernutzung der na-türlichen Ressourcen nicht.

WAS SAGEN DIE POSTKAPITALISTEN?Sie sehen keine Tragik der Allmende wie die Neoliberalen. Sie betonen: Die Gemeingüter sol-len keine freien Güter sein, von denen alle so viel nehmen dürfen, wie sie wollen. Vielmehr müsse es strikte Regeln geben, wie die Allmende zu nut-zen sei. Sie bestreiten, dass der Mensch nur seinen kurzfristigen Vorteil anstrebt. Werde gemeinsam über die Nutzungsregeln entschieden, hielten sich auch alle daran, eine Übernutzung werde verhindert. Denn alle seien am Erhalt der Allmende interessiert. Genossenschaftliches Eigentum wäre deshalb für die Allmende die angemessene Eigentumsform.

Hermann Adam

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Page 12: OXI · ‚Traum-Seite‘ der OXI zu schreiben, dachte ich an eine Utopie. Ich überlegte, zu beschreiben, wie schön das Leben sein könnte. Solche Träume haben den Vorteil, dass

Die Theoretikerin der „Dritten Welt“ D E R C LU B D E R TOT E N D E N K E R I N N E NM Ä R Z 2 0 1 7 | OX I | S E I T E 2 3

VON JÖRN SCHÜTRUMPF

Ihren eigenen Berufsstand überflüssig zu machen, war die Absicht von Rosa Luxemburg: Wenn die Warenproduktion überwunden sei, werde die po-litische Ökonomie enden; nichts Geringeres hat-te sie im Sinn. Politisch wie wissenschaftlich kam Rosa Luxemburg aus der Schule von Karl Marx, wur-de allerdings nicht zu einer der vielen Epigonen des Denkers aus Trier. Ganz im Gegenteil.

Um die kapitalistische Mehrwertproduktion — zu deren DNA (um den Preis des Untergangs) das Wachstum, die ständige Ausweitung gehört — ana-lysieren zu können, hatte sich Marx entschlos-sen, mit einem vereinfachten Modell zu arbei-ten. Er unterstellte eine Gesellschaft, die lediglich aus Kapitalisten und Lohnarbeitern besteht; eine Gesellschaft also, die es so nie gegeben hat, was Marx selbst immer wieder betonte. Doch nur unter diesen „Laborbedingungen“ war es ihm möglich, die Zusammenhänge dieser Produktionsweise freizu-legen. Er konnte zeigen, wie der Mehrwert entsteht, wie er nicht konsumiert, sondern in die Produktion eingespeist (akkumuliert) wird, um noch mehr Waren herzustellen und noch mehr Mehrwert zu er-zielen. Jeder Kapitalist, der sich diesem Spiel verwei-gere, so Marx, werde über kurz oder lang niederkon-kurriert. Rosa Luxemburg glaubte, Marx habe keine triftige Antwort auf die Frage, woher das Wachstum, woher der ständig steigende Absatz, also die gewinn-bringende Rückverwandlung des in Waren ange-legten Kapitals in mehr Kapital, komme.

Hier setzte Rosa Luxemburg an. Sie ging von der Annahme aus, dass in einer Gesellschaft, die nur aus Kapitalisten und Lohnarbeitern bestünde, eine Ausdehnung des Absatzes unmöglich sei. Sie ver-warf Marx aber deshalb nicht, sondern nahm sei-ne Erkenntnisse und begab sich auf den Rückweg — vom Modell zur Wirklichkeit. Dort glaubte sie einen Ausweg entdeckt zu haben: die nichtka-pitalistischen Absatzmärkte. Ihre Erkenntnis: „Die kapitalistische Produktion ist als echte Massenproduktion auf Abnehmer aus bäuerlichen und Handwerkskreisen der alten Länder sowie auf Konsumenten aller anderen Länder angewie-sen, während sie ihrerseits ohne Erzeugnisse die-ser Schichten und Länder (sei es als Produktions-, sei es als Lebensmittel) technisch gar nicht auskom-men kann.“ So musste sich von Anfang an zwischen der kapitalistischen Produktion und ihrem nicht-kapitalistischen Milieu ein Austauschverhältnis entwickeln, bei dem das Kapital die Möglichkeit fand, den eigenen Mehrwert zu verwirklichen, sich mit nötigen Waren zur Ausdehnung der eigenen Produktion zu versorgen und neue Arbeitskräfte zu gewinnen, indem sie diese nichtkapitalistischen Produktionsformen zersetzte. In der Akkumulation und der Ausdehnung der Absatzmärkte erkannte Rosa Luxemburg das eigentliche Geheimnis des Imperialismus ihrer Zeit.

Diese Auffassung hatte Rosa Luxemburg 1913 — episch lang — in ihrem Werk „Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus“ entwickelt. Sie hoffte auf ei-nen großen Erfolg, er blieb allerdings aus. Außer ihrem Verbündeten Franz Mehring (1846-1919) — Publizist, Historiker und einer der ersten Marx-Biografen —, der den mehr als 70 Zeitungen der SPD eine positive Rezension kostenlos zur Verfügung stellte, reagierte das SPD-Establishment auf die an der Parteibasis beliebte radikale Genossin eher verschnupft. Vor allem wegen der Angriffe von Rosa Luxemburg auf die immer halbherzigere Politik der SPD-Führung, die am 4. August 1914 schließlich in die Zustimmung der SPD-Reichstagsfraktion zu den Kriegskrediten mündete. Unter diesem Konflikt litt eben auch die Resonanz auf ihr Werk.

Ihr Buch war übrigens wirklich nicht gut gera-ten: Über weite Strecken lesen sich die ersten 200 Seiten wie eine Selbstverständigung, teilweise wie ein Rohentwurf. Ganz anders fallen nur die sieben historischen Kapitel über Akkumulation, Imperia-lis mus und Militarismus am Ende des Bandes aus.

Nach ihrem Misserfolg antwortete Rosa Luxemburg ihren Kritikern in einem weiteren Werk, das unter dem Titel „Antikritik“ in die Literatur eingegan-

gen ist. Diese Arbeit verfasste sie 1915, als sie we-gen ihrer kompromisslosen Antikriegspolitik eine einjährige Gefängnisstrafe im „Weibergefängnis“ in Berlins Barnimstraße abzusitzen hatte. Da niemand wagte, von der Ausgestoßenen etwas zu drucken, erschien das Buch erst 1921 bei Frankes Verlag in Leipzig, zwei Jahre nach der Ermordung der Autorin.

Der Fortschritt in der „Antikritik“ lag weniger im Dargelegten als in der Darlegung. Denn hier ge-lang Rosa Luxemburg eine schlüssige Analyse auf sprachlich hohem Niveau. Allerdings wies auch die „Antikritik“ theoretische Schwächen und empi-rische Fehler auf. Erst Fritz Sternberg (1895-1963), Ökonom und sozialistischer Politiker, überwand ei-nige dieser Defizite in seinem Buch „Der Imperialismus“ (1926). Wer sich mit Rosa Luxemburgs Akkumulationstheorie beschäftigen will, sollte daher am besten mit Sternberg begin-nen. Wie oft in der Wissenschaftsgeschichte be-gann auch hier der Fortschritt nicht mit den rich-tigen Antworten, sondern mit klugen Fragen. Die hat Rosa Luxemburg gestellt, aber nur zum Teil auch richtig beantwortet.

Diese Revolutionärin beförderte den Fortschritt vor allem mit ihren klugen Fragen.

Die Wirtschaftswissenschaftlerin, Politikerin und Revolutionärin Rosa Luxemburg (1871-1919) gilt Linken weltweit als Ikone. Sie wird heute aber fast ausschließlich in Lateinamerika rezipiert. Ihre Maxime, Freiheit sei immer die Freiheit des Andersdenkenden, ist dagegen in beinahe allen politischen Lagern zum geflügelten Wort geworden.

LEBEN

Rosa Luxemburg stammte aus einer bildungsbürger-lichen jüdischen Familie aus Zamosc, Polen. Dort wurde sie am 5. März 1871 als Tochter eines Holzhändlers gebo-ren, sie wuchs in Warschau auf. 1889 ging sie zum Studium der Botanik nach Zürich.

Dort verliebte sie sich in Leo Jogiches, den Spross einer litauischen Bankiersfamilie, der wegen revolutio-närer Aktivitäten Russland hatte verlassen müssen. Jogiches sah in der Hochbegabten nicht nur seine Geliebte, sondern auch ein Werkzeug für seine politi-schen Absichten. Sie war in Wort und Schrift brillant und beherrschte mehrere Spra chen. Ihm zuliebe wechselte sie zur Wirtschafts wissenschaft; ihre Schriften werden auch noch hundert Jahre nach ihrem Tod verlegt – welt-weit.

Zusammen mit Jogiches gründete sie 1893 die „Sozialdemokratie des Königreichs Polen“. 1898 übersie-delte sie nach Deutschland und rückte dort schnell in die erste Reihe der europäischen Sozialdemokratie auf.

Da Rosa Luxemburg an der revolutionären Ausrichtung der Sozialdemokratie festhielt, isolierte sie sich zunehmend. Während des Ersten Weltkrieges war sie die meiste Zeit in Haft. Bei der Revolution 1918 galt sie neben Karl Liebknecht als Kopf der deutschen Linken. Beide wurden am 15. Januar 1919 ermordet.

WEITERE WERKE Die industrielle Entwicklung Polens (1898)Sozialreform oder Revolution? (1899)Die russische Revolution (1922)

FOTO: ROSA-LUXEMBURG-STIFTUNG

Der marxistische Kunstkritiker Mario Pedrosa (1900­1981) führte in den 1940er­Jahren das Denken Rosa Luxemburgs in Brasilien und später in ganz Lateinamerika ein. Er nahm Ende der 1970er­Jahre den Faden noch ein­mal auf, indem er an Rosa Luxemburgs Theorem von der Beseitigung aller nichtkapitalistischen Produktionsweisen anknüpfte und dieses im Lichte der damals aktuellen Entwicklungen betrachtete: „Die Grenzen des tropischen Afrika, die Wälder des Amazonas ..., Lateinamerikas Gebirge ..., die imperialen Mächte suchen schlau in den Meeren, in den Wüsten, unter der Erde, alles das, was für ein zukünftiges Monopol brauchbar ist.“

Rosa Luxemburg hat in der Unterwerfung nichtkapi­talistischer Produktionsweisen unter die Logik der Kapitalverwertung noch einen einmaligen Vorgang ge­sehen. In den Jahrzehnten danach zeigte sich, dass es sich in Wirklichkeit um eine immer tiefere Durch­dringung aller gesellschaftlichen Beziehungen handelt. Ihre Vorstellung, die Durchkapitalisierung der Welt wer­de an eine ökonomische Grenze stoßen, war also zu kurz gedacht.

Der Humangeograf, Sozialtheoretiker und Marxist David Harvey (geb. 1935) zeigte bereits vor Jahren, wie die „Akkumulation durch Enteignung“ – so der deutsche Untertitel seines wichtigsten Buches (2003) – nun auch auf öffentliche Güter übergreift: beispielsweise in Form der Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen, von Bildung und Kultur.

Auf andere Weise taucht Rosa Luxemburgs theore­tisch falscher, aber politisch sehr wohl sinnvoller Gedanke von den Grenzen der Durchkapitalisierung – darauf hat jüngst Isabel Loureiro, brasilianische Historikerin und Luxemburg­Biografin, aufmerksam ge­macht – im ökologischen Diskurs wieder auf: „Das aktu­elle Modell der ‚Akkumulation durch Expropriation’ ist ... mit landwirtschaftlichen Problemen verbunden, die nicht nachhaltig sind: Expansion von Monokulturen, Anwendung von Pestiziden, Bodendegradation, Entwaldung, Zerstörung der Biodiversität ...“ Das Kapital, so Isabel Loureiro, könne nicht ewig akkumulie­ren: „Allerdings nicht, weil die gesamte Welt einst durchkapitalisiert sein wird, so dass der Kapitalismus", wie Luxemburg fälschlicherweise annahm, „seine lo­gische und historische Grenze finden würde, sondern wegen der natürlichen Grenzen unseres Planeten.“

WEITER DENKEN

Anregend für eine Politik der Ökologie

DER AUTOR Jörn Schütrumpf, Jg. 1956, Dr. phil., Studium der Geschichte an der Karl-Marx-Universität Leipzig, u. a. Herausgeber von Texten von Angelica Balabanoff, Paul Levi und Rosa Luxemburg, leitet in der Rosa-Luxemburg-Stiftung die Fokusstelle Rosa Luxemburg.

VON MARGARITA TSOMOU

Die Verhandlungen der griechischen Regierung mit der Quadriga gleichen einem zähen Trauerspiel. Nun sind sie im dritten Akt angekommen. Wie ge-wohnt kommt die Grexit-Drohung auf den Tisch, die Handlung spitzt sich zu. Doch das Skript die-ses Verhandlungsverlaufs scheint nicht dem klas-sischen Aufbau eines Dramas zu folgen, in dem nach dem Höhepunkt des Konflikts eine erlösende Katharsis folgt. Vielmehr wirken die Verhandlungen wie absurdes Theater.

Das absurde Theater zeichnet sich durch die Darstellung von Sinnfreiheit aus: Es führt eine gro-teske Welt auf, die nicht von Logik geprägt, statt-dessen durch irrationale und widersprüchliche Akte getrieben ist. Wie Figuren bei Samuel Beckett drehen sich auch diese Akteure im Kreis: Seit November wird die Einigung fast wöchentlich ver-schoben.

Gestritten wird diesmal vor allem darüber, dass die griechische Regierung über keine vorbeu-genden Maßnahmen für weitere drei bis vier Jahre nach dem Ablauf des Kreditprogramms 2018 ent-scheiden will. Es wäre „absurd", so der griechische

Minister Christoforos Bernadakis, da solche Maßnahmen nicht mal in die Legislaturperiode der bestehenden Regierung fallen würden.

Doch diese Logik greift nicht bei den Gläubigern. Selbst wenn der griechische Haushaltsüberschuss Ende 2017 mit 3,5 Prozent überraschend hoch ausgefallen ist, das BIP uner-wartet Ende 2016 um zwei Prozent gestiegen ist und die Staatseinnahmen aufgrund horrender Besteue run gen um 320 Millionen ihr Soll übertrof-fen haben, scheint es nicht genug, um die Angst vor einem Ausfall der Schuldentilgung zu besänftigen. Und selbst wenn man meint, dass es für die Selbsterhaltung der eigenen neoliberalen EU-Architektur vernünftig erscheint, ein Zeichen der Geschlossenheit zu zeigen, kommt es zu keinem er-lösenden Finale.

Nicht zuletzt auch, weil der IWF der Ansicht ist, dass die gesetzte Zielmarke von 3,5 Prozent Haushalts überschuss zur Schuldentilgung für die nächsten fünf Jahre wirklichkeitsfern ist, und ei-nen Schuldenschnitt fordert. Das hält Schäuble für ausgeschlossen, will aber auch nicht, dass der IWF als Gläubiger aus dem Programm aussteigt. Griechen land muss den Wünschen von IWF und

Europäern nachkommen, selbst wenn sich diese wi-dersprechen. Der IWF steht unter Druck, da er nun mehrmals Fehlkalkulationen eingestehen musste – neulich sorgte wieder ein Leak für Schlagzeilen, bei dem öffentlich wurde, dass der Chefökonom des IWF, Blanchard, sowie früher Strauss-Kahn selbst die Gläubiger bereits 2010 informierten, dass das griechische Hilfsprogramm‟ ohne Schuldenschnitt nicht tragfähig sein werde. Blanchard kommen-tierte: „Sieben Jahre danach und es gibt immer noch keinen realistischen Plan.‟ Für die Menschen in Griechenland erscheint es völlig absurd, dass heute das gleiche Vorgehen mit erhöhter Schuldenlast er-folgreich sein soll“.

Und obwohl sie nicht an den Sinn der Präventivmaßnahmen glauben, lenkten die Grie-chen ein. Wirtschaftsminister Tsakalotos for der te im Gegenzug zum zigsten Mal eine Wieder-aufnahme der Gespräche um den Schul denerlass und behielt sich vor, ausgleichende soziale Maß-nahmen zu treffen, wie die Senkung der Mehr-wertsteuer auf Lebensmittel um ein Prozent und eine leichte Senkung der Immo biliensteuer. Denn er weiß, dass ein Schul denerlass die Bevölkerung nicht unmittelbar entlasten wird und dass sein

Vorgehen im Kern widersprüchlich ist. Eine tra-gische Ironie: Die Syriza-geführte Regierung stellt die Rückkehr Griechenlands an die Finanzmärkte als ihr wichtigstes Ziel dar. Enttäuschend ist nicht, wie sie die Verhandlungen führt, sondern dass sie ihr politisches Projekt an den hirnrissigen Rahmen der Memoranden angepasst hat, ohne nach realis-tischen Auswegen zu suchen. In Griechenland sind nicht nur epochale strukturelle Anpassungen ge-lungen, sondern auch die Disziplinierung der Vorstellungskraft und Visionen, von dem, was mög-lich ist. Wir bleiben die ZuschauerInnen eines ab-surden Theaters. Regierung und Bevölkerung wer-den weiterhin warten: auf eine Einigung der GläubigerInnen, den Grexit, die europäische Linke, eine überraschende Abzweigung der Geschichte oder vielleicht doch nur auf Godot.

VON CORINNA VOSSE

Eigentlich sind Menschen stolz darauf, wenn sie et-was selber machen. Das lässt sich schön an Kindern beobachten. Bei Erwachsenen führt die Orientierung an geltenden Maßstäben industrieller Fertigung dazu, dass Selbermachen scheitern muss. Wenn Menschen also nichts mehr selber machen, ist es ih-nen ausgetrieben worden. Einerseits. Andererseits wird man die Mühe selbst schnell leid und sucht nach einigen reparierten Fahrrädern, eingekoch-ten Ernten oder eingesetzten Reißverschlüssen bereitwillig nach Wegen, diese Aufgaben loszuwer-den. Es lohnt sich, dieses Spannungsfeld genauer zu betrachten, denn es steht in Beziehung zu unseren großen wirtschaftlichen Problemen.

Was bedeutet Selbermachen wirtschaftlich ge-sehen? Zwei Aspekte sind zu unterscheiden. Es kann darum gehen, für eine bestimmte Leistung Geldausgaben zu vermeiden. Oder es steht im Vordergrund, anders produzieren zu wollen, und damit auch eine andere Produktqualität oder zu-mindest in Teilen des Lebens eine andere ökono-mische Praxis anzustreben. In beiden Fällen ist Voraussetzung, dass das Wirtschaftssubjekt über entsprechendes Wissen und Können verfügt und Zugang zu den benötigten Produktionsmitteln hat.

Fall eins ist in Deutschland sehr verbreitet. Nicht von ungefähr haben wir europaweit die größ-te Baumarktfläche pro Kopf. Handwerksarbeit ist teuer, Material ist billig, solange die Kosten exter-nalisiert werden. Und Ausgaben für Dienst-leistungen zu vermeiden hat sowieso Tradition in der Servicewüste Deutschland, wo Schnäppchen-jagd ein angesehenes Hobby ist. Aber auch Fall zwei hat seit einiger Zeit Konjunktur. Das hat weniger damit zu tun, Geld sparen zu wollen, als mit der Sehnsucht nach Autonomie, nach Sinn und Verbundenheit in einer bürokratischen, hoch ar-beitsteiligen und medialisierten Welt. Selten dient unser Tun im Arbeitsleben unmittelbar dem Leben, selten sehen wir ein Ergebnis.

Etwas herstellen zu können heißt, auch unmit-telbar zur eigenen Versorgung beitragen zu kön-nen. Das mag Menschen beruhigen, die von den ganzen Blackout- und Peak-Everything-Szenarien verstört sind. Es ist aber ebenso unverzichtbare Voraussetzung für eine ökologischere Organisation unseres Wirtschaftens. Wie sonst soll die Dekarbonisie rung funktionieren, wenn wir nicht neben aller technischen Effizienz wieder selber Arbeit verrichten, wo sie benötigt wird.

Aber einen Zugang zum Selbermachen zu ent-wickeln erfordert Eigensinn. Produktionsmittel

und Wissen fehlen, Kaufen ist gelebte Normalität. Wohin in dieser Umgebung mit saisonalen Überschüssen, wo lagern Material und Werkzeuge? Zumindest der Erfahrungsaustausch und die so-ziale Formierung sind mit Hilfe des Internets ein-facher geworden. Hierin lauert gleichzeitig die nächste Gefahr: Praxen werden in virtuellen Communitys leicht idealisiert. Selbermachen gilt als per se besser. Unklar ist, woran gemessen wird. Das zuh Hause gebackene Brot ist energieaufwen-diger als das gekaufte. Womöglich geht es in sol-chen Fällen doch nur um individuellen Nutzen und nicht um die Neuorganisation von Produktion, wie es der Bewegung oft zugeschrieben wird.

Das Gefühl, auf der richtigen Seite zu sein, ist nach meiner Wahrnehmung bei vielen fest veran-kert. Dafür kann es schon reichen, mal ein paar Kräuter in eine Olivenölflasche zu stecken oder eine Marmelade aus Marktfrüchten zu kochen. Sogar die Schnittstelle zum entbetteten Markt ist von DaWanda und Etsy bereits organisiert. Richtig ernst wird es nicht, weil wir jederzeit aufhören kön-nen mit dem Selbermachen – lange bevor es Arbeit wird. Derweil ändern sich Eigentumsverhältnisse und Produktionsbedingungen in keiner Weise. Die anstrengenden Arbeiten machen, wenn wir mit un-seren Selbsterfahrungsexperimenten fertig sind,

praktischerweise immer noch andere Menschen oder fossil betriebene Maschinen für uns.

Das klingt womöglich sehr protestantisch. Aber es ist eine Tatsache, dass es mühsam ist, auch nur ei-nen Teil der Verantwortung für die eigene Versorgung zu übernehmen. Darum sind industri-elle Produktion und globale Ausbeutung solche Erfolgskonzepte. Selbermachen kann Kritik dieser Verhältnisse und ein Schritt hin zu nachhaltiger ökonomischer Organisation sein. Dazu muss es aber aus dem Bereich des Exemplarischen und der Moral herausgebracht werden. Und das funktio-niert nicht additiv, nicht als zusätzliche Optimierungsstrategie oder Freizeitbetätigung. Mehr braucht es nicht für diesen ersten Schritt, aber auch nicht weniger: unsere Anstrengung und unsere Zeit.

VON OLIVER TANZER

Der Körper hat ein ausgeklügeltes System, mit Müdigkeit oder Alkoholisierung umzugehen. Die Wahrnehmung reduziert den Blick auf einen Sichttunnel. Das hilft, die Konzentration auf das scheinbar Wichtigste zu erhalten. Alles, was direkt vor einem liegt ist klar, der Rest verschwimmt.

In einem ähnlichen, gleichsam angeheiterten Zustand scheinen sich derzeit Politik und Medien zu befinden. Da geht zunehmend der Blick für das Ganze verloren und auch das Bewusstsein für das, was hinter uns liegt. Übrig bleiben das Offensichtlichste, das Grellste und das Bunteste. Und so folgen wir auch als Medienkonsu menten ausgetretenen Pfaden einer ermüdeten oder be-rauscht verzerrten Wahrnehmung.

Diese Wahrnehmung besteht seit Monaten aus den immer gleichen Bildern und Motiven. Es sind Tweets, mit denen sich der neue US-Präsident Trump gerne in die Öffentlichkeit stellt. Sie sind die Rampen für seine Attacken, sein Imponiergehabe, seine superlativ-rhetorischen Schwellungen. Offensichtlich erzeugen diese postmodernen Depeschen einen starken hypnotischen Sog, der die Medien vollkommen hilflos in Empö rungsritualen

über dieses oder jenes Zitat versinken lässt. Eine alte Regel aus dem Boxsport besagt, dass derjenige, der agiert, einen Vorteil hat gegenüber dem Reagierenden. So etwas kann man Faustregel nen-nen, und sie passt derzeit sehr gut auf Donald Trump. In unserem Tunnelblick ist er das einzige Objekt, das die ganze Aufmerksamkeit konsu-miert. Denn noch ehe das Konkrete, das Vorliegende erfasst werden kann, steht schon sei-ne nächste Botschaft auf der Timeline der Ungeheuerlichkeit. Und diese Bot schaften umfas-sen immer nur Banales, Vorur teilsschwangeres, Feindbildliches, Teilendes: An einem Tag sind es die Mexikaner, am anderen die Demonstranten, die bö-sen Medien, die intriganten Geheimdienste.

Aber das ist eben nur die Oberfläche einer viel tiefer reichenden Problematik. Denn Donald Trump ist nur der Hofnarr einer sich zersetzenden Gesellschaft, auf deren Boden Typen wie er ihre Erfolge feiern. Nicht nur in den USA. Auch in Frankreich, auch in Deutschland und in meiner Heimat Österreich. Es ist nicht Trumps Mauer ge-gen Mexiko, die unser Drama versinnbildlicht, son-dern es sind die Mauern, mit denen sich die Reichen in den USA gegen den Rest der Gesellschaft absi-chern müssen und die Europäer gegen die

Migration; tatsächlich hält Trump in diesem Punkt der Mauern den Europäern nur einen leicht ver-zerrten Spiegel vor.

Am besten lässt sich das mit Statistiken bele-gen. Seit 2008 haben die oberen zehn Prozent der Bevölkerung der USA ihr Vermögen um 14 Prozent gesteigert, doch der Durchschnittslohn ist gesun-ken. Die 400 reichsten Bürger besitzen über 1,6 Billionen Dollar, auf der anderen Seite gibt es mehr als 46 Millionen Arme. Leistungsgerechtigkeit? Die Steuer auf Vermögen beträgt 15 Prozent, einfache Angestellte werden mit 30 Prozent abkassiert.

Das ist es, wofür Donald Trump steht und wofür, auch das muss einmal gesagt werden, auch eine Hillary Clinton gestanden hätte. „America, the beautiful“ und mit ihm auch Europa machen gerade ein sehr hässliches Geschäft. Sie lassen sich mit Trumps Angst- und Aggressionsthemen hypnoti-sieren — anstatt selbst in Aktion zu treten und die Ursachen für Trump und Co. mit einer entschlos-senen Politik der sozialen Einbindung zu beseiti-gen. Indem sie die Gesellschaft tauglich für das Zeitalter der Maschinen machen. Indem sie die Globalisierung zu einem System machen, das den Begriff des Common Wealth als Wohlstand aller be-griffen hat.

Stattdessen starren wir auf das, was der Tunnelblick uns serviert, ein blondgefärbtes Skandalon, das von einer dunklen und schweren Misere ablenkt. Wenn wir unsere Lage auf die Situation eines Boxers im Ring übertragen — alle Rockys und Muhammad Alis dieser Welt würden die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Wir sind chancenlos gegen einen Gegner, dessen nächs-ten Schlag wir ängstlich erwarten. Eine Weisheit der amerikanischen Ureinwohner vom Stamm der Cheyenne sagt, dass die Angst ein guter Freund sein kann, oder ein ganz schlechter. Ein schlechter Freund ist sie dann, so heißt es, wenn der Mensch vor der Maus zittert, aber den Wolf im eigenen Rücken nicht bemerkt.

KRISEN-KULTUR

IN BILDERN WIRTSCHAFTEN

PSYCHOKAPITAL

Absurdes Theater und Warten auf Godot

Selber machen

Tunnelblick auf einen blondgefärbten Hofnarren

U N S E R E KO LU M N I ST E NM Ä R Z 2 0 1 7 | OX I | S E I T E 2 2

FOTO: PRIVAT

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DIE AUTORINMargarita Tsomou ist Mitherausgeberin des „MissyMagazine“, Kulturarbeiterin und Aktivistin zwischenDeutschland und Griechenland.

DIE AUTORINCorinna Vosse ist Wissen­schaft lerin, Beraterin und Geschäftsführerin der Akademie für Suffizienz, einem Reallabor für ökologisches Wirtschaften. Sie arbeitet zu­dem im Zentrum für Kulturforschung, Berlin.

DER AUTOROliver Tanzer, Jahrgang 1967, ist Journalist und Wirtschaftsautor. Mit Thomas Sedlacek hat er 2015 mit dem Buch „Lilith und die Dämonen des Kapitals“ einen Bestseller zur Kapitalismuskritik im Hanser Verlag publiziert.

Page 13: OXI · ‚Traum-Seite‘ der OXI zu schreiben, dachte ich an eine Utopie. Ich überlegte, zu beschreiben, wie schön das Leben sein könnte. Solche Träume haben den Vorteil, dass

L E T Z T E S E I T EM Ä R Z 2 0 1 7 | OX I | S E I T E 2 4

BAIERS BESCHWERDEN

Männer mögen es, wenn sie oder zumindest Teile von ihnen mit den beiden Eigenschaftswörtern groß und hart in Verbindung gebracht werden. Mangelt es Männern an Größe, versuchen sie, von Dschingis Khan bis Dominic Strauss-Kahn, es mit mehr Härte auszugleichen. Wenn Männer, zum Beispiel Gewerkschaftsvorsitzende, „Mensch“ sa-gen, beispielsweise in so originellen Sätzen wie „im Mittelpunkt steht der Mensch“, meinen sie in erster Linie den Mann.

Das hat gute, seit Jahrtausenden verbürgte Gründe. Der griechische Philosoph Pythagoras, Experte für Dreiecksverhältnisse, wusste schon 500 vor Christus: „Es gibt ein gutes Prinzip, das die Ordnung, das Licht und den Mann, und ein schlech-tes Prinzip, das das Chaos, die Finsternis und die Frau geschaffen hat.“

Zweieinhalbtausend Jahre eines sogenannten Zivilisationsprozesses haben an dieser Grundein-sicht gelegentlich gerüttelt, sie aber nicht zum Ein-sturz gebracht. „Das Weib ist das niedrig gewach-sene, schmalschultrige, breithüftige und kurzbei-nige Geschlecht, das man das unästhetische nen-nen könnte.“ Googeln Sie Arthur Schopenhauer (1788-1860) und klicken Sie auf „Bilder“!

Anschließend stellen Sie sich die zarte Eleganz des hübschen Gesichts von Donald Trump vor, der über eine Moderatorin gesagt hat: Sie sei „furcht-bar – von innen und von außen. Wenn man sie an-schaut, ist sie eine Gammlerin.“ Er wundere sich da-rüber, dass sie es überhaupt ins Fernsehen ge-schafft habe, und wenn ihm der Sender gehörte, „würde ich Rosie feuern. Ich würde ihr direkt in ihr fettes, hässliches Gesicht schauen und sagen ‚Rosie, du bist gefeuert.‘“

ABER. Es nützt ja alles nichts. Man mag gegen Männer vorbringen, was man will, sie bringen es

einfach. Deshalb bitte ich darum – ich habe die Beiträge zum Titelthema mit wachsender Besorgnis gelesen –, noch einmal darüber nachzu-denken: Soll tatsächlich das Wichtigste, das wir ha-ben, unsere deutsche Wirtschaft, die Exportwelt-meiste rin, die nach der Wiedervereinigung im Osten blühende Landschaften schuf und so jegli-cher Fremdenfeindlichkeit den Boden entzog; die zu kriminellen Mitteln wirklich höchst ungern und nur dann greift, wenn ihr Heiligstes, der Gewinn, bedroht ist, soll diese unsere freie deutsche Wirtschaft in eine Weiberwirtschaft verwandelt, dem Chaos und der Finsternis anheimgegeben wer-den?

Gewiss, Frauen haben gewisse Führungs-qualitäten, wie selbst Martin Luther einräumt: „Weiber sollen nicht über die Männer, sondern über Kinder, Schafe und Esel herrschen.“ Aber hat nicht sogar ein Frühsozialist wie Pierre Joseph Proudhon gewarnt: „Zur Welt der Ideen trägt die Frau nichts bei; sie ist ein passives und entnervendes Wesen.“ Es kann doch kein Zufall sein, dass Frauen so viel weniger verdienen. Es kommt doch nicht von unge-fähr, dass sie vor allem unbezahlt arbeiten oder sich im Niedriglohnbereich tummeln und mickrige Renten beziehen.

Über die tiefer liegenden Abgründe sind sich der Chefdenker der Antike und der Schöpfer des modernen Weltgeistes im Grundsatz einig. Aristoteles, schon als 17-Jähriger in Platons Akademie in Athen aktiv, sieht es so: „Ein weib-liches Kind ist eine Art von Missgeburt und das Weibliche etwas Verstümmeltes im Vergleich zum Männlichen.“ Georg Friedrich Wilhelm Hegel, der schon mal eine Vorlesung ausfallen ließ, weil er mit dem Denken nicht fertig wurde, denkt das auch: „Stehen Frauen an der Spitze der Regierung, so ist der Staat in Gefahr, denn sie handeln nicht nach den Anforderungen der Allgemeinheit, sondern nach zufälliger Neigung und Meinung.“

Das wird böse enden. Sind doch die drei mäch-tigsten Stellen dieses unseres Landes in Frauenhand, das Bundeskanzleramt sowie die Chefredaktionen von „Bild“ und „Bild am Sonntag“.

Frank Baier, 86, lebt als Publizist in Preußen.

WEIBERWIRTSCHAFT

Chaos, Finsternisund die Frauen

GRAFIK: 19TH CENTURY SOURCEBOOK

WIE EIN MARKT

ENTSTEHT: S. 12-13

Kahlschlag in Rumänien

In Rumänien verschwinden die letz-

ten Urwälder. Ein österreichischer In-

vestor macht viel Geld. Die Holzmafia

ist übermächtig, die Nachfrage bleibt

ungebrochen. Eine Geschichte über

Profit, Seilschaften und die Vernich-

tung der Natur.

GESUNDHEIT: S. 16

Andere Kliniken

In Berlin und Hamburg schlagen zwei

Initiativen Wege zur alternativen Ge-

sundheitsversorgung ein. Das Kiez-

Gesundheits-Zentrum Berlin und

die Poliklinik Hamburg wollen eine

Versorgung gewährleisten, die auf die

Bedürfnisse der Menschen ausgerich-

tet ist. Zwei Orte des Aufbruchs, zwei

Beweise, dass es anders geht.

Man kann es nicht totschweigen. Weihnachten naht. Alle haben weise Worte.

Wir nicht. Wir sind verzweifelt. Denn es ist die Zeit von Tinnef, Nippes, Kitsch

und Ramsch. 1908 schrieb der Wiener Architekt Adolf Loos in „Ornament

und Verbrechen“, unsere Volkswirtschaft ginge zugrunde, wenn wir nicht auf-

hörten, unsere Kraft an Nippes und Tinnef zu verschwenden. Er hatte unrecht.

Sie geht nicht zugrunde, sie gründet darauf. Gefühlt jedes zweite Geschäft in

einer beliebigen deutschen Innenstadt brilliert mit dem Zeug, das niemand

braucht, aber alle wollen, um sich irgendwie zu fühlen: gemütlich auf jeden

Fall. Der aktuelle Nippes – perfide wie der Markt funktioniert – ist natür-

lich auf der Höhe der Postmoderne. Selbst das Häkeldeckchen der dritten

Nachkriegsgeneration überlebt mittlerweile designerisch unter einem mons-

trösen Coffee-Table-Büchlein. Daneben tummeln sich die naturecht flackern-

den LED-Candellights. Und als Weihnachts-Gimmick simulieren Schneespray-

überpuderte Deko-Ästchen das Winterwetter, das jenseits der drahtstern-

behafteten Fenster klimakatastrophal aufgewärmt meist im Gammellook

daherkommt.

Xmas 4.0 aber wird in den Special-Shops des Deko-Ramschs abgefeiert.

Der Trend geht hier zum amerikanischen Weihnachtsbaumgehänge. Xmas-

Men in drallroten Badeho sen, daneben die glittergeile Heiligabend-Nixe,

das Doppelpack für 19,95. Das hält kein Baum aus, schon gewichtsmäßig. Bei

„Butlers’s“ wurden grelle Häuschen mit Hakenkreuzen überm Giebel ent-

deckt. Die wurden in asiatischer Provinz bemalt, gedankenlos-monoton, so-

mit entschuldbar. Und Trump? Den kann man schon länger hängen lassen,

seit 2012 ist der tolle Blondierte ein Dauerseller in US-Shops, die bekannt-

lich das ganze Jahr Weihnachten feiern, weil man sich ja ablenken muss, jetzt

ganz besonders. — Und nun? Was soll die Empörung? Sie tut gut. Emotionen

müssen raus; das lässt sich auch in unserem Titelthema nachlesen. Das Gute

aber am Tinnef, Kitsch und Ramsch: Er lässt sich vermeiden, persönlich, als

kleine private Revolte. Habt den Mut, oh Leserinnen und Leser! Seid stark!

Versaut den Gefühls-Murx-Verkäufern das Weihnachts geschäft! Oder habt

Ihr Mitleid, mit dem Einzelhandel, den asiatischen Schmuck bema lerinnen?

Man kann es Euch nicht recht machen. (JoWü)

MURX.UND WIE ER UNSER XMAS PRÄGT.

OXI DER BLOG ZUM BLATT: OXIBLOG.DE

WIRTSCHAFT FÜR GESELLSCHAFT DEZEMBER 2016

DIE MONATSZEITUNG 3,50 €

TITEL S. 4-9: DIE WIRTSCHAFT– MEHR GEFÜHL ALS VERSTAND

VON HANS-JÜRGEN ARLT

Seit sich Rechtsradikale und Rechtspo-

pulisten durch westliche Demokratien

siegen, sind sich von Washington bis Berlin

fast alle sicher: Wähler und Politik werden

wie selten zuvor von Gefühlen überrannt.

Aber wir haben ja Gott sei Dank noch ‚un-

sere‘ Wirtschaft – die rechnet, kalkuliert

mit unbestechlichen Zahlen, die operiert

gewinnträchtig mit vernünftig-klarem

Kopf. Wer’s glaubt, wird selig.

Manager, Ökonomen, der Wirt-

schafts jour nalismus, die sogenannten

Fachleute, alle tun so, als funktioniere das

Wirtschaftsleben mit kühlem Verstand

und habe in Rationalität seinen Dreh- und

Angelpunkt. Emotionen sehen sie nur auf

der Seite von Kritikern und Protestlern.

Keine Frage: Gefühllos können zweitau-

send Menschen unbeschwerter entlassen

werden. Wer dagegen ist, der schürt

Stimmungen, agiert populistisch. Wer

Autoverkehr und AKWs kritisiert, weil sie

Klima und Menschen gefährden, macht

Panik. Die Fassade aus ökonomischer

Vernunft und technischer Sachlogik soll

verbergen, was Backstage abgeht: Grö-

ßen wahn und Kleinmut, Interessen-

konflikte und Machtkämpfe, skrupellose

Motive und kriminelle Energie, Speku-

lationen und Zockereien sollen vernied-

licht oder als Skandale zur Ausnahme he-

rabgestuft werden. Deutsche Leucht-

türme ökonomischer Vernunft tragen

Namen wie Volkswagen, E.ON, Deutsche

Bank, Lidl, Ergo…

Seine Rationalitätsfassade hat das

Wirtschaftssystem nie daran gehindert,

auch auf Gefühle zu setzen. Emotionen zu

denunzieren, wenn sie Geschäfte behin-

dern, und hochzuhalten, wenn sie nützlich

sein können, darin lässt sich die Wirt-

schaft nicht übertreffen. Die kühle Kalku-

lation, die alle Bedenken als Gefühlsduse-

lei abtut, ist eine Domäne der Betriebs-

wirt schaft. „Aus betriebsbedingten

Gründen“ kann die Bilanzbuchhaltungden

Objekten ökonomischer Ausbeutung –

seien es Menschen, Tiere oder Land-

schaften – jedes Mitgefühl verweigern.

Aber gerade eine kapitalistische Ökono-

mie lebt nicht von Buchhaltung allein.

Sobald die Arbeits-Kraft sich noch mehr

anstrengen soll, die Kauf-Kraft für das

‚richtige‘ Produkt und der Kapitalbesitzer

zu einer bestimmten Investition motiviert

werden sollen, geben Stimmun gen und

Emotionen den Ausschlag. Heute erleben

wir, wie das Pendel in beide Richtungen

kräftiger ausschlägt. Auf der einen Seite

treibt der Computer die emotionslose

Rechnerei auf die Spitze. Auf der anderen

Seite emotionalisiert sich die Ökonomie

offen und aggressiv. Weihnach ten, das

Fest der Käuflichkeit der Liebe, repräsen-

tiert diese zwei Seiten perfekt.

Wir kennen nur Sieger!Die Fassade verspricht Vernunft. Heilsversprechen auf der Bühne.

Und Backstage? Größenwahn, Angst und kriminelle Energie.

Weihnachten – das Fest der Käuflichkeit der Liebe. PerfektesSymbol „unserer“Wirtschaft

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„Keine Partei hat in der Türkei so lange regiert

und so viele Gegner innen überlebt wie die AKP.“

| Fortsetzung auf Seite 2

INTERVIEW PETER

BOFINGER: S. 10-11

Wenig Staat, wenig Unheil?

Die Schulden der anderen sind die

Quelle unseres Wohlstands. Und dafür

beschimpfen wir sie noch. Wir sollten

ihnen dankbar sein, dass sie für uns

Schulden machen. Peter Bofinger,

Inhaber des Lehrstuhls für Volkswirt-

schaftslehre, Geld und Internatio-

nale Wirtschaftsbeziehungen an der

Universität Würzburg und seit 2004

einer der Wirtschaftsweisen, über die

Fixierung auf die schwarze Null, das

Problem der Exportüberschüsse und

die internationale Isolation der deut-

schen Wirtschaftspolitik.

NEUER RAT FÜR MANAGER: S. 17Neuroforschung –Hilfe beim Führen?Die Berater-Industrie setzt mehr denn je auf Neurolea-dership. Der Nutzen für Un-ternehmen ist offen. Span-nend ist die Frage: Weshalb soll gute Führung keine sozia le, sondern eine biologi-sche Frage sein.

WEITERDENKEN MIT OSTROM: S. 23 Besser als der MarktElinor Ostrom, Politologin, hat bisher als einzige Frau den Nobelpreis für Wirt-schaft erhalten. Sabine Nuss stellt Denken und Werk der Grande Dame der Gemeingü-terforschung vor.

ANDERS WIRT-SCHAFTEN: S. 14-15GenossenschaftskonzernIm Baskenland gibt es eine Indus-trie-Kooperative wie nirgendwo in Deutschland: ein Verbund von 101 Genossenschaften, ein Jahresum-satz von etwa 12 Milliarden Euro. Der Journalist Pit Wuhrer hat sie besucht und für uns porträtiert.

Vorsätze fürs neue Jahr? Dummes Zeug. Vorsätze helfen gar nichts, sagt die

Statistik, die genau weiß, wie viele davon umgesetzt werden. Aber da wir para-

doxe Wesen sind, sollen an dieser Stelle doch ein paar genannt sein, die nicht

alle aus den deutschen Top 50 der guten Vorsätze stammen. (1) Öfter einfach

aufstehen und weggehen. Aufstehen ist eh gesund. Und weggehen ist richtig,

wenn es sich nicht lohnt dazubleiben, weil da nur Unsinn gemacht und gere-

det wird. (2) Öfter „Nein“ sagen. (Vergleiche auch den Titel dieses Blattes und

siehe Nr. 11). (3) Im Herbst keine der Parteien wählen, die in bewährter Weise

nach der Losung „Weiter so“ regieren würden. (4) Mehr Rad fahren. (Da reichen

sich Fitness, Gesundheit, gesunder Geiz und Umweltoptimierung die Hand

reichen.) (5) OXI abonnieren, weil man hier nicht nur über gute Vorsätze was

lesen kann, sondern auch darüber, was schon besser gemacht wird. (6) Kein

neues Smartphone kaufen (was eine besondere Leistung darstellt, weil 2017

im Zeichen von „10 Jahre iPhone“ stehen wird). (7) Einen alten Streit beilegen,

weil das Energie freisetzt, die anderswo besser eingesetzt ist. (8) Bei jedem

Neukauf prüfen, mit wem man es zusammen kaufen und nutzen könnte (nein,

nicht bei Zahnbürsten, aber vielleicht bei Bohrmaschinen oder Rasenmähern).

(9) Weniger Pläne machen, mehr Ideen sofort umsetzen. (10) Jemandem et-

was beibringen, was diesem weiterhilft (zum Beispiel Steckdosen reparie-

ren oder Toner wechseln), damit nicht so viel herumgemurkst wird. (11) Öfter

„Danke“ sagen (siehe aber auch Nr. 2). (12) Einen Tag im Monat nichts kaufen

und nichts essen (kann euphorische Gefühle auslösen). (13) Nicht mehr an

Unglückszahlen glauben. (14) Eine Tausch-Gruppe gründen (alle schreiben

auf, was sie loswerden wollen; die Listen werden ausgetauscht). (15) Sich nicht

überfordern. (16) Sich nicht unterfordern (genauso gefährlich). (17) Eine alte

Bekanntschaft auffrischen. (18) Sich an einem ehrenamtlichen Projekt be-

teiligen. (19) Niemals „Wörter des Jahres“ benutzen (2016: „postfaktisch“).

(20) Sich von theoretisch wohlbegründetem Pessimismus nicht von einer opti-

mistischen Praxis abhalten lassen. Nebenbei: Fünf Prozent aller guten Vorsätze

werden umgesetzt. Für einen von den oben genannten 20 sollte es statistisch

also auch bei Ihnen reichen. Nettes Jahr. (JoWü)

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WIRTSCHAFT FÜR GESELLSCHAFT JANUAR 2017

DIE MONATSZEITUNG

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TITEL S. 4-9: SOZIALE UMBRÜCHE

DIE THEMEN DIESER AUSGABE

VON WOLFGANG STORZDieter Zetsche, der freundliche Herr mit Walross-Schnauzer von der Daimler AG, erhielt im Jahr 2015 rund zehn Millionen Euro Gehalt. Seine Pensionsansprüche be-laufen sich auf etwa 38 Millionen Euro, er ist seit 1976 im Konzern, das läppert sich. Manche sagen, in solchen Zahlen stecke ein riesiges Problem dieser Gesellschaft. Aber was steckt dann in dem, was Susanne Klatten, geborene Quandt, ihr Eigen nennt: so ungefähr 17 Milliarden Euro Vermögen. Da schrumpft der Millionenmann Zetsche doch gleich zur Kirchenmaus. Alles re-lativ. Zumal sein (softwarekrimineller) Kollege Martin Winterkorn als VW-Vorstandsvorsitzender bis zu 16 Millionen Euro pro Jahr erhielt, ohne Aktienoptionen. Diese Ungleichheiten zwischen Dieter

Zetsche, Martin Winterkorn und Susanne Klatten führen direkt zu Rainer Hank, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, einem bekannten Ungleichheits-Missionar. Er stöhnt: Diese Sache mit der Ungleichheit sei so „kompliziert“. Dem heutigen Enkel gehe es viel besser im Vergleich zu seiner Oma als Enkelin. Oder der Arbeiter von 1950 und der von heute – Welten, nein, Kontinente lägen dazwischen. Und so groß sei die Ungleichheit auch wieder nicht, wie Neider, Linke, Gleichheitsfanatiker be-haupteten, denn Statistiken zeigten, dass ... .Ungleichheit an einem Kriterium zu

messen, dem Geldmaß, ist borniert – aber darin spiegelt sich exakt eine Wirtschaftsgesellschaft, die statt in-dividueller Freiheit die Zahlungskraft zum Grundwert erhoben hat. Und alle Zugänge (auch) von Geld abhängig macht: ob zu Gesundheit, Bildung, Liebe, Macht, Mobilität ... . Also: alles relativ, alles kom-pliziert. Wo ist das Problem?

Wir finden das Problem nicht auf Zetsches Konto, sondern in seinem Kopf, in sei-nem Herzen. Denn der hält das alles für selbstverständlich, wie alle anderen in seiner Liga: dass etwa sechs bis acht Millionen BürgerInnen im Hartz-IV-Status

(Empfänger mit Angehörigen) verharren, dass Millionen mit qualifizierter Arbeit miese Löhne erhalten, dass die Reallöhne zwischen 1992 und 2012 um 1,6 Prozent gesunken sind, dass die ärmere Hälfte der Bevölkerung kein Nettovermögen hat, dass heute Arme wieder arm und Reiche reich bleiben, dass die Steuern für Großkonzerne, Multimillionäre und Milliardäre niedrig sind, dass die alle im Kanzleramt ein und aus gehen können, dass innerhalb von zwei Dekaden meh-rere Billionen vererbt und kaum besteu-ert werden, dass Steueroptimierung und Steuerbetrügereien zum Alltagsgeschäft gehören.

Das alles findet Herr Zetsche so normal wie Frau Klatten und alle anderen, die dieser Kaste angehören. Sie leben zwar unter uns, aber abgeschirmt in ihren Reichtumsoasen und außerhalb des demokratischen Wohlfahrtsstaates. Sie dulden ihn, solan-ge er sie in Ruhe lässt oder ihre Kassen füllt, wie in den vergangenen 20 Jahren. Sie würden nicht zögern, ihn zu bekämp-fen, wollte er ihnen an ihre Konten, die mit Geld und damit Macht gefüllt sind. „Nicht einen Cent Steuererhöhung. Denn WIR ha-ben alles verdient.“ Das ist die Gesinnung,

das Grundgesetz dieser Kaste. Das Recht auf privates Eigentum in jeder schwindelnden Höhe, allein legitimiert mit der Gewalt ih-rer Zahlungskraft.

Die Politik buckelt. Natürlich werden Sigmar Gabriel, Cem Özdemir, Angela Merkel, Horst Seehofer die heutige Verteilung als ungerecht kritisieren. Doch bereits vor dem wichtigeren Kritikpunkt scheuen sie zurück: dass diese einseitige Verteilung Sprengstoff ist, da sie vor allem die Finanzspekulation befeuert und so die Stabilität der Wirtschaft stark gefährdet. Aber sie denken nicht daran, ernsthaft et-was dagegen zu unternehmen. Obwohl sich die Verhältnisse nicht einmal mehr mit einem halbwegs humanen konserva-tiven Weltbild vertragen. Wo Geld sich in wenigen Händen so ballt und (relative!) Armut so ausbreitet, drohen die, die sich für Gleichheit starkmachen als Loser da-zustehen. Vor diesem Mount Everest des Geldes erscheinen die Talbewohner als natürliche Zwerge. Die schiere Größe des Unterschieds macht die Ungleichheit zur unbezwingbaren Selbstverständlichkeit. Obwohl die Oberen ihren Status mit nichts aufwiegen können – weder mit Intelligenz, Motivation oder Kreativität noch in Arbeit oder Produktivität.

Bald, am 20. Februar, ist der „Welttag der Sozialen Gerechtigkeit“. Achtung Traum beginnt: ein idealer Tag, um eine Obergrenze einzuführen. Das wäre kei-ne Frage des Geldes, sondern eine der Kultur. Zur ersten Orientierung der gute Vorschlag von Hermann Adam, Volkswirt und Politikwissenschaftler: Keiner und keine erhält mehr als das Doppelte dessen, was ein Regierungschef in einem wohlha-benden demokratischen Staat verdient, also etwa so viel wie die Bundeskanzlerin. 500.000 Euro. Was! Aber im Monat?, fragt der Manager. Nein, im Jahr, unser letztes Wort, sagt die Politik. Und dann? Einfach mal schauen, was passiert und wer die stär-keren Nerven hat; denn um mehr geht es nicht. Der Profit: Die Politik wäre weniger feige, die Verhältnisse würden normaler. Und es wäre gar nicht kompliziert.

500.000 € – mehr nicht Eine mutige Politik kann Geld, Macht und Chancen gerechter verteilen

Die heutige Ungleichheit – fatal normal, aber mit nichtszu rechtfertigen

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WÖRTERSUCHE: S. 10-11Welchen Namen hat die Zukunft?

Kathrin Gerlof, Schriftstellerin, auch OXI-Redakteurin, fragt sich, ob

diejenigen, die grundlegend etwas verändern wollen, noch ein sinnli-

cheres Wort finden als das da oben.

Bosse regierenSiegt jetzt die Politik?Woher wissen wir, dass wir von Murx, also vor allem dinglichem Schrott ,umzingelt sind? Weil es Handbücher gibt. Also frühneudeutsch „Manuals“. Manuals an sich sind ein Offenbarungseid auf die Qualität unserer Produkte. Sie erklären sich nicht. Also sollen wir sie studieren. Das be-deutet strenggenommen den permanenten Super-GAU der Warenwelt. Den aber keiner bemerkt.

Die Form der Manuals ist ein Skandal obendrauf. Kaufte man vor ge-fühlt zehn Jahren neue Technik, gab es ein Handbuch dazu. Einsprachig, mitteldick, unverständlich, logisch aufgebaut, somit komplett nutzer-feindlich. Dann kam die Ära der mehrsprachigen Manuals. Ich besitze ei-nen drei Jahre restjungen Flachfernseher, dem lag ein 4-sprachiges Handbuch mit gut 500 Seiten bei. Hat da einer ausgerechnet, dass es bil-liger ist, jedem Gerät 500 statt 125 Seiten beizulegen? Reden wir nicht mal über Ökologie. Psychohygienisch reagiere ich auf solche Manuals nur mit Wegwerfreflexen. Mein Lesewiderstand ist eh zu hoch, also kann ich mich auch gleich darauf einstellen, dass ich meine Heimtechnik nur mar-ginal verstehen werde.Parallel zum bibelförmigen Handbuch kam auch die CD auf. Immerhin kann man auf einem digitalen Medium schneller finden, was man am Ende doch nicht versteht. Das spart immerhin Zeit. Aber Digitalisierung bedeutet auch Entkörperlichung. Daher wanderte in den Folgejahren das Manual ins Web. Oder auch nicht. Man weiß es manchmal nicht. Ich habe beispielsweise eine Software erworben, für deren Manual es einen PDF-Download gab. Ergänzend (oder konkurrierend?) die ir-gendwie ins Programm eingebaute Hilfefunktion. Sodann die Online-Hilfe. Das alles ist irgendwie vernetzt, was die Hilfestellung nicht verein-facht. Denn jede Hilfeliste ist anders aufgebaut. Zuschlimmerletzt sei die Verlinkung mit sogenannten Erklärvideos genannt. Seit es Communitys gibt und jeder Hansel sich bemüßigt fühlt, vor einer Kamera Technik zu erklären, nachdem er sie zunächst stunden-lang ausgepackt hat („Unboxing“ nennt sich das), schrumpft der Anteil hilfreicher Videos in den Promillebereich. Aber immerhin verdienen da-mit Menschen wieder Geld. Was die Wirtschaft befeuert, die Gerätehersteller entlastet. So fügt es sich. Aus dem Skandal unverständ-licher Technik ist ein weiteres Geschäft entstanden. (JoWü)

MURX.UND WIE ER ZUM HANDBUCH WIRD.

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WIRTSCHAFT FÜR GESELLSCHAFT MÄRZ 2017DIE MONATSZEITUNG 3,50 €

THEMEN DIESER AUSGABE

VON HANS-JÜRGEN ARLT

„Ich werde der größte Arbeitsplatz-beschaffer in der Geschichte Amerikas sein.“ US-Präsident Trump droht, es nicht nur der Presse, sondern auch der Wirtschaft zu zeigen. Übernimmt das Weiße Haus die Regie über das Kapital und treibt ihm den Freihandel aus? Unternehmen schaffen dort Jobs, wo sie am meisten verdienen. Regierungen jedoch brauchen Arbeitsplätze im eige-nen Land. Nationale Grenzen für Waren

und Kapital sind aus Sicht der „freien Wirtschaft“ Hindernisse, die weg müssen; Wirtschaftskräfte wollen weltweiten Freihandel. Dagegen wollen Staaten — bei Bedarf — nationale Grenzen in Schutzzäune verwandeln, mit Strafzöllen gegen ausländische Waren, Investitions-verboten für internationales Kapital, Mau ern gegen fremde Arbeitskräfte. Jeder Staat, ob Diktatur oder Demo-kra tie, ob China, Deutschland oder die USA, setzt pragmatisch die Instrumente ein, die den Unternehmen und damit den Arbeitsplätzen auf ‚seinem Boden’ nüt-zen; mal mehr Freihandel, mal mehr Protektionismus, mal mehr oder weniger Freizügigkeit. So ist Deutschland heute nur deshalb in den Freihandel vernarrt, weil der sein Exportmodell am besten stützt: Es ist nationaler Egoismus im ele-ganten Kleid wirtschaftlicher Vernunft.

Dagegen wirkt der Kerl im Weißen Haus mit seinen „two simple rules: buy Ameri-can and hire American“, wie ein hemds-ärmeliger, aggressiver Heimat schützer.Keines von beiden, weder Freihandel noch Protektionismus – weder EU und NAFTA noch Importquoten und Subven-tio nen –, ist ohne Politik zu bekommen. Der Nationalstaat hat die Macht; auch die Macht, Macht abzugeben. Die Regierung hat das letzte Wort, und trotzdem er-scheint es oft so, als lese sie der Wirt-schaft die Wünsche von den Lippen ab. Manchmal aber, wie im Fall Trump, wirkt es so, als dirigiere die gewählte Politik die Wirtschaft. Geht doch, jubelt dazu Oskar Lafontaine.Momentan wird in den USA neu aus-gefochten, wie Politik und Unternehmen miteinander umgehen. Das Weiße Haus richtet sich gegen die internationale Wirtschaft, um nationalen Investitionen, nationalen Waren, nationalen Arbeits-kräf ten Vorteile zu verschaffen. Geht doch, jubeln die Nationalisten in Europa. Ein verwirrend gemischter Jubelchor.Zeigen ausgerechnet Konservative wie die britische Premierministerin Theresa May, Rechtspopulisten und Rassisten wie die „ökonomische Patrio-tin“ Le Pen den demokratischen Staaten, was Politik alles bewegen kann? Auf je-den Fall sehen die Mitte-links-Regie-rungen von Bill Clinton, Tony Blair und Gerhard Schröder der 2000er-Jahre bla-miert aus: Sie haben die Politik klein ge-macht. Zwar großartige Ansprü che for-muliert, aber artig Wünsche der Wirtschafts- und Finanzlobby exeku-tiert. Sie leugneten (nicht rhetorisch, aber praktisch), dass Regierungen — erst recht gemeinsam, international abge-stimmt — das Soziale, Ökologische und Kulturelle gegen die Wirtschaft nicht nur verteidigen, sondern sogar ausweiten können, statt dem Ökonomischen immer mehr Raum zu geben. Heute gewinnt Martin Schulz Sympathien, indem er so tut, als sei er nicht dabei gewesen. Die Agenda 2010 hat kein SPD-Kanzlerkan-

didat propagiert, aber ein SPD-Kanzler durchgesetzt. Trifft der eben angestellte Vergleich zwischen rechtsnationalen und Mitte-links-Regierungen so einfach zu? Demon strieren die einen, was Politik al-les kann, während die anderen kuschen? Am Kabinettstisch in Washington sitzen Milliar dä re und Millionäre, Immobilien-händ ler und Generäle, Bosse der Öl- und Finanz industrie. „Unsere erste Priorität sind Steuererleichterungen für Unter-neh men und Privatpersonen“, sagt der Finanzmi nister. Trumps Wirtschafts-politik konzentriert sich auf die Instru-mente Steu ern senken, Finanzmarkt de-regulieren, in Infrastruktur investieren und Protek tio nismus praktizieren. Es ist Politik für eine nationale Wirtschaft, für Kapita lis mus in einem (sehr großen) Land. National gesonnene Unternehmer in politischen Ämtern fördern nationale Unternehmen unter dem Motto „Make America great again“. Und versuchen alle abzustrafen, die dabei nicht mitmachen wollen oder können.

Hier wird keine eigenständige demo-kratische Politik gemacht für bessere Gesundheit und mehr Bildung, größere soziale Sicherheit, mehr Gerechtigkeit und Umweltschutz. Hier dient alles der nationalen Ökonomie. Das große Beispiel für eine selbstbewusste demokratische Politik, die der Wirtschaft gesellschaft-liche Verantwortung beibringt, wird in den USA nicht vorgeführt. Trump taugt nicht als Vorbild, auch nicht für einen Primat der Politik. Dass die demokra-tische Politik mehr kann und mehr darf, als sie sich bis jetzt traut, dieser Beweis steh noch aus.

Siehe auch „Freihandel, Protektionismus, Globalisierung“ auf Seite 17.

Nationalismus global: Machtspiele zwischen Unternehmen und Regierungen

Freihandel, Schutzzölle? Eine Frage des nationalen Interesses

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TITEL: FRAUEN. WIE SIE WIRTSCHAFT DENKEN. UND MACHEN

Seit die Wirtschaft eine Wissenschaft sein will, erklären Männer die Welt. Obwohl Theorien und Vorschläge feministischer Ökonominnen Auswege aus dem Dilemma Kapitalismus zeigen: Es muss nicht auf Kosten anderer und des Planeten gewirt-schaftet werden. Aber noch gilt: Weiberwirtschaft ist ganz nett, Wirtschaftsweiber sind nicht gut gelitten. FOTO: JUNOPHOTO

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GRUNDEINKOMMEN

Verrückte Idee stark im KommenJetzt ist auch noch Ebay-Gründer Pierre Omidyar dafür. Die Vorstandsvorsitzenden Jo Kaeser, Siemens AG, Timotheus Höttges, Telekom AG, und weitere Spitzenmanager , vor allem der Silicon Valley-Unternehmen, haben sich bereits vor Monaten öffentlich dafür ausgesprochen: ein Grundeinkom-men, das der Staat allen seinen BürgerInnen gewährt.

Das Thema ist stark im Kommen: Vor knapp einem Jahr wurde in der Schweiz über ein Gratisgeld für alle offiziell abge-stimmt. Selbstverständlich wurde der Antrag von einer Mehrheit der Bevölke-rung abgelehnt, aber monatelang wurde vorher darüber diskutiert; jede Schwei-zerIn sollte 2.500 Franken im Monat erhal-ten. In Finnland wird regierungsoffiziell das Grundeinkommen quasi in einem Feldversuch getestet. Und in Kenia sollen noch in diesem Jahr etwa 25.000 Einwohner bedingungslos ein Grundein-kommen erhalten; der Ebay-Gründer un-terstützt diesen Test mit einer halben Million Dollar.

Noch vor wenigen Jahren galt es als Thema von Sonderlingen. Initiativgruppen waren dafür, einige Wissenschaftler (wie Hans-Jürgen Arlt), sehr wenige Politiker, etwa die Vorsitzende der Partei Die Linke, Katja Kipping, sowie allen voran Götz Werner, Anthroposoph und einst Manager der dm-Handelskette. Warum sind heute Spitzenmanager dafür? Wegen Roboteri-sierung und Digitali sierung werden bald Millionen keine Arbeit mehr haben oder weniger mit ihr verdie nen. Wie sollen die BürgerInnen dann konsumieren? Die Kernfragen: Wie hoch ist es? Wie wird es fi-nanziert? Wird so Arbeit abgewertet? Muss es bedingungslos sein? Ist es mit mehr oder weniger Freiheit verbunden? (sto)

CARE REVOLUTION

Hartnäckig am Guten LebenIm vergangenen Dezember gab es eine Aktion („Pflegenotstand — Entweder jung und gesund sterben oder sich engagie-ren für gute Pflege“) in Frankfurt und am 20. Mai wird es in Freiburg eine regionale Aktionskonferenz geben — das Netzwerk „Care Revolution“ besteht seit Anfang 2014 und ist anhaltend aktiv. Revolutionen fan-gen immer von unten an, möglicherweise auch eine Care Re vo lu tion. Es handelt sich um einen bundesweiten Zusammenschluss von mehr als 80 Gruppen, Personen, Initiativen und Vereinen, alle aktiv im Bereich der (wissenschaftlich-abstrakt ausgedrückt) sozialen Reproduktion: Gesundheit, Erziehung, Bildung, Wohnen, Hausarbeit, Pflege, Sexarbeit. Es gibt re-gionale Gruppen in Berlin, Hamburg, Hannover, Lübeck, Freiburg, im Rhein-Main-Gebiet und Thüringen. Die Liste der KooperationspartnerInnen reicht vom „ABC des guten Lebens“, eine Gruppe von Philosophinnen und Ethikerinnen aus meh-reren Ländern, bis zu dem schweizerischen Verein WiC „Wirtschaft ist Care“.

Ihnen gemeinsam ist das Interesse, Mängel in der Carearbeit und Fürsorge in Familien und Gesellschaft aufzuzeigen und Alternativen zur Diskussion zu stellen. Langfristig strebt das Netzwerk neue Modelle von Care-Ökono mie und Sorge-Beziehungen an, die sich nicht länger an den Kriterien des Homo oeconomicus ori-entieren, sondern an dem Anspruch, dass der Mensch im Mittelpunkt steht und sich auch die Wirtschaft unterzuordnen hat.

Das Motto: „Her mit dem guten Leben! Für alle weltweit!“ Wer sich angesprochen fühlt, ist willkommen. Einklinken. (InK)

WEB-TIPPcare­revolution.org